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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 9. April 2001 Betr.: Reichstagsbrand, Massaquoi ls der Hobby-Historiker Fritz Tobias 1959/60 Ain einer elfteiligen SPIEGEL-Serie („Stehen Sie auf, van der Lubbe!“) zu belegen suchte, ein einzelner Täter, der halb blinde Holländer Marinus van der Lubbe, habe 1933 den Reichstag in an- gezündet, schlug ihm und dem SPIEGEL eine Welle der Kritik und Empörung entgegen: Alle Welt hatte geglaubt, die Nazis selbst hätten das Feuer gelegt. In- zwischen findet sich die SPIEGEL-Titel 43/1959 These vom Alleintäter in vielen Standardwerken zur

NS-Zeit; erst jüngst übernahm sie der Historiker Ian Kershaw M. URBAN in die neueste Hitler-Biografie. Wiegrefe vor Fragment Eine kleine Gruppe von Historikern um den Schweizer des Reichstagstunnels Walther Hofer allerdings glaubt unverändert an die Schuld der Nazis und erhält seit kurzem lautstarke Schützenhilfe von vier akademischen Außenseitern. Die wittern zum Teil bei Tobias oder dem SPIEGEL „Geschichtsfälschung“ oder „Manipula- tion“ und berufen sich dabei insbesondere auf Akten, die jah- relang in Moskau lagen und heute im Berliner Bundesarchiv einsehbar sind. Van der Lubbe, so ihre Schlussfolgerung, kön- ne gar nicht der Täter oder zumindest nicht der alleinige Täter gewesen sein.

SPIEGEL-Redakteur Klaus Wiegrefe, 35, fand die Einwände / SCHUMANN F. aus den bislang unbekannten Akten zunächst durchaus be- Buschke eindruckend und begann daraufhin seinerseits eine gründliche Recherche im Berliner Bundesarchiv, aber auch in den Archiven der Gauck-Behörde und des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Gemeinsam mit SPIEGEL-Dokumen- tar Heiko Buschke, 37, sichtete er außerdem eine Vielzahl von Dokumenten aus dem Privatarchiv von Tobias. Am Ende seiner Recherchen war sich der studierte Histori- ker Wiegrefe sicher: „Einige Einwände, Widersprüche und Ungereimtheiten werden sich – wie bei allen großen Kriminalfällen – nie ausräumen lassen. Aber die These vom Alleintäter van der Lubbe ist und bleibt die plausibelste Erklärung“ (Seite 38).

ans Jürgen Massaquoi, Autor des autobiografischen Bestsellers „Neger, Neger, HSchornsteinfeger!“, wurde in Hamburg geboren, ging dort zur Schule und fühlt sich auch mit 75 immer noch ein wenig wie ein Hanseat. Zwar lebt er längst in New Orleans, aber seine malerische Südstaatenvilla liegt direkt am Wasser – „fast so wie am Fleet in Hamburg“. In breitem hanseatischem Tonfall auch begrüßte der einstige Chefredakteur des Schwarzen-Magazins „Ebony“ die SPIEGEL-Redakteure Stefan Simons, 50, und Helmut Sorge, 59. Im Interview zieht Massaquoi eine erste kritische Bilanz der Rassenpolitik des neuen US-Präsidenten. „George W. Bush“, urteilt er, „glauben wir genauso wenig wie seinem Vater“ (Seite 186).

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Osterfeiertage bereits am Samstag, dem 14. April, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 15/2001 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Kinder sollen sich wieder lohnen ...... 100 Das Karlsruher Urteil und die Prinzipien Seite 22 des Sozialstaats...... 104 Jagd auf die Gotteskrieger Warum in Europa die Geburtenrate mit Die Verhaftung von fünf mutmaßlichen unterschiedlichem Tempo sinkt ...... 108 islamistischen Extremisten in Frank- Deutschland furt hat die Bundesregierung alarmiert. Panorama: Schattenetat für Bundeswehr? / Mehr Bei den Anhängern des internatio- Spenden für Greenpeace und Robin Wood ...... 17 nalen Top-Terroristen Terrorismus: Der „Gotteskrieger“ Bin Laden Ussama Bin Laden rekrutiert Personal in Deutschland ...... 22 wurden ein Waffen- Grüne: Rückkehr zu den Öko-Werten ...... 26 arsenal und Material Maul- und Klauenseuche: Interview mit zum Bombenbau ge- Ministerin Künast über Impfungen gegen MKS... 29 funden. Weitere Got- Die Ohnmacht des Bürgers im Sperrbezirk ...... 32 Schule: Fällt das 13. Jahr? ...... 34 teskrieger werden noch Zeitgeschichte: Neue Kontroverse um gesucht. Innenminis- den Reichstagsbrand ...... 38 ter Otto Schily fürch- M. URBAN AFP / DPA Verbrechen: Bundeswehr-Schutzschirm für DPA tet für Deutschland kriminelle Albaner-Clans? ...... 62 Anschlag auf US-Botschaft in Nairobi, Bin Laden, Schily „enorme Gefahren“. Schifffahrt: Neue Technik zur Vermeidung von Kollisionen kommt erst 2003 ...... 66 Hochschulen: Bei Deutschlands Studenten hapert es im Schriftlichen ...... 70 Waffenhandel: Umstrittene Geschäfte der Bundeswehr ...... 76 Grüne: Wiederentdeckung der Umwelt? Seite 26 Kriminalität: Wie 86 Millionen Mark für NS-Opfer in der Ukraine verschwanden ...... 80 Aus den Niederlagen bei den Landtagswahlen, bei denen die Stammklientel wegblieb, folgern selbst Realos wie Parteichef Fritz Kuhn zähneknirschend: Die Grünen müs- Medien sen wieder zur Umweltpartei werden. Noch aber verzetteln sich die Akteure, wie der Trends: Finanzspritze für bild.de / Streit zwischen Renate Künast und Bärbel Höhn über MKS-Impfungen zeigt. ProSieben schickt Promis in die Wüste ...... 85 Fernsehen: Das neue ZDF-Logo / Doku-Soap aus dem Teenagerleben ...... 86 Vorschau ...... 87 Kolumnisten: Was „Bild“-Glossenautor Franz Josef Wagner antreibt...... 88 Seite 126 Hörfunk: Wer braucht digitales Radio? ...... 94 Milliardenpoker um die Formel 1 Im Kampf um Macht und Einfluss bei der Gesellschaft Formel 1 fährt die Autoindustrie schwere Ge- Szene: Wiederkehr des Schnauzbarts / schütze auf: Sie will eine eigene Rennserie Ratgeber für junge Ehepaare ...... 99 Hauptstadt: Aus für die Love Parade? ...... 118 gründen. Verlierer wären vor allem Medien- Mutproben: Immer mehr Jugendliche unternehmer Leo Kirch und EM.TV. Sie ha- suchen den lebensgefährlichen Kick ...... 120 ben für die Fernsehübertragungsrechte 2,7 Milliarden Dollar bezahlt – und hätten dann Wirtschaft nur den Namen Formel 1. Trends: Deutsche Bank macht Vorstände reich / Deutsche Bahn hat zu viel Formel-1-Star Schumacher PRESS ACTION Geld / Neuer Ärger für die Telekom ...... 123 Geld: Österreich-Index schlägt Dow und Dax / Öko-Aktien gehen an den Markt ...... 125 Autorennen: Kampf um die Formel 1 ...... 126 Autoindustrie: Wie ein deutscher Manager Mitsubishi sanieren will ...... 129 Seite 70 Fusionen: SPIEGEL-Gespräch mit Allianz- Sprachlose Studenten Chef Schulte-Noelle und Dresdner- Immer mehr Studenten bre- Bank-Chef Fahrholz über den Finanzkonzern chen ihr Studium ab. Wis- der Zukunft ...... 135 senschaftler entdeckten jetzt Flugzeugindustrie: Boeing schlägt zurück ... 140 Kapitalismus: Das Gespenst der eine überraschende Ursa- Viviane Forrester ...... 144 che: Viele Jungakademiker Betrug: Eine internationale Bande kassierte scheitern an der Sprache, sie Millionen mit Umsatzsteuer-Schwindel ...... 146 leiden unter regelrechten Gastronomie: Lobbyist Schreiber will Schreibhemmungen – und mit Nudeln die Welt erobern ...... 148 die Uni hilft ihnen kaum. Die Arbeit an Computer Ausland und Internet scheint die For- Panorama: EU-Erweiterung verzögert sich / mulierungsnöte noch zu Indiskretionen in Teherans Geheimdienst...... 151 M. VOLLMER / DAS FOTOARCHIV / DAS M. VOLLMER verstärken. China: Geopolitische Rivalität mit den USA..... 154 Großbritannien: Wettlauf gegen die Seuche ... 158 Russland: Putins Fernsehkrieg ...... 162 Studenten am Computer Serbien: Schmählicher Abgang des Despoten .. 164

6 der spiegel 15/2001 Finnland: Staatspräsidentin Tarja Halonen über die Stabilität im Ostseeraum und Europas Verhältnis zu Russland ...... 168 Spanien: Terroristen drohen Touristen ...... 174 Israel: Trennung durch Mauer und Stacheldraht ...... 176 Tschechien: Comeback der Altkommunisten .. 182 USA: Autor Hans-Jürgen Massaquoi über die Diskriminierung der Afroamerikaner ...... 186 Wissenschaft · Technik Prisma: Honig als Fitness-Präparat / Öko-Gefahren durch Schweröl-Verfeuerung in Schiffsmotoren ...... 191 Automobile: Wie Forscher die Wucht des

REUTERS (li.); AFP / DPA (re.) (li.); AFP / DPA REUTERS Airbags zähmen wollen ...... 194 Präsident Bush, havarierter US-Aufklärer Internet: Umbau der Netzlandschaft ...... 198 Recycling: Roboter schlachten Haushaltsgeräte aus ...... 202 Medizin: SPIEGEL-Gespräch mit dem Showdown in Fernost Seite 154 Epidemiologen Jörg Michaelis über Elektro- smog, Leukämie und die Tücken der Statistik .. 204 Zwei Großmächte auf Kollisionskurs: Nach dem Zusammen- Genetik: Menschen mit Extra-Farbsinn ...... 212 stoß einer US-Spionagemaschine mit einem chinesischen Polizeitechnik: Klebefallen für Kampfjet eskalierte der Streit um die Freilassung der US-Crew Motorradrowdys ...... 214 zur ernsten Konfrontation. Für Präsident Bush steht erstmals seine außenpolitische Kompetenz auf dem Prüfstand. Kultur Szene: Die Verhandlungen mit Bayreuth- Chef Wolfgang Wagner / Leon de Winters Roman „Leo Kaplan“ auf Deutsch ...... 217 Filmgeschäft: Wie sich Product Placement in der Kinoproduktion durchsetzt ...... 220 Tödlicher Prallsack Seite 194 Musik: Der US-Dirigent Kent Nagano macht Berlin zur Hauptstadt der Avantgarde ...... 226 Nur 20 Millisekunden dauert es, bis ein Airbag vollständig Musikmarkt: Wie die Klassik-Sparte mit aufgeblasen ist. Er entfaltet dabei eine Wucht, die töten neuen Strategien um junge Hörer wirbt ...... 232 kann: Auf 1000 durch den Airbag Gerettete kommen 57 Er- Legenden: Per Olov Enquist erfindet das schlagene. Jetzt versuchen die wilde Leben des Arztes Struensee neu ...... 234 Techniker, die Gefahr zu bannen. Dummies im Crashtest Bestseller ...... 236 Kunst: Die bizarren Phantasiewelten des Künstlers Stephan Huber in Hannover ...... 240 TV-Produktionen: Bibel-Verfilmungen lösen Drehboom in Marokko aus ...... 244 Kinderfilm: Start des deutschen Vorbild für Amerika Seite 248 Zeichentrickfilms „Hilfe! Ich bin ein Fisch“ ... 246 Als Mr. Nobody kam der Würzburger Basketball- Sport profi Dirk Nowitzki 1999 nach Dallas. Inzwischen Basketball: Warum Amerika wird er als bester Ausländer der NBA gefeiert und Dirk Nowitzki verehrt ...... 248 brachte sein Team in die Endrunde der Meister- Marketing: Der Absturz des Vermarkters ISL .. 252 schaft. Den Vermarktern gilt er wegen seiner Be- scheidenheit als Glücksfall: Das Publikum habe ge- Briefe ...... 8 L. MURDOCH / NBA PHOTOS nug von Stars, die mit Diamantringen protzen. Impressum...... 256 Leserservice...... 256 Nowitzki Chronik...... 257 Register ...... 258 Personalien...... 260 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 262 TITELBILD: Foto Jo van den Berg für den SPIEGEL; AKG Aus Kinofilmen werden Werbeclips Seite 220 Die Zeiten verschämter Schleich- werbung wie in alten „James Schlecht und Recht Bond“-Filmen sind vorbei: Mar- Das Jurastudium muss drin- kennamen stehen mittlerweile im gend reformiert werden. Mittelpunkt von Kino-Geschichten Außerdem im UniSPIEGEL, – so etwa Opel in der neuen deut- dem Magazin für Studenten: schen Komödie „Viktor Vogel“. Genom-Forschung, Archäolo- gie unter Wasser und New

„James Bond“-Dreharbeiten CINETEXT York als Mega-Uni-Stadt.

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lungsstufe des Menschen aus argumentiert. „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Die einen wollen die Tiere auf unsere Stu- fe hinaufholen, die anderen wollen auf der gelungenen Titelbild. Endlich begegnet Stufe über dem Tier stehen bleiben. Ich auch einmal der tier- und naturentwöhnte bin zu dem Schluss gekommen, dass Tiere ohne Zweifel eine Seele und einen indivi- Großstädter seinem potenziellen Steak duellen Charakter haben und lernfähig oder Schnitzel Auge in Auge. Ein tolles sind, sonst hätten sie als Tierart die Evolu- tion nicht überlebt. Der Unterschied zwi- Bild, das zum Nachdenken anregt, ohne schen den Tieren und uns ist die Moral und Grausamkeit zu zeigen. Kompliment.“ die Karitas, beides ist den Tieren nicht be- kannt. Nur – betrachtet man das, was auf Wolfgang Kropp aus Offenbach in Hessen zum Titel der Welt geschieht, scheint Moral, Fürsor- „Was fühlen Tiere?“ ge und Rücksichtnahme auch bei Men- SPIEGEL-Titel 13/2001 schen nicht sehr verbreitet. Kalletal (Nrdrh.-Westf.) Kai Hasse Landwirt

Was fühlen Menschen? Müsste es nicht heißen: Was fühlen Men- Nr. 13/2001, Titel: Massentötungen, Käfighaltung, schen? Denn so, wie der Mensch mit Tie- Tierversuche, Viehtransporte – Was fühlen Tiere? ren umgeht, und bei allem, was er ihnen antut, ist es doch eigentlich nur schwer vor- Was sind das für abgestumpfte Bestien, die stellbar, dass der Mensch überhaupt ein mit Tierquälereien, mit dem Elend der Tie- (mit-)fühlendes Wesen sein soll. re Geld machen?! Und wir Verbraucher Braunschweig Marianne Engberts unterstützen das auch noch mit einem ver- zweifelten Blick in unser Portemonnaie Was haben wir Tieren voraus? Dass wir in und dem Griff zum Billigsten! Ich jedenfalls der Lage sind, Opern zu komponieren und nicht mehr. Mir ist der Appetit vergangen. Wasserstoffbomben zu basteln, beides Danke für die schonungslose Aufklärung. Tätigkeiten, deren Sinn nur Menschen ver- Berlin Regina Marianne Theuer stehen? Was fühlen Tiere? Was für eine Frage in einer Gesellschaft, in der Kinder Da trägt der SPIEGEL akribisch eine ganze in ihr Billigwurstbrötchen beißen, während Seite lang die Möglichkeiten zusammen, sie den Tod ihres Tamagotchis beweinen unter welchen Umständen den Tieren vor und junge Pelzträgerinnen darüber speku- der Schlachthaus-Atmosphäre die Angst lieren, ob ihr Computer lebt. genommen werden kann, unter dem Mot- Düsseldorf Lin May to: Ist doch alles gar nicht so schlimm! Und dabei sind Vorläufer des Homo sapiens In Wahrheit erschreckt der Mensch vor sei- reine Früchte-Esser gewesen! Vielleicht ner eigenen Grausamkeit und nicht vor der sollten die heute Fleisch essenden Men- möglichen Empfindsamkeit der Tiere. Er ist

schen ab und zu zu ihren Ursprüngen / SILVESTRIS K. AITKEN und bleibt in allem auf sich bezogen. Hier, zurückkehren. Dann wären so genannte Spielende Delfine beim Menschen, gilt es anzusetzen, wenn Trainingsfahrten im Viehtransporter zum Zurück zu den Ursprüngen ein verändertes Bewusstsein – „eine neue Schlachthof nämlich überflüssig. Sensibilisierung“ – erreicht werden soll. Hamburg Linde Schütte führt. Das Töten von Lebewesen zur Braunschweig Viktor Witkowski Marktstützung und industrielle Massen- Die eigene Leidensfähigkeit ist unbestrit- tierhaltung sind ein Armutszeugnis und Das Tierschutzgesetz bleibt in wichtigen ten. Die der Mitgeschöpfe muss erst be- eine Kulturschande. Uns jedenfalls ist der Bereichen wirkungslos, solange es nicht wiesen werden. Dabei zeigt sich ein ego- Appetit vergangen. gelingt, den Tierschutz als Staatsziel in das zentrisches Weltbild, das zumindest in der Taunusstein (Hessen) Roswitha Bausch Grundgesetz aufzunehmen. Diesem An- Astronomie seit 500 Jahren obsolet ist. liegen, das von mehr als 80 Prozent der Mannheim Werner Albrecht Bei der ganzen Diskussion, ob Tiere fühlen Bevölkerung unterstützt wird, hat sich die und denken können, wie lernfähig sie sind Führung der CDU/CSU-Bundestagsfrak- Es bleibt zu hoffen, dass die derzeitige Mi- und ob sie eine Seele haben, wird immer tion im letzten Jahr erneut verweigert. Sie sere mit BSE und MKS insofern ihre posi- von der vermeintlich hohen Entwick- hat ihren Abgeordneten nicht einmal ge- tiven Aspekte hat, als beispielsweise die Tiertransporte und auch Tierversuche auf das Notwendigste reduziert werden, die Vor 50 Jahren der spiegel vom 11. April 1951 Tierhaltung artgerechter wird und der quä- Erster Angehöriger einer Siegermacht vor deutschem Gericht Rund lerische Umgang mit unseren Mitlebewe- 200 Überlebende wollen Misshandlungen bezeugen. Ratlosigkeit im sen vermieden wird. Ein radikales Um- Korea-Krieg Günstiger Moment für Frieden. Psychologische Tests zu denken ist hier dringend erforderlich. Ermüdungserscheinungen Gefühl und Willen nehmen Einfluss. Heiße Köln Prof. Claus Werning Bundestagsdebatte um Mitbestimmungsrecht Vorstufe zur Sozia- lisierung? Science-Fiction als Genre entdeckt Zeitreise-Begegnungen mit Gestalten außergewöhnlicher Anatomie. Lennie Tristano plant das Kompliment für Ihren Artikel! Scho- „totale Musikunternehmen“ Vom Hot- zum Cool-Jazz. nungslos werden hier Zustände beschrie- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de ben, die eine Gesellschaft, die sich selbst Titel: Revolutionär Ho Tschi-minh gern als human bezeichnet, ad absurdum

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Werbeseite Briefe stattet, nach eigenem Gewissen abzustim- tung, hellwachem Verstand und grandio- men. Die notwendige Zweidrittelmehrheit sem Witz basieren. wurde verfehlt. Mit dieser Haltung miss- Hamburg Regina Spelman achtet die CDU das Rechtsempfinden der Mehrheit. Schon dass dieser Artikel im Inhaltsver- Herrischried (Bad.-Württ.) Christoph Maisack zeichnis unter der Rubrik „Lifestyle“ steht, ist bezeichnend: Offensichtlich soll uns Völlig unwissenschaftlich wusste schon deutlich gemacht werden, dass es „in“ ist, meine Mutter vor 50 Jahren: „Quäle nie ein schwul zu sein. Das wäre nicht das erste Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!“ Mülheim (Nrdrh.-Westf.) Werner Schröder

Gleichmütiges Wohlwollen Nr. 13/2001, Mazedonien: An der Schwelle zu einem neuen Balkankrieg

Als unabänderliche Spätfolge des vergan- genen Osmanischen Reiches sind Albaner islamischer Religion über Albanien hinaus im Kosovo und in Mazedonien ansässig, mit extremer Population. Ihr Ziel ist ein Großalbanien, und sie werden nie Ruhe geben, bis das erreicht ist. Hierbei werden sie mit einem gleichmütigen Wohlwollen

von den USA begleitet, die ein strategi- REUTERS sches und wirtschaftliches Interesse an ei- Schwulen-Hochzeit (in Amsterdam) nem guten Verhältnis zur Türkei und den Anders als die anderen arabischen Golfstaaten haben und haben müssen. Wenn die EU den Frieden in Süd- Mal, dass der SPIEGEL versucht, Homo- osteuropa erhalten und zu diesem Zwecke sexualität als bewusste Entscheidung für die Albaner ruhig stellen will, müssen auf irgendeinen Trend oder eine Mode darzu- viele Jahrzehnte hinaus europäische, also stellen. Ich bin schwul, aber glauben Sie auch deutsche Garnisonen, auf dem Balkan mir: Ich habe mich garantiert nicht dafür stationiert bleiben. entschieden, weil es gerade in Mode sein Herford (Nrdrh.-Westf.) soll. Ich habe mich gar nicht bewusst ent- Carl-Gustav Ernstmeier schieden, ich bin so, wie ich bin! Es ist auch gar nicht immer leicht, anders als die Wie sich die Bilder gleichen, damals im anderen zu sein. Ablehnung erfahren Ho- Kosovo, heute in Mazedonien. Die Nato mosexuelle nach wie vor täglich. scheut sich heute nicht, dieselben serbi- Saarbrücken Martin Sommer schen Truppen, die damals angeblich Mas- saker und andere Menschenrechtsverlet- Ein gelungenes Gespräch, das den Zeit- zungen begangen haben sollen, in die süd- geist anhand der Homosexualität sehr plas- serbische Pufferzone einrücken zu lassen, tisch widerspiegelt. Ich denke, wir sollten um dort dieselben albanischen Rebellen aber von einer „Androgynisierung“ der wie vor zwei Jahren zu bekämpfen. Heute Gesellschaft sprechen. Denn was die sieht man, was das ganze „gelahrte“ Ge- Schwulen auszeichnet und was sie vorle- rede von einem „Krieg neuen Typus“, der ben, ist, dass jedes menschliche Wesen angeblich allein im Namen der Menschen- zwei Seiten besitzt, die es zu entdecken rechte geführt wurde, wert war. Hat es und zu harmonisieren gilt. Wir sind auf sich gelohnt, sich schuldig zu machen und dem Weg zu einer neuen Gesellschafts- einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg form, welche die immer noch vorhandenen in Nibelungentreue mitzuverantworten? patriarchalen Züge überwindet, sich an- Die Zeit ist dabei, es zu erweisen: Der drogynisiert und so das Tor zu einer völlig Kosovo-Krieg war kein Fehler, sondern ein neuen, auch im Interview betonten Spiri- Verbrechen. tualität öffnet. Wir können freudig ge- Berlin Dr. Wolfgang Hintze spannt sein auf die Verwirklichung dieser neuen Entwicklungsstufe. Hannover Patrick Hahne Freudig gespannt Nr. 13/2001, Lifestyle: Neue Studie über das Konsumver- Joop bestätigt durch seine Äußerung „Les- halten von Homosexuellen; SPIEGEL-Gespräch mit ben sind die letzten Männer“ das Klischee Modemacher Wolfgang Joop über stilbildende Schwule von Lesben als Mannweiber, was ein Aus- druck von selbstherrlicher, hirnloser Ego- Gratulation zum SPIEGEL-Gespräch mit manie ist: Es genügt nicht, sich vor den Wolfgang Joop. Verblüffend wahr sind sei- Spiegel zu stellen, den eigenen Bauchnabel ne Ansichten, die auf genauer Beobach- als hippen Trendsetter zu schlecken und

12 der spiegel 15/2001 zu glauben, es endlich in den Mainstream geschafft zu haben. Solange Lesben nicht gesellschaftlich akzeptiert werden und nicht mit einigen hanebüchenen Vorur- teilen aufgeräumt wird, bleibt auch die vermeintliche Akzeptanz schwuler und bisexueller Männer ein Werbegag, eine Illusion. am Main Constance Ohms

Jeder beschwert sich Nr. 13/2001, Atomtransporte: Was die Schlacht um die Castor-Behälter kosten soll

Ich kann den Widerstand gegen die Castor- Transporte mittlerweile nicht mehr nach- vollziehen. Der Ausstieg aus der Atom- kraft ist beschlossen, und ein Ende ist ab- sehbar. Jeder beschwert sich über die hohen Abgaben an den Fiskus, aber dass diese Gelder auch für die massiven Poli- zeieinsätze zum Schutz der Transporte aus- gegeben werden, wollen viele anscheinend nicht verstehen. Ich habe nichts gegen friedliche Demonstrationen und Mei- nungsäußerung, aber doch bitte nicht auf Kosten der Gesundheit einiger Polizisten und des Steuerzahlers. Des Weiteren ist mittlerweile doch nun wirklich zuverlässig nachgewiesen, dass die Castoren sicher sind. Vielleicht sollte man sich mal an Frankreich orientieren, wo die Transporte in Ruhe durchgeführt werden können. Warendorf (Nrdrh.-Westf.) Dennis Wehmeyer

Wie ist es zu erklären, dass inzwischen pri- vatisierte Energiekonzerne mit billigem Atomstrom Milliarden scheffeln und der Staat (und damit der Steuerzahler) für die Entsorgung der Altlasten aufkommt? Die Schätzungen liegen bei mehr als 100 Mil- lionen Mark für den aktuellen Transport – so viel, dass man sich dieses Jahr eigentlich keinen mehr leisten kann! Die Gleis- blockierer können sich meiner Sympathie sicher sein. Karlsruhe Pascal Klettenheimer

Polizeieinsatz bei Castor-Blockade Mehr als 100 Millionen Mark Kosten F. MATZERATH / DDP MATZERATH F. Briefe

dividuellen Eigenschaften, auf die man Auf Grund meiner Abstammung und mei- Hin und wieder sogar glücklich stolz sein könnte. Jeder erbärmliche Tropf“ nes Geburtsortes bin ich Deutscher. Solche Nr. 13/2001, Nation: kann Nationalstolz haben. Zufälligkeiten begründen für mich keinen Absurde Debatte über den Stolz der Deutschen Köln Fritz Baumgärtel Stolz. Unsere Geschichte und die wider- wärtige Diskussion um die Entschädigung Es fragt sich, wer den von den Konservati- Wir haben nur dann die Berechtigung, ven geforderten Stolz auf die Nation „stolz zu sein, dass wir Deutsche sind“, braucht, um moralisch den Rücken gestärkt wenn Deutschland auch stolz auf uns sein zu bekommen: Unter der jungen Genera- kann. Das brauchen wir nicht durch die tion, der ich selbst angehöre, fällt mir nur Gegend zu brüllen. Die, die brüllen, erfül- eine Randgruppe ein. Und wenn ich ihn len diesen Imperativ und die Anforderun- selbst doch brauche, so muss mir erst je- gen an Toleranz, Fairness und humanitäre mand erklären, wie Nationalstolz funktio- Wertmaßstäbe nicht. Auch Herr Trittin niert: so wie bei den Amerikanern, die vor und Herr Meyer müssen sich fragen, ob Baseballspielen die Hand ans Herz legen Deutschland auf sie stolz sein kann. Die und die Fahne besingen? Hoffentlich nicht. Abgrenzung von den Missbrauchern und Regensburg Florian Brandt ihrem Missbrauch ist unverzichtbar. Deutschland ist noch immer „ein schwie- Auch wenn wir uns in der Behaarung kaum riges Vaterland“, und wir dürfen die Grün- noch unterscheiden: Ich bin wahrlich nicht de dafür nicht leugnen oder verdrängen. stolz darauf, mit dem – wie Sie richtig Doch es besteht das Bedürfnis nach einer schreiben – „dreist polemisierenden CDU- identitätsstiftenden Gemeinsamkeit, die Generalsekretär Laurenz Meyer“ in einem mehr umfasst als gut funktionierende öf- Volk zu sein. Und Herr Trittin darf gele- fentliche Einrichtungen für alle. Eine sol- gentlich mal erwachsen werden! che Identität ist auch für Deutsche legitim. Sinzig (Rheinl.-Pfalz) Prof. Gerhard Eggert Weinstadt (Bad.-Württ.) Wolf Tutt Plakat gegen Ausländerhass Die „stolzen Deutschen“ haben offenbar Dazu fällt mir eigentlich nur folgende Schwieriges Vaterland nichts aus der Vergangenheit gelernt oder deutsche Redewendung ein: „Getroffene Hunde bellen.“ Und ehemaliger Zwangsarbeiter können Stolz um bei den Rede- noch weniger aufkommen lassen. Froh, ja wendungen zu blei- hin und wieder sogar glücklich, bin ich, in ben, man schlägt auch einem demokratischen Staat und in einer gleich zwei Fliegen freien Gesellschaft leben zu können. mit einer Klappe; es Heiligenhaus (Nrdrh.-Westf.) Peter Berger wird von der eigenen Unfähigkeit und den Ich finde es vertretbar, stolz auf Deutsch- Verfehlungen (Spen- land zu sein. Man muss ja nicht die falschen den, Fahndungspla- Dinge damit meinen, es gibt in unserer Ge- kat) abgelenkt, und sellschaft genug Positives. Wer die Ausle- es wird auch ein neu- gung dieser Aussage jedoch kampflos den es Wählerpotenzial er- Rechtsradikalen überlässt, der knickt ge- reicht. nau vor dem Deutschland ein, auf das ich P. Neumann nicht stolz bin. Max Robitzsch Dank Trittins unüber- legter, flapsiger Äuße- Über den Slogan „Ich bin stolz, ein Deut- rung gegen CDU-Ge- scher zu sein“ habe ich als Lehrer schon

W. SCHMITZ / BILDERBERG SCHMITZ W. neral Meyer ist sie nun vor zehn Jahren diskutieren müssen, noch Deutsche Campingtouristen: Bedürfnis nach Gemeinsamkeit da: die für die Union ehe unter diesem Motto Farbige durch un- so ersehnte Debatte sere Fußgängerzonen geprügelt wurden. kennen sie gar nicht. Ich habe mich jeden- um den Stolz auf die deutsche Nation. Was Aber was kann ich heutzutage so einem ir- falls oft geschämt, eine Deutsche zu sein, verlangen da diese CDU/CSU-Politiker von regeleiteten, glatzköpfigen Underdog sa- vor allem auf Reisen nach dem Zweiten mir, der ich Deutscher bin, aber nicht von gen, der mich dann „anmeiert“, indem er Weltkrieg und beim Besuch von KZ-Ge- Geburt, sondern kraft der Sprache meiner ernsthaft behauptet: „Der klopft doch die denkstätten. Nationalstolz? Mit ihm ver- Vorfahren? „Staatsdeutscher“ wurde ich gleichen Sprüche wie wir. Der versteht suchte man immer, die Menschen dumm erst nach 1938, als Hitler die Sudetendeut- mich. Das ist einer von uns!“ und blind zu machen. Aber darauf sollten schen „heim ins Reich“ holte, um sich Ka- Osterholz-Scharnbeck (Nieders.) wir uns heute nicht einlassen und den geis- nonenfutter für den Krieg zu besorgen. Jörg Quittkat tigen Nachfolgern derer, die den Tod ihrer Und was dieser dann untergegangene Staat Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Söhne mit „stolzer Trauer“ bekannt ga- seit 1933 verbrochen hatte, darauf stolz zu schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. ben, eine deutliche Abfuhr erteilen. Das sein ist wohl eher Blasphemie! Ein Sprich- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] sind wir unserer Vergangenheit schuldig. wort sagt: „Dummheit und Stolz wachsen Braunschweig Lisa Petzold auf einem Holz.“ So gesehen ist es nur recht und billig, diese Stolz-sein-Debatte Die Absurdität der Debatte wird durch als bornierten Nationalismus zu bewerten. In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in Schopenhauers Verdikt verdeutlicht: „Die Daher auch die Unterstützung durch NPD einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma Lloyd Schuhe, Sulingen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Aus- wohlfeilste Art des Stolzes ist der Natio- und Konsorten. gabe liegt eine Beilage des Zeit-Verlages, Hamburg, sowie nalstolz. Denn er verrät den Mangel an in- Rodgau (Hessen) Dr. Erhard Behrbalk des SPIEGEL-Verlages/UniSPIEGEL, Hamburg, bei.

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ATOMPROTESTE Spenden-Plus durch Castor ach der Drohung einiger Innen- und NFinanzminister, wegen der kostspieli- gen Blockade von Atommülltransporten nach Gorleben Umweltorganisationen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, erhalten Vereine wie Greenpeace und Robin Wood jetzt besonders viele Zuwendungen und Zu- lauf. „Wir haben ein höheres Spendenauf- kommen“, sagt Robin-Wood-Chefin Djoeke Lueken, deren Organisation mit 1700 Mit- gliedern jährlich rund 1,5 Millionen Mark Spenden verbucht. Auch bei Greenpeace (Spendenetat: 68 Millionen) haben die Cas- tor-Proteste zwar „einige Austritte, aber ebenso viele Neumitglieder und weitere Zu- wendungen“ gebracht, so Sprecher Fouad

Hamdan. Weder gegen die vier Robin- / REUTERS GREENPEACE Wood-Aktivisten, die sich im Gleisbett ein- Greenpeace-Aktion gegen Castor-Transport (bei Seerau) betonierten, noch gegen die Umweltgrup- pen lagen bis Freitag vergangener Woche Steuerprivileg für Umweltschützer Strafanzeigen vor. Nach einem Grundsat- zurteil des Bundesverfassungsgerichts kön- Die Umweltorganisationen Robin Wood und Greenpeace haben nen Sitzblockaden nicht als Nötigung be- den Castor-Transport blockiert und möglicherweise Gesetze verletzt. straft werden. Bei dem Straftatbestand „ge- Die Innenminister einiger Bundesländer wollen ihnen deshalb die fährlicher Eingriff in den Bahnverkehr“, so Gemeinnützigkeit entziehen. Sind Sie dafür oder dagegen? die Robin-Wood-Anwälte, sei „nicht Leib Befragte Anhänger von Grüne/ und Leben“ Dritter gefährdet worden. Bre- gesamt SPD CDU/CSU Bündnis 90 FDP PDS mens Finanzsenator Hartmut Perschau (CDU) hat derweil erneut angekündigt, vom Ich bin dafür 33 33 43 0 37 40 zuständigen Finanzamt Bremen-Mitte „in- tensiv“ prüfen zu lassen, ob sich die Öko- Ich bin dagegen 53 57 46 100 54 59 Kämpfer im „Rahmen der verfassungs- Weiß nicht, ist mir egal, mäßigen Ordnung“ bewegten und weiterhin 13 11 11 0 9 2 als „gemeinnützig“ gelten können. keine Angabe Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 3. und 4. April 2001; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent

BUNDESWEHR gangenen Donnerstag erneut mit dem Spielraum nun ausdehnen. Einem Ver- Versuch gescheitert, zusätzliche Milliar- merk zufolge, der Anfang vergangener Umweg zum Geld denbeträge für die Bundeswehr einzu- Woche im Eichel-Ministerium einging, werben. Weil eine Erhöhung des Vertei- will die Bundeswehr im Jahr 2002 statt ei einem Geheimtreffen mit Bun- digungshaushalts in der rot-grünen der geplanten 1,2 Milliarden Mark rund Bdeskanzler Gerhard Schröder und Koalition umstritten ist, plant Scharping 2,7 Milliarden behalten, danach soll die Finanzminister Hans Eichel ist Verteidi- jetzt, auf einem Umweg zu mehr Geld Marge stufenweise auf 4 Milliarden gungsminister Rudolf Scharping am ver- zu kommen. Dabei geht es um Privati- Mark im Jahr 2005 angehoben werden. sierungen und den Verkauf Eichel hat rechtliche Bedenken: Er überflüssigen Militärgeländes fürchtet, neben dem normalen Wehretat sowie Geräts. Bisher hatte Fi- – für 2002 sind bislang 46,5 Milliarden nanzminister Hans Eichel zuge- geplant – werde ein „Schattenhaushalt“ sagt, Scharping dürfe im kom- entstehen. SPD-Wehrexperte Manfred menden Jahr bis zu 1,2 Milliar- Opel dagegen forderte vergangene Wo- den Mark aus solchen Erlösen che, die Bundeswehr müsse noch in die- behalten, um neue Ausrüstung sem Jahr drei Milliarden zusätzlich er- zu kaufen. Scharpings Haus- halten. Sonst, so der Sozialdemokrat,

M. URBAN / MELDEPRESS M. URBAN haltsplaner möchten diesen „fliegt uns das ,Sozialsystem Bundes- wehr‘, die neue Wehrstruktur und die Panzervorführung (in Munster) Bündnisfähigkeit um die Ohren“.

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PRESSENS BILD / DPA

ESTONIA-KATASTROPHE Gutachten

ACTION PRESS bestätigt Fährschiff „“, Bergung eines Wrackteils er Wissenschaftlerstreit um mögliche (SPIEGEL 5/2001). Die BAM-Forscher te befragen und dann über eine Verfah- DExplosionen als Auslöser für den hatten verdächtige Metallstücke von der renseinstellung entscheiden. Ein Münch- Untergang der Ostsee-Fähre „Estonia“ „Estonia“ mit Schiffbaustahl verglichen, ner Gericht hat derweil in erster Instanz ist weitgehend beendet. Das Material- den sie zuvor zahlreichen Sprengversu- das Magazin „Focus“ im Wege einer einst- prüfungsamt des Landes Brandenburg chen und mechanischen Belastungen weiligen Verfügung dazu verurteilt, eine und das Southwest Research Institute im ausgesetzt hatten. Strukturveränderun- Gegendarstellung der BAM zu drucken. texanischen San Antonio, haben mittler- gen im Metall, die zunächst auf Explo- Das Blatt hatte berichtet, Experten der weile eingeräumt, dass die von ihnen an sionen hindeuteten, erwiesen sich dabei Anstalt hätten die Oberfläche eines Prüf- Wrackteilen der „Estonia“ festgestellten als Folge des im Schiffbau üblichen Rost- stücks von der „Estonia“ geschliffen und Spuren – anders als bislang interpretiert schutzes durch Beschuss mit Metallkü- dabei Indizien für eine Explosion unbe- – keine Hinweise auf Explosionen liefer- gelchen. Das Gutachten, so ein BAM-Ex- dacht vernichtet. Tatsächlich aber wur- ten. Damit bestätigten sie ein Gutachten perte, stehe „wie ein Fels in den Wel- den nur Querschnitte zur Untersuchung der Bundesanstalt für Materialforschung len“. Die Staatsanwaltschaft Hamburg, präpariert. Die „Estonia“ sank in der und -prüfung (BAM) in Berlin, das der die im Fall „Estonia“ ermittelt, will im Nacht zum 28. September 1994 in der Ost- SPIEGEL in Auftrag gegeben hatte Mai Fachleute der verschiedenen Institu- see, 852 Menschen kamen ums Leben.

NRW deutlich höhere Bußen üblich. Weil HAUPTSTADT das Verfahren noch nicht abgeschlos- „Ernsthafter Vorgang“ sen ist, kann die Höhe des Bußgel- Kulturvertrag auf der Kippe des noch korrigiert werden, auch n der Steueraffäre um den nord- wenn Samland die Summe bereits ieder auf der Kippe steht der zwischen Irhein-westfälischen Minister für überwiesen hat. Da der damalige Eu- WBerliner Senat und Bundesregierung Bundes- und Europaangelegenhei- ropa-Abgeordnete auf Gewerk- mühsam ausgehandelte Hauptstadt-Kulturver- ten, Detlev Samland (SPD), gerät schaftsticket Aufsichtsratsmitglied trag. Das Bundesfinanzministerium (BMF), das dieser weiter unter Druck. wurde, hätte er, den Ge- der Vereinbarung schon zugestimmt hatte, zog Experten des NRW-Fiskus pflogenheiten zufolge, ei- vergangene Woche seine Zusage zurück. Be- kritisieren, dass die von nen Teil der Tantiemen gründung: Im Vertrag sei nicht klargestellt, der Staatsanwaltschaft Es- an die Hans-Böckler-Stif- dass die Grundstücke, auf denen die vier künf- sen ins Auge gefasste tung und ein Bergleute- tig vom Bund mit jährlich über 36 Millionen Geldbuße von 20000 Erholungswerk abführen Mark zu finanzierenden Berliner Kulturinsti- Mark, deren Zahlung zur müssen. Dass er das Geld tutionen Jüdisches Museum, Haus der Kultu- Einstellung des Verfahrens für sich behielt, sei „eine ren der Welt, Berliner Festspiele und Martin- führt, zu niedrig sei. Sam- private Angelegenheit“, Gropius-Bau stehen, dem Bund kostenlos land hatte vier Jahre lang so Samland zum SPIE- überlassen werden. Wahrer Grund ist offenbar Tantiemen als Aufsichts- GEL. Ministerpräsident die tiefe Verärgerung des BMF-Staatssekretärs ratsmitglied des Kölner Wolfgang Clement hält Manfred Overhaus, der sich wiederholt über Tagebaubetreibers Rhein- den Fall dagegen für „ei- unmäßige Forderungen des Berliner Senats er- braun nicht angegeben nen ernsthaften Vor- regt hatte. Der Vertrag war von Kulturstaats- und dabei 43000 Mark gang“. Clement hatte die- minister Julian Nida-Rümelin und Kultursena- Steuern hinterzogen. In ses Mandat vor Samland tor Christoph Stölzl bereits abgezeichnet wor-

Nordrhein-Westfalen sind DPA inne und die Gelder in den; in der vergangenen Woche sollte er den für ein solches Vergehen Samland voller Höhe abgeführt. Haushaltsausschuss des Bundestags passieren.

18 der spiegel 15/2001 Deutschland

POLIZEI Fahndungscomputer abgestürzt as gemeinsame Computersystem Millionenbetrag gekostet hat. Der Da- Dder Polizeien von Bund und Län- tenverbund, der die länderübergreifen- dern wird zum Millionengrab. Wegen de Verbrechensbekämpfung erleichtern technischer Probleme muss der für den soll, war bereits 1992 von der Innenmi- 15. April vorgesehene Start des Daten- nisterkonferenz beschlossen worden. verbunds um mindestens ein halbes Experten kritisieren vor allem die offen- Jahr verschoben werden. Der zuständi- bar untaugliche Software, die das Bun- ge Projektleiter im Bundeskriminalamt, deskriminalamt in Zusammenarbeit mit Peter Matschak, wurde von seiner Auf- der Firma debis entwickelt hat. Wegen gabe entbunden. Nur einige Bundeslän- der Verzögerung kommen auf die Poli- der werden Mitte April einen Testbe- zeien in Bund und Ländern jeden Mo- trieb des neuen Informationssystems nat Kosten in zweistelliger Millionen- starten, das bislang einen dreistelligen höhe zu.

KRIMINALITÄT Magdeburger Richter ist inzwischen we- gen Bestechlichkeit angeklagt, im Korrupte Richter Mannheimer Fall steht die Anklageer- hebung kurz bevor. Den Richtern dro- leich zwei deutschen Richtern hen mehrjährige Freiheitsstrafen. Die Gdroht jetzt wegen Korruptionsver- beiden Fälle stellen nach Ansicht von dachts bei Insolvenzverfahren der Raus- Experten die Art der Vergabe von In- wurf aus dem Dienst. In Magdeburg solvenzverwaltungen in Frage, bei der wurde der Insolvenzrichter Sven R. be- Einzelrichter nach eigenem Ermessen reits vorläufig seines Dienstes enthoben, entscheiden, welcher Verwalter mit ei- für seinen Mannheimer Kollegen Jesko nem der oftmals lukrativen Aufträge be- F. die Suspendierung beantragt. Beide dient wird. „Das ist ein grundsätzliches Richter sollen in Insolvenzverfahren be- Problem. Wo viel Geld fließt, wird auch stimmte Verwalter und Verwerter be- geschmiert“, kritisiert der Vorsitzende vorzugt und sich im Gegenzug privat des Deutschen Richterbundes in Nord- aus Konkursmassen bedient haben. Der rhein-Westfahlen, Johannes Nüsse. P. JUELICH P. Richter F. (in Mannheim)

RECHTSEXTREMISMUS verse Mahler-Adressen. „Wir haben die Seiten auch wegen Verdachts auf rechts- Fristlos gekündigt extremistische Inhalte aus dem Netz genommen“, so Geschäftsführer Johan- nternet-Propagandaseiten des Rechts- nes Herold. Mahler vertritt die NPD im Iextremisten Horst Mahler (NPD) Verbotsverfahren vor dem Bundesverfas- wurden jetzt gesperrt. Weil Mahler eine sungsgericht. Auf seinen Seiten offerierte Rechnung über 436,80 Mark für die er Dokumente und Argumente gegen Homepages nicht bezahlt hatte, kündig- das von Bundesregierung, Bundesrat te deren Verwalter Checkdomain.de di- und Bundestag beantragte NPD-Verbot.

der spiegel 15/2001 19 Panorama Deutschland

Am Rande Luder-Regatta s gab Zeiten, da hat „Bild“ EKanzler gemacht und Kampa- gnen. Der Krieg war kalt und der Feind auf den Manöverplänen der Bundeswehr rot. Dann war erstens der Feind weg und zweitens der Verteidigungsminister ein Roter. Es war also alles sehr schlimm: für „Bild“, weil man nur noch bei den Pin-up-Fotos richtig auf den Kli- schee-Lukas hauen konnte, und für die Truppe, weil plötzlich auch Frauen dienen durften und Hoch- glanz-Unbekleidete aus den Spin- den verschwinden sollten. Typische Sozi-Idee. Nannte sich „Führungs-

hilfe für Vorgesetzte“ über den / VISION PHOTOS A. KULL „Umgang mit Sexualität“ und stell- Stasi-Unterlagen in der Birthler-Behörde te das „Zeigen und sichtbare An- STASI-AKTEN Dossiers unter Verschluss bleiben. Hin- bringen pornografi- tergrund des überraschenden Vorschla- scher Darstellungen“ Zeugen gegen Kohl ges, den die Birthler-Behörde dem Ge- unter Strafe. Statt richt unterbreitete, sind widersprüch- Helm ab nun Pin ab m Streit um die Stasi-Akten von Alt- liche Formulierungen im Gesetz. Da zum Gebet?! Ikanzler Helmut Kohl will die Behörde dieses damals „in größter Eile“ erarbei- der Bundesbeauftragten Ma- tet worden sei, könne es Anfang dieses Jah- rianne Birthler notfalls sein, dass dabei „textliche res fand zusammen, hochrangige Beamte und Mängel“ entstanden seien, was zusammengehört: Politiker als Zeugen benen- die den Abgeordneten „Bild“ und Bund, Kli- nen. So könnten etwa der nicht aufgefallen seien, ar- schee und Kampa- heutige Staatssekretär im gumentieren Birthlers gnen. Heraus kam die Justizministerium, Hansjörg Anwälte. Deshalb sei die Geiger, oder die frühere „Anhörung der am Gesetz- Wahl zum „Spindluder“. Endlich Grünen-Bundestagsabgeord- gebungsverfahren Beteilig- durften sich unsere harten Jungs nete Ingrid Köppe bestäti- ten“ sinnvoll. Bei den Ak-

an der Witz-Front wieder auf Zap- gen, dass die Herausgabe PRESS ACTION ten, die den Altkanzler be- fenstreich- und Strammsteh-Niveau der Akten Prominenter an Birthler treffen, handelt es sich um runterrammeln, bevor vergangene Wissenschaftler und Histo- 1163 Seiten aus der Stasi- Woche der Hauptgefreite Martin riker ausdrücklicher Wunsch des Bun- Telefonüberwachung, darunter 37 Ge- destags gewesen sei. Kohl klagt vor spräche des Ex-Kanzlers, und 3255 Sei- Jungnickl vom Gebirgsnachschub- dem Verwaltungsgericht in Berlin, um ten der DDR-Spionageabteilung Haupt- Bataillon 82 in Regensburg gewann: zu erreichen, dass die ihn betreffenden verwaltung Aufklärung. das lebende Silikongebirge der „Spindluder“-Siegerin Katie Price, Freibier sowie eine halbe Seite in „Bild“. Dort schrieb er, dass Lie- CHINA besluder Katie ihm sogar „feuchte Träume“ wünschte. Die britische Aufrüstung mit deutschem Hightech? Blondine hatte bei „Bild“ vorher ie Bundesregierung hat die deut- Namentlich führt die Regierung 56 Be- bereits als „Boxenluder“ des klei- Dsche Wirtschaft davor gewarnt, an triebe auf. Der Bericht rät den deut- nen Schumi Karriere gemacht und chinesische Firmen Hochtechnologie zu schen Firmen „angesichts einer unüber- würde sicher gern weiter unter verkaufen. Derzeit sei Peking um „eine schaubaren Zahl von potenziell rüs- intensive Modernisierung der Ausrüs- tungsrelevanten Betrieben“ zu gene- „Bild“-Chefredakteuren dienen. tung der Streitkräfte bemüht“ und wol- reller Vorsicht bei Exporten in das Noch zu besetzen in deren Luder- le „veraltete Technologien“ durch Reich der Mitte. Berlin verdächtigt die Regatta: BSE-Luder, Gen-Luder, Hightech-Waffen ersetzen, heißt es in Chinesen, auch Drittstaaten bei der Börsen-Luder, Schind-Luder. einem aktuellen Schreiben an die Spit- Entwicklung von Massenvernichtungs- zenverbände der deutschen Industrie. waffen und Raketen zu unterstützen.

20 der spiegel 15/2001 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

TERRORISMUS „Höchst alarmierend“ Nach der Verhaftung von fünf mutmaßlichen islamistischen Extremisten in Frankfurt am Main steht fest: Auch Deutschland ist vor blutigen Anschlägen nicht länger geschützt. Im Berliner Kanzleramt warnt man bereits vor der derzeit „größten Herausforderung“ für die innere Sicherheit.

ie Verhältnisse, auf die Frankreich – das wäre auch politisch eine die Staatsmacht am ver- Katastrophe. Dgangenen Mittwochmor- Nicht nur die Bundesregierung ist alar- gen in der Frankfurter Spohr- miert. Mutmaßliche Terroristen der Bin- straße stieß, waren höchst un- Laden-Truppe wurden mittlerweile in übersichtlich. Der offizielle Mie- Großbritannien und in Italien entdeckt. In ter des Ein-Zimmer-Apartments, beiden Fällen lieferten deutsche Ermittler ein algerischer Asylbewerber, entscheidende Hinweise. Rom revanchier- war nicht da. Die Behörden hat- te sich – etwa mit abgehörten Telefonaten. ten den Automechaniker längst Wie die deutschen schlugen die italieni- in seine Heimat abgescho- schen Ermittler vergangenen Mittwoch ben. Die Miete, 650 Mark kalt, Punkt sechs Uhr in und um Mailand zu wird seitdem, von wem auch und verhafteten fünf Tunesier. „Wir sind immer, jeden Monat bar be- überzeugt, das Gehirn des islamistischen zahlt. Terrorismus zerschlagen zu haben“, tönte Stattdessen stießen die Er- Innenminister Enzo Bianco. mittler der Bundesanwaltschaft, So siegessicher ist in Deutschland nie- die im Windschatten eines Kom- mand. Denn trotz der Fahndungserfolge mandos der Anti-Terroreinheit gilt, dass über die Strukturen der Gottes- GSG 9 die Wohnung Nummer krieger fast nichts bekannt ist. Wie viele 204 stürmten, auf einen Mann, sind es? Von wem bekommen sie ihre Be- der gar nicht da sein sollte: Denn fehle? Was haben sie vor? Die Behörden Samir K., 33, ist einer Asylun- haben darauf keine Antwort. terkunft im Rheingau zugewie- Besonders beunruhigend ist für die Si- sen. Obwohl sein Antrag abge- cherheitskräfte, dass die Islamisten offen-

lehnt wurde, schützt ihn eine GÜNTHER J. Duldung vor Abschiebung ins Terroristen-Unterschlupf*: „In letzter Minute“ heimische Algerien. Die muss er jetzt zunächst nicht mehr Tote) sowie auf den US-Zerstörer „Cole“ im fürchten. K. sitzt in Untersuchungshaft, jemenitischen Aden (17 Tote) – Europa nicht und dort wird er wohl auch noch eine Wei- erreicht. Aber die nach dem Ende der Ro- le bleiben. Am Donnerstag erließ der Er- ten Armee Fraktion lieb gewordene Sicher- mittlungsrichter beim Bundesgerichtshof heit, Deutschland habe blutige Terroraktio- Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in einer nen nicht mehr zu fürchten, ist dahin. terroristischen Vereinigung. Die Regierung, bis hinauf zu Kanzler K. soll genauso wie vier nach dem Tipp Gerhard Schröder, ist hoch nervös und ach- eines ausländischen Geheimdienstes bereits tet darauf, dass die bisweilen nur wider- im vergangenen Dezember verhaftete Mus- willig kooperierenden Sicherheitsbehör- lime zur deutschen Filiale einer der gefähr- den – vom Bundeskriminalamt bis zum

lichsten Terrorgruppen der Welt gehören. BND – diesmal eng zusammenarbeiten. DPA Sie stehen im dringenden Verdacht, fanati- „Das ist unsere größte terroristische Her- Innenminister Schily, Kanzler Schröder sche Gotteskrieger zu sein, die auf das Kom- ausforderung“, mahnt Schröders Geheim- „Wir haben längst nicht das volle Bild“ mando des in Afghanistan untergetauchten dienstkoordinator Ernst Uhrlau. Multimillionärs Ussama Bin Laden hören. In Doch wie ernst die Bedrohung ist, die öf- bar unter den in Deutschland lebenden ihren Schlupfwinkeln in Frankfurt fand die fentlich bisher kaum wahrgenommen wird, Muslimen potenzielle Attentäter und Un- Polizei damals ein ganzes Waffenarsenal macht Bundesinnenminister Otto Schily terstützer rekrutieren. „Das ist kein kurz- und Chemikalien zum Bombenbau. (SPD) deutlich. „In letzter Minute“ habe fristiger Anreiseterrorismus“, sagt Uhrlau. Wie ein „Robin Hood der arabisch-mus- man einen „terroristischen Anschlag“ in Unter den jetzt Einsitzenden sind abge- limischen Welt“, urteilt der Bundesnach- Straßburg verhindern können. Die aufge- lehnte Asylbewerber, die untertauchten, richtendienst (BND), werde der 44-jährige flogenen Kämpfer stehen im Verdacht, sie um der Abschiebung zu entgehen. Nur ei- Bin Laden von seinen Anhängern verehrt. hätten eine Bombe nahe des dortigen Müns- ner von ihnen war den Staatsschützern Bislang haben die brutalen Attentate, die ters zünden wollen (SPIEGEL 9/2001). Ein in schon einmal aufgefallen. In Frankreich seinen Kämpfern zugerechnet werden – dar- Deutschland vorbereitetes Massaker in hatte er bei dem algerisch-fundamentalis- unter die Anschläge auf die US-Botschaften tischen Propagandablatt „al-Ansar“ mit- in Nairobi (253 Tote) und Daressalam (10 * In der Frankfurter Spohrstraße. gearbeitet. Zwar hatte die Polizei über die

22 der spiegel 15/2001 Die blutige Spur des islamistischen Terrors REUTERS 18. September 1997 Vor dem Ägyptischen Museum in Kairo werden neun Deutsche bei einem Überfall getötet. DPA / CORBIS SYGMA NEEMA F. 17. November 1997 58 ausländische Touristen, darunter 4 Deutsche, sterben in Luxor im Kugelhagel.

Mutmaßlicher Top-Terrorist Bin Laden: „Robin Hood der arabischen Welt“

anderen schon so manches zusammenge- Dass die Fahnder womöglich AP tragen – aber stets nur gewöhnliche Strafta- erst am Anfang stehen, zeigte sich 7. August 1998 ten wie Einbruch und Drogenhandel. nach den insgesamt acht Durch- Bombenattacke auf die Dass mit den beiden Schlägen vom De- suchungen vorige Woche: Gegen US-Botschaft in Nairobi zember und der vergangenen Woche erst zwei in Bayern und zwei in Hes- mit 253 Toten. ein kleiner Sieg errungen ist, weiß auch sen lebende Nordafrikaner leitete die Bundesregierung. „Wir haben noch die Bundesanwaltschaft Verfahren 7. August 1998 längst nicht das volle Bild“, so Schily. wegen Unterstützung einer terro- Bombenanschlag auf die Immerhin neun Tatverdächtige sind na- ristischen Vereinigung ein. US-Botschaft in

mentlich bekannt, aber erst fünf verhaftet. Einer aus dem Quartett sitzt AFP / DPA Daressalam – zehn Tote. Wie weit verzweigt das Netz ist, beweist mittlerweile – aber aus einem an- ein von den Italienern Ende Dezember deren Grund. Bei seiner Vernehmung wur- abgehörtes Telefonat. Ein islamistischer de er ganz nervös, als die Polizei begann, Funktionär in Belgien wurde über den sich für sein dickes Schlüsselbund zu in- Fahndungserfolg informiert: „Ich setze teressieren. Bei weiteren Ermittlungen dich davon in Kenntnis, dass die Hälfte stellte sich heraus, dass das Schlüsselbund der Gruppe in Deutschland festgenom- eine Spur zu einem schweren Raub war, men wurde.“ Die anderen sind trotz al- den der mutmaßliche Terroristen-Unter- ler Fahndungsanstrengungen noch nicht stützer offenbar begangen hatte. Das war gefasst. nicht der einzige Zufallsfund: In der Flens- Für Bayerns Innenminister Günther burger Straße in Frankfurt, wo die Ermitt- Beckstein (CSU) ist es „höchst alarmie- ler ebenfalls durchsuchten, trafen sie auf rend“, dass die Islamisten potenzielle At- einen zur Abschiebung ausgeschriebenen REUTERS tentäter auch unter den Asylbewerbern re- Algerier. 12. Oktober 2000 krutieren. Beckstein: „Die schicken uns Einige der jetzt Inhaftierten sollen in ei- Selbstmordattacke auf den US-Zerstörer „Cole“ ihre Leute, die hier dann unter Ausnut- nem der mindestens vier Lager Bin Ladens im Hafen von Aden. Es sterben 17 Seeleute. zung des Asylrechts bleiben können.“ in Afghanistan ihre Ausbildung zum Got-

der spiegel 15/2001 23 Deutschland

dass die Bomben jenen ähneln sollten, die Fundamentalisten 1995 in Frankreich zün- deten: ein fest geschlossener Topf mit ei- nem chemischen Selbstlaborat, durchsetzt mit Metallteilen, die schreckliche Wunden reißen. Dafür, dass in Straßburg Menschen ster- ben sollten, spricht auch, dass die Algerier im nahen Baden-Baden vom ersten Weih- nachtsfeiertag 2000 an für eine Woche zwei Apartments gemietet hatten. Per Videoka- mera zeichneten sie die Fahrtstrecke von Baden-Baden ins Elsass und zur belebten

AFP / DPA Place Kléber nahe des Münsters auf. Ara- bische Wegbeschreibungen Mudschahidin-Lager und dezente Kampfmusik Bin-Laden-Lager bildeten die Tonkulisse des Quelle: BND HindukuschKantiwa Bandes. Neben Frankfurt gilt den Terroristen-Trainingslager in Afghanistan* AFGHANISTAN KONAR Ermittlern der Großraum Kampf gegen das Böse Asadabad München als möglicher zweiter Schwerpunkt der Is- teskrieger erhalten haben. Jährlich werden KABUL lamisten in Deutschland. dort nach Erkenntnissen westlicher Ge- Kabul PAKISTAN Vergangenen Mittwoch Khayrabad Jalalabad heimdienste mehrere tausend Muslime für durchsuchten die Fahnder ihren Kampf gegen die Ungläubigen ge- NANGARHAR eine Wohnung in Freising. Peshawar schult. „In allen Konflikten, in denen sich LOWGAR Torkham Dort war bereits im Septem- muslimische und weltliche Parteien ge- Jaji ber 1998 der mutmaßliche genüberstehen“, urteilt der BND, tauchten TURK- USBE- TADSCHI- Finanzchef der Bin-Laden- sie als „Söldner“ auf. MENIS- KISTAN KISTAN Organisation „al-Qaida“, Auch deutsche Touristen gehörten schon PAKTIA TAN Mamduh Mahmud Salim, zu ihren Opfern. Manche der Geiselneh- Khost Kabul verhaftet worden (SPIEGEL mer von Jolo sollen ihr Handwerk in af- 40/1998). Er wurde mittler- AFGHANISTAN ISLA- ghanischen Camps gelernt haben. Und MA- weile an die USA ausgelie- auch die ägyptischen Radikalen, die 1997 in BAD fert. Genauso wie die 22 an- Kairo und Luxor insgesamt 13 deutsche 25 km PAKISTAN deren, gegen die in New Urlauber töteten, unterhielten engste Ver- IRAN INDIEN York bereits der Prozess we- bindungen zur Bin-Laden-Bewegung. gen der Anschläge auf die Trotz aller Versuche, die Mitglieder der und sogar am Sitz der Bundesanwaltschaft, US-Botschaften in Kenia und Tansania Frankfurter Gruppe zum Reden zu bringen, in Karlsruhe, tauchten sie auf. eröffnet ist, soll auch Salim vor Gericht. schweigen alle zu den Terrorismusvorwür- Bei ihrer Deutschlandreise kauften sie in Der damals kaum beachtete Fall könnte fen. Zwei von ihnen würden prima ins Bil- Apotheken spezielle Chemikalien, aus de- jetzt wichtige Erkenntnisse für die laufen- derbuch der Freischärler passen: rund ge- nen sich Sprengstoff mixen lässt. Allein 30 den Ermittlungen bringen. „Von Salim zu stutzte Bärte, stets gelassen und bei den Kilogramm Kaliumpermanganat erstanden den jüngsten Verhaftungen in Frankfurt Vernehmungen sogar ein bisschen mokant. sie so. Stets gaben sie an, den Stoff für ei- gibt es eine Spur“, so Bayerns Innenminis- Freimütige Geständnisse liefern sie nur nen befreundeten Arzt beziehungsweise ter Beckstein. in Randbereichen: Ja, sicher habe man ge- ein Krankenhaus in Afrika zu brauchen. Die Jagd auf die Bombenbauer ist eröff- fälschte Papiere verwendet – was ange- Eine der hierbei benutzten Kreditkar- net. Roms Innenminister Bianco sorgt sich sichts ganzer Bündel beschlagnahmter Päs- ten führte auch auf die italienische Spur. schon um die Sicherheit des für Ende Juli se auch ziemlich schwer zu leugnen ist. Dort war das Plastikgeld gestohlen wor- geplanten G-8-Gipfels in Genua. Sein Ber- Aeuroubi B., 25, ein abgelehnter Asyl- den. Zahlreiche von den deutschen Er- liner Amtskollege Schily verspricht: „An- bewerber, der untergetaucht war, gestand mittlern ausgewertete Telefonate belegten gesichts der enormen Gefahren werden wir ein, mit Drogen zu handeln. Schon bei den die engen Verbindungen zwischen der höchste Anstrengungen unternehmen, um Durchsuchungen im Dezember waren auch Frankfurter und der Mailänder Gruppe. die Strukturen dieser international ver- acht Platten Haschisch gefunden worden. Deren mutmaßlicher Chef betrieb eine il- zweigten Gruppen aufzuklären.“ Die vielen Telefonnummern in einem Ka- legale Arbeitsvermittlung. Das muss wohl auch sein. Denn dass der lender erklärte B. mit solchen Geschäften. Wie ernst den Kämpfern ihre Sache ist, Skrupelloseste bisher vermutlich noch nicht Die Erfahrungen aus dem ordinären kri- beweist das im Dezember in Frankfurt si- einmal enttarnt ist, legt ein am 3. März von minellen Milieu nutzten die Bin-Laden- chergestellte Arsenal. Neben Maschinen- den Italienern abgehörtes Telefonat nahe: Anhänger geschickt. Mit Hilfe einer ganzen pistolen, Gewehren mit Zielfernrohr und „Der Gefährlichste ist nicht unter den Brü- Serie gefälschter oder entwendeter Kre- Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern wur- dern, die sie in Deutschland festgenommen ditkarten finanzierten sie die Anschlags- den in arabischer Schönschrift verfasste haben“, hörten die Ermittler bei einem vorbereitungen. Bei Peek & Cloppenburg Anleitungen zum Bombenbau gefunden. Gespräch zwischen den in Italien leben- erstanden sie feine Anzüge. Seriös geklei- Ein Gutachten hat mittlerweile ergeben, den Tunesiern mit. „Er wurde erbarmungs- det, reisten sie in zwei Mietwagen durch dass die beschriebenen Schrittfolgen zwar los abgerichtet. Glaubt mir, in Deutsch- die Republik. In Berlin, Hamburg, Stuttgart etwas umständlich sind, aber am Ende zur land kennt ihn keiner, weil er immer auf Bombe führen. Reisen ist. Er ist wie ein Knopf, man * US-Satellitenbild des Zhawar-Kili-Support-Komplexes, Weil auch Nägel und Schnellkochtöpfe braucht ihn nur zu drücken für jegliche 150 Kilometer von Kabul entfernt. gefunden wurden, liegt der Verdacht nahe, Aktion.“ Wolfgang Krach,Georg Mascolo

24 der spiegel 15/2001 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

GRÜNE „Der Kaiser ist nackt“ Nach 17 Wahlniederlagen erkennen selbst die Realos bei den Bündnis-Grünen: Joschka Fischers Traum, die FDP zu beerben, ist geplatzt. Wahlforscher empfehlen der Partei die Besinnung auf alte Werte: Umwelt, Umwelt, Umwelt.

te, an die Glaubwürdigkeit der Grünen, schimpfte ein an- derer Realo. Der Angegriffene keilte zurück: Kritik am Vor- stand sei zwar erlaubt, aber man solle doch bitte die Form wahren. Erst zwei Wochen nach dem desaströsen Wahlergebnis in Ba- den-Württemberg wird das ganze Ausmaß der Krise offen- bar, in die sich die Grünen über Jahre hinweg hineinmanövriert haben. Der Öffnungskurs des al- ten Patriarchen Joschka Fischer hin zur bürgerlichen Mitte ist gescheitert: Die Wähler haben den Versuch, die Grünen in ei- ne „Öko-FDP“ zu verwandeln, nicht angenommen. Der Realo-Flügel, der nach außen stets wie der Stabili- tätsanker der Partei und die Brücke zum bürgerlichen Lager erschien, hat sich in den vergan-

N. MASKUS genen Monaten selbst zerlegt. Grüner Oberrealo Fischer*: „Kurs halten“ – welchen denn? Derzeit gibt es weder organi- sierte Flügel noch ein kräftiges ie Szene wirkte wie eine gespensti- langt, von seinen Gesinnungsgenossen ein- Zentrum. Inmitten der Auflösung wirken sche Reminiszenz an den späten stecken. Eine quälende Stunde lang ließ die Anstrengungen von Parteichef Kuhn, DKanzler und CDU-Chef Helmut Fraktionschef Rezzo Schlauch die Meute die Grünen neu zu sortieren und aus- Kohl. Mochte die Herde um ihn herum gewähren. Erst dann griff er ein: „Solida- zurichten, verzweifelt und hilflos. noch so wild durcheinander laufen – der rität“ forderte er lautstark, besonders von Beinahe jeden Tag, an dem Fritz Kuhn entrückte Leithammel ließ sich in seinem seinen Realos. zur Arbeit kommt, lodert das Feuer an Optimismus durch nichts erschüttern. Mit seinem Zickzackkurs zur Ökosteuer einer neuen Front. Erst veranstalteten die Die braune Ledermappe lässig unterm – erst plädierte er für eine Erhöhung über Realos eine Hetzjagd auf Parteifreund Arm, verabschiedete sich Joschka Fischer 2003 hinaus, dann wieder nicht – hatte Jürgen Trittin und gaben damit der Oppo- am Dienstag vergangener Woche vor Ende Kuhn die Grünen-Abgeordneten auf die sitionskampagne gegen den Bundesum- der Grünen-Fraktionssitzung mit einem Zinne getrieben. Finanzexperte Oswald weltminister kräftigen Aufwind. Dann aufmunternden Spruch: „Kurs halten“, rief Metzger verlangte „selbstkritische Re- attackierten die Realos den verdutzten der Bundesaußenminister in den Saal, flexion“ von seinem Vorsitzenden. Kuhns Vorsitzenden selbst wegen seiner Aussa- bevor er entschwebte, losgelöst von den Politikpräsentation gehe ans Eingemach- gen zur Ökosteuer. irdischen Problemen der Partei- Zuletzt gingen Renate Künast freunde. Grünen-Chefin Roth: „Wir brauchen Inhalte“ und Bärbel Höhn, die beiden Unter den Zurückgelasse- grünen Stars in der Landwirt- nen herrschte derweil Anarchie. schafts- und Verbraucherpolitik, In immer neuen Grundsatz- wie Furien aufeinander los. erklärungen hatten Abgeordne- Nach ihrem öffentlichen Streit te aus dem Realo-Lager ihren über Impfungen bei der Maul- Parteichef Fritz Kuhn demon- und Klauenseuche zwang Kuhn tiert. Schlag auf Schlag musste die beiden zum Versöhnungs- Kuhn, selbst über die Realo-Seil- gespräch an einen Tisch in der schaft an die Grünen-Spitze ge- Berliner Parteizentrale. Spätes- tens da war klar, dass es zwi- * Im Juni vergangenen Jahres beim Bun- schen den beiden Ministerinnen desparteitag in Münster. PRESS / ACTION C. AUGUSTIN nicht nur um die Sache, sondern 26 Werbeseite

Werbeseite Deutschland auch um den innerparteilichen Stellungs- Landtagswahlen bestätigen diese Tendenz. Wirtschaftspartei gehandelt. Jetzt höhnten krieg ging. Nur 12 Prozent der Grün-Wähler in Ba- Linke beim Blick auf das Wahlergebnis: Kurs halten? Welchen denn? Das Lachen den-Württemberg und 16 Prozent in Rhein- „Der Kaiser ist nackt.“ über Fischers Empfehlung bleibt den Grü- land-Pfalz, ermittelte Infratest dimap, hiel- Kein Wunder, dass Metzger derzeit wild nen im Halse stecken. „Bei uns geht die ten die Wirtschaftspolitik für ein wahlent- um sich schlägt. Statt pünktlich in die Frak- nackte Existenzangst um, gepaart mit stra- scheidendes Thema. tion zu gehen, giftete er Dienstag vergan- tegischer Ratlosigkeit“, bilanziert Christian Vor allem in Baden-Württemberg war gener Woche zehn Minuten vor 5 Kameras Simmert, 28, grüner Bundestagsabgeord- dies ein erschütternder Befund für die Rea- und 25 Journalisten, was ihm alles an den neter aus Nordrhein-Westfalen. Grünen stinkt. Trotzig warnte er: „Wer sich Ein „kollektives Gefühl der jetzt nur auf die Stammwähler konzen- Hilflosigkeit“ habe die Partei er- triert, gefährdet das grüne Projekt.“ griffen, klagt der Umweltpoliti- Der Absturz der Grünen in der Wähler- ker Reinhard Loske, 42. gunst ging mit dem innerparteilichen Sie- Das Korsett, das Fischer der geszug der Realos einher. Durch die Re- Partei Mitte der neunziger Jah- gierungsbeteiligung im Bund verprellte die re übergestülpt hatte, trägt nicht Partei Stammwähler aus Oppositionszei- mehr. Die Umweltpolitik allein, ten. Ob Kosovo-Krieg oder Atomkonsens: hatte er als Parole ausgegeben, Nach jedem Richtungsstreit seilten sich könne die Zukunft der Partei auf aufs Neue Überzeugungslinke ab – die Dauer nicht sichern. Wenn die Realos als Garanten der Regierungsfähig- Grünen aus der Generationen- keit begleiteten den Abgang mit überbor- falle ausbrechen wollten, so die dendem Selbstbewusstsein. „Das war ein Idee, müsste die Links- und grünes Godesberg“, jubelte Realo-Denker Protestpartei sich in eine mo- Ralf Fücks nach dem turbulenten Kosovo- derne bürgerliche Funktions- Parteitag vor zwei Jahren. Joschka Fischer partei nach dem Modell der FDP analysierte noch unlängst kühl: „Nach links entwickeln. Mit einer Gruppe haben wir kein Problem mehr.“ ehrgeiziger Abgeordneter gelang Den Preis des Durchmarschs übersahen es der Bundestagsfraktion in den die Realos geflissentlich. Mit zunehmen- letzten Jahren der Kohl-Ära, der Regierungsfähigkeit verlor die politi- sich als wirtschaftspolitisch soli- sche Programmatik ihre ursprüngliche Fri- de zu profilieren. sche – und die Partei Glaubwürdigkeit und So wurde die Finanzexpertin Profil bei der mehrheitlich linkskonserva- Christine Scheel Vorsitzende des tiven Klientel. Jetzt erkennt die neue Par- angesehenen Finanzausschusses teichefin Claudia Roth: „Politik um des im Bundestag, heimste gar einen Machterhaltungswillens reicht für uns nicht Mittelstandspreis ein. Wirt- aus. Wir brauchen Inhalte.“ schaftsfrau Margareta Wolf avan- Fritz Kuhn, in der Rolle des Parteichefs

cierte auf ausdrücklichen Wunsch S. BONESS / IPON vom Oberrealo zum Integrator mutiert, des parteilosen Wirtschaftsmi- Grünen-Chef Kuhn*: Stammwähler verprellt versucht die Wende seit seiner Wahl beim nisters Werner Müller zu sei- münsterschen Parteitag im Juni ner Parlamentarischen Staatsse- 2000. Als Munition dient ihm kretärin. Und der Haushälter Os- Wahlentscheidende Motive dabei die geheim gehaltene Un- wald Metzger überzeugte selbst bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und tersuchung von Stamm- und Quelle: den früheren Kanzler Helmut Rheinland-Pfalz vom 25. März 2001 Angaben in Prozent Infratest dimap Wechselwählern der Partei, die Kohl: „Was der zum Haushalt Grünen-Wähler die Forschungsgruppe Wahlen vorträgt, könnten zum Teil auch Wähler gesamt Baden- Rheinland- in seinem Auftrag fertigte. wir vortragen.“ Mehrfachnennungen möglich Württemberg 76 Pfalz 70 Die Studie belegt, was Kuhn Genau darin besteht aber das Umweltpolitik 16 14 ohnehin als Königsweg erkannt 33 36 Problem. Gewählt werden die Soziale Gerechtigkeit 33 37 hatte: Nur wenn die Partei ihre Grünen, wie die 17 Wahlnieder- 20 18 ökologisch motivierten Stamm- Ausländerpolitik 14 12 lagen dokumentieren, für diese 17 14 wähler pflege, könne sie den Politik nämlich nicht. Die An- Schulpolitik 14 14 Schrumpfprozess der letzten 17 17 hänger der Grünen, schreibt Verbraucherschutz 7 6 Jahre aufhalten. Neue Wähler 13 8 Meinungsforscher Manfred Güll- Verkehrspolitik 6 6 bekomme man nur, so die Wahl- 12 16 ner vom Forsa-Institut, „stufen Wirtschaftspolitik 46 44 forscher, wenn man gezielt be- sich deutlich links von der Mit- 6 6 stimmte Gruppen grün geneig- Arbeitsmarktpolitik 26 26 te ein“. Anders als FDP-Wähler, 1 1 ter Wechselwähler anspreche. für die „Werte wie Leistung Verbrechensbekämpfung 8 8 Und die potenziellen Neuwähler und Marktkräfte wichtig“ seien, sind nicht markt-, sondern eher blieben bei Grünen-Anhängern „eher post- los. Spätestens seit dem grandiosen Wahl- sozialliberal, wie Kuhns Studie verrät: materialistische Orientierungen charakte- ergebnis von 1996, als die Grünen in Stutt- Demnach geben 35 Prozent der grün ge- ristisch“. gart 12,1 Prozent geholt hatten, galt das neigten Wechselwähler der SPD ihre Stim- Nur drei bis vier Prozent der Befragten Spätzle-Modell als wegweisend. Realos wie me, 16 Prozent der CDU und nur 3 Prozent billigen laut einer neuen Studie der For- Oswald Metzger und der damalige Land- der FDP. Im Realoland Baden-Württem- schungsgruppe Wahlen, die der Parteivor- tagsfraktionschef Fritz Kuhn wurden als berg wurde der Befund bekräftigt: 45 Pro- stand unter Verschluss hält, den Grünen Symbolfiguren für die grüne Zukunft als zent der abgewanderten Wähler begrün- überhaupt eine finanz- und wirtschaftspo- deten ihre Entscheidung mit dem Thema litische Kompetenz zu. Die Analysen der * Vor einem Trittin-Foto. „soziale Gerechtigkeit“.

28 der spiegel 15/2001 Gemeinsam mit zwei dezidierten Linken aus NRW, Umweltministerin Höhn und Par- teichef Frithjof Schmidt, sowie dem prag- matischen Klaus Müller, Umweltminister aus Schleswig-Holstein, formulierte Kuhn daher schriftlich eine Neubestimmung grü- ner Wirtschaftspolitik, in der Fragen wie so- ziale Gerechtigkeit und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielen. Freilich beging Kuhn den Fehler, die Wirt- schaftsliberalen nicht einzubinden. „Die ganze Sprache hat mich massiv gestört“, schimpfte der Baden-Württemberger Metz- ger und warnte vor einer Sozialdemokrati- sierung der grünen Wirtschaftspolitik. Doch das populärste Thema für die Grü- nen ist ihr ältestes: die Umwelt. Die grüne Stammklientel, konstatiert die For-

schungsgruppe Wahlen, will immer nur das M. URBAN eine: Öko, Öko, Öko. 74 Prozent finden Ministerin Künast: „Ein Damoklesschwert über unseren Höfen“ die Ökosteuer gut, 66 Prozent halten gift- freie Lebensmittel für das wichtigste Um- MAUL- UND KLAUENSEUCHE weltthema – weit vor dem Atomausstieg. Auch aktuelle Wahlanalysen bestätigen das: 76 Prozent in Baden-Württemberg und 70 Prozent in Rheinland-Pfalz wählten die „Ich vertrete Grünen wegen der Ökologie. Dieser Befund ist für die beiden alten Vormänner der Grünen gleichermaßen bit- deutsche Interessen“ ter. Fischer muss feststellen, dass die von ihm betriebene Geringschätzung des The- mas Umwelt an den Interessen der Wähler Verbraucherschutzministerin Renate Künast vorbeigeht. Und Trittin, persönlich so wenig (Bündnis 90/Grüne) über den Streit ums Impfen gegen MKS ökologisch bewegt wie sein Rivale Fischer, muss erkennen, dass er an der Spitze des SPIEGEL: Als ein Agrarlobbyist Ihnen im Künast: Trotz der Verzweiflung der Bauern grünen Kernressorts Umwelt nicht die nöti- Januar Nachhilfeunterricht in Landwirt- muss ich nach Plan vorgehen: Das Impf- ge Zugkraft entwickelt, um für seine Partei schaft empfahl, lehnten Sie dankend ab. verbot fällt erst, wenn es wissenschaftlich nützlich zu sein. „Wer sich im Frühjahr nicht Bei der Diskussion über das Impfen wegen überzeugend begründet wird, die EU-Kom- freut, dass die Kraniche durchziehen, kann der Maul- und Klauenseuche scheint es, mission einen Vorschlag macht und es da- auch keine gute Umweltpolitik machen“, als hätten Sie Nachhilfe nötig. für eine Mehrheit gibt. Ich schenke den sagte einst Reinhard Loske. Für die Grünen Künast: Sie gehen davon aus, dass ich Leuten reinen Wein ein: Für flächende- ist der Mangel an Glaubwürdigkeit im keine Ahnung von Seuchenbekämpfungs- ckendes Impfen gibt es weder eine Rechts- Kernbereich das wahre Pro- grundlage noch die politische Mehrheit. blem mit ihrem Trittin. SPIEGEL: Sind die vielen namhaften Vete- Vor der Rückkehr zur Öko- rinäre, die sich für das Impfen stark ma- Partei muss Kuhn freilich erst chen, nicht auf der Höhe der Diskussion? mal die Amokläufer und Fun- Künast: Es gibt kein absolutes Richtig oder damentalisten, zurzeit eher Falsch im Sinne einer physikalischen Ge- bei den Realos virulent, zäh- setzmäßigkeit. Wenn ein Apfel vom Baum men. „Die Flügel müssen von fällt, fällt er immer in Richtung Erdmittel- den Rändern her zerbröseln“, punkt. Diese Gewissheit können Sie bei rief er in der Fraktion. Mit der Impfpraxis nicht garantieren. Strömungsdebatten hätten die SPIEGEL: Auch immer mehr Agrarminister Grünen bei der Bundestags- der Länder verlangen eine Wiederein-

wahl „2002 keine Chance / LAIF REPORTERS führung vorbeugender Impfungen … mehr, weil uns die Öffentlich- Impfung gegen MKS: „Ich brauche keine Belehrungen“ Künast: … und wollen damit erreichen, dass keit keine Chance gibt“. auf EU-Ebene über die zukünftige Impfpo- Wie recht Kuhn hat, erfuhr die thü- politik habe. Nein, hier brauche ich weder litik diskutiert wird. Genau das tun wir. ringische Grünen-Abgeordnete Katrin Nachhilfeunterricht noch Belehrungen. Bei SPIEGEL: Die Bundesländer wollen impfen, Göring-Eckardt kürzlich beim Sonntags- meinem Amtsantritt habe ich eine Rechts- weil ihnen die Bauern im Nacken sitzen. frühstück. Als sie mit ihrem Mann die lage der EU vorgefunden, die Impfen nicht Die haben Angst um ihre Bestände, wenn große Politik diskutierte, meldete sich Sohn zulässt. Ich kann sie in Krisenzeiten nicht MKS nach Deutschland überschwappt. Friedrich, 11, und brachte sein Idol Harry einfach ändern. Aber für den MKS-Fall Diese Angst kann doch in Brüssel nicht so Potter ins Spiel: „Realos, das hört sich an haben wir als Ausnahmen sichergestellt: schwer zu vermitteln sein. wie Muggels.“ Not-impfungen in oder rund um den Seu- Künast: Die Mitgliedstaaten sind unter- Muggels – das sind die phantasielosen chenherd und den Schutz von Zootieren. schiedlich stark vom Agrarexport abhän- Dummköpfe, die nichts wahrnehmen als SPIEGEL: In Deutschland wird es also keine gig. Manche Länder wie Dänemark expor- ihre Welt. Ralf Beste, vorbeugenden Schutzimpfungen gegen tieren Schweinefleisch nach Japan und in Christoph Mestmacher, Gerd Rosenkranz MKS geben, komme, was wolle? die USA. Solche Länder haben natürlich

der spiegel 15/2001 29 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland ein eindeutiges Interesse, ihr Fleisch wei- terhin zu verkaufen. Das können sie aber nur, wenn sie nicht impfen. SPIEGEL: Wie kommen Sie eigentlich mit diesem ganzen Zynismus zurecht? Man- Das Phantom der Felder chen EU-Ländern scheinen die Massen- keulungen wegen MKS geradezu gelegen Für die Politiker ist die Massentötung nur eine zu kommen, weil sie die Fleischberge aus der BSE-Krise abbauen helfen. bürokratische Maßnahme, für die Menschen im Sperrbezirk Künast: Die Bauern berichten mir von ihren Mord am lieben Vieh. Von Klaus Brinkbäumer dramatischen Sorgen: Erst hat BSE als Da- moklesschwert über unseren Höfen ge- önnte sein. Der Schafbock, der mit „Willkür“ und „Profilierung“. Sabine K., hangen und jetzt MKS. Da gehen Jahr- zehn Muttertieren und fünf Läm- die ihren Tieren keine Beruhigungsmittel zehnte züchterischer Arbeit kaputt. Des- Kmern in dem Schuppen am Rande geben durfte, weint. wegen will ich das Thema MKS weiter aus des Neubaugebiets von Krofdorf-Gleiberg „Absolut hirnrissig“ findet Thomas Leib, dem Parteienstreit heraushalten. Sonst ha- lebte, der morgens um vier von Karl-Heinz 41, Gärtner in Krofdorf-Gleiberg und ehe- ben die Bauern am Ende das Gefühl, nie- Leib, 70, gefüttert und abends um elf maliger Besitzer eines zeugungsfähigen mand kümmere sich um sie. von Karl-Heinz Leib zu Bett gebracht wur- Schafbocks, die Tötung von über 70 Scha- SPIEGEL: Noch in den sechziger Jahren gab de, könnte diese verdammte Maul- und fen im Sperrgebiet. es auf Tausenden Gehöften in Deutschland Klauenseuche (MKS) gehabt haben. Hatte „Deutsche Gründlichkeit“, so nennt MKS. 1966 wurde dann in vielen Ländern schließlich Blasen am Maul, das Tier. Martin Best, 48, ehemaliger Schafhalter Europas die Schutzimpfung eingeführt. Er könnte also auch sämtliche Schafe auf Gut Bubenrod, den Vorgang, und dann Nur wenige Jahre später war der Konti- angesteckt haben, als er von Mitte No- spricht er, so leise, als wollte er es sofort nent praktisch MKS-frei. War es ein Feh- vember bis zum 18. März als Gastbock die wieder einfangen, das Wörtchen „Endlö- ler, 1991 mit dem Impfen aufzuhören? Herde des Hofguts Bubenrod begatten sung“ aus. Künast: Bis Anfang dieses Jahres hat die durfte. Und die Tierärztin Sabine K., die Was bleibt, ist ein tiefer Graben. Die Nicht-Impfpolitik gut funktioniert. Sie kön- selbst ein paar Schafe in Bubenrod hält drei Tage, die Mittelhessen in der vergan- nen nicht einfach die letzten zehn Jahre und ein paar oben in Kö- EU-Politik aus Ihrem Geschichtsbuch strei- nigsberg und ein paar unten chen. Fakt ist, dass wir durch die globali- im Tal an der Obermühle, sierte Wirtschaft viel mehr lebende Tiere könnte das Virus dann wei- durch die Gegend fahren und damit mehr tergetragen haben. Könnte Gefahren produzieren, Seuchen zu über- es so sein? So könnte, so tragen. Außerdem ist die Zahl der Viren- muss es sein, so ist es. typen ins Unermessliche gestiegen. Sonst wäre dieses Tö- SPIEGEL: Einige Biobauern haben bereits tungskommando nicht hier angekündigt: Wenn bei ihnen MKS aus- an der Obermühle, fünf bricht, würden sie kein Keulkommando Feuerwehrleute, die 18 aus- auf ihren Hof lassen. Wollen Sie den Bun- gewachsene Schafe und 11 desgrenzschutz und die Polizei gegen die Lämmer mit Leitern in die aufständischen Landwirte einsetzen? Ecke der Weide drängen, Künast: Ein klares Nein. und vier Veterinäre, welche SPIEGEL: Die Zeiten sind vorbei, da Euro- die Tiere an den Beinen pa seuchenfrei war. Was wird man in Zu- packen, auf den Rücken kunft vorbeugend machen? werfen und ihnen die Sprit- Künast: Zum Beispiel massiv die Tiertrans- zen mit T 61 in die Venen porte einschränken. Wir transportieren im jagen, dem Zeug, das in Se- Augenblick quer durch Europa lebendes kunden die Atmung lähmt. Schlachtvieh. Dadurch laufen wir ständig Es ist dann 14 Uhr am Gefahr, Seuchen weiträumig zu verbreiten. Donnerstag der vergange- Ich will die maximale Transportdauer auf nen Woche, als sich einer EU-Ebene von 30 auf 4 Stunden senken. der Tierärzte in der Bieber, Ich wäre aber schon froh, wenn wir am jenem Flüsschen, das sich Ende bei 8 Stunden landen würden. hier durch den Landkreis SPIEGEL: Agrarkommissar Fischler wirft Ih- Gießen schlängelt, die nen vor, Sie machten vor allem viel Wind. Gummikleidung abwäscht; Künast: Letztens hat er ausdrücklich be- als die freiwilligen Feuer- grüßt, dass wir die Chancen der Agenda wehrmänner wehmütig an 2000 nun nutzen. Herr Fischler hat eine die Brände von 1998 andere Aufgabe als ich. Ich vertrete deut- zurückdenken, wo sie noch sche Interessen, das heißt Interessen der das tun durften, weshalb sie deutschen Verbraucher und Landwirte. freiwillige Feuerwehrmän- Herr Fischler muss die Kompromisse zwi- ner geworden sind; als Sa- schen den Mitgliedstaaten schmieden. bine K., Tierärztin und ehe- Deutschland ist der größte Nettozahler. malige Schafhalterin, von Wir tragen zwei Drittel der Nettolasten. „Brutalität“ spricht, von Da halte ich es für richtig, dass ich laut sage, was wir wollen. Interview: MKS-Schleuse in Hessen Rüdiger Scheidges, Olaf Stampf „Deutsche Gründlichkeit“

32 der spiegel 15/2001 geschlossen hat und nun in der Uniform der Freiwilligen Feuerwehr Kinzenbach im Regen steht, stundenlang, und gegen wütende Autofahrer argumentiert und dafür kämpft, dass das Virus im Sperr- gebiet bleibt – oder das Phantom eines Virus. Es ist ein wenig wie damals in Tscher- nobyl oder heute im Kosovo. Die Straßen sind leer bis auf die Müllsäcke, die sich sta- peln. Die Menschen kaufen „Edeka“ leer. Überall flattern rot-weiße Absperrbänder im Wind. Bauern stellen Traktoren quer und lassen selbst die Nachbarn nicht mehr auf ihre Höfe. Hubschrauber kreisen. Ver- mummte Männer springen mit entschlos-

K. MUELLER K. MUELLER senen Gesichtern auf Einsatzwagen und Getötetes Schaf bei Königsberg: Wieso darf ein Tier nicht mal mehr krank werden? rasen hinaus in die Nacht. Natürlich: Kri- senstäbe tagen. Und dann, um genau 20.15 genen Woche mit dem MKS-Verdacht leb- solch eine Krankheit zu überstehen und Uhr, ist die Pumpe kaputt. te, sagen sehr wenig darüber aus, wie die dann immun zu werden, wieso muss es Die Pumpe ratterte neben dieser seltsa- deutsche Provinz mit Europas Trauma schon sterben, bevor es überhaupt er- men Autowaschanlage mit dem Codena- Nummer eins fertig werden wird – aber krankt? Wie konnte irgendwer in irgendei- men „Gleiberg 3“ an der Ortseinfahrt nach eine Menge über die Distanz zwischen ner Großstadt je die Wahnvorstellung ent- Krofdorf-Gleiberg, wo alle Fahrzeuge, die oben und unten. wickeln, mit Verordnungen, Quoten und das Dorf verlassen, mit einer Formalin- Oben, das ist Brüssel, wo in Paragraf 7 Massentötungen eine Krankheit ausrotten lösung abgespritzt werden. Das erledigen der Maul- und Klauenseuchenverordnung zu können, die es draußen auf dem Land Männer in Gummianzügen, die sie „Ganz- festgelegt wurde, wie viele körperkondom“ nennen, und mit Flaschen Tiere unter welchen Bedin- Gemeinde Gemeinde mit 3000 Barliter Pressluft auf dem gungen zu töten sind. Oben Bubenrod Biebertal Wettenberg Rücken; Männer, die das dürfen, weil sie ist Berlin, wo Ministerin Re- Krofdorf- den offiziellen Atemschutzgeräteträger- nate Künast gegen Impfun- Gleiberg A 480 lehrgang absolviert haben. Erst vor weni- gen argumentiert und den- gen Tagen, so ein Glück, hat der TÜV Mar- noch Impfungen vertreten GIESSEN burg die Anlage gebaut, nach Bauplänen will. Oben ist Wiesbaden, aus dem Internet, und der Sohn eines Gießen, die Gemeindever- WETZLAR A 485 TÜV-Angestellten hat sie für den Einsatz waltung Wettenberg, wo Po- A 45 fit gemacht. litiker und Beamte zeigen Jetzt zerfrisst leider trotzdem das For- möchten, dass sie durchgrei- malin die Dichtungen, und die Suppe läuft fen und Entscheidungen tref- A 5 aus, und mit Eimern und Gießkannen be- fen können, wenn es gilt. chern die eifrigen Helfer die aggressive Dass sie eben echte Kerle Richtung Flüssigkeit vom Boden zurück in die Behäl- sind oder, wenn sie Frauen 4 km Frankfurt ter. Und der Stau wird immer länger. sind, ganz wie echte Kerle. am Main Es ist nämlich so, dass Oben sind die Städter. ziemlich viele der mehr als Und unten sind die Men- seit Ewigkeiten gibt, überall 25000 Menschen im Sperr- schen vom Land. auf der Welt? gebiet die gleiche Idee hat- Manche von denen lieben Es ist der klassische Kon- ten. Sie sahen nach, ob sie ihre Tiere und geben ihnen flikt in Krisenzeiten: Wel- oder zumindest ihr Hei- Namen; Sabine K.s Schafe che Reaktion ist angemes- matdorf in der „Tages- hießen Carlos oder Frit- sen und welche absurd? schau“ vorkamen, und jetzt zi, wurden mit der Flasche Am vorvergangenen gehen sie in die Garage, um großgezogen und gaben auf Sonntag starb in dem den Wagen aus der Sperr-

Kommando die Klaue. Schuppen am Rande des K. MUELLER zone herauszufahren und Die meisten Menschen Neubaugebiets von Krof- Sperrzone Krofdorf-Gleiberg draußen zu parken; so vom Land sind sicherlich dorf-Gleiberg ein Schaf. Es Solidarität ist brüchig könnten sie es morgen nüchterner als Sabine K.; fiel um und ging ein, „so pünktlich zur Arbeit nach doch warum, das fragen so wie Schafe auf dem Land manchmal um- Gießen schaffen. Wie Hunderte kleiner gut wie alle Bauern im Sperr- fallen und eingehen“, sagt Gärtner Leib. Schumachers und Häkkinens kämpfen sie gebiet rund um Krofdorf- Am Montag wurde der Kadaver fortge- um die Startaufstellung, aber weil die Pum- Gleiberg und das kleine Hof- bracht, am Dienstag kam der Tierarzt. Er pe kaputt ist, müssen sie doch wieder bis gut Bubenrod, warum be- holte den Amtsveterinär, sie sahen Bläs- tief in die Nacht warten. Darum hupen sie, greift keiner in Brüssel dieses chen bei den überlebenden Tieren, flüs- schimpfen auf „diese Hysterie“ – und has- angebliche Ungeheuer na- terten „MKS“, und ab 16 Uhr wurde die sen den Gärtner. mens MKS als das, was es ist: Herde getötet. Solidarität ist ein brüchiges Gebilde in eine Krankheit und damit Danach ist Ausnahmezustand in Mittel- Orten des Ausnahmezustands. Es war ein Teil der Natur? Wieso darf hessen. Natürlich: Helden der Provinz sind Tierarzt, der gesagt hat, dass Blumen aus ein Tier im Jahr 2001 nicht da am Werk, Menschen wie der Rechts- Holland MKS nach Hessen gebracht ha-

K. LENZ / DDP K. LENZ mehr die Chance haben, anwalt Uwe Hajdu, 32, der seine Kanzlei ben könnten, und natürlich steht das in der

der spiegel 15/2001 33 Deutschland

Zeitung. Man könnte das eine gewagte kert, mehr als 60 Gymnasien bieten Ex- Theorie nennen, schon weil Thomas Leibs SCHULE press-Klassen für besonders begabte Schuppen, in dem die Schafe standen, und Schüler an. Künftig soll der Schnelldurch- seine Gärtnerei drei Kilometer voneinan- Ein Jahr lauf gar der einzige Weg zur Hochschul- der entfernt sind. Aber es klingt gut: „Seu- reife sein: Spätestens zum Schuljahr chen-Tulpen aus Holland“. 2005/06 will die Landesregierung eine ge- Leib jedenfalls, dessen Vater Karl-Heinz weghauen nerelle Verkürzung der gesamten Schul- die Schafe gehütet hat, steht nun in sei- zeit auf zwölf Jahre einführen. nem Gewächshaus, und es ist Frühling, Als erstes großes Bundesland Kultusministerin Annette Schavan (CDU) aber keiner kauft mehr Blumen bei ihm. im Westen verkürzt Baden- folgt damit dem Beispiel ihres saar- „Die Leute stimmen mit ländischen Amtskollegen Jürgen Schreier den Füßen ab und bleiben Württemberg das Gymnasium auf (CDU). An der Saar müssen schon ab weg“, sagt er. acht Jahre – Auftakt zu diesem Sommer alle Schüler, die in die Es hätte, das könnte je- einer Wende in der Schulpolitik? fünfte Klasse eines Gymnasiums wechseln, der hier wissen, für die den Stoff fürs Abi in acht Jahren lernen. Seuche tausend Wege nach m Anfang war es ein geradezu re- Schreier erhofft sich für seine Schüler Krofdorf-Gleiberg geben volutionäres Modell, das ab 1991 an bessere Startchancen in den Beruf – im können. Die Arbeiter, die Avier Schulen versuchsweise erprobt europäischen Vergleich, so der Minister, im Neubaugebiet neben wurde. In so genannten Turbo-Klassen seien die deutschen Abiturienten einfach dem alten Schuppen zu- konnten ausgewählte Schüler die Abitur- zu alt. gange sind, hätten das Vi- Prüfung in Baden-Württemberg bereits Den Wettbewerbsnachteil haben auch rus an Schuhsohlen „oder nach acht Jahren am Gymnasium ablegen andere Landeschefs erkannt: Beinahe alle

K. MUELLER mit einem weggeworfenen – unter ständiger wissenschaftlicher Kon- Länder – ob unions- oder SPD-regiert – Gärtner Leib Goudabrot“ (Leib) nach trolle eines Münchner Bildungsforschers experimentieren mittlerweile mit kürzeren „Seuchen-Tulpen Krofdorf-Gleiberg trans- und beargwöhnt von Mitschülern, Eltern Bildungsmodellen (siehe Grafik). aus Holland“ portieren können; Wild- und Öffentlichkeit. Die Baden-Württemberger kommen schweine, Vögel, der Wind, Inzwischen ist das Turbo-Projekt fest im den Wünschen von immer mehr Schülern jedes Auto, alle aus dem Ort hätten es ir- Bildungssystem des Bundeslandes veran- und deren Eltern entgegen. „Ich habe gendwie herschaffen können. den Eindruck, das wird ge- Hätten. Denn schon am Mittwochabend rade Trend“, urteilt Hartmut macht die Nachricht vom Ergebnis des Schmid, Schulleiter am Stutt- Schnelltests die Runde: negativ. garter Karls-Gymnasium, das Polizei, Feuerwehr und Veterinäre su- als eine der ersten Schulen chen am nächsten Tag dennoch weiter nach in Baden-Württemberg Tur- allen Schafen, die mit dem Bock des Gärt- bo-Klassen angeboten hatte. ners in Berührung waren. Eine Quarantä- Bei Schmid stapeln sich der- ne, das sagt unter der Hand jeder hier, zeit die Anmeldungen für das würde reichen; drei, vier Stunden wird es neue Schuljahr im achtjähri- dauern, bis das endgültige Ergebnis da ist. gen Gymnasialzweig (G 8). Doch die Schafe müssen noch sterben. Vor Die guten Erfahrungen mit dem endgültigen Ergebnis: negativ. dem G-8-Modell werden auch Es hätte dann auch tausend Wege für in das neue, für alle Kids ver-

das Virus gegeben, um aus dem Sperrgebiet DPA bindliche Konzept einfließen: wieder herauszukommen. Bis zu drei Wo- Ministerin Schavan, Schüler: Schnelldurchlauf zum Abi Eine Kommission aus Schul- chen beträgt die Inkubationszeit: Jeder politikern, Lehrern, Eltern Bauarbeiter, jeder Lastwagen, jedes Wild- und Vertretern der Wirtschaft soll in den schwein, jeder Pkw, jeder Journalist, der SCHNELLER LERNEN nächsten Jahren die Lehrpläne entrümpeln sich ungehindert die Ställe ansehen konn- ˾ Baden-Württemberg, Saarland und Vorschläge entwickeln, wie der Stoff te, jeder Helfer, der die Kadaver weg- Verkürzung der Schulzeit ist beschlossen. in nur acht Gymnasialjahren untergebracht schleppte und die Desinfektion vergaß, je- ˾ Niedersachsen, Hamburg, werden kann. „Eine Konzentration von der Bauer, der mit dem Trecker über die Nordrhein-Westfalen Unterricht“, so das Schavan-Ministerium, Felder ausbüxte, hätte nach dem Ausbruch Begabte Schüler können einzeln oder im „muss ja nicht bedeuten, dass es auch das Virus aus der Sperrzone und in die Re- Klassenverband ein Schuljahr überspringen. schwerer wird.“ publik schleppen können. „Ich studiere Dass nicht alle Schüler für das schnelle- ˾ Medizin, ich weiß, wie sinnvoll das ist, was Rheinland-Pfalz re Lernen geeignet sind, fürchten jedoch wir hier tun“, sagt ein freiwilliger Feuer- Die Abiturprüfung wird vorgezogen, die die Kritiker der Reform. „Ich halte nichts wehrmann aus Langgöns an der Schleuse Schulzeit endet nach zwölfeinhalb Jahren. von einer generellen Verkürzung ohne Gleiberg 3. ˾ Bayern, Schleswig-Holstein, Hessen, Klärung der Ziele“, sagt Rainer Dahlem, Worum also ging es in den hektischen Bremen, Berlin, Brandenburg Landesvorsitzender der Gewerkschaft Er- Tagen von Mittelhessen? Es ging darum, Modellversuche mit Turbo-Klassen existieren ziehung und Wissenschaft. „Wenn die bis- dass die Städter demonstrieren wollten, oder sind geplant. herige Form des Gymnasiums irgendeinen dass sie auch auf dem Land alles im Griff ˾ Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sinn gehabt hat, kann man nicht einfach haben, auch wenn sie in Wahrheit nichts im Mecklenburg-Vorpommern für alle ein Jahr weghauen.“ Griff haben können. Es war eine Prüfung. Sachsen und Thüringen bleiben bei der So sieht es auch Schulleiter Schmid: „Selbst die Frau Künast hat uns gelobt“, zwölfjährigen Schulzeit aus DDR-Zeiten, „Die Turbo-Klassen sollen ja eigentlich sagt die hessische Sozialministerin Marlies Sachsen-Anhalt und Mecklenburg- der Begabtenförderung dienen. Diese Mosiek-Urbahn, „ganz im Gegensatz zu Vorpommern haben das 13. Schuljahr Differenzierung innerhalb der Schüler- Nordrhein-Westfalen.“ eingeführt. schaft geht uns jetzt wahrscheinlich ver- Sehr gut, setzen. ™ loren.“ Julia Koch, Felix Kurz

34 der spiegel 15/2001 Werbeseite

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Werbeseite ZEITGESCHICHTE Flammendes Fanal

Brennender Reichstag 1933

Der Reichstagsbrand 1933 war das Signal für den Beginn des braunen Massenterrors. Über die Hintergründe wird bis heute gestritten. Einige Wissenschaftler wollen aus jetzt aufgefundenen Doku- menten herauslesen, dass der Holländer Marinus van der Lubbe doch nicht allein das Feuer legte.

er Tag, an dem er Geschichte Anarchokommunist mit dem warben, die Adolf Hitler zuließ. schrieb, begann für Marinus van der wilden Lockenschopf durch Der NSDAP-Chef war erst seit DLubbe im kleinen Obdachlosenasyl den Schnee Richtung Berlin. vier Wochen Reichskanzler und auf dem Hennigsdorfer Polizeigelände, in Von Hennigsdorf bis in die seine Macht noch begrenzt. der Nähe von Berlin. Als er aufwachte, war damalige Reichshauptstadt sind In der Müllerstraße ent- es draußen noch dunkel, und der Fe- es rund 20 Kilometer, und van deckte van der Lubbe gegen bruarfrost kroch durch die Türritzen in den der Lubbe nahm sich dafür Zeit. halb elf Uhr einen Kohlen- kargen Schlafsaal. Er quälte sich aus dem Der gelernte Maurer konnte mit händler. Er kaufte für 30 Pfen- Etagenbett gegenüber der Eingangstür, dem rechten Auge kaum seine nig vier Pakete Kohlenanzün- tauschte das weiße Nachthemd des Män- Finger zählen, und auch das lin- der, auf deren Verpackung eine nerasyls gegen seine löchrige Hose, das ke war lädiert; er hatte bei einer rot züngelnde Flamme lockte. schäbige braune Hemd und schlüpfte in die Balgerei mit Kollegen und bei Gut drei Stunden später stand Schuhe; von einem löste sich die Sohle. Bauarbeiten Kalk und Splitt in er endlich vor seinem Ziel. Der Polizeihauptwachtmeister Schmidt, die Augen bekommen. Dunkel und düster, wie für der am Rosenmontag 1933 die Aufsicht im Van der Lubbe lief durch Te- die Ewigkeit gebaut, thronte Asyl führte, schickte van der Lubbe noch gel, vorbei an den Fahnen und der Reichstag in der fahlen zum Feuerholzholen, danach, um 7.45 Uhr, Wahlplakaten, mit denen die Wintersonne, ein Klotz aus entließ er den Holländer auf die Straße. Nazis und andere Parteien der Sandsteinquadern, Ziegeln und Van der Lubbe, 24, hatte gut zwölf Stunden Weimarer Republik für die letz- Granit, überragt von der mäch- in Freiheit vor sich. ten, halbwegs freien Wahlen tigen Kuppel, die die Berliner Schräg gegenüber, in Max Wolters Lo- als „größte Käseglocke Euro- kal, schnorrte er noch eine Tasse heißen Attentäter van der Lubbe pas“ verspotteten. Um einzu- Kaffee. Dann stapfte der schmalbrüstige Wie im Feuerrausch steigen, war es allerdings noch

38 der spiegel 15/2001 Deutschland zu hell; van der Lubbe lief durch die Straßen, wärmte sich im Postamt und kehr- te erst gegen 21 Uhr zurück. Aber dann hielt ihn nichts mehr auf, nicht das Eis auf dem Treppengeländer, nicht die klammen Hände, nicht die Wachmänner. Er kletterte an der Fassade zu einem Balkon im Hauptgeschoss empor und trat so lange gegen die Doppelscheiben aus acht Milli- meter starkem Spiegelglas, bis sie splitterten. Wie im Feuerrausch stürmte er durch die dunklen Räume, setzte einen Kohlenan- zünder nach dem anderen in Brand, rann- te die Treppe hinunter, stürzte in die Küche, sprang dann wieder eine Treppe empor ins Hauptgeschoss. Dass einer der Polizisten, die den Reichstag bewachten, von außen auf den tanzenden Lichterschein van der Lubbes schoss, hielt ihn nicht auf. Während Feuerwehr und Polizei mit lau- tem Gebimmel herbeirasten, zündete der Brandstifter hastig Portieren und ein Tisch-

tuch an, entflammte Handtücher, Serviet- BILDERDIENST ULLSTEIN ten und den Papierkorb neben einer NSDAP-Chef Hitler nach dem Brand im Reichstag*: Vorwand für den braunen Terror Waschtoilette. Weil die Anzünder schnell verbraucht waren, zog er Hemd, Weste, und schweißnass in einem Nebengang (nach achteten. Der Reichstagsbrand wurde zum Jackett und Mantel aus, steckte sie nach anderer Quelle: im Bismarcksaal) im Haupt- Fanal für die endgültige Zerstörung der und nach an und schleifte die brennenden geschoss des Reichstags. Sein Ziel hatte er Weimarer Demokratie. Kleidungsstücke als Feuerträger hinter sich erreicht: Der Plenarsaal verwandelte sich Zugleich entzündete sich an der Aktion her, bis hinein in den Plenarsaal. wenige Minuten später in ein brennendes eine bis heute anhaltende Debatte über die Als der junge Wachtmeister Helmut Poe- Inferno; leuchtend rot und weit sichtbar Hintergründe. War der Holländer tatsäch- schel und der Hausinspektor Alexander schlugen die Flammen in der Kuppel empor. lich allein der Täter, wie er später vor Po- Scranowitz den Feuerteufel schließlich ent- An diesem 27. Februar 1933 brannte das lizei und Gericht beteuerte, oder galt, was deckten, stand dieser schwer atmend, mit Symbol der Republik, von Parlament und Hermann Göring, der Reichstagspräsident, den Hosenträgern über der nackten Brust Parteien – die viele Deutsche damals ver- sogleich als erster Politiker an der Brand- stätte erklärte: „Ohne jeden Zweifel ist dies Feuer und Flamme das Werk der Kommunisten.“ Oder war es Van der Lubbes umstrittener Weg durch das Reichstagsgebäude* so, wie nach dem Krieg die gängige Er- klärung lautete: Tatsächlich steckten die Nationalsozialisten selber hinter der Brandstiftung? Sie profitierten doch ganz Festnahme offensichtlich von der den Kommunisten untergeschobenen Tat, um damit den Lese- Ost-Vorhalle Reichs- anschließenden braunen Terror gegen die saal rat Linke zu rechtfertigen. Vorsaal Bismarck- Eine SPIEGEL-Serie 1959/60 brachte eine saal Aufsehen erregende Wendung in der De- batte. Ein Oberregierungsrat im nieder- Rückkehr sächsischen Innenministerium, Fritz Tobias, ins Haupt- der sich die Reichstagsbrandforschung zur geschoss Plenar- Hof Lebensaufgabe gemacht hatte, legte mit Vorhalle Hof saal zahlreichen Details dar, dass van der Lubbe nur Über die Treppe BRANDHERDE allein gehandelt haben ins Erdgeschoss Türvorhänge könne. Hans Mommsen, in der Kantine heute einer der angese- Halle Toilette im hensten deutschen His- Halle Kuppel- Erdgeschoss toriker, unterstützte die halle Kantine Türvorhänge These des nichtakademi- Schreib- Lesesaal Kantine schen Außenseiters. Doch saal „Ja“-Tür des Portal 1 Plenarsaals zu provokant war diese Version: Schien sie doch, Präsidium so die Meinung vieler HAUPTGESCHOSS des Plenarsaals Einstieg über Kritiker, die Nazis und einen Balkon „Nein“-Tür des das nach dem Reichstags- Auffahrt * nach: Fritz Tobias „Der Reichstagsbrand“, Plenarsaals 1962, S.704 Fenstervorhänge * Mit Hermann Göring (3. v. r.) und Sessel und Joseph Goebbels (M., halb Platz der Republik verdeckt mit Hut).

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brand einsetzende Terror-Regime von Schuld freizusprechen. Walther Hofer, einer der prominentesten Forscher über die Zeit zwischen 1933 und 1945, bemühte sich, die Alleintäter-These anhand von Dokumenten zu widerlegen. Die waren allerdings offenbar gefälscht. Die Debatte schien damit geklärt – erst kürzlich übernahm der Hitler-Biograf Ian Kershaw die Deutung des niedersächsi- schen Beamten Tobias. Inzwischen aber sind – nach den Wirren der Wende – über 200 Aktenbündel Ermittlungsunterlagen von 1933 zugänglich geworden, die zu neu- en Spekulationen reizen. Die Diskussion über die Täterschaft lebt nicht nur munter wieder auf – sie reicht auch weit über das übliche Geplänkel unter wissenschaftlichen Spezialisten hinaus. Einige akademische Außenseiter – der Physiker Wilfried Kugel, der Theaterwis- senschaftler Gerhard Brack, der Soziologe Hersch Fischler und der Journalist und His-

toriker Alexander Bahar – lesen aus den AKG Unterlagen nicht nur weitere Varianten Angeklagter van der Lubbe*: „Ich habe die Tat allein begangen“ über den Brand heraus, sie erheben auch schwere Vorwürfe gegen die Vertreter der ren Eichengestühl anzünden konnte. Sie lern und Hinterhöfen zusammen, folterten Alleintäter-Theorie. finden es verdächtig, dass die Polizei viele manche zu Tode. Im Internet, in Tageszeitungen wie „taz“ auffällige Spuren nicht verfolgte, die sich in Erstmals demonstrierte Hitler jene fein und „Die Welt“, in Fachorganen wie der den Papieren im Bundesarchiv finden. abgestimmte Melange aus Pseudo-Lega- renommierten „Historischen Zeitschrift“ Droht also ein neuer Historikerstreit mit lität und Massenterror, die seine Gegner und einem 860 Seiten dicken Wälzer ist zudem brisantem Hintergrund, den die einschüchterte, die ängstlich Unentschlos- von „Geschichtsfälschung“ oder „Mani- Vierer-Gruppe immer wieder in den Vor- senen auf seine Seite zog und die bürger- pulation“ durch den „Amateurhistoriker“ dergrund spielt: eine braune Verschwörung lichen Verbündeten zu Komplizen werden in den Medien, speziell ließ. Am Tag nach dem Feuer verabschie- Das Rätsel Reichstagsbrand lädt im SPIEGEL? Das Rät- dete das Kabinett die Notverordnung sel Reichstagsbrand lädt „Zum Schutz von Volk und Staat“. Fortan zu Legendenbildungen ein ja zu vielerlei Legenden- konnte jeder ohne Anklage und Beweise bildungen ein. verhaftet, konnten Wohnungen durch- Tobias, durch Mommsen oder den SPIE- Unstrittig ist nur, wie die Nazis ihre sucht, Zeitungen zensiert, Briefe geöffnet, GEL die Rede. Van der Lubbe könne auf Schuldzuweisung in den Wochen nach dem Telefone abgehört werden. Grund der neuen Aktenfunde gar nicht der Reichstagsbrand in Aktionen gegen ihre Nach dem Reichstagsbrand begann der Täter oder zumindest nicht der alleinige Gegner umsetzten. Polizei und die braune „permanente Ausnahmezustand“ (so der Täter gewesen sein. Schlägertruppe SA verhafteten noch in der Berliner Historiker Ludolf Herbst), der erst Die Wissenschaftler verweisen auf Wi- Brandnacht Kommunisten, dann auch So- 1945 endete, als Deutschland längst in dersprüche in bislang unbekannten Aussa- zialdemokraten und andere Linke wie den Trümmern lag. gen des Holländers über seinen Weg durch späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Der Terror nach dem Reichstagsbrand den Reichstag; sie halten es auf Grund der Ossietzky. Bis April wurden allein in ebnete Hitlers Regierungskoalition aus Zeitangaben der Zeugen für ausgeschlos- Preußen über 25000 Menschen festgesetzt; NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei sen, dass van der Lubbe allein durch den die SA-Männer schlugen ihre Opfer in Kel- (DNVP) den Weg zur absoluten Mehrheit Reichstag stürmte und in wenigen Minuten bei den Wahlen am 5. März: Die Wahlwer- mit Kohlenanzündern und einigen Texti- * Bei der Urteilsverkündung am 23. Dezember 1933 in bung der linken Opposition wurde massiv lien den Plenarsaal mit dem tonnenschwe- Leipzig. behindert und teilweise verboten. Gut zwei

Dem deutschen Volke Geschichte des Reichstags CHRISTO 1884 1916 die erste deutsche 1961 1995 1999 Grundsteinlegung Am Gebäude wird Republik aus. Walter Ulbricht „Wrapped 19. April: 1. Sitzung in Gegenwart von die Widmung „Dem 1933 lässt acht Reichstag“: des Bundestags im Kaiser Wilhelm I. deutschen Volke“ Der Reichstagsbrand Meter vor der 14 Tage lang verhüllt umgebauten Reichs- 1894 angebracht. am 27. Februar wird Ostfassade des das Künstlerehepaar tag – von Sir Norman Feierliche Einweihung 1918 Auslöser für die Auf- Reichstags die Christo den Reichs- Foster mit verglastem durch Kaiser Von einem Fenster hebung der Grund- Berliner Mauer tag mit 100000 Plenarsaal und be- Wilhelm II. des Reichstags aus rechte der Weimarer errichten. Quadratmetern silbri- gehbarer Kuppel aus- ruft der SPD-Politiker Republik. Das Ein- Christos Reichstag 1991 gem Polypropylen. gestattet. Philipp Scheidemann Parteien-Parlament Nach dem „Berlin- der Nazis tagt in der Sir Norman Fosters Selbstmord, dringen Beschluss“ wird der Reichstag Kroll-Oper. Rotarmisten in den Reichstag zum 1945 Reichstag ein und Parlamentssitz des DPA Am 30. April, eine hissen auf dem wieder vereinten

Stunde vor Hitlers Dach die rote Fahne. Deutschland. P. PIEL / GAMMA Historische Aufnahme Werbeseite

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Wochen nach dem Urnengang stimmte das neu gewählte Parlament, ohne die inzwi- schen verhafteten Kommunisten und ge- gen die Stimmen der Sozialdemokraten, dem berüchtigten Ermächtigungsgesetz mit einer Zweidrittelmehrheit zu. Der Reichs- tag wurde damit endgültig entmachtet, Deutschland war eine Diktatur. Der Brandstifter van der Lubbe bezahl- te seine Tat mit dem Leben. Die Nazis ver- hängten Ende März 1933 für Brandstiftung rückwirkend die Todesstrafe. Das Leipziger Reichsgericht machte van der Lubbe ge- meinsam mit dem KPD-Fraktionsvorsit- zenden Ernst Torgler und drei bulgarischen Kommunisten den Prozess. Van der Lubbe W. SCHMIDT / NOVUM SCHMIDT W. wurde zum Tode verurteilt. FOCUS / AGENTUR PLUS M. WAECHTER Seine Mitangeklagten, darunter der spä- Forscher Tobias, Mommsen: Die Zweifel verstummten tere Chef der Kommunistischen Interna- tionale, Georgij Dimitrow, sprach das dagen und auch auf dem Rechtsweg wehr- Hitlers erzkonservativer Koalitionspartner Gericht in dem spektakulären Verfahren te. Tobias habe ihn, behauptete etwa Calic DNVP stecke hinter dem Brand. Die rech- allerdings frei. Nicht diese, sondern unbe- ernsthaft, mit Messer und Revolver be- te Partei vertrat auch die ostelbischen Jun- kannt gebliebene Kommunisten sollten droht; ein Strafantrag wurde abgewiesen. ker, und viele der Parteihonoratioren nach dem Urteil van der Lubbe geholfen Die Debatte um den Reichstagsbrand ge- fürchteten, ein Subventionsbetrug bei der haben. riet über den polit-pädagogischen Streit so genannten Osthilfe an die ostdeutsche Nationalsozialisten und Kommunisten zum ermüdenden Hickhack. Hofer und Ca- Landwirtschaft könne auffliegen. Mit dem lieferten sich über die Schuldfrage wilde lic trugen zwar einige Argumente gegen Reichstagsbrand, so Fischler, wollten die Propagandaschlachten. Die KPD lancierte van der Lubbes Alleintäterschaft zusam- DNVP und ihr nahe stehende Kreise gefälschte Dokumente, die noch Jahre spä- men, doch den schlüssigen Beweis für eine „einen Aufstand der Kommunisten provo- ter Historiker irreführten. Zwei so ge- Brandstiftung durch die Nazis konnte Ho- zieren oder vortäuschen, um dann per Not- nannte Braunbücher der KPD wurden 1933 fer nie erbringen. verordnung den Reichstag … auszuschal- und 1934 in über 100000 Exemplaren ille- Als das Komitee schließlich 1978 Do- ten“ und damit ein Aufdecken des Skan- gal verbreitet. kumente vorlegte, deren Echtheit auch dals durch das Parlament zu verhindern. wohlmeinende Wissen- Inzwischen spekuliert er, ob sich nicht 50000 Seiten Akten heimlich schaftler in Frage stell- „nationalsozialistische Führer“ ausgedien- ten, verstummten die ter Mitglieder der Organisation Consul be- in Moskau übergeben Zweifel an der Allein- dient hätten, um den Reichstag abzubren- täterschaft. nen. Diese rechte Terrororganisation hatte Auch nach 1945 trug der Streit über die Über ein Jahrzehnt später gab das Bun- 1922 den damaligen Außenminister Wal- Schuld Züge eines Glaubenskriegs, den desarchiv in Berlin die Akten von 1933 zur ther Rathenau ermordet, und einige ihrer auch angesehene Wissenschaftler mit allen Einsicht frei – und wieder entflammte der Mitglieder waren laut Fischler auch für ein Mitteln ausfochten. Der Reichstagsbrand- Krieg der Spurenleser, die in der Asche Bombenattentat auf den Reichstag 1929 forscher Tobias war nach seiner SPIEGEL- des alten Brandherdes herumdeuteten. verantwortlich. Serie und einer anschließenden Buchver- Die Berliner Unterlagen waren auf ver- Bahar und Kugel hingegen glauben, öffentlichung vorderstes Ziel der Angriffe. schlungenen Wegen in die heutige Bun- Goebbels und Göring seien „Ideengeber“ 1968 formierte sich ein Komitee „zur deshauptstadt gekommen. 1968 hatte sich und „Hintermann“ der Brandstiftung, die wissenschaftlichen Erforschung der Ursa- die Stasi auf die Suche nach den Doku- ein „SA-Spezialkommando zur besonderen chen und Folgen des Zweiten Weltkrieges“ menten gemacht, als sie den Chemiker und Verwendung“ angeblich durchgeführt hat. mit Sitz in Luxemburg, dessen Leitung der Dissidenten Robert Havemann ins Visier Die SA habe den arglosen van der Lubbe renommierte Schweizer Professor und nahm. Der kommunistische Widerstands- unter kommunistischer Flagge angeworben Bestsellerautor Walther Hofer („Der Na- kämpfer hatte vor dem Brand 1933 einen und dann in einer Parallelaktion in den tionalsozialismus“) übernahm. Einer der der bulgarischen Mitangeklagten van der schon brennenden Reichstag gebracht. Die- Ehrenpräsidenten war der damalige Lubbes beherbergt und war deshalb von se These hatte einst auch die KPD vertreten. Außenminister Willy Brandt, der sich al- der Gestapo verhört worden. Kugel, Bahar und Fischler hegen einen lerdings bald zurückzog; zum Kuratorium Die Stasi glaubte fälschlicherweise, Ha- brisanten Verdacht: Die Alleintäter-These zählten der Historiker Golo Mann und Ka- vemann habe Verrat begangen, und woll- sei aus einer Verschwörung Ewiggestriger binettsmitglieder wie Horst Ehmke (SPD). te ihn mit Hilfe des Verhörprotokolls über- entstanden. Die 1933 ermittelnden Beam- Dem Außenseiter Tobias unterstellte Ho- führen. In Sofia erfuhren Mielkes Männer ten der Kripo und späteren Gestapo, so fer, an einer „NS-Unschulds“-Legende zu von einer Dimitrow-Expertin, dass Doku- wird insinuiert, sollen mit Hilfe altbrauner stricken, die dazu verleiten könnte, die Na- mente zum Reichstagsbrand in Moskau la- Netzwerke, die bis in den SPIEGEL reich- zis auch von anderen Verbrechen zu ex- gen, einst Beutegut der Roten Armee. Es ten, die angebliche Mär von der Allein- kulpieren. Lubbes Alleintäterschaft, fand dauerte dann bis 1982, ehe der Kreml die schuld van der Lubbes verbreitet haben, Golo Mann, sei „sozusagen volkspädago- 50000 Seiten in der Moskauer DDR-Bot- um die wahren Brandstifter zu decken oder gisch unwillkommen“. schaft heimlich an das Ost-Berliner Institut sich gar laut Fischler vor Strafverfolgung zu Über ein Jahrzehnt bekämpften Hofer für Marxismus-Leninismus übergeben ließ. schützen. und Edouard Calic, der Generalsekretär Fischler, Bahar und Kugel sind nach Sich- Bei fast allen großen Kriminalfällen gibt des Komitees, mit Dienstaufsichtsbe- tung der Akten allerdings über die tatsäch- es ein Restquantum an widersprüchlichen schwerden oder üblen Schmähungen To- lichen Täter unterschiedlicher Meinung. Zeugenaussagen, abweichenden Spuren, bias, der sich seinerseits mit harten Ban- Der Soziologe Fischler vermutete zunächst, unerklärlichen Hinweisen. Beim Reichs-

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Werbeseite Deutschland tagsbrand sind solche Unwägbarkeiten be- Van der Lubbe verstand geliefert. Nach dem Januar sonders zahlreich. Auf Druck Görings nicht, dass ihm viele seiner 1933 versuchten SA-Spitzel, suchten Kripo und die Politische Polizei Vernehmer nicht glaubten. die roten Genossen zu nach Helfern van der Lubbes unter den Er hatte sogleich alle Schuld Straftaten zu provozieren, Kommunisten. Was dabei, auch unter du- auf sich genommen und in um sie hinterher dingfest biosen Umständen, an Beweisen gegen die ungelenkem Deutsch er- machen zu können. Alleintäterschaft zu Stande kam, werten klärt, was er von dem Es wird bis heute dar-

die vier Kritiker nun als Belege für rechte Brand erwartete: „Die Ar- M. SCHOUTEN über spekuliert, ob auch oder nationalsozialistische Helfer van der beiter sollten sich auflehnen Brack van der Lubbe in Neukölln Lubbes – eine problematische Methode. gegen die Staatsordnung. an verkappte Nazis geraten Der Techniker Paul Bogun etwa kam Die Arbeiter sollten den- ist, wie schon die kommu- von einem Vortrag im Haus der Ingenieu- ken, dass es ein Symbol für nistische Propaganda be- re und lief in jenen Minuten am Reichstag einen gemeinsamen Auf- hauptete. Bahar und Kugel entlang, als van der Lubbe in das Gebäu- stand gegen die Ordnung verweisen auf den Berliner de einbrach. Gegenüber der Polizei be- des Staates ist.“ Rätekommunisten Alfred hauptete Bogun, er habe einen Mann mit Der Holländer gehörte Weiland, der später berich- heller Hose aus einem Nebeneingang des zu jener kleinen Gruppe tete, er habe den Holländer Reichstags kommen und wegrennen sehen. Rätekommunisten der Zwi- damals am heutigen Karl- Als im Prozess gegen van der Lubbe die schenkriegszeit, die von der Marx-Platz getroffen. Zeitungen über Boguns Aussage in großer Herrschaft des Proletariats Weiland erwartete einen Aufmachung berichteten, meldete sich – träumten, aber sich der niederländischen Genos- das zeigen die Berliner Akten – ein Passant brutalen Disziplin der stali- sen. Als stattdessen van der

und erklärte, er habe an jenem Abend an nisierten kommunistischen CORBIS SYGMA Lubbe auftauchte und für der entsprechenden Tür des Reichstags Parteien nicht beugten. Fischler eine revolutionäre Aktion gerüttelt, „um mich davon zu überzeugen, 1931 war er aus der nieder- agitierte, will Weiland miss- was es mit dem Feuerschein auf sich hatte“. ländischen KP ausgetreten. trauisch geworden sein. Das Portal sei allerdings geschlossen ge- Er wollte Aktion und Ba- Der Besucher habe „von wesen, danach sei er wei- sisdemokratie, nicht Theo- uns verlangt loszuschla- tergelaufen. rie und Parteigehorsam. gen“, alle linken Organisa- Gut möglich, dass es Der junge Halbinvalide tionen würden sich dann sich um ebenjenen Mann agitierte auf eigene Faust anschließen, auch die SA handelte, den Bogun ge- unter den arbeitslosen und die Reichswehr. Wei- sehen hatte. Im Prozess Textilarbeitern in Leiden. land hat nach eigener Erin- spielte diese Aussage frei- Er lebte von Gelegenheits- nerung daraufhin dem lich keine Rolle, sie passte arbeiten und einer klei- Holländer ins Gesicht ge- nicht ins Konzept der nen Rente. Neugierig wan- sagt: „Du bist Provokateu- Ankläger. Bahar, Kugel derte er mehrfach durch ren aufgesessen.“ und Fischler sehen in Bo- Europa, auch um heraus- Möglich, dass van der guns Beobachtung trotz- zufinden, wie die Welt- Lubbe für seinen Aktionis- dem ein gewichtiges Indiz wirtschaftskrise in den Bahar mus („Man muss etwas ma- dafür, dass van der Lubbe Nachbarländern wirkte. chen“) Zuspruch von ei- nicht der einzige Brand- Auf den Weg nach Ber- nem Agent provocateur er-

COMET stifter im Gebäude war. lin, das er bereits kannte, hielt. Vielleicht haben ihn Historiker Hofer Andere Fährten haben machte er sich im Februar auch nur einige Verzweifel- Polit-pädagogi- Kripo und Gestapo nicht 1933. Van der Lubbe wollte te aus der grauen Armee scher Streit weiter verfolgt. Der Post- wissen, wie das deutsche der Arbeitslosen ermutigt. assistent Duchstein bei- Proletariat auf den „Füh- Aber außer Weilands Be- spielsweise sprach wenige Tage nach dem rer“ reagierte. hauptung gibt es keine Be- Brand bei der Polizei vor und behauptete, 15 Tage brauchte er bis lege, und Weiland ist ein er habe während van der Lubbes Brandlauf zur Reichshauptstadt, und problematischer Zeuge: Er vier Männer in Polizeiuniformen aus einem was er dort von den ver- hat in einem Brief 1960 aus- Nebeneingang des Reichstags kommen se- bitterten Arbeitslosen auf drücklich verneint, van der hen. Die Ermittler legten Duchsteins Anga- der Straße, vor den Wohl- Lubbe getroffen zu haben. be in dem Ordner „Unwichtige beendete fahrtsämtern und im Män- Die Stasi argwöhnte zeit-

Untersuchungen“ ab. Fischler hält Duch- nerheim erfuhr, fand er M. LANGEMANN weise ganz andere Helfer steins Aussage gerade deshalb für eine heiße ziemlich enttäuschend. Die Kugel van der Lubbes. Bei ihr Fährte. Widerlegen lässt sich so etwas nicht. Arbeiter, beklagte er spä- Tobias-Kritiker stand in den fünfziger Jah- Als Scoop gilt den Wissenschaftlern die ter, würden „aus sich her- Glaubenskrieg um die Schuld ren der Genosse Walter Entdeckung des Schornsteinfegermeisters aus nichts unternehmen“. Jahnecke unter Verdacht, Wilhelm Heise. Der 37-Jährige war Stun- Als er einigen eine spontane Demo vor- mit dem Holländer „individuellen Terror“ den nach der Verhaftung van der Lubbes schlug, verwiesen sie ihn an die KPD; die – so nannte man Anschläge ohne Erlaubnis innerhalb der Absperrung am Reichstag werde den Vorschlag „dann überlegen“. der Partei – durchgeführt zu haben, wenn festgenommen worden. Drei Mal versuch- Der Holländer trieb sich viel in Neukölln auch nicht auf den Reichstag. Jahnecke hat- te er, sich während der Nacht in der Haft herum; in dem Arbeiterbezirk mit den te bis 1926 mehrere Jahre in der Sowjet- zu erhängen. Bahar, Kugel und Fischler trostlosen Mietskasernen, düsteren Hinter- union gelebt und behauptete später, er habe finden das verdächtig. Die Polizei ließ Hei- höfen und den vielen arbeitlosen Jugendli- in Berlin Beziehungen zu van der Lubbes se nach einigen Stunden gehen. Er war bei chen hatten Nazis und Kommunisten vor Mitangeklagtem Dimitrow gepflegt. der Festnahme so betrunken, dass er der Machtergreifung Hitlers einander blu- Gesichert ist freilich nur, dass van der torkelte. tige Straßenschlachten um ihre Kiezlokale Lubbe und Jahnecke sich vor der Zahl-

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Werbeseite behauptete Hanfstaengl, der 1937 aus Deutschland flüchtete und sich von den Nazis abwandte, Goebbels habe ihm bei dem Telefonat Theater vorgespielt. Doch Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann, der beim Führer saß, beobachtete die Szene genau; Hitler wollte die Nachricht nicht glauben: „Was ist los, Hanfstaengl? Na, hören Sie auf. Leiden Sie an Halluzinatio- nen? Oder haben Sie zu viel Whisky ge- trunken? Was … ? Sie sehen die Flammen von Ihrem Zimmer aus?“ Hitler eilte mit Goebbels zum Wagen; sie rasten in wenigen Minuten von Goebbels’ Wohnung am heutigen Theodor-Heuss- Platz zum Reichstag. Düster stapfte der „Führer“ durch das brennende Gebäude. Der britische Journalist Sefton Delmer hör- te, wie der Reichskanzler seinen Stellver- treter Franz von Papen begrüßte: „Dies ist ein von Gott gegebenes Signal, Herr Vize-

SÜDD. VERLAG kanzler. Wenn dies Feuer, wie ich glaube, Kommunistischer Aufmarsch*: Kampf mit gefälschten Dokumenten das Werk der Kommunisten ist, dann müs- sen wir die Mörderpest mit eiserner Faust stelle des Wohlfahrtsamts kennen gelernt gentlich hatte er bis zu den Parlaments- zerschlagen.“ hatten. „Der Mann“, urteilte Jahnecke wahlen am 5. März bleiben wollen. Die NSDAP-Führung erwartete damals über den Schwärmer aus Leiden, „ist un- Hinter Spandau bog er Richtung Norden einen kommunistischen Aufstand. Sie geheuer edel in seinem Denken.“ Er bot ab und meldete sich am frühen Abend im konnte sich nicht vorstellen, dass die KPD dem abgerissenen, hungrigen, aber poli- Hennigsdorfer Obdachlosenasyl an. Über dem braunen Diktator das Feld kampflos tisch gut informierten Wanderer Stullen den Abstecher nach Hennigsdorf am Vor- überlassen würde. Die Kommunisten, be- an, organisierte eine Schlafstelle und ei- abend des Reichstagsbrands ist viel geraunt gründete Goebbels während des Prozes- nen alten Mantel. worden, auch von Bahar und Kugel. In den ses gegen van der Lubbe diese Annahme, Nach einer Woche hatte van der Lubbe nun vorliegenden Berliner Akten liefert hätten schließlich gewusst, „dass wir, wenn vom Reden genug. Und da die Deutschen der sehbehinderte, ortsunkundige van der wir die Macht einmal absolut besaßen … „nichts unternehmen wollten, wollte ich Lubbe eine banale Erklärung: „Ich habe die Kommunistische Partei dann nicht un- eben etwas tun“, so seine spätere Aussage mich dorthin verlaufen.“ geschoren ließen … “ vor der Polizei. Er kaufte vier Pakete Koh- Es wird wohl ein Geheimnis bleiben, was Unter den Nationalsozialisten herrschte lenanzünder und warf einige Stücke auf den eigenwilligen, oft schwankenden Mann eine beinahe hysterische Kommunisten- das Dach des Neuköllner Wohlfahrtsamts, gut zwölf Stunden später wieder in die furcht. Wochenlang hatte die KPD- eines schleuderte er in ein offenes Fenster Hauptstadt trieb, entschlossen, dieses Mal Führung für einen bewaffneten Widerstand der Holzbaracke – aus Protest gegen die dem Reichstag den roten Hahn aufzuset- getrommelt, obwohl sie insgeheim glaubte, Arbeitslosigkeit, wie er in den Verneh- zen. Ein Einfall? Wollte er es einfach noch Hitler werde sich nur wenige Monate hal- mungen sagte. Das Wohlfahrtsamt galt als mal probieren? Oder hat ihn jemand zu ei- ten. In den Tagen vor dem Brand kam es Zwingburg des Kapitalismus. ner erneuten Brandstiftung ermuntert? immer wieder zu Schießereien zwischen Erfolg hatten beide Versuche nicht. Den SA-Männern und KPD- Dachbrand bemerkten Passanten rechtzei- „Der Reichstagsbrand ist ein Mitgliedern. tig, und das offene Fenster führte in die Da- Reichstagspräsident mentoilette; der Anzünder verbrannte auf von Gott gegebenes Signal“ Göring, zugleich kom- dem Betonfußboden. missarischer preußischer Zwei weitere, ähnlich dilettantische Die Nazi-Führung, das legen die Be- Innenminister, plante eine große Aktion Brandstiftungen unternahm van der Lubbe richte über jenen Abend nahe, war von gegen die KPD. Verhaftungslisten konnte noch am gleichen Abend am Roten Rat- dem Brand jedenfalls überrascht. Hitlers er von seinem Vorgänger übernehmen; sie haus und beim Berliner Schloss. Das Rat- Auslandspressechef Ernst „Putzi“ Hanf- waren noch in der Weimarer Republik für haus galt ihm als politisches Symbol; das staengl lag mit einer fiebrigen Erkältung den Ausnahmezustand vorbereitet worden. Schloss wählte er, weil es im Zentrum lag im Gästezimmer des Reichstagspräsiden- Nach den Wahlen im März 1933 wollte und „hohe Flammen“ zu erwarten waren: tenpalais gegenüber vom Reichstag, als er Göring zudem die KPD-Mandate einfach „Ich wollte den deutschen Arbeitern ein durch helles Licht geweckt wurde. Die Tür kassieren. Am Nachmittag des Brandtages Vorbild geben; sie sollten endlich ihre zum Nebenzimmer stand offen, und Hanf- befahl der Berliner Chef der Politischen Rechte durchdrücken.“ Beide Feuer wur- staengl dachte zunächst, er habe die Lese- Polizei, Rudolf Diels, allen Polizeidienst- den rechtzeitig entdeckt, die Gebäude blie- lampe brennen lassen. Da stürmte die stellen in Preußen, sich auf kommunisti- ben ohne Schaden. Bisher konnte niemand Haushälterin in sein Zimmer: „Herr Dok- sche Anschläge vor und nach den Wahlen erklären, wie diese Brandstiftungen von tor, Herr Doktor, der Reichstag brennt lich- einzustellen. „Geeignete Gegenmaßnah- angeblichen Hintermännern van der Lub- terloh!“ Hanfstaengl rief sofort Propagan- men“ seien sofort zu treffen, „kommunis- bes initiiert worden seien. dachef Joseph Goebbels an, in dessen Pri- tische Funktionäre erforderlichenfalls in Tags darauf machte sich der erfolglose vatwohnung Freunde und auch Hitler zu Schutzhaft zu nehmen“. Brandstifter vorzeitig auf den Heimweg Abend aßen; es gab Forelle, der Vegetarier Es sind Vorbereitungen wie diese, die nach Holland, wohl aus Enttäuschung. Ei- Hitler verspeiste Eier und Salat. Kugel und Bahar glauben lassen, die Nazis Goebbels wollte die Nachricht erst nicht hätten den Reichstagsbrand und die an- * Am 1. Mai 1926 in Berlin. glauben: „Soll das ein Witz sein?“ Später schließenden Verhaftungen von langer

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Hand präpariert. Plausibler ist es, darin die Schandtaten durchaus zugab, alle Verant- wahrscheinlich, weil der Pförtner, dessen Vorbereitung für einen Schlag gegen die wortung für den unblutigen Reichstags- Loge am Tunnel lag, nichts gehört hatte. linke Opposition nach den Wahlen eine brand ab. Die Zerschlagung der KPD, er- Nun haben Bahar und Kugel die Spur Woche später zu sehen. klärte er seinen Vernehmern ganz offen, sei aufgenommen und alle Zeugenaussagen an- Noch Jahre danach war Hitler überzeugt, sowieso geplant gewesen. Der Reichstags- hand der neuen Berliner Akten nochmals Kommunisten um den in Leipzig freige- brand habe das Ganze nur beschleunigt. überprüft. 1997 ist Kugel sogar den Tunnel sprochenen KPD-Fraktionschef Torgler Es sind faszinierende Spuren, die zu abgeschritten. Danach waren er und Bahar seien die Brandstifter gewesen. Goebbels Göring führen und die Phantasie leicht be- sicher: Ortskundige mit den notwendigen notierte in seinem Tagebuch im April flügeln. Vom Reichstag lief ein etwa 120 Schlüsseln konnten durch die verschach- 1941: „Bei Reichstagsbrand tippt er (Hitler Meter langer, mannshoher Tunnel mit Hei- telten Kellergewölbe und dann über die –Red.) auf Torgler als Ur- Mauer zum Reichstagsufer heber. Halte das für ausge- entkommen. schlossen. Dazu ist er viel zu Die Verschwörer hätten bürgerlich.“ allerdings, das geht ebenfalls Auch unter den Nazis wur- aus den neuen Akten hervor, de viel geraunt. Chefideologe auf Strümpfen schleichen Alfred Rosenberg vertraute müssen, wie der Pförtner noch am Brandort dem Jour- aussagte. Das Laufen im nalisten Delmer an: „Ich hof- Gang habe nämlich so laut fe nur, unsere Leute haben gedröhnt, dass es tagsüber damit nichts zu tun. Das wäre sogar den Straßenverkehr genau die Dummheit, zu der übertönte. ein paar von ihnen im Stande Leider kann den Ortsbe- wären.“ Die SS vermutete such im Tunnel niemand damals angeblich in der SA wiederholen – er wurde vor die Täter. Die Gestapo soll einigen Jahren den Umbau- ihren 1934 geschassten Chef ten im neuen Parlaments- Diels für den Hintermann ge- viertel geopfert. Nur ein we- halten haben. Göring schien nige Meter langes Reststück Goebbels zu verdächtigen. steht noch, abgesenkt in der Nach 1945 nahmen die Tä- Unterführung zwischen dem

ter-Theorien aus braunen AKG Palais und dem Reichstag. Kreisen mitunter komödian- Wähler in Berlin*: Mit Terror den Weg zur Mehrheit geebnet Das Bundestagspräsidium tische Züge an. Der einstige will dort demnächst eine Ge- SA-Führer Franz Knospe etwa berichtete, zungsrohren unter der Friedrich-Ebert- denktafel anbringen, die an das „Gerücht“ der Reichstagsbrand sei von einer SS-Ein- Straße hinweg zum Keller von Görings erinnert, Göring habe „Brandstifter durch heit geplant worden. Bei einem SS-An- Reichstagspräsidentenpalais und von dort diesen Tunnel in das Reichstagsgebäude gehörigen namens Brauser, der Knospe an- zu den Unterbauten des so genannten Kes- geschickt“. geblich ermorden sollte, wollte dieser ein selhauses am Reichstagsufer; in diesem Bei Reichstagshistorikern, etwa dem Taschenbuch mit Eintragungen in verklau- standen acht riesige Heizungskessel. Der amerikanischen Wissenschaftler Michael suliertem Esperanto gefunden haben. Ein Reichstagsarchitekt Paul Wallot wollte un- Cullen, sorgt allein die Erwähnung des Untergebener aus der SA, der ein wenig bedingt seine Schöpfung vor Brandgefahr „Gerüchts“ für Verdruss; das sei „nicht se- Esperanto verstand, soll Knospe versichert schützen und hatte deshalb die Kessel se- riös“. Cullen will lieber in anderer Form an haben, aus den erbeuteten Notizen gehe parat untergebracht. den Brand erinnern, im Reichstag. Schließ- unmissverständlich hervor, dass Brauser Der Tunnel war stadtbekannt. Während lich führte das Leipziger Reichsgericht fast „ein Kumpan van der Lubbes“ gewesen sei. der Revolution von 1918/19 hatten rebel- die Hälfte des Prozesses in den unversehr- Die Knospe-Spur gehört zu den Fährten, lierende Soldaten Waffen durch den Gang ten Räumen des Gebäudes durch. die Fischler und Brack ernsthaft verfolgen. in den besetzten Reichstag geschleppt. Große Polit-Kriminalfälle wie der Einer aus der Führungsriege der Natio- Nach dem Reichstagsbrand spekulierte Reichstagsbrand umgibt das Mysterium des nalsozialisten hat sich immerhin der Brand- Göring öffentlich darüber, dass van der Bösen. Sie versprechen jedem, der zur Lö- Lubbes kommunistische sung beiträgt, Bedeutung, Wichtigkeit, Die Verschwörer hätten auf Helfer auf diesem Weg Rampenlicht. Im Fall des Reichstagsbran- entflohen seien. Als des lockten auch noch 20000 Reichsmark Strümpfen schleichen müssen Göring in der Brand- Belohnung für sachdienliche Hinweise. nacht zum Reichstag Und so meldeten sich bei der Polizei 1933 stiftung bezichtigt, und das war Göring. herbeieilte, befahl er sogleich seinem Leib- die üblichen Hundertschaften Wichtigtuer, Bei einem Geburtstagsfrühstück für Hitler wächter, die Türen zu dem Gang im Parla- eingebildeter Zeugen und Desinforman- in dessen ostpreußischem Hauptquartier mentsgebäude und in seinem Palais zu ten, bis heute ein unerschöpflicher Quell Wolfsschanze rief er 1942 aus: „Der Ein- überprüfen. Sie waren verschlossen. für Verschwörungstheoretiker. zige, der über den Reichstag wirklich Die kommunistische Propaganda nutzte Den Berufsverbrecher Adolf Rall koste- Bescheid weiß, bin ich. Ich habe ihn ja an- die unterirdische Verbindung trotzdem für te sein Gerede das Leben. Ein Förster fand gezündet“, und klatschte sich auf die wilde Verdächtigungen; statt roter seien die nackte Leiche am 2. November 1933 Schenkel. Die Tischrunde verstummte, be- braune Brandstifter durch den Tunnel in mit eingeschlagenem Schädel und einem richtete Generalstabschef Franz Halder, den Reichstag eingestiegen und wieder ent- Einschussloch in der Stirn in der Nähe von Hitler sei unangenehm berührt gewesen. wichen. Eine Flucht durch den Tunnel in Strausberg, östlich . Die übliche Prahlerei des morphiumsüch- der Brandnacht schien allerdings wenig Ralls Spezialität war das Stehlen von Lu- tigen Adlatus, ein misslungener Scherz? xuslimousinen. Am 21. Dezember 1932, Vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher- * Am 5. März 1933 mit dem DNVP-Vorsitzenden Alfred Wochen vor dem Reichstagsbrand, erwisch- Tribunal stritt Göring, der andere blutige Hugenberg (M.) vor einem Wahllokal. te ihn die Polizei in Bayern und überstell-

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Werbeseite Deutschland te ihn am 1. Februar 1933 nach Berlin. Aus Zirpins schloss seine Verhöre nach we- dem Knast meldete sich Rall im Herbst nigen Tagen ab; eine Sonderkommission 1933. Der Prozess gegen van der Lubbe lief nahm fortan van der Lubbe in die Mangel. auf Hochtouren, und Rall behauptete, An- Immer wieder sollte er durch den Reichs- gaben von „großer Wichtigkeit“ machen tag laufen, wie er es in der Brandnacht ge- zu können, freilich nur vor Gericht. tan hatte. Dass van der Lubbe den Weg Was Rall Geheimnisvolles enthüllen nicht exakt erinnerte, sah Untersuchungs- wollte, ist nur vom Hörensagen überliefert. richter Paul Vogt als Beleg für die Existenz Eine Truppe von SA-Männern sei Tage vor von Helfern; Bahar und Kugel schließen dem Reichstagsbrand zu dem hochrangigen sich dem an. SA-Führer Karl Ernst bestellt worden. Der Dabei wäre es erstaunlich gewesen, hät- knapp 30-jährige Ernst, einst Page und te der Holländer problemlos seinen Pfad Fahrstuhlführer im Berliner Eden-Hotel, durch das teilweise ausgebrannte Gebäude gehörte zu den besonders üblen Schlägern wiederholen können. Schließlich war er sel- der SA. Seinen Männern soll Ernst befoh- ber nur einmal, im Dunkeln, durch Teile len haben, sich durch den Tunnel in den des 11000 Quadratmeter großen Reichstags Reichstag zu schleichen und dort mit Hil- gehetzt. „Dem ersten Beamten habe ich fe einer speziellen Tinktur Feuer zu legen. bereits gesagt“, rief van der Lubbe schließ- Die Tinktur brauche man nur zu versprit- lich aus, „dass ich bei der Ausführung der zen, sie entzünde sich nach einer Weile Tat in einem fremden Gebäude … nicht sa- von selbst. Ein Vorwand sei nötig, soll Ernst gen kann, wie nun alles geschehen ist.“ gesagt haben, um gegen die Marxisten los- Ermattet von den ständigen Fragen, Tag zuschlagen. und Nacht gefesselt in einer Zelle, in der Karl Reineking arbeitete als Justizange- das Licht rund um die Uhr brannte, ver- stellter im Gefängnis Berlin-Tegel und er- weigerte sich van der Lubbe seinen Ver- fuhr offenbar, was Rall erzählte. Reineking nehmern: „Ich werde keine Erklärung war gerade aus der SA ausgeschlossen wor- mehr abgeben, mich interessiert die ganze

den und wollte sich wahrscheinlich reha- BILDERDIENST ULLSTEIN Sache nicht, ich will damit nichts mehr zu bilitieren. Er informierte angeblich sofort Reichstagstunnel (1933)* tun haben.“ In den Dokumenten finden Ernst, der das Aussageprotokoll Ralls be- Wilde Verdächtigungen sich nach solchen Äußerungen Sätze wie: seitigte und den Zeugen durch „Anschließend wird dem van der Reineking und einige Spießgesel- Lubbe klar gemacht, dass es nicht len ermorden ließ. darauf ankomme, ob er Interesse Die Rall-Version hat einen klei- an der Sache habe, sondern dass nen Schönheitsfehler: Rall konnte es darauf ankomme, dass die Po- von der Reichstagsbrandstiftung lizei großes Interesse hat, die Sa- nicht aus eigener Anschauung be- che zu klären.“ Die Worte lassen richten; er saß am Rosenmontag ahnen, dass dem Holländer nichts 1933 im Untersuchungsgefängnis Gutes widerfuhr; seine Apathie Berlin-Moabit. Macht nichts, fin- mag die Folge gewesen sein. den heute die Kritiker Bahar und Der Untersuchungsrichter Vogt Kugel, dann hat die SA eben mög- mochte bis zu seinem Lebensende licherweise schon Wochen vor nicht glauben, dass van der Lubbe Hitlers Machtergreifung, als Rall in wenigen Minuten das tonnen- noch in Freiheit war, den Brand schwere Eichengestühl des großen vorbereitet und die Brandmittel Plenarsaals in ein Flammenmeer heimlich in den Reichstag ge- versetzen konnte. Einige Sachver-

bracht. So schreiben es Bahar und M. URBAN ständige bestätigten ihn in seiner Kugel tatsächlich in der ehrwürdi- Reste des Tunnels (2001): Gedenktafel für ein Gerücht? Skepsis; der Plenarsaal sei mit gen „Historischen Zeitschrift“. Brandmitteln präpariert gewesen. Plausibler klingt eine andere Variante. Vor Gericht wollte er ein flammendes Plä- „Ja, die Sachverständigen können das al- Rall suchte – wie viele Knastbrüder – ein doyer für den Kommunismus halten. les sagen“, widersprach van der Lubbe, wenig Ablenkung im öden Gefängnisall- Dazu ist es nie gekommen. Im Gerichts- „ich bin der Meinung, es brennt doch.“ tag. Die Ingredienzen seiner Geschichte saal saß er mit hängendem Kopf, seine trop- Noch heute sind die Gutachter Kron- gab es tatsächlich: Es gab den Tunnel; es fende Nase musste ihm ein Wachmann ab- zeugen von Bahar, Kugel und Fischler, die gab die besagte Tinktur, denn die SA hat- wischen, oft antwortete er gar nicht oder die Expertisen so werten, als seien sie in te mit einer Phosphor-Lösung experimen- mit „Nein! Ja!“ Stand er unter Drogen, wie der Bundesrepublik und nicht in Hitlers tiert, um damit Wahlplakate der KPD ab- oft vermutet wurde, war er trotzig oder nur Diktatur abgegeben worden. Dabei gelten zufackeln, und Rall war SA-Mann. Für die verzweifelt? Brandgutachten schon in einem Rechts- kommunistische Propaganda wäre Ralls Kriminalkommissar Walter Zirpins, der staat als Achillesferse der Beweisführung. Auftreten vor Gericht ideal gewesen. van der Lubbe zunächst vernahm, hatte Wie bereits einige Gutachter 1933, re- Grund genug für die Nazis, Ralls Aussage ihm noch geglaubt, allein den Brand gelegt konstruieren auch Bahar und Kugel mit Hil- um jeden Preis zu verhindern, auch durch zu haben, wenn auch von Kommunisten fe der Aussagen von Feuerwehrleuten und Mord. angestiftet. Er sei, sagte der kleine, stets Polizisten, die im brennenden Reichstag Van der Lubbe ahnte lange nicht, was elegante Zirpins im Prozess aus, van der waren, den Brandverlauf bis auf die Minu- ihm drohte. Er rechne „mit einigen Jahren Lubbe „auch menschlich sehr nahe“ ge- te. Westdeutsche Richter hatten zu dieser Zuchthaus“, verkündete er fröhlich seinen kommen. Vorgehensweise im Van-der-Lubbe-Prozess Bewachern auf dem Transport zu den Ver- später ironisch angemerkt, „dass auch die hören; anschließend werde er sie besuchen. * Bei einem Lokaltermin am 18. Oktober. Uhren der Polizisten und Feuerwehrmän-

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Werbeseite Deutschland ner nicht unbedingt genau gehen Bundesinnenministerium zustän- müssen“. dig für den Verfassungsschutz, Hausinspektor Alexander für den seit 1959 in Niedersach- Scranowitz war einer der Ersten, sen auch der Beamte Tobias ar- die in den brennenden Plenar- beitete. saal blickten, für „den Bruchteil Brack und Fischler folgern einer Sekunde“. Der ortskundi- rasch, „ein Verfassungsschutzbe- ge Mann behauptete hinterher amter strickt mit der Alleintäter- mit großer Selbstsicherheit, eine These eine Legende, die frühere ganze Reihe von Bränden ge- kriminelle NS-Verstrickungen des sehen zu haben, ein klassisches oberen Ministerialbeamten, der Indiz für ein geplant gelegtes den Verfassungsschutz beaufsich- Feuer. tigen sollte, vertuschte.“ Doch To- In den Berliner Akten findet bias betrieb seine Forschungen sich allerdings die bislang unbe- über den Reichstagsbrand Jahre kannte Aussage eines Polizisten, bevor er zum Verfassungsschutz

Scranowitz sei in jenen Minuten BILDERDIENST ULLSTEIN wechselte und Schneppel die ent- sprachlos vor „Verwirrung und Brandstifter van der Lubbe*: „Keine Erklärung mehr abgeben“ sprechende Abteilung im Innen- Erregung“ gewesen. Außerdem, ministerium übernahm. auch das geht aus den Akten hervor, zeig- kulationen über kommunistische Hinter- Als Tobias den ehemaligen Assessor in- te der Hausinspektor großes Interesse an ei- männer 1933 den Weg van der Lubbes zum terviewte, erzählte Schneppel dem Reichs- nem Teil der Prämie. 1954 war er sich ganz Schafott mit bereitet zu haben? tagsbrandforscher, er sei am Brandabend sicher, dass van der Lubbe allein gezündelt Fischler versucht seit langem, die braune mit seiner Frau ausgegangen. Und er füg- hatte. Vergangenheit von Zirpins zu ergründen, te hinzu, dass er nicht sicher sei, „ob die Einige Beamte aus Kripo und Gestapo, besonders dessen Karriere vor und nach Nazis mit dem Brande nicht doch etwas die im Reichstagsbrandfall ermittelt hat- 1945. Zirpins hatte mehrere Monate lang zu tun gehabt haben“. Spricht so ein Ver- ten, trafen sich in den Sicherheitsbehör- bis zum Februar 1941 die Kriminalpolizei in schwörer, der Tobias auf die Alleintäter- den der Bundesrepublik wieder. Verneh- Lodz geleitet. Er nahm an der staatlich ver- These festlegen will? mer Zirpins etwa heuerte im niedersächsi- ordneten Ausplünderung des Ghettos teil Der Vorwurf, altbraune Journalisten hät- schen Innenministerium an und baute das und schrieb über seine Arbeit einen üblen ten beim SPIEGEL bei der Reichstags- antisemitischen Artikel brandserie Hand angelegt, ist schon 1960 „Auch die Uhren der Polizisten in einer Fachzeitschrift. erhoben worden. Nach dem Krieg heuer- Die Deportation und ten in der Tat Journalisten und andere gehen nicht unbedingt genau“ Vernichtung des Ghettos Deutsche, die Hitler willig zu Diensten wa- Lodz begann allerdings ren, in den neuen Zeitungen und Zeit- Landeskriminalamt auf. In Hannover lern- Monate nach Zirpins’ Abreise. Mindestens schriften der Bundesrepublik an; eine gute te ihn auch der spätere Reichstagsbrand- ein Kollege aus den Reichstagsbrand- Hand voll, auch das ist seit Jahren bekannt, forscher Tobias kennen; 1951 erzählte Zir- ermittlungen hatte in Hitlers Vernich- beim SPIEGEL. pins dem Kollegen, was damals niemand tungskrieg im Osten größere Schuld auf Einer von ihnen war Paul K. Schmidt, glauben wollte: Van der Lubbe habe allein sich geladen als Zirpins. Mussten er, Zir- der ehemalige Pressechef von Hitlers gezündelt. pins und andere auch ein Reichstags- Außenminister Joachim von Ribbentrop. Tobias interessierte sich für den Reichs- brandverfahren fürchten? Er war freier Mitarbeiter beim Springer- tagsbrand, weil dieser sein Leben verändert In der Tat verjährten Meineide und Verlag und arbeitete gleichzeitig eine Wei- hatte. Als junger Mann hatte er in der schwere Brandstiftung erst 1960 oder so- le für den SPIEGEL. In der Öffentlichkeit Buchhandlung des Gewerkschaftshauses in gar danach, und ein ehemaliger Gestapo- wurde Schmidt unter dem Pseudonym Paul Hannover gelernt; nach dem Brand 1933 Beamter war nachweislich beunruhigt, als Carell als Autor von Landserromanen be- wurde das Gewerkschaftshaus geschlossen; 1948 eine Anzeige bei der Staatsanwalt- kannt. Tobias musste sich einen neuen Job su- schaft drohte. Aber ist das ein Beleg dafür, Schmidt hatte vor der Deportation der chen. dass die Alleintäter-These die wahren ungarischen Juden aus Budapest 1944 Zirpins’ Aussage faszinierte ihn, und To- Schuldigen decken sollte? vorgeschlagen, „äußere An- bias begann systematisch alle zugänglichen Wer sollten die gewesen lässe und Begründungen Materialien auszuwerten. Mitte der fünfzi- sein? für die Aktion (zu schaf- ger Jahre erfuhr ein Journalist des SPIE- Manche Beamte wollten fen –Red.), zum Beispiel GEL von Tobias’ Recherchen; 1959/60 ver- aus ganz anderen Gründen Sprengstoff-Funde in jüdi- öffentlichte der SPIEGEL die Forschungs- ihr Verhalten bemänteln. Der schen Vereinshäusern und ergebnisse des Außenseiters. Assessor Hans Schneppel Synagogen … “. 1950 hatte Fischler vermutet nun, Zirpins habe sei- etwa hatte den Haftbefehl ge- ihn die britische Militärre- ne Version von der Alleintäterschaft über gen van der Lubbes Mitan- gierung der „Welt“ als Mit- Tobias und mit Hilfe brauner Seilschaften geklagten Torgler und den ra- arbeiter empfohlen, mögli- im SPIEGEL lanciert, um sich und seine senden Reporter und Kom- cherweise in Unkenntnis sol- Kollegen aus Kripo und Gestapo vor recht- munisten Egon Erwin Kisch cher Vermerke. lichen Folgen zu schützen und die wahren unterzeichnet und während Mit dem Reichstagsbrand Brandstifter zu decken. Die Dokumente, in des Prozesses bei Zeugenab- hatte Schmidt allerdings denen Zirpins schon 1933 van der Lubbe sprachen hoher Nazis mit- nichts zu tun, 1933 studierte als alleinigen Täter bezeichnete, hält Fisch- gewirkt. Später war er im er in Kiel. 1958 schlug der ler für „manipuliert“. Belege hat er dafür SPIEGEL Tobias vor, der

allerdings nicht. Und wie will Fischler er- / NOVUM SCHMIDT W. freie Mitarbeiter Schmidt * Bei einem Verhör durch den Kri- klären, dass ausgerechnet Tobias dem Kol- minalkommissar Helmut Heisig im Beamter Zirpins (1951) solle die Bearbeitung seines legen Zirpins öffentlich vorwarf, mit Spe- März 1933. „Menschlich sehr nahe“ Textes übernehmen. Tobias

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Werbeseite Deutschland DPA Reichstag bei der Einheitsfeier 1990: Der positive Beweis für andere Täter ist nicht zu erbringen kannte Schmidts üblen Vermerk von 1944 Reichsgericht übereignet. Wieso sollte aus- Totalitäre Diktaturen wie das Dritte nicht und willigte ein. Als ein Genosse aus gerechnet die Geheimpolizei Belege aus Reich, die freie Presse und öffentliche Mei- dem SPD-Parteivorstand den Sozialdemo- der Hand gegeben haben, in denen sich nung unterdrücken, provozieren damit je- kraten Tobias in allgemeinen Wendungen Beweise dafür finden, dass die Nazis oder den beliebigen Verdacht: Was plausibel vor Schmidt warnte, schrieb Tobias zurück, ihre Verbündeten – und damit weder van klingt, ist verdächtig, und was verdächtig er könne sich gut vorstellen, dass dieser der Lubbe noch die Kommunisten – die klingt, ist wahrscheinlich. ein tüchtiger Nazi gewesen sei, und füg- Brandleger gewesen waren? Die Alleintä- Beenden lassen sich deshalb Debatten te an: „Aber … wenn Du die alle aus- ter-These bleibt die plausibelste Variante. wie die um den Reichstagsbrand nicht. schließen willst …“. Einen besonders geheimnisvollen Vor- Zu eindeutig lag der Nutzen bei den Beim Redigieren ließ sich Schmidt reich- gang haben Bahar und Kugel inzwischen Nazis, zu ungewohnt war und ist manchen lich Zeit, zum Verdruss von Tobias, der so- selber aufgeklärt. Sie hatten eine Aufse- die Vorstellung, dass ein halbblinder gar deshalb die Zusammenarbeit mit dem hen erregende Aussage eines Feuerwehr- Holländer das deutsche Parlament in SPIEGEL beenden wollte. Über das Er- mannes aus dem Jahr 1955 aufgegriffen, Brand steckte. gebnis von Schmidts Arbeit war er so ent- ihn hätten während des Einsatzes im Gegen das Raunen der Gerüchte haben täuscht („sachliche Fehler en masse“), dass Reichstag mehrere Männer in nagelneuen es die Fakten bis heute schwer. Van der er seitenlange Korrekturlisten an den SPIE- Polizeiuniformen mit gezückter Pistole ge- Lubbe hat immer wieder beteuert, dass er GEL schickte. Fortan übernahm der Re- zwungen, das Erdgeschoss zu verlassen. allein die Brände gelegt hat; Ermittlungs- dakteur Günther Zacharias die Bearbei- Der Mann und seine Kollegen waren sich beamte wie Zirpins haben dies geglaubt tung der Tobias-Serie zum Reichstagsbrand. einig, dass die angeblichen Polizisten den und unter Eid 1933 im Prozess ausgesagt, Die SPIEGEL-Kritiker Bahar und Kugel Rückzug der Brandstifter deckten. Die neu- obwohl es den Nazis nicht genehm war; behaupten nun, auch Zacharias sei en Akten, triumphierten die Autoren, wür- beim Probesprint mit einem Brandkom- NSDAP-Mitglied gewesen. Das hatte schon den diese Version bestätigen. missar durch den ausgebrannten Reichs- 1970 das Luxemburger Komitee geschrie- Inzwischen haben Bahar und Kugel ihre tag stellte sich heraus, dass van der Lubbe ben und war zwei Jahre später im SPIE- vermeintlichen Belegstücke genau gelesen in der verfügbaren Zeit die Strecke der GEL widerlegt worden: Es handelte sich und räumen ein, dass es sich bei den an- Brandnacht laufen konnte. Vergebens. Für um eine Verwechslung. geblichen Komplizen wohl um ganz nor- Bahar, Fischler, Brack und Kugel zählen Brack, Fischler, Kugel und Bahar haben male Polizisten handelte, die im Gebäude nur jene Merkwürdigkeiten, die sich wohl zwar einige neue Details zum Reichstags- nach Brandstiftern suchten. nie klären lassen werden. brand und manchen Einwand gegen To- In Kriminalfällen einer gewissen Der Mann, an dessen Tat sich die end- bias’ Werk zusammengetragen. Doch vie- Größenordnung, das zeigt die Geschichte lose Kontroverse entzündete, meldete sich le Kritikpunkte lassen sich mit den neuen vom angeblichen Gifttod Napoleons bis zur zur Täterfrage zuletzt am 23. November Berliner Akten – das zeigen Recherchen Ermordung von John F. Kennedy, findet 1933 im Leipziger Gerichtssaal zu Wort. des SPIEGEL – auch gleich wieder ent- fast jede Theorie einen Verfechter. Da Allen Einwänden zum Trotz, erklärte van kräften oder beruhen auf schlichten Fehl- spielt es dann keine Rolle mehr, dass van der Lubbe, „habe ich die Tat allein be- interpretationen der Dokumente. der Lubbe ein glaubwürdiges Motiv besaß, gangen.“ Und den positiven Beweis für andere dass Hitler, der nun wirklich über eine An- Als ihn der Staatsanwalt am 10. Januar Täter vermögen die vier aus den neuen stiftung aus Nazi-Kreisen hätte Bescheid 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, Unterlagen nicht zu erbringen. Ein anderer wissen müssen, von der Schuld der KPD im Angesicht der Guillotine fragte, ob er Befund wäre auch erstaunlich: Den Teil ausging, dass nie ein Zeuge glaubwürdig noch etwas zu sagen habe, verneinte er. der Berliner Papiere, der von der Gestapo Nationalsozialisten benennen konnte, die Das letzte Wort, das der Gefängnispfarrer stammt, hat diese schließlich selber dem den Reichstag angesteckt haben. hörte, war „Endlich!“ Klaus Wiegrefe

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VERBRECHEN Russisches Roulette Während die Bundeswehr den Frieden im Kosovo schützt, spannen Albaner-Banden von dort ihre kriminellen Netze über Europa aus.

ie Schießerei vor der Berliner Table- den USA vehement auszu- Dance-Bar „Clapa Clapa“ unweit bauen, klagt ein deutscher Dder Siegessäule war milieuüblich. Kriminaldirektor. Das orga- Zwei rivalisierende Albaner-Gruppen strit- nisierte Verbrechen aus dem ten sich Anfang vergangenen Jahres um die Kosovo sei eine der größ- Vorherrschaft, und einer der Kriminellen ten Bedrohungen westlicher tat, was ihm das Nächste war – er griff zur Länder. Waffe. Zurück blieb ein Landsmann mit Bevor der Bundestag im Durchschuss des Hodensacks. Juni das Mandat für die Mittlerweile wird der Schütze auch in deutschen Truppen im Koso- Mazedonien per Haftbefehl gesucht. Er soll vo verlängern soll, wachsen einem UÇK-Kommando angehört haben, deshalb die Zweifel, ob die Ziele nicht neu definiert wer- den müssen. Willy Wimmer, langjähriger Vizepräsident der Parlamentarischen Ver- sammlung der Organisation für Sicherheit und Zusam- menarbeit in Europa, warnt vor einer leichtherzigen Fort- führung des Kfor-Mandats. „Wenn der Ein- satz nur verlängert und allein von guten Hoffnungen begleitet wird, dann ist das russisches Roulette.“ Im Bundestag, kriti- siert Wimmer, werde der Auftrag der Bun- deswehr kaum hinterfragt. „Der Konflikt im Kosovo“, warnt Wolf Oschlies, Südosteuropa-Fachmann der re- nommierten Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, „geht gerade erst los.“ Statt ei- nes demokratischen Rechtsstaats sieht der Professor der Universität Gießen nur ein „kriminell oder militärisch straff durchor- ganisiertes Gebilde“ im Kosovo entstehen. Ein Krake, der mittelfristig nicht nur nach Mazedonien, sondern auch nach albanisch besiedelten Gebieten in Montenegro, Grie- chenland und Südserbien greife. „Da ent- steht etwas“, warnt Slawist Oschlies, „was

AP den ganzen Balkan destabilisiert.“ Beerdigung eines erschossenen UÇK-Kämpfers*: „Der Konflikt geht gerade erst los“ Auch der Staat Albanien, dessen führen- de Politiker den Verdacht nicht abstreifen das in Tetovo mit Panzerfäusten und Ma- lich eine, bei der jener Schütze von der können, mit dem organisierten Verbrechen schinengewehren eine Polizeistation zu- Clapa-Clapa-Bar nicht das einzige Verbin- gemeinsame Sache zu machen, bleibe sammenkartätschte. Zurück blieben dies- dungsglied zum kriminellen Milieu war. „dauerhaft derangiert“. „The Gangsters’ mal ein Toter und etliche Verletzte. Diente der Angriff nur dem Schutz von Paradise“, titelte Ende März das US-Ma- Für den Albaner vermutlich ein gängiger Schmuggelrouten? Nützt das Zündeln der gazin „Newsweek“ über den Balkanstaat. Akt der Interessenvertretung, für die Nato UÇK vor allem Verbrecherclans, denen Das Land sei ein Nest von Drogendealern, aber eine Düpierung. Denn eigentlich soll jede Rechtsstaatlichkeit das Geschäft er- Waffenhändlern und Menschenschmugg- die Nato und mit ihr die Bundeswehr in schwert? Und schützt die Nato letztlich die lern. Die albanische Bedrohung, glaubt dieser Region für Ruhe und Ordnung sor- Interessen dieser Gangs, die sich die be- Oschlies, habe nur einen positiven Aspekt: gen. Stattdessen führte die Kosovo-Befrei- freite Zone zur Beute nehmen und von Unter dem Druck rückten die anderen ungsarmee UÇK, die längst entwaffnet sein dort ihre weltweiten Netze spannen? Balkanländer näher zusammen. sollte, von dort ihre Attacke auf den Nach- Schon schlagen Geheimdienste und Si- Das Kosovo bleibe ein Pulverfass, in barn Mazedonien aus. Und womög- cherheitsexperten Alarm: Mafiose Cliquen dem die Anständigen zwischen den Inter- aus dem Kosovo schickten sich an, ih- rivalisierender Clanchefs zerrieben * Im Februar 2000 in Kosovska Mitrovica. ren Einfluss in Deutschland, Europa und in würden. Geradezu „netzartige Verbindun-

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Werbeseite gen“ macht Oschlies zwischen zwie- – unter dem Druck fremder Macht- lichtigen Geschäftemachern und haber dennoch nach eigenem, ar- Führern der UÇK aus. Ein Drittel chaischem Recht, dem Kanun. Fami- der Kriegskosten, schätzt er, kom- lien- und Clanbeziehungen sowie das me über Spenden der Emigranten Gesetz der Miqte, der Freunde, spie- herein, der Rest des UÇK-Feldzugs len darin eine entscheidende Rolle. finanziere sich durch „Waffen-, Dro- Das Blutrecht half, in Ermangelung gen- und Menschenhandel“. staatlicher Ordnung, ein halbwegs Selbst der albanische Journalist berechenbares und funktionierendes

Baton Haxhiu meint, das Kosovo sei A. ZAND-VAKILI Gemeinwesen aufrechtzuerhalten. ein „Eldorado für Verbrecher“. So Prostituierte (in Hamburg) Das Prinzip heißt Besa und defi- fiel der Clan, dem auch der Schütze niert, wer neben Blutsverwandten von der Clapa-Clapa-Bar angehört, zur Solidargruppe gehört und deren bereits Mitte der neunziger Jahre in Schutz genießt. Auf Verrat kann der Berlin als potenter Heroinlieferant Tod stehen. Die Sippe ist alles, selbst auf. Auf ihren Schmuggeltouren Raub fremden Eigentums ist, sofern brachten seine Kuriere das Rausch- er der Familie dient, legitim. „Töten gift aus der Türkei nach London, wird hier“, sagt die Balkanexpertin Madrid und Oslo. Stephanie Schwandner-Sievers von Tschechien gilt als ein Zentrum der Londoner Universität, „zur so- der Kosovo-Albaner für den illegalen zialen Notwendigkeit.“ Das erklärt, Handel mit Drogen und Waffen. Da warum die Polizei von Albanern so Vorgehensweise und Treffpunkte im- gut wie nie Aussagen erhält. Denn mer ähnlich seien, lasse sich nur für den Verrat könnte die ganze Sip-

schwer feststellen, „ob es eine Ban- M. SCHLAF pe mit Blut büßen müssen. de ist, die handelt, oder mehrere“, Sichergestellte Drogen und Waffen (in München) „Keinesfalls ist jeder Albaner kri- heißt es in einer internen Analyse minell“, sagt ein Hamburger Fahn- der Berliner Polizei. der, der lange gegen einen Clan er- „Der Heroinhandel“, berichtet die mittelte, „aber kein Albaner würde Kantonspolizei in Bern, „ist nach je einen anderen verraten.“ So ist wie vor eine Domäne von Personen von den in der Hansestadt lebenden aus den Balkanstaaten, vor allem Albanern nur ein kleiner Teil poli- der albanisch-stämmigen Asylbe- zeilich aufgefallen. Doch nie würde werber.“ Vor einem Jahr wurden sich ein Albaner einem Polizisten an- dort vier Albaner wegen Freiheits- vertrauen, und selbst ein Krimineller beraubung, Förderung der Prostitu- könne sich wegen ihres Rechts auf tion, Drogenhandels und Schleusung den Schutz der Volksgruppe verlas- zu langen Haftstrafen verurteilt. sen. Der Kanun steht über jedem Vorvergangenen Mittwoch spreng- Staatenrecht. te die Polizei in München eine alba- Gern würden die deutschen In- nische Bande, die hinter der Fassade Festnahme eines albanischen Drogenhändlers (in Hamburg) nenminister die hier lebenden Ko- eines Reisebüros im großen Stil mit Albaner-Delikte Drogenschmuggel und Menschenhandel sovaren so schnell wie möglich wie- Rauschgift handelte und Millionen „Verbrechernetze mit hohem Gewaltpotenzial“ der nach Hause schicken. Doch für von Mark ins Krisengebiet schaffte. die Sicherheit der Angehörigen einer Im Kosovo warb die Organisation damit, je- Landeskriminalämter vorgestellt wurde, der fünf nicht-albanischen Volksgruppen den Menschen gegen Geld wahlweise nach nennt die Namen der Banden, ihrer Füh- kann dort trotz 42500 Soldaten und mehr Deutschland, Italien, Großbritannien oder rer, ihrer Kontaktleute und ihre Aktivitä- als 4000 Uno-Polizisten niemand garantie- in die Niederlande schleusen zu können. ten bis hin zur Geldwäsche. Die Verbin- ren. Denn was einst die Serben den Alba- Albanische Paten, davon geht die Polizei dungen für die Beschaffung der Drogen, nern antaten, vollziehen manche von ihnen in Deutschland aus, haben längst ein funk- überwiegend Heroin, reichen nach BND- jetzt unter den Augen der Nato an anderen tionierendes Netzwerk in Europa und in Erkenntnissen über die Türkei als Transit- Minderheiten. Teilen der USA aufgebaut. Nach Erkennt- land bis zu den Opiumlieferanten in der af- Von „systematischen Pressionen, Ein- nissen des US-Geheimdienstes CIA er- ghanischen Hauptstadt Kabul – das Papier schüchterungen und gewaltsamen, immer strecken sich die Aktivitäten der National- ist der Bundesregierung bekannt. wieder auch tödlich endenden Übergrif- Albaner über den Balkan, Italien, Grie- Die Polizei steht bei der Bekämpfung al- fen“ gegen Nicht-Albaner berichtet das chenland und die Türkei, während Banden banischer Banden vor größten Problemen. Auswärtige Amt. „Die Kfor wird auch auf aus dem Kosovo Teile Nord- und Westeu- „Es ist so gut wie unmöglich“, klagt der absehbare Zeit nicht in der Lage sein, Min- ropas unter sich aufgeteilt hätten. Präsident des Bundeskriminalamts, Ulrich derheiten ausreichenden Schutz zu ge- Albanische Kriminelle, heißt es auch Kersten, in die Clans einzudringen oder währleisten“, urteilt das Bundesamt für die in einem vertraulichen Papier des Bun- Aussagen zu erhalten. Albanische Krimi- Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. desnachrichtendiensts (BND), seien stark nelle, stellten auch US-Ermittler fest, So langsam dämmert es auch manchem implementiert in den west- und osteuro- sprächen Dialekte, die Außenstehende in der Bundesregierung, dass man auf päischen Rauschgifthandel. Es gebe „Netz- kaum verstünden. Ohnehin gelte jeder dem Balkan wohl die falschen Freunde werke“ mit „deutlichen Führungspersön- Fremde als verdächtig. Mit den einge- hat. Mit Beginn des Krieges wurde die lichkeiten“ der albanischen Organisierten schränkten Ermittlungsmöglichkeiten, bi- UÇK, die das Auswärtige Amt noch 1998 Kriminalität (OK), die sich durch ein „ho- lanziert der bayerische OK-Fahnder Josef als „terroristische Organisation“ ge- hes Gewaltpotenzial“ auszeichneten. Geissdörfer, „wächst die Bedrohung“. schmäht hatte, faktisch zum Verbündeten. Der BND-Bericht, der auf einer Tagung Seit Jahrhunderten lebten Albaner – Das aber stellt sich zunehmend als Pro- Ende November 2000 den Chefs mehrerer überwiegend im Kosovo und Nordalbanien blem dar. Andreas Ulrich

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vögel tötete. Geschehen ist seither nichts. teuren Lotsen durch die enge Passage mo- SCHIFFFAHRT Und auch diesmal werden die Forderungen geln wollen (siehe Grafik). in Berlin wohl ungehört verhallen. Eine allgemeine Lotsenpflicht aber ist Rumpeln Denn erst im Jahre 2003 steht das für die nach Einschätzung von Seerechtsexperten Seesicherheit zuständige Bundesverkehrs- wie dem Hamburger Kapitän und Anwalt ministerium unter Zugzwang, die Crash- Julius Drumm kaum durchzusetzen. Wie in der Rinne Gefahr zu senken. Dann, wenn durch einen Forderungen nach zwangsweiser Schlep- Erlass der internationalen Schifffahrtsor- perbegleitung bedarf die Lotsenpflicht der Seit Jahren gilt die Kadetrinne als ganisation Imo mit dem „Automatischen Imo-Zustimmung. Die Dachorganisation Identifizierungssystem“ (AIS) eine Or- von 158 Seefahrtsnationen aber schützt den gefährliches Fahrwasser. Entschärft tungstechnik in die Seefahrt Einzug hält, freien Schiffsverkehr in internationalen wurde die unfallträchtige Wasser- Gewässern wie der Kadetrin- straße nicht. Erst ab 2003 dürfte der ne, wo immer sie kann. Seeverkehr sicherer werden. Da verheißt die AIS-Tech- nik einen Sicherheitsgewinn, ie heißen „Minerva“ oder „Meloi“, der leichter zu erreichen ist. „Fawortia“ oder „Urai“. Ihre Rümp- Ab 2003 werden Tanker und Sfe wurden gestaucht, verbeult oder Passagierschiffe mit dem Ken- aufgerissen. 19-mal krachte es seit Dezem- nungssystem nachgerüstet. ber 1991 im Seegebiet der so genannten Bis 2008 sollen alle Schiffe bis Kadetrinne zwischen Dänemark und der hin zu größeren Fischkuttern Küste Mecklenburg-Vorpommerns. Doch über diese Technik verfügen. ob die Schiffe strandeten oder sich Rumpf Wie in der Luftfahrt, wo Pas- in Rumpf verkeilten – das Rumpeln auf sagier-, Fracht- und Militär- dem Meer blieb ohne Echo vom Land. maschinen einen „Transpon- Erst der 20. Crash – der zwischen dem der“ zur individuellen Ken- unter der Flagge der Marshallinseln fah- nung tragen, werden dann

renden Tanker „Baltic Carrier“ und dem ZEITUNG / BILD B. BEUTNER auch Schiffe einen Zulassungs- zypriotischen Zuckerfrachter „Tern“ – Umweltschützer, todgeweihter Schwan: Leiden verkürzen code samt Geschwindigkeits- und Kursdaten abstrahlen. Um die Daten abrufen zu können, muss Dänemark Ostsee 29. März 2001 das Bundesverkehrsministerium aber so Kollision des genanntes Weitsichtradar an der Küste auf- Frachters „Tern“ mit dem stellen – bis heute gibt es dafür noch kei- Tanker „Baltic Carrier“, ne Absichtserklärung aus Berlin. Mit den Deutschland 2700 Tonnen Schweröl Radaranlagen könnten Seeräume bis in laufen aus eine Tiefe von gut 50 Kilometern über-

DPA Wassertiefen wacht werden. Erfasst das Radar ein Schiff, Havarierte „Baltic Carrier“ 0–5m übermittelt AIS seine Daten automatisch Dringender Handlungsbedarf 5–10m an die Küstenleitstelle. Dort hätten die 10–20m Nautiker dann eine präzise Sicht auf ihre weckte Verantwortliche und 20–30m Verkehrsräume und könnten Schiffcrews Politiker auf. Nach dem Zu- vor Kollisionen warnen. Schiffsunfälle sammenprall am Donnerstag seit Dezember Ein vergleichbares System gibt es in der vorvergangener Woche traten 1991 Deutschen Bucht. Ein Radar auf Helgo- 2700 Tonnen Schweröl aus dem EE land erfasst alle großen Schiffe, die in dem Tankerrumpf und schwappten, N navigatorisch heiklen Seegebiet kreuzen. vom Südostwind gen Däne- N Kapitäne müssen sich bei der Leitstelle an- mark getrieben, als schwarzer II melden und werden fortan via Radar ge- Schlick gegen die Strände der R führt und per Funk betreut. Während die Inseln Falster, Mön und Bogö. T Funkmeldepflicht für die Deutsche Bucht Unter dem Eindruck von E aber nur Pötte von mehr als 50 Meter Län- krepierenden Kreaturen, von D ge erfasst, können mit AIS noch halb so Umweltschützern, die mit A Darß große Schiffe geleitet werden. Knüppeln todgeweihten See- K 5km Luftfahrtstandards werden der Seefahrt vögeln das Leiden verkürzten, allerdings verschlossen bleiben. Anders schallte Strand auf, Watt ab der als am Himmel, wo Lotsen die Piloten wie Ruf nach Sicherheit auf See: Lotsenpflicht, die in der Luftfahrt seit Jahrzehnten Stan- am Gängelband führen und ihnen Kurs, Radarüberwachung und Havariekomman- dard ist – und wenn der Bund dafür be- Höhe und Geschwindigkeit vorschreiben, dos sollen her; jedes Schiff mit gefährlicher zahlt, dass deutsche Küstengewässer von kennt die Seefahrt nur eine Beratung – Ladung müsse von Schleppern begleitet diesem Sicherheitsplus profitieren können. daran ändert auch die AIS-Einführung werden. Bereits heute gilt für das notorisch heik- nichts. In die „Kommando-Ebene“, wo In Kiel diagnostizierte die schleswig-hol- le Fahrwasser der Kadetrinne eine Lot- einem Kapitän bei drohender Kollision steinische Ministerpräsidentin Heide Simo- senempfehlung. Viele Kapitäne nehmen etwa Ausweichmanöver befohlen würden, nis „dringenden Handlungsbedarf“. So wie das Angebot wahr und heuern für die gut dürfen Land-Leitstellen nicht eingreifen. schon 1998, nachdem der Frachter „Pallas“ 20 Kilometer lange Wasserstraße einen Dabei könnte das Schiff beim angeord- vor der Nordseeinsel Amrum gestrandet kundigen Steuermann an. Dennoch rum- neten Schwenk leicht eine Nussschale war und ein Bruchteil der jetzt in die Ost- pelt es ständig in der Rinne, weil sich eini- ohne AIS rammen, die zufällig im Weg see geflossenen Ölmenge etwa 16000 See- ge Hasardeure ohne den rund 2000 Mark ist. Ulrich Jaeger

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Studenten im Computerraum Fataler Zwang zur Perfektion

an den Schreibkursen der Psychologischen Beratungsstelle der Uni teilnehmen. Die Folgen sind fatal. Jüngsten Schät- zungen zufolge werden 50 Prozent der Hausarbeiten nie abgeschlossen. Der Berliner Erziehungswissenschaftler und Schreibforscher Lutz von Werder, 61, be- hauptet, dass die Hälfte aller Studienab- brecher am Schreiben scheiterten, bei den Philosophiestudenten seien es sogar 80 Prozent. Tendenz: steigend. Die Hauptursachen für die Schreibhem- mungen sind nicht neu. Leiter von Schreib- kursen berichten übereinstimmend vom Perfektionszwang vieler Kursteilnehmer: dass mit dem Schreiben eine „prinzipielle Imperfektion“ (von Hentig) einhergeht,

B. BOSTELMANN / ARGUM B. BOSTELMANN dass man alle Facetten eines Themas in ei- ner Arbeit kaum unterbringen wird, das bringt viele Studenten zur Raserei und lässt HOCHSCHULEN sie verzweifeln. „Unsere Hauptaufgabe ist, die Leute von ihren umfassenden An- sprüchen zu befreien“, sagt Roland Hahne, Kopieren geht über Studieren 53, von der Psychologischen Beratungs- stelle der FU. Viele Studenten quälen sich mit dem Schreiben, Schon während der kindlichen Alphabe- tisierung, so Lutz von Werder, entwickel- manche brechen aus Formulierungsnot ihr Studium ab; die Arbeit ten deutsche Kids oftmals ein so genann- am Computer scheint die Schreibhemmung noch zu verstärken. tes Schreib-Über-Ich. An den Grundschu- len werde kaum die spielerische Freude hne den Modergeruch halbfauler kurse für Studenten, für Manager, für PR- am Schreiben gefördert, es werde zu ein- Äpfel ging gar nichts. Ohne den Ap- Leute: Wer Hilfe braucht, bekommt sie. seitig darauf geachtet, dass alles orthogra- Ofelduft gäbe es wahrscheinlich kei- Nur im Land der Dichter, in Deutschland, fisch und inhaltlich richtig sei. Dieser An- ne „Räuber“, keine „Kabale und Liebe“, scheint Schreibvermittlung ein Fremdwort spruch hemmt bereits die Formulierungs- keinen „Don Carlos“. Das Obst musste in zu sein. lust der Kinder, die Älteren werden ihn der Schublade von Schillers Schreibtisch Gerade in den Semesterferien fühlen nimmermehr los. vor sich hingammeln, dann war alles gut: sich die Studenten im Stich gelassen. Ton- Die Formulierungsschwächen sind in den Das Dichten wurde zum Kinderspiel, die nenweise weiße Blätter wollen gefüllt vergangenen Jahren schlimmer geworden. Feder flog nur so übers Papier. werden. Von der Bewertung der Hausar- Ein Grund: die mangelnde Betreuung der Der Geruch von Fäulnis als Schreibsti- beiten hängt der erfolgreiche Verlauf des Studenten an den Massenuniversitäten. mulanz – das klingt kurios, ist aber ganz Studiums ab. Doch: Wie gestaltet man In den Einführungskursen ins wissen- normal: Um die Qual des Schreibens zu Anfang und Ende einer solchen Arbeit, schaftliche Schreiben geht es zumeist um erleichtern, nutzen Schreibprofis und -laien wie soll das ganze Ding gegliedert sein? Zitiergebräuche und Zeilenabstände; Glie- seit eh und je kühne Ticks und Tricks. Fragen über Fragen. Und keine Hilfe. derung und Stil von Arbeiten werden kaum Goethe ließ sich in seine halb fertigen Ma- Nirgends. besprochen. nuskripte weiße Blätter einheften – zum In Deutschland wurden in letzter Zeit Derartig dürftig gerüstet, sollen die „Anlocken“. Der französische Schriftstel- zwar an einigen wenigen Unis Schreibse- Studenten die erste Proseminar-Arbeit ler Balzac brauchte nächtliche Dunkelheit, minare eingerichtet, doch die Kursleiter schreiben, sich dafür oft ihre Themen viel Kaffee, blaues Papier und eine be- können den Ansturm an Bedürftigen nicht selbst suchen – und schon geht das große stimmte Sorte Federn. bewältigen: Allein an der Freien Univer- Rätselraten los: Was ist überhaupt eine wis- „Schreiben“, so stöhnt der emsige Autor sität Berlin (FU) sind 43000 Studenten im- senschaftliche Fragestellung? Wie grenzt und Professor für Pädagogik Hartmut matrikuliert, nur 60 pro Semester können man ein Thema ein? von Hentig, 76, „macht nicht Für derlei Einzelfragen Schwierigkeiten. Schreiben haben die Lehrkräfte oft kei- ist Schwierigkeit.“ Seine ne Zeit – zu viele Studenten Arbeit könnte „befriedi- auf einmal, die sie bestür- gend und bekömmlich sein, men. Die Massen-Uni gebiert müsste da nicht geschrieben massenhaft Schreibklemmis. werden“. Otto Kruse, Professor für Dass das Ringen um For- Psychologie an der Fach- mulierungen ein Martyrium hochschule Erfurt, klagt: sein kann, ist allgemein be- „Anfangsprobleme mit dem kannt. Und so gibt es in vie- Schreiben werden schnell zu len Ländern der Welt – in Störungen. Ohne klar ge-

den USA, in Japan, Neusee- / NEWSMAKERS CAIM T. W. stellte Aufgabe, ohne Anlei- land, Australien – Schreib- Schreibkurs in den USA: Training im Schludern und Feilen tung verkrampfen sich viele

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nen Leuten, die sich in den Beratungs- stunden bei ihm beklagten, keinen gera- den Satz zu Papier bringen zu können. Der Korrekturassistent bei den Ham- burger Juristen stellt ebenfalls fest, dass das Schreibvermögen bei vielen Studen- ten von der Textsorte abhängt. Die hand- schriftlichen Klausuren, in wenigen Stun- den unter Aufsicht verfertigt, seien bei vie- len Studenten häufig besser als die am Computer verfassten Hausarbeiten. Mög- licher Grund: In den Computerwerken gibt es eben jene Kopierexzesse, bei denen sich fremde Formulierungen mit eigenen mi- schen und nicht vertragen. Ein weiterer: Der Computer kann den fatalen Perfek- tionszwang gerade der fleißigen, zur Selb- ständigkeit strebenden Studenten verstär- ken. Die neigen dazu, ihre Hausarbeiten ständig zu verschlimmbessern.

M. WOLF / VISUM M. WOLF Hahne: „Sätze wieder und wieder lö- Student in der Bibliothek: „Viele Seiten füllen, ohne selbst zu schreiben“ schen, neu formulieren, ausbessern – ge- rade die ehrgeizigen Studenten kommen Studierende so sehr, dass sie fast schreib- über Studieren“, feixte „jetzt“, das Jugend- nicht zum Ende, weil sie immer und immer unfähig werden. Es ist nicht zu ermessen, magazin der „Süddeutschen Zeitung“. wieder nach einer besseren Variante su- wie viel Studienzeit durch ungenügende Schon unter den deutschen Schülern chen. Doch die achte Version ist oft sehr Anleitung verloren geht.“ geben heute rund 19 Prozent an, bereits viel schlechter als die zweite.“ Die Mitarbeiterinnen vom Schreiblabor Arbeiten abgegeben zu haben, die ganz Als Hausarbeiten noch überwiegend auf der Bielefelder Uni versuchen daher, im oder teilweise aus dem Internet stammen. Schreibmaschinen verfasst wurden – das ist Massenbetrieb kleine Einheiten zu bilden. Doch mit der Feigheit vor der selbst ge- keine 15 Jahre her –, haben sich die Stu- Schreibberaterin Christina Freese, 33: machten Formulierung schaden die Kopis- denten schneller mit einer Version zufrieden „Freiwillige Arbeitsgruppen helfen viel. ten vor allem sich selbst: So lernen sie das gegeben, denn eine Seite immer wieder ab- Oft spornt es die Studierenden schon an, Schreiben nie. zutippen, nur weil einem eine Formulierung andere schreiben zu sehen, oder sie nutzen Linguisten streiten sich noch, ob die nicht passte, war einfach zu mühsam. die Möglichkeit, Thesen ihrer Arbeiten den Neuen Medien das Sprachvermögen junger Die Kopisten werden durch den Com- anderen vorzustellen, um sich selbst Klar- Leute tatsächlich verschlechtern oder viel- puter schludriger, und die Perfektionisten heit darüber zu verschaffen.“ leicht doch verbessern. Ei- setzen sich noch mehr Wer sich mit dem Schreiben schwer tut, nige Wissenschaftler ver- unter Druck – in beiden der wird von den Neuen Medien – vom treten durchaus die Theo- Fällen hemmt das moder- Computer und Internet – nicht unterstützt, rie, dass der Gebrauch von ne Gerät den Schreibfluss sondern eher noch mehr in die Irre ge- E-Mail und SMS die Lust eher, als dass es ihn be- führt. Ein junger Jurist, der an der Ham- am geschriebenen Wort fördert. burger Uni als Korrekturassistent arbeitet, steigern könnte. Schreibpädagogen wei- Hausarbeiten liest und bewertet, beobach- Bei der elektronischen sen immer wieder darauf tet: „Die Studis können heute viele Seiten Post sind die formalen An- hin, dass die Studenten füllen, ohne selbst zu schreiben.“ sprüche nicht hoch, alles auf dem Weg zum freudi- Oftmals sitzen die Studenten schon in wird kleingeschrieben, die gen Formulieren zweierlei

der Uni-Bibliothek mit dem Laptop, dort Adressaten machen kühn / DER SPIEGEL SCHUMANN F. trainieren müssten: Schlu- übertragen sie Sätze aus der Fachlitera- von der Umgangs-, Jugend- SMS-Nachricht dern und Feilen. Ein- tur direkt in ihren Computer. Die fremden oder Comicsprache Ge- Flapsige Formulierungen fach drauflosschreiben, um Sätze werden dann in die eigene Haus- brauch. Online-Frage: „Hu- Hemmungen abzubauen, in arbeit kopiert, gegebenenfalls umgestellt, hu, ich kann heute leider doch nicht, einem zweiten Schritt Formulierungen damit sie wie die eigenen klingen. Der kannste an ’nem anderen Tach?“ Online- schärfen und vor allem: es nach einer Korrektor: „Bei diesem Verfahren verlie- Antwort: „Schnüff, schnüff, bin die ganze vernünftigen Überarbeitungszeit gut sein ren die Studenten oftmals den Überblick, Woche voll im Stress, anderer Tag geht lassen. pfuschen so viel herum, dass gar nichts echt nicht.“ Nicht zu viel von sich verlangen, sich mehr stimmt. Manche Sätze haben gleich Auch Schreibpädagogen sind sich un- selbst Zeit geben, schreiben zu lernen, vier Verben, und ich kann mir das richti- eins, ob derartig flapsige Formulierungs- das rät der Erfurter Psychologie-Professor ge aussuchen. Manche haben dafür gar gebräuche längerfristig Schreibhemmun- Otto Kruse: „Vielen Studenten, die we- keins.“ gen mindern können. Roland Hahne von gen Schreibhemmungen zu uns kommen, Im Internet können Studenten für ihre der Psychologischen Beratungsstelle der scheint das Schreiben kaum der Übung Seminararbeiten inzwischen auf ganze Da- FU ist skeptisch: „Ich habe gehofft, dass die wert; sie wollen es einfach können.“ Doch tenbanken zurückgreifen. Tausende Haus- elektronische Post das Schreiben generell ähnlich wie beim Klavierspielen machten arbeiten quer durch alle Fachrichtungen erleichtert. Doch ich mache die Erfahrung, erst Übung und die Lust am wachsenden liegen zum Ausdrucken bereit, professio- dass den Studenten alle Natürlichkeit und Vermögen den Meister. nelle Anbieter stellen sie ins Netz. „Haus- Selbstverständlichkeit verloren geht, wenn Einen Meister allerdings, der ganz ohne arbeiten.de“ ist derzeit das beliebteste sie an einer Textsorte sitzen, die sie als of- faule Äpfel und blaues Papier möglicher- deutsche Online-Archiv dieser Art, 12000 fiziell empfinden.“ Tag für Tag bekomme weise nicht auskommt. Macht nichts. Was Texte sind hier abgelegt – „kopieren geht er flott formulierte E-Mails von eben je- zählt, sind Ergebnisse. Susanne Beyer

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Werbeseite Deutschland S. SCHULZ / RETRO Soldaten mit G3-Gewehr*: Publikumswirksam verschrotten?

New York einen Aktionsplan gegen den Kleinwaffenkonferenz der Uno vorbe- WAFFENHANDEL unkontrollierten Handel mit dem ebenso reitet. billigen wie verbreiteten Schießgerät ver- Ginge es nach der Uno und Heidemarie Schönes Vorbild abschieden. Immerhin sind weltweit rund Wieczorek-Zeul, würde das Schießgerät 550 Millionen Kleinwaffen im Umlauf. der Schrottpresse anheim fallen. Doch Die Regierung will den Die Bundesregierung rühmt sich, an der da ist womöglich Parteifreund Rudolf Spitze der Uno-Bewegung zu stehen. Sie Scharping vor. Der Verteidigungsminister internationalen Handel mit Klein- setzt sich dafür ein, neu produzierte Ge- ist knapp bei Kasse und sucht hände- waffen eindämmen. Trotzdem wehre, Pistolen und Munition zu markie- ringend nach zahlungskräftigen Abneh- erwägt sie, Gewehre und Pistolen ren und zu registrieren – und preist den mern für überflüssiges Kriegsmaterial. Die der Bundeswehr zu verkaufen. jährlichen Rüstungsexportbericht, zu dem alten Gewehre und Pistolen könnten ihm sich das rot-grüne Kabinett etliche Millionen Mark er kleine afrikanische Junge von verpflichtet hat, aller Welt bringen. 12 oder 13 Jahren steht an einen als Vorbild für mehr Offen- Zwar beteuern Wirt- Ddürren Baum gelehnt. Vor seinem heit an. schafts- und Wehrressort, zerrissenen T-Shirt hält er eine Kalasch- Ein schönes Vorbild? dass so ein Geschäft nur nikow, halb stolz, halb aggressiv. Heide- Tatsächlich belegt der mit Nato- und EU-Staaten marie Wieczorek-Zeul gerät in Rage, wenn Bericht nur, wie kräftig oder gleichgestellten Kun- sie das Plakat sieht, mit dem das Kinder- die Deutschen in dem Ge- den wie der Schweiz oder hilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) schäft mitmischen. Der Ex- Australien in Frage komme. weltweit gegen skrupellose Waffendea- port-Report für 1999 listet Eine Garantie, dass die ler und den Einsatz von Kindersoldaten Kleinwaffen- und Muni- Waffen nicht in Krisenge- mobil macht. tionslieferungen an 68 Län- bieten landen, ist das aber

„So etwas darf nicht mehr sein“, der auf, die weder dem / NOVUM SCHMIDT W. noch lange nicht: Nach der schimpft die Berliner Entwicklungshil- Nato-Bündnis noch der Minister Scharping deutschen Einheit schenkte feministerin über die Bewaffnung von Kin- Europäischen Union an- Abnehmer gesucht die christlich-liberale Re- dern. Die streitbare SPD-Frau hat die gehören. gierung Helmut Kohls dem Kampagne gegen „Kleinwaffen in kleinen Wie viele Exemplare des bisherigen Nato-Partner Türkei 303 934 Kalaschni- Händen“ zu ihrer Herzensangelegenheit Bundeswehr-Standardgewehrs G3 – aus kows samt einigen Millionen Schuss Mu- erklärt. deutscher Fertigung oder ausländischer Li- nition aus Beständen der Nationalen Volks- Unicef führt ein internationales Ak- zenzproduktion – auf dem globalen Markt armee der ehemaligen DDR; viele der tionsbündnis an, das dem Geschäft mit vagabundieren, wissen allerdings weder die Sturmgewehre, berichteten Hilfsorganisa- Sturmgewehren, Maschinenpistolen, Hand- deutsche Herstellerfirma Heckler & Koch tionen, tauchten wenig später im Irak auf. granaten, leichten Granatwerfern und ähn- noch die Berliner Regierung. Experten- Dietrich Garlichs, Geschäftsführer von lichen Mordwerkzeugen einen Riegel vor- schätzungen gehen von mehreren Mil- Unicef Deutschland, möchte verhindern, schieben will. Rund drei Millionen Tote bei lionen aus. dass demnächst auch die ausgemusterten kriegerischen Auseinandersetzungen der Und bald könnten es noch mehr wer- Bundeswehr-G3 auf fernen Bürgerkriegs- vergangenen zehn Jahre gehen laut Unicef den: „Die Bundeswehr baut in den kom- schauplätzen landen. Er hat die Bundesre- allein auf das Konto der Kleinwaffen. menden drei bis vier Jahren wegen der gierung aufgefordert, die Altwaffen Im kommenden Juli, so möchte es die Umrüstung auf neue Waffen einen Über- öffentlich zu vernichten. Garlichs: „Eine Uno, soll eine internationale Konferenz in schuss von 400000 G3-Gewehren, 50000 publikumswirksame Aktion auf einem Maschinenpistolen und Pistolen auf“, sagt belebten Berliner Platz hätte Vorbild- * Vom Transportbataillon 133 aus Erfurt im Januar 1996 der Oberstleutnant Klaus Wolf, der für charakter für andere Staaten.“ auf dem Truppenübungsplatz in Hammelburg. das Bundesverteidigungsministerium die Alexander Richter

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KRIMINALITÄT Opfergeld im Steuerparadies Ein ehemaliger Bankdirektor aus der Ukraine sitzt in Hannover im Gefängnis: Er soll 86 Millionen Mark veruntreut haben, die Deutschland für NS-Geschädigte überwiesen hatte. Der Fall belastet kommende Milliarden-Entschädigungen: Landet das Geld wirklich bei ehemaligen Zwangsarbeitern?

chon seit fast sechs Monaten bleibt terpräsidenten Wiktor Juschtschenko. ein Sessel in der Werchowna Rada, Ukrainische Oppositionelle argwöhnen, Sdem Parlament der Ukraine, leer. Der dass in der Staatsspitze weggeschaut wur- Volksvertreter Wiktor Scherditzki, 43, ver- de, als Scherditzki seinen Coup landete. passt jede Sitzung des Hohen Hauses – Auch der früheren Bundesregierung muss seit vergangenem Oktober hat sich der par- die Angelegenheit peinlich sein. Sie zeigte, teilose Abgeordnete nicht mehr sehen wie unbekümmert Bonn dreistellige Millio- lassen. nenbeträge in den Osten pumpte, ohne sich Und das wird noch eine Wei- dafür zu interessieren, ob das le so bleiben. Scherditzki sitzt in Geld auch bei den Opfern ankam. Niedersachsens Hauptstadt im Vor allem aber wirft der mut- Gefängnis. In den nächsten Mo- maßliche Betrugsfall Scherditzki naten will ihn die Staatsanwalt- die Frage auf, ob genügend Vor- schaft Hannover wegen Untreue kehrungen getroffen worden in Millionenhöhe anklagen. Der sind, um ein abermaliges Ver- Wirtschaftsprüfer, der nach sickern von Geldern zu verhin- dem Zerfall der Sowjetunion dern. Denn die ukrainische Stif- eine steile Karriere als Banker tung „Verständigung und Aus- Präsident Kutschma, Kanzler Kohl*: „Kontrolle startete, wird eines besonders söhnung“, der es schon einmal

perfiden Verbrechens bezichtigt: AP nicht gelang, auf die Millionen neralstaatsanwalt in Kiew hatte bereits im Er soll 86 der 400 Millionen Scherditzki aufzupassen, soll auch demnächst November des vergangenen Jahres wegen Mark veruntreut haben, die die Geld veruntreut? wieder für die korrekte Vertei- einer Auslieferung antichambriert. Ende Kohl-Regierung 1993 für Opfer lung der Zwangsarbeitergelder November prahlte der Chefankläger: „Ich des NS-Regimes in der Ukraine bereit- sorgen: 1,724 Milliarden Mark sind für die denke, wir werden Scherditzki Anfang De- stellte. Überlebenden in der Ukraine vorgesehen. zember bekommen.“ Das Verfahren gegen Scherditzki ist ein Um eine neue Diskussion über das Ver- Ein Irrtum – die Neigung der deutschen ukrainisch-deutsches Politikum. Denn in dunsten der Gelder zu verhindern, möch- Strafverfolger, den mutmaßlichen Wirt- Kiew pflegte der Volksdeputierte beste Be- te die ukrainische Regierung den Fall schaftskriminellen herzugeben, ist gering. ziehungen bis hinauf zum heutigen Minis- Scherditzki zu Hause erledigen. Der Ge- In der Ukraine tobt ein Machtkampf. Prä- sident Leonid Kutschma steht un- ter dem Verdacht, an der Ermor- dung eines kritischen Journa- listen beteiligt gewesen zu sein (SPIEGEL 12/2001). Bei solch unübersichtlichen Verhältnissen fürchten deutsche Ermittler, dass der umtriebige Scherditzki mit seinen guten Beziehungen glimpflich davonkommen könnte. Dafür spricht, dass sich Scher- ditzkis Kollegen im Parlament erst dazu durchringen konnten, seine Immunität aufzuheben, nachdem er in Hannover verhaf- tet worden war. Der besondere Schutz der Abgeordneten hatte ihn jahrelang davor bewahrt, vom Parlamentssessel auf die Knast- pritsche umziehen zu müssen – und das, obwohl alle Vorwürfe lange bekannt waren. Die speziellen Verhältnisse in der Ukraine waren auch der Grund dafür, dass einige der rund KEYSTONE Deportation von Ukrainern: Mit den Millionen für die Opfer des NS-Regimes spekuliert * 1995 in Bonn.

80 der spiegel 15/2001 650 000 NS-Opfer des Landes monate- lang auf eine Auszahlung der durch- schnittlich 615 Mark warten mussten, nachdem die Bundesregierung im Mai 1994 mit der Überweisung der 400 Millio- nen Mark an die Stiftung begonnen hatte. Besonders mit vier Banken hatten sich die Stiftungsoberen zu einem Renditelotto verabredet. Bevor die Entschädigung an die Antragsteller ging, wollten die Treuhänder erst einmal mit Teilbeträgen ihr Glück am Finanzmarkt versuchen. Man hoffte auf profitable Geschäfte. Das Gros des Geldes – 264350000 Mark – ging an die Gradobank, in der Scherditzki das Sagen hat- te. In zwei Vereinbarun- gen hatten Geldhaus und Stiftung festgehalten, dass nur risikolose Finanzakti- vitäten bei seriösen inter- nationalen Großbanken in Frage kommen sollten. Daran hat sich Scher- ditzki nach Überzeugung der Justiz nicht gehalten. Das Geld sei vielmehr bei

ACTION PRESS ACTION schwindsüchtigen Kapi- ist miserabel“ talgesellschaften gelandet. Auf Ersuchen der ukrai- nischen Stiftung überwies die Bundeskas- se zunächst dreistellige Millionenbeträge direkt auf ein Korrespondenzkonto der Gradobank bei der Hypovereinsbank in München. Die leitete den Betrag auf ein Konto der Gradobank in Luxemburg wei- ter, wo die Opfer-Millionen dahinschmol- zen. 9,36 Millionen Dollar gingen etwa als Kredit an eine KMK Export-Import GmbH, 5,328 Millionen Dollar an die iri- sche KCI-Energie Ltd. So floss Mark um Mark ab. Häufig enden die Spuren bei Briefkastenfirmen in ein- schlägigen Steuerparadiesen wie Zypern oder der Isle of Man. „Das Geld hat sich schlicht atomisiert“, sagt Staatsanwalt Lars Burgardt. Die Ermittler wollen beweisen, dass es sich bei den Empfängern oftmals nur um Scheinfirmen handelte, die Scher- ditzki nutzte, um die Wege des Geldes zu verschleiern. Dazu zählten auch Betriebe, in denen Vertraute des gewieften Ukrai- ners saßen. Nutznießer solcher Geld-Ope- rationen sei in vielen Fällen der Bankchef selbst gewesen. Scherditzki wollte sich ge- genüber dem SPIEGEL zu den Vorwürfen nicht äußern. Aber obwohl die Spezialabteilung Geld- wäsche und Finanzermittlung der hanno- verschen Staatsanwaltschaft die Ermitt- lungen übernommen hat und auch das niedersächsische Landeskriminalamt mit der „Gemeinsamen Finanzermittlungs- gruppe“ seine erfahrensten Geldjäger be- auftragt hat, sind bisher nur kümmerliche Reste wieder aufgetaucht. „Die Wege des Geldes sind schwer nachzuzeichnen,

der spiegel 15/2001 81 Deutschland Antragsteller: 650000 Neben den Millionen auf Abwegen Geleistete Entschädigungszahlungen Deutschlands durchschnittlicher 50 000 Dollar hat nach Vereinbarungen im Zuge der Deutschen Einheit zur Überwindung des Ost-West-Gegen- Entschädigungs- die Justiz das un- satzes, für NS-Opfer in Polen (1991) und der ehemaligen Sowjetunion (1993–95), in Mark Ukrainische betrag: bebaute Betriebs- Nationale Stiftung 615 Mark grundstück von EHEM. „Verständigung und POLEN UDSSR UKRAINE Aussöhnung“ Scherditzkis Wede- WEISS- marker Firma und seinen RUSSLAND Aufsichtsrat: Geleitet vom Mercedes beschlagnahmt. 200 Mio. 400 Mio. ukrainischen Vizepremierminister Das ist ziemlich mager. 500 Mio. Vorstand: Der Vorsitzende wird Etwas mehr könnte bei von der Regierung ernannt deutschen und russischen RUSSLAND Sachverständigenausschuss Mitbeschuldigten zu ho- 400 Mio. Berufungskommission len sein, die dem Banker davon sind zur Hand gegangen sein 86 Mio. Auszahlungen über ukrainische sollen. Gegen vier ermit- verschwunden Banken, insbesondere: telt die Staatsanwaltschaft „Stiftung Weißrussische Russische • Industrie-Investitionsbank wegen gewerbsmäßiger Deutsch-Polnische Stiftung Stiftung • Sparbank Geldwäsche; insgesamt Aussöhnung“ „Verständigung „Verständigung • Gradobank und Aussöhnung“ und Aussöhnung“ • Brokbusinessbank zwölf Millionen Mark will die Justiz bei ihnen beschlagnahmen. und oft ist es dann einfach weg“, sagt Bur- liebte Gemäldesammlung aus der Grado- Der ukrainische Zwangsarbeiterfonds gardt. bank, zu der sogar Picassos und Manets hat über die deutsche Botschaft in Kiew Scherditzki flog auf, als die Gradobank zählen sollen. wissen lassen, dass er für jede Mark, die 1996 in finanzielle Schwierigkeiten geriet: Richtig ernst wurde seine Lage erst, als wieder auftaucht, dankbar sei. Schließlich 86 Millionen Mark, die den NS-Opfern Scherditzki am 11. Oktober vergangenen sei für die fehlenden 86 Millionen Mark noch zugestanden hätten, waren ver- Jahres überraschend bei der Deutschen der klamme ukrainische Staat eingesprun- schwunden. Weil die Geschichte über das Bank in Hannover auftauchte und 50000 gen, damit die NS-Opfer ihr Geld doch Versickern des deutschen Geldstroms Dollar von seinem Konto verlangte. Was er noch bekamen. Jetzt wolle man der Re- selbst für ukrainische Verhältnisse ziem- nicht wusste: Nach dem Fahndungsersu- gierung zumindest einen Teil ersetzen. lich unverschämt war und die Bundesre- chen aus der Ukraine waren die Gelder Bundesjustizministerium und Auswärti- gierung Druck machte, ordnete Präsident bereits gesperrt worden. ges Amt haben über den Auslieferungsan- Kutschma eine Untersuchung an. Bankchef Ein findiger Schalterbeamter gab vor, trag aus Kiew zu entscheiden, bevor hier Scherditzki kam in Untersuchungshaft. Die man müsse die Dollar leider erst besorgen, gegen Scherditzki verhandelt werden kann. Generalstaatsanwaltschaft in Kiew bat Jus- Scherditzki möge doch bitte am nächsten Dass die Bundesregierung einer Entschei- tizbehörden weltweit, ihr bei der Suche Tag noch einmal vorbeischauen. Als der dung aus Hannover widerspricht, ist un- nach dem Geld zu helfen. Auch die deut- Ukrainer erneut erschien, warteten bereits wahrscheinlich. Da Deutschland und die sche Justiz wurde eingeschaltet: Schließlich ein Staatsanwalt und die Polizei. Ukraine kein Auslieferungsabkommen ab- hatte Scherditzki im niedersächsischen We- geschlossen haben, stünde dem beabsich- demark schon 1993 die Im- und Exportfir- tigten Prozess vor dem zuständigen Land- ma Zel gegründet. Monatelang lebten er gericht in Hildesheim nichts im Weg. und seine Familie sogar in Hannover. Egal wo Scherditziki auf der Anklage- Doch mit einem in Osteuropa weit ver- bank sitzen wird, dem Versöhnungsgedan- breiteten Resozialisierungsprogramm kam ken hat der Kriminalfall schweren Schaden Scherditzki schnell aus dem Gefängnis: Er zugefügt. Denn bevor die Ukraine einsprang kandidierte für das Parlament und brach- und das veruntreute Geld ersetzte, vergin- te es im Wahlbezirk N 74 in Transkarpa- gen Monate, in denen betagte NS-Opfer tien auf 15,1 Prozent der Stimmen. Weil starben. Dass die kommende Milliarden- die 14 Gegenkandidaten noch weniger er- zahlung trotzdem wieder über die gleiche zielten, reichte es für ein politisches Amt. Stiftung läuft, rügt der Maintaler Rechtsan- Und wegen der parlamentarischen Immu- walt Peter-Jochen Kruse deshalb scharf. nität war eine Inhaftierung nicht mehr In einem Brief an den Beauftragten des möglich. Bundeskanzlers für die Stiftungsinitiative, Scherditzkis Karriere, die schon in der Otto Graf Lambsdorff, klagt Kruse, dass

Sowjetunion hoffnungsvoll begonnen hat- A. KLYMENKO „die Garantie der tatsächlichen Auszah- te, schien gerettet. In Kiew hatte er einst Sitz der ehemaligen Gradobank in Kiew lung nicht gewährleistet“ sei. Die Ver- am Institut für Volkswirtschaft studiert. Als „Das Geld hat sich schlicht atomisiert“ handlungspartner, so der Jurist, der Tau- Wirtschaftsprüfer stieg er anschließend bis sende ehemalige Zwangsarbeiter vertritt, zum Leiter der Zentralbuchhaltung in der Der schnelle Zugriff war nötig: Aus hätten „nur auf die politische Show ge- Kiewer Staatsverwaltung auf, wechselte in Scherditzkis Terminkalender ging hervor, schaut – aber die Kontrolle der Abwicklung die Führung verschiedener Staatsunter- dass er unmittelbar vor einer Reise nach ist weiterhin miserabel“. nehmen. Als die Wende kam, war er bereit Großbritannien stand. Ukrainische Oppo- Als er im Auftrag des Pharmakonzerns für den Chefsessel der Gradobank. sitionelle glauben, dass er zu Ministerprä- Merck ehemalige Ostarbeiter direkt ent- Und als der Familienvater nicht mehr sident Juschtschenko wollte, der sich Ende schädigen sollte, wollte sich Kruse jedenfalls Bankdirektor sein durfte, machte er eben Oktober mit Managern der Bank of Eng- nicht mehr auf die Banken in der Ukraine Karriere als Volksvertreter und rückte in land traf. Jeder Versuch, ihn mit dem verlassen. Er reiste mit dem Merck-Geld den Ausschuss für die Verwaltung des krummen Deal in Verbindung zu bringen, persönlich in den Osten. Die Scheine Staatseigentums auf. Zum Staatsschatz schimpfte der Regierungschef, sei „eine hatte seine Ehefrau unter ihrer Bluse ver- gehörte nach dem Konkurs auch seine ge- komplette Lüge“. staut. Udo Ludwig, Georg Mascolo

82 der spiegel 15/2001 Werbeseite

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RTL Start in Berlin er Einstieg der RTL-Gruppe beim DNachrichtensender N-tv steht kurz vor dem Abschluss. „Die Großen sind sich einig“, sagt ein eingeweihter TV- Manager. Nach dem aktuellen Stand wird die Handelsblatt-Gruppe mit über 30 Prozent der Anteile größter Gesell- schafter vor dem US-Newskanal CNN und RTL mit jeweils zwischen 25 und 30 Prozent. Aussteigen wird neben dem Medienriesen Time Warner (24,3 Pro- zent) voraussichtlich auch die Nixdorf- Familie (18,9 Prozent). Alle weiteren Kleingesellschafter – etwa der Verleger Norman Rentrop – wollen ihre Anteile

aufstocken. Der N-tv-Wert wird bei der AP Transaktion auf rund 700 Millionen Döpfner, Sommer Mark taxiert. Durch die geplante Ko- INTERNET Deal im Trainingslager hre neue Allianz mit dem Axel Springer Verlag lässt sich die Telekom einiges kos- Iten. Für einen Anteil von 37 Prozent an einer gemeinsamen Firma mit bild.de, dem Online-Ableger des Springer-Blatts „Bild“, zahlte der Konzern rund 80 Mil- lionen Mark in bar; hinzu kommen Sachleistungen. Mit der Finanzspritze übernahm die Telekom anteilig bisherige Entwicklungskosten von rund 70 Millionen Mark, wei- tere Gelder sind für den geplanten Ausbau zum Entertainment-Portal fällig. Mit spe- ziellen Online-Foren, aber auch Quiz-Sendungen sollen die „Bild“-Leser von Au- gust an zu T-Online gelockt werden. Die Telekom-Tochter hat in Deutschland zwar

N. MICHALKE / IMAGES.DE N. MICHALKE rund sechs Millionen Kunden, viele verweilen aber nur kurz, weil attraktive Inhalte N-tv-Sendezentrale fehlen. Weitere Online-Projekte mit „Bild“-Ablegern sollen nun folgen – obenan auf der Liste steht „Computer Bild Spiele“. Mit Online-Wetten will bild.de-Chef Udo operation der Redaktionen von RTL Röbel – der in den Vorstand der neuen Telekom-Springer-AG einzieht – schon bald und N-tv ließen sich Kosten sparen so- viel Geld einnehmen. „Wir wollen zur Park Avenue im Internet werden“, sagt Jür- wie neue Projekte anschieben, etwa gen Kindervater, oberster Inhalte-Manager der Telekom, der auf Vermittlung von ein Newskanal für das digitale RTL-An- Promi-Anwalt Matthias Prinz den Kontakt zu Springer knüpfte. Den Deal verein- gebot. „Gut Ding braucht Weil, und barten Telekom-Chef Ron Sommer und Springer-Vorstand Mathias Döpfner im Fe- dieses Ding wird besonders gut“, sagt bruar – beim Trainingslager der Profiradler von Team Telekom. RTL-Informationsdirektor Hans Mahr.

TV-PROJEKTE winden. Obwohl den Teilnehmern dabei leiter fungieren Alexander Mazza und laut einer Sendersprecherin „einiges ab- Sonya Krauss, die auch die Abenteuer- Promis in die Wüste verlangt wird“, haben auch Katja Flint Show „Fort Boyard“ moderierten. und Mark Keller zugesagt. Produziert Weil die im Sommer mit durchschnitt- roSieben schickt von Ende April an wird das Wüstenspektakel, das im Som- lich knapp 24 Prozent Marktanteil (bei PStars wie Esther Schweins und Son- mer über die Bildschirme flimmern soll, den 14- bis 49-Jährigen) gut lief, plant ja Kirchberger zum Schwitzen in die von Tresor Entertainment. Als Übungs- der Kirch-Kanal zwölf neue Folgen. jordanische Wüste. Auf dem heißen Sand lässt der Sender acht Folgen der Schauspielerinnen Schweins, Kirchberger, Flint Abenteuer-Show „Desert Forges“ pro- duzieren, bei der jeweils zwei promi- nente Duos in Wettkämpfen gegenein- ander antreten – und damit, so heißt es in den Schreiben an die Stars, „wie In- diana Jones um den Einzug in den Wüs- tenpalast kämpfen“. So müssen die Kandidaten mit zusammengebundenen Fußgelenken und Sandsäcken auf dem

Rücken einen Hindernis-Parcours über- PRESS ACTION FOTOS: Medien

TV-DESIGN blaue ARD als kühl und konservativ. Zusätzlich will der Sender noch Rot, Irre menschlich „Modische Verjüngung“ Blau und Grün verwenden, und da kann ein Klima entstehen, das ganz an- einen kann fast jeder, und ein Erik Spiekermann, genehm wirkt. Ob man allerdings rich- Mruhiger Mann, so glaubte 53, Gründer der eu- tig beraten ist, diese Verjüngung mit ei- Brecht, könne „ruhig noch zwei ropäisch-amerikani- nem dermaßen modischen Logo zu ver- oder drei andere Meinungen über- schen Grafikagentur suchen, das bezweifle ich. nehmen“. Damit sprach der Dich- Metadesign, über SPIEGEL: Welche Lebenserwartung hat ter die heutige Mediengesellschaft das künftige orange- das neue Logo? frei: In der kippt, ob’s ums Keulen farbene Logo und Spiekermann: Drei, vier Jahre maximal. die neue Typografie SPIEGEL: Das ZDF wird außerdem eine von Rindern geht oder um die des ZDF neue Schrift für Studiodekoration, Pla- Tricksereien des Roland Koch, die kate und Programmtafeln öffentliche Meinung oft im Nu – SPIEGEL: Herr Spiekermann, einführen. Was halten Sie und das Geschwätz von gestern Anfang Juni führt das ZDF davon? schert die Profi-Meinungsmacher sein neues Logo ein: Aus Spiekermann: Über die nicht. Wie aber sollen die tradi- dem Z wird die Ziffer Zwei. Schrift habe ich mich geär- tionellen Urteilsfürsten der Kul- Wie gefällt es Ihnen? gert. Die „Swiss 721 BT“ ist Spiekermann: Es sieht hübsch der amerikanische Klon der turkritik da mithalten? Das Kriti- aus, ist aber sehr modisch: „Helvetica“. Die wurde 1957 kerwort, einmal hingeschrieben, Abgerundete Buchstaben 1963 in der Schweiz von Max steht fest gemauert im Archiv. Was zum Beispiel waren in den Miedinger entworfen, die also tun, wenn man sich’s an- Sechzigern beliebt und feiern Rechte liegen bei einer Fir- ders überlegt? Starkritiker jetzt nur ihr Revival. Wenn ma in Bad Homburg. Die Marcel Reich-Ranicki hat sei- das wieder vorbei ist, kann Helvetica ist in den Achtzi- nen legendären Verriss von das Logo peinlich wirken. gern einfach minimal verän- Grass’ „Blechtrommel“ einst Außerdem bin ich mir nicht dert worden und wird als sicher, ob die Kommunika- „Swiss 721 BT“ von der US- in aller Öffentlichkeit korri- tionsstrategie richtig ist: Der 1983 Firma Bitstream vertrieben, giert: Irren ist eben mensch- Sender fixiert damit seine und zwar viel preiswerter lich. So viel Grandezza aber Position als die Nummer als das Original. Rechtlich ist nicht allen gegeben. Als zwei, er gewinnt also immer ist das einwandfrei, mora- jüngst „Drei Mal Leben“ her- nur die Silbermedaille. lisch finde ich es fragwürdig. auskam, das neue Erfolgs- SPIEGEL: Sind Sie wenigstens Aber das ist bestimmt keine stück der Pariser Dramati- mit dem Orange einver- 1992 böse Absicht des ZDF, standen, das nun das sondern nur Dummheit. kerin Yasmina Reza (mittlerweile ZDF-Blau ablöst? Außerdem ist diese in vielen Städten der Renner der Spiekermann: Orange Schrift formal total aus- Saison), schwärmten fast alle Re- ist als aktuelle Signal- tauschbar und schafft zensenten von der Leichtigkeit farbe nicht verkehrt. keine Alleinstellung. und Alltagsnähe des Werks. Doch Damit möchte das Auch die Lufthansa, die in der „Süddeutschen Zeitung“ ZDF emotionaler und Bahn, Bayer und viele wurden Stück und Autorin heftig frischer werden, denn andere Unternehmen ha- attackiert: Mit „Sprachbasteleien“ es gilt wie die dunkel- Neues Logo, Vorgänger ben diese Hausschrift. werde hier „schnell und leicht Geld verdient“, der ganze Abend sei „albern“, „unlebendig“, „wel- PROJEKTE tenfern“, ja „indiskutabel“. Ko- misch nur, dass der „SZ“-Kritiker Wahres Teenie-Leben C. Bernd Sucher selbst einst nicht nur Frau Reza und ihre Arbeit b „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ Ooder „Verbotene Liebe“ – das Fern- sehr viel besser fand – ach was, sehen ist voll von Seifenopern über das er hat sogar frühe (leider wenig fiktive Leben von jungen Mädchen. erfolgreiche) Reza-Dramen ins Von Mitte Mai an strahlt der WDR un- Deutsche übersetzt. Mit ihren ter dem Titel „Die Schiller-Gang“ eine Welterfolgsstücken „Kunst“ und Doku-Soap aus dem wahren Leben „Drei Mal Leben“ durfte dann ein von vier Kölnerinnen zwischen 10 und anderer Übersetzer „schnell und 15 Jahren aus: „Wenn meine Freundin- leicht“ Geld verdienen. Das ver- nen nicht da sind, ist mir immer lang- weilig“, sagt Linda, 11, „dann muss ich schwieg Sucher in seiner Kritik. fernsehen oder am Computer spielen.“ Hat vermutlich mit seinem Mei- Die sechsteilige Dokumentation von nungswandel nichts zu tun. Petra Seeger läuft allerdings erst um Doku-Soap „Schiller-Gang“ 22.30 Uhr – reichlich spät für alle Lindas.

86 der spiegel 15/2001 Fernsehen

Vorschau wegs spielt er mit Selbstmordge- danken. „Auf Abwegen“ bleibt immer auf dem richtigen Kurs Auf Abwegen und erhebt sich nirgends über Montag, 22.30 Uhr, Arte seine Figuren. Christophe Lamotte, der Regisseur dieses bemerkenswerten Sozialdra- Ein Stück vom Glück mas, begann seine Karriere als Kurz- Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD filmer. Mit öffentlicher Förderung rea- Das Märchen von den Bremer lisierte er vor drei Jahren ein Projekt Stadtmusikanten, die eigentlich mit dem Titel „Bilder aus dem Stadt- keine Chance haben, dann aber viertel“. Darin stellten sieben- bis doch etwas Besseres als den Tod zehnjährige Pariser Grundschüler finden, ist was Wunderbares. nach eigenen Drehbuchideen ihre Und Filme, die wie dieser (Buch: Rolf-René Schneider, Regie: Rolf von Sydow) der Märchenmelodie folgen, können mit Rührung rechnen. Der Entertainer Frank Haller (Klausjürgen Wussow), allzu schwer tragend am Verlust seiner Frau, hat abgewirtschaftet, Szene aus „Die Frau, die Freundin …“ niemand will mehr die Liedchen des Schnulzenwracks hören. Auch als RTL. Die Protagonisten heißen neu- Hallers Ex-Manager Below (Wolfgang deutsch Maike, Anne und Till, sind Stumph) aus dem Knast entlassen wird chromblitzend motorisiert, leben in und dem abgetakelten Haller und sich großzügigen Lofts, trinken Champa- eine Bleibe verschafft, scheint das gner, bedienen lässig Computer, was Plowright, Gouix in „Auf Abwegen“ Schicksal nicht gewendet: Below, der Arbeit symbolisieren soll, und wür- zwanghafte Optimist, lebt mehr von Il- den, wenn die Ästhetik den endgül- Probleme vor: Gewalt, Ausreißversu- lusionen als von Tatsachen. Aber dann, tigen Sieg über die Inhalte davontrü- che, kaputte Familien. So konnte der mitten in einer Talkshow, ereignet sich ge, nur noch in raphaelitisch-schöner Zuschauer Kinder beobachten, die ein Wunder: Haller erobert mit einem Ungerührtheit in die Welt blicken. versuchten, einen Platz in der Gesell- sentimentalen Lied die Herzen der Zu- Auch in dieser Geschichte (Regie: schaft zu finden, deren Regeln sie sich schauer. Das wirkliche Wunder dieses Michael Keusch) wird an schönen nicht ausgesucht oder geschaffen ha- getreu die sentimentalen Klischees ab- Bildern und betäubend-edlem Am- ben, und dies „meilenweit entfernt arbeitenden Films ist Wussow. Der alte biente nicht gespart, dennoch gelingt von Selbstbetrug und Künstelei“ (La- Schwarzwald-Kliniker wird zum Salz im in einigen Szenen der Durchbruch motte). Hier hat Lamotte offenbar zum echten Drama. Eine Journalis- den Respekt vor dem Eigensinn jun- tin (Doreen Jacobi) heiratet einen ger Menschen gelernt, der auch den hoffnungsvollen Jungarzt (Thomas heute gezeigten Film „Auf Abwegen“ Scharff). Maike, die Freundin der zu einer sehenswerten Alternative Braut (Valerie Niehaus), erkennt im zum deutschen TV-Movie macht, das Bräutigam denjenigen, der sie früher die melodramatische und sentimenta- vergewaltigt hat. Es dauert lange, le Bevormundung der Kids nach dem bis der Mann seine Untat von einst Geschmack der Erwachsenen liebt. eingesteht. Niehaus schafft das Kunst- Die Geschichte des Marseiller Schü- stück, eine Rächerin mit Herz zu lers Tony (Guillaume Gouix), der mit spielen, eine Frau, die hin- und her- seinem Freund Marc (Ludwig-Stanis- gerissen ist zwischen innerer Verlet- las Loison-Robert) kleine Jungen er- zung und Schonung des Glücks der presst, bis sich einer (Ilroy Plowright) „Ein Stück vom Glück“-Star Wussow Freundin. aus dem Fenster stürzt und im Koma zwischen Leben und Tod schwebt, Süßstoff: Hartnäckig verteidigt er mit Paulus wird nüchtern erzählt. Der Zuschauer darstellerischer Zurückhaltung die Aura Freitag, 18.40 Uhr, ARD sieht, wie Tony an einer entscheiden- eines unheilbar Schwermütigen, ein be- Die Liebe lässt sich nicht erbittern, den Stelle seines Lebensweges ange- eindruckender Tragöde im Movie-Stadl. rechnet das Böse nicht zu. Sie hofft kommen ist, an der der Absturz Das wirkliche Märchen im Märchen. und duldet alles, schrieb der Apostel droht. Sein nach dem Tod der Mutter in seinem berühmten Korintherbrief. sozial ins Abseits geratener Vater Die Frau, die Freundin und Wer möchte da trotz grassierender (Jacques Spiesser) ist dabei, den Kon- der Vergewaltiger Sandalitis an der deutsch-italieni- takt zum Sohn endgültig zu verlieren. Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL schen Verfilmung über den berühm- Tony, getrieben von moralischen Kein Sender verpackt seine Movie- ten Gottesmann Paulus herumkrit- Skrupeln, macht sich zu seiner bei Pa- Helden so unerbittlich in die Watte des teln? Zweiter Teil am Montag (siehe ris lebenden Schwester auf. Unter- schönen und luxuriösen Scheins wie auch Seite 244).

der spiegel 15/2001 87 Medien

KOLUMNISTEN Der Schamane Franz Josef Wagner war Chefredakteur der „Bunten“ und der „B.Z.“. Nun ist er Chefkolumnist im Springer-Verlag, schreibt in „Bild“ fast täglich ungebetene Briefe an Prominente oder an Gott – und möchte „die poetische Tinte“ Deutschlands sein. Von Matthias Geyer

n dem Zimmer, in dem felsalat. „Ich brauch jetzt Blut.“ Franz Josef Wagner Und französischen Weißwein, Ischreibt, gibt es zwei eine halbe Flasche Sancerre. Kunstwerke. Das eine ist ei- Und filterlose Gitanes. Seine ne Bleistiftzeichnung von Ru- Stimme klingt, als sei sie in dolf Schlichter. Es zeigt Egon Mariacron eingelegt. Früher Erwin Kisch am Telefonhö- war er einmal bei den Re- rer. Das andere hat ein un- gensburger Domspatzen. bekannter Künstler gefertigt. Neulich war wieder so ein Es zeigt einen riesengroßen Tag. Was macht man? Vor- Penis. mittags hatte er seine acht Den Kisch hat Franz Josef Tageszeitungen gelesen, aber Wagner von Hubert Burda es stand nicht viel drin. Mit- geschenkt bekommen, als der tags rief der stellvertretende noch sein Verleger war. Den „Bild“-Chef aus Hamburg an, Penis hat er sich selbst ge- wie jeden Tag. Sie sprachen kauft, auf dem Flohmarkt. über Themen. Trittin war ein Manchmal ist Franz Josef Thema. Hamburg hätte gern Wagner sehr einsam in seinem Trittin gehabt. Aber Wagner Arbeitszimmer. Es gibt hier fiel nichts ein zu Trittin. Also keinen Menschen, mit dem er ging seine Post an den Bun- reden könnte. Er arbeitet von despräsidenten, es war ein zu Hause aus, und er lebt al- Beitrag zur Nationalismus- lein. Dann läuft er zwischen debatte. Kisch und Penis hin und her Wagner schrieb, dass er und wartet darauf, dass ihm „an eine kollektive Identität“ etwas Originelles einfällt. Er glaube. Die werde durch das ist Chefkolumnist beim Sprin- entwickelt, was einem die ger-Verlag. Er muss fünfmal in Mutter als Baby ins Ohr füt- der Woche für die „Bild“-Zei- tert. Bei ihm waren es „Hän- tung schreiben. Er hat unge- sel und Gretel“ und das „Ni- fähr 80 Zeilen à 15 Anschläge, belungenlied“. Und seine auf denen er den vielen Mil- Mutter sagte „Hosenschei- lionen Lesern einen Teil der ßer“ und „Goldfasan“ zu Weltlage erklären muss. Er ihm. So sei er Deutscher ge- sucht sich irgendein Thema worden. aus und lässt dann seine Phan- Wagner wollte damit sagen, tasie von der Leine, und am dass man auch stolz auf etwas

Ende soll es so sein, dass der E. HACKENSCHMIDT sein darf, wofür man nichts Leser die Welt so sieht, wie Autor Wagner: „Ich brauch jetzt Blut“ kann. Und dass man auf seine Wagner sie gern hätte. Mutter stolz sein kann. Es ist Diese Woche hat er 100 Tage rum. Wag- verkäufern, Grundschullehrerinnen, Schleu- dabei egal, ob die Mutter aus Deutschland ner schreibt nicht Artikel über Menschen, senwärtern.“ kommt oder aus Amerika. er schreibt Briefe an Menschen. Seine Ko- Abends ist er leer. Alle. Ausgelutscht. Franz Josef Wagners Mutter kommt aus lumne heißt „Post von Wagner“. Er Wenn alles glatt gelaufen ist, kommt Franz Böhmen. Er verehrt sie sehr. schreibt an Christina Rau und Katie Price, Josef Wagner, 57, gegen 21 Uhr in die Paris Er hat jetzt endlich etwas zu essen be- das „Spindluder“. Bar, eine Gaststätte, in der die Berliner Pro- kommen. Er kaut Blutwurst und trinkt Und wenn es sein muss, denkt er so- minenz zu Hause ist. Er trägt ein blaues Ja- Wein und raucht eine Gitane und erzählt gar über öffentliche Toiletten nach. Wer ckett mit einem Einstecktuch, das Hemd ist von der Kindheit, alles auf einmal. sind wir, wir Menschen, die wir täglich über der Brust geöffnet, und die Haare hän- Seine Mutter, sagt er, sei „eine sehr irgendwo auf einem gottverdammten Klo gen ihm ins Gesicht. Er hat zurzeit keinen sehnsuchtsvolle Frau“ gewesen, der Vater dieser Erde sitzen? „Wir sind Einsiedler- Föhn. Irgendein Mädchen, das neulich bei war im Krieg, und wenn er abends im Bett krebse, die in die verlassenen Gehäuse ihm war, hat ihm den Föhn geklaut, sagt er. lag, sang die Mutter „alle Strophen von anderer Tiere kriechen. Wir sitzen auf Er muss jetzt etwas essen. Er bestellt ,Sah ein Knab ein Röslein stehn‘“. Sagt er. den Brillen von Drüsenkranken, Schuh- „Boudin“, gehäutete Blutwurst mit Kartof- Und nachts habe er zu den „Geschichten

88 der spiegel 15/2001 J. GIRIBAS J. Springer-Prominenz, Politiker Schäuble*: „Herr, sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ aus Tausendundeiner Nacht“ neue Pointen Es gibt zwar auch welche, die sich er- Josef Wagner findet jetzt gar nichts mehr geträumt. Nur deshalb könne er auch heu- kundigen, ob dieser Typ noch alle Tas- komisch. Er sagt: „Ich denke einfach, dass te so schreiben, wie er schreibt. Dann stellt sen im Schrank habe. Aber die sind in der du das gar nicht kapierst.“ Er befiehlt ihr, er den Teller, auf dem noch ein Drittel Blut- Minderheit. sich an einen anderen Tisch zu setzen. wurst liegt, auf den Nachbartisch und Ach ja, vor kurzem hat er sich mit Plá- „Außer Sichtweite.“ möchte noch einen Sancerre. cido Domingo unterhalten. Das heißt, sie Man weiß nicht so richtig, ob er das jetzt Einen wie ihn haben sie bei „Bild“ kein haben sich weniger unterhalten, Wagner ernst meinte oder nicht. Es wirkte jeden- zweites Mal. Weil er ja eigentlich gar nicht hat dem Mann aus Spanien vielmehr er- falls so, deshalb setzt sich Else Buschheu- zu „Bild“ passt. Er brüllt nicht, er raunt klärt, was man mit deutscher Sprache alles er an einen Tisch, den Franz Josef Wagner Andeutungen unters Volk. Als erwiesen kann, wenn man sie kann. Er zitierte nicht sehen kann. Mit der amtierenden war, dass der Mensch nur doppelt so viele Goethe: „Über allen Gipfeln ist Ruh.“ Er Wetterfee sind dunkle Wolken in seinem Gene hat wie die Fliege, schrieb Wagner ei- sagte, so ein Satz sei „wie ein Scheiben- Kopf aufgezogen. Er bestellt Grappa und nen Brief an den lieben Gott: „Ich kann wischer bei einsetzendem Regen“. Da hat Espresso. nicht die Fliegensprache. Haben die einen er aber gestaunt, der Spanier. Kann es noch Franz Josef Wagners Oberkörper hängt Mozart, einen da Vinci, eine Claudia Schif- schöner kommen? jetzt etwas schlaff über dem Tischtuch. Er fer, ein Apollo-Programm? Gab ist wie ein Ballon, aus dem man es eine erste Fliege auf dem die Luft gelassen hat. Mond?“ Gene zählen? Was soll Er hält ein Grappa-Glas ge- der Quatsch? gen das Licht, guckt hinein und Es kann jetzt natürlich passie- sagt: „Manchmal bin ich sehr ren, dass irgendwelche intellek- deprimiert.“ Manchmal ist es tuellen Klugscheißer daherkom- nämlich auch ein elender Job. men, „Leitartikler“ zum Bei- Früher hatte er es gut. Früher spiel, die sich über ihn lustig ma- war er der König. Er war Chef- chen. Und? Juckt ihn nicht. Die redakteur bei der „Bunten“ und können ihn mal, sagt Wagner, bei der „B.Z.“, und er war ein das gilt nebenbei auch für den genialer Zeilenmacher. Als zum Bundespräsidenten. Da ist er wie Beispiel ein Deutscher irgendwo Pontius Pilatus: Was er geschrie- in der Südsee zum Tod verurteilt ben hat, hat er geschrieben. Er wurde, titelte er: „Hängen sollst hat übrigens in seinem ganzen du unter Palmen.“ Später fiel je- Leben „noch nie einen Satz ge- mand im Berliner Zoo ins Eisbä- schrieben, der ein ganz normaler rengehege, und in Wagners Zei- Satz ist“. Er singt auch beim tung stand: „Besucher schwamm Schreiben, sagt er. Er kompo- mit Eisbär – so sieht er jetzt aus.“ niert jeden Tag „einen Popsong“. Wagner-Kolumne (Ausriss): „Wie klein ich bin“ Hubert Burda hat ihm sei- Er ist „wie ein Schamane“. nerzeit 1,5 Millionen Mark ge- Franz Josef Wagner pustet durch den Um kurz vor Mitternacht kommt Else zahlt, und morgens kam der Butler Hans Mundwinkel die Haare aus dem Gesicht. Buschheuer in die Paris Bar. Else Busch- und weckte seinen Herrn mit Pfefferminz- „Soll ich Ihnen mal was verraten?“ Noch heuer aus dem Osten, die im Moment noch tee, in den ein Löffel Honig gerührt war: nie, sagt er, hätte „Bild“ so viele Leser- Wetterfee von ProSieben ist und die dem- „Aufstehn, Franzl.“ Es war, sagt er, „eine post gekriegt wie auf seine Briefe. Jemand nächst nur noch Schriftstellerin sein will. berauschende Zeit“. Man muss sich nur schrieb: „Alle Achtung! Hier spürt man Sie waren verabredet. Franz Josef Wagner vorstellen: Wenn Burda über den Golfplatz echte Gedanken.“ Wagner hat Zuschriften empfängt sie sehr herzlich, und das Erste, in Bad Wiessee lief, hatte der Verleger im- gekriegt, da waren Fotos drin von Leserin- was sie sagt, ist, dass sein Brief an den Bun- mer Angst, dass ihm einer seiner promi- nen im Bikini. Im Sekretariat von „Bild“- despräsidenten zur Nationalismusdebatte nenten Freunde einen Ball an den Kopf Chefredakteur Kai Diekmann („Franz Jo- daneben war. Deutschtümelnd. Dumpf. schießt. Weil Wagner ja immer alle be- sef ist das Pfefferkorn im Blatt“) rufen Leu- Das hätte sie nicht sagen sollen. leidigen musste in der „Bunten“. Ja, so te an und weinen in den Hörer, nur weil sie Es durchzuckt ihn. „Wie war das denn war das. Wagner gelesen haben. bei dir damals, du FDJ-Süße?“ Natürlich war es auch anstrengend da- Else Buschheuer sagt, sie sei stolz dar- mals, etwa in der Redaktion. Manchmal * Claus Larass, Franz Josef Wagner, Mathias Döpfner, Au- auf, von den Wessis befreit worden zu musste er seine Angestellten als „Arsch- gust A. Fischer, Friede Springer im Januar 2000 in Berlin. sein. Das soll komisch sein. Aber Franz löcher“ und „Verräter“ ansprechen, weil

der spiegel 15/2001 89 Medien sie einfach nicht begriffen, was er woll- Manchmal ruft Kai Diekmann aus Ham- te. Wenn Redakteure in sein Zimmer ka- burg an und sagt: „Tut mir Leid, du kannst men und er hielt ein Glas Weißwein in es mir dreimal erklären, aber ich verste- der Hand, dann wussten sie nie, ob er es he es nicht.“ Das müssen grauenhafte ihnen ins Gesicht schütten oder nur an- Momente sein. Diekmann hat Ledermobi- stoßen wollte. liar und Macht. Wagner hat einen Laptop Manchmal hielt er sein Personal bis tief von Apple. in die Nacht fest, als habe er Gefangene ge- Irgendwann nach Mitternacht sagt Franz macht. Er las dann gern laut vor, was er ge- Josef Wagner, dass er ein Mitglied des schrieben hatte. Und wenn einer ging, Showgeschäfts sei, und deshalb koste ein schmiss Wagner Bleistifte hinterher. So ke- Interview mit ihm 10000 Mark. Mindestens gelte er meistens den Andruck. Auch des- aber 5000 Mark. Dann kommt Udo Walz halb ist er kein Chefredakteur mehr. an seinen Tisch, Udo Walz, der Starfriseur. Und jetzt? Wo ist seine Macht geblie- Das ist ein Glücksfall, denn Walz ist Wag- ben? „Hab ich die schönste Frau der Welt? ners Freund. Walz sagt: „Also, der Franz BZ Star Becker, Journalist Wagner: Pfefferminztee mit einem Löffel Honig

Meine Beute ist nicht fett.“ Und keiner ist Josef ist für mich einer der besten Schrei- mehr da, dem er vorlesen könnte. Es ber Deutschlands.“ Dann gibt Walz eine gibt nur noch den Kisch und den Penis. Runde Wodka aus. Else Buschheuer sitzt Wenn er fertig ist, wird er oft schwermütig. auch wieder mit am Tisch. Franz Josef Dann denkt er: „Mein ganzes Journa- Wagner sagt, sie sollten ihm jetzt alle listenleben reduziert sich auf diese 80 Zei- zuhören. „Ich bin die poetische Tinte der len. Wie klein ich bin. Wie liliputanerhaft Deutschen.“ Dann geht er nach Hause. ich bin.“ In solchen Momenten fürchtet Als er am nächsten Morgen aufwacht, er, die Intellektuellen, die „Leitartikler“, beschließt er, dass er diesmal ausnahms- könnten ihn für „einen Küchenphilo- weise auf die 10000 Mark verzichten wird. sophen“ halten. Manchmal hält so eine Dann telefoniert er mit Else Buschheuer, es Stimmung bis zum nächsten Tag, und dann geht dabei um eine genaue Rekonstruk- schreibt er Sätze, „die ich lieber nicht ge- tion des Abends. druckt sähe“. Franz Josef Wagner ist katholisch. Das Oder er schreibt Sätze, die keiner ver- Schöne bei den Katholiken, sagt er, sei, steht. Außer ihm. Denn manchmal schreibt dass der liebe Gott ihnen alles verzeiht. er die Briefe auch an sich selbst. Wie den Gott verzeiht keinen Mord, das nicht. Aber an Joschka Fischers WG: „Die Promis- wenn man etwas Falsches sagt oder etwas kuität hatte in den 70ern viel mit Trep- Falsches schreibt, dann verzeiht er ganz si- pen zu tun. Man erklomm sie mit cher, sagt Wagner. Turnschuhen. Und die Revoluzzerinnen Er geht jeden Sonntag in die Kirche. Da hatten atemberaubende kleine Slips, weiß betet er dann: „Herr, sprich nur ein Wort, und hellblau. Es war ein bienenkorbhaftes so wird meine Seele gesund.“ Nach der Leben. Ich lebte zwei Jahre in einer Kirche geht er schnell nach Hause. Die WG. Unser Außenminister kann sich gar neue Woche hat begonnen. Er muss jetzt nicht an alles erinnern. Das Leben war nicht mehr beten. Er kann jetzt wieder zu schön.“ schreiben. ™

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DAB-Sender „DasDing“ Erfolg mit klassischer Frequenz

ner Stichprobe, dass die Deutschen hinter dem Kürzel wahlweise eine Biersorte, eine Bank oder gar einen „Deutschen Anruf- beantworter“ vermuten. Dabei schwärmen die Befürworter des Digitalradios nun schon seit Jahren vom kristallklaren Sound in CD-Qualität ohne jedes störende Rauschen, von einer deut- lich größeren Programmvielfalt und tollen neuen Zusatzdiensten. Denn das digitale System kann auch Texte und Bilder wie Börsen-News oder CD-Cover auf ein etwa postkartengroßes Display übertragen. Doch die Realität ist trist. Nach Angaben des Branchenverbands ZVEI wurden im vergangenen Jahr nur 10000 DAB-Emp- fänger verkauft. Vor vier Jahren gingen Forscher des Baseler Prognos-Instituts selbst in ihren pessimistischsten Szenarien noch von 236000 verkauften Geräten im

THEMA Jahr 2000 aus. Die Unlust der Verbraucher ist indes ver- ständlich: Mittlerweile sind zwar Geräte HÖRFUNK verschiedener Hersteller auf dem Markt, die billigsten wie das Blaupunkt-Modell „Toronto“ kosten allerdings 800 Mark. Ins Leere gesendet Pioneer verlangt für sein DAB-Set mit CD-Player 2800 Mark. In vielen Elek- Seit sechs Jahren wird in Deutschland das Radio tronikmärkten liegen die teuren Teile we- gen der geringen Nachfrage gar nicht in der Zukunft installiert – mit Steuer- und den Regalen. Gebührengeldern. Nun droht das Projekt zu scheitern. Seit Jahren kämpft die DAB-Lobby nun schon mit dem gleichen Problem: Die enn Reinhold Heeg im Autoradio Gerätebauer verweisen auf das man- ursprünglich geplante seinen Lieblingssender „Rock DAB-Empfangsgebiete gelnde Programmangebot und pro- WAntenne“ einstellen will, um mal bis Ende 2001 duzieren nur kleinste Stückzah- wieder AC/DC zu hören, muss er bei sei- geplanter Sendernetz- SCHLESWIG- len, was den Preis hochhält. Die nem Daihatsu erst den Kofferraum öffnen. Ausbau bis Ende 2004 HOLSTEIN Sender wiederum wissen nicht, Dort ist ein schwarzer Kasten installiert, warum sie in neue Programme den der Hardrock-Fan vor jeder Fahrt neu investieren sollen, die nie- Quelle: MECKLENBURG- einstöpseln muss – sonst stürzt sein Radio DAB-Atlas HAMBURG VORPOMMERN mand empfangen kann. regelmäßig ab. „Das ist wie bei einem BREMEN Mittlerweile werden selbst Computer“, sagt der Raumausstatter aus BRANDENBURG hartgesottene DAB-Fans NIEDER- dem hessischen Gelnhausen genervt. SACHSEN nervös. Denn spätestens seit Heeg hat die Zukunft des Hörfunks im BERLIN dem dritten Digitalradio-Fo- Wagen. Sein Radio ist für den Empfang rum der Landesmedienan- von „Digital Audio Broadcasting“ (DAB) SACHSEN- stalten Mitte März ist klar: ausgerüstet, dem Hörfunkstandard, der NORDRHEIN- ANHALT Es wird eng für das an- WESTFALEN nach dem Willen von Politik und Industrie gebliche Wunder-Radio. bis spätestens 2015 das herkömmliche ana- SACHSEN „DAB hat maximal THÜRINGEN loge UKW-System ablösen soll. Bis dann HESSEN noch ein Jahr“, sagt müssten alle Radiohörer mindestens einen DAB-Empfänger besitzen, denn die Syste- RHEINLAND- Digitales Radio Mehr als nur Hörfunk me sind nicht kompatibel. PFALZ Bereits vor sechs Jahren begannen in BAYERN Deutschland die ersten Pilotprojekte, mitt- SAARLAND Analoge Übertragung (UKW u. a.) lerweile läuft das digitale Radio in vielen Tonsignale werden mit Hilfe elektro- magnetischer Wellen übertragen. Bundesländern sogar im Regelbetrieb – BADEN- doch die rund 90 öffentlich-rechtlichen und WÜRTTEMBERG privaten Programmanbieter, die in der neu- en Norm ausstrahlen, senden ins Leere. Die Bundesbürger, die sich im Schnitt Digitale Übertragung (DAB u. a.) immerhin 206 Minuten täglich bedudeln Mit elektromagnetischen Wellen werden lassen, hören kein DAB – die meisten ken- digitale Impulse transportiert, die nicht nur Audio-, sondern auch Bildinformatio- nen das Angebot nicht einmal. Kürzlich nen beinhalten können. ermittelte der hessische Sender FFH in ei-

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Werbeseite Medien etwa Klaus Schrape, Bereichsleiter Medien Hörfunksystems in Ham- lerapplikation“. Zumal es beim Prognos-Institut. Angesichts der bis- burg, Bremen, Schwerin und für viele DAB-Anwendun- herigen Entwicklung ist er skeptisch: „Der Kiel nun lieber abwarten. gen längst andere Lösungen Erfolgsdruck ist groß, die Chancen sind Dass es für DAB so düs- gibt: So sind dynamische klein.“ Für viele in der Branche steht DAB ter aussieht, liegt nicht zu- Navigationssysteme, einst ohnehin schon für „Dead And Buried“ – letzt an einem fatalen Ge- als DAB-Attraktion gefei- tot und begraben. burtsfehler. Der Hörfunk- ert, schon lange im Handel Offen sagt das kaum jemand, dafür ist standard war in erster Linie – sie arbeiten mit dem Traf- einfach zu viel Geld geflossen: insgesamt industriepolitisch motiviert: fic Message Channel, einem rund eine dreiviertel Milliarde Mark. Europas gebeutelte Elek- UKW-Zusatzdienst. Allein in die Forschung und Entwick- tronikindustrie sollte einen Auch der stationäre Emp- lung des Systems im Rahmen der europäi- neuen Milliardenmarkt er- fang von Digitalradio via schen Eureka-147-Initiative steckte das schließen. Tatsächlich hat Satellit ist längst alltäglich –

Bundeswirtschaftsministerium 81 Millio- aber heute praktisch nie- / ARGUM SCHMIDT U. allein Astra bringt bereits nen Mark. Weitere 140 Millionen flossen mand Interesse an DAB. DAB-Display im Auto mehr als hundert Radio- nach Prognos-Angaben bis 1997 in Pilot- Die ARD-Anstalten, die Stöpsel im Kofferraum sender in Digitalqualität projekte und Sendernetzaufbau. Rund 200 historisch bedingt über die in die Wohnzimmer, vom Millionen, darunter erhebliche öffentliche besten UKW-Frequenzen und eigene Sen- Boom der „digitalen“ Web-Radios ganz Fördermittel, gab die Geräteindustrie für dernetze verfügen, fürchten den Verlust zu schweigen. die Entwicklung erster Empfänger aus. dieser Privilegien in der DAB-Welt. Noch In den USA wollen Unternehmen wie Si- Den größten Batzen steuerten die Ge- skeptischer sind viele Privatfunkmanager: rius in diesem Jahr ein digitales Satelliten- bührenzahler bei: Die ARD-Anstalten ha- Wenn sie ihre Programme auch digital Hörfunksystem auf den Markt bringen, das ben bis 2002 insgesamt 258 Millionen Mark ausstrahlen, bringt ihnen das nur zusätz- auch im Auto zu empfangen sein wird. Für für den Aufbau der DAB-Infrastruktur zur liche Verbreitungskosten: „Das ist ökono- Europa hat Worldspace gerade ein ähnli- Verfügung, über weitere 82 Millionen kön- mischer Wahnsinn“, sagt Radio-Hamburg- ches Projekt angekündigt. Und beim neu- nen sie bei Bedarf Kredite abschließen. Geschäftsführer Bertram Schwarz, „wir en Mobilfunkstandard UMTS arbeiten Dennoch hält sich auch in der ARD die haben keine Chance, das zu refinanzieren.“ Ingenieure ebenfalls längst an Audio- Digital-Begeisterung in Grenzen. Sogar der Die Verbraucher, die bei drei bis vier Anwendungen. ehemalige Südwestfunk, der schon 1997 Radioempfängern pro Haushalt auch bei Viele Sendervertreter drängen deshalb die DAB-Jugendwelle „DasDing“ gestartet sinkenden Gerätepreisen für das Digital- auf eine politische Entscheidung: „Entweder hatte, bemühte sich bald um eine zusätzliche radio noch tief in die Tasche greifen müs- es traut sich jemand, das Buch endgültig zu- analoge UKW-Frequenz. „Wir waren da- sen, wurden bisher kaum gefragt. zuklappen“, sagt Hans-Dieter Hillmoth, zu gezwungen“, sagt Pro- Chef des Privatsenders FFH grammleiter Marcus Schu- und Radiovorstand des Pri- ler: „Es macht keinen Sinn, vatfunk-Verbands VPRT, jährlich 2,5 Millionen Mark „oder wir brauchen ein Di- in ein Programm zu stecken, gitalisierungsgesetz, das den das nur 800 Leute empfan- Umstieg bis spätestens 2007 gen können.“ Seit „Das- vorschreibt, um unsere In- Ding“ auch analog sendet, vestitionen kalkulierbar zu ist die Bekanntheit schlag- machen.“ Dass die Politik artig gestiegen. Der Sender UKW so schnell abschaltet, feiert gerade mit Getöse sei- glaubt niemand – zumal sie nen „ersten Geburtstag“, mit massiven Protesten die drei DAB-Jahre will man rechnen müsste. Vor einer offenbar lieber verdrängen. Woche stimmte der Bun- Immerhin ist „DasDing“ desrat einer Regierungsver- weiterhin digital zu emp- ordnung zu, die das UKW- fangen. Der MDR dagegen Ende erneut bis auf „spä- stellte nach schlechten Er- testens 2015“ verschiebt.

fahrungen im Pilotprojekt / OSTKREUZ G. BREITHAUPT Die DAB-Lobby, allen schon 1998 alle DAB-Akti- Herkömmliches Radiogerät: „Kein Grund, von UKW abzurücken“ voran die Telekom, die der- vitäten vorerst wieder ein. zeit kräftig in die Sender- Auch aktuell gibt es nur Hiobsbotschaften: Aus gutem Grund: Die Resonanz bei den netze investiert, will deshalb einen letzten Zwei Tage nachdem auf dem Frankfurter Pilotprojekten war sehr durchwachsen. Überzeugungsversuch starten. Im Mai soll DAB-Forum eine „konzertierte Aktion“ So gaben rund 40 Prozent der Teilnehmer eine auf drei Jahre angelegte Marketing- fürs Digitalradio beschworen wurde, ver- des hessischen DAB-Tests an, ihre Er- Initiative („Be prepared“) für das Digital- kündete der Hessische Rundfunk, seine wartungen hätten sich „kaum erfüllt“, 17 radio beginnen, mit einem neuen Logo und drei DAB-Programme nicht mehr digital Prozent sahen sie sogar „nicht erfüllt“. einem Etat von 20 Millionen Mark. zu verbreiten. „Wir wollen die Gebühren- Mit dem bisherigen UKW-Empfang zeig- Testfahrer Reinhold Heeg sieht das The- gelder nicht für einen wirtschaftlichen und ten sie sich hingegen „weitgehend zufrie- ma gelassen, Kummer mit dem Digitalradio technischen Unsinn verschleudern“, so Jür- den“, die Umstellung auf Digitalradio emp- ist er gewohnt. Vor sechs Jahren kaufte er gen Betz von der Rechtsdirektion. fanden die Testhörer mithin als „nicht sich für rund 600 Mark einen Empfänger Am vergangenen Mittwoch forderte die besonders dringend“. Eigentlich, so räumt für das „Digitale Satellitenradio“ (DSR). medienpolitische Sprecherin der Grünen, auch ein ARD-Manager ein, „haben die Das wurde Ende 1998 wegen Erfolglosig- Grietje Bettin, angesichts der unsicheren Verbraucher keinen Grund, von UKW ab- keit eingestellt, seither lag das Gerät nutz- Lage ein „generelles Moratorium“. Im oh- zurücken“. los in der Ecke. Unlängst hat Heeg den nehin DAB-skeptischen Norden will die Po- Kritiker monieren schon lange, DAB teuren Elektroschrott online versteigert – litik mit dem für 2001 geplanten Ausbau des fehle ein echter Zusatznutzen, eine „Kil- für 20 Mark. Marcel Rosenbach

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Werbeseite Szene Gesellschaft A. GHANTSCHI

BÄRTE Wiederkehr des

REUTERS Schnäuzers DJ Lee, Model, Hanks mit Ehefrau Rita Wilson islang galt der Oberlippenbart, kurz schieden sich Männer wegen Burt Reynolds oder B„Oliba“, als typisches Kennzeichen Olympiaschwimmer Mark Spitz für den Oberlippen- hauptsächlich von Verkehrspolizisten. Gern bart –, zeigen immer mehr tonangebende Szenestars verband man mit dem Bärtchen den selbst- wieder Mut zum gepflegten Schnauz. Tom Hanks führ- zufriedenen Macho-Mann, für den die Rolex ein Sinn stiften- te den seinen bei der letzten Oscar-Verleihung vor. Durch und der Wert war. Als sich langjährige Oliba-Träger wie der bayeri- durch ernst gemeint ist das Bärtchen, anders als in den Siebzi- sche Sportreporter Waldemar Hartmann oder der Völler-Assis- gern, nicht. „DJs wie der Brite Tim ,Love‘ Lee“, behauptet Tim tent Michael Skibbe von ihren Schnäuzern trennten, geriet die Kreutzfeld, 33, Besitzer des angesagten Berliner Friseursalons borstige Bastion kurz ins Wanken. Nun aber, im Zuge des ro- „Pony Club“, „tragen ihre Schnäuzer eindeutig mit einem mantisierenden Rückblicks auf die siebziger Jahre – damals ent- Augenzwinkern.“

RATGEBER SCHÖNHEIT Quickie in der Mittagspause Faltendoktor auf Hausbesuch m siebten Jahr, heißt es, werden Ehen brüchig. Die Regel ondons gut betuchte Damen haben ein neues Hobby: Auf Istammt aus geduldigen Zeiten. In den letzten Jahren ist die Lso genannten Botox-Partys sagen sie Falten und Fältchen Zahl der Paare, die schon im ersten Jahr wieder auseinander den Kampf an. Das angebliche Wundermittel mit dem Namen driften, ständig angestiegen. Diesen Trend kann man aufhalten, Botulinumtoxin A, Markenname Botox, wird aus Bakterien ge- behaupten die amerikanischen Eheleute David und Wendy wonnen und ist in der An- Hubbert, wenn junge Paare ihre Ehe als Arbeit begreifen, die wendung einfach: In die mit Humor absolviert werden sollte. Ihr gemeinsames Werk Muskeln injiziert, beugt es „Das verflixte erste Jahr“ (Krüger Verlag) will jene Probleme durch Lähmung der Fal- lösen, von deren Existenz Frischvermählte oder jüngst Zusam- tenbildung vor. Muskeln mengezogene meist noch nichts ahnen. Der Werbetexter und um Augen und Stirn wer- die Lektorin (immerhin schon im dritten Ehejahr) nennen eini- den so für Monate außer ge ehegefährdende Dinge beim Namen: Fingernägel, Bartstop- Gefecht gesetzt. Seit sich peln, Zahnpasta. Eine Ehe, lehren sie, ist nicht allein die idealis-- der Londoner Arzt Mike

tische Verbindung zweier Menschen, die sich lieben, sondern Cummins auf Botox- SYNDICATION ATLANTIC bedeutet vor allem die häufige Anwesen- Hausbesuche speziali- Botox-Party in London heit eines weiteren Körpers. Fazit: Zwei siert hat, drehen sich in Badezimmer tragen einiges zum Gelin- den schicken Vierteln Chelsea und Notting Hill die Partyge- gen bei. Apropos Körper: Statt darüber spräche um die verjüngende Spritze und prominente Kunden: zu staunen, dass „der Spaß am Sex durch Auch die Popstars Cliff Richard und Madonna sollen sich zur die Tatsache, dass man verheiratet ist, Bekämpfung ihrer Krähenfüße schon unter die Nadel begeben tatsächlich ein wenig verloren“ geht, sol- haben. Cummins baut seinen OP in der Küche auf, dann wird le man sich einfach Mühe geben, ihn zu reihum injiziert. Die Kosten für eine Behandlung liegen bei erhalten – etwa durch einen „Quickie in umgerechnet 600 Mark. Als „Tupperware für die kosmetische der Mittagspause“. Ein Liebesakt, erfährt Generation“ werden die Spritzen in London bezeichnet. In Er- der Leser, müsse nicht „jedes Mal ein innerung an die verschließbaren Plastikschüsseln, die ihren In- episches Meisterstück“ sein. Beruhigend. halt ja auch auf wundersame Weise frisch halten sollten.

der spiegel 15/2001 99 Titel

Die Durchschnitts- familie Familie Burbach aus Wald- bröl, zwei Kinder, ein Einkommen, in Mark

Monats- einkommen brutto 4713,– Abzüge gesamt davon... 1302,– ...Steuer 323,– ...Sozial- versicherung 979,– verfügbares Einkommen 3951,– inkl. Kindergeld Wohnkosten, warm 929,– Lebensmittel und Kleidung 1500,– Sonstige Fixkosten 1405,– zur freien Verfügung 117,–

B. PAULITSCHKE Ein Segen für die Familie Wer Kinder kriegt, zahlt drauf. Das verstößt gegen die Verfassung. Das Karlsruher Urteil zur Pflegeversicherung verlangt einen grundlegenden Wandel in der Familienpolitik. Erziehungsarbeit muss belohnt werden – auch damit der Bevölkerungsschwund gebremst wird.

er Kanzler hat es natürlich längst Folgen werden den Regierenden nicht ge- geahnt: „Die meisten Fragen, die fallen. Denn was die acht Karlsruher Rich- Des heute zu lösen gilt“, verkündete ter auf 46 Blatt präziser Urteilsbegründung freundlich Gerhard Schröder, „sind auf die zu Müllers Beschwerden über seinen Versi- eine oder andere Weise mit der Familie cherungsbeitrag ausführen, ist nicht nur ge- verknüpft.“ eignet, die in 20 Jahren Diskussion errun- Auf welche Weise genau, das hat er seit gene Pflegeversicherung aus den Angeln zu vergangener Woche amtlich. Unter dem Ak- heben. Die Karlsruher haben zudem den tenzeichen 1 BvR 1629/94 entschied das Bun- deutschen Generationenvertrag gekündigt. desverfassungsgericht den Fall des zehnfa- Über den Familien liegt kein Segen chen Familienvaters Alfred Wilhelm Müller mehr. Weil es nicht mehr genug Kinder aus Trier. Nun ist bei Schröder alles Müller. gibt, so die Begründung des Verfassungs- Der Kanzler hat zwar Recht: Die Familie gerichts, funktioniert das Konzept der von

steht – wieder – im Mittelpunkt. Aber die Generation zu Generation weitergereich- DPA

100 der spiegel 15/2001 Familie Ilka, 33, und Reinhold Burbach, 41, mit Nadine, 10, und Miriam, 9. enn sie mit 3951 Mark Wim Monat auskommen will, muss Ilka Burbach ge- nau rechnen. Eigentlich sollten immer 200 Mark übrig bleiben für Extras wie einen Ausflug, doch „das Geld ist immer wieder weg“, sagt die ehemalige Arzthelferin. Als vor zehn Jahren Nadine, die Älteste, kam, hatten es Ilka Burbach und ihr Ehemann Reinhold, 41, der bei der Verwaltung des Oberbergischen Kreises als Angestellter arbeitet, darauf angelegt. Das zweite Kind war nicht geplant. Seither ist das Geld immer knapp. In diesen Sommer- ferien fahren sie ins Allgäu,

und in den nächsten zwei AKG Jahren ist der Urlaub gestri- Familie um 1910: „Tiefes existenzielles Bedürfnis“ chen. Ein Kanal wird näm- lich gerade zu ihrem über 110 Jahre zu ziehen. Ungerecht ist das vor allem, weil gen, wie der ausgebeuteten Familie endlich alten Fachwerkhaus gelegt – das wird währenddessen die Doppelverdiener ohne mehr Gerechtigkeit widerfahren soll. teuer. Und der neue Anbau muss Kinder ihre Einkommensüberhänge ver- Über die Wut vernachlässigter Familien, auch noch mit 609 Mark monatlich prassen. So urteilen die Richter. Und der so erfuhr CDU-Chefin Angela Merkel, kann abbezahlt werden. Nur auf Raten Streitwert der Sache erhöht sich von 109,65 eine ganze Regierung stürzen. 1998 habe konnten sie sich ihr neues Auto leis- Mark nun schnell auf zweistellige Milliar- die Union die Bundestagswahl nicht zuletzt ten. Zuverdienen kann Ilka Burbach denbeträge. deshalb verloren, weil sie sich „immer mehr nicht. Im Bergischen Land sind die Was für Müller gilt, muss nach einem vom konkreten Leben der Menschen ent- Nebenjobs Mangelware. Und dann Ultimatum des Gerichts bis 2004 auch für fernt hatte“. Besonders spürbar sei das in bräuchte sie auch einen eigenen Wa- alle anderen Eltern gelten. Egal, ob sie Pfle- einem Bereich geworden, „von dem jeder gen: „Dann würde ich doch nur noch ge-, Kranken- oder Rentenversicherung be- Mensch in der einen oder anderen Weise fürs Auto arbeiten gehen.“ zahlen: Wer mit der Aufzucht von Kindern betroffen ist – in der Familienpolitik“. zur nächsten Generation beiträgt, muss Nun trifft es die rot-grüne Regierung. von Beiträgen für die Generationenkasse Noch beim Familienurteil des Bundesver- ten Verantwortung für die Schwachen und zumindest teilweise befreit sein. fassungsgerichts von 1998, das den Steuer- Alten nicht. Das aber ist das Konzept, auf Das System gerät ins Wanken – ausge- gesetzgeber zu höheren Kinderfreibeträ- dem neben der Pflegeversicherung auch rechnet zu dem Zeitpunkt, da sich Regie- gen verdonnerte, hatte der damalige Finanz- die Rentenversicherung und zum großen rung wie Opposition auf einen fetzigen minister Oskar Lafontaine ausgerechnet, Teil die Krankenversicherung ruht. Sozial-Wahlkampf einschießen wollten. die Operation Karlsruhe koste „mindestens Wenn ein Organist namens Müller aus Familiengeld, Erziehungsgehalt, Grund- 22 Milliarden Mark“. Ein paar Milliarden Trier mit seiner Frau die Verantwortung sicherung für Kinder – schon jetzt über- davon haben die Rot-Grünen mittlerweile für zehn kleine Versorger der nächsten Ge- trumpfen sich Politiker aller Parteien mit tatsächlich aufgebracht. neration auf sich nimmt, dann ist es unge- immer neuen, immer teureren Vorschlä- Und während sie noch darüber rechten recht, dem Mann auch noch 109,65 Mark und rechnen, wie viel sie gemäß dem da- für die Pflegeversicherung aus der Tasche * Am Dienstag vergangener Woche in Karlsruhe. maligen Ultimatum bis 2002 für den Fami-

Verfassungsrichter bei der Verkündung des Familienurteils*: Gefahr für den Bestand des deutschen Volks Was Kinder kosten Summe aller öffentlichen und privaten Aufwendungen in Mark* Allein erziehend Ehepaar mit 634618,– mit einem Kind einem Kind• 715801,– davon öffentlicher davon öffentlicher Anteil: Anteil: 34,3% 44,7% Allein erziehend Ehepaar mit mit zwei Kindern drei Kindern Ehepaar mit zwei Kindern 1136850,– 1595145,– 1008000,– davon öffentlicher davon öffentlicher davon öffentlicher41,8% 43,9% 51,4% Anteil: Anteil: Anteil: Quelle: Bundesfamilienministerium * von der Geburt des ersten Kindes bis zum 18. Lebensjahr des jüngsten Kindes; 1996; alte Bundesländer Titel

sundheitsministerin der SPD, verkündete Das Verfassungsgericht konstatiert ein nach dem Urteilsspruch allen Ernstes: demografisches Desaster, an dem alle so- „Bundesverfassungsgericht bestätigt Pfle- zialen Sicherungssysteme, nicht nur die geversicherung.“ Pflege, zu zerbrechen drohen. Der „Be- Intern erregte sich die Singlefrau mäch- stand“, so heißt es in dem Urteil, sei nicht tig über das anscheinend praxisferne Urteil mehr gesichert. So pathetisch das klingen des Gerichts: Sie könne überhaupt nicht mag: Es geht um den Bestand des deut- einsehen, warum es Familie Müller für be- schen Volks. nachteiligt halte, schließlich seien die zehn Wer da wie Riester weiter wursteln will, Kinder allesamt beitragsfrei mitversichert. verschärft die Ungerechtigkeit, die dem Or- Der Sozialstaat – ein Schnäppchen für gelspieler Müller widerfuhr, um das Millio- Kinderreiche? nenfache. Karlsruhe erklärte den Berlinern Ulla Schmidt hat das Urteil ebenso we- die familienpolitische Zwickmühle: Je we- nig kapiert wie der um seine Rentenreform niger Kinder es gibt, desto ungerechter ist besorgte Arbeitsminister Walter Riester. das Umlagesystem der Sozialversicherun-

F. OSSENBRINK F. Der fühlte sich von der Karlsruher Ent- gen. Und je ungerechter die wenigen, die Familienpolitiker Schröder, Zuhörer* scheidung nicht mal angesprochen. noch Kinder aufziehen, behandelt werden Wie macht man Kinder? In der Rentenversicherung sei bereits – desto weniger Kinder wird es geben. „exakt umgesetzt“, was Karlsruhe in den Riesters Rente ist da das beste Beispiel. lienlastenausgleich einplanen müssen, vergangenen Jahren gefordert habe. Das Kinder zu haben ist in der Rentenversi- kommt nun der zweite, bislang schwerste jüngste Urteil beziehe sich „ausschließlich cherung ein schlechtes Geschäft. Schlag aus der Zitadelle des Rechts. Was auf die Pflegeversicherung“, mögliche Während der Nachwuchs in späteren das kostet, mag niemand mehr ausrechnen. Rückwirkungen für die Rente würden „mit Jahren die Leistungen aller, auch der kin- Die Ahnung: Mit Zahlen allein ist es nicht Gemach geprüft“. Im Übrigen habe die Re- derlosen Senioren, sichern hilft, konzen- mehr getan. Diesmal lässt sich der Fami- gierung „die demografischen Probleme bei trieren sich alle Nachteile bei den Eltern: liensegen nicht mit Geld gerade hängen. der Rentenversicherung jetzt sehr lang- Sie zahlen für Erziehung und Unterhalt der Das Karlsruher Urteil ist das böse Schluss- fristig gelöst“. Kleinen, hören während der ersten Le- wort zu den seit Jahren immer wieder vom Is was? Die Richter lassen keinen Zwei- bensjahre meist ganz oder teilweise auf zu Verfassungsgericht erhobenen Mahnungen: fel daran, dass das Verdikt sich nur deshalb arbeiten und büßen deshalb nicht nur Die Politik hat die Familie in verfassungs- auf die Pflegeversicherung bezieht, weil sie Lohneinkünfte, sondern auch noch einen widriger Weise verkommen lassen. gerade keinen passenden anderen Fall zur erheblichen Teil ihrer Rentenansprüche ein. Nach Artikel 6 des Grundgesetzes steht Entscheidung hatten. Doch nahezu jeder Wie das im Alter durchschlägt, zeigen die private Keimzelle der Gesellschaft un- Satz des Urteils richtet sich direkt an Wal- die aktuellen Einkommensstatistiken der ter dem Schutz des Staats. Das gilt nicht zu- ter Riester. Rentenversicherung. Für Senioren-Ehe- letzt deshalb, weil die Familien in der einen oder anderen Weise die Verantwor- Kinderkrippe in Ost-Berlin (1990): Die Angst der Eltern vor der Zukunft tung für die nächste Generation in Deutschland tragen. Dass der Staat sich darum seit Jahrzehnten einen Teufel schert, bezeichnete der Ex-Verfassungs- richter Paul Kirchhof als einen „Skandal des Rechtsstaats“. Die ernsten Neuigkeiten aus Karlsruhe beantwortete Berlin mit bewährter Is-was- Dreistigkeit: Ulla Schmidt, die neue Ge-

* Am 22. März auf der Cebit in Hannover. S. SAUER

Teure Vorsorge Beitragssätze und Bemessungsgrenzen der Sozialversicherungen

Quelle: VDR, BA, BMG, BMA *2000 Beitragssatz 2001 Beitragsbemessungsgrenze 2001 Beitragseinnahmen 2000 Arbeitgeber- und bei einem monatlichen Bruttoeinkommen in Mark in Mark Arbeitnehmeranteil Rentenversicherung Westdeutschland Ostdeutschland der Arbeiter und Angestellten 19,1 % 8700 7300 317,2 Mrd.

Gesetzliche * Krankenversicherung 13,8 % 6525 6525 254,2 Mrd.

Pflegeversicherung 1,7 % 6525 6525 32,4 Mrd.

Arbeitslosenversicherung 6,5 % 8700 7300 90,7 Mrd.

102 der spiegel 15/2001 G. PETERSEN / JOKER G. PETERSEN Babys mit Müttern und Pflegerinnen (im Aachener Geburtshaus): „Kinder kriegen die Leute sowieso“ paare gilt: Wer keine Kinder zu versorgen Der massive Beitrag der Frau zur Erfül- Kein Wunder, dass viele Frauen aus dem hatte, kommt im Durchschnitt auf Renten- lung des Generationenvertrags, die Sorge Vergleich andere Schlüsse ziehen als An- ansprüche von knapp 3400 Mark. Paare um die künftigen Beitragszahler der Al- nette Erös. Seit 25 Jahren sind die Deut- mit mehr als fünf Kindern müssen sich mit ters-, Kranken- und Pflegekasse, wird von schen nicht mehr so gebärfreudig wie einem Altersgeld von rund 2300 Mark zu- der Politik schlechter behandelt als das steu- früher. Derzeit bringen 100 Frauen im frieden geben, fast ein Drittel weniger. erbegünstigte Hobby der Hundezucht. Durchschnitt 140 Kinder zur Welt, zu we- Als Geprellte des Systems müssen sich Frau Erös muss dieselben Sozialabgaben nig, um die Bevölkerungszahl stabil zu hal- vor allem die Mütter fühlen. Eine Frau, die zahlen wie alle Arbeitnehmer, seit sie an ei- ten. Noch schlechter ist die Relation nur in drei Kinder großzieht, verhilft der gesetz- ner Sonderschule wieder für zehn Stun- Italien oder Spanien (siehe Seite 108). lichen Altersversicherung langfristig zu zu- den die Woche unterrichtet. Von ihrem Die Babylücke wird schon in wenigen sätzlichen Beitragseinnahmen von über Bruttogehalt von rund 3000 Mark gehen Jahrzehnten dramatische Konsequenzen zwei Millionen Mark. So viel nämlich wer- fast 650 Mark Sozialabgaben ab, davon al- haben. Denn es wachsen immer weniger den ihre drei Zöglinge später einmal der lein 300 Mark Rentenbeitrag. „Da ver- Junge nach, die den staatlichen Transfer- Alterskasse einbringen, wenn sie 40 Jahre gleicht man schon“, sagt sie, „wie es fi- topf mit Beiträgen füllen könnten. Außer- lang arbeiten, durchschnittlich verdienen nanziell ohne Kinder ausgesehen hätte.“ dem kommen gerade dann die geburten- und regelmäßig ihre Beiträge abführen. Den Müttern entlohnt der Staat den Die kinderlosen Dienst an der Zukunft seines Sozialsystems eit drei Monaten führt legt sie dann, ob sie sich jedoch nur mit dürftigsten Almosen. Drei Doppelverdiener Sdie Biologielaborantin ihren geliebten Beruf Kinder sind der Alterskasse derzeit ganze Ehepaar Klein aus Keidelheim, Elke Klein, 37, ein Haus- überhaupt leisten kann. neun so genannte Erziehungsjahre wert, zwei Einkommen, in Mark haltsbuch. „Ich wollte Auch ihr Mann, Grund- die sich im Alter zu einem Rentenanspruch mal sehen, wo das Geld und Hauptschullehrer, Monats- von derzeit 450 Mark summieren; voraus- einkommen bleibt“, sagt sie. Denn kommt auf über 30 Kilo- gesetzt die Rentenkasse ist in 30 Jahren brutto 10500,– obwohl auf ihren Lohn- meter am Tag. Gern hät- überhaupt noch zahlungsfähig. zetteln gutes Geld steht: ten sie Kinder gehabt, Obendrein kommen nur solche Frauen Abzüge gesamt 3883,– Was bei Elke Klein und aber es hat nicht ge- in den Genuss dieser Kinderprämie, deren davon... ihrem Ehemann Johan- klappt. „Irgendwann“, Sprösslinge jünger als zehn Jahre sind. ...Steuer 2574,– nes, 40, – einem der viel seufzt Johannes Klein, Wurden die Kinder früher geboren, schnei- ...Sozial- beneideten Doppelver- „haben wir uns damit ab- den die Mütter sogar noch schlechter ab. versicherung 1309,– dienerpaare ohne Kin- gefunden.“ Beide halten Is was, Riester? Annette Erös, Lehrerin verfügbares der – am Monatsende es für richtig, dass Fami- für Mathe und Geschichte aus dem bayeri- Einkommen 6617,– übrig bleibt, reicht nicht lien mit Kindern auch schen Mintraching, hat in den vergangenen fürs Prassen. Da sind vor bei der Pflegeversiche- 20 Jahren fünf Kinder erzogen, alle vor Eigenheim 2600,– allem die langen Wege rung besser gestellt wer- 1992 geboren. Ihre drei Söhne sind inzwi- Lebensmittel zur Arbeit, die ins Geld den sollen. Dennoch – schen volljährig, die Zwillingstöchter sind und Kleidung 1700,– gehen. Jeden Tag fährt da bleibt ein Rest Bitter- gerade zehn Jahre alt. Elke Klein von ihrem keit. Denn eigentlich, Der jahrelange Erziehungsjob (Erös: „14 Sonstige Wohnort Keidelheim im sagt Johannes Klein, ist Fixkosten 1350,– Stunden am Tag, 7 Tage die Woche“) wird Hunsrück nach Ingel- das doch „eine zusätz- ihr nach der herrschenden Rechtslage im zur freien heim ins Labor – macht liche Bestrafung“ dafür, Alter einen Rentenanspruch von wenigen Verfügung 967,– 130 Kilometer hin und dass man keine Kinder hundert Mark im Monat eintragen, einen zurück. Manchmal über- haben kann. Betrag weit unterhalb der Armutsschwelle.

der spiegel 15/2001 103 Titel Widersinnige Wirkungen Das Karlsruher Urteil kollidiert mit den traditionellen Prinzipien des Sozialstaats.

o überzeugend die Richter be- gaben in Höhe von rund 1200 Mark len, wenn er später einen Job in der gründet haben, warum die Sozi- jährlich sparen. freien Wirtschaft annimmt. Salbeiträge künftig an die Kinder- Ein ähnliches Modell legt diese Wo- Ähnlich widersinnig wirkt, dass eine zahl gekoppelt werden sollten, so che der CDU-Sozialexperte Andreas Umsetzung des Richterspruchs gerade schwierig wird es nun, die Juristenidee Storm vor. Das erste durchgerechnete die betuchtesten Singles aus manchem in Paragrafen zu gießen. Schon bei Konzept für einen „Familienrabatt“ in Sozialstaatszweig vertreiben könnte. ihren ersten Planspielen war den Be- der Renten-, Kranken- und Pflegever- Gutverdiener nämlich können wählen, amten in Gesundheits- und Arbeitsmi- sicherung sieht vor: Wer Kinder er- ob sie sich privat oder gesetzlich gegen nisterium schnell klar: Was Karlsruhe zieht, erhält einen Beitragsnachlass von Krankheit und Pflegerisiko versichern da gefordert hat, passt schlecht zu den zehn Prozent je Kind. Die vierköpfige wollen. Hebt die Regierung nun zum traditionellen Prinzipien der Sozial- Familie eines Durchschnittsverdieners Ausgleich der Kinderhilfe den gesetzli- versicherung – von den Regierungs- würde das im Monat um rund 181 Mark chen Pflegebeitrag an, würden noch zielen ganz zu schweigen. an Sozialbeiträgen entlasten. Finanzie- mehr Versicherte zur privaten Kon- Würden die Beitragssätze zum Bei- ren will Storm die Vergünstigung mit kurrenz wechseln als bisher schon. Den spiel einfach nach der Kinderzahl Hilfe einer neu zu schaffenden „Fami- Nachteil hätten vor allem kinderreiche gestaffelt – der erste Vorschlag nach lien-Solidar-Versicherung“, in die Ar- Familien, die in der gesetzlichen Pfle- dem Urteilsspruch –, würde das auf beitgeber und kinderlose Beschäftigte gekasse bleiben müssen. dem Arbeitsmarkt zu kuriosen Ver- gemeinsam rund 1,2 Prozent der Löh- Schon reift unter den Sozialpoliti- werfungen führen. Weil die Unterneh- ne einzahlen sollen. kern die Erkenntnis: Soll der Richter- men die Beiträge zur Hälfte mitbezah- Das ist der Haken des Karlsruher spruch wirklich umgesetzt werden, Richterspruchs: Was Familien und Al- muss der Sozialstaat tief greifender um- leinerziehenden zusätzlich netto in die gebaut werden als anfangs gedacht. Tasche fließt, fehlt auf der anderen Sei- „Der logische Schritt wäre eine Volks- te den Sozialversicherungen. Allein der versicherung, in die auch Beamte und Pflegekasse, schätzen Regierungsex- Selbständige einbezogen werden“, for- perten, entzöge die neue Babyhilfe dert etwa der Darmstädter Sozialex- etwa 1,6 Milliarden Mark, bei der Ren- perte Bert Rürup. te fiele sogar der zehnfache Betrag aus. Um die Lücken zu stopfen, bleiben der Regierung zwei Möglichkeiten: Ent- weder werden die Steuern erhöht oder die Sozialbeiträge – beides keine be- sonders erfreulichen Alternativen. Schließlich hatte die Regierung gerade

G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING erst bekräftigt, in den nächsten Jahren Sozialminister Riester die Abgaben weiter senken zu wollen. Milliarden-Lücke bei der Rente? Kollidieren würde das Konzept auch mit zahlreichen heiligen Prinzipien des len, hätten die Betriebe künftig für Er- Sozialstaats. So galt in der Rentenver- ziehende geringere Lohnkosten als für sicherung bislang der eherne Grund- Kinderlose. satz, dass es für gleiche Beiträge auch Das Konzept war rasch vom Tisch. gleiche Leistungen geben muss. Dieses Stattdessen planen die Sozialpolitiker „Äquivalenzprinzip“, wie es die Sozial- nun, einen neuen Freibetrag einzu- experten gern nennen, wäre durchbro- führen. Eltern könnten danach die chen, wenn Eltern sich mit niedrigeren Mindest-Lebenshaltungskosten eines Beiträgen dieselben Leistungen sichern Sprösslings von 7000 Mark jährlich könnten wie Kinderlose. nicht nur bei der Steuer, sondern auch Doch es gibt noch mehr Wider- bei den Sozialbeiträgen absetzen. Für sprüche. Nach dem Karlsruher Urteil einen Durchschnittsverdiener mit ei- würde der Beitragsrabatt nur für Ar- nem Kind hieße das: Statt auf sein Brut- beiter und Angestellte gelten, nicht togehalt von 50000 Mark bräuchte er aber für Beamte. Logisch ist das freilich künftig nur für ein Einkommen von nicht. Denn auch der Staatsdiener- 43 000 Mark Pflege-, Kranken- oder Sohn wird einmal die Rentenkasse fül- Rentenbeiträge abzuführen. Die Kosten für den Arbeitgeber blieben gleich, Rentner (in Husum) aber der Versicherte würde Sozialab- Fehler im Generationenvertrag

104 der spiegel 15/2001 starken Jahrgänge der fünfziger und sech- anderen Zweigen der Sozialversicherun- nem der beiden großen Missverständnisse ziger Jahre ins Seniorenalter, brauchen gen umgesetzt werden muss. aus der Gründerzeit der Bundesrepublik. mehr Pflege und Betreuung, zusätzliche Welche Versicherung die Richter da im Das eine Missverständnis betraf die An- Altenheimplätze und Medikamente. Blick haben, ist unter Experten völlig un- sicht, Gottes Natur, Flüsse und frische Luft Die Soziallast der künftigen Generatio- strittig: Die staatliche Rentenkasse leidet stünden für den Wiederaufbau im Land un- nen wird so immer größer. Heute müssen unter exakt denselben Problemen wie die begrenzt und gratis zur Verfügung. Mit der 100 Personen im Erwerbsalter rund 22 Alte Pflegeversicherung, dafür ist ihr finanziel- Erfindung des Umweltschutzes klärte sich ernähren. Im Jahr 2035 werden es mehr les Gewicht viel größer. Der gesetzliche das – in der einen oder anderen Weise – als doppelt so viele Alte sein. Alterstopf schüttet jedes Jahr rund 370 Mil- auf. Das andere Missverständnis betraf die liarden Mark an Leistungen aus, sozialen Ressourcen und wurde, wie so vie- mehr als zehnmal so viel wie die les, trefflich zusammengefasst vom großen „DIE VERFASSUNGSHÜTER HABEN ZWAR Pflegeversicherung. „Die Verfas- Schröder-Vorgänger Konrad Adenauer: ÜBER DIE PFLEGE GEURTEILT, sungshüter“, ist sich der Darm- „Kinder kriegen die Leute sowieso.“ städter Sozialrichter Jürgen Bor- Auf diese scheinbar gesicherte Erkennt- ABER SIE HABEN DIE RENTE GEMEINT“ chert sicher, „haben zwar über nis wurde 1957 die Rentenversicherung als die Pflege geurteilt, aber sie ha- Umlagemodell neu installiert. Vaters Al- Vor welchen Alternativen die Deutschen ben die Rente gemeint.“ Auch für die staat- tersversorgung, früher mal Sache der Kin- stehen, wollen sie ihre Sozialsysteme wei- lichen Alterskassen gilt: Kinder zu erziehen der, war aus der Familie herausgelöst und ter betreiben wie bisher, hat den Karlsruher ist eine „eigene konstitutive Leistung“ wie der Rentenkasse übertragen. Richtern der Bielefelder Bevölkerungswis- der gezahlte Beitrag. So kam es nicht mehr darauf an, dass Va- senschaftler Herwig Birg ausgemalt. Ent- Diese Feststellung im reinsten Verfas- ter Kinder zeugte. Wenn er nur seine Ren- weder, so rechnete der Professor vor, brin- sungsrichterdeutsch bezeichnet tatsächlich tenbeiträge bezahlte, war seine Rente si- gen alle Frauen im gebärfähigen Alter in einen Wendepunkt in der deutschen Fami- cher. Da es ja Kinder sowieso gab, mussten den nächsten Jahrzehnten im Schnitt 3,8 lienpolitik. Es ist die Abwendung von ei- dann halt künftig die Kinder der anderen Kinder zur Welt. Oder es müssten in den nächsten 50 Jahren rund 188 Millionen jun- ge Ausländer einwandern – oder das Ren- Greise Gesellschaft Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland; in Tausend tenalter stiege langfristig auf 73 Jahre. Sonderlich realistisch ist wohl keine der Alter Alter Alter Alternativen. Für die Richter war damit 1910 100 1995 100 2040 100 klar: Die umlagefinanzierten Sozialsysteme 90 90 90 können unmöglich so bleiben, wie sie heu- Prognose te sind. Künftig, so urteilten sie, müssten 80 80 80 Eltern zunächst beim Beitrag für die Pfle- geversicherung entlastet werden. Zudem 70 70 70 müsse der Gesetzgeber in den nächsten drei Jahren prüfen, ob das Prinzip auch in 60 60 60

50 50 50

40 40 40

30 30 30

20 20 20

10 10 10 Quelle: Ausländer B. Hof, IW Köln

500 500 500 500 500 500

Väter Rente zahlen. Und weil das so ein- leuchtend war, wurde auf diesem kollekti- ven Generationenvertrag das gesamte So- zialsystem der Bundesrepublik gegründet. Die Konstruktionsfehler wurden erst später deutlich. Den einen geißelte wie- derholt das Verfassungsgericht: Den Müt- tern, die Kinder gebären und erziehen und gerade deshalb keine Rentenbeiträge ein- zahlen können, ist zwar die Geschäfts- grundlage des Generationenvertrags an- vertraut, dafür haben sie aber zum Schluss keinen Anspruch auf eine eigene Rente. Bis heute ist dieser Missstand nur mit ge- ringfügigen Verbesserungen abgemildert. Den zweiten Fehler macht nun abermals das Verfassungsgericht in seiner neuen spektakulären Entscheidung zum Thema:

P. FRISCHMUTH / ARGUS FRISCHMUTH P. Durch das kollektive Rentensystem wird 105 Die Allein- erziehende Marie Stegmann aus Hamburg, eine Tochter, Einkommen in Mark Durchschnitt- liches Monats- einkommen brutto 4732,– Abzüge gesamt davon... 1676,– ...Steuer 1041,–

R. FROMMANN / LAIF ...Sozial- Mutter Stegmann mit Tochter Laura: Montags Luft holen versicherung 635,–

eit acht Monaten lebt Marie pen Freizeit bewusst. „Einen Bei größeren Anschaffungen verfügbares Stegmann, 32, mit ihrer Sprach- oder Gymnastikkursus, wie etwa einem Kinderbett für Einkommen S inkl. Kindergeld 3716,– Tochter Laura, 3, allein. Den um Leute kennen zu lernen, Laura springt Stegmanns Vater und Unterhalt Alltag empfindet sie seither als kann ich mir nicht leisten“, ein. Als Alleinerziehende, ein ständiges Ringen mit knap- sagt sie. Selbst ein Kneipen- meint Stegmann, lebt man in Miete, beruflich pen Ressourcen: zu wenig Zeit, abend mit Freunden ist Luxus, zwei nicht zu vereinbarenden und privat 1644,– zu wenig Geld. Stegmann ar- wenn sie einen Babysitter be- Rollen: Als Frau ohne Partner beitet in Hamburg als freiberuf- zahlen muss. Kleidung kauft möchte sie ausgehen, Leute Lebensmittel 1100,– liche Atem-, Sprech- und sie in Secondhand-Läden, oder kennen lernen; als Alleinver- und Kleidung Stimmlehrerin. Arbeiten kann sie näht selbst. Auch für die sorgerin aber ist sie rund um Sonstige sie aber nur bis 15 Uhr – solan- neue Wohnung, die sie nach die Uhr für Laura in der Ver- Fixkosten 867,– ge Laura in der Kita ist. Wie der Trennung einrichten muss, antwortung. Luft holen? Mon- genau sie kalkulieren muss, hat sie vieles selbst geschrei- tags und jedes zweite Wochen- zur freien wird ihr besonders in der knap- nert oder gebraucht gekauft. ende – da ist Laura beim Vater. Verfügung 105,– für den Einzelnen das Kinderkriegen über- störungskraft. „Die Nutzen der Kinderer- aufwand bewertet, den die Eltern über die flüssig – der alte Adenauer-Satz stimmt ziehung werden sozialisiert“, klagt der Augs- Jahre hinweg in die Betreuung der Kleinen nicht. Viel bequemer ist es, so zeigen es die burger Wirtschaftsprofessor Heinz Lampert, investieren: fürs Windelnwechseln, Wä- Dinks (Double income no kids), das Kin- „ihre Kosten dagegen privatisiert.“ schewaschen oder Essenzubereiten. derkriegen den Dummen zu überlassen. Der emeritierte Ökonom ist Mitglied des Je nach Familientyp können diese pri- Der fatale Funktionsverlust der Familie Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfa- vaten Kosten Summen bedeuten, mit de- als Erwerbs- und Versorgungsgemeinschaft milienministeriums. Er und seine Kollegen nen leicht ein schickes Eigenheim zu wurde durch die Errungenschaften des So- haben ausgerechnet, wie viel Familie und finanzieren ist: Bis zu 894000 Mark ent- zialstaats noch beschleunigt. Je umfassen- Staat die Erziehung von Kindern inner- spricht der Erziehungsaufwand für ein der kollektive Sicherungssysteme die Risi- halb von 18 Jahren kostet. Das Ergebnis: Ehepaar mit drei Kindern. ken des Lebens abdeckten, umso einfacher Fast immer liegt der Anteil, den die Fami- Diesen Aufwand können sich die meisten fiel dem Einzelnen, aus der Familie auszu- lien tragen, höher als der Anteil, den die öf- Familien nur erlauben, wenn sie auf jede brechen, ohne unterzugehen. So leidet der fentliche Hand übernimmt. Mark achten – und auf allerlei Annehm- Sozialstaat heute unter einer Entwicklung, lichkeiten verzichten, die für vie- die er selbst in Gang gesetzt hat. „DIE NUTZEN DER KINDERERZIEHUNG le Kinderlose selbstverständlich Dann eroberten die Frauen die Hoch- sind, wie den Sardinientrip. „Es schulen und die Welt der qualifizierten Be- WERDEN SOZIALISIERT, ist nicht zu begründen“, kriti- rufe. Der Ehemann als Versorger verlor an siert die Sachverständigenkom- Bedeutung. Eine Familie ohne Vater – das IHRE KOSTEN DAGEGEN PRIVATISIERT“ mission des Bundesfamilienmi- konnte man als Glück ansehen oder als Un- nisteriums im 10. Kinder- und glück. Manche SPD-Sozialpolitiker fanden Bei einem Ehepaar mit einem Kind zum Jugendbericht, „dass Eltern weniger Mög- es zeitgemäß, die Lebensform allein erzie- Beispiel summieren sich die gesamten Auf- lichkeiten haben sollen als Menschen aus hender Mütter als Ausdruck von Befreiung wendungen auf rund 716000 Mark. Davon der kinderlosen Vergleichsgruppe, erholsa- und Zukunftsfähigkeit zu betrachten. trägt der Staat ein Drittel: direkt in Form men Urlaub zu machen, sich Bücher zu Ökonomisch betrachtet ist die Familie, von Kindergeld oder Erziehungsgeld und kaufen oder ins Theater zu gehen.“ aus der Sicht des Einzelnen, heute nicht indirekt als Steuerfreibetrag oder kostenlo- Die Ungerechtigkeit, die nun das Verfas- mehr nötig. Die Familienbande bringen se Mitversicherung in der Krankenkasse. sungsgericht rügt, ist schon lange akten- nicht mehr Absicherung, sondern nichts Den größten Teil jedoch, rund 470000 kundig. Eine Studie des Statistischen Lan- als Probleme. Mark, muss die Familie selbst aufbringen: desamts in Baden-Württemberg hat 1998 Der fromme Satz von den Kindern, die 153 000 Mark kostet sie Kleidung oder nachgewiesen, dass junge Ehepaare mit es sowieso gibt, wie Luft und Sonne und Ernährung der Sprösslinge, mit 316 000 Kindern „deutliche Einkommensnachteile“ blauen Himmel, entfaltete eine soziale Zer- Mark haben die Wissenschaftler den Zeit- in Kauf nehmen müssen. Sie verfügen mit

106 der spiegel 15/2001 Werbeseite

Werbeseite Titel Wie zeugungsfähig ist Vater Staat? In Europa sinken die Geburtsraten, aber mit unterschiedlichem Tempo.

ieht so die Todeskurve eines Volkes Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dazu annähernd so geburtenschwach wie die aus? Scheinbar unaufhaltsam sinkt bei, die Geburtenrate zu steigern – doch Spanierin. „La mamma“ wird ein Aus- Sdie Geburtenrate in Deutschland. die Spitzenwerte der verhassten Weima- laufmodell – einer der Gründe: Weil die Kamen im Jahr 1900 pro 1000 Einwohner rer Republik wurden nicht mehr erreicht. Mütter es ihren Söhnen so nett machen, 36 Kinder zur Welt, so waren es am Ende Seit Anfang der siebziger Jahre inten- bleiben die Jungs bis ins beste Mannes- des Jahrhunderts nur noch 9. Und in 100 sivierte die DDR ihre Familienpolitik, und alter von 35 zu Hause. Ihre Großväter Jahren, bei Anhalten dieser Entwicklung es gab einen Coup in Sachen Gebären: hatten als Mittdreißiger oft schon ein Dut- – werden dann Geburten in einem Grei- Das SED-Regime unterstützte junge Fa- zend Bambini. Wenn die „mammoni“ senstaat bestaunte Wunder? milien in vielfacher Hinsicht, zum Bei- (Muttersöhnchen) das häusliche Kinder- Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich, spiel bei der Wohnungssuche – da kam zimmer verlassen, treffen sie reichlich dass der Geburtenrückgang alles andere Bewegung in die Wiegen. spät auf dem Heiratsmarkt ein. Und dann als stetig verläuft: Die beiden Weltkriege Staatliche Förderung hin oder her – in braucht das italienische Paar statt Kin- brachten drastische Rückgänge der Ge- Westeuropa sinken die Geburtenraten, dern erst mal ein Auto, zwei oder mehr burten, die sich in Friedenszeiten dem allerdings in bemerkenswert unter- Handys, schicke Klamotten. Vorkriegsniveau wieder annäherten. An schiedlichem Tempo. Ganz anders die Lage in dem ebenfalls besonderen Hilfsprogrammen des Staates Besonders düster sieht es in den Mit- katholischen Frankreich. Im vergangenen lag das nicht: Weder die Weimarer Re- telmeerländern Spanien und Italien aus, Jahr gab es dort den höchsten Geburten- publik nach dem Ersten Weltkrieg noch einst katholisch geprägte Hochburgen zuwachs in der EU. Der Abwärtstrend die Politiker der Ära Adenauer fielen von Großfamilien, in denen Großmutter, ist seit rund einem Jahrzehnt gebremst, durch Familienförderung auf. Auch der gestresste Töchter und jede Menge Enkel die Fruchtbarkeit liegt derzeit bei 1,89 Babyboom der fünfziger und sechziger unter einem Dach lebten. Kindern pro Frau gegenüber 1,71 vor fünf Jahre, die letzte Phase vor der Steuerung Landflucht und Individualisierung Jahren. des Kinderkriegens durch die Pille, hat machten dieser überkommenen Lebens- Das Klima in Frankreich ist kinder- wenig mit Vater Staat und viel mit öko- form ein Ende. Spanien hat heute welt- freundlicher geworden. Wer einen Staub- nomischem Optimismus, dem „Wirt- weit die niedrigste Geburtenrate. Seit sauger verkaufen will, zeigt im Reklame- schaftswunder“, zu tun. Ende des Franco-Regimes begannen im- spot am besten einen Mann am Gerät: Ob Paare Kinder bekommen, bestim- mer mehr Frauen eine berufliche Karriere, Haushalt und Familie sind keine Frauen- men Geschichte, Kultur, Stand der Emp- und immer weniger junge Leute scherten sache mehr – die französische Öffent- fängnisverhütung und die berufliche sich um Verhütungsverbote des Papstes. lichkeit hat es offenbar begriffen. Emanzipation der Frau. Welche Chancen Frauen nennen, in jüngsten Umfragen, die Dazu kommt eine relativ großzügige hat der Staat überhaupt, wirksame An- Hauptgründe für ihre Kinderzurückhal- Familienpolitik. Frankreich ist erheblich reize fürs Kinderkriegen zu schaffen? tung: schlechte Finanzen und die zu hohe besser mit Krippenplätzen ausgestattet In Deutschland lassen sich mehr oder Belastung durch Erziehung. als Deutschland, Ganztagsbetreuung von weniger deutliche Auswirkungen staatli- Die Regierung kümmerte sich bislang der Vorschule bis zum Abitur ist ga- cher Initiativen zur Hebung der Gebur- wenig um Unterstützung. 0,4 Prozent des rantiert. Die Folgen: 70 Prozent aller tenrate an zwei Stellen entdecken: Inlandsprodukts lässt Spanien Familien Französinnen sind berufstätig. Und die Die Propaganda der Nazis mit ihrer zukommen, der EU-Durchschnitt beträgt Mütter von drei Kindern haben zu sen- rassistisch geprägten Feier des Kinder- 2,2 Prozent. Erst jetzt gedenkt der sationellen 45 Prozent einen Job, in reichtums („Mutterkreuz“) trug bis zum konservative Regierungschef José María Deutschland undenkbar. 40 Aznar, mit Steuererleichterungen und Ein gutes Beispiel für eine Abhängig- 35,6 mehr Betreuungsplätzen zu helfen. keit des Kinderkriegens von Staatsförde- In Italien sind Kinder gänzlich aus der rung ist Schweden. Dort stieg die Gebur- Mode. Die Italienerin ist mit 1,2 Kindern tenrate zwischen 1980 und 1990 infolge 29,8 30 eines großzügigen Kinderprogamms. Dann musste das einst vorbildliche, so- 25,9 zialdemokratisch geprägte „Volksheim“ nach ökonomischen Einbrüchen die So-

20 20,0 WEST Kinderschwund 17,6 17,4 Geburten* je 1000 Einwohner 15,9 13,9 16,9 in Deutschland 13,4 OST 10 10,2

keine Daten

1900 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70

108 der spiegel 15/2001 im Schnitt 3865 Mark über gut 700 Mark weniger Nettoverdienst als kinderlose Ehe- paare (4580 Mark). Zwar müssen die Kin- derlosen höhere Steuern zahlen, doch der Verzicht eines Elternteils auf Erwerbs- tätigkeit wiegt unter dem Strich schwerer. Noch krasser wird das Einkommensge- fälle zwischen Eltern und Kinderlosen, ver- gleicht man die Beiträge, die jedem Fami- lienmitglied zur Verfügung stehen. Kinder- lose Paare in Baden-Württemberg kommen pro Kopf auf 2545 Mark netto. Familien mit einem Kind verfügen über 37 Prozent we- niger (1594 Mark), mit zwei Kindern sind es 49 Prozent (1296 Mark), mit drei Kindern sogar 57 Prozent weniger (1087 Mark). Am härtesten trifft es allein erziehende Mütter: Ihr Pro-Kopf-Einkommen fällt mit VISION PHOTOS

DEFD Idealbild Großfamilie (in Italien)*: „La mamma“ wird zum Auslaufmodell

zialleistungen für Familien zurückfahren, unter dem Beifall der schwedischen Öf- die Geburtenrate sinkt seither. fentlichkeit das Ministerium am späten Dennoch kann das Land in manchen Nachmittag, um ja mit dem Vorortszug Punkten als vorbildlich gelten: So wer- Mann und zwei Kinder zum gemeinsa- den während des gesetzlich garantierten men Abendbrot zu erreichen. Elternurlaubs von 13 Monaten rund 80 Nur rudimentäre politische und pro- Prozent des Gehalts fortgezahlt. Auch mit pagandistische Anstrengungen gibt es in Kunden im Lifestyle-Shop PR müht sich das Land stark um Kinder- Großbritannien – und doch weist Kinder kriegen nur die Dummen freundlichkeit. Ex-Tennisstar und Frau- das Vereinigte Königreich noch immer enheld Björn Borg wirbt in einer selbst fi- eine Geburtenrate von 1,7 Kindern aus: knapp 900 Mark 64 Prozent geringer aus nanzierten Anzeige unverblümt: „F… for das vielleicht interessanteste Beispiel als das der kinderlosen Paare. the future.“ Erfolgreich tat er es selbst, so- dafür, dass Fortpflanzung nicht aus- Mütter ohne dazugehörige Väter sind weit bekannt, bislang nur einmal: Borg ist schließlich durch ökonomische Rationa- die Verlierer der bisherigen Familienpoli- Vater eines Sohnes. lität bestimmt ist. Dabei ist das Kinder- tik, mit Abstand weisen allein Erziehende Die schwedische Außenministerin An- machen und -großziehen auf der Insel die höchsten Sozialhilfequoten auf. Jede na Lindh verlässt, wenn es irgend geht, längst zum Luxus geworden. vierte, die ohne Partner zwei Kinder ver- So kostet ein privater sorgt, bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt. 20 Kindergartenplatz in London Von den drei Millionen Sozialhilfeempfän- SPANIEN Geburten* je 1000 durchschnittlich 2500 Mark gern ist inzwischen jeder dritte ein Kind. Einwohner in Europa im Monat, eine ebenfalls So hat sich, entgegen allen Beteuerun- FRANKREICH 18 nicht steuerlich absetzbare gen der Politik, die Situation der Familien ITALIEN 16 Kinderfrau rund 1500 Mark. nicht verbessert, im Gegenteil: „Nie ging es GROSS- Kein Wunder, dass immer Familien so schlecht wie heute“, resümiert BRITANNIEN mehr Kinder in reichen Fa- der Familien-Jurist Borchert. 14 milien geboren werden, Genug gejammert. Die Laune am sozial- während sich die Armen we- politischen Abgrund ist verblüffend gut. 12 SCHWEDEN niger Nachwuchs leisten. In Wahrheit, das ergaben Umfragen, Geburtenstark unter den wünschen sich viel mehr Menschen Kinder, 10 sozial Schwachen sind nur als sich trauen. Und die Sehnsucht nach die ganz jungen Britin- der heiligen Familie ist geradezu überwäl- 1970 1980 1990 2000 nen. Das Königreich hält tigend. Die Zahl derer, die Familie für ihr die erste Stelle unter den eigenes Wohlbefinden „sehr wichtig“ fin- 14,6 Teenager-Schwangerschaften den, so ermittelte die Gesellschaft sozial- in Westeuropa: Auf der In- wissenschaftlicher Infrastruktureinrich- 11,4 GESAMT sel gibt es fast dreimal tungen in regelmäßigen Erhebungen, stieg 10,1 9,2 mehr Teenie-Mütter als in in Westdeutschland sogar von 68 Prozent Deutschland. im Jahr 1980 auf 80 Prozent im Jahr 1998. geschätzt „Wie kaum eine andere Institution *Lebendgeborene Quellen: Statistisches * In dem Film „La Famiglia“ von Ettore scheint die Familie geschaffen, gleichzeitig Bundesamt, Eurostat Scola, 1987. unserem biologischen Erbe, gesellschaftli- 75 80 85 90 95 2000 chen Anforderungen wie auch tiefen exis-

der spiegel 15/2001 109 Titel

Familienidylle 2000 ren: „Wenn Frauen und Männer entschei- Gute Laune am Abgrund den, keine Kinder haben zu wollen“, sagt Schröder, könne man nichts machen. „Wir Trotz Scheidungsrate, trotz aller unvoll- machen in unserer offenen Gesellschaft endeten Projekte des Feminismus, trotz keine Ein-, Zwei- oder Kein-Kind-Politik.“ der Einschränkung sexueller Unabhängig- Gerade in Deutschland ist jeder staatli- keit: Der Traum vom verlässlichen Zu- che Versuch, Einfluss auf das Familienleben sammenleben – als Mann und Frau, als zu nehmen, ohnehin eine Gratwanderung. Frau und Frau, als Mann und Mann – ist in Der Plan, das eigene Volk zu mehr Fort- den Köpfen der Jungen nicht ausgeträumt. pflanzung zu bewegen oder gar zu zwin- Hupend fahren die Hochzeitskonvois gen, ist durch die Bevölkerungspolitik der zum Standesamt oder zur Kirche. Weiß Nationalsozialisten diskreditiert. Länder und teuer kleidet sich die Braut. Und wenn mit einschlägiger Vergangenheit – Deutsch- es zur Traumhochzeit nicht reicht – es gibt land, Japan, Italien, Österreich und Spa- Entsprechendes im Fernsehen. nien –, die den Mutterkult auf die Spitze Den fühllosen Frauenflachlegern und getrieben haben, weisen heute weltweit die

A. HUB / LAIF (li.); / XXP (re.) MCBRIDE / FOCUS PLUS W. den herumvögelnden Schlampen begegnet niedrigsten Geburtenraten auf.

Familienbande als Kunstobjekt (1970)*: Ökonomisch überflüssig

man eher noch in Gestalt argumentativ ab- „Der Mutterkult des Nationalsozialis- geschlagener Pappkameraden in den Ka- mus hat die bundesdeutsche Politik in Sa- binetten der Talkshows. Sogar Superstar chen Kinder in eigenartiger Sprachlosig- Madonna, einst die weibliche Verheißung keit zurückgelassen“, urteilt Barbara Vin-

TV-YESTERDAY für laszive Ausschweifung, arbeitet – zu- ken, Autorin des Buchs „Die deutsche Familienidylle 1960 mindest verbal – heute brav auf der Bau- Mutter“**. Vaters Rente ist sicher stelle familiärer Beziehung: „Meine größ- Auch in der DDR war Familienpolitik te Herausforderung ist es, meine Zeit aus- alles andere als ideologiefrei. Hinter dem tenziellen Bedürfnissen gerecht zu wer- zubalancieren, einerseits genug Zeit mit Leitbild der berufstätigen Mutter steckte den“, beschreibt der Heidelberger Fami- meiner Tochter zu verbringen, andererseits konkretes Staatsinteresse. Frauen wurden lienforscher Helm Stierlin die Zählebigkeit mich selbst glücklich zu machen in meiner in der Produktion gebraucht; gleichzeitig der Sozialform Familie. Karriere“, gestand sie dem US-Fernseh- konnte die DDR, wegen der steten Ab- Die Liebe in den Zeiten der Rentenre- mann Larry King, sie bekenne sich zur bür- wanderung gen Westen, auf stabile Ge- form: Eine SPIEGEL-Umfrage (50/1998) gerlichen Sehnsucht nach Ehe und Familie. burtenraten nicht verzichten. Deshalb sei unter jungen Leuten brachte erstaunlich Nach der gescheiterten Ehe mit dem wichtig, so der VI. SED-Parteitag 1963, viel Familiengefühl an den Tag: Nicht nur Schauspieler Sean Penn heiratete sie prompt „dass die Frau den wachsenden Anforde- Sex erwartet der junge Mensch vom Leben den nächsten Mann. Die Ehe selbst bleibe rungen beider Lebensbereiche gemäß ihr – Seitensprünge sind regelrecht tabu –, son- für sie ein „heiliges Ritual“. Leben gestalten kann, dass sie nicht in dem dern Geborgenheit. 70 Prozent aller Ju- Die Politiker, diese gefühllosen Kerle, einen Bereich gravierende Zugeständnisse gendlichen sind überzeugt, dass eine Lie- sind wenig beeindruckt. Ob Frauen und zu Gunsten des anderen Bereiches für not- be ein Leben lang halten kann. Männer zusammenfinden und vor allem, wendig erachtet“. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, gab was sie anschließend machen, meint der Anders als die Bundesrepublik stellte die es lange nicht mehr so viel Bereitschaft in Kanzler, darüber könne man nicht regie- DDR-Führung tatsächlich die notwendige der jüngeren Generation, das Abenteuer Infrastruktur bereit, um ein Nebeneinan- des Zusammenlebens zu wagen. 90 Pro- * Lebende Installation „Weltuntergang“, München. der von Beruf und Familie zu ermöglichen. ** Barbara Vinken: „Die deutsche Mutter. Der lange zent der Jugendlichen träumen davon, spä- Schatten eines Mythos“. Piper Verlag, München; 368 Sei- Ein dichtes Netz von Kinderkrippen und ter zu heiraten. ten; 44 Mark; erscheint am 14. April. Ganztagskindergärten gab es bereits Ende

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Werbeseite Titel der siebziger Jahre – eine Errungenschaft, Berufstätigkeit der Frauen untersucht. Er- In der mobilen Gesellschaft wird es für die sich im Osten bis heute gehalten hat. gebnis: Wenn die Frau komplett aussteigt die Einzelnen immer schwieriger, zusam- Auch finanziell wurden Eltern kräftig un- und sich auf das Dasein der Hausfrau und menzubleiben. Was den Trennungsgebeu- terstützt: Familienforscher schätzen den Mutter konzentriert, verfallen oft beide telten als persönliches Versagen erscheint, vom Staat getragenen Anteil der Kinder- Partner in Depressionen. Weil ein Ein- erweist sich als das Versagen eines Fami- kosten auf 85 Prozent. kommen fehlt, muss der Mann mehr ar- lienmodells, das eine männliche Arbeits- Eine echte Wahl allerdings hatten die beiten und kann womöglich nicht der Va- marktbiografie mit einer lebenslangen Frauen auch im Osten nicht: Galt im Wes- ter sein, der er gern wäre. Sie dagegen ver- Hausfrauenexistenz zu verzahnen wusste, ten die berufstätige Mutter, die ihr Kind misst ihre Arbeit und die gesellschaftliche nicht aber zwei Arbeitsmarktbiografien. schon nach wenigen Monaten in die Krip- Anerkennung. Das Dauerkunststück, so der Soziologe pe gab, als suspekt, standen die ostdeut- Das Pfeifen aufs Familienleben ist das Ulrich Beck, zwei Karrieren zusammenzu- schen Frauen unter starkem öffentlichem Begleitgeräusch neoliberaler Wirtschafts- binden, sei „so pauschal bislang keiner Ge- Druck, sich nicht auf ein Hausfrauenda- politik. Die Erfordernisse, die Globalisie- neration zuvor“ zugemutet worden. sein zurückzuziehen. rung und Mobilisierung der Weltgesell- Dass es überhaupt ein Kunststück ist und Mit der Wiederverei- keine Selbstverständlichkeit – das ist aus nigung veränderte sich der Sicht des Staatsrechtlers Kirchhof eine das Familienverhalten der flagrante Verletzung der Verfassung. Kirch- Ostdeutschen dramatisch. hof, beim Verfassungsgericht einst Wort- Angst vor der Zukunft, führer für eine gerechtere Familienpolitik, ökonomische Unsicherheit entnimmt dem Grundgesetz den Auftrag und die weniger familien- an die Politik, Beruf und Familie mitein- freundlichen Rahmenbe- ander vereinbar zu machen – und zwar für dingungen der Bundesre- Mütter wie für Väter. publik senkten die Gebur- Nur die Familie, nicht der Staat, so tenrate in nur drei Jahren Kirchhof, garantiere die gesellschaftlichen um mehr als die Hälfte. Grundlagen von Freiheit, Moral und Wohl- Wurden 1989 in der DDR stand, die das Grundgesetz voraussetze. und Ost-Berlin noch 198 922 Mütter, nicht Manager und nicht Minister, Kinder geboren, waren es seien letztlich die Garanten einer humanen 1992 nur 88320. Gesellschaft. Im heutigen Deutschland Mit großem Aufwand verabschiedete das gebe es „keinen Konsens Bundesverfassungsgericht so – meist aus darüber, dass Kinder be- Kirchhofs Feder – Konzepte zur Beseiti- gehrenswert sind“, schreibt gung der Ungerechtigkeiten für Mütter Barbara Vinken. Über Kin- mehr noch als für Väter im Familienrecht, der rede die Allgemeinheit Steuerrecht und Sozialrecht. Der wichtigs- nur, „wenn es um den te Punkt für Kirchhof aber ist „die Chan- berühmten Generationen- cengleichheit für Mütter im Beruf“. vertrag und die Rentenzah- Die Verantwortung, die da auf die Wirt- lungen geht“. Nicht anders schaftsliberalen um Tony Blair und Gerhard machten es die Karlsruher Verfassungskläger Müller, Familie: Zehn kleine Versorger Schröder zukommt, formulierte der briti- Richter. sche Soziologe Anthony Giddens: „Indivi- Bislang war das, was bundesdeutsche Fa- schaft an deren Mitglieder stellen, lassen dualismus und Entscheidungsfreiheit sollen milienpolitik unter dem Etikett „Familien- sich nicht mehr mit den traditionellen Ge- vor den Grenzen der Familie und der na- förderung“ anbot, so meist auch nur eine bräuchen der Familien-Rudel vereinen. tionalen Identität abrupt Halt machen, weil Prämie für den Berufsausstieg der Frau. Züchtet der erbarmungslose Weltmarkt hier die Tradition intakt bleiben muss.“ Gut Langer Erziehungsurlaub, Ehegattensplit- Einzelwesen, so fragt der amerikanische gesagt, aber: „Durch nichts werden Tradi- ting und kostenlose Mitversicherung in der Soziologe Richard Sennet, die moralisch tionen so gründlich zersetzt wie durch die Krankenkasse belohnen den Karrierever- und sozial zu luxuriöser Obdachlosigkeit permanente Revolution der Marktkräfte.“ zicht eines Partners, meist der Frau. verdammt sind? Und der New Yorker Phi- Nun hat die Revolution bald keine Kin- Wie familienfeindlich das ist, geht aus losoph Michael Walzer sieht in der westli- der mehr. Und gerade die großen, globalen Untersuchungen hervor, die der Münch- chen Welt „eine postmoderne Gesellschaft Unternehmen – siehste, Riester – lassen sich ner Sozialforscher Wassilios Fthenakis an- von Fremden“ heranwachsen – woraus er eine Art privater Familienpolitik einfallen, gestellt hat. Fthenakis hat bei 175 Paaren indirekt schließt, dass er diesen Kindern um den drohenden Nachwuchsmangel von die Depressivitätsverläufe des Mannes und der Globalisierung, Menschen „ohne fest der eigenen Firma abzuwenden. der Frau von der Schwangerschaft bis 4 be- umrissene, exklusive Identitäten“, allen- Um die Vereinbarkeit von Beruf und Fa- ziehungsweise 18 Monate nach der Geburt falls sehr, sehr viel Verständnis füreinander milie zu erleichtern, haben immer mehr des ersten Kindes in Abhängigkeit von der empfehlen kann. Unternehmen eigens dafür abgestellte „Di-

Lieber ohne Kind Struktur deutscher Haushalte 1999 Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte 35,7 % ohne Kinder 30,2 % mit Kindern 34,1 %

mit Kindern unter mit Kindern 18 Jahre über 18 Jahre 24,6% 9,5 % Quelle: Statistisches Bundesamt

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Werbeseite versity-Manager“ oder „Projektleiter mutlich zu Hause bleiben Chancengleichheit“ ins Haus geholt. „Wer müssen. Außerdem arbei- seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mo- ten Eltern spürbar konzen- tivieren, halten oder neue gewinnen will, trierter, wenn sie ihre Kin- kann das Thema Familie heute nicht mehr der gut betreut wissen.“ außen vor lassen“, sagt Barbara David, Pro- Die einzelnen Bankfilialen jektmanagerin für Chancengleichheit bei haben zudem ein Budget, der Commerzbank in Frankfurt. Schon aus aus dem sie Zuschüsse zur betriebswirtschaftlichen Gründen: Eine regulären Kinderbetreuung qualifizierte Frau, die sich entscheidet, zur zahlen können. Familiengründung aus dem Beruf auszu- Umdenken bedeutet steigen, kostet ein Unternehmen viel Geld. auch, sich von Irrtümern zu Etwa anderthalb Jahresgehälter sind im verabschieden. Früher bot Durchschnitt erforderlich, um eine neue die Commerzbank ihren Fachkraft zu finden und einzuarbeiten. Mitarbeiterinnen ein vier- Der „war for talents“, wie die verschärf- tes Jahr Erziehungsurlaub te Konkurrenz um qualifizierten Nachwuchs an. „Das war das falsche in den USA heißt, macht es immer schwie- Signal“, sagt Barbara Da- riger, geeignete Mitarbeiter zu finden. Frau- vid heute. „Wer zu lange en außen vor zu lassen, kann sich niemand aussteigt, hat es schwer, zurückzukommen.“ Unionspolitiker Stoiber (u.), CDU-Wahlplakat Inzwischen ist die Ein- Prämie für den Berufsausstieg sicht immerhin bis zum Bundeskanzler vorgedrun- gen, dass „Frauen sich nicht wegen 30 Mark mehr Kindergeld für Kinder ent- scheiden, sondern dann, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie si- chergestellt ist“. Saarlouis eine Studie in Auftrag gegeben. Dass dies wirklich etwas bringen könn- Erstes Ergebnis: Seit Februar gibt es im te, zeigt der Blick ins Ausland. Die höchs- Ford-Werk Köln-Niehl eine Notfall-Kin- te Geburtenrate in Europa, 1,86 Kinder pro derbetreuung. Wenn die Tagesmutter Frau, weist das Land auf, das mit 75,3 Pro-

DPA krank wird oder Schulstunden ausfallen, zent zugleich auch die höchste Frauener- können Mitarbeiter und Mitarbeiterin- werbsquote hat: Norwegen. Das Schluss- mehr leisten. „Um unseren Bedarf decken nen ihre Kinder im Alter von sechs Mona- licht in beiden Kategorien bildet Spanien, zu können, müssen wir für alle potenziellen ten bis zwölf Jahren im „Ford Pänz“ abge- mit nur 48 Prozent erwerbstätigen Frauen Bewerber ein attraktiver Arbeitgeber sein“, ben, einem Hort direkt vor den Werktoren. sagt Gerhard Weiß, Beauftragter für Chan- Ein ähnliches Modell praktiziert die Com- cengleichheit bei der Lufthansa. merzbank in Frankfurt mit ihrer Einrichtung Dabei spielen die Angebote auch für Vä- „Kids & Co“. Für das Unternehmen habe ter eine wachsende Rolle. Längst nicht jeder die Notfall-Kinderbetreuung gleich zwei berufstätige Mann hat heute noch eine Frau, Vorteile, sagt Barbara David: „Wir vermei- die den Haushalt und die Kinder versorgt. den Ausfälle – der Vater oder die Mutter

Mit steigender Erwerbstätigkeit der Frauen hätte ohne unseren Bedarfskindergarten ver- M. URBAN tragen darum verstärkt auch Männer ihre Wünsche vor. Ein Trend, den Lufthansa un- SPD-Politikerin Bergmann, SPD-Wahlplakat terstützt: „Wir ermuntern die Männer zu Die Revolution hat bald keine Kinder mehr bekennender Vaterschaft“, sagt Weiß. „Weil wir überzeugt sind, dass in der Familie so- ziale Kompetenzen erworben werden kön- nen, die auch dem Unternehmen nützen. Außerdem sind glückliche Mitarbeiter meist deutlich produktiver.“ Das Unternehmen bietet vielfältige Ar- beitszeitmodelle an: Teilzeit, Gleitzeit, Teil- zeit kombiniert mit Telearbeit, Jahresar- beitszeitkonten, Sabbaticals. Alle Angebo- te richten sich stets ausdrücklich an Frau- en und Männer. Für den Arbeitgeber sind solche Spezialarrangements selten ein Nachteil: „Wer sich so genau überlegt, wie er arbeiten will, ist meist hoch motiviert und will auch beweisen, dass es klappt.“ Um die konkreten Bedürfnisse von El- tern im Betrieb genauer zu erfassen, hat

Ford an seinen Standorten Köln-Niehl und BILDERDIENST ULLSTEIN 114 und ebendrum durchschnittlich 1,14 Ge- burten pro Frau. Es gibt, so folgert die stellvertretende SPD-Vorsitzende Renate Schmidt, Leiterin des SPD-Forums Familie, „einen signifi- kanten Zusammenhang zwischen der Ge- burtenrate eines Landes und der Erwerbs- beteiligung der Frauen“. Harmonisierung von Familie und Arbeitswelt, so ihre Forderung, „muss deshalb Hauptziel der Familienpolitik der SPD auf allen Ebe- nen sein“. Dass das alles nur über eine völlige Neu- konstruktion der Familienpolitik geht, ist noch immer eine Art Staatsgeheimnis. Bis- lang unveröffentlicht ist das Dossier einer Expertenkommission im Haus der Berli- ner Familienministerin Christine Berg- mann. Titel: „Gerechtigkeit für Familien“. Die Politiker, so schreiben die 19 Wissen- schaftler des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, unter ihnen Psychologen und Volkswirtschaftler, müssen alle An- strengungen unternehmen, um Familie und Arbeit miteinander vereinbar zu machen, „ohne die Erwerbskarriere und die Ren- tenbiografie nachhaltig zu beeinträchtigen“. Das gehe nur über den massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Tageseinrichtungen, PFEIFEN AUFS FAMILIENLEBEN IST DAS BEGLEITGERÄUSCH NEOLIBERALER POLITIK

so heißt es in dem Gutachten, sollten „für alle Kinder beitragsfrei zugänglich sein“. Die Wissenschaftler fordern nichts we- niger als einen „Paradigmenwechsel“ in der Familienpolitik. Das Verhältnis der Leistungen, die Familien für die Gesell- schaft erbringen und von ihr beziehen, müsse völlig neu geregelt werden. So müsse das tatsächliche Existenzmini- mum der Kinder, genau wie das der Er- wachsenen, komplett von der Steuer be- freit werden. Zu diesem Zweck schlagen die Wissenschaftler „einen einheitlichen Kinderfreibetrag“ vor. Als Ausgleich für die Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringen, sollen die Fa- milien mit einem zusätzlichen einheitlichen Kindergeld entschädigt werden. Genaue An- gaben zur Höhe dieser Maßnahmen macht der Beirat nicht, doch weist er ausdrücklich darauf hin, „dass die bisherigen familienpo- litischen Leistungen nicht ausreichend sind“. Für Kinder aus einkommensschwachen Familien schlagen die Wissenschaftler zu- sätzlich ein neues „Kinderfördergeld“ vor. Auch in der Rentenversicherung kommen Eltern nach Ansicht der Wissenschaftler bislang viel zu kurz: „Der Beirat empfiehlt daher, die Anrechnung von Kindererzie- hungszeiten über die bestehende Regelung von drei Jahren pro Kind hinaus auszu- dehnen, insbesondere wenn mehrere Kinder erzogen werden.“ Das erste Kind

der spiegel 15/2001 115 zählt einfach, das zweite doppelt, das drit- te dreifach. Familienrechtler Kirchhof hat einen wei- ter gehenden Vorschlag. Ein Erziehungs- gehalt, mindestens 2000 Mark pro Kind, Die Besser- soll Mütter oder Väter in die Lage verset- zen, frei zu entscheiden, entweder eine verdienenden Kinderbetreuung anzustellen und weiter Familie Dewald aus Börnicke, vier Kinder, zwei Einkommen, dem Beruf nachzugehen oder das Geld zu S. SAUER behalten, um es später als Startkapital für Familie Dewald: „Flugreise? Unbezahlbar“ in Mark den Wiedereinstieg zu investieren. Wo das Geld für solche Pläne herkom- enn Kornelia De- Führerschein und Ge- Monats- men soll, ist für manche Experten schon Wwald, 41, von ihrem brauchtwagen hat sich einkommen ausgemacht: Rund 40 Milliarden Mark im ABM-Gehalt etwas ab- der Älteste beim örtli- brutto 8826,– Jahr bekäme der Staat flüssig, schaffte er knapsen kann, kommt chen Postamt selbst er- das Ehegattensplitting ab. das in die Reisekasse. jobben müssen. Und an Abzüge gesamt 3282,– Die Prämie fürs Nichtstun eines Ehe- Auch Urlaubs- und Weih- eine „bombastische Abi- davon... partners ohne Kinder ist allerdings – nicht nachtsgeld von Ehemann Feier“ ist nicht zu den- ...Steuer 1469,– zuletzt nach Kirchhofs Ansicht – verfas- Andreas, 43. So reicht es ken. Auch die Kleinen ...Sozial- sungsrechtlich geschützt. Gleichwohl gilt meist für drei gemeinsa- wissen schon, was Spa- versicherung 1813,– sie als ungerecht. me Wochen im Jahr, mal ren heißt: Ausflüge ins Paare, die verheiratet sind, werden auch, Schweden, mal Frank- „Blub“, das Berliner Ba- verfügbares wenn sie keine Kinder haben, so milde be- reich oder Dänemark. Ur- deparadies, das keinen Einkommen 6624,– steuert, als hätte jeder von ihnen die Hälf- laub vom Kochen und Familienrabatt gibt, blei- inkl. Kindergeld te des Einkommens erzielt. Besteht also Putzen hat sie in einer ben ein Kindertraum. Miete, warm 2400,– zwischen den Eheleuten ein großes Ein- Ferienwohnung zwar nie, In ihrem schmucken kommensgefälle, entrichten sie weit weni- sagt die Sozialarbeiterin – Klinkerbau wohnen die Lebensmittel ger Steuern als Paare ohne Trauschein. aber „Hotel- und Flug- Dewalds jetzt fünf Jahre. und Kleidung 2500,– Der Abbau solcher Privilegien für Kin- reisen mit vier Kindern? Vor allem wegen der derlose wäre zugleich ein Signal: Auch die Unbezahlbar“. Genauso Kinder zog es sie aus der Sonstige 1600,– nächste Generation der Deutschen wird wie Markenjeans für ihre Großstadt. „Das Haus ist Fixkosten nicht vom Storch gebracht. beiden Mädchen Bianca, auch unsere Altersvor- zur freien Erst wenn die Familie der Gesellschaft 12, Kristin, 14, und die sorge“, erklärt Kornelia Verfügung 124,– wieder heilig ist, das ist die Drohung des zwei Jungen Johannes, 9, Dewald, „zusätzlich pri- Karlsruher Urteils, lässt sich der Generatio- und Christof, 19. Den vat ist da nichts drin.“ nenvertrag wieder in Kraft setzen. Aller- dings zu geänderten Geschäftsbedingungen. Der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Jo- 25 oder 50 Prozent gekürzt, und er muss zu- zieht, müsse eben „die eingesparten Gelder hann Eekhoff, Autor eines neuen Buchs sätzlich privat vorsorgen. am Kapitalmarkt anlegen, um seine Rente über „Verlässliche Alterssicherung“, hat aus- Eekhoffs Modell setzt damit um, was die auf diese Weise zu sichern“. gerechnet, wie das Sozialsystem wieder auf Karlsruher Richter fordern. Kinderlose müs- Für das staatliche Transfersystem hätte einen tragfähigen Generationenausgleich zu sen deutlich mehr Beiträge für ihre soziale ein solcher Umbau noch einen weiteren gründen wäre: Wer mindestens zwei Kinder Sicherung leisten als Eltern. Eekhoffs Öko- Vorteil: Das System wäre immun gegen Ver- großzieht, hat danach Anspruch auf die vol- nomen-Kollege Hans-Werner Sinn, der be- änderungen bei der Bevölkerungsentwick- len gesetzlichen Pflege- oder Rentenleis- reits vor Jahren ein ähnliches Modell ent- lung, die staatliche Alterskasse würde im- tungen. Wer weniger Nachkommen zur wickelt hat, hält das für „keinesfalls unge- mer nur genau so viele Leistungen verspre- Welt bringt, dem werden die Leistungen um bührlich“. Wer keine Nachkommen groß- chen, wie Beitragszahler nachwachsen. Unter den Berliner Sozialpolitikern aller Baby-Pflegekurs für junge Väter (in Köln): „Heiliges Ritual“ Parteien wurden solche Vorschläge bis vor kurzem noch als skurrile Außenseiter-Mei- nungen verlacht. Als etwa Unionspolitiker wie der frühere Postminister Christian Schwarz-Schilling oder der Sozialexperte Andreas Storm ähnliche Vorschläge mach- ten, verwarf sie Norbert Blüm, damals noch Arbeitsminister, sofort als „systemuntaug- lich“. Solche Vorschläge seien bestenfalls „der neueste Hit auf dem Jahrmarkt des In- teressanten“, höhnte der Rentenmann. Den FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff erin- nerte die Idee einer Kinderprämie bei der Rente gar an „eine Art Sprunggeld, so etwas gibt es in der Landwirtschaft“. Seit es den Fall Müller gibt, lacht nie- mand mehr. Thomas Darnstädt, Nikolaus von Festenberg, Susanne Fischer, Angela von Gatterburg, Tina Hildebrandt, Alexander Jung, Heiko Martens, Alexander Neubacher,

ZANETTINI /LAIF Christian Reiermann, Michael Sauga Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft S. ZUDER / BILDERBERG

Love Parade in Berlin: „Die haben den Bodenkontakt verloren“

Berlins Innensenator Eckart Werthe- HAUPTSTADT

bach (CDU), eher der Klassik zuge- PRESS ACTION tan, hält sich dagegen mit klamm- Fixer Rentner heimlicher Freude einfach penibel an das achten müssen, dass die Versammlungs- Gesetz. Weil bereits im September 2000 behörde Recht und Gesetz zu befolgen Die Berliner Mischung aus eine Bürgerinitiative für den 14. Juli eine hat“, beschied er kühl aufgeregte Kritiker. Demonstration im Tiergarten angemeldet Berlins Tourismuschef Hanns Peter Ner- Kleinkariertheit und Größenwahn habe, so seine Innenverwaltung, könne die ger glaubt: „Den Love-Parade-Leuten ist hat ein neues Opfer – Love Parade nicht wie geplant genehmigt der Erfolg zu Kopf gestiegen. Die haben die Love Parade ist in Gefahr. werden. Pikant: Die Konkurrenzveranstal- den Bodenkontakt verloren.“ tung steht unter dem Motto „Der Tiergar- Doch die Love Parade ist auch zu einem ie Raver der ersten Stunde saßen ten gehört allen Berlinern“. gewaltigen Wirtschaftsfaktor geworden. Bis sie da: Innensenator Jörg Schön- Die von dem Rentner Hans-Heiner Stef- zu 250 Millionen Mark bringen die Techno- Wbohm (CDU) machte auf jugend- fenhagen, 62, angeführte Initiative will den Anhänger nach Schätzungen mit in die lich, mit Schirmmütze und Trillerpfeife. Marsch der Techno-Millionen aus dem Stadt, die zusätzlichen Steuereinnahmen Kultursenator Peter Radunski (CDU) trank Tiergarten fern halten, weil die Flora leidet. betragen etwa 10 Millionen. Allein die auf die Techno-Jünger als „die sympa- Der fixe alte Herr schlug die Raver, die Bahn stellt Sonderzüge für mehr als 150000 thischste Jugend, die ich je erlebt habe“. noch immer als politische Demonstranten Menschen bereit. Auch als Medienereignis Und selbst die spröde Finanzsenatorin gelten, mit deren Mitteln. Er meldete sei- gewinnt die Love Parade an Format: Im Anette Fugmann-Heesing (SPD) pries den ne Demonstration an, als die Love-Parade- vergangenen Jahr zahlten die Sender rund schrillen Umzug als Wirtschaftsfaktor. Macher offenbar noch bei der Bilanz wa- 1,8 Millionen Mark für Übertragungsrech- Die damalige Berliner Polit-Prominenz ren. Auch andere Sonnabende wurden te und Produktionskosten. feierte auf einer VIP-Party im Tiergarten durch ähnliche Aktionen blockiert. Für die Macher lohnt sich die Veranstal- die Love Parade – wenn auch in sicherer In diesem Jahr also „nix Bum Bum“, tung vor allem, weil sie als politische De- Schallweite zu den Techno-Trucks. Nach wie der „Berliner Kurier“ fürchtet? monstration gilt. Vorteil: Die Stadt muss jahrelangem Streit um Müllberge und die Das Verhältnis zur Stadt, klagt Love-Pa- für Polizeieinsatz (eine Million Mark), Zerstörung des Tiergartens schien sie par- rade-Sprecher Enric Nitzsche, sei „schwie- Müllbeseitigung (500000 Mark) und Tier- teiübergreifend die Fronten gewechselt zu rig und ambivalent“. Die Techno-Orga- gartensanierung (eine Million) aufkom- haben. Imagegewinn und Millionenein- nisatoren fühlen sich unverstanden. Para- men, Einnahmen kassieren überwiegend nahmen durch die Love Parade hatten die den-Mitbegründer Ralf Regitz beklagt seit die Organisatoren. SPD-Fraktionschef Klaus verknöcherten Repräsentanten scheinbar Jahren die „unglaubliche Regulierungs- Wowereit moniert deshalb: „Die Love Pa- zu Berufsjugendlichen gemacht. wut“ der Berliner Verwaltung. rade ist eine kommerzielle Veranstaltung.“ Das war 1998. Nachdem Ableger der Love Parade erst- Werthebach hat den Ravern den 21. Juli Drei Jahre später wird in Berlin wieder mals auch international in Wien, Tel Aviv, als Ausweichtermin angeboten. Da wollen gestritten und bundesweit über die Haupt- Kapstadt und Leeds stattfanden, wähnten zwar Fahrradfahrer demonstrieren. Weil stadt gespottet: Die für den 14. Juli ge- sich die Organisatoren offenbar ihrer Sache die Veranstaltung aber keinen Bezug zum plante Mega-Party fällt womöglich aus – in sicher. Die Firma Planetcom, die hinter der Tiergarten hat, würde der Senator sie dar- der Heimat des behäbigen Behördengangs Love Parade steht, reichte ihre Unterlagen aus verbannen. Eine Terminverschiebung haben es alle Beteiligten schlicht verschla- erst im Oktober ein. Als die Polizei ver- brächte die Love Parade allerdings in arge fen, dem Großereignis angemessene Struk- gangene Woche die Demonstrationen in Bedrängnis: Für den 21. Juli steht bereits turen zu verpassen. „Ein provinzielles Pos- zeitlicher Reihenfolge der Anmeldung der nächste Umzug in Newcastle an. senspiel“, urteilte der grüne Fraktionschef berücksichtigte, waren die Techno-Freaks Als sei nichts geschehen, mobilisiert des- im Bundestag, Rezzo Schlauch, vergange- konsterniert. Nitzsche: „Wir hatten nicht halb die Love-Parade-Firma im Internet nen Donnerstag mit einer Inbrunst, als zäh- einmal eine mündliche Andeutung.“ für den „14. Juli, 14 Uhr“. Notfalls will le auch er zu den spät berufenen Ravern. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist Planetcom klagen oder die Route ändern. Auch FDP-Überall Guido Westerwelle, Werthebach nicht mehr bereit, der Love „Wir haben Jahre an unserem Image ge- zweimal Mit-Demonstrant, will „den Kult Parade Sonderrechte einzuräumen. „Die arbeitet“, stöhnt Tourismuschef Nerger. Love Parade gegen überkritische Beden- sind davon ausgegangen, dass sie so wich- „Und jetzt lacht die ganze Welt über kenträger“ verteidigen. tig für Berlin sind, dass sie nicht darauf uns.“ Holger Stark

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Werbeseite Gesellschaft

MUTPROBEN Generation Kick Die einen wollen sich vor ihren Freunden beweisen, die anderen haben einfach nur Langeweile: Immer öfter suchen Jugendliche das lebensgefährliche Risiko. uerst ein Kribbeln in den Armen und Beinen. Dann Bilder aus der frühen ZKindheit, wie durch Milchglas ge- filmt. Alles in Zeitlupe. Etwa so erlebte Sa- PRESS ACTION brina, 12, eine Mutprobe, die sie zunächst S-Bahn-Surfer (in Hamburg): „Natürliche Angstgefühle in den Wind geschlagen“ in die Bewusstlosigkeit führen sollte und dann auf die Grenzlinie zum Tod. Jahren zugenommen“. Lebensgefahr statt sche Wodka in einem Zug leer. Nach An einem kalten Januarabend hatte sich Langeweile – eine neue Generation Kick. drei Tagen Koma starb er im Kranken- die Schülerin mit fünf Freunden im Trep- Manchmal auch der letzte: Um 21.42 haus. Motiv: Mutprobe. penschacht eines Hamburger Hochhauses Uhr alarmierten Sabrinas Freunde den • In Mecklenburg-Vorpommern über- getroffen. Irgendwann sagt einer aus der Notarzt. Das Mädchen kam auf die Inten- schüttete sich im Juli vergangenen Jah- Runde: „Spielen wir das Ohnmachtsspiel.“ sivstation der Universitätsklinik Eppen- res ein 16-Jähriger mit Benzin und ließ Sabrina ging dazu in die Hocke und atme- dorf. Erst nach drei Stunden war sie wie- sich von seinem 14-jährigen Freund an- te ein. Immer schneller, immer tiefer. Hy- der bei Bewusstsein. zünden. Drei Viertel der Haut ver- perventilation nennen es die Mediziner. Gegen ihre Clique läuft jetzt ein Verfah- brannte. Motiv: Mutprobe. Dann stand sie auf; Dominik, 16, fasste ihr ren wegen fahrlässiger Körperverletzung. • Im selben Jahr fuhr ein 20-Jähriger aus Wie trendy Todesmut unter Berlin mit seinem Fiat ein Autorennen Jugendlichen ist, hat der Köl- gegen einen älteren Konkurrenten. Der ner Sportsoziologe und Ju- Fiat prallte gegen ein entgegenkom- gendforscher Jürgen Raithel mendes Auto. Der junge Mann wurde in einer soeben veröffentlich- schwer verletzt. Motiv: Mutprobe. ten Studie untersucht. Er frag- • Der Bundesgrenzschutz verzeichnete im te 182 Jungen und Mädchen vergangenen Jahr in seiner Statistik 28 zwischen 13 und 17 Jahren: Kinder und 120 Jugendliche, die auf „Du bist mit Freunden unter- Bahnschienen verletzt oder getötet wur- wegs, und einige wollen etwas den. Häufiges Motiv neben Selbstmord- Waghalsiges unternehmen. versuchen: Mutprobe. Was würdest du tun?“ Experten erklären die Selbstüberschät- Jeder sechste Junge könnte zung mit dem Gruppendruck unter Gleich- sich vorstellen, ohne Seil an altrigen. Um sich bei Freunden einen Na- einer hohen Brücke herum- men zu machen, „werden die natürlichen zuklettern. Immerhin 10 Pro- Angstgefühle in den Wind geschlagen“, be-

RTC zent der Jungen und 3,6 Pro- obachtet Psychologe Thiel. Ohnmächtige Sabrina: Lebensgefahr statt Langeweile zent der Mädchen würden Bei den Jugendlichen kann die extreme ihre Courage beim S- oder U- Grenzerfahrung zur Sucht werden. Georg mit den Händen an den Hals und drückte Bahn-Surfen demonstrieren. Jeder zwölfte Romer, Oberarzt in der Kinder- und Ju- zu. Sabrinas Körper fiel nach wenigen Se- Junge hätte kein Problem damit, von einem gendpsychiatrie im Universitätsklinikum kunden zusammen. Der Körper zuckte, das Lastwagen abzuspringen, der mit 50 Kilo- Hamburg-Eppendorf, behandelt Teenies, Gesicht grinste. Nach 20 Sekunden hätte meter pro Stunde über die Straße braust. die jedes Angstgefühl aus ihrem Leben ver- sie die Augen wieder aufschlagen müssen, Die Mutprobenlisten der Forscher lesen bannt haben. So etwa den 14-Jährigen, der das wussten die Teenies von früheren Ver- sich wie ein Anleitungsbuch für Stuntmen: die Geländer auf Autobahnbrücken immer suchen dieser Art. Aber Sabrina wachte Auto-Surfen auf dem Dach, Inlineskaten wieder als Schwebebalken benutzte. Ro- nicht auf. am Heck eines Wagens (Car-Rafting), mer vermutet hinter dem Spiel mit dem „Pilotentest“ nennen es Jugendliche, Überqueren einer Autobahn bei Nacht. Tod häufig „eine erhebliche Traumatisie- wenn sie sich gegenseitig in Ohnmacht ver- Was sich Erwachsene beim Bungee-Jum- rung“. Jugendliche, die sich ihre Anerken- setzen. Psychologen kennen diese Art von ping oder River-Rafting holen, erhoffen nung nur noch über riskante Mutproben Mutprobe schon lange, auch frühere Schü- sich Jugendliche über verbotene Spiele: holten, seien „in ihrem Selbstwertgefühl lergenerationen suchten den Kitzel beim den kurzen Hochspannungsflash zwischen meist tief verletzt“. Kollaps. „Denn sie wissen nicht, was sie Angst- und Allmachtsgefühl. Doch was mal Pilotentesterin Sabrina genießt indes tun“, den Film über junge Auto-Raser, als sterbenslangweiliger Tag begann, endet Anerkennung ganz besonderer Art: „Auf drehte James Dean 1955. Doch nach der für manchen mit dem Tod oder schwersten dem Schulhof wollen alle wissen, was ich Erfahrung des Hamburger Familienpsy- Verletzungen: bei dem Spiel falsch gemacht habe.“ Ihre chologen Michael Thiel „hat die Risikobe- • Ein 16-Jähriger aus Brandenburg trank einzige Antwort: „Egal was. Spielt nie, nie reitschaft bei Jugendlichen in den letzten auf der Klassenfahrt in Ungarn eine Fla- dieses Spiel.“ Martin Knobbe

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Werbeseite Trends Wirtschaft

TABAK-SCHMUGGEL Geheime Zeugen it Spannung erwartet Haushalts- Mkommissarin Michaele Schreyer die für Mai anberaumte mündliche Ver- handlung vor dem New Yorker Richter Nicholas G. Garaufis über die Zulas- sung der Zivilklage der EU-Kommission gegen die US-Tabakkonzerne Reynolds und Philip Morris. In ihrer Klage be- schuldigt die Kommission die Konzerne, den Schmuggel mit Zigaretten in die Länder der Union gesteuert zu haben.

Dadurch seien der EU und den Mit- DPA gliedsstaaten mehrere Milliarden Euro Deutsche-Bank-Chef Breuer, designierter Nachfolger Ackermann an Steuern und Zöllen entgangen. Nach anfänglichem Zögern sind inzwischen DEUTSCHE BANK die meisten EU-Staaten der Klage bei- getreten. Der Anstoß zu dem unge- wöhnlichen juristischen Schritt kam von Reiche Vorstände einem US-Anwaltsbüro in Florida, das auch die Klageschrift weitgehend ver- ie Gehälter der Deutschen-Bank- die Vorgänger von Breuer und Co. ein- fertigt hat. Die Juristen lockten die EU DVorstände haben sich seit dem Jahr mal als strategisches Investment ange- 1995 mehr als verachtfacht: Jedes Mit- schafft. Zieht man alle außerordent- glied des höchsten operativen Gremi- lichen Erträge in Höhe von 6,1 Milliar- ums der Bank verdiente im vergange- den Mark vom Ergebnis des größten nen Jahr im Schnitt fast 16 Millionen deutschen Instituts ab, bleibt für das Mark. Der Grund: Seit 1998 beteiligt Jahr 2000 ein Gewinn von 7,1 Milliar- das Geldhaus seine Vorstände verstärkt den Mark. Zur Berechnung der Vor- am Erfolg des Unternehmens, schließ- standstantiemen aber wurde der Ge- lich sind Vorstandschef Rolf Breuer winn aus den Verkäufen natürlich be- und sein Nachfolger Josef Ackermann rücksichtigt. vehemente Vertreter des Shareholder-

AP Value. Vorstandsbezüge und Aktienkurs Vernichtung beschlagnahmter Zigaretten Die Wertsteigerung für Aktionäre sei der Deutschen Bank +751% oberstes Ziel, versicherten beide Mana- mit der Hoffnung auf Milliardenerträge ger immer wieder. Doch seither hat die Bezüge je Vorstand durch Schadensersatz aus den Konzern- Deutsche Bank vor allem ihre Vorstän- Veränderung seit 1995 in Prozent 600 kassen – bei geringem eigenem finan- de reich gemacht. Deren Gehälter sind ziellem Risiko. Die US-Anwälte arbei- seit 1998 um mehr als 350 Prozent ge- +425% ten auf der Basis eines hohen Erfolgs- stiegen, der Aktienkurs kletterte dage- 400 honorars. Falls Richter Garaufis die gen nur um knapp 40 Prozent. Das Er- Aktienkurs Klage akzeptiert, sollen Insider, deren gebnis des vergangenen Jahres ist dar- Veränderung seit Identität noch geheim gehalten wird, über hinaus durch den Verkauf wert- Anfang 1995 200 darüber aussagen, in welchen Firmen- voller Beteiligungen verzerrt. Vor allem in Prozent +89% +34% dokumenten Beweise über die Ver- hat sich die Deutsche Bank von Allianz- +27% strickung der Konzernbosse zu finden Aktien im Wert von über vier Milliarden 0 sind. Die Unternehmen müssten diese Mark getrennt. Diese Anteile hatten 1995 1996 1997 1998 1999 2000 Akten herausgeben.

INFOMATEC wohn der Ermittler. Im Zuge des Börsengangs, so geht aus dem Verkaufsprospekt hervor, hatten die Firmengründer Alex- WestLB unter Druck ander Häfele und Gerhard Harlos auch vier kleinere Unter- nehmen in die neu gegründete Infomatec AG eingebracht. ei den Ermittlungen der Augsburger Staatsanwaltschaft ge- Doch obwohl die Töchter zusammen nur rund 600000 Mark Bgen die seit November inhaftierten Gründer und Ex-Vor- Stammkapital aufwiesen und im Jahr 1997 ganze 21456 Mark stände der bayerischen Software-Firma Infomatec gerät nun Gewinn erwirtschafteten, wurden die Beteiligungen in der Bi- auch die Westdeutsche Landesbank unter Druck. Das Düssel- lanz mit einem Wert von über 16,5 Millionen Mark angesetzt. dorfer Kreditinstitut hatte den IT-Spezialisten, dessen Börsen- Als Ausgleich erhielten die Ex-Eigner jeweils über 1,6 Millio- kurs in den letzten zwölf Monaten um 98 Prozent eingebro- nen Aktien der Infomatec AG im Gegenwert von damals fast chen ist, im Sommer 1998 an den Neuen Markt gebracht und 100 Millionen Mark. Die Ermittler wollen nun klären, ob die das Unternehmen anschließend bei einer Kapitalerhöhung be- WestLB oder die Wirtschaftsprüfer, die den Wert der Firmen gleitet. Details der Finanztransaktion erwecken nun den Arg- ermittelten, womöglich ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben.

der spiegel 15/2001 123 Trends

AUFBAU OST Zweifel an Bonität ie Übernahme des ostdeutschen DStromerzeugers Veag durch die Hamburgischen Electricitäts-Werke AG (HEW) ist noch unsicher. Schwere Be- denken der ostdeutschen Bundesländer und der Bundesanstalt für vereinigungs- bedingte Sonderaufgaben (BvS), die dem Deal wie das Bundeskartellamt zwingend zustimmen müssen, sind noch nicht ausgeräumt. Die ostdeutschen Länder wollen sicher gestellt sehen, dass die Veag/HEW jährlich neben 50 Terrawattstunden eigenem Braunkohle- strom auch Strom aus dem Werk Schkopau langfristig verkaufen kann. Dazu müssten die Bewag und ihre Kun- den in den Absatz mit einbezogen wer- den. Und die BvS sorgt sich, dass die DPA ICE-Neubaustrecke

DEUTSCHE BAHN Zu viel Geld für Mehdorn illiardenzuschüsse bekommt die Deutsche Bahn AG (DB) vom Bund, doch sie Mhat Probleme, das Geld zeitgerecht zu verbauen. Das hat Bundeskanzler Ger- hard Schröder am vergangenen Donnerstag bei einem Gespräch mit Vertretern der Bauindustrie und Gewerkschaften in Berlin erklärt. Dabei geht es um zusätzliche sechs Milliarden Mark aus dem UMTS-Topf, die DB-Chef Hartmut Mehdorn mit Verweis auf die Finanzmisere der Bahn für die Jahre 2001 bis 2003 ausgehandelt hatte. Weil die Bahn in der Vergangen- heit Planungskapazitäten abgebaut hat,

T. HÄRTRICH / TRANSIT HÄRTRICH T. heißt es im Kanzleramt, könne sie nun die Kraftwerk Schkopau zusätzlichen Milliarden nicht fristgerecht abrufen. Die Gelder sollen jetzt ins jeweils HEW über ausreichend Bonität verfügt, nächste Haushaltsjahr übertragen werden. um im Zweifel die auf der Veag lasten- Nachdem in der Vergangenheit die inter- den Bürgschaften aus den Investitionen nen Strukturen auf schrumpfende Bun- für die Modernisierung des Unterneh- desmittel ausgerichtet waren, so ein DB-

mens zu schultern. Erforderlich wäre Sprecher, brauche nun die Verplanung des M. VEDDER / DDP eine Patronatserklärung des schwedi- unerwarteten Geldsegens etwas länger. Mehdorn, Schröder schen HEW-Gesellschafters Vattenfall.

TELEKOM slava ansässige Herold Tele Media (HTM). Die Forderungen stehen im Zusammenhang mit einem Zehnjahresvertrag, „der Ärger in der Slowakei unter anderem die Lieferung von Telefonbüchern für die ge- samte Slowakei vorsah“, sagt Günter Schuster, österreichischer ntschädigungszahlungen in Milliardenhöhe werden der slo- Geschäftspartner der HTM. Die ST habe diesen Vertrag jedoch Ewakischen Tochter der Deutschen Telekom abverlangt. Die mehrmals gebrochen. Als man gegen die ST einen Konkurs- vergangenen Sommer zu 51 Prozent von den Deutschen über- antrag gestellt habe, sei es zu dem Vergleich gekommen, be- nommene Slovenské Telekomunikácie (ST) soll 1998 im Rah- hauptet Schuster. Die Deutsche Telekom bezeichnet die men eines Vergleichs mehrere Wechsel im Gesamtwert von Ansprüche als „völlig haltlos“, so Sprecher Hans Ehnert: rund 40 Milliarden slowakischen Kronen (rund 1,8 Milliarden „Das sind alte Geschichten aus der Zeit, als die slowakische Mark) ausgestellt haben. Fälligkeit der ersten Tranche: Telekom noch ein Staatsunternehmen war.“ Etwaigen gericht- 1. April 2001. Als Begünstigte fungiert angeblich die in Brati- lichen Auseinandersetzungen sehe man gelassen entgegen.

124 der spiegel 15/2001 Geld

Aktien großer Nahrungsmittel-Unternehmen in Euro

2600 15 55 70 2400 14

45 2200 13 60 35 2000 12

50 1800 11 25

1600 Quelle: Thomson Financial Datastream 10 15 40 2000 2001 2000 2001 2000 2001 2000 2001

AKTIEN decken immer mehr Anleger das vermeintlich sichere Geschäft rund ums Essen und Trinken. Ob beim Branchenprimus Nest- Frisch aufgetischt lé, beim britisch-niederländischen Multi Unilever oder beim französischen Milchverarbeiter Danone – überall entwickelten ie gelten als langweilig, ihre Märkte als ausgereift – nen- sich die Aktienkurse deutlich besser als der Dax. Besonders Snenswertes Wachstum könnten Lebensmittelhersteller al- kräftig stiegen die Papiere des Tabakmultis Philip Morris, der lenfalls in den Schwellenländern Asiens und Südamerikas er- durch die Übernahme des Keksherstellers Nabisco zum welt- zielen, lauten die Urteile über die Nahrungsmittelbranche. weit zweitgrößten Nahrungsmittelkonzern nach Nestlé auf- Entsprechend zurückhaltend sind viele Analysten gegenüber rückte. Doch die Branche ist keineswegs vor Rückschlägen ge- Aktien von Nahrungsmittelkonzernen. Doch seit die Technolo- feit. So könnte etwa die in Brüssel diskutierte neue Zucker- giewerte von einem Tiefstand zum nächsten stolpern, ent- marktordnung den Höhenflug der Südzucker-Aktie stoppen.

NEUEMISSIONEN Mit Energie aufs Parkett aum ein Unternehmen wagt derzeit den Gang an die Börse. Gab es im ers- Kten Quartal vergangenen Jahres 46 Neuemissionen, so waren es in den ers- ten drei Monaten dieses Jahres nur 9. Die wenigen, die noch den Schritt aufs Parkett versuchen, sind meist Firmen aus Öko-Branchen. Erneuerbare Energien gelten als zukunftsträchtiges Geschäft, das allerdings einen Haken hat: Es ist stark abhängig von staatlichen Subventionen. Zuletzt ist mit Nordex ein Her- steller von Windkraftanlagen an den Neuen Markt gegangen – mit mäßigem Er- folg. Der Kurs liegt seit dem ersten Handelstag unter dem Ausgabepreis von neun Euro. In dieser Woche geben zwei weitere Öko-Unternehmen ihr Börsen- debüt: die Energiefirma Enro und der Biogasanlagen-Hersteller Farmatic. Ei- gentlich sollte auch die Solarfirma Conergy mit von der Partie sein, doch ver- gangenen Donnerstag sagte sie den Börsengang ab. „Auf Grund des schlechten Marktumfeldes“ sei eine erfolgreiche Platzierung nicht möglich, hieß es.

IMO Kürzlich rechnete Conergy noch damit, bis zu rund 19 Euro pro Aktie erlösen Windkraftanlage auf Fehmarn zu können, am Grauen Markt lag der Kurs jedoch nur bei etwa 10 Euro.

BÖRSE im Vordergrund. Unternehmen wie VA Aktienindizes ATX Technologie und Tabak haben Österreich 115 Aufschwung in Wien zuletzt Rekordergebnisse erzielt. Zu- dem sorgt das Privatisierungsprogramm 110 usgerechnet der als Operettenbörse der staatlichen Industrieholding ÖIAG, Averspottete Finanzplatz Wien hat die derzeit noch an Unternehmen wie 105 sich dem weltweiten Abwärtstrend an Austrian Airlines, Telekom Austria 100 den Aktienmärkten entziehen können. und dem Öl- und Gaskonzern OMV be- Dow Jones Seit Jahresbeginn legte der österreichi- teiligt ist, für Übernahmephantasien. 95 sche Index ATX um rund zwölf Prozent Sobald allerdings Technologiewerte wie- zu. Der überraschende Boom wurde der in Mode kommen, warnt Alfred 90 möglich, weil Technologietitel im Al- Reisenberger von der Bank-Austria- 85 penland kaum eine Rolle spielen. In Tochter CA IB Investmentbank, „ist Quelle: Thomson DAX Wien stehen stattdessen zyklische Titel es mit dem Aufschwung in Österreich Financial Datastream aus der Stahl-, Papier- und Bauindustrie vorbei“. Januar Februar März April 80

der spiegel 15/2001 125 Wirtschaft

Formel-1-Rennen (in Melbourne)

AUTORENNEN Weltmeister im Kassieren Die Formel 1 ist ein Riesengeschäft für Rennfahrer, Fernsehsender und Veranstalter – nur nicht für die Autohersteller. Das soll sich ändern, die Konzerne planen eine eigene Rennserie. Wenn sie Ernst machen, hat der Medienunternehmer Leo Kirch ein Milliardenproblem.

as Hotel Mövenpick am Flughafen Mit ihrer in Genf getroffenen Vereinba- Die Folgen einer Konkurrenzveranstal- in Genf beherbergte am ver- rung haben die Autokonzerne im Kampf tung zum Formel-1-Zirkus wären vor al- Dgangenen Dienstag eine Gruppe mit dem Medienimperium des Leo Kirch lem für zwei Unternehmen fatal – sie wür- hochkarätiger Gäste – die Vertreter der um die Vorherrschaft bei dem Milliarden- de „nicht nur dem ohnehin angeschlagenen führenden Autohersteller, die sich am For- geschäft Formel 1 eine neue Runde ein- einstigen Börsenstar EM.TV den Todesstoß mel-1-Zirkus beteiligen. Paolo Cantarella geleitet. Cantarella kündigte an, die Auto- versetzen, sondern auch Kirch in ernsthaf- (Fiat-Ferrari), Jürgen Hubbert (Mercedes- hersteller würden eine Gesellschaft grün- te finanzielle Schwierigkeiten bringen“ Benz), Burkhard Göschel (BMW) und den, die „so schnell wie möglich“ eine („Financial Times Deutschland“). Beide Wolfgang Reitzle (Jaguar) waren gekom- eigene Weltmeisterschaft für „einsitzige of- haben zusammen insgesamt 2,7 Milliarden men, um gemeinsam mit Juristen über die fene Rennwagen“ aufbaut. Dollar ausgegeben, um 75 Prozent an Zukunft der Rennserie zu beraten. Es wäre eine neue Rennserie, in der ab Ecclestones Firma Slec zu bekommen, die Das Ergebnis der Zusammenkunft, das 2007 Ferrari, Mercedes, BMW, Jaguar, alle Fernsehrechte an der Formel 1 ver- Cantarella am Mittwoch verkündete, sorg- Renault, Toyota und Honda um den Titel marktet. Wenn Schumacher und Co. aber te für knallige Schlagzeilen („Crash in der fahren könnten. Die dann anders heißt, nicht mehr in der Formel 1 fahren, son- Formel 1“, „Süddeutsche Zeitung“), er- aber den Zuschauern all das bietet, was dern in einer anderen Rennserie, hätten regte Kommentare (Formel-1-Organisator bislang weltweit rund 300 Millionen Men- Kirch und EM.TV mit ihren Milliarden, die Bernie Ecclestone: „Was ich in 30 Jahren schen vor die Fernsehschirme lockt, wenn teilweise mit Krediten der Bayerischen aufgebaut habe, kann in sechs Monaten ein Formel-1-Rennen stattfindet: spannen- Landesbank finanziert sind, einen Total- zerstört werden“) und für einen Kurssturz de Zweikämpfe, spektakuläre Unfälle, Trä- schaden erlitten. der Aktie des Rechtevermarkters EM.TV, nen des Weltmeisters vor laufenden Ka- Kirch-Geschäftsführer Dieter Hahn die zeitweise mehr als 20 Prozent ihres meras und gelegentlich ein Boxenluder, das bemühte sich, die Ankündigung der Auto- Wertes verlor. für Unruhe im Fahrerlager sorgt. bosse nur als weitere Karte in einem

126 der spiegel 15/2001 großen Poker um Macht und fordern. Die Autohersteller wollen auch Der Firma Allsport etwa obliegt die Ver- Milliarden erscheinen zu las- deshalb hart bleiben, weil sie die Gelegen- mietung der Werbebanden und die Bewir- sen. Hahn bot den Autoher- heit nutzen wollen, das gesamte Rennge- tung der Sponsorengäste, deren VIP-Kar- stellern an, sie könnten 25 Pro- schäft auf eine andere unternehmerische te bis zu 4000 Dollar kostet. Allein in zent der Anteile an der Slec Basis zu stellen. Hockenheim spielt der so genannte Pad- übernehmen und Vetorechte Schon länger stört die Autobosse, dass dock-Club rund 30 Millionen Mark ein, bei „Schlüsselentscheidun- die Formel 1 für viele Beteiligte ein großes weshalb Ecclestone einen Gewinnab- gen“ bekommen. Damit Geschäft ist, für Fahrer wie Schumacher, führungsvertrag mit dem Schweizer Dienst- könnten die Hersteller verhin- die bis zu 80 Millionen Mark im Jahr kas- leister geschlossen hat. dern, dass die Rennen nicht sieren, für Fernsehsender wie RTL, denen Bei ihrem Genfer Treffen sind sich die mehr im Free-TV zu sehen die Liveübertragungen durch Werbeein- Hersteller einig geworden, dass sie sich wären. nahmen einen Gewinn von mehr als 100 nicht mehr, wie ursprünglich mal geplant, Seit dem Einstieg Kirchs Millionen Mark einbringen, und vor allem an der Vermarktungsfirma Slec beteiligen fürchten die Automobilfirmen, für Chefvermarkter Ecclestone, der im ver- wollen. Denn mit dem Anteil an der Slec das Engagement des Medien- gangenen Jahr Schätzungen zufolge rund hätten die Firmen nur Zugriff und Einfluss unternehmers habe nur ein 300 Millionen Mark Gewinn einstrich. „Es auf einen Teil des Geschäfts rund um die Ziel: Er wolle die Liveüber- gibt nur einen, der zahlt“, so ein Automo- Formel 1. tragungen der Formel 1 lang- bilmanager, „und das sind wir.“ Die Her- Die Autofirmen, so ein Beteiligter zum fristig exklusiv in seinen Pay- steller investieren in dieser Saison zusam- SPIEGEL, „sind fest entschlossen, eine ei- TV-Sender Premiere World men mehr als eine Milliarde Mark in den gene Rennserie aufzubauen“, bei der die lenken, der im vergangenen Rennzirkus. Vermarktungsrechte dann nicht mehr auf Jahr einen Verlust von 1,3 Mil- Der unumstrittene Weltmeister im Kas- mehrere Unternehmen wie Slec, Allsport liarden Mark erwirtschaftete sieren ist seit jeher Ecclestone. Der eher und andere verteilt sind, sondern in einer und dringend Attraktionen mäßig begabte Hobbyrennfahrer hat die Firma vereint. Von deren Einnahmen sol- braucht, um neue Abonnen- Formel 1 zu einem Wirtschaftsunterneh- len dann die Rennteams und die Hersteller ten zu gewinnen. Dort aber men aufgebaut, er organisiert und ver- ihren Anteil bekommen. wäre nur ein Bruchteil der 14 marktet sie. Ecclestone lässt Teams und Viele Beobachter wie Medienanalyst Millionen Zuschauer zu er- Übertragungstechnik mit Jumbos zu den Friedrich Schellmoser von der HypoVer- reichen, die beispielsweise Übersee-Rennen fliegen, er reserviert die einsbank werteten den Vorstoß der Indu- am vorvergangenen Sonntag Hotels, er lässt die Programmhefte drucken. strie vergangene Woche noch als „Sä- bei RTL den Großen Preis Vor allem aber hat Ecclestone ein schwer belrasseln“. Sie halten es für unwahr-

DPA von Brasilien sahen und die durchschaubares Firmengeflecht geschaf- scheinlich, dass die Autofirmen bei der Sponsoren und Werbepart- fen, das ihm seine Einnahmen sichert. Formel 1 aussteigen. So könnten die Her- nern als Basis für ihre Zahlungen dienen. Tatsächlich wurde innerhalb der Kirch- Gruppe im Herbst 2000 diskutiert, die attraktive Formel 1 komplett ins Pay-TV zu holen. „Die exklusiv zu zeigen, wäre mein Wunsch“, erklärte Premiere-Sport- chef Carsten Schmidt. Inzwischen versichert Kirch-Manager Hahn, dies sei nicht geplant. Den Autofir-

men aber reicht das nicht. „Die Führung (li.);A. FROESE / CARO (re.) BONGARTS der Formel 1 durch ein Medienunterneh- Medienunternehmer men“, so Mercedes-Chef Hubbert, „steht Kirch, DaimlerChrysler- für eine ungewisse Zukunft.“ Er fürchtet Manager Schrempp, Boxenstopps im Zehn-Runden-Takt und 25 Haug statt 17 Rennen pro Saison, wenn es die Poker um die Macht Quoten von Kirch oder anderer Sender er- und um Milliarden

Das schnelle Geld Finanzen in der Formel 1 Firma Rennver- steller für eine neue Rennserie kaum die ALLSPORT anstalter bisherigen Formel-1-Rennstrecken nutzen, Treuhänder Leo Kirch führt Ge- zahlen in der Schweiz München winne aus Antrittsgage weil die durch Verträge langfristig gebun- Strecken- den seien. 100% 75% werbung TV-Sender Doch die Industrie hat längst weiter ge- und VIP- zahlen für plant. Für fast jede Formel-1-Strecke gibt es Bambino SLEC Holdings „Paddock im gleichen Land eine Alternative. „Wenn 25% Jersey Fernseh- Holdings Club“ ab rechte sich die Teams einig sind, fahren wir nicht Jersey Geschäftsführer: Bernie Ecclestone in Barcelona, sondern in Valencia und statt auf dem Hockenheimring auf dem 100% Lausitzring. Wir nennen es nicht Formel 1, sondern Formel @“, sagt ein britischer Formula One Management London Teamchef. Startgeld, Preisgeld, Ob dies der neue Name der Rennserie Formel-1-Teams und Anteil der TV-Erlöse Sponsoren wird, kann bezweifelt werden. Dennoch Ferrari, McLaren-Mercedes, BMW-Williams, Benetton-Renault, zahlen für scheuen die Autohersteller vor einem Er- BAR-Honda, Jordan-Honda, Arrows, Sauber, Jaguar, Minardi, Prost Werbung satz des Markennamens Formel 1 nicht grundsätzlich zurück. Der Fußball-Euro-

der spiegel 15/2001 127 papokal wurde schließlich auch in Cham- pions-League umbenannt, ohne dass des- halb weniger Zuschauer die Spiele sehen. Entscheidend scheint nur, dass die Spit- zenmannschaften dabei sind. Die Erfahrungen der Autoindustrie mit dem Versuch, eigene Rennserien zu orga- nisieren, sind bislang allerdings eher ernüchternd. So hatten Audi, BMW, Opel und Mercedes-Benz Ende der achtzi- ger Jahre die Deutsche Tourenwagen- Meisterschaft an sich gerissen. Mit rühren- den Aktionen versuchten die Hersteller, die Rennen spannend zu halten. Siegreiche Autos wurden beim nächsten Lauf mit Zusatzgewichten belastet. Es half alles nichts. Schließlich gaben die Firmen im Streit um die Regularien die Serie wie- der auf. Ihre Alternative zur Formel 1 wollen die Hersteller deshalb erst gar nicht selbst organisieren. Ein Komitee wie der Inter- nationale Automobil-Verband FIA, der derzeit das Reglement für die Formel 1 auf- stellt und überwacht, würde von den Fir- men damit beauftragt. Wenn den großen Autokonzernen das Projekt tatsächlich gelänge, wäre neben Medienunternehmer Kirch vor allem For- mel-1-Macher Ecclestone betroffen, dem dann fast die gesamte Geschäftsgrundlage entzogen würde. Noch macht der 70-Jährige in Optimis- mus. Die nächsten fünf Jahre will er wei- terhin Chef der Slec bleiben und gemein- sam mit Kirch eine Option nutzen, um vom Internationalen Automobilverband FIA für 360 Millionen Dollar die Fernsehrechte an der Formel 1 vom Jahr 2007 an zu kaufen – für 100 Jahre. Den Plänen der Autofirmen gibt Eccle- stone wenig Chancen. Große Sponsoren und Fernsehgesellschaften würden ihr In- teresse verlieren, wenn die Serie in zwei ri- valisierende Veranstaltungen aufgeteilt würde. Ecclestone und Kirch hoffen, dass die Front der Autohersteller nicht geschlossen bleibt. Wer sage denn, dass alle so hart blieben wie DaimlerChrysler mit dem Kon- zernchef Jürgen Schrempp und dem Renn- sportleiter Norbert Haug? Doch wenn die Autokonzerne Ernst ma- chen, gibt es wohl nur eine Serie: die der Hersteller, mit den bekannten Teams und den populären Fahrern. Ecclestone und Kirch hätten dann für ihr vieles Geld den schönen Namen Formel 1 – und sonst gar nichts. Zumindest einer, der in Deutschland und Italien für einen guten Teil der Formel- 1-Begeisterung verantwortlich ist, beob- achtet den Machtkampf um die Zukunft der Serie recht gelassen. Weltmeister Mi- chael Schumacher würde es nicht stö- ren, wenn sich 2007 alles ändert: „Ich glau- be nicht, dass ich dann noch Formel 1 fahre.“ Dietmar Hawranek, Hans-Jürgen Jakobs, Alfred Weinzierl

128 der spiegel 15/2001 Wirtschaft

verantwortlich ist, Boss der Firma ist Takashi Sonobe. Jeden Morgen um acht Uhr setzt sich Eckrodt mit Sonobe für eine Stunde zu- sammen und spricht alle Sanierungsschrit- te ab. Verkündet werden sie gemeinsam. „Der Mann hat Courage“, lobt Eckrodt. Sonobe zog mit, als es darum ging, 9500 Arbeitsplätze zu streichen und eine Fa- brik zu schließen. Sonobe sieht ein, dass die Produktion von zwei Luxusmodellen eingestellt werden muss, die vor allem Mitsubishi-Managern als standesgemäße Dienstwagen dienten, aber für einen or- dentlichen Verlust sorgten. Und Sonobe wehrte sich nicht gegen die Entscheidung, den Produktionsstart eines neuen Modells zu verschieben, weil die Qualität nicht den Ansprüchen des Deutschen genügte. Ganz so offen war das Verhältnis kei- neswegs von Beginn an. Kurz bevor die Deutschen nach Tokio kamen, versuchte

AP die alte Mitsubishi-Führung noch mit klei- Mitsubishi-Manager Sonobe, Eckrodt: „Der Mann hat Courage“ nen Tricksereien, deren Einfluss zu be- schränken. Sie beschloss, dass künftig nur Fernsehen guckten, wurden gekündigt. Al- noch der Präsident, Sonobe, die Tagesord- AUTOINDUSTRIE lein die Anwesenheit der Ex-Bosse hatte nung für Vorstandssitzungen festlegen darf. oft verhindert, dass ihre Nachfolger frühe- Es fällt japanischen Managern schwer, Heißer Job re Entscheidungen änderten. Dieses Sys- sich daran zu gewöhnen, dass ausländische tem, befand Eckrodt, „war ein Desaster“. Das Wort kann als Beschreibung für so Zuschussgeschäft in Tokio vieles bei Mitsubishi Motors gelten. Der fünftgrößte japanische Autohersteller hat Firmendaten der Der Daimler-Manager Rolf Eckrodt für die Zahl der Autos, die er verkauft, zu Mitsubishi Motors soll den japanischen Autobauer viele Beschäftigte, zu viele Fabriken und zu viele verschiedene Modelle. Das Design 65,4 Mitsubishi mit westlichen Metho- ist oft langweilig, die Qualität lausig und den sanieren. Das Problem: das Image nach einer riesigen Rückruf- UMSATZ 56,6 Boss ist ein anderer, ein Japaner. aktion ramponiert. Zusammenfassen lässt in Milliarden Mark weltweit sich die Lage auch in zwei Zahlen: Der 59,1 itunter genügt die Anwesenheit Verlust erreichte die Rekordhöhe von 4,8 52,8 50,4 von zwei jungen Frauen, um allen Milliarden Mark, und die Schulden addie- 49,0 Mzu zeigen, dass hier gerade so et- ren sich auf 30 Milliarden Mark. was wie eine kleine Revolution stattfindet. Da ist schon eine kleine Revolution Am Montag dieser Woche beispielsweise, nötig, um die Firma wieder profitabel zu wenn sich in Tokio das Design-Komitee machen. Und kaum einer ist darauf so an- GEWINN/VERLUST von Mitsubishi Motors Corporation (MMC) gewiesen wie der Mann, der Eckrodt nach nach Steuern in Millionen Mark weltweit trifft: Erstmals werden dabei nicht aus- Tokio entsandt hat: DaimlerChrysler-Chef +176,2 +166,2 schließlich Männer, vornehmlich über 60 Jürgen Schrempp. +91,3 –457,3 Jahre alt, über das Aussehen künftiger Mo- Am Mittwoch dieser Woche muss er auf delle befinden, sondern auch zwei Frauen. der Hauptversammlung des Konzerns sei- Schließlich sollen die neuen Autos beson- ne Strategie einer Welt AG verteidigen, zu ders jungen Familien und Singles gefallen. der neben der Übernahme von Chrysler –1373,3 In einem Unternehmen wie Mitsubishi, auch der Einstieg bei Mitsubishi zählt. Soll in dem Männer jahrzehntelang nach dem das ganze Unterfangen nicht scheitern, Senioritätsprinzip befördert und Frauen al- müssen die zu Chrysler und Mitsubishi lenfalls auf unteren Ebenen geduldet wur- geschickten Sanierer Dieter Zetsche und VERKAUFTE AUTOS –4833,0 den, wäre dies vor kurzem noch unvor- Rolf Eckrodt schnell Erfolg haben. Wobei in tausend Stück weltweit stellbar gewesen. der Job in Tokio eine Reihe besonderer 1843 1846 1840 Wie so vieles, seit 20 DaimlerChrysler- Schwierigkeitsgrade enthält. 1803 Manager unter Leitung von Rolf Eckrodt DaimlerChrysler besitzt, selbst nach der bei dem angeschlagenen japanischen Au- geplanten Übernahme eines 3-Prozent-An- tobauer mehr und mehr das Kommando teils, den Volvo bislang hält, nur 37 Prozent 1625 übernehmen. 16 japanische Spitzenmana- von Mitsubishi Motors. Der Mischkonzern ger wurden entlassen, darunter 4 Vor- Mitsubishi, zu dem auch Stahl-, Elektronik- standsmitglieder. Und die Beraterverträge und Chemiefirmen gehören, ist noch mit mit 60 ehemaligen Führungskräften, die 23 Prozent an Mitsubishi Motors be- 1577 nach der Pensionierung traditionsgemäß teiligt. Und wenngleich Eckrodt für das weiter ins Büro kamen, Zeitung lasen und gesamte operative Geschäft bei MMC 1995 96 97 98 99 2000

der spiegel 15/2001 129 Wirtschaft AFP / DPA Mitsubishi-Designstudie (auf der Taipeh-Autoshow 2000): Das Image ist ramponiert

Konzerne wie Renault bei Nissan oder Eckrodt sagt, er fühle sich in seinem Job Ford bei Mazda die Macht übernehmen. „sauwohl“. Seine Aufgabe ist, so betrach- Mittlerweile genießt zwar Carlos Goshn, tet, sauschwer. der von den Franzosen bei Nissan als Sa- Wichtige Finanzzahlen liegen gar nicht nierer eingesetzt wurde, in Japan be- oder zu spät vor, ein funktionierendes Con- trächtliche Anerkennung, weil er das Un- trolling muss erst aufgebaut werden. Müh- ternehmen schnell in die Gewinnzone steu- sam erarbeiten sich die DaimlerChrysler- erte. Bei Mitsubishi Motors aber musste Abgesandten ein realistisches Bild von der die Einsicht erst reifen, dass die Firma ohne wirtschaftlichen Lage bei Mitsubishi. Ob fremde Hilfe nicht überleben könnte. sie schon alle Schwachstellen entdeckt ha- Die alte Führung wähnte sich lange Zeit ben, vermag zurzeit allerdings noch kei- unantastbar, weil die Firma zu einem der ner zu sagen. größten Konzerne der Welt gehört. Sie trat Während bislang fast alle Teile in Japan selbstbewusst bis arrogant auf, gerade so, eingekauft werden, soll das Material künf- als sei sie noch so erfolgreich wie Anfang tig deutlich billiger weltweit beschafft wer- der neunziger Jahre. den. Die Zahl der verschiedenen Plattfor- Damals fuhr Japans Autoindustrie gera- men für Mitsubishi-Modelle soll halbiert de in die Flaute, aber Mitsubishi konnte werden, um die Kosten zu senken. Und sich dem Trend entgegenstemmen: Mit mit pfiffigem Design für neue Fahrzeuge Freizeit- und Geländewagen wie dem Pa- will Eckrodt der Marke langsam ein mo- jero eroberte der Hersteller eine Marktni- dernes Image verschaffen. sche. Die heimischen Autokäufer, die zu- Auf einen schnellen Erfolg aber, wie er vor meist in weißen, langweiligen Limou- seinem Konkurrent Goshn bei Nissan ge- sinen fuhren, liebten den Pajero geradezu. lang, kann er nicht hoffen. Der Renault- Der klotzige Geländewagen symbolisierte Abgesandte ist Boss der Firma und muss für viele eine kleine Flucht vor Arbeit und sich nicht mit einem Japaner abstimmen. häuslicher Enge. Vor allem aber kann er kostengünstig her- Mitsubishi setzte vor allem auf den Pa- gestellte Motoren und Getriebe von jero und auf Technik, 1995 präsentierte das Renault bei Nissan einsetzen, weil beide im Unternehmen stolz den ersten direktein- Massenmarkt aktiv sind. Mercedes-Benz- spritzenden Benzinmotor der Welt. Doch Antriebe dagegen können kaum helfen, man vernachlässigte die übrigen Pkw-Mo- die Kosten bei Mitsubishi zu senken. delle, den Vertrieb und das Design. Mit- Die Japaner müssen künftig auf Ge- subishis Personenwagen gelten als lang- meinschaftsentwicklungen mit Chrysler weilig. In Europa ist die Marke ein Exot setzen. Bis die neuen Modelle auf den und verkauft weniger Autos als der korea- Markt kommen, vergehen noch Jahre. nische Hersteller Hyundai. Doch schon im laufenden Geschäftsjahr, In der Führung wagte niemand, den so die Vorgabe von DaimlerChrysler-Boss Kurs in Frage zu stellen. Es herrschte das Schrempp, muss Mitsubishi aus der Ver- Konsensprinzip, und so steuerten die Bos- lustzone kommen. se das Unternehmen in trauter Gemein- Der Sanierungsplan sieht das vor. Doch samkeit in die Krise. Erst als die Verluste Eckrodt weiß, „Pläne sind Pläne“, aufs übermächtig wurden, suchte der Mutter- Umsetzen komme es an: „Jetzt beginnt konzern Mitsubishi einen Partner und ge- die heiße Phase.“ Dietmar Hawranek, stattete DaimlerChrysler den Einstieg. Wieland Wagner

130 der spiegel 15/2001 Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Bist du auf dem richtigen Weg?“ Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und Dresdner-Bank-Vorstandssprecher Bernd Fahrholz über Versicherungsvertreter in Bankfilialen, Kundenwünsche und ihren Versuch, den Finanzkonzern der Zukunft zu schmieden

SPIEGEL: Herr Schulte-Noelle, erinnern Sie sich noch an den Ausspruch: „Wer alles für jeden sein will, könnte damit enden, dass er nichts für niemanden ist“? Schulte-Noelle: Der Satz stammt von mir, weil ich mich immer gegen das Wort „All- finanz“ gesperrt habe. Der Begriff ist mir zu breiig, zu unspezifiziert, zu umfassend. SPIEGEL: Und doch steckt hinter Ihrer Über- nahme der Dresdner Bank genau diese Idee: Der Kunde soll alles aus einer Hand kaufen können – Aktien, Versicherungen und Bausparpläne. Es entsteht genau jener „Finanzbauchladen“, den ihr Vorgänger Wolfgang Schieren strikt ablehnte. Schulte-Noelle: Versicherer und Banken ta- ten in der Vergangenheit gut daran, ihre Geschäfte sauber zu trennen. Aber die Zei- ten haben sich geändert, und das liegt vor

allem an der Altersvorsorge, bei der wir SCHEIBLE W. alle uns nicht mehr allein auf den Staat verlassen können. Die Folge: Versicherun- Der Chef und sein Vize gen und Banken bieten heute schon ne- Henning Schulte-Noelle (l.), 58, ist promovierter Jurist. Er kam 1975 zur Allianz und beneinander ihre Produkte an, diese Über- zog 1991 in den Vorstand ein, dessen Vorsitz er noch im selben Jahr übernahm. Nach lappungen werden weiter zunehmen. Die den gescheiterten Fusionsversuchen zwischen Deutscher und Dresdner Bank sowie Trennung von gestern ist damit längst auf- zwischen Dresdner Bank und Commerzbank im vergangenen Jahr, bei denen die gehoben, ganz ohne mein Zutun. Allianz nur im Hintergrund agierte, betrieb er die Übernahme der Dresdner Bank SPIEGEL: Schon heute verkauft der Allianz- aktiv. Deren Vorstandssprecher Bernd Fahrholz, 53, ebenfalls Jurist, ist erst seit elf Vertreter bei Bedarf Aktienfonds, und am Monaten im Amt. Nach der Fusion wird er Schulte-Noelles Stellvertreter. Schalter der Dresdner Bank gibt es Le- bensversicherungen. Warum mussten Sie gleich eine ganze Bank kaufen, um Ihre beider Häuser wird immer wichtiger. Auch Schulte-Noelle: Bei Altersvorsorge, Kapi- Allfinanz-Idee umzusetzen? die Koordination der verschiedenen Ver- talbildung und Vermögensverwaltung Schulte-Noelle: Weil wir heute eine stärke- triebswege gewinnt an Bedeutung. bringt uns der gemeinsame Auftritt weiter. re Integration brauchen, die weit über die SPIEGEL: Das klingt sehr nach Manager-La- Der Kunde will nicht zu fünf verschiede- lockere Kooperation hinausgeht. Die Fein- tein. Was heißt denn „Feinabstimmung“, nen Adressen rennen, um sich für später abstimmung zwischen der Produktpalette „Integration“, „Koordination“? abzusichern.

Feine Adressen Die größten Vermögensverwalter der Welt Die neue Finanz-Allianz Verwaltetes Vermögen im Mrd. Euro Dresdner UBS, Schweiz 1621 Allianz Bank Kampo, Japan 1162 Jahresüberschuss 2000 Allianz/Dresdner 750 272 1022 nach Steuern Mrd. Euro Mrd. Euro 3,4 1,7 Fidelity, USA 996 Credit Suisse, Schweiz 930 Mitarbeiter 2000 119700 51456 Axa Gruppe, Frankreich 893 davon im Ausland über 65% 18 % Barclays, Großbritannien 881 State Street, USA 791 verwaltetes JPMorgan Chase, USA 691 Vermögen 2000 750 Mrd. Euro 272 Mrd. Euro Deutsche Bank 629

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Fahrholz: Das ist auch unsere Erfahrung. Bank erfolgte. Genau das ist ein Beispiel aus den achtziger Jahren, wo Allfinanz- Der Kunde will nicht ständig neue Leute für das Potenzial dieses Deals. konzepte gescheitert sind. Aber das ist lan- kennen lernen, die mit ihm über Geld re- SPIEGEL: Darauf hat der Kunde also gewar- ge her, heute sind integrierte Finanz- den. Ich hatte ein Schlüsselerlebnis: Als tet, glauben Sie? dienstleister wie Citigroup oder Fortis sehr der Merger mit der Deutschen Bank schei- Fahrholz: Warum soll denn der Kunde nicht erfolgreich. Lassen Sie es uns probieren. terte, haben wir Tausende von Fällen er- bereit sein, sich unsere Vorschläge zumin- SPIEGEL: Herr Fahrholz, was macht Sie lebt, in denen Kunden unseren Mitarbei- dest mal anzuhören. Wenn er dann trotz- denn so sicher, dass Ihre Kunden nicht wie- tern Blumensträuße oder Champagnerfla- dem zur Sparkasse geht, ist das okay. Fein. der mit Champagner und Blumen in die Fi- schen geschenkt haben. Sie sagten: Wir Dann sind wir nicht gut genug. Dann wer- lialen kämen, wenn die Übernahme durch sind froh, dass wir dich behalten. Dich, un- den wir das Produkt und den Service ver- die Allianz doch noch platzen würde? seren Berater! Deshalb macht dieser Zu- bessern. Aber die Grundidee des Mergers Fahrholz: Herr Schulte-Noelle hat nicht vor, sammenschluss mit der Allianz für uns so ist es, dem Kunden mehr Möglichkeiten erst die grüne Farbe wegzunehmen und viel Sinn. Unsere Betreuer werden noch zu eröffnen. Ich sehe nicht, wo in diesem dann unsere Mitarbeiter rauszusetzen. Er wertvoller für das Unternehmen und für Konzept ein Denkfehler stecken sollte. wird nicht 25 Milliarden Euro in die Hand den Kunden, sie können künftig viel um- SPIEGEL: Vielleicht handelt es sich eher um nehmen, um anschließend den Wert zu fassender beraten. einen Praxisfehler: Viele Kunden wollen vernichten. Der Wert sind die Kunden und SPIEGEL: Noch einmal: Warum reicht die möglicherweise gar nicht den Service aus die Bankberater. Das Interesse des Auf- jahrelange Kooperation zwischen Allianz einer Hand, weil sie sich selbst informiert käufers ist es doch, an deren gewachsene und Dresdner nicht mehr aus, warum haben, weil sie sich bei den Banken die Beziehung heranzukommen, sie auszu- bauen und daran ein Additivum dranzu- kleben. Das ist doch logisch. SPIEGEL: Die Dresdner Bank besitzt auch ein umfangreiches Firmenkundengeschäft, ein eigenes Immobiliengeschäft und ein weltweit aktives Investmentbanking. Wer- den diese Teile jetzt abgestoßen? Schulte-Noelle: Nichts wird abgestoßen, nichts wird zerlegt und weitergereicht. Es gibt auch im Firmenkundenbereich viel Po- tenzial für eine Zusammenarbeit. Die Al- lianz hat rund zwei Millionen Firmenkun- den, die Dresdner Bank rund 165 000, und viele interessieren sich für das Thema be- triebliche Altersvorsorge, die mit der Ren- tenreform enorme Bedeutung gewinnt. Bank und Versicherung haben, wenn sie ihr Zusammenspiel gut organisieren, gera- de den Firmenkunden viel zu bieten. SPIEGEL: Was wird aus der Investment- bank? Schulte-Noelle: Das Investmentbanking be- trachte ich als echte Bereicherung: Wir werden noch sehr viele Fusionen, Über- nahmen und Börsengänge erleben. Da füh-

T. WEGNER T. le ich mich ganz wohl, dass wir nun auch Dresdner-Bank-Filiale (in Offenbach): „Weit über eine lockere Kooperation hinaus“ eine leistungsfähige eigene Investmentbank im Verbund haben. Zumal wir selbst Be- müssen die Firmen jetzt verschmolzen besten Angebote rauspicken, weil ihnen teiligungen an Firmen halten, die fusionie- werden? die Allfinanzidee eher suspekt ist. ren oder an die Börse gehen könnten. Die- Fahrholz: Der springende Punkt ist doch: Fahrholz: Aber wir wollen den Kunden ja se Dienstleistung können wir dann auch Als voll integrierter Finanzdienstleister auf der Produktseite nicht an eine Kon- im eigenen Haus erbringen. können wir mehr verkaufen als mit den zernwelt binden. Es lebe die Vielfalt, ich SPIEGEL: Ein Verkauf ist ausgeschlossen? bisher üblichen Kooperationsmodellen, kann mir sehr gut vorstellen, dass wir in be- Schulte-Noelle: Das ist kein Thema für uns. weil wir einen engeren Kontakt zu den stimmten Bereichen auch Konkurrenzpro- Fahrholz: Wir werden die Investmentbank Kunden haben. Wenn eine Lebensversi- dukte anbieten, also eine offene Architek- rechtlich selbständig machen, voraussicht- cherung fällig wird, weiß doch die Versi- tur schaffen. Unser Ziel ist es, den Kunden lich als Aktiengesellschaft. Dann können cherung vorher sehr genau: Da wird eine für uns zu gewinnen. Wir wollen ihn über- wir die Mitarbeiter beteiligen und sie noch größere Summe frei – und der Kunde zeugen, dass wir seine vielfältigen Bedürf- stärker an das Unternehmen binden. Zu- braucht eine kompetente Beratung. nisse am besten befriedigen können. mindest ein Teil-Börsengang ist dann sinn- SPIEGEL: Und dann ist der freundliche Be- SPIEGEL: Ihr Allfinanzkonzept ist selbst un- voll. Doch die Mehrheit bleibt in der Grup- rater von der Dresdner Bank flott zur Stel- ter Experten umstritten. Die Deutsche pe, das ist entschieden. le und hat die Lösung? Bank hat es ausprobiert – und ist geschei- SPIEGEL: Alles bleibt im Konzernverbund, Fahrholz: Bisher ist dieses Geld nur teil- tert. Der Deutsche Herold und die Gerling keine Filialschließungen, keine Entlassun- weise im Umfeld der Allianz angelegt wor- Versicherung, die das Banksortiment ab- gen: Dennoch sprachen Sie öffentlich von den. Aber die Kunden fragen ihren Ver- runden sollten, stehen zum Verkauf. einem Gewinnanstieg pro Allianz-Aktie treter natürlich: Was machen wir jetzt mit Schulte-Noelle: Gerling ist hauptsächlich In- von 13 Prozent – ist das präzise Berech- dem Geld? Bisher haben die Allianz-Mit- dustrieversicherer, das können Sie nicht nung oder eher ein Schuss ins Blaue? arbeiter nicht gerade intensiv daran gear- als Teil eines Allfinanzkonzeptes werten. Fahrholz: Weder ins Blaue noch ins Grüne. beitet, dass diese Anlage bei der Dresdner Sie finden aber in der Tat viele Beispiele Das ist schon richtig und voll ins Schwarze.

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Werbeseite Schulte-Noelle: Dieser Zusammenschluss wirkt sich von Anfang an positiv auf die Er- träge aus, das finden Sie weltweit nur bei wenigen Transaktionen dieser Art. Zumal die Tendenz steigend ist, die Gewinne wer- den auch in den Folgejahren kräftig zule- gen. Ich glaube, das ist ein ausgesprochen attraktiver Aspekt des Ganzen. SPIEGEL: Viele Analysten misstrauen Ihnen. An der Börse notieren Allianz-Aktien seit der Verkündung der Übernahme deutlich schwächer als der Dax. Schulte-Noelle: Manche Analysten haben Zweifel angemeldet. Andere müssen noch tiefer in die Materie einsteigen, weil es ein komplexer Deal ist. Die Ertragssynergien haben wir noch gar nicht genau errechnet – und daher auch nicht kommuniziert. SPIEGEL: Beim Vorstand wird schon mal kein Geld gespart. Der wird vergrößert. Schulte-Noelle: Der Holding-Vorstand ver- größert sich von neun auf zwölf, das ist richtig. Das brauchen wir auch, weil das Unternehmen größer und komplexer wird. SPIEGEL: In welchen Bereichen soll denn Geld gespart werden? Schulte-Noelle: Es geht uns nicht um Ein- sparungen, sondern um künftiges Wachs- tum. Warum reichen Ihnen denn die 13 Prozent Gewinnsteigerung nicht? Dass so etwas im ersten Jahr passiert, ist ohnehin ungewöhnlich. Jetzt wollen wir alles Wei- tere gründlich, sauber, professionell und mit den Fachleute ausrechnen. Von Luft- nummern halten wir nichts. Fahrholz: Es war das Anliegen von Herrn Schulte-Noelle und mir, auf gar keinen Fall einen „Leak“, also ein Informationsleck, zuzulassen. Das heißt, wir mussten die Ar- chitektur des Deals im kleinsten Kreise dis- kutieren. Wenn Sie das tun, haben Sie al- lerdings keine Chance, seriös die Synergi- en zu rechnen. Denn dafür brauchen Sie die Fachabteilungen. Deshalb werden jetzt die Details nachgeliefert. SPIEGEL: Es sind nicht allein die fehlenden Daten, die zur skeptischen Beurteilung an den Finanzmärkten führen. Viele haben das Gefühl, die Dresdner Bank sollte zwei- mal verkauft werden, zweimal hat es nicht geklappt, jetzt übernimmt die Allianz selbst die Sanierungsarbeit. Denn die Bank steht nicht so glänzend da: Wenn Sie die außer- ordentlichen Erträge abziehen, bleibt für das vergangene Jahr ein operativer Verlust von rund einer Milliarde Mark. Schulte-Noelle: Eine schöne Geschichte, aber sie stimmt halt nicht. Es ist nicht rich- tig, dass wir zweimal versucht hätten, unse- re Beteiligung loszuschlagen. Wir wollten bei dem geplanten Zusammenschluss der Dresdner Bank mit der Deutschen Bank eine für uns gute Lösung – das sind wir un- seren Aktionären schuldig. Obendrein woll- ten wir einen Beitrag zur Restrukturierung des deutschen Bankenwesens leisten. Aber wir haben da nicht den Taktstock gehoben und gesagt: Jetzt wird fusioniert. Das haben die aus eigenem Antrieb getan.

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SPIEGEL: Sie haben nicht den, wie gehabt. Unten wird irgendwo „Al- den Taktstock geschwun- lianz Gruppe“ stehen. Das ist alles. gen, aber die Noten ver- SPIEGEL: Herr Fahrholz, nach 129 Jahren teilt, nach denen andere verliert die Bank ihre Unabhängigkeit. Ist spielen durften. Ihnen der Abschied schwer gefallen? Schulte-Noelle: Wenn das Fahrholz: Natürlich habe ich in den letzten wirklich so gewesen Nächten nicht blendend geschlafen. Man wäre, frage ich mich, fragt sich immer wieder: Bist du auf dem warum das Stück nicht richtigen Weg oder nicht? Aber wenn Sie zu Ende gespielt wurde. die Argumente abwägen – das haben mei- Fahrholz: Ich war ja da- ne Kollegen und ich intensivst getan –, bei, die Anstöße für die dann gibt es ein klares Ja. Ja, das ist gut für Gespräche mit der Deut- die Dresdner Bank. schen Bank und später SPIEGEL: Der Ehrenvorsitzende Ihres Auf- der Commerzbank ka- sichtsrates, Herr Röller, soll gegen diesen men nicht aus München. Schritt gewesen sein. SPIEGEL: Wir haben viele Fahrenholz: Ich habe mit ihm gesprochen,

Megamergers erlebt, die SCHEIBLE W. und zwar am Donnerstag letzter Woche. wenig erfolgreich waren Schulte-Noelle, Fahrholz beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Da wusste er schon alles aus der oder sogar gescheitert „Von Luftnummern halten wir nichts“ Zeitung. sind. Was wollen Sie Fahrholz: Es gab eben leider ein Leak, und besser machen als die Manager von Daim- durchzuführen, ohne viel öffentliches Tam- ich bin dann zu ihm gegangen und habe lerChrysler oder Krupp/Thyssen? tam, ohne Verletzungen bei den Beteilig- ihm anhand der Unterlagen die Ratio die- Schulte-Noelle: Am meisten lernen wir von ten. ses Zusammenschlusses dargelegt. Natür- uns selbst. Ich kenne, außer uns, kein SPIEGEL: Der Name „Dresdner Bank“ wird lich war seine erste Reaktion emotional, großes deutsches Finanzunternehmen, also nicht verschwinden? anders können Sie es doch gar nicht er- das in den letzten 15 Jahren mehr als Schulte-Noelle: Nein. Die Dachmarke heißt warten. Dann hat er gesagt: Lassen Sie mir ein Dutzend größere Akquisitionen und „Allianz-Gruppe“, aber auf dem Ge- die Unterlagen hier, am Nachmittag haben Integrationen so geräuschlos über die Büh- schäftspapier der Dresdner Bank werden wir noch mal darüber gesprochen, und ne gebracht hat. Unsere Grundphilosophie Sie „Dresdner Bank“ grün mit Logo fin- dann kam ein klares: Ja, macht das. hat viel mit dezentraler Führung zu tun, SPIEGEL: Herr Schulte-Noelle, Herr Fahr- mit Respekt vor Kulturen. Das erlaubt es * Mit Redakteuren Wolfgang Johannes Reuter und Gabor holz, wir danken Ihnen für dieses Ge- uns, solche Integrationen erfolgreich Steingart. spräch. Wirtschaft

riskieren, können sie in den breiten Gän- gen des A 380 herumspazieren und sich FLUGZEUGINDUSTRIE auf Trimm-dich-Geräten abstrampeln. Sieben Fluggesellschaften und eine Lea- singfirma haben inzwischen 62 Airbusse Das Imperium schlägt zurück des neuen Typs fest bestellt. Auch die Luft- hansa überlegt, mindestens 10 der Mam- Boeing rüstet auf: Dem Riesen-Airbus will mutflieger zu ordern. Noch vor kurzem sah es so aus, als der US-Konzern gleich zwei neue Flugzeuge entgegensetzen – ein wären die Boeing-Manager durch den Er- superschnelles und eine Variante des Tarnkappenbombers. folg des neuen Super-Airbus hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Für ihr Konkur- nter Luftfahrtfans in aller Welt ist Mit ihrer bis zu 20 Milliarden Mark teu- renzangebot, eine verlängerte Version ihres die Homepage des US-Konzerns ren Neuentwicklung wollen die Boeing- Jumbos 747, fand sich bislang kein einziger UBoeing zur Zeit ein heißer Tipp. Wer Manager den europäischen Airbus-Kolle- Kunde. Vorletzte Woche zogen Condit und sich unter der Adresse www.boeing.com ins gen zeigen, wer im weltweiten Wettbewerb seine Mannen das umstrittene Projekt des- Internet einklickt, fühlt sich fast wie in ei- um die Gunst der Fluggesellschaften wirk- halb erst einmal aus dem Verkehr. nem Science-Fiction-Film. lich die Nase vorn hat – die Amerikaner. Doch nun schlagen die Amerikaner Scheinbar schwerelos schwebt ein un- Seit die Airbus-Eigner EADS und Bae zurück, und das gleich an mehreren Fron- bekanntes Flugobjekt ins Bild, das mit sei- Systems vergangenen Dezember den Bau ten. Condit und Stonecipher haben eine ner stumpfen Schnauze und den Mini-Flü- Innovationsoffensive gestartet, geln am vorderen Rumpf an einen fliegen- Flugzeugbestellungen – 754 die ihnen bis vor kurzem nie- den Wels erinnert. Doch spätestens wenn alle Typen mand zugetraut hätte. das Heck auftaucht, wird klar, dass der Rie- 656 Neben ihrem neuen super- 609 senvogel konventionelle Passagierflugzeu- 588 schnellen Jet wollen die Ame- ge ganz schön alt aussehen lässt. 568 556 rikaner den Airlines langfristig Aus den trapezförmigen Tragflächen 520 ein neu konstruiertes Konkur- wachsen zwei mächtige Triebwerke. Über 468 460 476 renzmodell zum A 380 anbie- solch aerodynamische Finessen verfügen 404 391 ten. Unter dem Arbeitstitel sonst nur Militärjets oder die Concorde. „Blended Wing Body“ arbei- 326 Und der wollen die Boeing-Manager schon 282 ten 30 Ingenieure der Elite- bald kräftig Konkurrenz machen. 271 Truppe „Phantom Works“ bei Geht es nach Boeing-Chef Phil Condit 217 Los Angeles zur Zeit an einem 125 und seinem Kollegen Harry Stonecipher, 136 futuristischen Flugkörper, der sollen Topmanager schon ab 2008 mit bis 101 124 106 an eine Kreuzung aus einem zu 1200 Stundenkilometern um die Welt 38 Riesenrochen und einer Fle- düsen. Der neue Superjet mit dem Namen dermaus erinnert. „Sonic Cruiser“, den die Amerikaner vor- 1990 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 Der zivile Abkömmling des letzte Woche vorstellten, soll Besserver- US-Tarnkappenbombers B 2 diener zwei Stunden schneller von Frank- ihres neuen Großraumfliegers A 380 mit soll bis zu 800 Fluggäste kostengünstig furt nach Tokio bringen als herkömmliche 555 und mehr Sitzen beschlossen, stehen über große Distanzen wie Frankfurt–San Flugzeuge. Auf der Strecke London–New die US-Bosse mächtig unter Druck. Francisco befördern. York sparen sie gut eine Stunde. Airline-Manager in aller Welt schwär- Der Megaliner hat gegenüber dem Su- men über die gigantischen Möglichkeiten, per-Airbus allerdings einen großen Nach- die der dreistöckige Riesenjet bietet. Der teil. Weil die Flügel, anders als bei kon- großzügige Innenraum erlaubt es, an Bord ventionellen Jets, eine Einheit mit dem tra- Bars, Duty-free-Shops oder sogar Spielca- pezförmigen Rumpf bilden, sind Fenster in sinos einzurichten. dem zweistöckigen Flieger Mangelware. Während die Passagiere in herkömmli- Das Gros der Passagiere sitzt im Innern chen Maschinen durch das lange Sitzen in des Big-Brother-ähnlichen Containers. Um

DPA den engen Zigarrenröhren Thrombosen die Passagiere abzulenken, wollen die Ent-

Boeing-Chef Condit, neuer Super-Jet: Zwei Stunden schneller von Frankfurt nach Tokio

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Werbeseite Wirtschaft wickler deshalb vor den Sitzen Bildschirme Einen ersten Erfolg konnten die Boeing- installieren. Dort können die Eingeschlos- Manager schon verbuchen. Für den Logis- senen sehen, wie schön die Landschaft ist, tikriesen DHL durften sie 34 Passagierjets die sie gerade überfliegen. von British Airways in Transportmaschi- Auch um Topmanager, die lieber abge- nen umbauen. Und die US-Regierung er- schottet von Normalsterblichen zu Ge- wägt zurzeit den Ankauf eines neuen, schäftsterminen düsen, wollen sich die satellitengestützten Flugüberwachungs- Boeing-Bosse verstärkt kümmern. Den systems von Boeing, das helfen soll, Ver- VIPs sollen schon bald mit allem Komfort spätungen im US-Luftverkehr abzubauen. ausgestattete Geschäftsreisejets mit bis Treibende Kraft für den Umbau des Rüs- zu 25 Plätzen zur Verfügung stehen, tungs- und Luftfahrtriesen zum Komplett- die auf Abruf angemietet werden kön- anbieter für die großen Airlines ist Boeing- nen und regelmäßig wichtige Metropolen Präsident Stonecipher. Der gelernte verbinden. Physiker glaubt, dass die Umsätze im Zu- „Ein wichtiger Vorstandschef“, meint satzgeschäft langfristig die Einnahmen aus Boeing-Business-Jets-Präsident Borge Flugzeugverkäufen übersteigen könnten. Boeskov, „setzt sich doch nicht in einen „Als Anleger investieren Sie doch lieber in Großraumflieger mit mehreren hundert Unternehmen, die bis zu 20 Prozent statt DPA Großraum-Airbus A 380 (Modell): Bars, Duty-free-Shops und Spielcasinos an Bord

Passagieren, selbst wenn er dort Bars, Fit- 4 bis 6 Prozent pro Jahr wachsen“, recht- nesscenter oder Schlafkabinen vorfindet.“ fertigt er den neuen Boeing-Kurs. Doch Condit und Stonecipher wollen Bis Ende des Jahres wollen die Boeing- ihre Airbus-Kollegen nicht nur in ihrer an- Manager den Passagieren ermöglichen, an gestammten Domäne, dem Flugzeugbau, Bord im Web zu surfen, Fußballspiele live angreifen. Um die Europäer zu überflü- zu verfolgen oder E-Mails zu versenden. geln, krempeln die Boeing-Oldies ihren Zentraler Baustein des neuen Kommuni- Konzern um wie nie zuvor in der 85-jähri- kationssystems über den Wolken mit dem gen Boeing-Geschichte. Namen „Connexion“ ist eine fünf Zenti- Erst Ende März schockten die beiden meter hohe, einen Meter breite und 1 Me- die US-Öffentlichkeit mit der Ankündi- ter 40 lange Antenne, die auf dem Rumpf gung, die Boeing-Zentrale von Seattle nach am Heck installiert wird. Sie nutzt brach- Chicago, Dallas oder Denver zu verlegen. liegende Übertragungskapazitäten auf Sa- „Wir sind der Meinung“, rechtfertigt Con- telliten, damit die Fluggäste in der Luft den dit den geplanten Umzug, „dass unser Kon- Kontakt zum Boden nicht verlieren. zernsitz an einem Ort sein muss, der zen- Die schnelle Breitbandkommunikation tral liegt – für all unsere Standorte, unsere an Bord könnte sich schon bald als ent- Kunden und die Finanzmärkte.“ scheidender Wettbewerbsvorteil unter Gleichzeitig wollen die Boeing-Bosse konkurrierenden Airlines herausstellen, rund um das Flugzeuggeschäft einen glaubt Lufthansa-Chef Weber. Er möchte schlagkräftigen Dienstleistungskonzern den neuen Service deshalb bereits in zwei aufbauen. Weil die Nachfrage nach neuen Jahren anbieten. „Wir wollen das Flugzeug Jets in den nächsten Jahren voraussichtlich zu einem Internet-Träger machen, in dem nur um bis zu sechs Prozent wächst, wol- unsere Kunden im Flug ihre Post bearbei- len sie groß ins Geschäft mit der Flug- ten, Bankgeschäfte tätigen oder einkaufen zeugwartung, dem Umbau von Jets oder können“, wirbt Weber für seine Vision. der Luftraumüberwachung einsteigen. Zurzeit testen Lufthansa-Spezialisten an Weitere Einnahmen sollen Finanz- und Bord von Maschinen des Typs A 320 noch Telekommunikationsdienste bringen. ein eigenes System. Die Antennen bezie- „Dort sind Wachstumsraten von über 30 hen sie von den Amerikanern. Prozent möglich“, schwärmt Stonecipher. Doch sollte sich das Boeing-Angebot als Dabei nehmen die Boeing-Strategen sogar weltweiter Standard etablieren, kommen in Kauf, wichtige Kunden wie Lufthansa- wohl auch die Lufthansa-Manager nicht um- Chef Jürgen Weber zu verprellen. Dessen hin, das US-Netz zu übernehmen. Dann Konzern verdient selbst am Geschäft mit hätten die Boeing-Manager wenigstens in der Wartung und dem Umbau von Flug- der Internet-Technik durchgesetzt, was ih- zeugen, und das will Weber sich von den nen Airbus im Flugzeugbau streitig macht: Amerikanern nicht streitig machen lassen. ein einträgliches Monopol. Dinah Deckstein

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Werbeseite Wirtschaft

Vorteile! Wir haben es gesehen, die Börse rotischen Gewinnsucht“, die eine „Bereit- KAPITALISMUS liebt das.“ schaft zu allen Verheerungen“ weckt und Vor fünf Jahren artikulierte die franzö- alles, aber wirklich auch alles, „unter sei- Feindliches sische Literaturkritikerin in ihrem Welt- ne Herrschaft“ bringen möchte. bestseller „Der Terror der Ökonomie“ die Eine „Rückkehr zur Realität“, fordert Ängste der Globalisierungsgegner, jetzt hat sie, und ihr Gastgeber rollt dezent mit den Terrain sie „Die Diktatur des Profits“ als Mensch- Augen. Die Wirtschaft werde immer virtu- heitsseuche erkannt und reist bis nach Ber- eller und irrealer. Allein das Beispiel der Die französische Globalisierungs- lin, um das neue Werk selbst auf feindli- jetzt so propagierten Rentenfonds zeige, chem Terrain zu preisen – im Haus der wie absurd das System sei: „Der reinste gegnerin Viviane Forrester tourt Deutschen Wirtschaft. Philipp Graf von Casinobetrieb. Da sollten die Menschen durch Deutschland, um ihr neues Walderdorff, Cheflobbyist des Deutschen ihr Geld lieber beim Pferderennen setzen. Buch zu verkaufen. Dessen Industrie- und Handels- Da haben sie wenigstens Botschaft: Profit ist Teufelswerk. tages, hat die Essayistin frische Luft.“ eingeladen. „Eine echte Um ihre Rendite zu er- mpörung ist ein wunderbarer Zu- Dame“, schwärmt der höhen, versuchten die stand. Viel schöner und eleganter als Mann der Wirtschaft von Pensionsfonds mit allen EZorn oder Wut. Bei empörten Men- der eleganten Bankiers- Mitteln bei den Unterneh- schen steigt der Adrenalinspiegel auf ein tochter, die mit ihren 75 men, an denen sie beteiligt wohlig moderates Erregungsniveau, und es Jahren problemlos als seien, die Kosten zu sen- pulst angenehm warm durch den Körper. „Seniorchefin eines Mo- ken. Das Resultat: „Die „Ich bin nicht wütend oder zornig“, sagt dehauses“ („taz“) durch- Entlassenen werden als Viviane Forrester, „nein, ich bin empört.“ gehen würde. Aktionäre zu Sponsoren Sie hat ihre Zebra-Stola über die Stuhlleh- Doch der schnauzbärti- ihrer eigenen Arbeitslo- ne gelegt und den linken Fuß vorsichtig ge Graf kann es sich nicht sigkeit.“ aus ihrem hochhackigen Pumps befreit – verkneifen, ein wenig zu Ein junger Mann mel- die wärmende Wirkung des Adrenalins. sticheln. „Die Wirtschaft det sich zu Wort und will Mit gebremster Leidenschaft hat sich braucht Luft zum Atmen“, wissen, ob man auf die Madame ihrer Erregung hingegeben, weil sagt er in fließendem privaten Pensionsfonds

sie der festen Überzeugung ist, dass ein Französisch und erzählt AXENTIS.DE nicht angewiesen sei. Gespenst umgeht in Europa. Und nicht nur von seinem „kleinen“ An- Autorin Forrester Schließlich habe der „de- dort, auch in Asien, Amerika, Australien wesen in der Eifel, wo „Rückkehr zur Realität“ mografische Faktor“ doch das bisherige Rentensys- tem unbezahlbar gemacht – zu wenig Jun- ge, zu viele Alte. Madame lächelt nachsichtig. Mit Fakten sollte man ihr nicht kommen. „Ist der de- mografische Faktor tatsächlich so wich- tig?“, fragt sie. „Oder ist er nicht nur ein Vorwand, weil die Versicherungen schon lange ein gieriges Auge auf die private Al- tersvorsorge geworfen haben?“ Gewiss – nur eine Frage, aber fragen wird man ja wohl dürfen. „Nichts für Kenner“, bescheinigte die „Süddeutsche Zeitung“ ihrem neuen Buch („so ahnungslos und polemisch wie eh und je“), in dem Forrester auf 210 Seiten mun- ter Stalinismus, Apartheid und Völkermord bemüht, um vor dem neuen „Totalitaris- mus“ des „Ultraliberalismus“ zu warnen, gegen den nur eines helfe: entschiedener Widerstand.

AP Eine Frau („Ich habe Ihr Buch ver- Globalisierungsgegner (in Seattle, 1999): Gespenst des Ultraliberalismus schlungen“) geht zum Mikrofon und be- kennt, sie sei Lehrerin. Als Beamtin habe und Afrika: das Gespenst des Ultralibera- man nach dem Krieg neben der Köchin sie einen Eid auf die Verfassung geschwo- lismus. und dem Verwalter, Traktorfahrer, Dienst- ren und die enthalte doch ein Recht auf Wi- Diese Ideologie kennt – davon ist sie mädchen und Pferdeknechte beschäftigt derstand: „Wenn nur noch der Profit re- überzeugt – nur ein einziges Ziel: „für habe. Doch da der Betrieb nicht profitabel giert, haben wir als Beamte versagt.“ die Privatwirtschaft immer schnellere und gewesen sei, habe man die Leute entlassen „Ein schöner Eid und sehr berührend“, phänomenalere Megaprofite zu erreichen, müssen. Die Botschaft ist klar: Ohne Ge- findet Forrester, die besonders charmant und das um jeden Preis“. Das bedeutet: winne keine Jobs. lächelt, wenn sie nach Alternativen zur „Die Unternehmen mit den größten Ge- Da ist er, der Geist des Ultraliberalis- „Diktatur des Profits“ gefragt wird: „Wenn winnen entlassen munter drauflos; ihre mus, der umgehend bekämpft werden ich als Staat meinen Bürgern wirklich ein Entscheidungsträger haben einen unwi- muss. Die Wirtschaft soll atmen? Falsch, richtiges Auskommen sichern will, dann derstehlichen Hang zur Senkung der sagt Viviane Forrester, „die Menschen müs- finde ich auch eine Lösung.“ Und welche? Arbeitskosten. Warum in Beschäftigung in- sen atmen, und heute werden sie erstickt“. „Es ist nicht meine Aufgabe, Lösungen zu vestieren, entlassen bietet viel mehr Als Arbeitslose sind sie Opfer einer „neu- produzieren.“ Konstantin von Hammerstein

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Werbeseite BETRUG Bar auf die Hand Mit einer neuen Masche tricksen immer mehr Kriminelle den Fiskus bei der Umsatzsteuer aus. Jetzt hat die Polizei mit einer Großrazzia eine Bande ausgehoben. igentlich war in diesem Jahr der größte anzunehmende Stau in Re- Egensburg schon fest terminiert, auf den Monat Juni, wenn mit dem Bürgerfest und dem gleichzeitig stattfindenden Mu- sikfestival „Singen und Musizieren in Bay- Asservatenlager in Regensburg ern“ die Altstadt vor Menschen überquillt. Fuhre um Fuhre herbeigekarrt Doch der Verkehrsinfarkt kam schneller. Bereits am vergangenen Dienstag blockier- rechnungen für Computerchips ten weiße und silbergrüne Transporter aus beim Fiskus abkassiert haben. allen Himmelsrichtungen die Zufahrts- Der Betrug lief immer nach glei- straßen zum örtlichen Polizeipräsidium chem Schema ab: Unternehmen Niederbayern/Oberpfalz. müssen für ihre Leistungen und Die brisante Fracht, über 7500 Akten- Lieferungen Umsatzsteuer bezah- ordner, mehr als 30 PC-Anlagen und len. Bei Lieferungen ins Ausland Datenträger, Tausende von Computerchips fällt sie dagegen weg – das bedeu- und andere Beweismittel hatten die Be- tet, über die Grenze wird immer Durchsuchung bei einer Münchner Computerfirma amten in der bislang größten internatio- zu Netto-Preisen exportiert. Doch Dreimal flog die Luftnummer auf nalen Fahndungsaktion gegen Steuerhin- die im Inland angefallene Umsatz- terzieher im Bundesgebiet und sieben an- steuer, die andere Firmen für ihre Vorleis- mieren dann längst unter einem anderen deren europäischen Staaten eingesackt. tungen in Rechnung gestellt haben, kann Händlernamen und kassieren das nächste Fuhre um Fuhre karrten sie die Beweis- der Unternehmer als so genannte Vorsteu- Finanzamt ab. „Wo das am günstigsten stücke in das niederbayerische Asserva- er beim Fiskus wieder eintreiben – bar auf geht, wird vorher per Standortanalyse ge- tenlager. die Hand. checkt“, sagt ein Münchner OFD-Sprecher. Mit ihrem Coup sprengte die Regens- Um einen entsprechenden Anspruch an- „Wir vermuten, dass die Scheinhändler burger Sonderkommission „Chipdeal“ ei- zumelden, reicht bereits die Vorlage einer von zentralen Hintermännern gelenkt wer- nen Ring von Wirtschaftskriminellen, der Rechnung aus. Ob tatsächlich in der ange- den“, so ein Fahnder. Firmengebilde, die sich auf eine äußerst lukrative und deshalb gebenen Menge Waren verkauft oder ge- europaweit agieren, werden ins Leben ge- stark zunehmende Abzockerei spezialisiert liefert worden sind, prüft der deutsche Fis- rufen, oder existierende Unternehmen hatte: auf gigantische Betrügereien mit so kus nicht nach. „Genau diese Systematik werden akquiriert, um so die Ermittlungen genannten Umsatzsteuer-Karussellen, bei öffnet dem Missbrauch Tür und Tor“, klagt zu erschweren. denen sich Banden Millionensummen an Bernd Heine von der Münchner Oberfi- Kaum gegründet, verzeichnen die „mis- vorgetäuschten Steuerzahlungen vom Fis- nanzdirektion (OFD). Oft werden nämlich sing trader“ dann Millionenumsätze mit kus „erstatten“ lassen. immer nur die gleichen Waren – in diesem riesigen Umsatzsteuererstattungen. Das Diesmal flog die Luftnummer auf: 1188 Fall Computerchips – im Kreis wie auf ei- Geld leiten sie an die Hintermänner weiter. Polizeibeamte, 542 Steuerfahnder und 45 nem Karussell von Land zu Land gekarrt, Ermittler verdächtigen zudem auch eta- Gerichtsvollzieher durchkämmten insge- mitunter auch nur auf dem Papier. blierte Großhändler, sich an den Karussel- samt 423 Objekte, darunter Computerhan- Bei der Auszahlung vorbildlich, bei der len zu beteiligen. Mit Hilfe der Millionen- delsfirmen in Taucha bei Leipzig, Wiesba- Kontrolle mangelhaft, niemand ist so erstattungen können so die Preise konkur- den und Karlsruhe, außerdem Banken, schnell wie die deutschen Finanzbeamten renzlos heruntersubventioniert werden. So Wohnungen und Speditionen in insgesamt – bei der Erstattung von Vorsteuer. Das boten in Norddeutschland Unternehmen zwölf Bundesländern, den Niederlanden, machen sich die Ganoven zunutze. So auch Intel-Chips zu Preisen an, die unter den Belgien, Luxemburg, Tschechien, Öster- eine internationale Bande, die im Januar in Produktionskosten lagen. reich, der Schweiz und Frankreich. Norddeutschland, Großbritannien und Ita- Mittlerweile sind in jedem Steuerfahn- 13 Verdächtige wurden bei der Groß- lien von mehreren hundert Beamten aus- dungsamt Beamte mit den Umsatzsteuer- razzia verhaftet, davon 7 in Deutschland; gehoben wurde. Inzwischen sitzt der Ge- Karussellen beschäftigt. Dreistellige Mil- nach 7 weiteren Personen wird noch ge- schäftsführer der Computer-Handelsfirma lionenschäden sind keine Seltenheit mehr. fahndet. Vermögen im Gesamtwert von Source aus Jever in Untersuchungshaft – So laufen bei den Staatsanwaltschaften in rund 220 Millionen Mark, darunter zwei geschätzter Schaden: über 50 Millionen Oldenburg, Bonn und Mannheim ebenfalls Luxussportwagen und eine Segeljacht, Mark. „In anderen europäischen Ländern Verfahren in ähnlicher Größenordnung. stellten die Ermittler sicher. erfolgen die Auszahlungen der Finanzäm- Der Chef der Bremer Steuerfahndung, Doch der Schaden, der allein dem deut- ter wesentlich zurückhaltender“, kritisiert Hans-Joachim von Wachter, flüchtet sich schen Staat durch das kriminelle Treiben der Chef der Oldenburger Steuerfahndung, angesichts der jüngsten Fälle schon in Sar- der Bande entstanden ist, wird von Fahn- Oliver Löwe-Krahl. kasmus: „Früher überfielen die Ganoven dern sogar auf rund 500 Millionen Mark ge- Frühestens nach Monaten fliegt der zur Geldbeschaffung eine Bank, heute ist schätzt. Über zahlreiche Briefkastenfirmen Schwindel beim deutschen Finanzamt auf. die Vorsteuer-Erschleichung viel risikolo- im In- und Ausland sollen sie mit Schein- Die „missing trader“ (Fahnderjargon) fir- ser.“ Felix Kurz

146 der spiegel 15/2001 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

GASTRONOMIE Pasta mit Vergangenheit Karlheinz Schreiber, der in Toronto gegen seine Auslieferung nach Deutschland kämpft, meldet sich als Geschäfts- mann zurück: Mit Nudeln will er die Welt erobern.

er Mann hat schon viele beglückt: Saucen, kreiert von Maître Mathis und der Politiker mit Spenden, die Bay- Chefköchin des Bangkoker Nobelhotels Dern mit orientalischen Teppichen, „Oriental“, im Induktions-Wok verfeinert Deutschlands Straßen mit Fahrbahn- – von Green Dragon Curry Sauce bis Yin markierungen, die Saudis mit Panzerfahr- und Yang, bestehend aus „ein wenig Chili, zeugen. etwas Knoblauch, einem Hauch Ingwer Jetzt hat sich Karlheinz Schreiber den und frischer Ananas“ (Schreiber). Serviert Rest der Menschheit vorgenommen. Der wird binnen Minuten, Schreiber liebt das bayerische Geschäftsmann will endlich sei- Detail, in einem innovativen Napf mit ne lange gehegte Vision verwirklichen: den einer Ausbeulung, die den Löffel erset- weltweiten Siegeszug der Express-Nudel; zen und übermäßiges Kleckern verhindern in Sekunden fertig und immer al dente. soll. Als „Shake-and-go“-Variante gibt es Während die deutsche Justiz in Kanada das Mahl im Warmhaltebecher zum Mit- vor Gericht um die Auslieferung von nehmen. Deutschlands bekanntestem Flüchtling „Von all meinen Vorhaben ist dies das ringt, um ihm in Augsburg den Prozess we- größte“, sagt Schreiber. Das kleine Karo ist gen Steuerhinterziehung, Betrug und Be- seine Sache nicht. Bereits jetzt seien 300 Fi- stechung machen zu können, eröffnete der lialen in Kanada und 3000 in den USA ge- illustre Kaufmann vergangenen Mittwoch plant. Und geht es nach ihm, ist dies nur frohgemut in einer Ladenpassage im ka- der Auftakt des Siegeszugs seiner Wun- Unternehmer Schreiber in Toronto: „Von meinen nadischen Toronto sein erstes Hightech- dermaschine. Mit „strategischen Partnern“ Nudel-Bistro „Reto and the machine“. will Schreiber weltweit expandieren. An- den Parteivorsitz gekostet. Die Augsburger Der erste Teil des Namens stammt von fragen aus Asien und ganz Europa ein- Staatsanwaltschaft hat ihn im Zusammen- seinem Partner Reto Mathis. Der Schwei- schließlich Deutschland lägen bereits vor. hang mit Panzerlieferungen an Saudi-Ara- zer Promi-Koch betreibt mehrere Restau- Wer allerdings seine Partner sind, die bien angeklagt. rants im mondänen St. Moritz, am Rande die notwendigen Millionen aufbringen sol- Seinem Tatendrang tut das keinen Ab- der Pisten des Corviglia. Hier übt auch len, und wie groß sein eigener Anteil ist, bruch. Spaghettissimo ist ihm ein Her- schon mal Muck Flick den Einkehr- bleibt bei Schreiber einmal mehr im Un- zensanliegen, seit er vor Jahren auf einer schwung, um sich bei einem Lunch von gefähren: „Diese Freundesgruppe ist eine seiner vielen Reisen den Schnellkochtopf- Preisen bis zu 300 Schweizer Franken für Juwelenkollektion.“ mutanten entdeckte und sich das Patent die nächste Abfahrt zu stärken. Zuzutrauen ist Schreiber vieles. Als Un- sicherte. Schon zu der Zeit, als er noch als Doch Schreibers wahres Baby ist „the ternehmer und Lobbyist hat er in den ver- gern gesehener Lobbyist in deutschen machine“ – eine Art Espressomaschine für gangen Jahrzehnten viele Geschäfte ange- Amtsstuben und Politikerbüros anticham- Teigwaren namens „Spaghettissimo“. In packt. Manche klappten, manche nicht – brierte, plauderte er gern über die leuch- einem Druckbehälter werden die Nudeln aber verdient hat er dabei meist. tende Zukunft der Fast-Food-Nudel. bei 3 Bar Druck und 130 Grad Celsius in 70 Manchmal gab es Ärger. Seine Zuwen- So nimmt es nicht Wunder, dass die Nu- Sekunden bissfest gegart. Anschließend dungen an die CDU haben die Parteispen- delmaschine selbst in den Akten der Par- wird das Gericht mit einer von mehreren denaffäre ausgelöst und Wolfgang Schäuble teispendenaffäre eine Spur hinterlassen hat Spürpanzer, für seine Nudelma- am Corviglia auf. Und Schreibers Novität schine begeistert. Die damalige heimste weitgehend unbemerkt ein erstes Thyssen-Tochter Henschel, ein Lob ein. Ein Redakteur der „Neuen Zür- Fachbetrieb für Panzerfahrzeu- cher Zeitung“, der über die Neuheiten der ge, sollte die Apparate bauen, Skisaison 1997/98 in dieser Region berich- während Schreiber den Vertrieb tete, war von einer Kostprobe („unglaub- übernehmen und dafür pro ge- lich – Spaghetti aus der Maschine“) begeis- lieferte Maschine eine Lizenzge- tert: „In sensationell kurzer Zeit hatten wir bühr erhalten sollte. unseren Teller Pasta. Eccellente!“ Im Oktober 1995 pries Thys- Ein Jahr später machte das Fachblatt sen-Henschel die neue Pasta- „Gourmet“ dort droben in 2500 Meter Produktlinie in einer Presseer- Höhe eine „gastronomische Sensation“ klärung als innovative Geräte- aus. Von einer Demonstration sei der technik („die Spaghetti gleiten Kochpapst Paul Bocuse, so Mathis, „hell automatisch und locker auf einen begeistert und fast ausgeflippt“. Teller“) für „First-Class-Restau- So recht wollte das Geschäft aber noch rants“, aber auch „Autobahn- immer nicht in Gang kommen. Und auch oder Bahnhofsraststätten“. Für den Zielfahndern des Bundeskriminalamts die Spaghettissimo-Fertigung wa- (BKA) bereitete Spaghettissimo Kummer. ren „zunächst bis zu 30 Mitar- Drei Jahre lang hatten sie den flüchtigen beiter“ vorgesehen, und etwa Geschäftsmann dank Telefonüberwachung 1000 Maschinen sollten jährlich in der Schweiz im Visier. Im Mai 1999 ver- produziert werden. Angesichts loren die BKA-Beamten jedoch plötzlich dieser Perspektiven ließ sich die zwei lange Monate seine Fährte, bevor „FAZ“ zu der Überschrift hin- er wieder in Kanada auf ihrem Radar er- reißen: „Thyssen revolutioniert schien. In dieser Zeit reiste Schreiber dort die Nudelwelt – Spaghettissimo durchs Land, um sein Kochgerät an den ist gut für den großen Hunger Mann zu bringen. Nicht die Angst vor den und sichert Arbeitsplätze.“ Fahndern soll ihn also nach Nordamerika Doch offenbar war der Markt getrieben haben. Schreiber: „Mein größter

V. TALOTTA / CANADIAN PRESS / CANADIAN TALOTTA V. noch nicht reif für diese Innova- Wunsch war immer, die Idee nach Kanada Vorhaben ist dies das größte“ tion. In der Lehrlingswerkstatt zu bringen.“ wurden zwei Prototypen herge- Die Nudel scheint sein Schicksal. Als er wie tropfende Spaghetti Napoli auf einem stellt. Thyssen soll 920000 Mark für die schließlich im September 1999 in einem Res- weißen Tischtuch. Auf dem Höhepunkt der Produktionsvorbereitung abgeschrieben taurant in Toronto festgenommen wurde, Konfusion um Schreibers 100 000-Mark- haben. Der Absatz verlief eher schleppend, hatte er eine Einkaufstüte dabei, in der sich Spende an Schäuble im vergangenen Jahr die Strategie war falsch. „Wir wollten da- Spaghetti und Tomatensauce befanden. erinnerte sich der Geschäftsmann, dass er mals die Maschinen verkaufen oder ver- Vergessen, vorbei. Dieses ganze Straf- bei seinem Besuch im Bonner Büro des mieten“, sagt der Kaufmann heute. verfahren, so Schreiber, „interessiert mich damaligen Unions-Fraktionschefs 1995 Aber Schreiber ist nicht der Mann, der einen Dreck“. Er hat sich ganz den Spa- auch erzählt hatte: „Wir bauen Spaghetti- sich von solchen Rückschlägen nieder- ghetti, die in Wahrheit Makkaroni sind, maschinen.“ Die ehemalige CDU-Schatz- strecken lässt. Im schweizerischen Exil ver- verschrieben. Seine Mission heißt „gesun- meisterin Brigitte Baumeister soll 1996 bei folgte er ab 1996 seine Geschäftsidee hart- des Fast-Food weltweit“. Bisher produ- einer Messe in Köln, auf der Schreiber sei- näckig weiter. In der Graubündner Berg- zierte die Firma Allitecnica bei Lugano, in ne Wundermaschine präsentierte, zum ver- welt begeisterte er nun Mathis für seine deren Verwaltungsrat sein Sohn Andreas traulichen Karlheinz übergegangen sein. Vision. Schließlich verlängert sich in sitzt, etwa 180 Maschinen. Tatsächlich hatte Schreiber bereits Mit- Höhenluft die Kochzeit von Nudeln, so Schreiber, der Kaufmann mit kana- te der neunziger Jahre Wienfried Haastert, dass sie nie ganz al dente werden. dischem Zweitpass, wittert wieder einmal einen ehemaligen Thyssen-Manager und Der Promi-Koch stellte 1997 die Ma- das große Geld: „Das ist ein Milliarden- Mitangeklagten im Verfahren um die schine in seinem Restaurant „Bütschella“ Dollar-Business.“ Markus Dettmer Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

AFGHANISTAN Entscheidung mit Dynamit izarr wie die Sprengung der welt- Bgrößten stehenden Buddha-Statuen im Reich der Taliban war der Auslöser dieser Untat: ein Besuch italienischer Buddhisten, die zu Füßen der Monu- mente lagerten und dort ihre Gebete verrichteten. Das wurde zwei Taliban- Richtern in der Provinzhauptstadt Ba- mian zugetragen, die gerade einen

DPA Streit zwischen Veteranen der Reli- EU-Kommissar Verheugen, Ratspräsident Prodi, Ungarn-Premier Orban gionskrieger und jungen Taliban ent- schieden, die das bitterarme Land für EUROPA einen Dialog mit dem Westen öffnen wollten. Ein Rat von Religionsgelehrten, der über die Buddhas befinden sollte, Querschüsse gegen Erweiterung nahm den Buddhisten-Besuch zum An- lass und plädierte bei Taliban-Führer er Optimismus des deutschen Er- eines der schwierigsten Kapitel in den Mullah Omar für die Vernichtung der Dweiterungs-Kommissars Günter Beitrittsverhandlungen, erst im Sommer Statuen. Der Streit unter den Taliban Verheugen in Sachen EU-Ausdehnung 2002 vorlegt – nach den französischen hatte im November letzten Jahres mit wird im Berliner Auswärtigen Amt nicht Wahlen. der Wiedereröffnung des Nationalmu- geteilt. Die Verhandlungen mit den Bei- Zudem machten Franzosen wie Spanier seums in Kabul begonnen, in dem sich trittskandidaten könnten sich vielmehr klar, die Forderung Deutschlands und wertvolle Artefakte der buddhistischen noch erheblich verzögern. Österreichs nach einer siebenjährigen Denn unter den 15 Altmitgliedern der Übergangsfrist bei der Freizügigkeit für Union melden sich jetzt erst jene Staa- Arbeitnehmer aus dem Osten könne erst ten zu Wort, die keinen Verzicht auf ganz zum Schluss der Verhandlungen Brüsseler Subventionen zu Gunsten der berücksichtigt werden, wenn im Gegen- armen Neuen leisten mögen. Vertreter zug die eigenen finanziellen Interessen Spaniens und Portugals ließen demnach gewahrt seien. im Rat in Brüssel durchblicken, dass sie Ob die Unterschrift – wie von Verheu- vor ihrem Ja zur Aufnahme weiterer gen erwartet – unter die ersten Bei- Staaten in die Union verbindlich wissen trittsverträge noch 2002 erfolgt, wird in wollten, wie viele Milliarden Euro sie Berlin bezweifelt, zumal im ersten Halb- aus den Strukturfonds der EU für min- jahr 2002 die EU-Ratspräsidentschaft bei derentwickelte Gebiete erhalten. Der den Beitrittsbremsern in Madrid liegt. nächste siebenjährige Finanzplan läuft Verheugen stellte indessen vorige Woche 2007 an. den Ungarn die EU-Vollmitgliedschaft Auch die französische Regierung hat si- nach Ratifikation der Beitrittsverträge gnalisiert, vor ihrer Zustimmung zur Er- in den Parlamenten Europas bereits zum weiterung müsse Klarheit herrschen 1. Januar 2004 in Aussicht. Den Termin über die künftigen Zuschüsse aus Brüs- würden die Staats- und Regierungschefs sel für ihre Bauern. Paris setzte durch, beim Gipfel im Juni in Göteborg be- dass die EU-Kommission ihre Vorschlä- stätigen. Zu den Berliner Schwarzsehern ge zur Reform der EU-Agrarpolitik, meinte er, die seien „inkompetent“.

JAPAN bleibt fest in der Hand einflussreicher

Politiker-Dynastien. Der aussichtsreichs- AP Macht der Dynastien te Anwärter, Ex-Premier Ryutaro Ha- Buddha-Aushang am Centre Pompidou shimoto, 63, erbte sein Parlamentsman- apans regierende Liberaldemokraten dat einst von seinem Vater. Sein inner- Gandhara-Kultur befinden. Hardliner J(LDP) suchen einen Nachfolger für parteilicher Rivale, Ex-Sozialminister wähnten darin eine Rückkehr zu nicht- den glücklosen Premier Yoshiro Mori, Junichiro Koizumi, 59, stieg in die poli- islamischen Praktiken. Unterdessen 63. Doch wer auch immer Ende April tischen Fußstapfen seines Großvaters. hält der weltweite Protest gegen den zum neuen LDP-Chef und damit auto- Und der mögliche Kompromiss-Kandi- Bildersturm der Taliban an. So wurde matisch zum Kandidaten für das Amt dat Taro Aso, 60, ist zugleich Enkel von am Pariser Centre Pompidou ein 28 Me- des Premiers gewählt wird: Die Macht Ex-Premier Shigeru Yoshida und ter langer Kupferstich aufgehängt, der im zweitgrößten Industrieland der Welt Schwager eines kaiserlichen Prinzen. an die Buddhas von Bamian erinnert.

der spiegel 15/2001 151 Panorama

IRAN Sabotage im Geheimdienst m Machtkampf mit den religiösen Ultras ihrem detaillierten Wissen – etwa über die Ifeiern Irans Reformer einen womöglich Machtelite Irans. Angaben über das priva- entscheidenden Etappensieg: Erstmals te Leben und auch das Vermögen der scheint es auch innerhalb der gefürchteten Führungsschicht seien notwendig, so die Sicherheitsdienste des Gottesstaats Sym- unverhohlene Drohung, um Politiker bloß- pathisanten zu geben, die stellen zu können, „falls sie der Opposition sogar streng das Maul aufreißen und un- vertrauliche Interna zuspie- verschämt werden“. len. Regimekritiker in Tehe- Bei einer Analyse der Stu- ran werten jetzt eine sehr dentenunruhen vom Som- professionell gestaltete CD- mer 1999 wird auch Ma- Rom aus, die offensichtlich növerkritik geübt. Einige vom Geheimdienst zu in- Redner beklagen, dass die ternen Dokumentations- eigenen Kräfte schlechter zwecken erstellt wurde. Sie organisiert waren als die enthält, eingebunden in Studenten, und bemängeln Hymnen und Koranzitate, die nachlässige Observation Mitschnitte einer Koordina- der Aktivisten. Zudem räu- F. SCHUMANN / DER SPIEGEL SCHUMANN F. REUTERS tionskonferenz von Mitar- men die Sicherheitsdienste Demonstration in Istanbul beitern der Sicherheitskräf- Geheimdienst-CD-Rom ein, dass sie die Leiche ei- te der Islamischen Republik, nes Studenten verschwin- TÜRKEI des Ministeriums für Information und der den ließen, der bei einer Demonstration in Justizbehörde des Militärs. In der mehr- Teheran getötet worden war. Hätte man Angst vor Plünderung stündigen Aufzeichnung von Reden und der Menge auch noch einen Märtyrer ge- Wortmeldungen führen Eiferer noch im- liefert, so ein Teilnehmer, wäre die Volks- it drastischen Maßnahmen rüstet mer das große Wort und brüsten sich mit wut nicht mehr zu bändigen gewesen. Msich Ankara gegen den Ausbruch einer sozialen Explosion infolge der seit Wochen anhaltenden Wirtschaftskrise. In einem Geheimzirkular wies das In- nenministerium die Gouverneure der SIMBABWE Provinzen an, öffentliche Gebäude ge- gen Übergriffe von Demonstranten zu Sturm auf die Fabriken schützen und Einkaufszentren gegen Plünderungen abzusichern. Vorigen ach den gewaltsamen Besetzungen und Enteignungen weißer Farmer lässt der Dienstag war der Kurs der türkischen NStaatschef des einstigen Musterlands im südlichen Afrika, Robert Mugabe, nun Lira gegenüber dem Dollar abermals auch städtische Unternehmer drangsalieren. Mehr als ein Dutzend Firmen wurden in um 16 Prozent gesunken; seit Beginn den vergangenen Wochen von Schlägertrupps des Präsidenten gestürmt, weil sie Ar- der Krise Ende Februar hat sich der beiter entlassen hatten. In mindestens einem Fall verprügelten die Eindringlinge Ma- Wert der Landeswährung damit fast hal- nager und Geschäftsführer mit Eisenstangen und verschleppten sie anschließend zu biert. An den Tankstellen zieht täglich Verhören ins Hauptquartier der Regierungspartei Zanu-PF. Dort wurden sie so lange der Benzinpreis an, in den Krankenhäu- unter Druck gesetzt, bis sie einer Wiedereinstellung der Entlassenen zustimmten. sern werden Importmedikamente Mugabe, der spätestens im Mai nächsten Jahres Präsidentschaftswahlen durchführen knapp. Landesweit nimmt der Unmut muss, scheint nach monatelangen Terrorkampagnen auf dem Land nun auch ent- zu: Vor dem Amt des Ministerpräsiden- schlossen, die städtische Bevölkerung hinter sich zu zwingen. Bei Parlamentswahlen ten in Ankara warf ein empörter Händ- im vergangenen Juni erlitt die ler Premier Bülent Ecevit eine leere Re- Zanu-PF in den Städten erhebli- gistrierkasse nach. In der zentralanatoli- che Wahlniederlagen. Gewaltbe- schen Stadt Konya skandierten Lastwa- reite, meist arbeitslose jugendli- genfahrer: „Politiker, haut ab! Lasst die che Zanu-PF-Mitglieder gehen Soldaten ran!“ Während Staatspräsi- jetzt aggressiv für den Präsiden- dent Sezer und der neue Wirtschaftsmi- ten auf Stimmenfang. Attacken nister Kemal Dervi≈ die Bevölkerung in auf Fabriken und Privatfirmen dramatischen Appellen zur Mäßigung sind als erste Phase einer staat- aufrufen, mehren sich an der Istanbuler lich orchestrierten Kampagne Börse die Gerüchte über einen bevor- zu werten. Die soll der von den stehenden Rücktritt der Regierung. Mi- Gewerkschaften unterstützten nisterpräsident Ecevit, so heißt es, war- oppositionellen „Bewegung für te lediglich die Bekanntgabe des neuen Demokratischen Wandel“ auch

ökonomischen Rettungsprogramms AP in den Hochburgen die Wähler- Ende dieser Woche ab. Schwarze Demonstranten vor Farmtor basis entziehen.

152 der spiegel 15/2001 Ausland

GROSSBRITANNIEN Pannen im Kampf gegen Menschenhandel ätten britische und holländische HPolizisten besser zusammengear- beitet, wären 58 junge Chinesen, die im vergangenen Juni im Frachtraum eines Lkw auf dem Weg nach Dover erstick- ten, wahrscheinlich noch am Leben. Ein Geschworenengericht in Maidstone in der südenglischen Grafschaft Kent ver-

AFP / DPA urteilte vorige Woche den holländischen Demonstrierende Studenten mit Bildern von inhaftierten Reformern Fahrer des Todestransports, Perry Wacker, 33, wegen Totschlags zu 14 Jah- Dass die Aufnahmen von der im vorver- großen Einfluss auf die Geheimdienste die ren Gefängnis. Wacker hatte auf der gangenen Jahr abgehaltenen Konferenz Macht für die Fanatiker sichern soll. Nach Kanalfähre die Lüftungsklappe ge- ausgerechnet jetzt in Reformkreise gelang- einem Skandal um Informationslecks und schlossen, damit keine Geräusche aus ten, gilt als versteckter Angriff auf einen Reformtendenzen im Sicherheitsapparat umstrittenen Mann aus den eigenen Rei- würden jedoch selbst Betonköpfe eine Kan- hen: den ehemaligen Geheimdienstminister didatur des international geächteten Falla- Ali Fallahian. Der einstige Agentenchef hian kaum mehr unterstützen, zumal auch wird als einer der Drahtzieher des Myko- der ehemalige Staatschef Ali Akbar Ha- nos-Attentats auf iranische Oppositionelle schemi Rafsandschani von Rechten als wei- 1992 in Berlin mit internationalem Haftbe- terer Präsidentschaftsanwärter ins Spiel fehl gesucht. gebracht wird. Gegen den voraussichtlich Dennoch ist Fallahian als Kandidat der Ul- erneut antretenden Staatspräsidenten Mo- tras bei den für den 8. Juni angesetzten hammed Chatami aber hätten wohl beide Präsidentschaftswahlen im Gespräch – weil keine Chance – sofern bei der Wahl alles er angeblich mit seinem noch immer mit rechten Dingen zugeht.

tersuchung des Gesundheitsam- tes der Region Lazio hatte vor ein paar Wochen bestätigt, was die Anwohner von Cesano seit langem behaupten: In der Um- gebung der Anlage erkrankten überdurchschnittlich viele Kin- der an Blutkrebs. Bislang hatte

der Heilige Stuhl alle Vorwürfe DPA – auch vom italienischen Um- Ermittler bei der Spurensicherung weltminister – kategorisch zurückgewiesen und sich gewei- dem Frachtraum dringen konnten. gert, über eine geringere Bei den Untersuchungen stellte sich al- Sendeleistung zu verhandeln. lerdings heraus, dass zwei Monate vor Die Masten stünden nicht auf dem Menschentransport ein Freund des italienischem Territorium, so verurteilten Fahrers ebenfalls in Dover

C. LANNUTTI / SINTESI C. LANNUTTI die päpstlichen Juristen, son- mit 50 Chinesen auf der Ladefläche sei- Protest gegen Radio Vatikan vor dem Petersdom dern gehörten zum Kir- nes Lkw erwischt worden war. Doch die chenstaat. Damit unterlägen sie englischen Polizisten ließen den Men- VATIKAN weder italienischem Recht noch italieni- schenschmuggler schon nach einer schen Umweltnormen. Doch seitdem Stunde wieder frei und meldeten den Gefährliche Strahlen? die Staatsanwälte gegen die Verantwort- Zwischenfall nicht an ihre niederländi- lichen der wahrscheinlich weltweit schen Kollegen weiter. Diese wiederum ömische Staatsanwälte ermitteln ge- meistverbreiteten Radiostation vorge- observierten zwar den türkischen Hin- Rgen Radio Vatikan wegen des Ver- hen, zeigt sich auch der Vatikan ge- termann und die beiden Holländer, aber dachts der fahrlässigen Tötung in meh- sprächsbereit. Erstmals dürfen nun ita- unternahmen nichts, als Wacker mit sei- reren Fällen. Mit seinen extrem leis- lienische Techniker ins Sendezentrum nem Laster in Richtung England abfuhr. tungsstarken Sendeantennen in Cesano, der Katholiken. Und Papst-Sprecher Erst nachdem die 58 Chinesen tot in nördlich von Rom, soll der Sender, der Navarro-Valls verkündete, eine Eini- Dover gefunden wurden, setzte die die päpstlichen Botschaften in alle Welt gung über die riskanten Funkwellen sei niederländische Polizei etliche Verdäch- trägt, Leukämie verursachen. Eine Un- „sehr nahe“. tige fest.

der spiegel 15/2001 153 Ausland

CHINA Herausforderung am Himmel Hinter der Kollision des US-Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Kampfjet steckt ein Konflikt geostrategischer Interessen. Präsident George W. Bush und sein Gegenpart Jiang Zemin suchten einen Rückzug ohne Gesichtsverlust. Ein neuer Kalter Krieg würde nur den Hardlinern nutzen – auf beiden Seiten.

ein sechswöchiger Besuch in der 24 Frauen und Männer an Bord sowie um net George W. Bush, der sich lieber auf Volksrepublik gehört zu den Reisen, die Rückgabe der ramponierten Maschine Steuer- und Schulreform konzentriert hät- San die sich George W. Bush mit war- vom Typ EP-3E Aries II zum Härtetest der te, ist gut zwei Monate nach seinem Amts- men Worten erinnert. „Ein faszinierendes neuen Administration in Washington. antritt als Führer der Weltmacht gefordert. Land“ erlebte der heutige US-Präsident, „Es wird Zeit“, forderte ein schmallip- Der Konflikt mit der einzig verbliebe- als er 1975 mit dem Fahrrad Peking erkun- piger Bush, „dass unsere Soldaten heim- nen Supermacht brachte aber auch den dete. Dort amtierte Vater Bush damals als kehren und die chinesische Regierung un- chinesischen Staats- und Parteichef in die oberster Gesandter Washingtons. ser Flugzeug zurückgibt.“ Der Unfall ber- Bredouille: Er muss jene nationalisti- Trotz der Begeisterung für die „wun- ge die Gefahr, „unsere Hoffnungen auf schen Hitzköpfe in Partei und Armee be- derschöne Landschaft“ und die „gut aus- eine fruchtbare und produktive Beziehung schwichtigen, die den auftrumpfenden sehenden Frauen“ hinterließ das China unserer beiden Länder zu untergraben“, Amerikanern am liebsten eine deftige Leh- Mao Tse-tungs bei Bush Junior keine poli- drohte er. „Die USA müssen die volle Ver- re erteilen würden: etwa mit einem Schau- tischen Sympathien. „Was mich interes- antwortung und die Konsequenzen für den prozess gegen den US-Piloten. siert“, sinnierte er noch im Wahlkampf, Luftzwischenfall tragen“, wetterte Bushs Der Vorfall selbst erscheint wie ein Déjà- „kann man den Chinesen trauen?“ Gegenpart Jiang Zemin. Chinas Staatschef vu aus Zeiten des Kalten Krieges: Ein Heute dürfte sich der US-Präsident in forderte ausdrücklich eine „Entschuldigung mit Lauschelektronik beladener US-Flie- seiner Skepsis bestätigt sehen. Nach der der USA an das chinesische Volk“. ger kracht in umstrittenem Luftraum mit Kollision eines Spionageflugzeugs der US- Die markigen Erklärungen wirkten ag- einem Abfangjäger zusammen; dann folgen Marine mit einem chinesischen Kampfjet gressiv, richteten sich aber in erster Linie schrille Schuldzuweisungen und hysteri- eskalierte der Streit um das Schicksal der an das eigene Publikum. Denn ausgerech- sche Rufe nach Vergeltung. FOTOS: AP Präsident Bush, Staatschef Jiang, Regierungsmitglieder: „Wir fordern eine Entschuldigung der USA an das chinesische Volk“

154 der spiegel 15/2001 sich direkt gegen die Volksrepublik: US- Truppen müssten den Weltfrieden nicht mehr gegen die Russen in Europa vertei- digen, heißt es in einem Strategiepapier des Pentagons. Stattdessen werde in Zu- kunft der „Pazifische Ozean höchstwahr- scheinlich das Feld großer US-Militärope- rationen“ – „China wird mächtiger, Russ-

DPA land schwächer“. US-Maschine auf dem Stützpunkt Lingshui: Kalter Krieg in neuer Besetzung? Das sind Töne, welche die Herzen man- cher rechter Republikaner höher schlagen Traurige Verwandte, erzürnte Botschaf- fast so, als ob der chinesische Drache nun- lassen. Zwar scheffeln Geschäftsleute in ter und hilflose Militärattachés – die Sze- mehr die Rolle des russischen Bären über- und mit China viele Dollar. Das Reich der nerie erinnert an die Kaperung des US- nehmen könnte. Droht nun, so fragten sich Mitte ist mittlerweile zweitgrößter Han- Spionageschiffs „Pueblo“ durch Nordkorea Politiker in Südostasien, zwischen Wa- delspartner der USA, rund 200 000 Jobs (1968) oder an die Flucht eines sowjeti- shington und Peking ein Kalter Krieg in hängen direkt vom Chinageschäft ab. schen Piloten, der 1976 an Bord seiner neuer Besetzung? Doch die Washingtoner Falken plädieren MiG-25 nach Japan desertierte. Moskau Fest steht: Beide Seiten verpassten die für einen härteren Ton im Umgang mit der bekam die Maschine trotz geharnischten Chance, den Zusammenstoß rechtzeitig Volksrepublik. „Realistische Politik“ nen- Protests erst nach Wochen zurück – als auf einen bedauerlichen Unfall herunter- nen sie den neuen Kurs und begründen Bausatz handlich zerlegter Einzelteile. zustufen. Das ist kein Zufall, denn der ihn mit Chinas brutaler Missachtung von Doch die jüngste Havarie am Himmel „kleine Bush“, wie ihn die Pekinger nen- Menschenrechten – von Tibet bis zur Ver- hatte nicht nur die Zutaten eines Thrillers nen, steht den Chinesen weitaus distan- folgung der Falun-Gong-Anhänger. aus der Feder von John le Carré, sie droh- zierter gegenüber als sein Vorgänger Bill Das Feindbild bestimmt die US-Pläne te sich auch gefährlich zuzuspitzen: Eine Clinton. Für ihn ist das kommunistische für eine Raketenabwehr ebenso wie die bärbeißige US-Administration trifft auf Reich der Mitte kein „strategischer Part- Nachrüstung von Taiwans Militär mit eine selbstgerechte chinesische Führung, ner“ mehr, sondern ein „strategischer hochmodernen Radaranlagen. Noch im die wegen ihrer verwinkelten Bürokratie Konkurrent“. April will Bush entscheiden, ob Taipeh die nur gefilterte Informationen vom Gesche- Die neue Militärdoktrin von US-Vertei- gewünschten vier Zerstörer mit dem Aegis- hen erhält – und die zu allem Unglück vor digungsminister Donald Rumsfeld, der System erhält, das 100 Ziele gleichzeitig dem 16. KP-Parteitag im nächsten Jahr in schon unter Gerald Ford amtierte, wendet orten kann. interne Machtkämpfe verstrickt ist. Darauf drängen jetzt Taiwans Freunde Fast zehn Jahre nach dem Zusammen- im US-Kongress. Die Karambolage, 104 Ki- bruch von Amerikas kommunistischen An- lometer südöstlich der Palmeninsel Hainan, tipoden in Moskau schien es letzte Woche schien die Befürchtungen der USA vor den chinesischen Rivalen nur zu bestätigen. Delikater Zusammenstoß Washington macht daher auch keinen Hehl aus seiner Schnüffelei. Das Interesse Antennen gilt vor allem den Militärbasen und den EP-3E Aries II 300 Kurzstreckenraketen gegenüber Beanspruchte von Taiwan – jener Insel, die Pe- Gebiete von: king als abtrünnige Provinz be- CHINA Radar- trachtet und notfalls mit Gewalt ins Mut- VIETNAM scanner terland eingliedern will. Und nur der Ein- PHILIPPINEN Länge satz der fliegenden Wanzen erlaubt die tak- 32,3 m MALAYSIA JAPAN tische Nahaufklärung von Chinas U-Boo- Spannweite 30,4 m ten und Zerstörern. Okinawa CHINA Besatzung Chinesische Abfangjäger beschatten die 24, davon unbewaffneten EP-3 seit Jahren. Doch erst TAIWAN 14 Über- in jüngster Zeit versuchen die Chinesen, Etwa 104 km südöstlich der wachungs- Hanoi experten die US-Maschinen abzudrängen – vorletz- Hainan Insel Hainan kollidiert am ten Sonntag endete das Katz-und-Maus- 1. April um 9.15 Uhr ein ameri- Spiel tragisch. Lingshui kanisches Aufklärungsflugzeug Der F-8-Jet des Piloten Wang Wei, 32, Paracel- (EP-3E Aries II) mit einem chine- Inseln sischen Abfangjäger (F-8). schmierte nach dem Zusammenprall mit Manila dem Amerikaner ab. Von dem „rauen Bur- Südchinesi- schen“, wie ihn seine Kameraden rühmen, sches Meer CHINA 200 km fehlte bis Freitagabend jede Spur. Während sich beide Seiten die Schuld zu- VIETNAM Spratly- PHILIPPINEN schoben, warteten Taiwans Geheimdienst- Inseln Hainan ler, die den Funkverkehr abgehört hatten, Lingshui mit einer dramatischeren Version des Ge- schehens auf: Pilot Wang habe beim Ab- bremsen den US-Flieger gerammt, der einen BRUNEI Paracel- jüngst von den Russen gekauften chinesi- Südchinesi- Inseln schen Zerstörer umkreiste. Der Pilot einer sches Meer (von China MALAYSIA INDONESIEN und Viet- zweiten Maschine habe daraufhin versucht, 500 km VIETNAM nam bean- den Spionageflieger abzuschießen und ihn sprucht) damit zur Landung auf Hainan gezwun-

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diesen amerikanischen Hunden zeigen, wie mutig wir sind.“ Wer das US-Flugzeug, wie von den Amerikanern gefordert, freigebe, sei „ein Feind des Volkes“, schrieb ein an- derer. „Lasst uns die 24 Amis aufhängen“, verlangte ein Dritter. Chinas Führung wird von der eigenen Propaganda eingeholt. Weil der „Sozialis- mus chinesischer Prägung“ durch Markt- reform und korrupte Kader in Verruf ge- raten ist, setzt sie als Ersatz auf einen glühenden Nationalismus. Der soll Chinas kollektives Minderwertigkeitsgefühl über- decken und zugleich patriotischen Schul- terschluss garantieren. Vorerst behielten in Peking die gemäßig- ten Kräfte die Oberhand. Als Hitzköpfe dazu aufriefen, wie nach dem Nato-Bom-

FOTOS: AP FOTOS: bardement der chinesischen Botschaft in Landemanöver der Volksbefreiungsarmee: „Wir müssen zeigen, wie mutig wir sind“ Belgrad vor zwei Jahren vor der US-Mis- sion in Peking aufzumarschieren, löschten gen. Mit schadhaften Propellern, fehlen- Weise davor warnen wollen, die Lands- Internet-Polizisten sofort ihre Beiträge. dem Bug und defekten Landeklappen setz- leute auf Taiwan mit neuen Waffen zu Staatspräsident Jiang begab sich auf eine te die EP-3 ausgerechnet auf dem Militär- versorgen. Peking wertet den möglichen Dienstreise nach Südamerika, die eng- flughafen von Lingshui auf. Die Chinesen Rüstungsdeal als Provokation und Einmi- lischsprachige „China Daily“ kommentier- nahmen die unverletzte Besatzung fest und schung in die inneren Angelegenheiten. te: „Die Krise nutzt niemandem.“ schlachteten den Millionen Dollar teuren Der Zusammenstoß in dünner Luft Vor allem China nicht: Die ungeliebten fliegenden Horchposten gnadenlos aus. schürte den Ärger der Chinesen über die Amerikaner sind wichtige Investoren, und Denn für Chinas Militär ist das ein Ge- Amerikaner weiter – sie argwöhnen, der in den USA kann China mit seinen Expor- schenk des Himmels. Die in Okinawa sta- selbst ernannte Weltpolizist wolle den Auf- ten die Devisen verdienen, die es für die tionierte viermotorige Turboprop-Maschi- stieg Chinas zu neuer Größe behindern. Reform der Staatsbetriebe braucht. ne des Geschwaders Eins (Spitzname: „Kader und Volksmassen verurteilen die Obendrein könnten militärische Span- „World Watcher“) wirkt zwar wie ein Ur- hegemoniale Aktion der Amerikaner“, ti- nungen den für Jahresende geplanten Bei- altmodell. Doch die Innenausstattung ist telten die Zeitungen. tritt in die Welthandelsorganisation sowie vom Feinsten: Modernste Scanner, Radar- Der Streit um den US-Flieger dient den die Bewerbung um die Olympischen Spie- geräte und Antennen gestatten das Ab- Chinesen als Gelegenheit, Washington in le 2008 gefährden, mit der sich China Pres- hören bis weit hinter gegnerische Linien. die Schranken zu weisen – ein Drahtseilakt tigegewinn und die endgültige Aufnahme in Selbst wenn es den Amerikanern vor für Spitzenfunktionäre, die das Verhältnis die internationale Gemeinschaft erhofft. der Notlandung gelang, die wichtigsten Ap- zu den USA nicht ernsthaft gefährden wol- Nach der orchestrierten Entrüstung der paraturen zu zerschlagen, Festplatten zu len, angesichts des Volkszorns aber vor öffentlichen Meinung verordnete Peking löschen und CD-Roms zu zerbrechen: Im ihren Untertanen Stärke zeigen müssen. Ende der Woche Ruhe als oberste Bürger- Krieg der Lauscher dürften die USA zehn pflicht. Obwohl Präsident Bush sein Jahre Vorsprung eingebüßt haben, schätzt „Bedauern über den Verlust des Paul Beaver vom Fachdienst „Jane’s“: Aus chinesischen Piloten“ bezeugte und den verbliebenen Antennen, Rechnern Washingtons Diplomaten bei „in- und Schaltkreisen können die Chinesen tensiven Bemühungen“ für die schließen, wie die Amerikaner Gespräche Freilassung der US-Crew fochten, mithören und Faxe mitlesen konnten. ist unklar, ob Jiang auf den gefor- Vergessen waren mit einem Schlag die derten Kotau verzichten wird. Im- charmanten Reden, die den Antrittsbesuch merhin gestattete Peking am Freitag des Vizepremiers Qian Qichen bei Bush weitere Besuche von Militärattaché im März bestimmt hatten. Dauert das Tau- Neal Sealock bei den US-Soldaten. ziehen auf Hainan noch länger an, dürfte Zudem zeichneten sich deutliche die für Oktober geplante China-Visite des Fortschritte in der Krisenbewälti- Amerikaners kaum stattfinden. gung ab. Aus Washington verlaute- Unter der Oberfläche des US-chinesi- US-Attaché Sealock: „Intensive Bemühungen“ te, dass amerikanische und chinesi- schen Verhältnisses rumort es schon lange. sche Diplomaten an einer gemein- Washington gelang im Dezember ein Coup, Schon kurz nach dem Zwischenfall vor samen Erklärung arbeiteten, die allerdings der Peking erschütterte: Oberst Xu Junping, Hainan geriet KP-Chef Jiang unter Druck mit den beiden Präsidenten noch abge- Amerika-Referent in der Zentralen Militär- von Politikern und Militärs; konservative stimmt werden müsste. kommission, floh in die USA. Und in den Kader und junge, nationalistisch gesinnte Den Spagat probte bereits die „Pekinger letzten Monaten verhafteten Pekings Si- Intellektuelle kritisieren schon länger die Abendzeitung“. Das Blatt zitierte den ehe- cherheitsdienste ihrerseits drei chinesische KP-Führung. Sie gehe viel zu sanft mit den maligen Fliegeroffizier Zhao Baotong, 73: Wissenschaftler mit amerikanischem Pass US-Kapitalisten um. „Anmaßend“ sei das Verhalten der Ame- oder permanenter US-Aufenthaltsgenehmi- Die rabiate Denkweise dieser Zirkel rikaner. Aber: „Wir unterstützen den erns- gung und beschuldigten sie der Spionage. spiegelten zahlreiche Beiträge in den In- ten und gerechten Standpunkt, den Staats- Dahinter stecken offenbar die Hard- ternet-Diskussionsforen wider. „Immer präsident Jiang im Namen der chinesischen liner aus Volksbefreiungsarmee, Geheim- häufiger bewirft Amerika die Chinesen mit Regierung bezogen hat.“ Andreas Lorenz, dienst und Polizei, die Washington auf ihre Dreck“, schimpfte ein Autor: „Wir müssen Stefan Simons

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GROSSBRITANNIEN Kadavergeruch im Paradies Nirgendwo wütet die Maul- und Klauenseuche so heftig wie in der nordenglischen Grafschaft Cumbria. Das Militär versucht, durch Massenschlachtungen eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Bei den Bauern wächst die Verzweiflung.

wischen Carlisle und Kendal in der Grafschaft Cumbria steht ein großer ZMistwagen neben der Autobahn M6. Darauf ein drei Meter hohes Pappschild: „Cumbria brennt, und die Regierung kas- pert bloß rum.“ Die Bauern von Cumbria tun Premier- minister Blair Unrecht. Er hat ganze Hun- dertschaften von Veterinären aus dem Landwirtschaftsministerium und sogar Gurkha-Soldaten gegen die Maul- und Klauenseuche (MKS) mobilisiert, er hat den Mitgliedern seines Kabinetts aufgetra- gen, ihren nächsten Urlaub auf dem Land zu verbringen, und im Übrigen die Parla- mentswahlen um fünf Wochen verscho- ben. Was kann ein Premierminister sonst noch tun? Der neue Wahltermin werde dem Pre- mier und dem Landwirtschaftsminister die Zeit geben, die sie bräuchten, um die Kri- se zu meistern, hieß es lapidar in Downing

Street. Das ist ein nobles Motiv. Was aber M. MACLEOD auch nicht belanglos ist: Die Wahlforscher Brennende Tierkadaver: „Keine Worte, um den Horror zu beschreiben“ haben Tony Blair vorgerechnet, dass er ein gutes Dutzend Unterhaussitze an die Tories mit großem Gefolge nach Carlisle, um im Ein Bulle von zweieinhalb Jah- abgeben werde für den Fall, dass er an dem Farmertreffpunkt „Shepherd’s Inn“ der ren bringt nur noch halb so viel alten Termin festhalte. Lokalpresse mitzuteilen, er gedenke 500 wie ein Zweijähriger. Es ist gar keine Frage, dass Blairs Land- Millionen Pfund an zinslosen Krediten für Viele Höfe sind herunterge- wirtschaftsminister Nick Brown über das die Not leidende Landwirtschaft bereitzu- kommen: bröckelnde Mauern, nötige Potenzial verfügt, um die Maul- und stellen, wenn seine Partei an die Regierung halb abgedeckte Dächer, Müll- Klauenseuche irgendwann in den Griff zu gewählt werde. Die Massenschlachtung sei berge vor der Tür. Dies ist nicht kriegen. Seine Schlachter und Veterinäre so im Übrigen abwegig. Er sagte aber nicht, das heile England aus den Coun- töten jeden Tag Zehntausende Tiere, meis- was er mit „so“ meint. tryside-Magazinen und aus der tens Schafe. Doch der tödliche Countdown Die National Farmers Union hat eben- seit 50 Jahren laufenden BBC- will nicht abreißen. Gut möglich, dass sie falls erklärt, sie halte die Maßnahmen der Radio-Serie „The Archers“, in alle Schafe in Cumbria ausrot- Regierung gegen die Krise für zu der die Kühe gesund, die Bau- ten müssen, um das aggressive drakonisch. Nur, warum hat sich ern rechtschaffen und die dörf- Virus zu besiegen. „Als sie ab- denn keiner der Farmer der Or- lichen Zustände in Ordnung Die Stimmung in der Graf- geholt wurden, der widersetzt, auch gesunde sind. schaft Cumbria ist explosiv. Eine waren einige Tiere zu schlachten? Schlimmer als Nebenerwerbs- Gruppe von Demonstranten hat Rinder so „Weil sie 90 Prozent des letz- höfe sind die Mastbetriebe dran. dem Premierminister, ohne dass aufgebläht, ten Marktpreises als Entschädi- Ihre Bestände sind meist in vie- sie jemand daran zu hindern ver- gung bekommen“, sagt Colin len Jahren mühsam aufgebaut suchte, bei dessen Besuch in dass sie Maugham, der Landwirtschafts- worden. Die Farmer werden wie- Carlisle ein Transparent mit der explodierten“ korrespondent der „Westmor- der viele Jahre brauchen, um Aufschrift entgegengehalten: land Gazette“. Heute wären die neue Herden zu züchten. „Only a dead Tony is a good Tony.“ Für Tiere erheblich weniger wert. Außer- Harte Zeiten auch für den britische Verhältnisse eine unerhörte Ent- dem kann man sie zurzeit nicht mehr an Fremdenverkehr. Die Touris- gleisung. Der Slogan signalisiert die ganze den Markt bringen, weil die Märkte ge- muslobby hält die Vorsichtsmaßnahmen Brisanz der öffentlichen Erregung. schlossen und Viehtransporte weitgehend für rücksichtslosen Aktionismus, weil Men- Ihrer Majestät Oppositionsführer, Wil- verboten sind. schen durch die Seuche ja nicht gefährdet liam Hague, hat erkannt, dass Cumbria Es kann noch Monate dauern, bis die Be- würden. eine Pilotfunktion bei den Wahlen zufallen schränkungen aufgehoben werden. Dann Normalerweise sind in der „lambing sea- könnte, sollte sich die Stimmung ändern. ist das Geschäft für die Viehzüchter gelau- son“, also in den Wochen um Ostern, wenn Er eilte am Donnerstag vorletzter Woche fen, weil die Tiere inzwischen zu alt sind. die neuen Lämmer kommen, die Hotels an

158 der spiegel 15/2001 morland und Cumberland, dem dass die Landschaft hier voll brennender heutigen Cumbria. Schafsleichen liegt.“ In diesem Frühjahr wird Die Armee, die an der Seuchenfront für das Geschäft mit der Schön- Ordnung sorgt, lässt sich ihren Battle- heit vom Kampf gegen die of-Britain-Elan von solchen bürgerlichen Maul- und Klauenseuche er- Einwänden nicht verderben. Sie regu- stickt. Die Gastronomie mel- liert das Leben in Cumbria mit Schlag- det Buchungsraten von zehn bäumen, betongefüllten Tonnen und rot- Prozent. Auch die Vorbestel- weißem Absperrband. Dem Bauern Ever- lungen für den kommenden ley Buckley hat sie verboten, seine 200 Sommer sind verhagelt. Es ist Mutterschafe über die Landstraße A 591 in ein einziges Fiasko. den 20 Meter entfernten Stall zu treiben, damit sie dort in Frieden werfen können. Die A 591 ist nämlich die Grenzlinie für das Sperrgebiet South Lakeland. Ausnah- men werden nicht gemacht. An order is an order. Die Militärs haben eine Armada von 150 schweren Lastwagen requiriert, um die Rinder, Schweine und Schafe von fast 400 Farmen abholen zu lassen. Laut Anord- nung des Landwirtschaftsministeriums müssen alle Tiere, auch die gesunden, im Umkreis von drei Kilometern um infi- zierte Herden getötet werden. Allein in Cumbria sind 40 Prozent aller Tiere regis- triert, die wegen MKS in Großbritannien gekeult wurden und noch gekeult wer- den sollen, knapp 500000 von inzwischen 1,2 Millionen. Die Keulkommandos sind Tag und Nacht im Einsatz. Trotzdem haben sie lan- ge Wartelisten. Das Pensum ist einfach nicht zu schaffen. Ganze Berge von Kada- vern liegen tagelang auf irgendwelchen

REUTERS Wiesen herum, zum Fraß für Vögel, Ratten Premier Blair* und Füchse, die sich natürlich nicht um Tödlicher Countdown Sperrbezirke kümmern. Weil die Schlachter von der Armee und Doch wer will schon Ferien vom Ministerium überfordert sind, greifen in der Quarantäne machen? die Farmer auch selbst zur Schlachtpistole. Die Wanderwege durch die Aber Töten ist ein Geschäft, das man ge- Wälder und die blühenden lernt haben muss. Auf einer Farm bei Car- Ginsterhaine sind gesperrt. Die lisle fand ein Sprühtrupp, der eine Herde Weiße Flotte am Ullswater darf von 1100 gekeulten Swaledale-Schafen nicht auslaufen. Auch der ros- desinfizieren sollte, nach zwei Tagen acht tige Panzer, in dem die Ehe- Tiere, die noch atmeten. leute Alistair und Deborah Mit den improvisierten privaten Mas- Hogg aus Troutbeck bei schö- senbegräbnissen und -verbrennungen soll nem Wetter Touristen herum- nun Schluss sein, weil sie stellenweise um- kutschieren, hat Fahrverbot. weltbedrohende Ausmaße angenommen In der Luft hängt Verwesungs- haben. In dem Ort Little Strickland brach geruch. Und das berühmte das Abwässersystem zusammen, nach- Troutbecker Pfannkuchenren- dem verstümmelte Schafsleichen die Roh- nen ist für dieses Jahr auch ab- re verstopft hatten. Der Fluss Leith, der gesagt. durch den Ort fließt, war stundenlang rot Fredericka Johns vom von Blut. „Langdale Hotel and Country Das Vieh wird jetzt fast ohne Ausnahme Club“ verlangt für die Gastro- zum alten Flugplatz von Great Orton bei nomie die gleichen Lastenaus- Carlisle gebracht, wo Soldaten die Tiere

REUTERS gleichszahlungen wie die für mit Kopfschuss töten und in Gräben wer- Tiermüllhalde in Great Orton: Kopfschuss von Soldaten die Bauern. Man dürfe nicht fen. Die Fahrer der sechsachsigen Tiermüll- vergessen, dass der Tourismus Laster, die unablässig Nachschub für die den Seen im Süden und Westen von Cum- eine hohe Rendite einbringe, die Land- Schlachtbänke bringen, haben Sprechver- bria ausgebucht. Der Lake District ist der wirtschaft dagegen nur Verlust. „Wir krie- bot. Die Regierung hat kein Interesse dar- schönste Teil Englands, und im Frühling ist gen Absagen aus aller Welt, sogar aus In- an, der Nation Einzelheiten der monströ- er ganz besonders schön. „The earthly pa- dien und New York. Die Leute glauben, sen Tötungsoperation vorzuführen. radise that only England knows“, schwärm- Dabei bescheinigt auch der etablierte ten die englischen Romantiker von West- * Beim Besuch einer schottischen Tierleichendeponie. Tierschutz den Armee-Schlächtern, dass

der spiegel 15/2001 159 Ausland sie im Großen und Ganzen humaner töten seinem Tagebuch stichwortartig die De- als ihre Kollegen in den Schlachthöfen, wo pressionen und die Tragödien der ver- Schafe und Rinder manchmal bei vollem gangenen Wochen beschrieben. Es heißt Bewusstsein an einem Lauf von der Decke darin: baumeln und langsam zu Tode bluten. „Samstag: Frühstück, eine sehr un- „Das friedlich-ländliche Großbritannien glückliche Joan ruft an, um zu sagen, dass kennt keine Massengräber“, schrieb die eine ihrer Milchkühe ein wundes Maul „Times“ in einem Leitartikel zur Sache. hat … „Sie gehören nach Leningrad und Dres- Teatime: Joan ruft wieder an, um mit- den.“ Weil in Großbritannien nicht sein zuteilen, dass der Veterinär auf der Farm kann, was nicht sein darf? war und dass MKS bestätigt wurde … Die Bauern haben sich mit Strohballen auf ihren Höfen verbarrikadiert. „Man fühlt sich wie ein Leprakranker“, sagt Brian Armstrong von der Blunderfield Farm in Kir- koswald. Vor drei Tagen leb- ten hier noch 340 Rinder und 1000 Schafe. Jetzt ist die Farm tot. Im Wortsinn. Den meisten Farmern ging es hier auch vorher schon nicht gut. Ein Drittel hat sich neulich in einer Umfrage dazu bekannt, dass sie lieber heute als morgen aufhören würden, aber dass sie nicht

wüssten, wovon sie dann le- PAYNE P. ben sollten. Das Einkommen Leerer Kuhstall in Cumbria: Rücksichtsloser Aktionismus? in der Landwirtschaft ist in den letzten sechs Jahren um 40 Prozent Sonntag: Das Vieh wird bewertet. Die gesunken. 1995 brachte die Tonne Weizen Gutachter tun für uns, was sie können. Der 125 Pfund, jetzt bringt sie nur noch 60 Veterinär vom Ministerium ist gut, freund- Pfund. Für einen Liter Milch zahlt die Mol- lich und tüchtig. kerei in Carlisle 17 Pence. Der Geste- Sonntagnachmittag: Wir besuchen un- hungspreis liegt bei 21 Pence. seren Nachbarn James, dessen Bruder sei- Die ganze Nation hat – zumindest wirt- ne ganze Herde verloren hat. Wir hätten schaftlich – nicht mehr viel Freude an der das nicht tun sollen. Es gibt keine ange- Landwirtschaft. Die britischen Bauern messenen Worte, um diesen Horror zu be- nehmen 80 Prozent der gesamten Landes- schreiben. Nachdem die Rinder getötet fläche für sich in Anspruch. Darauf er- worden waren, blieben sie liegen. Als sie zeugen sie gut ein Prozent des Brutto- endlich abgeholt wurden, waren einige von inlandsprodukts. Das ist weniger, als die ihnen so stark mit Gas gefüllt, dass sie ex- nationale Sandwich-Industrie mit ihrem in plodierten. Der Gestank war überwälti- Zellophan verpackten belegten Weißbrot gend. Blut und Schmutz flossen vom Hof erwirtschaftet. die Straße hinab in die Gullys. Ich könnte Es wäre vernünftiger, alle Farmen zu noch mehr solche Geschichten erzählen. schließen, die Bauern als Frühpensionäre Aber mein Magen ist nicht stark genug.“ an die Costa Blanca zu schicken und mit Bauer Mawdsley hält die Verbrennungs- dem ersparten Geld eine Armee von Förs- methoden für dilettantisch. Er schreibt: tern und Waldarbeitern zu finanzieren, die „Erst werden die Kadaver auf dem Schei- die Landschaft in Ordnung hält. Doch die terhaufen gestapelt. Dann wird der Haufen Nation lässt auf ihren Nährstand nichts angesteckt. Während sich die Hitze lang- kommen. Die nostalgischen Gefühle der sam aufbaut, entweichen Flüssigkeit und Städter gegenüber der Landwirtschaft sind Dampf, in denen das Virus steckt, aus dem unverwüstlich. The Countryside ist für das Kadaver. Welcher Koch tut denn den Bra- gesunde Volksempfinden das bessere Eng- ten in den Ofen, bevor er Feuer darunter land. Drei Viertel der Stadtbevölkerung macht?“ sind bereit, für die Erhaltung der Land- Dennoch fanden Mawdsley und seine wirtschaft fast jeden Preis zu zahlen. Nachbarn es richtig, dass der Premier- Das materielle Elend der Bauern lasse minister Cumbria besucht hat. Aber er hät- sich zum Teil kompensieren, das seelische te von Carlisle mal rüberkommen sollen, Elend dagegen nicht, sagen die Telefon- hierher auf die Farmen. „Damit sich ein seelsorger von der „Farmer’s Helpline“, Hauch von dem Pestgeruch des brennen- die in diesen Wochen auch nachts zur Ver- den Fleisches in seine Haare und Klamot- fügung stehen. ten gesetzt hätte. Den hätte er dann mit- Der Farmer Richard Mawdsley vom nehmen können nach Westminster.“ Dash-Hof am Bassenthwaite-See hat in Als Memento. Erich Wiedemann

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RUSSLAND Zurück zur Zensur Im Fernsehkrieg bedient sich Präsident Putin dubioser Helfer: Der Kreml-nahe Konzern Gasprom stürzt die Leitung des unabhängigen Senders NTW. m Marmorsaal des Kreml gelobte er vor Abgeordneten, eine „Absage an de- Imokratische Freiheiten“ werde es nicht geben. Auch eine erneute „Umverteilung REUTERS von Eigentum“, befand Präsident Wladimir Abgesetzter NTW-Chef Kisseljow: Hoffnung auf Volksbeistand Putin am vorigen Dienstag, sei nur „schäd- lich und gefährlich“. gramm und geht seitdem mit einem „Pro- überregionale Lizenz entzogen hat, will Zur gleichen Zeit trafen sich im Palast test“-Signet auf Sendung. Jungredakteure Kanzler Gerhard Schröder mit Putin über des staatlich kontrollierten Energiekon- übernachteten am Arbeitsplatz und inter- Medienfreiheit reden. Dem Gussinski-Ra- zerns Gasprom an der Moskauer Namet- viewten sich schon mal gegenseitig live. dio „Echo Moskwy“ hat er ein Interview kina-Straße Aktionäre der Fernsehstation Grigorij Jawlinski, Chef der liberalen versprochen. NTW zum Auskungeln neuer Machtver- Jabloko-Fraktion, machte den Streitern für Schon die Biografie der neuen TV-Ge- hältnisse: Die Versammlung, von einem ein unabhängiges Fernsehen Mut: „Wir waltigen Koch und Jordan böte hinrei- Moskauer Bezirksgericht am Tag zuvor erst müssen kämpfen, und wir werden siegen.“ chend Anlass zu Volkszorn. Alfred („Alik“) für illegal, dann für zulässig erklärt, er- Die NTW-Journalisten träumten vor Koch musste nach einer Blitzkarriere im setzte den NTW-Gründer Wladimir Gus- Kameras und Mikrofonen von der „tsche- Jelzinschen Bereicherungsstaat 1997 als sinski – derzeit in Spanien in Hausarrest – chischen Variante“ (Kisseljow), dem als- Chef des staatlichen Privatisierungskomi- durch den Gasprom-Medienaufseher baldigen Volksbeistand nach dem Muster tees, unter anderem wegen eines verdäch- Alfred Koch. NTW-Direktor Jewgenij Kis- der jüngsten Prager Massenaktionen zur tigen Buchhonorars von 100 000 Dollar, seljow wurde durch den US-Bankier Boris Verteidigung eines unabhängigen Fern- zurücktreten. Jordan abgelöst. sehens. 1998 siedelte Koch, einem Verfahren we- Auf den Posten des Chefredakteurs – Doch die Hoffnung, mit dem TV-Protest gen Veruntreuung knapp durch Amnestie bisher Kisseljow – schob Gasprom einen und den ersten wärmenden Sonnenstrah- entronnen, zeitweilig in die USA über und Mann aus der Führungsetage des Staats- len hätte Moskau auch ein politischer Früh- tönte, er habe für Russland nun „nicht fernsehens RTR. ling erreicht, war trügerisch. Eine durchaus mehr Interesse als für Brasilien“. So bekommt mit dem Coup der Kreml- glaubhafte Meinungsumfrage kam in Um- US-Bürger Boris Jordan, Sohn emi- frommen Gasmänner Putins Staat den größ- lauf: Jeder zweite Russe wünscht sich die grierter Russen, avancierte 1992 zum Wirt- ten landesweiten Privatsender in den Griff Zensur zurück. schaftsberater der Moskauer Regierung. – gegen den Protest von rund 5000 Demon- Nur wenige hundert Demonstranten zo- Wegen dubioser Praktiken beim Verhö- stranten auf dem Puschkin-Platz („Hände gen vorigen Mittwoch zum Funkhaus Ostan- kern von Großbetrieben strich ihm das rus- weg von NTW!“) und Solidaritätskundge- kino, das einst, beim Parlamentsputsch 1993, sische Außenministerium 1997 zeitweilig bungen und Unterschriftenlisten in St. Pe- heiß umkämpft war. Nach kurzer Ermah- das Visum. tersburg, Tatarstan und Sibirien. nung durch Polizeioffiziere bat Kisseljow Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit Der gestürzte Kisseljow erklärte die Ak- die Protestler, Transparente und Fahnen mit setzt der entmachtete Kisseljow auf einen tionärsversammlung für „ungesetzlich“, Trauerflor wieder einzurollen. Neue De- Retter aus Amerika, den CNN-Boss Ted die NTW-Belegschaft stellte sich hinter ihn. monstrationen wurden angekündigt. Turner. Doch der schloss vorige Woche mit Ihr TV-Kanal unterbrach tagelang das Pro- Diese Woche naht ein Nothelfer aus Ber- Gussinski nur einen Vorvertrag über den lin: In St. Petersburg, wo soeben die Re- Kauf von Aktien im Wert von 225 Millio- NTW-Zentrale in Moskau gierung privaten Rundfunksendern die nen US-Dollar. Damit gehört ihm noch Griff nach dem größten Privatsender nicht NTW, das Sagen behält Gasprom. Dem US-Medienunternehmer Turner Russische Television hatte Putin versichert, er sähe ihn gern als Besitzverhältnisse am Investor in Russland. Garantien für die Fernsehsender NTW Gasprom Pressefreiheit mochte er indes nicht bieten. zur Darlehenssicherung Denn darüber hat Putin eigentümliche bei der First Boston Vorstellungen, wie Koch zu Beginn des Gasprom-Media Bank hinterlegt Moskauer Fernsehkriegs ausplauderte: 46,0 % 19,0 % Ihm habe der Präsident für den Um- gang mit den Gussinski-Medien die Order gegeben: „Aktien und Finanzen sind dei- 4,4 % 30,6 % ne Prärogative. Aber ja nicht Manage- Capital Research Wladimir Gussinski ment oder Journalisten anfassen.“ Das, unter Einfluss von für 225 Mio. US-Dollar so Koch, habe sich Putin selbst vorbe- Boris Jordan Ted Turner angeboten REUTERS halten. Uwe Klussmann

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nur knapp 150 Rentner und kreischende Fans sowie eine Hand voll Militärs. Hätten sich zwei konkurrierende Polizeigarden und die ebenfalls die Milo∆eviƒ-Residenz bewachende Armee in der Nacht zum 31. März bei der „Aktion Sandviper“ nicht gegenseitig beschossen, wäre Belgrad ein 36-stündiger Polit-Krimi mit peinlichen De- mentis erspart geblieben. Zum besseren Ruf des Regierungsbünd- nisses DOS habe die Aktion jedenfalls nicht beigetragen, schimpfte nach seiner Rück- kehr aus Genf Präsident Ko∆tunica, der über den dilettantisch vorbereiteten Fest- nahmeversuch nicht informiert worden war. Nun müsse vollendet werden, was be- gonnen worden sei, befahl der Präsident. Über Details des fast zehnstündigen Dra- mas, in dem Milo∆eviƒ von Vermittlern sei- ner eigenen Partei sowie der Regierung zur Kapitulation überredet wurde, verein- barten alle Beteiligten weitgehend Still- schweigen. Bestätigt wurde aber, dass der Ex-Staatschef mit einem Blutbad und kol-

REUTERS lektivem Selbstmord seiner Familie gedroht Ex-Präsident Milo∆eviƒ, Anhänger*: Mit kollektivem Selbstmord gedroht und während der Gespräche die Pistole mehrmals an seine Schläfe gesetzt habe. Erst als das Verhandlungsteam Milo∆eviƒ SERBIEN überzeugte, dass die Polizei nicht davor zurückschrecken würde, seine Residenz in die Luft zu jagen, stieg der entthronte Herr- „Zum Wohle des Volkes“ scher widerstandslos und bereits unter der Wirkung von Beruhigungstabletten in die Nach der Verhaftung von Milo∆eviƒ muss die Regierung Beweise wartende Limousine. Mit im Gepäck hat- te er offenbar das Versprechen, nicht an für Verbrechen des Ex-Staatschefs vorlegen. Eine Auslieferung an das Haager Kriegsverbrechertribunal über- das Kriegsverbrechertribunal ist vorerst nicht geplant. stellt zu werden. Ausdrücklich versicherte jedenfalls der ie abgedunkelten Limousinen und zu anderen Straßen, 184 Überwachungs- Legalist Ko∆tunica in einer Rede an das Jeeps der Reichen sind wieder nach kameras, Kommandozentralen, 40 Telefon- Volk, „Jugoslawien denkt derzeit nicht an DDedinje zurückgekehrt. Vorver- linien und eigener Wasserversorgung nebst eine Auslieferung seines ehemaligen Prä- gangene Woche hatten sich ihre Besitzer Frischluftzufuhr. Die Zeitung „Telegraf“ sidenten“. Eine „Kommission zur Wahr- aus Angst vor einem Krieg im Belgrader sprach vom „stabilsten Bunker Serbiens“ heitsfindung“ wurde gegründet. Sie soll Eliteviertel in Sicherheit gebracht. mit dem Waffenlager einer Kaserne. auf Ko∆tunicas Anweisung nun die politi- Nur noch ein blauer Streifenwagen steht Doch das konspirative Kartenhaus des schen Umstände klären, die zum Zerfall jetzt vor dem Tor zur Nummer 11 in der Ex-Präsidenten krachte am 1. April zu- Jugoslawiens führten – ein Versuch, die U¢i‡ka Straße. Dahinter liegt die Villa sammen. Seither sitzt Milo∆eviƒ in der zehn Kriegsschuld zu verteilen und Reparations- „Mir“ (Frieden). Das ist die Residenz des Quadratmeter großen Residenz „Hyatt“ – forderungen der Nachbarn abzublocken. jugoslawischen Präsidenten. Der heißt seit so wird im Gefängnisjargon der Trakt mit Bundesjustizminister Mom‡ilo Grubac Oktober 2000 und dem demokratischen den Einzelzellen in der Belgrader Zentral- zeigte sich unbeeindruckt von den „priva- Wahltriumph Vojislav Ko∆tunica. haftanstalt genannt. ten Gedanken seines Präsidenten“. Ver- Der Rechtsprofessor hatte das Wohn- Verteidigt hatten den einstigen Serben- gangene Woche präsentierte er einen neu- recht seinem Vorgänger überlassen, um führer statt der erhofften 100000 Anhänger en Gesetzentwurf, der neben umfangrei- dem abgehalfterten Despoten den Rück- chen Kompetenzen der Haager zug ins Rentnerleben zu erleichtern. Ein Richter innerhalb Jugoslawiens Fehler, wie sich herausstellte. Der vorver- auch eine Auslieferung gesuchter gangenen Sonntag verhaftete Slobodan Kriegsverbrecher an das Tribu- Milo∆eviƒ habe aus dem abgeschirmten Lu- nal nicht mehr ausschließt, „falls xusbau im Mai einen Putsch dirigieren wol- dies Sicherheit und Stabilität des len, behaupten Sicherheitsexperten anhand Landes nicht gefährde“. gefundener Dokumente und Skizzen. Belgrad weiß zu gut, dass das Spezialeinheiten der Polizei durch- Verständnis der westlichen Me- kämmten jeden Millimeter der Residenz. tropolen für eine Verurteilung Dabei entdeckten sie eine unterirdische Milo∆eviƒs im eigenen Land Geheimstadt mit fast kilometerlangen Tun- kaum mehr als eine Atempause neln und Gängen, verdeckten Ausgängen ist, der erneut Ultimaten folgen werden. „Bis Weihnachten ist der

* Oben: am 24. März vor seiner Residenz; unten: Ein- DPA in Den Haag“, glaubt ein Bel- satzkommando beim Sturm auf die Residenz am 31. März. Festnahme-Versuch*: „Aktion Sandviper“ grad-Besucher aus Brüssel. Auch

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Werbeseite Ausland die neue Bush-Administration macht da- schuldigungen „dünn wie Eis“. Mit illega- den Wagen ab, mit dem Milo∆eviƒ nach bei keine Ausnahme, wie Serbiens Premier len Geldern, sagte ein Sprecher der Sozia- seiner Verhaftung die Residenz verließ. Zoran Djindjiƒ bei seiner vergeblichen Bitte listen, habe auch Deutschlands Ex-Kanzler „Wie kannst du dich lebend ergeben“, soll in Washington um Aufschiebung der Ver- Helmut Kohl seine Partei finanziert. die 35-jährige „bloody Mary“ ihrem Vater haftungsfrist erfahren musste. Washington Serbiens Justizbehörden zeigten sich hysterisch nachgeschrien und ihm den hatte gedroht, andernfalls Wirtschaftshil- Ende letzter Woche dennoch optimistisch: Selbstmord empfohlen haben. Der ist im fen in Höhe von 50 Millionen Dollar zu Im Keller der Nationalbank wurden Do- Hause Milo∆eviƒ Familientradition. Auch stoppen. kumente gefunden, die die Verteilung von Slobodans Eltern und sein Großvater wähl- Vorerst ist Slobodan Milo∆eviƒ nur we- Millionen Dollar und Mark an sozialistische ten den Freitod. gen Amtsmissbrauchs und Korruption an- Spitzenfunktionäre belegen. Allerdings besagen Gerüchte, Milo∆e- geklagt. Das stellt ihn nicht gerade als Ausländische Regierungen versprachen, viƒ habe als Garantie für seine freiwilli- Verbrecher vor der Bevölkerung bloß. bei der Suche nach Geheimkonten des ge Gefangennahme nicht nur Sicherheit Dass Zollmillionen zweckentfrem- für seine Familie gefordert, son- det wurden, wie Ex-Zolldirektor dern auch deren unbehinderte Aus- Mihalj Kertes bestätigte, erregt auf reise. Vorigen Donnerstag über- dem Balkan nur wenige. brachte der Sekretär der Sozia- Die illegalen Zuschüsse gingen listen, Ivica Da‡iƒ, auf Kuba Fidel laut Milo∆eviƒ an den Geheim- Castro eine persönliche Nachricht dienst, die Sozialistische Partei und von Milo∆eviƒ. vor allem an die serbische Kriegs- Die Residenz auf Dedinje steht maschinerie in der kroatischen Kra- mittlerweile leer – Frau und Toch- jina und der bosnischen Republik ter des inhaftierten Despoten ha- Srpska – letzteres, obwohl Belgrad ben sich offenbar im Familienan- angeblich Sanktionen gegen Pale wesen des Clans 70 Kilometer von und seine „kriegslüsterne“ Führung Belgrad entfernt einquartiert. unter Karad¢iƒ verhängt hatte. Politischer Katzenjammer herrscht Den Haag mag darin eine Be- bei der Sozialistischen Partei, de- stätigung sehen, dass sich auch die ren Mitgliederzahl von über 600000 Kommandozentrale für diese Ar- auf 300000 abgesackt ist. Rette sich, meen in Belgrad befand – für die wer kann, lautet die Devise der Ge- Serben indes ist es eher ein Beweis nossen. Viele brechen ihr Schwei- patriotischen Nationalbewusstseins. gen vor den Untersuchungsbehör- 1997 sicherte Milo∆eviƒ durch den und hoffen, damit eigener den Verkauf von 49 Prozent der Strafverfolgung zu entgehen. Ex- serbischen Telekom an Italien und Geheimdienstchef Rade Markoviƒ Griechenland seinen Wahlsieg, in- habe ebenfalls „Kooperationsbe- dem er monatelang im Rückstand reitschaft“ signalisiert, berichten befindliche Renten und Löhne aus- die Zeitungen, seit ihm die Todes- zahlte. Das kam gut an und unter- strafe angedroht wurde. Für die

drückte eine Protestwelle. Einen AP nächsten Tagen wird die Verhaftung Strick wird wohl auch niemand Gefängnis-Besucherin Milo∆eviƒ: Schlotternde Hosen weiterer ehemaliger Spitzenfunk- dem Ex-Staatschef daraus drehen, tionäre erwartet. dass er während der internationalen Sank- Milo∆eviƒ-Clans rund um den Globus mit- Die kommunistische Linke „JUL“ mit tionen Gelder auf Auslandskonten in aller zuhelfen. Serbiens Innenminister Du∆an ihrer Noch-Präsidentin Mirjana Milo∆eviƒ Welt transferierte, um via 7500 Offshore- Mihailoviƒ will mittlerweile auch zahlreiche stehe vor einem Verbot, heißt es in Bel- Firmen später illegale Importe abzuwi- politische Mordanschläge aufgeklärt ha- grad. Vom Zerfall bedroht ist auch die ckeln, die dem Land ein Überlebensmini- ben, unter anderem auf Freischärlerführer Radikale Partei des Serben-Extremisten mum garantierten. „Arkan“, den Verleger —uruvija und vier Vojislav µe∆elj. Einer seiner Leibwächter In Plastiktüten und Schnellheftern seien enge Mitarbeiter von Oppositionsführer kündigte vergangene Woche an, über die die Millionen außer Landes gebracht wor- Vuk Dra∆koviƒ. kriminellen Aktivitäten des Chefs „aus- den, gestehen ehemalige Spitzenfunk- Die Klage gegen Milo∆eviƒ werde inner- packen“ zu wollen. tionäre freimütig. Versiegte eine Quelle, halb der nächsten zwei Monate erweitert, Häftling Milo∆eviƒ empfängt derweil in wurde eine andere angezapft. Als zyprio- bestätigte Djindjiƒ, möglicherweise sogar seiner Zelle im ersten Stock unentwegt Gäs- tische Banken ins Visier westlicher Ermitt- auf die restlichen Familienmitglieder des te: Anwalt, Parteigenossen, Familienan- ler gerieten, berichtet der Direktor der Alu- Clans ausgedehnt. Denn Mord habe an- gehörige. Einmal täglich wird er 30 Minuten minium-Firma Sartid, Du∆ko Matkoviƒ, scheinend zum Familienbusiness gezählt. auf den Hof zum Spaziergang geführt, die habe er für das Regime neue Anlagemög- Selbst Slobodans Gattin Mirjana sowie Post wird ihm zugestellt, ab 22 Uhr aber lichkeiten im Libanon gefunden. Sohn Marko kämen als Auftraggeber für wird es im Bau zappenduster. „Bescheiden Waffenlieferungen nach Südafrika wur- die Beseitigung politischer Gegner in Fra- und höflich“ schildern Wärter den Neuzu- den von den dortigen Regenten mit Dia- ge. Marko, mit fünf Diplomatenpässen gang. „Ruhig und entspannt“ habe ihn der mantenlieferungen beglichen, diese auf unterwegs und nach einem Russland-Auf- Parteichef empfangen, berichtete dessen österreichischen und Schweizer Ban- enthalt derzeit angeblich auf einer griechi- Vize Ivkoviƒ Ende voriger Woche. ken deponiert. All dies „zum Wohle des schen Insel, soll zudem wegen Organisier- Kurz danach traf auch Gattin Mirjana Volkes“, wie Milo∆eviƒ beim Lesen der An- ter Kriminalität und Zigarettenschmuggels ein, mit warmem Essen sowie Zeitungen. klageschrift fast erheitert erklärte, „die von Interpol gejagt werden. Nur die schlotternden Hosen, sorgt sich Vorwürfe sind wirklich komisch“. Die Schießwut lag der Ex-Präsidenten- die Zeitung „Blic“, würden für den abge- Sein Star-Advokat Toma Fila – zugleich familie offenbar im Gen. Tochter Marija, magerten 59-Jährigen zusehends zum Pro- Anwalt zahlreicher in Den Haag einsit- die wie Vater und Bruder nie ohne Pistole blem. Den Gürtel musste er an der Pforte zender Kriegsverbrecher – nannte die Be- das Haus verließ, feuerte fünf Schüsse auf abgeben. Renate Flottau

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Werbeseite Ausland M. MATIKAINEN / ALL OVER PRESS OVER / ALL M. MATIKAINEN Tarja Halonen ist die erste Frau an der Spitze Finnlands und seit einem Jahr im Amt. Die Präsi- dentin, 57, ist – „in Kooperation mit der Regierung“ – zugleich Oberbefehlshabe- rin der Armee sowie verantwortlich für Auswärtige Beziehungen. Und da steht die Ex-Außenministerin vom linken Par- teiflügel oft im Widerspruch zu ihrem Hauptstadt Helsinki sozialdemokratischen Parteichef und „Exzellenter Anwärter“ Ministerpräsidenten Paavo Lipponen. H. VALLAS / ALL OVER PRESS OVER / ALL H. VALLAS

FINNLAND „Sensibel für die eigenen Ängste“ Staatspräsidentin Tarja Halonen über die Risiken der Nato-Osterweiterung, die Stabilität im Ostseeraum und Europas Verhältnis zu Russland

SPIEGEL: Frau Präsidentin, die baltischen ja manchmal auch nicht leicht zu verste- eine starke EU, egal ob alle Mitglieder in Republiken Estland, Lettland und Litauen hen, wer gerade den Ton angibt: der Kanz- der Nato sind oder nicht. drängen in die Nato, deren Einflussbe- ler oder der Außenminister. SPIEGEL: Das heißt: Ja zum EU-Beitritt der reich dann bis zum finnischen Meerbusen SPIEGEL: Am Ende immer der Kanzler. Balten, aber Nein zu deren Nato-Mitglied- reicht. Wann wird Finnland Mitglied des Aber in Helsinki verlaufen die Konflikt- schaft? Bündnisses? linien quer durch Ihre eigene Partei, Halonen: Jedes unabhängige Land ist natür- Halonen: So bald sicher nicht. Ich bin nach zwischen rechten Pragmatikern und linken lich frei in seinen Entscheidungen. Aber wie vor davon überzeugt, dass Bündnis- Pazifisten. Finnland kann die baltischen Nato-Inter- freiheit das Beste für Finnland ist und auch Halonen: Dieser Gegensatz ist zu künstlich essen nicht in gleicher Weise unterstützen für die Stabilität im Ostseeraum. In dieser konstruiert. Ich bin ein relativer Pazifist. wie deren EU-Integration. Sicherheit und Frage reagieren wir gemeinsam mit Schwe- Ich glaube zwar nicht, dass Konflikte lang- Stabilität in Europa müssen in einem den wie Zwillinge oder zumindest wie gute fristig mit militärischen Mitteln zu lösen größeren Rahmen gesehen werden. Dazu Schwestern. sind. Aber wir brauchen unsere eigene, na- brauchen wir zum Beispiel Russland, wie SPIEGEL: Haben Sie Einwände gegen die tionale Verteidigung, und wir brauchen sich ja gerade erst in Bosnien und im Ko- Nato-Pläne der Balten? sovo wieder bestätigt hat. Ich hoffe, Halonen: Wir wollen den Nato-Beitritt der dass dies der Nato-Führung ausrei- Balten nicht blockieren. Ihr Interesse an SCHWEDEN FINNLAND chend bewusst ist. einem kollektiven Sicherheitssystem ist NORWEGEN Helsinki SPIEGEL: Für die lettische Präsidentin verständlich, denn sie haben eine andere ESTLAND Vaira Vike-Freiberga sind EU- und Tradition als wir und leider ja auch ande- RUSSLAND Nato-Mitgliedschaft so unabdingbar re Erfahrungen mit der Sowjetunion. Für LETTLAND Moskau wie die zwei Arme des menschli- uns stellt sich diese Frage heute einfach LITAUEN chen Körpers. nicht. Sicherlich sind wir ein exzellenter WEISS- Halonen: Ich wünsche Lettland wirk- RUSSLAND Anwärter. Aber die Tür zur Nato ist für uns POLEN lich alles Gute, aber dieses Beispiel ja nicht versperrt. DEUTSCH- kann ich nicht akzeptieren. Ein mo- LAND UKRAINE SPIEGEL: Teile Ihrer Regierung sehen das TSCHECHIEN dernes und demokratisches Europa anders. Einige Minister plädieren immer SLOWAKEI muss allein bereit und in der Lage UNGARN wieder für einen Beitritt, und auch Pre- RUMÄNIEN sein, friedlich miteinander zu leben. mier Paavo Lipponen ist bemüht, die Op- SLOWENIEN Dazu brauchen wir transatlantische tion zumindest offen zu halten. Nato-Staaten BULGARIEN Partner, aber kein transatlantisches neue Nato-Staaten Halonen: Wir sind eben ein demokratisches MAZEDONIEN Bündnis. Länder, die in die Land mit einem ebenso bunten Meinungs- ALBANIEN SPIEGEL: Russland hat sich katego- bild wie bei Ihnen in Deutschland. Da ist Nato streben risch gegen eine weitere Expansion

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Werbeseite Ausland der Nato nach Osten ausgesprochen und Kola-Halbinsel oder die Energieversorgung droht sogar mit Sanktionen. Liegt darin mit Erdgas aus Sibirien langfristig kaum nicht der eigentliche Grund für die finni- sicherzustellen. schen Vorbehalte? Halonen: Wenn wir in der so genannten Halonen: Natürlich machen uns die Dro- nördlichen Dimension denken wollen, die hungen Sorgen. Und es ist immer wichtig, Finnland zum EU-Programm gemacht sensibel für eigene Ängste zu bleiben, egal hat, dann müssen wir auch akzeptieren, ob sie real oder nur psychologisch be- dass Russland Hauptdarsteller in diesem gründet sind. Die baltischen Republiken Spiel ist. Dann dürfen wir nicht nur Er- haben sich entschieden, dass die Drohun- wartungen formulieren, sondern müssen gen das kleinere Risiko sind. Ich erwarte, auch ein Stück weit auf die Regierung in dass Moskau die Rolle der Nato für die Moskau zugehen. kollektive Sicherheit in Europa weiterhin SPIEGEL: Indem sich die europäische Si- respektiert. cherheitspolitik stärker aus der Abhän- gigkeit von der letzten verbliebenen Supermacht USA löst? Halonen: Ich würde das po- sitiver formulieren. Wir spüren immer noch den politischen Nachhall der Ära von zwei Supermäch- ten und ihrer unmittelba- ren Konkurrenz. Seit die- ser Zeit reagiert Russland sehr sensibel, manchmal sogar übersensibel auf die Vorstellung, die USA könn- ten die einzige Supermacht

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN sein. So gesehen würde Finnische Truppen (1940): „Hochgradig misstrauisch“ es zur Entkrampfung und Entspannung beitragen, SPIEGEL: Die russische Regierung will ge- zwei, drei oder mehr Führungsnationen zu rade den Ostseeraum zu einem Pilotprojekt haben. Das entspricht auch der politischen für Sicherheit in Europa machen, allerdings Realität und beruhigt ungemein. nicht unter Führung der Nato, sondern mit SPIEGEL: Wen denn? der OSZE an der Spitze. Halonen: Die Russen natürlich. Und für Eu- Halonen: Der Westen braucht gute Bezie- ropa ist das eine besondere Herausforde- hungen mit Russland. Und ich kann ver- rung. Wir wollen Hauptdarsteller in der in- stehen, dass Moskau im europäischen ternationalen Politik und der Weltwirtschaft Sicherheitszug ein Ticket für die erste sein. In der EU haben wir dafür auf Grund Klasse beansprucht. Aber das besitzt Mos- unserer Stärke alle Möglichkeiten. Die müs- kau ja bereits, denn es ist ein wichtiger sen wir zum Beispiel in der Welthandels- Teil des Nato-Programms Partnerschaft für organisation geltend machen, aber auch den Frieden. Nur müssen die Russen das grundsätzlich in dieser globalisierten Welt. auch endlich aktiver nutzen. Sie mögen SPIEGEL: Europa soll sich von Amerika ja Probleme haben, das nötige Geld be- emanzipieren? reitzustellen, aber es mangelt bislang of- Halonen: Nicht unbedingt. Aber wir sind fenkundig auch an der nötigen Bereit- diejenigen, welche die Rechnung für das in- schaft. ternationale Engagement bezahlen. Also SPIEGEL: Wie viel Rücksicht muss der Wes- müssen wir auch sagen können, was wir ten, muss Finnland auf russische Befind- dafür haben wollen. Ohne die USA und lichkeiten nehmen? ohne Russland geht in der Friedens- und Si- Halonen: Wir müssen bedenken, dass die cherheitspolitik nichts. Doch Europa muss Russen sich nach ihrem klassischen Selbst- den Willen und die Bereitschaft zeigen, in- verständnis immer als Teil Europas ver- ternational mehr Verantwortung zu über- standen haben. Gleichzeitig sind sie hoch- nehmen. Amerika hat sein Möglichstes ge- gradig misstrauisch, ob Europa das genau- tan. Jetzt ist es an der Zeit, einen frischen so sieht. Deshalb sollte die EU diejenigen Spieler ins Spiel zu bringen: die Europäi- Kräfte in Russland stärken, die europäisch sche Union. denken. Desto größer ist dann deren Be- SPIEGEL: Und im Verhältnis zu Moskau soll reitschaft zur Zusammenarbeit. Und desto Helsinki der Spielmacher sein? eher lösen sie sich aus ihrem alten Rollen- Halonen: Ich denke schon, denn wir kennen verständnis einer militärischen Super- Russland besser als alle anderen: aus zahl- macht. reichen Kriegen und politischen Konflik- SPIEGEL: Auch Westeuropa ist auf gute Be- ten, aber auch aus der längsten Phase fried- ziehungen zu Moskau angewiesen. Anders lichen Nebeneinanders und enger Koope- sind Umweltprobleme wie die Atommüll- ration in unserer Geschichte. entsorgung in der Barentssee und auf der Interview: Manfred Ertel, Reinhard Krumm

der spiegel 15/2001 171 Werbeseite

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SPANIEN Eiserne Nerven Zu Beginn der Osterreisewelle drohen baskische Terroristen ausländischen Touristen mit Anschlägen – ein Einschüchterungsversuch vor den Wahlen.

ie schmucken Villen in den Hügeln schwärmer flüchteten aus der beliebten Bar- über dem Golf von Rosas locken und Kneipenzone, wo die Terrortruppe Dvor allem viele Deutsche in den ebenfalls eine Autobombe zünden wollte. äußersten Nordosten Spaniens. Kunstbe- Solche Schreckensszenarien an Orten, flissene vergnügen sich in den Heiligtü- wo Spanien am schönsten ist, wollen die mern des Surrealisten Salvador Dalí im baskischen Untergrundkämpfer in nächster nahe gelegenen Figueras und Cadaqués; Zeit häufiger anzetteln. Das Eta-Verlaut- die Feinschmecker pilgern zum welt- barungsblatt „Gara“ druckte die Warnung, berühmten Koch Adrià in eine verschwie- künftig würden auch „touristische und gene Bucht. wirtschaftliche Interessen“ ins Visier ge- Doch jetzt wurde das Ferienidyll gleich nommen. So hofft die Bande, die das Bas- hinter der französischen Grenze jäh auf- kenland mit Gewalt von Spanien lösen will, geschreckt: Vor einem Hotelkasten an der der verhassten Zentralregierung in Madrid Strandpromenade jagten Terroristen der Schaden zuzufügen. Deshalb „rät“ Eta baskischen Eta am 17. März einen mit mehr den Besuchern fernzubleiben, andernfalls als 90 Tonnen Sprengstoff beladenen Ford müssten sie mit „unerwünschten Konse- Escort in die Luft. quenzen“ rechnen. 35 Schüler aus Sachsen, einige schon im Zu Beginn der Osterreisewelle trifft die- Schlafanzug, und weitere 170 Gäste konn- se Drohung das Land am empfindlichsten ten noch rechtzeitig evakuiert Nerv: Mehr als 48 Millionen werden. Doch der Reisebus der Touristen, ein Viertel davon aus Deutschen verschmurgelte zum Deutschland, brachten Spanien Eta-Anschlag in Rosas: Rettung im Schlafanzug Stahlgerippe. Umherfliegende im vergangenen Jahr Einnah- Trümmer töteten einen ka- men, die fünf Prozent des Brut- schen Palm- und Ostersonntag mehr als 60 talanischen Polizisten. toinlandsprodukts ausmachten. religiöse Bruderschaften von Trommeln be- Die Täter hatten den An- Fast viereinhalb Millionen Be- gleitet im Büßergewand durch die Straßen schlag telefonisch erst knapp vor sucher kamen letztes Jahr Sevillas ziehen, einige schwer gebeugt un- der Detonation angekündigt. schon im April. ter der Last lebensgroßer Heiligenstatuen, Eine ähnliche Warnung erfolgte Denn in der Karwoche sollen sie per Satellit überwacht werden.

eine Stunde später im 460 Kilo- AFP / DPA locken prachtvolle Umzüge Ein blutiger Zwischenfall während des meter südlich gelegenen Gandía Kandidat Mayor Oreja Schaulustige besonders ins höchsten Kirchenfests wäre ein spekta- in Valencia: Etwa 200 Nacht- Klima der Angst fromme Andalusien. Wenn zwi- kulärer Propagandacoup für die Eta. tische Touristen ver- Strategie der Regierung: Unerbittliche Ver- letzt. Gleichwohl blieb folgung durch Justiz und Sicherheitskräfte. die Reiselust zur iberi- Gerade in den vergangenen Monaten ge- schen Sonnenbank un- lang es, Eta-Kommandos in Andalusien, gebrochen. Katalonien und Galicien auszuheben; Dieses Jahr sind die außerdem wurden einige Köpfe der Bande baskischen Terroris- in ihren Rückzugsorten in Frankreich ding- ten aber offenbar ent- fest gemacht. schlossen, Spanien in Bei der Vernehmung eines geschnappten ein Klima der Angst zu Terroristen kam jetzt heraus, dass die tauchen. Am 13. Mai präparierten Wagen für Rosas und Gandía wird im Baskenland aus Frankreich herbeigeschafft worden ein neues Parlament waren. Seelenruhig kehrten die Täter über gewählt. Seit dem En- die kaum bewachte Grenze wieder zurück, de der Franco-Diktatur nachdem sie die Zeitzünder program- regiert in Vitoria die miert hatten.

D. RUEF / PLUS 49 / VISUM D. RUEF / PLUS gemäßigte Baskische In Frankreich hatten Eta-Mitglieder erst Touristen auf Mallorca: Erpresserbriefe an Hoteliers Nationalpartei PNV. im März 1,6 Tonnen Dynamit gestohlen. Jetzt deuten Progno- Nun versprach Paris, eine Sondereinheit Erstmals haben das britische sen erstmals darauf hin, dass die Natio- ins französische Baskenland zu verlegen und das deutsche Außenmi- nalisten im Mai durch eine Koalition der und Grenze sowie Sprengstoffdepots bes- nisterium auf ihren Websites gesamtspanischen Parteien abgelöst wer- ser zu bewachen. Reisende auf die Terrorismus- den könnten. Das will die Eta verhindern. Schon seit vergangenem Herbst wurde gefahr im Ferienland hingewie- Seit Aufkündigung ihres Waffenstill- es vielen Touristen im Baskenland zu un- sen. In der Hauptstadt Madrid stands im Dezember 1999 brachten Eta- gemütlich. Doch anderswo im Land fühlten aber wiegelt man ab. Der In- Bombenleger und Heckenschützen 29 sich die Sonnenhungrigen bisher gut auf- nenminister hofft auf den „ge- Menschen um – hauptsächlich Politiker, gehoben. Zumal die Balearen, Urlaubs- sunden Menschenverstand“ der Journalisten, Unternehmer und Polizisten. ziel von 4,3 Millionen Deutschen, blie- Spanien-Besucher. Das Land sei Der Terror vertiefte die Kluft zwischen ben unbehelligt. Ein Attentat auf König „sicher“, die Polizei werde alles nationalistischem und gesamtspanischem Juan Carlos in seiner mallorquinischen in ihrer Macht Stehende tun, Lager. Sommerresidenz Marivent war 1995 verei- um Anschläge zu verhindern. Der konservative Regierungschef José telt worden.

AP Außerdem lebe man seit über María Aznar hat seinen beliebtesten Minis- Vergangenen Sommer wurde erstmals 30 Jahren mit Einschüchte- ter als Spitzenkandidat ins Baskenland ge- bekannt, dass prominente Hoteliers und rungsversuchen der Eta, ohne dass je ein schickt: Jaime Mayor Oreja, 49, gebürtig Tourismusunternehmer auf den Balearen Tourist zu Tode kam. aus dem baskischen Seebad San Sebastián, Erpresserbriefe mit der um eine Axt ge- Tatsächlich waren Ferienanlagen schon soll die Stimmen derer einfangen, die wundenen Schlange, dem Eta-Symbol, er- wiederholt Zielscheibe der Eta. Bei der unter der Bürgerkriegsatmosphäre leiden. halten hatten. Darunter auch Ex-Außen- letzten „Sommerkampagne“ der Bande Würden die Nationalisten aus der Re- minister Abel Matutes, dessen Familie die 1996, als von der Costa del Sol bis nach Ka- gierung verjagt, gäbe es weniger Tote, Fiesta-Kette auf Ibiza besitzt. talonien mehr als ein Dutzend Sprengsätze glaubt Aznar. Ob sie alle die so genannte Revolutions- in Toiletten, an Stränden und auf Prome- Mayor Oreja, wegen seiner eisernen steuer gezahlt haben, um mit Schutzgeld die naden hochgingen, wurden auf dem Char- Nerven „Don Tranquilo“ genannt, prägte baskischen Bomber fern zu halten, wissen ter-Flughafen Reus 35 vornehmlich bri- als Innenminister seit 1996 die Anti-Terror- die Gäste allerdings nicht. Helene Zuber Ausland

ISRAEL „Die grüne Linie brennt“ Im Umland von Tel Aviv leben Israelis und Palästinenser nebeneinander – aber streng getrennt durch Stacheldraht und Mauer. Sieht so die Zukunft aus?

ber dem Garten der Asaris flirrt die der Mauer wohnen, haben Netze aufge- Hitze. Die Luft ist mit Blütenduft spannt, um die Wurfgeschosse abzufangen. Ügetränkt, gelbe Schmetterlinge flat- Matan und Habla lie- tern umher. Am Papayabaum reifen die 50 km gen genau an der „grünen ersten Früchte. Seufzend lässt sich Ilana, Linie“, der Grenze zwi- 38, im Schatten auf der Terrasse in einen schen Israel und dem be- Stuhl fallen. Jede Bewegung fällt ihr setzten Westjordanland. schwer, sie spürt die Last der Zwillinge, Über Matan, 3000 Ein- die sie in sich trägt. Izik, ihr Mann, streicht über ihren hoch gewölbten Leib. „Wir sind ISRAEL Israelische Siedlung Matan (vorn), Palästinenser- glücklich hier“, sagt er lächelnd. Tulkarm JORDA- Das Haus am Ortsrand von Matan hat NIEN Nablus wohner, herrscht Ariel Scharon; über Ha- der Teilhaber einer kleinen Importfirma ÄGYP- bla, 5000 Einwohner, Jassir Arafat. TEN vor allem wegen seiner Lage ausgesucht. Habla Das arabische Habla ist älter als tausend Obwohl nur 30 Minuten vom lärmigen Jahre, sagen palästinensische Geografen. Zentrum Tel Aviv entfernt, findet man in Matan Matan dagegen wurde erst 1995 gebaut, als den grünen Hügeln des Scharon-Bezirks strategischer Außenposten, der die israeli- Ruhe und Beschaulichkeit. Tel Aviv sche Kontrolle der sensiblen Nahtstelle Die Idylle endet allerdings am Garten- WESTJORDANLAND zum Palästinensergebiet sichern soll. Den zaun. Zwar blickt die Familie von ihrer Ter- Siedlungsplan für sieben neue Grenzorte rasse in eine wildromantische Landschaft, („Sieben Sterne“) hatte der damalige Bau- aber gleich hinter dem Feldweg ist Stachel- minister Ariel Scharon vorangetrieben. draht, und linker Hand erstreckt sich eine Zum Häuserbau holten sich die Israelis übermannshohe, rund einen Kilometer lan- tüchtige Männer aus Habla. Selbst Asaris ge Mauer. Jenseits leben die Bewohner des 10 km Küche montierte ein arabischer Handwer- palästinensischen Ortes Habla. Jerusalem ker aus dem Nachbarort. „Es gibt hier Nur einen Steinwurf entfernt stehen sich eigentlich niemanden, der keinen Arbeiter die Häuser auf beiden Seiten gegenüber. jüdische israelische Zivilverwaltung von drüben beschäftigte“, sagt Asari, der Und Steine fliegen tatsächlich, mitunter Siedlungen und Sicherheitshoheit auch dem Gemeinderat vorsitzt. auch ein Molotow-Cocktail. So beteiligen palästinensische Zivil- palästinensische Dennoch ließ die Armee ein Jahr später sich die jungen Palästinenser von Habla an verwaltung, israelische Selbstverwaltung die Mauer hochziehen, „weil man von der Intifada. Asaris Nachbarn, die näher an Sicherheitshoheit Habla aus ja direkt auf die Häuser von Ma- Gemeindechef Asari spricht nicht schlecht von den Palästinensern: „Wir sehen in ih- nen nicht unsere Feinde.“ Er findet freund- liche Worte für seinen Kollegen in Habla, Bürgermeister Nabil al-Dschada, und führt auch dessen Handy-Nummer in seinem kleinen Notizbüchlein. Die braucht er in dringenden Fällen, etwa wenn der Muez- zin morgens um vier zu laut zum Gebet ruft. Natürlich findet das Telefonat auf He- bräisch statt, denn Arabisch spricht Asari nicht. Wie die meisten Palästinenser muss- te Dschada dagegen die Sprache der Besat- zungsherren lernen. Das letzte Telefonat ist allerdings über

FOTOS: A. BRUTMANN FOTOS: fünf Wochen her. Jugendliche hatten wie- der mal Steine geworfen und da- bei eine Autoscheibe in Matan zertrümmert. „Versuch deine Leute im Griff zu halten“, riet Asari dem Palästinenser, „wenn Dorf Habla: Auf Schleichwegen zur Arbeit du vermeiden willst, dass die Armee bei euch einrückt.“ tan schießen kann“, so ein Kommandeur. Er schlug sogar ein Treffen Hauptsächlich sollte offenbar vermieden vor, doch Dschada lehnte höf- werden, dass Palästinenser aus dem West- lich ab. Jetzt, da es um den Frei- jordanland über Habla problemlos nach heitskampf geht, will er mit den Israel gelangen. „Wir haben nicht um die Israelis aus Matan nichts mehr Mauer gebeten“, stellt Asari klar, „aber zu tun haben: „Das sind Sied- immerhin wurden seitdem kaum noch ler, die unser Land konfisziert Autos gestohlen.“ haben.“ Trotz Mauer arbeiteten die tüchtigen Tatsächlich gehörte der Grund Männer von Habla weiter bei den neuen Siedlerfamilie Asari: „Die Leute im Griff halten“ und Boden, auf dem Matan ge- jüdischen Nachbarn. Bloß mussten sie jetzt baut wurde, früher zu Habla. einen Umweg über die Felder links und Die Distanz vertieft das Misstrauen. „Es Nach dem Krieg 1948/49 wurde das Land rechts der Mauer nehmen. Sie legten Gär- ist seltsam, wenn man seine Nachbarn im- von Israel einverleibt. Sogar zum Mauer- ten an, reinigten verstopfte Abflussrohre, mer nur in der Ferne sieht“, sagt eine jun- bau sei noch Habla-Gebiet beschlagnahmt montierten Zäune, putzten die Häuser – ge Frau, die vor zwei Monaten nach Matan worden, klagt Nabil al-Dschada. Die Be- bis zur Intifada. Seitdem ist alles anders. zog und noch nie einen Menschen aus Ha- zirksregierung bestreitet das. Doch selbst Nun haben Arbeiter aus Habla keinen bla getroffen hat. „Bestimmt sind es gute Asari gibt zu, dass der exakte Verlauf der Zutritt mehr nach Matan, und für Israelis Leute dort drüben, aber wie soll ich das insgesamt rund 350 Kilometer langen grü- ist das Betreten der Palästinensergebiete wissen?“ So beäugt sie skeptisch aus ihrem nen Linie vielerorts unklar ist. verboten. „Was soll ich da auch – beweisen, Garten die Treibhäuser von Habla gleich Mitte September kam zum letzten Mal dass ich keine Angst habe?“, fragt Asari. hinter dem Stacheldraht. Besuch aus Matan nach Habla, wenige Ta- Ausland

tet Abu Umri nach Art der Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. religiösen Juden in fließen- Mehrere Bürger aus Matan erlitten Verlet- dem Hebräisch auf die Fra- zungen. Im Februar wurde ein Baustellen- ge, wie es geht. Ein Mitar- wächter der Trans-Israel-Autobahn aus der beiter der „Jerusalem Post“ palästinensischen Nachbarstadt Kalkilja an- ist am Telefon, er will einen geschossen. Anwaltstermin ausmachen. Israelische Friedensgruppen sagten kürz- Die konservative Zeitung lich sogar eine Versöhnungsaktion in Kal- hatte spontan eine Spen- kilja ab, weil die Stimmung zu aufgeheizt denaktion für die hinter- war. In nur 15 Minuten gelangt man von bliebene Witwe und ihre dort ins palästinensische Tulkarm, wo im drei kleinen Kinder ins Le- Januar zwei Israelis aus Tel Aviv aus einem ben gerufen. Schnell kamen Restaurant gezerrt und ermordet wurden. umgerechnet 25 000 Mark Zwischen Tulkarm und dem israelischen zusammen. Bat Chefer steht die zweite Mauer an der Doch Herausgeber Tom grünen Grenze. Rose ist skeptisch, wann er Sieht so die Zukunft zwischen Israel weitere Beträge übergeben und Palästina aus? Regionalfunktionäre kann: „Wir müssen sicher- wie Motti Daljo, Vorsitzender des Bezirks stellen, dass die Witwe das Süd-Scharon, sähen gern mehr Mauern Geld erhält. Diese Frauen an sensiblen Stellen, wo Israelis und Paläs- bekommen ja keine Hoheit tinenser dicht beieinander leben: „Die

A. BRUTMANN A. BRUTMANN über die Finanzen.“ Im Som- Regierung sollte sich jetzt dafür ent- Palästinenserfamilie Dschada: „Matan trauert mit euch“ mer, als er den ersten Scheck scheiden.“ an den Schwiegervater über- Auch der Polizeichef des Bezirks, Aha- ge vor Ausbruch der Intifada. Der 24- reichte, störte das nicht. Nun, sagt er, kön- ron Franko, glaubt, dass die Mauern bereits jährige Arbeiter Umri al-Dschada aus ne er nicht mal einen Mitarbeiter nach Ha- gute Dienste geleistet haben. Als sich die is- Habla hatte einen jüdischen Jungen vor bla schicken, „das ist einfach zu gefährlich“. raelischen Araber vorigen Herbst für eine dem Ertrinken im See Genezaret gerettet Dabei wirkt der Ort wie eine Woche der Intifada anschlossen, und dabei sein Leben verloren. Die Israe- Insel des Friedens. Männer sit- Manche Bürger habe es womöglich auch deswe- lis waren voller Bewunderung und Dank- zen in den Kaffeehäusern, spie- diskutieren gen weniger Ausschreitungen ge- barkeit. len Karten oder Tawla, ein ara- geben als im Norden. Franko Matan sandte eine 20-köpfige Delega- bisches Brettspiel, und rauchen schon, ob weiß aber auch, „dass eine her- tion zur Trauerfeier. Die Ansprachen wur- Wasserpfeife. Abends holen die man wegziehen metische Abriegelung eine Illu- den für die Gäste ins Hebräische über- Frauen Stühle vors Hoftor und soll, doch sion ist“. Es müssten kontrol- setzt, man trank endlos Tee und Kaffee schwatzen. die meisten lierte Übergänge geschaffen wer- und beweinte gemeinsam den Heldentod „Wir sind hier gegen Gewalt“, bleiben – den, vor allem für Arbeiter. des jungen Umri. Eine glänzende Ge- betont Abu Umris Freund War- vorerst Die Bewohner Matans sind denkplakette steht noch immer im Regal di Nardani. Nach wie vor holten vorerst gehalten, keinen Palästi- von Umris Familie. „Er half der ganzen Siedler – illegal zumeist – Erntearbeiter nenser mehr zu beschäftigen. Selbst wer Welt“, ist darin eingraviert, „Matan trau- aus Habla ab. Noch nie sei einem etwas einen Araber mit israelischem Pass anheu- ert mit euch.“ passiert. Nach den Bombenattentaten Mit- ern will, soll das melden. „Wir stehen Das Empfangszimmer der Dschada-Fa- te der neunziger Jahre in Tel Aviv und Je- einem Feind gegenüber, den wir nicht kon- milie, nach arabischem Geschmack mit rusalem hätten die Bürger Hablas sogar ge- trollieren“, heißt es dazu in einem Rund- wuchtigen, farbenfrohen Polstermöbeln gen die Gewalt demonstriert. Jetzt gibt es schreiben der Kreisverwaltung, „die grüne ausgestattet, ist voller Männer. Es sind wieder Terrorakte – aber diesmal bleiben Linie brennt.“ Freunde und Nachbarn, die wie die meis- die Proteste in Habla aus. Manche Bürger Matans diskutieren so- ten am Ort keine Arbeit haben, aber viel Erst vorvergangene Woche starben an gar schon im Supermarkt, ob man nicht Zeit. Im hinteren Trakt kümmern sich die der fünf Minuten entfernten Bushaltestel- besser wegziehen soll. Doch die meisten Frauen um die Kinder. 20 Menschen leben le „Treffpunkt des Friedens“ zwei israeli- bleiben – vorerst. Gemeindechef Izik Asa- hier unter einem Dach. sche Schüler, als sich ein palästinensischer ri will sogar anbauen. Ende Mai steht die Noch vor einem halben Jahr wurde ihr Geburt der Zwillinge an, mit den Sohn als Held verehrt, nun fühlen sich die Kindern Jarden, 7, und Alon, 4, Dschadas im Stich gelassen. „Seit Aus- sind sie dann zu sechst: „Ich füh- bruch der Intifada hat kein Israeli mehr le mich hier sicherer als in einer angerufen“, klagt Familienvater Abd al- amerikanischen Großstadt.“ Karim al-Dschada, den alle nur Abu Umri Die 24-jährige Witwe des Hel- nennen, Vater von Umri. Abu Umri ver- den aus Habla, auf der anderen diente sein Geld auf israelischen Baustel- Seite der Mauer, erzählt ihren len. Jetzt ist er wie die anderen palästi- Kindern viel vom toten Vater. nensischen Arbeiter ausgesperrt. Fünf Tage Baby Umri, mit dem sie schwan- im Monat schlägt er sich auf Schleichwegen ger war, als er das jüdische Kind zu Schwarzarbeit durch. rettete, ist nun vier Monate alt. An diesem Nachmittag gibt es plötzlich „Da, das ist Baba“, sagt sie und doch einen israelischen Anrufer. „Baruch zeigt auf das Foto an der Wand. haschem – gelobt sei sein Name“, antwor- Wie sie die Zukunft sieht? Der Schwiegervater nimmt ihr

* Am 28. März nach dem palästinensischen Selbstmord- REUTERS die Antwort ab: „Welche Zu- Anschlag in der Siedlung Newe Jamin. Israelische Bombenopfer*: „Treffpunkt des Friedens“ kunft?“ Annette Grossbongardt

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den Zechen zwischen Most und Chomutov in Gefahr. TSCHECHIEN Noch riecht es nach Braunkohle am Fuß des Erzgebirges, der Nebel hängt bodennah über dem Land. In Nordböhmen ist das Volksfront in den Köpfen marxistisch-leninistische Desaster im End- stadium konserviert – tote Wälder, klaf- Die Kommunisten in Böhmen und Mähren sind wieder auf dem fende Kohlebecken, Pendler an schummrig erleuchteten Busbahnhöfen, verfallende Weg nach vorn – im Regionalparlament des Wohnblöcke. nördlichen Kohlereviers stellen sie seit Januar die stärkste Fraktion. Das anhaltende Elend nützt den Kom- munisten. Zwar wollen nur 15 Prozent er alte Forellenzüchter Jiºí Hykl ist schen leben, sind die Kommunisten mit gut ihrer Wähler das alte System zurück. ein Einzelkämpfer. Im Erdgeschoss 28 Prozent nun stärkste Partei. Aber auffallend viele Minderqualifizier- Dseines Hauses im böhmischen Erz- Das böhmische Kohlerevier rund um te, Verlierer der Marktwirtschaft, Roma gebirge hat er nach dem Kollaps des kom- Aussig ist ehemaliges Katastrophenge- und junge Leute stimmen für Links- munistischen Systems 1989 ein Restau- biet. Bis 1989 gab es für Arbeiter, die außen. rant eröffnet. Heute, gut elf Jahre später, sich hier anzusiedeln bereit waren, zweifelt Hykl an der neuen Zeit. Er ist einen sarkastisch „Sterbegeld“ ge- einer der Letzten im Dorf, die sich gegen nannten Zuschlag; wenn Kinder aus eine Rückkehr der Kommunisten an die Teplice zur Erholung in die Som- Macht wenden. merfrische fuhren, erlitten sie, so er- 75 Prozent der Wähler hier in Georgen- zählen Mediziner, einen Sauerstoff- dorf (—esk⁄ Jiºetín) an der deutschen schock. Grenze haben bei den Regionalwahlen im Inzwischen ist die Luft besser, die November für die KP-Nachfolgepartei Lebenserwartung um Jahre gestie- KS—M votiert, für die Erben von Klement gen und dafür die Arbeit knapp. Gottwald und Gustáv Husák. Das ist tsche- Wenn das südböhmische Kernkraft- chischer Rekord. Im gesamten Wahlbezirk werk Temelín endgültig am Netz ist, Aussig (Ústí nad Labem), wo 825000 Men- sind weitere 18000 Arbeitsplätze in

Kommunistenchef Balín Der Feind steht weiter im Westen

In einem Haus am Rand von Most sitzt, flankiert von einer Lenin-Radierung und einer Karl-Marx-Büste, Vlastimil Balín, der Kommunistenchef im Bezirk Aussig und nationale Vizepräsident der Partei. Auf der Landkarte zu seiner Linken hat er durch rote Sterne, die mit Hammer und Sichel verziert sind, die Orte markiert, in denen die Kommunisten den Bürgermeister stel- len. Es sind viele rote Sterne. Doktor Balín ist Absolvent der „Sor- bonne von Vokovice“, wie die kommunis- tische Parteihochschule im Volksmund ihrem Prager Standort gemäß bespöttelt wurde, und so spricht er auch – unfallfrei- es Funktionärs-Tschechisch. „Wir sind be- müht, die Öffentlichkeit von unserer Um- wandlung zu überzeugen“, sagt er. Vielleicht wäre das gar nicht nötig. Die Tschechen wählen die KS—M, obwohl oder weil sie sich nicht reformiert hat. Anders als die beweglicheren Postkommunisten in Nachbarländern, die Kwa£niewskis, Horns und Iliescus, sind sich die böhmischen und mährischen Genossen nicht nur beim Par- teinamen treu geblieben. Gegen Bill Clinton, Madeleine Albright und Javier Solana etwa haben die alten Kämpfer im Land des Nato-Mitglieds Tsche- chien nach dem Bombardement Serbiens zackig eine Klage beim Kriegsverbrecher-

Kohlerevier Aussig Tote Wälder, verfallende Wohnblöcke FOTOS: ANZENBERGER / AGENTUR M. APPELT Werbeseite

Werbeseite Ausland tribunal in Den Haag erwogen. Der Feind steht in ihren Augen weiter im Westen. Balíns ehemaliger Vorgesetzter sitzt in einem bescheidenen Aussiger Büro und beugt sich über die neueste Ausgabe der Vereinszeitung des „Clubs der Grenz- wächter“. Unter dem Titel „Prager Mai 1945“ ist dort eine Ode an Stalin abge- druckt, und Václav µípek verantwortet das als Chefredakteur. Der drahtige Alt-Genosse, Absolvent der Moskauer Akademie für Gesell- schaftswissenschaften, Sekretär des Zen- tralkomitees der Tschechischen Kommu- nistischen Partei und bis zum Ende Partei- sekretär im böhmischen Norden, kämpft heute an der Schreibmaschine gegen die Re-Germanisierung der Grenzgebiete. Die Stimmung im Land habe sich gewandelt, sagt µípek, zu Gunsten der Kommunisten: „Vor zehn Jahren stand auf den Müllton- nen: ,Hier muss µípek rein.‘ Heute grüßen mich die Leute wieder und kommen auf

mich zu.“ ANZENBERGER / AGENTUR M. APPELT Das Geschichtsbild, das der promi- Forellenzüchter Hykl nenteste Kommunist von Aussig einst Zweifel an der neuen Zeit empfangen hat, ist unbefleckt. 1968, sagt µípek, das bedeute für ihn „die Unerläss- „Die historische Aufgabe der Sozialde- lichkeit der Ankunft der sowjetischen mokratie“ sei es, die Wähler der Kommu- Truppen“ und 1989 „Verrat“ – „es war ein nisten ins eigene Lager zu ziehen, sagt Ze- breit angelegter, vorbereiteter Umsturz“. man zwar. Doch seit seinem Amtsantritt Er, der ehemals mächtigste Mann zwischen hat die eigene Partei in den Umfragen 16 Riesen- und Erzgebirge, wirft sich rück- Prozent verloren. Und im Umfeld des Pre- blickend nur Laschheit vor: „Wir hätten miers wachsen Zweifel und Kritik: „Wie ein aktiver sein sollen im Kampf gegen den Pascha“ gebärde er sich. Der Weg zur De- Widerstand.“ mokratie in Tschechien sei steinig, sagt der Ist das nun auch der vorherrschende Ton Theresienstadt-Überlebende und heutige im Aussiger Regionalparlament – selbst- sozialdemokratische Senator Egon Lánsk⁄, gerechtes Stalinisten-Tremolo, intoniert Ex-Vizepremier unter Zeman: „Wir haben unmittelbar an der sächsischen Süd- und derzeit höchstens eine Demokratur.“ EU-Außengrenze? Noch nicht. Eine Gro- Der sozialdemokratische Spitzenmann ße Koalition hat sich gebildet und die im Wahlbezirk Aussig, Jaroslav Foldyna, Kommunisten aus der Regionalregierung besticht zwar durch osttypische Accessoires fern gehalten – Sozialdemokraten von der Jetztzeit – Slipper mit Goldspange, der —SSD und Bürgerliche von der ODS mintfarbene Krawatten –, ist aber gedank- teilen sich derzeit die Macht im Norden lich wieder auf dem Weg in die Vergan- Böhmens. genheit. „Die Linke“, sagt er, wenn er von Hinter vorgehaltener Hand allerdings tu- Sozialdemokraten und Kommunisten in scheln die Sozialdemokraten landesweit einem redet, müsse sich vorläufig noch vor längst über eine Aufweichung ihres 1995 einer „einfarbigen Koalition“ hüten, weil auf dem Parteitag von Bohumin verkün- die Wähler noch nicht reif dafür seien. deten Beschlusses, mit den Kommunisten Es gibt sie in den Köpfen, die neue tsche- keine Zusammenarbeit einzugehen. chische Volksfront. Jiºí µulc, dynamischer Ein wechselweise als Kniefall oder Rit- Kommunistenfresser von der bürgerlichen terschlag gewertetes, viel beachtetes Signal ODS und neuer Regionalpräsident im Nor- war, dass der am Wochenende vom Pos- den Böhmens, versteht das nicht. Es gäbe ten des Parteichefs zurückgetretene Milo∆ doch Alternativen, sagt er, seine Partei zum Zeman, im Hauptamt tschechischer Mi- Beispiel: „Wir haben keine blutige Ver- nisterpräsident, im vergangenen Novem- gangenheit, kein Lager, keinen Stachel- ber den Kommunistenchef Miroslav Gre- draht zu verantworten; wir haben keinen bení‡ek in der regierungseigenen Villa Kra- fremden Besitz gestohlen, keine fremden mar empfing. Mächte ins Land geholt.“ Zeman ist durch Wahlniederlagen im Und warum liegen die Bürgerlichen im Winter angeschlagen, durch Dauerfehden Kohlerevier dennoch hinter den Kommu- mit dem kränkelnden Präsidenten Václav nisten? µulc seufzt tief und sagt, das Wahl- Havel entnervt und vom trickreichen ODS- ergebnis entspreche wohl dem politischen Vorsitzenden Vaclav Klaus per Koalitions- Reifegrad der Bevölkerung: „Tschechien vertrag nur geduldet. Noch ist fraglich, ob ist ein postkommunistisches Land mit de- er sich 2002 zur Wiederwahl stellt. mokratischen Elementen.“ Walter Mayr

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USA „Von Bush betrogen“ Der in Hamburg geborene schwarze US-Autor Hans-Jürgen Massaquoi über die neue republikanische Regierung in Washington und die anhaltende Diskriminierung der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten

SPIEGEL: Präsident George W. Bush hat drei medizinischer Versorgung und vernünfti- Massaquoi: Das ist lächerlich, denn noch schwarze US-Bürger in hohe Ämter be- gen Wohnungen hat. Und diese Schwarzen immer haben die Weißen dieses Land völ- rufen: Ex-General Colin Powell ist Außen- fallen immer weiter zurück. lig im Griff. Jeder Bereich dieser Nation ist minister, Condoleezza Rice Sicherheits- SPIEGEL: Verläuft der Graben heute vor- unter der Kontrolle, im Besitz oder unter beraterin, Roderick Paige Erziehungs- nehmlich entlang der Einkommensschich- der Führung von weißen Männern. minister. Gehört die Rassendiskriminierung ten? Gibt es Klassentrennung statt Rassen- SPIEGEL: Sind mit der Rückkehr der re- nun der Vergangenheit an? trennung? publikanischen Administration ins Weiße Massaquoi: Ganz und gar nicht. So sehr ich Massaquoi: Sozial bleiben Schwarz und Haus die Fortschritte der letzten Jahr- diese Berufungen begrüße, sind sie doch in Weiß unter sich. Und Rassismus existiert zehnte gefährdet? erster Linie symbolisch. 90 Prozent der weiter – in anderer Form, er ist Massaquoi: Viele Schwarze be- Schwarzen haben ihre Stimme dem Kan- vorsichtiger, raffinierter gewor- fürchten das. Aber ich glaube, didaten der Demokraten Al Gore gegeben. den. Der weiße Rassist trägt heu- „Jeder Bereich dass wir solch eine Entwicklung Die umstrittenen Umstände, unter denen te nicht mehr die Kapuze und dieser Nation verhindern können. Schließlich Bush der Wahlsieg zugesprochen wurde, Kutte des Ku-Klux-Klan, son- ist im ist George W. ja nicht mit einem haben die Schwarzen verbittert und die dern den gestreiften Zweireiher Besitz oder Erdrutschsieg an die Macht ge- Rassen in unserem Land weiter polarisiert. des Geschäftsmannes. unter der kommen, der solch eine politi- Afroamerikaner fühlen sich betrogen und SPIEGEL: Was sind dessen Waf- Führung weißer sche Wende rechtfertigte. sind überzeugt, dass Bush die Wahlen ge- fen? SPIEGEL: Dennoch hat Bush sich stohlen hat. Massaquoi: Subtile Stimmungs- Männer“ nicht gescheut, mit dem ehe- SPIEGEL: Universitäten und Streitkräfte sind mache. Da gibt es die selbst er- maligen Senator John Ashcroft integriert, in Konzernen sitzen Afroameri- nannten „wütenden weißen Männer“ – einen Hardliner aus dem Umfeld der re- kaner in den Führungsetagen, die Zahl der jene Leute, die glauben, dass die Anti-Dis- ligiösen Rechten zum Justizminister zu schwarzen Hausbesitzer nimmt zu. Sind kriminierungs-Gesetze den Schwarzen berufen. das keine Erfolge? unverdiente Vorteile einräumen. Sie be- Massaquoi: Das ist eine schlimme Fehlent- Massaquoi: Doch. Aber diese Erfolge be- haupten, professionelle Anforderungen scheidung. Eines der wichtigsten Ämter ist treffen nur einen Teil der 35 Millionen wurden gesenkt, nur damit Schwarze Zu- mit einem Mann besetzt, dem man vor- Schwarzen. Wir sind keine große homoge- gang zu gut bezahlten Jobs bekämen. Für wirft, er habe als rassistischer Konservati- ne Einheit, sondern selbst gespalten. Einige Weiße, die plötzlich in direkter Konkur- ver politisch Karriere gemacht und viele haben es geschafft: Das sind diejenigen, die renz zu Schwarzen stehen, ist das ein bit- Anliegen der Schwarzen bekämpft. Schulbildung und einen Job haben. Auf der teres Erlebnis … SPIEGEL: War diese Nominierung nicht le- anderen Seite gibt es die große Mehrheit, SPIEGEL: … und die klagen nun ihrerseits diglich ein Tribut an die Parteirechte, so die keinen Zugang zu Bildung, ordentlicher über Rassendiskriminierung. wie die Benennung der schwarzen Regie-

Schwarzer „Buttje“ Von seiner Kindheit in Nazi- Deutschland berichtet der in Ham- burg geborene Hans-Jürgen Mas- saquoi, 75, in der Autobiografie „Neger, Neger, Schornsteinfeger“. Der Sohn eines Liberianers und einer deutschen Krankenschwes- ter wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA aus. Als Chefredakteur der Schwarzen- Zeitschrift „Ebony“ porträtierte Massaquoi die wichtigsten Afro- amerikaner seiner Zeit – vom Bo- xer Muhammad Ali bis zum Bür- gerrechtler Martin Luther King. Der Autor lebt mit seiner Frau Katharine in New Orleans.

Massaquoi heute, als Schüler „In Deutschland immer allein“ J. HILL

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Werbeseite rungsmitglieder oder der Lati- Massaquoi: Sie haben einen nos die Interessen der Minder- anständigen Job, vielleicht an heiten bedient? der Universität, machen gutes Massaquoi: Mit Ashcroft ist Geld und haben einen Le- Bush zu weit gegangen – der bensstil, der dem der weißen Mann ist ein Extremist. Mittelklasse entspricht. Für SPIEGEL: Haben Sie von einem die stellt sich das Rassenpro- republikanischen Präsidenten blem weniger. Daneben gibt etwas anderes erwartet? es viele, die alle Hoffnung auf Massaquoi: Nein. Es gibt ja ein menschenwürdiges Leben dieses wunderbare deutsche längst verloren haben. Sprichwort: „Der Apfel fällt SPIEGEL: Und die suchen Zu- nicht weit vom Stamm – oder flucht unter ihresgleichen im vom Pferd.“ Denken wir doch Ghetto?

nur zurück an Bush Senior, der AP Massaquoi: New Orleans ist uns vor seiner Wahl eine US-Präsident Bush (M.), Mitarbeiter Powell, Rice: „Leerer Slogan“ ein gutes Beispiel für die ver- „freundlichere, nettere Nation“ quere Rassenlage in den USA: versprochen hat. Stattdessen benannte er SPIEGEL: Wollen Afroamerikaner überhaupt Die Stadt, einst streng nach Rassen ge- den konservativsten schwarzen Juristen, noch die Integration in die US-Gesell- trennt, ist heute – offiziell – integriert. Aber den er finden konnte, für den Obersten schaft? Oder ist ihnen die bewusste Tren- gesellschaftlich ist die Stadt noch immer Gerichtshof. Dort hat Richter Clarence nung von den Weißen nicht längst lieber? geteilt. Bei „weißen Empfängen“ sind mei- Thomas seither alles daran gesetzt, jene Massaquoi: Schwarze fordern noch immer ne Frau und ich oft die einzigen Schwar- Gesetze auszuhebeln, die den Schwarzen die wirtschaftliche, nicht die gesellschaft- zen; und zu gesellschaftlichen Anlässen der beim Ringen um Chancengleichheit helfen liche Integration. Wir werden nur von Schwarzen wiederum werden Weiße kaum sollten. Thomas wird deswegen von vielen Außenstehenden als einheitliche schwarze eingeladen. Die meisten unserer schwarzen unter uns als Verräter an der eigenen Ras- Bevölkerungsgruppe gesehen. In Wahrheit Freunde – Zahnärzte, Künstler, Professo- se angesehen. gibt es so viele verschiedene Meinungen ren – bleiben gesellschaftlich unter sich, SPIEGEL: Der Junior verkauft Vaters Bot- und Ansichten wie Schwarze. Jeder be- obwohl sie oft unter Weißen leben. schaft nun als „mitfühlenden Konserva- trachtet die Rassenfrage unter dem ganz SPIEGEL: Zählt die Hautfarbe mehr als die tivismus“. eigenen privaten Aspekt: Wohnort, Alter Toleranz? Massaquoi: Und wir glauben ihm genauso und Erziehung spielen eine große Rolle. Massaquoi: Ja, es gibt die freigewählte Ent- wenig wie seinem Vater. Es ist ein anderer SPIEGEL: Den Wohlhabenden fällt die Ein- scheidung zur Distanz. Verwunderlich ist leerer Slogan, der gar nichts besagt. gliederung leichter. das nicht. Die Bürgerrechtsbewegung be- Ausland mühte sich nur um wirtschaftliche Anglei- Massaquoi: Nicht allein auf die. Wir können ben, es nützt einfach nichts. Wir müssen sie chung. Es ging um gleiche Chancen, glei- auch andere Mittel einsetzen, etwa unsere vom Gegenteil überzeugen. che Arbeitsplätze, gleichen Lohn. Dollar: Die Jahreseinkommen der Schwar- SPIEGEL: Die Zeit gewalttätiger Rassen- SPIEGEL: Heute arbeiten Schwarze und zen addieren sich zu 500 Milliarden Dollar. unruhen wie in den sechziger Jahren ist Weiße Seite an Seite – warum dann die Stellen Sie sich vor, dass Schwarze keine inzwischen endgültig vorbei? Berührungsangst? Autos der Marke Ford mehr kaufen wür- Massaquoi: Das hoffe ich. Aber es genügt, Massaquoi: Wo sie wirklich zusammenar- den – die könnten dichtmachen. Diese dass Schwarze glauben, dass sie nichts beiten, sind die Schranken gefallen. Aber es wirtschaftliche Macht wiegt sehr schwer. mehr zu verlieren haben – dann knallt’s. bleiben die Vorurteile. Wenn eine weiße SPIEGEL: Gibt es eine politische Entspre- Und es gibt immer noch zu viele Men- Frau alleine mit einem Schwarzen im Auf- chung? schen, die in dieser Situation leben. zug fährt, umklammert sie oft ängstlich ihre SPIEGEL: Trotz des achtjährigen Geldbörse – selbst wenn der dunkelhäutige Schrumpfende Mehrheit Wirtschaftswunders während Mann ein promovierter Akademiker ist. Für Bevölkerungszusammensetzung der USA der Ära des früheren Präsiden- derart irrationales Verhalten gibt es natür- ten Bill Clinton? lich Erklärungen: Erst werden Bevölke- 1990 2000 Massaquoi: Das hat die Armen rungsgruppen auseinander gehalten, dann nicht wirklich erreicht. Profitiert Gesamt Gesamt wachsen aus der Unkenntnis die Vorurteile. 254,0 Mio. 281,4 Mio. haben nur jene Schwarzen, die Und außerdem werden wegen der wirt- bereits gut bezahlte Berufe schaftlichen Ungleichheit viele Schwarze 75,0%Weiße 69,1% hatten. kriminell, vor allem junge. Da decken sich 12,1% Schwarze 12,1% SPIEGEL: Im Deutschland der die Fakten mit den Vorurteilen, und die be- Nationalsozialisten erfuhren Sie stehenden Stereotypen werden verstärkt. 9,3% Hispanics 12,5% als Kind Rassismus der übels- SPIEGEL: Wie soll sich das ändern? 2,8%Asiaten 3,6% ten Art; aber auch in Ih- Massaquoi: Ich hoffe, es gibt Menschen, die rem Traumland USA sahen mit ihrem Einsatz Vorbild und Identifika- 0,8%Andere 2,7% Sie sich später ähnlichen Vor- tionsmuster sind, Lehrer und Pfarrer, die urteilen ausgesetzt. Wo würden mit ihrem Beispiel vorangehen – so wie Massaquoi: Unsere Stimmen bei den Wah- Sie als Schwarzer letztendlich lieber einst Martin Luther King, der als Mann len. Generationen von Schwarzen haben wohnen? der Religion seine Karriere begann und für das gleiche Wahlrecht gekämpft, ihr Massaquoi: In Amerika natürlich. Hier füh- dann einsah, dass nur aktives Engagement Leben dafür eingesetzt und oftmals auch le ich mich unter 35 Millionen Brüdern und wirklich eine Änderung bewirken kann. geopfert. Und dennoch gibt es Abertau- Schwestern sicher. In Deutschland war ich SPIEGEL: Sie vertrauen auf das leuchtende sende von Schwarzen, die sich noch nie in als schwarzer „Buttje“ immer allein. Vorbild von schwarzen Ikonen? die Wahllisten eingetragen haben. Sie glau- Interview: Stefan Simons, Helmut Sorge Werbeseite

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SCHIFFFAHRT Sondermüll zur See Volker Brenk, Schifffahrtsexperte vom Umweltbundesamt, über die Ver- schmutzung von Meer und Atmo- sphäre durch Schweröle

SPIEGEL: Beim Schiffsunglück vorletzte

Woche in der Ostsee ist Schweröl aus- FOCUS / AGENTUR HÄNEL & THOMAS (u.) MICHALKE NORBERT (o.); gelaufen. Ist das besonders schädlich? Schwerölforscher Brenk, Fährschiffe Brenk: Schweröl ist zäher und schwerer als Rohöl und norma- ler Schiffsdiesel. Es taucht teilweise unter die Wasseroberfläche rund 90 Prozent aller Schwefelemissionen aus und erreicht als klebrige Masse die Strände. Roh- und Dieselöle der Schifffahrt. verdunsten leichter. Durch Wellen bilden sich kleine Öltröpf- SPIEGEL: Sind Schiffe eine Art schwimmende chen, die leichter biologisch abgebaut werden. Sondermüllverbrennungsanlage? SPIEGEL: Werden Bilder wie aus Dänemark zur Regel? Brenk: Die Zustände sind zunehmend uner- Brenk: Ich fürchte, ja. Denn bei vielen Schiffsunglücken, etwa träglich. Die verwendeten Schweröle fallen dem Untergang der „Erika“ und der brennenden „Pallas“, war als Abfallprodukte in den Raffinerien an, sind billig, aber dafür Schweröl im Spiel. Die Seeschiffe fahren immer häufiger auch voller Gifte. vor der Küste und im Hafen mit diesem minderwertigen Treib- SPIEGEL: Müssten Schweröle also verboten werden? stoff, wo sie vor einigen Jahren noch ihre Maschinen auf das Brenk: Wenn es nach uns geht, ja. Doch in den internationalen umweltverträglichere Marinedieselöl umgeschaltet hatten. Gremien, die solche Verbote verhängen könnten, haben Billig- SPIEGEL: Welche Gifte entstehen bei Schweröl-Verfeuerung? flaggenländer wegen der Größe ihrer Flotten die Stimmenmehr- Brenk: Zum einen fallen schädliche Ölrückstände bei der Auf- heit und blockieren Umweltmaßnahmen. Die Anliegerstaaten bereitung des Treibstoffs auf den Schiffen an, die einige Ka- von Nord- und Ostsee müssen sich deshalb zur Einführung eige- pitäne immer noch illegal ins Meer einleiten. In den Abgasen ner, strenger Umweltstandards durchringen und sauberere See- ist jede Menge Schwefel: In der Hamburger Innenstadt stammen schiffe zum Beispiel durch günstigere Hafengebühren fördern.

TAUCHEN ein lebensbedrohliches Risiko bei KLIMA jeder Erkundung der Unterwas- Mundstücke serwelt. „Sie können zu Schwin- Tod im seichten Tümpel del und Desorientierung führen“, nach Maß warnt Ross Hobson von der Ab- n den idyllischen Tümpeln der „Cascade Range“, teilung Zahngesundheit an der Ieines Gebirgszugs, der sich von Kalifornien bis rückende Mundstücke ver- britischen University of New- nach Kanada erstreckt, verenden Hunderttausende Dmindern nicht nur den Kom- castle in einer Studie im „British Embryos der dort heimischen Nordkröte im kristall- fort von Sporttauchern, sie sind Journal of Sports Medicine“. klaren Bergwasser. Forscher der Standard-Mundstücke State Universities von Oregon aus Gummi und Sili- und Pennsylvania haben nun kon, die nicht indivi- einen Hinweis für den Zusam- duell auf das Gebiss menhang zwischen diesem Am- des Tauchers abge- phibiensterben und der globalen stimmt sind, können Klimaveränderung gefunden. beim Tragen das Kie- Der Krötentod steht demnach

fergelenk derart belas- am Ende einer langen Kette / PETER ARNOLD JOHN MACGREGOR ten, dass es zu lokalen von Ursachen: Durch die Erwär- Nordkröte Entzündungen kommt. mung des Oberflächenwassers Dadurch, so Hobson, im tropischen Pazifik häufen sich trockene Wetter- seien auch die Gleich- lagen in den Cascade-Bergen, die Wassertiefe der gewichtsfunktionen Tümpel nimmt ab. Dadurch trifft die Krötenembryos der Innenohren beein- mehr UV-B-Strahlung der Sonne und schwächt trächtigt. Der Forscher ihre Abwehrkräfte. Dies wiederum führt dazu, dass empfiehlt deshalb bis zu 80 Prozent des Amphibien-Nachwuchses maßgeschneiderte von einem Pilz dahingerafft werden. In der Zeit- Mundstücke, auf die schrift „Nature“ fordern die Forscher eine Kehrtwen-

J. T. PENNINGTON / PLUS 49 / VISUM / PLUS PENNINGTON T. J. Taucher richtig drauf- de zu alternativen Energien, um die Artenvielfalt Taucher mit Mundstück und Atemgerät beißen könnten. der Erde zu bewahren.

der spiegel 15/2001 191 Prisma Wissenschaft · Technik

VERKEHR Mit Sonne durch Indien ängst treten viele Rikscha-Fahrer Lnicht mehr selbst in die Pedale. In Indien knattern Tausende motorisierte Varianten durch die Straßen und verpes- ten die Luft. Eine Solar-Rikscha soll das Smog-Problem lösen. Gebaut hat sie der Brite Malcolm Moss, 57. Vier Jahre hat der Geschäftsmann an dem Prototyp gebastelt, jetzt soll die Rikscha ihre Tauglichkeit auf einer rund 700 Kilome- ter langen Teststrecke zwischen Delhi und Udaipur beweisen. Die Solarzellen liefern so viel Leistung wie fünf Radfah-

AFP/DPA rer, und der Elektromotor beschleunigt Radrennfahrer bei der Tour de France das Mobil auf 30 Stundenkilometer. So schnell wird sich der Qualm aber nicht FITNESS verziehen. Denn die Solar-Rikscha kos- tet 30000 Mark, eine handelsübliche Honig macht mobil Droschke dagegen nur 4500 Mark. en Honig sollte Jan Ullrich nicht vergessen, wenn er die nächste Tour de France Dgewinnen will. Ernährungswissenschaftler von der University of Memphis ha- ben jetzt herausgefunden, dass Honig genauso viel Energie liefert und die Ausdauer der Fahrer stärkt wie herkömmliche Sportlernahrung aus Glukose. In der Studie mussten Radrennfahrer drei 64-Kilometer-Zeitfahren absolvieren. Dabei brauchte die Gruppe, die unterwegs Placebo-Präparate genommen hatte, über drei Minuten länger als die Fahrer mit Honig als Proviant. Gegenüber den gängigen industriell hergestellten Glukose-Zubereitungen hat das Naturprodukt einen Vorteil: Honig

wirkt sich nicht so drastisch auf den Blutzuckerspiegel aus. / FUTUREENERGIES.COM GORDON FOAT Testfahrt einer Solar-Rikscha

RAUMFAHRT MEDIZIN Maurer Kobragift bei Rinderwahn auf dem Mars it gezielten Eingriffen ins Immunsystem Mlässt sich möglicherweise die Ausbreitung ie die ersten Men- der für den Rinderwahn (BSE) und die Creutz- Wschen zum Mars feldt-Jakob-Krankheit (CJK) verantwortlichen kommen werden, wissen Erreger im Körper verzögern. Dies gelang For- die Forscher noch nicht schern aus Edinburgh bei der mit BSE ver- so genau. Aber woraus sie wandten Scrapie-Krankheit, indem sie einen ihre Häuser auf dem un- Bestandteil von Kobragift in Versuchsmäuse wirtlichen Planeten bauen injizierten. Verursacht wird das Hirnleiden so- werden, ist schon einmal wohl bei Schafen und Kühen als auch bei Men- geklärt. Wie das britische schen durch bestimmte infektiöse Eiweißstoffe. Wissenschaftsmagazin Diese gelangen über den Darm in den Körper, „New Scientist“ berichtet, vermehren sich in den Lymphknoten und wan- hat der US-Chemiker dern über die Nervenbahnen ins Gehirn, wo

Richard Kiefer gemeinsam REUTERS sie einen unaufhaltsamen Zerstörungsprozess mit Nasa-Forschern einen Mars-Krater in Gang setzen. Nachdem das Schlangengift Baustoff entwickelt, der injiziert wurde, infizierten die Forscher die kommende Mars-Kolonisatoren vor Staub und Polyethylen-Pulver, die Mäuse mit den Erregern. Symptome der kosmischen Strahlen schützen soll. eine halbe Stunde bei 110 Grad Cel- Krankheit traten aber erst mit deutlicher Ver- Da die Raumfähren aber nicht ganze sius gebacken wird. Kiefer ist sicher, spätung auf. Nachdem die Wissenschaftler bis- Paletten voller Steine transportieren dass die Ziegel gebraucht werden: lang vor allem den Krankheitsverlauf von BSE können, haben die Forscher eine Art „Vielleicht werden die Menschen in und CJK untersuchten, weisen die im Fach- Ziegel entwickelt, der auf dem Mars ein paar Jahrzehnten zum Mars blatt „Nature Medicine“ veröffentlichten Stu- produziert werden kann. Das Ge- fliegen – und dann werden sie lange dien nun auf mögliche Wege zu einer frühen heimnis: eine Mischung aus Mars- bleiben.“ Therapie der tödlichen Infektionen hin.

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AUTOMOBILE Totschläger im Lenkrad Auf 1000 Autoinsassen, denen der Airbag bei Unfällen das Leben rettet, kommen 57, die er erschlägt. Lange haben die Hersteller das Problem verdrängt. Jetzt zwingt der amerikanische Gesetzgeber sie zum Handeln. Die Prallsäcke müssen sich künftig sanfter entfalten oder im Notfall abschalten.

in Pathologe hätte vielleicht auf ei- behörde National Highway Traffic Safety zu ihm hält. Wer sich näher als zehn Zen- nen Fenstersturz aus dem fünften Administration errechnete nach Unfall- timeter vom Öffnungsdeckel des Airbags EStock getippt oder auf einen bra- analysen eine eindrucksvolle Bilanz: Auf aufhält, schwebt in akuter Lebensgefahr. chialen Keulenschlag: In der Schädelbasis 1000 durch den Airbag gerettete Autoin- Einem Beifahrer, der sich nach vorn beugt, der Toten klaffte ein gewaltiger Spalt. sassen, kommen etwa 57 Airbag-Opfer. um sich die Schuhe zu schnüren oder etwas Tatsächlich war der 47-jährigen Jennifer Die meisten Autofahrer und Passagiere im Handschuhfach zu suchen, droht un- Reichardt aus Liverpool ein eher unspek- unterschätzen das Gefahrenpotenzial des weigerlich ein Schädel- oder Genickbruch; takulärer Verkehrsunfall zum Verhängnis Luftsacks oder kennen es überhaupt nicht. die Entwickler sprechen von einem Passa- geworden. Nur etwa 30 Stundenkilometer Werbefilme zeigen Crashversuche meist in gier „out of position“ (siehe Grafik). fuhr sie mit ihrem Rover, als sie mit einem Zeitlupe. Die Airbags entfalten sich darin Vor allem der Beifahrer-Airbag, dessen ebenso langsamen Opel kollidierte – eine scheinbar sanft wie Schmusekissen. „Da Entfaltungswucht häufig Kinder erschlägt, Unfallkonstellation, bei der die Anwalts- kriegen die Leute den Eindruck, man sei kam bei den Experten zunehmend in Ver- gehilfin mit etwas Glück mit einigen nachher schöner als vorher“, ärgert sich ruf. Er muss ein enormes Gasvolumen von Schrammen hätte davonkommen können. Professor Klaus Langwieder, Crashexper- rund 130 Litern aufbauen, mehr als doppelt Die Fahrerin des Rover hatte das Pech, te vom Gesamtverband der deutschen Ver- so viel wie ein Fahrer-Airbag, und hat des- ein modernes Gerät zur Minderung der sicherungswirtschaft (GDV). halb beim Entfalten auch eine weit größe- Unfallschwere an Bord zu haben. Zu dicht, In der Wirklichkeit schießen die Prall- re Zerstörungskraft. so die spätere Unfallanalyse, war die Frau säcke mit ohrenbetäubenden Explosio- Strittig ist, wie oft er überhaupt hilft – am Lenkrad, als sich der Airbag entfaltete. nen aus ihren Gehäusen hervor. Binnen 20 auch bei korrekt platzierten Passagieren. Statt sie aufzufangen, erschlug er sie. oder maximal 30 Millisekunden muss das Einigkeit herrscht nur darüber, dass von Nicht unbeträchtlich ist die Zahl der Fäl- Schutzpolster voll aufgeblasen sein. ihm weit weniger Nutzen und weit mehr le, in denen der als Lebensretter konstru- Dieser Zeitdruck führt dazu, dass der Schaden ausgeht als vom Airbag auf der ierte Prallsack exakt das Gegenteil von Airbag beim Entfaltungsvorgang ein hoch- Fahrerseite. dem macht, was er eigentlich tun sollte. aggressives, lebensgefährliches Instrument Denn der Fahrer würde trotz Gurt bei Die amerikanische Verkehrssicherheits- ist. Schützen kann er nur den, der Distanz vielen Unfällen gegen das Lenkrad pral-

194 der spiegel 15/2001 len. Der stoßdämpfende Luft- den Personen gar nicht an Bord sind. Bi- sack bewahrt ihn eindeutig vor lanz einer Unfalluntersuchung des GDV: Fahrerseite schweren Kopf- und Gesichts- „Durch unnötige Auslösungen von Bei- „in position“ verletzungen. Beim Beifahrer fahrer-Airbags verpuffen in Deutschland hingegen ist die Situation ganz jedes Jahr sinnlos rund 70 Millionen anders. Der Airbag soll hier Mark.“ lediglich dazu dienen, eine Mercedes rüstet seine Fahrzeuge inzwi- Überdehnung des Nackens schen mit Sitzbelegungserkennungen aus, beim Aufprall zu verhindern – um unnötige Airbag-Schüsse ins Leere zu angesichts der erwiesenen vermeiden. Zugleich aber beteuert der dor- Verletzungsrisiken, die das ge- tige Leiter der Sicherheitsentwicklung, Ro- walttätige Luftkissen birgt, dolfo Schöneburg, ein rein ökonomisches eine eher bescheidene Schutz- Kalkül um die Prallsäcke lehne er ab. Die funktion. werksinternen Unfallanalysen belegen aus Schon melden einige Versi- seiner Sicht klar, „dass der Beifahrer-Air- „out of position“ Unter zehn Zentimeter cherer Zweifel am Sinn des bag bei schweren Unfällen eine sehr hohe Entfernung wirkt der zweiten Luftkissens an. Laut Schutzfunktion hat“. Gleiches gelte für die Prallsack tödlich GDV-Sprecher Klaus Bran- inzwischen von vielen Herstellern ange- denstein haben Unfalluntersu- botenen Seiten- und Kopf-Airbags. Auch chungen gezeigt, „dass Bei- hier könnten die Unfallforscher „positive fahrer bei einem Crash in der Effekte“ erkennen. Regel nicht auf den Schutz ei- Vor allem müssen sie sich aber nun der nes Front-Airbags angewiesen Bekämpfung der negativen Effekte wid- sind“. Hartmuth Wolff, For- men. Als erstes Land der Welt werden die schungsleiter beim Münchner USA vom Jahr 2003 an den Schutz vor Air- Allianz Zentrum für Technik, bag-Fehlauslösungen gesetzlich vorschrei- behauptet, Beifahrer-Airbags ben. Von da an gilt dort der verschärfte Si- Knüppel aus dem Sack cherheitsstandard Nummer 208, an dessen Gefährliche Airbag-Zündungen Unfallwagen von Jennifer Erfüllung alle Hersteller zur Zeit schwer Reichardt, tödlicher Airbag knabbern. Ein hochaggressives, lebens- Prüfvorschriften, die absurd anmuten, Beifahrerseite gefährliches Instrument werden dort für alle Pkw-Typen zur Pflicht. „in position“ Zu den Testkonstellationen zählen etwa „statische Prü- fungen“, also solche, bei de- nen das Auto ganz still da- steht, statt gegen Barrieren oder Pfähle zu krachen. Innen steht oder kniet ein Kinder- dummy vor dem Beifahrersitz, die Brust oder den Kopf ge- gen das Armaturenbrett ge- „out of position“ lehnt. Vorbeugen zum Hand- In diesen Situationen muss schuhfach bedeutet sich der Airbag entweder au- Lebensgefahr tomatisch abschalten oder aber so sanft entfalten, dass er das Kind nicht verletzt. Verzweifelt arbeiten derzeit die Ingenieure bei Herstellern und Zulieferern an beiden Lö- sungen. Bei Siemens, einem der Lieferanten von Airbag- Elektronik, wird ein Kamera- system erprobt, das die Sitz- seien nur bei Kleinstwagen wie dem Smart positionen der Insassen ununterbrochen Den Automobilherstellern wäre deshalb sinnvoll, da dort mangels Knautschzonen überwacht. Noch allerdings kämpfen die die andere Lösung lieber. „Ich will den weit stärkere Verzögerungskräfte den Techniker mit großen Problemen. „Man Airbag nach Möglichkeit gar nicht ab- Nacken belasten. Ob ein Insasse einen be- muss sich seiner Sache schon sehr sicher schalten“, sagt Mercedes-Entwickler Schö- stimmten Unfall auch ohne Airbag überlebt sein, ehe man sich entscheidet, einen Air- neburg, auch wenn er weiß, dass ihn dies hätte, können die Gutachter jedoch nicht bag nicht zu zünden“, erklärt Jürgen vor noch größere technische Probleme genau beurteilen. Goetz, verantwortlich für die Sicherheits- stellt. Die kritische Einstellung der Versicherer systeme bei Siemens Automotive. „Low risk deployment“ heißt der rührt nicht zuletzt auch daher, dass ihnen Bislang ist es zum Beispiel unmöglich, Schlüsselbegriff für eine sanfte Aktivierung durch die Prallsäcke enorme Instandset- mit der Kamera zu erkennen, ob ein Bei- der Sprengladung, die sogar völlig falsch zungskosten entstehen. Ein Feuerwerk al- fahrer zu weit nach vorn gebeugt ist oder platzierte Insassen schont. Den ersten ler Luftsäcke kostet in einem modernen nur einen Blumenstrauß auf dem Schoß Schritt in diese Richtung ging Daimler- Auto oft über 10000 Mark, und das, obwohl hat, den zu zerquetschen völlig ungefähr- Chrysler mit der Einführung eines zwei- in der Regel die meisten der zu schützen- lich wäre. stufigen Zündsystems. Abhängig von der

der spiegel 15/2001 195 Technik ULI DECK / DPA ULI Airbag-Prüfkammer im Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie: Angst vor dem „Anschuss“

Aufprallwucht und von der Information Kunststoffschale. Das macht ihn beim Aus- längst gelöst haben müssten. Mehr vom aus den Gurtschlössern, ob die Insassen tritt unnötig aggressiv. Marketing als von sicherheitstechnischer angeschnallt sind, feuert der Airbag zu- Zudem entstehen unerwünschte Neben- Notwendigkeit motiviert trieben sie in den weilen nur mit halber Kraft. effekte: Beim neuen Ford Mondeo bildete vergangenen Jahren die Entwicklung von Das Prinzip lässt sich noch deutlich ver- sich als Folge der brachialen Öffnung eine Kopf-, Tür- und Sitzlehnen-Airbags voran, feinern, etwa mit Sensoren, die das Kör- zu scharfe Bruchkante, die den Airbag statt die vorhandenen Systeme konsequent pergewicht der Insassen ermitteln. Derzeit beim Entfalten aufscheuerte und Ford zu abzusichern. schreckt es jedoch die Helfer der Feuer- Nachbesserungen zwang. Zu lange wurden die tödlichen Auslöser wehren und Rettungsdienste. Denn in Ein- Inzwischen arbeiten die Zulieferer an bagatellisiert oder auf das Fehlverhalten zelfällen kam es zu Fehlauslösungen der eleganteren Öffnungsmechanismen, bei de- der Kunden geschoben – und dies obwohl zweiten Stufe nach dem Auf- sich keineswegs nur nachlässige prall. Bei der Bergung der Un- Teures Feuerwerk Schutzkissen im modernen Auto Insassen „out of position“ be- fallopfer lauert somit Lebens- finden. Für manche Autofahrer gefahr. Kopf-Airbag Fahrer-Airbag bedeutet ihre ganz normale Sitz- Doch schon ganz simple, me- position ständige Lebensgefahr chanische Verbesserungen könn- Beifahrer- durch den Airbag. ten das Verletzungspotenzial Airbag So zählt zu den neuen ameri- deutlich verringern. Entschei- Seiten- kanischen Testdisziplinen erst- dend ist unter anderem die Fal- Airbag mals auch ein Crashversuch mit tung des Airbags im Gehäuse. hinten einer Dummypuppe am Steuer, Bislang legten die Konstrukteure die der so genannten „Fünf-Pro- die Hülle zusammen wie den zent-Frau“ entspricht, einer 48 Balg einer Ziehharmonika. Bei Seiten-Airbag vorn Kilogramm leichten Person mit der Explosion saust zunächst das 150 Zentimeter Körpergröße. ganze Paket in den Innenraum Solche Fahrerinnen sitzen na- und entfaltet sich dort mit enor- turgemäß sehr nah am Steuer, mer Gewalt. Fachleute sprechen von einem nen sich die Klappe etwa wie eine Schie- manche sogar ständig im lebensgefähr- „starken Anschuss-Verhalten“. betür öffnet, ehe der Luftsack entweicht. lichen Anschuss-Bereich. Mercedes-Entwickler Schöneburg plä- Der gefährliche Anschuss-Impuls könnte Ein Risiko, das die Hersteller lange völ- diert inzwischen für eine Raff-Faltung, bei dadurch deutlich abgeschwächt werden. lig verschwiegen hatten, wird inzwischen der die Lagen nebeneinander statt über- Darüber hinaus steht ein zweistufiges sogar schriftlich zugegeben. Ein internes einander gestapelt werden. Sie habe „so Zündsystem zur Diskussion, bei dem Volkswagen-Papier nennt als eines der Zie- gut wie keinen Anschuss mehr“, verhed- grundsätzlich erst eine schwache Dosis zur le der neuen Tests die „Reduzierung des dere sich aber noch gelegentlich beim Auf- Explosion kommt. Schnüre im Inneren des Risikos für Kleinkinder, Kinder und kleine blasvorgang. sich entfaltenden Sacks ziehen dann Erwachsene vor Verletzungen und Tötun- Unnötig viel Energie benötigen die Prall- Schaltbolzen aus einem Schloss und geben gen durch den Airbag“. säcke noch zum Durchstoßen der Abdeck- damit den Zündbefehl für die zweite Stu- Zu deutlich sind die Indizien aus der klappe. In nur sieben Millisekunden muss fe. Stößt die Hülle dagegen schon während Unfallforschung. Die vor einem Jahr in der ausbrechende Luftbeutel das Material der ersten Zentimeter auf ein Hindernis, England verunglückte Rover-Fahrerin aufgeknackt haben. Und die Design-Vor- werden manche der Bolzen nicht zur vor- Reichardt hatte als Unfallgegner einen Opel gaben der Hersteller machen es den Zu- gesehenen Zeit gezogen; die zweite Stufe älteren Baujahrs. Dessen Fahrer stieg lieferern oft unnötig schwer. Deckel ohne schaltet sich automatisch ab. nahezu unversehrt aus. Er hatte sich ledig- sichtbare Nut sind zurzeit in Mode, jedoch Über zwei Jahrzehnte nach der Ein- lich die Lippe aufgeschnitten. Sein Fahr- noch schwerer zu öffnen. Mit bis zu 750 führung der ersten Prallsäcke gehen die zeug hatte noch keinen Airbag. Kilogramm knüppelt der Sack gegen die Hersteller damit nun Probleme an, die sie Christian Wüst

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INTERNET Frühling im Netz Neue Adressen, neue Sprachen: Die lange angekündigte General- überholung des Internet beginnt. Doch die Reformen stiften wo- möglich noch größere Verwirrung.

s war eine schwere Geburt. Gern er- innert sich Vint Cerf an jene helden- Ehaften Tage, da er widerspenstigen Großrechnern beibrachte, miteinander zu

kommunizieren. / SINOPIX SIMON WAN Cerf, 57, gilt als einer der Väter des In- Chinesische Tastatur: Das Netz wird babylonisiert ternet. Anfang der Siebziger schuf er mit seinen Kollegen die Universalsprache der Nach Jahren der Nabelschau beginnen Denn um die neu zugelassenen Zeichen Datenübermittlung, ohne die keine E-Mail nun einige längst überfällige Renovie- zu verstehen, braucht ein Computer spe- ihren Empfänger erreichen würde: das rungsarbeiten im Internet – allerdings wie- zielle Plug-in-Programme. Und wer einen Übertragungsprotokoll „TCP“. derum vom Hinterzimmer aus. Seit letzter chinesischen Domainnamen mit Hilfe einer Doch was der Netzveteran damals leis- Woche, so die Verheißung, ist das Internet deutschen Tastatur ansteuert, muss zukünf- tete, ist ein Kinderspiel verglichen mit sei- international. Bislang sind Homepages aus- tig Kauderwelsch wie etwa „www.bq-- nem heutigen Job: Jetzt soll er die Kom- schließlich mit dem US-Zeichensatz AS- 3b7vcv67.com“ eintippen. munikation von mehr als 100 Millionen In- CII auffindbar. Seit dem 5. April jedoch Die neue Unübersichtlichkeit erfasst ternet-Rechnern weltweit organisieren. könnten Netzadressen wie etwa „www.al- bald auch die Endungen von Internet- Cerf, dessen Name man ausspricht wie lah.com“ mit arabischen Schriftzeichen re- Adressen, die so genannten Top-Level Do- die Aufforderung „Surf!“, ist ein charis- serviert werden, auch Thai und Hebräisch mains (TLD) wie „.com“ oder „.de“. Noch matischer Dandy, der schon seit seiner sind nun möglich – allerdings nach wie im Laufe dieses Jahres sollen insgesamt Schulzeit in Jackett und Krawatte auftritt. vor gefolgt von herkömmlichen Endungen sieben neue TLDs hinzukommen, darunter Im Hauptberuf ist er Vi- wie „.org“, „.net“ oder „.name“ für Privatpersonen und „.aero“ zepräsident beim Tele- Internet-Chef Cerf „.com“. Viele Beobachter für Fluglinien (siehe Grafik). kommunikationsgiganten Zähmung renitenter Nutzer sind verärgert: Verisign, Doch während Cerfs Surf-Verein noch Worldcom, nebenberuf- mit 28 Millionen Netzdo- immer mit der Einführung zögert, werden lich ist er Chef des Inter- mains der größte Anmel- auf einem grauen Markt bereits etliche net. Genauer: Vorsitzen- dedienst der Welt, drückt neue TLDs feilgeboten. „Die Icann führt der der Netzverwaltung damit ohne internationa- die ganze Welt am Nasenring herum, jetzt Icann, die 1998 von der le Abstimmung einen ei- entwickeln wir unsere eigene Lösung“, sagt US-Regierung aus dem genen Standard durch, Pascal Bernhard von der Agentur Cube, Boden gestampft wurde. mit Duldung der Icann. die seit Anfang März den Dienst „beat- Die ersten beiden Jah- Risiken und Nebenwir- nic.de“ anbietet, bei dem Internet-Nutzer re war die Icann vor al- kungen: Das Internet, sich Namen mit 20 neuen Endungen reser- lem mit ihrer Selbster- einst ein globaler Daten- vieren können, von „.auto“ bis „.oeko“. findung beschäftigt und raum, könnte babyloni- Die Anmeldung ist kostenlos, hat jedoch taumelte von einer Iden- siert werden, zersplittert einen entscheidenden Nachteil: Gefunden

titätskrise in die nächste: / AP BOITANO J. STEPHEN in regionale Unternetze. werden die alternativen Namen nur von Die gemeinnützige Firma Surfern, die eine Einstellung am Rechner mit Sitz im Hafenörtchen ändern – vielen dürfte das zu kompliziert Marina del Rey bei Los Erweiterte Vielfalt sein. „Damit riskieren wir ein Zerfallen Angeles verwalte nur Neue Sprachen und Domains des Internet zu einer Kleinstaaterei“, warnt ganz brav die Internet- im Internet Michael Froomkin, Juraprofessor in Miami Namen, wird Cerf nicht müde zu betonen. Existierende Top-Level Domains und Mitgründer der Netzbürgerbewegung Kritiker dagegen sehen die Icann als selbst- Icannwatch, „aber Schuld daran ist allein .com, .org, .edu, .net, .gov, .mil, .int, .de sowie herrliche Internet-Regierung ohne Man- 242 weitere nationale und regionale Endungen das Taktieren der Icann.“ dat: Nur 5 von 19 Direktoren sind durch Cerf langweilen derlei Debatten. „Viele eine ohnehin umstrittene Online-Wahl Neue Sprachen bei .com, .net und .org Leute sind völlig fixiert auf ihren Domain- legitimiert. Wahlbeteiligung: weit unter Hebräisch, Griechisch, Georgisch, Thai, namen“, sagte er bei seinem Cebit-Besuch. einem Promille. „Die haben eine Schein- Arabisch, Japanisch, Chinesisch, Russisch, „Aber es wird nie genügend eingängige demokratie aufgebaut, die die Öffent- Polnisch, Tschechisch u. a. Namen geben. Wer auf gute Suchmaschi- lichkeit in Atem hält“, sagt Michael Beispielanbieter: www.verisign.com nen setzt, kommt viel eleganter ans Ziel.“ Schneider, 38, Netzpionier und Mitglied Neue geplante offizielle Top-Level Domains Cerf schwärmt stattdessen lieber von eines Icann-Beratungsgremiums namens .biz, .info, .name, .pro, .coop, .aero, .museum seinem neuen, extravaganten Traumziel, „Names Council“. „Aber während wir be- bei dem es nur widerspenstige Maschinen raten, werden die Entscheidungen von Mögliche neue inoffizielle Top-Level Domains zu zähmen gilt, keine renitenten Netz- einem kleinen Zirkel im Hinterzimmer .auto, .bahn, .buch, .edv, .musik, .oeko u. a. nutzer: ein interplanetares Internet im getroffen.“ Beispielanbieter: www.beat-nic.de oder www.new.net Weltall. Hilmar Schmundt

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Herstellung und die Gewinnung der Roh- schine, das unter anderem die Trommel RECYCLING stoffe berücksichtigen – das ist weitaus und den Motor enthält, und nehmen es aus mehr, als die Maschinen zum Waschen dem Gehäuse heraus. Leben nach der benötigen. Deshalb ist es umweltfreund- Um den Motor von der Trommel zu licher, ein Gerät so lange wie möglich zu trennen, benutzen die Roboter ein spe- benutzen.“ zielles Berliner Werkzeug, auf das die Ent- letzten Spülung Trotz aller Abneigung könnte die Berli- wickler besonders stolz sind. „Das Gerät ner Demontagefabrik auch für die Her- löst alle Arten von Schrauben – auch wenn In Berlin zerlegen Roboter steller bald interessant werden: falls näm- sie rostig sind oder ihre Kerbe kaum noch lich die EU die seit langem angekündigte vorhanden ist“, sagt Seliger. Der Trick: Mit Waschmaschinen in Einzelteile und Elektroschrottverordnung beschließt, die seiner Spitze schlägt der Schrauber ein- trennen Wiederverwertbares die Unternehmen zur Rücknahme von fach wie ein Presslufthammer eine neue vom Müll – in Zukunft sollen sie Waschmaschinen, Kühlschränken und an- Kerbe in den Kopf der Schraube und dreht sogar Autos ausschlachten. deren Apparaten zwingen soll. Rund 15 sie heraus. Millionen solcher Geräte landen nach Doch dazu muss der Roboter die Schrau- ie Versuchshalle der Technischen ZVEI-Schätzung pro Jahr auf deutschen ben erst einmal finden, die an jedem Mo- Universität Berlin (TU) in der Pas- Müllkippen. Deshalb könnte sich eine An- dell an anderen Stellen sitzen. „Dafür ha- Dcalstraße 8–9 sieht nicht gerade aus lage, die billig Rohstoffe vom Abfall trennt, ben wir ihm eine Kamera eingebaut“, sagt wie ein typisches Forschungslabor. Auf den für die Betriebe lohnen. Interessenten gibt Basdere. „Die Bildverarbeitung erkennt Tischen liegen alte Bildröhren und Auto- es bereits: Die Bosch-Siemens Hausgeräte die Schrauben entweder an ihrer Form anlasser, auf dem Boden stapeln oder an einem leuchtenden Lack, sich kaputte Waschmaschinen auf der schon heute zum Markieren ein- Holzpaletten. Doch hier werkelt gesetzt wird.“ Einfacher wäre es al- nicht der Hausmeister. Inmitten des lerdings, wenn die Roboter die Bau- Schrotts rackern drei orangefarbene pläne kennen würden. Basdere: Roboter – Herzstücke eines millio- „Die könnte sich der Steuerungs- nenschweren Projekts: eine einzig- computer später über das Internet artige Demontageanlage, die nahe- bei den Herstellern besorgen.“ zu vollautomatisch Waschmaschi- Rund zwei Minuten dauert die nen zerlegt und wieder verwertbare Demontage. Ganz ohne Menschen Bauteile aussortiert. funktioniert sie jedoch noch nicht: Wenn der Diplomingenieur Ba- „Jemand muss das System über- hadir Basdere, 27, in eine kaputte wachen“, sagt Basdere. „Außerdem Waschmaschine guckt, blickt er in brauchen wir zwei Arbeiter, die die ein Ersatzteillager: „Da kann man Abdeckplatte abnehmen, die Kabel so viel weiterverwenden: den Mo- im Innenraum durchschneiden oder tor, die Laugenpumpe oder das die Laugenpumpe ausbauen.“ Das Magnetventil, das den Wasserzu- den Robotern zu überlassen, sei lauf steuert – ist doch viel zu scha- technisch zwar schon möglich, aber de zum Wegwerfen“, sagt der noch zu teuer. Geschäftsführer des Sonderfor- Bis Ende 2003 haben die Forscher schungsbereichs 281 „Demontage- mindestens noch Zeit, ihr Projekt fabrik“. Doch das interessiere weiterzuentwickeln. So lange unter- höchstens ein paar Kleinbetriebe stützt es die Deutsche Forschungs- und Hobby-Schrauber, „eine indu- gemeinschaft mit drei Millionen strielle Wiederverwertung der Teile Mark pro Jahr. 9 Professoren, 21 gibt es noch nicht, denn das ist teu- wissenschaftliche Mitarbeiter und er und schwere Arbeit“. 20 Studenten tüfteln mit an der Bislang erwartet Waschmaschi- Demontagefabrik: Ingenieure pla- nen nach der letzten Spülung oft nen die Maschinen, Wirtschafts- ein trauriges Schicksal: der Weg in wissenschaftler errechnen, wie sie den Schredder. Ein buntes Granu- rentabel eingesetzt werden könn-

latgemisch aus Metall, Plastik, Be- / VISION PHOTOS KLOSTERMEIER RAINER ten, und Architekten planen die ton und Glas ist alles, was von ihnen Roboter, Waschmaschinen-Trommel im Berliner TU-Labor Gebäude dafür. „Als nächstes wol- danach übrig bleibt. „Die Firmen Herzstück eines Millionenprojekts len wir Kühlschränke auseinander wollen neue Geräte verkaufen“, nehmen, später einmal auch Anlas- sagt Projekt-Sprecher Günther Seliger, 54, GmbH begleitet das Berliner Projekt, und ser und Lichtmaschinen“, sagt Basdere. „die haben kein Interesse an der Repara- sogar ein Waschmaschinen-Hersteller aus Sein Traum sei es, mal ein ganzes Auto in tur alter Maschinen.“ Australien hat sich schon bei den deut- der Anlage zu zerlegen, „doch das ist noch Otmar Frey, Leiter der Abteilung Um- schen Wissenschaftlern gemeldet. eine Vision“. weltschutzpolitik beim Zentralverband Möglich wird die neue Form der De- Mehrfach haben Basderes Kollegen ihm Elektrotechnik- und Elektronikindustrie montage durch eine aufwendige Technik: schon vorgeschlagen, das einmal mit sei- (ZVEI), bestätigt diese Vermutung. Es sei Ein Rollensystem transportiert die Wasch- nem Smart zu versuchen, doch der Inge- ökologisch gar nicht sinnvoll, eine zehn maschine an drei Robotern vorbei. Die nieur ignoriert beharrlich solche Frotze- Jahre alte Waschmaschine zu reparieren, trennen zunächst die Seitenwände des leien: „Das Auto ist gerade mal 5000 beteuert er: „Die verbraucht doch viel Gehäuses mit einem Plasmazerstrahler her- Kilometer gefahren. In zehn Jahren mehr Energie und Wasser als moderne.“ aus. Danach zerschneiden sie mit einer Hy- können wir wieder darüber reden – dann Basdere rechnet anders: „Man muss in draulikschere die Stoßdämpfer und die ist unsere Technik hoffentlich auch so der Ökobilanz auch die Energie für die Aufhängung des Schwingsystems der Ma- weit.“ Torben Müller

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Schlagzeilen über epidemiologische Studien: „Die schlechten Nachrichten sind für die Journalisten oft die guten Nachrichten“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Datenfischen ist verbreitet“ Der Mainzer Epidemiologe Jörg Michaelis über Elektrosmog, Leukämie und die Tücken medizinischer Statistiken

SPIEGEL: Herr Professor Michaelis, die Er- licherweise zufällig beobachteten Ergeb- kenntnisse Ihres Fachs schüren eine Epi- nisse muss man aber – das ist der Knack- demie der Ängste. Grundlage sind epide- punkt – methodisch in einer weiteren Stu- miologische Studien, die Kaffeegenuss für die untersuchen. Und die kann dann eben Bauchspeicheldrüsenkrebs, fettreiches Es- das Gegenteil erbringen. sen für Herzkrankheiten oder Antibaby- SPIEGEL: Die Epidemiologie hat große Ver- pillen für Thrombosen verantwortlich ma- dienste. Sie hat beispielsweise aufgedeckt, chen. Häufig genug folgen wenig später dass Tabakrauch, Asbest und radioaktive Studien, die genau das Gegenteil behaup- Strahlung aus Atomversuchen Krebs aus- ten. Wie erklärt sich das? lösen. Andererseits gab es auch Pleiten. Michaelis: Widersprüche kommen oft da- Nach 4000 sehr schweren Missbildungen durch zu Stande, dass bei epidemiologi- entdeckten zwei Psychologiestudentinnen schen Studien sehr umfangreich Daten er- in Hamburg eher zufällig den Zusammen- hoben werden. Da werden Bögen mit Hun- hang mit dem Schlafmittel Contergan. derten von Fragen fabriziert. Dann hat man Wäre solch eine Katastrophe in Deutsch- das statistische Problem, dass bei der Aus- land heute noch denkbar?

wertung von allen möglichen Dingen im- / ARGUM STOCKMEIER FRITZ Michaelis: Befriedigend ist die Situation mer auch Zusammenhänge aufscheinen, noch immer nicht. Wir sollten ein flächen- die sich zufällig aus den Zahlen ergeben. Jörg Michaelis deckendes Fehlbildungsregister einrichten, SPIEGEL: Sie meinen, die Zusammenhänge gilt als einer der führenden Epidemio- das als Frühwarnsystem funktionieren könn- sind oft bloß zufälliger Natur? logen in Deutschland. Er ist Direktor te. Das haben wir leider noch nicht. Michaelis: Ja. Und diese Dinge werden des Instituts für Medizinische Statistik SPIEGEL: Wo sehen Sie die Zukunft der Epi- dann häufig als ein entscheidendes Ergeb- und Dokumentation der Universität demiologie? nis einer Studie herausgestellt. Die Daten Mainz. Zu seinen Hauptforschungsge- Michaelis: Die Hoffnung und vielleicht werden schon deshalb so extensiv analy- bieten zählt die Krebsepidemiologie. auch Zukunftsperspektive für uns liegt dar- siert, weil diese Studien meist Hundert- Michaelis, 60, ist Verfasser und Mit- in, die Epidemiologie mit den genetischen tausende oder Millionen Mark kosten. Da autor zahlreicher Studien über mögli- Methoden zu verbinden. Auf diese Weise will man natürlich die Daten, die man alle che Ursachen kindlicher Leukämien. könnten die Vorhersagen präziser werden. gesammelt hat, auch auswerten. Die mög- SPIEGEL: Wie sieht das im Einzelnen aus?

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Michaelis: Das kann man am Beispiel Rau- breitet sind. Man sieht dort dicke Menschen, Michaelis: Als ich die ersten epidemiologi- chen schön zeigen. Jeder von uns kennt wie sie einem bei uns kaum begegnen. Das schen Studien zu der Frage der Elektro- Kettenraucher, die 90 Jahre alt werden; an- ist auch ein kultureller Unterschied. magnetfelder und Krebs gesehen habe, dere hingegen bekommen ihren Lungen- SPIEGEL: Hier haben wir eben noch nicht so dachte ich auch eher an die Störche. An ei- krebs im Alter von 50 Jahren. Vielleicht lange McDonald’s. nen ursächlichen Zusammenhang habe ich kann man künftig die genetische Veranla- Michaelis: Ja, vielleicht. nicht geglaubt. Dann hat sich die Methodik gung besser dingfest machen. Zudem SPIEGEL: Sie haben jüngst eine Studie über solcher Studien aber über lange Zeit qua- ließen sich Krankheiten gezielt vermeiden: den möglichen Zusammenhang zwischen litativ entwickelt, bis hin zu den Messun- Dem einen Menschen könnte man seine Leukämie bei Kindern und elektromagne- gen, die wir jetzt in unseren Studien ge- Zigaretten oder seinen Alkohol erlauben, tischen Feldern, populär Elektrosmog ge- macht haben. In der Zwischenzeit bin ich weil sein Körper damit besser fertig wird. nannt, veröffentlicht. Was ist Ihre Defini- nachdenklich geworden, weil wir nach der Umgekehrt müsste man den anderen auf tion von Elektrosmog? ersten und zweiten Generation jetzt eine sein ganz spezielles Risiko hinweisen. Michaelis: Das ist ein reißerischer und nicht dritte Generation von Studien haben. Die SPIEGEL: Das ist noch ein bisschen Zu- sehr hilfreicher Ausdruck: Smog ist Nebel kommen weitgehend übereinstimmend zu kunftsmusik. Im Augenblick stößt die Epi- vermischt mit Abgasen, und das überträgt dem Ergebnis, dass ein, wenn auch sehr demiologie an Grenzen, zum Bei- schwacher, statistischer Zusam- spiel mit den großen Studien zum menhang besteht zwischen relativ Thema Ernährung. Die laufen starken Feldern und den Leukä- über viele, viele Jahre, in denen mien bei Kindern. sich die Lebensgewohnheiten der Nun könnte man natürlich ver- Menschen oft ändern. Typisches muten, dass vielleicht alle Studi- Beispiel ist die so genannte Fra- en denselben Fehler gemacht ha- mingham-Herzstudie in Amerika, ben. Man hat wirklich nach Din- eine der größten Studien zum gen gesucht, welche die Studi- Thema Ernährung und Herz- energebnisse als ein Kunstpro- krankheiten. Die lief in den ersten dukt, als ein Artefakt erklären zehn Jahren völlig in die Irre, weil könnten. Aber trotzdem ist im- man nur das Fett für die Ursache mer noch etwas übrig geblieben, des Herztods hielt. Dann ent- so dass man im Moment, vor- deckte man, dass das Rauchen die sichtig formuliert, sagen muss: Zahl der Herzkrankheiten viel Wir haben einen statistischen Zu- stärker beeinflusst. Schließlich sammenhang. kam noch der Bewegungsmangel SPIEGEL: Ihre Studie zeigt auch, ins Spiel. Am Ende bleibt eine dass in 99,8 Prozent der Haus- Binsenweisheit: Iss weniger Fett, halte kein statistischer Zusam- rauch nicht, trink nicht zu viel Al- menhang da ist. Und in Großbri- kohol und beweg dich! tannien kommt das National Ra- Michaelis: Sie sagen jetzt Binsen- diological Protection Board jetzt weisheit. Ich würde das positiver zu dem Ergebnis, alle bisheri- formulieren. Die klassischen Ri- gen epidemiologischen Befunde sikofaktoren Bluthochdruck, Hy- seien zu schwach, den klaren percholesterinämie und Rauchen Schluss zu rechtfertigen, die Fel- sind erst seit Framingham solide der lösten Krebs aus. gesichert. Das Ergebnis zum Rau- Michaelis: Genau das sagen wir chen wurde damals sogar vehe- auch. Die verfügbare Evidenz ment angegriffen und nicht ernst reicht nicht dazu aus, den klaren genommen. Man wusste nämlich Schluss zu ziehen, dass solche nicht, wie es funktioniert. Den Felder ursächlich für Leukämie Wirkmechanismus hat man erst sind. 20 Jahre später an Mäusen wirk- SPIEGEL: Können wir uns ein biss- lich aufgeklärt. Das ist ein Punkt, chen zurücklehnen?

auf den wir gern hinweisen: dass PRESS BRUENDEL / ACTION FRANK Michaelis: Das muss man mal al- die Epidemiologie der Medizin Asbestsanierung: „Oft sind wir der Medizin voraus“ les sortieren. Die Situation sieht manchmal voraus ist. Wir machen so aus: Wir finden einen schwa- Beobachtungen, die überraschend sind – man jetzt auf elektromagnetische Felder. chen Zusammenhang, der allerdings nur und die man auch in Frage stellen kann –, Dadurch löst der Begriff Ängste aus. einen minimalen Teil der Bevölkerung be- die aber oft Erkenntnisse vorwegnehmen, SPIEGEL: In Ihrer Studie sehen Sie einen trifft. Wenn der Zusammenhang ein kau- die dann die Medizin erst nach und nach Zusammenhang zwischen Leukämie von saler wäre – was nicht bewiesen ist –, dann untermauern kann. Kindern und Magnetfeldern von etwas wären hiervon nur 3 bis 4 der jährlich 620 SPIEGEL: Die Folge der Framingham-Studie mehr als 0,4 Mikrotesla, wobei das Ma- Leukämiefälle bei Kindern in Deutschland in Amerika ist, dass die Menschen auf gnetfeld der Erde etwa 40 Mikrotesla hat. betroffen. Das ist auf jeden Fall die gute Fett verzichtet haben und mehr Kohlen- Auf Grund der kleinen Zahl von nur sechs Botschaft. hydrate futtern. Trotzdem sind sie inzwi- Kindern, so heißt es in Ihrer Veröffentli- SPIEGEL: Das Magazin „Focus“ aus Mün- schen im Durchschnitt deutlich dicker chung, sei der Befund statistisch „fast ohne chen betitelt einen Bericht über Ihre Stu- als zu Beginn der Studie vor über 50 Aussagekraft“. Könnte es sich auch hier die „Krebs aus der Stromleitung“. Jahren… nur um einen zufälligen Zusammenhang Michaelis: Das ist genau das, was wir nicht Michaelis: …was aber wahrscheinlich mit handeln, vergleichbar dem Rückgang der erreichen wollten. So ist das mit den dem Wohlstand zu tun hat und auch mit Storchenzahl und dem gleich starken Ge- Schlagzeilen. Das ist eines der großen gewissen Phänotypen, die in Amerika ver- burtenrückgang beim Menschen? Dilemmata der Epidemiologie.

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Werbeseite SPIEGEL: Gibt es noch ein weiteres? Michaelis: Das andere Dilemma habe ich vorhin genannt: dass die Autoren selbst oft nicht kritisch genug sind und ihre Ergeb- nisse kräftig verpacken. Damit möchten sie auch neue Forschungsgelder einwerben oder bekannt werden. Aber das ist dann problematisch, wenn es sich um Überra- schungsbefunde handelt. Es ist ganz wich- tig auseinander zu halten: Einerseits gibt es eine Primärhypothese, die sie mit ihrer Studie überprüfen wollen. Und dann gibt es das, was wir explorative Datenanalyse nennen. Manche sagen auch ein bisschen

despektierlich Datenfischen. Dabei kämmt / ARGUS SCHMITT THOMAS man also die Daten durch und fischt mit Wohnhaus unter Hochspannungsleitungen: „Elektrosmog ist ein zu reißerischer Begriff“ dem Computer irgendetwas heraus. SPIEGEL: Ist das weit verbreitet? werten wollen und noch ungesicherte Zu- SPIEGEL: Das klingt, als ob man das Kapi- Michaelis: Das ist verbreitet. Das ist auch le- fallsfunde als definitive Ergebnisse ver- tel Magnetfelder und Leukämie schließen gitim. Wenn man eine Studie mit Millio- kaufen. Und dann wird das nachher zur könnte. nenaufwand gemacht hat, dann soll man Schlagzeile gemacht. Im Übrigen sind die Michaelis: Wir halten es nicht für sinnvoll, die Daten ja auch analysieren. Warum hat Medien auch nicht ganz unschuldig, denn dies noch mal mit einer epidemiologischen man nach der Krankheit der Großmutter sie stehen natürlich unter dem gleichen Er- Studie nachzuuntersuchen, denn wir sind gefragt, wenn man es nachher nicht aus- folgsdruck wie die Wissenschaftler. Die jetzt an der Grenze dessen angekommen, wertet? Dabei können natürlich auch Sa- schlechten Nachrichten sind für Journa- was man überhaupt erkennen kann. Es chen rauskommen, die auf den ersten Blick listen oft die guten Nachrichten. Die Ver- geht um maximal drei bis vier Erkran- völlig unplausibel erscheinen. Ob es blon- suchung, die reißerische Schlagzeile zu kungsfälle in Deutschland. Die kann man de Haare sind, die mit irgendeiner Krank- wählen, ist entsprechend groß. Wir haben epidemiologisch kaum erkennen. Das geht heit korrelieren, oder die Schuhgröße. bei unserer Pressekonferenz nach der Stu- praktisch im statistischen Rauschen unter. SPIEGEL: Dennoch werden solche Schein- die versucht, so etwas zu vermeiden. Es SPIEGEL: Auch Handy-Strahlen sind ein viel befunde immer wieder veröffentlicht. ist auch weitgehend gelungen. Wir haben diskutiertes Thema. Kürzlich sind dazu drei Michaelis: Da machen die Epidemiologen schon ganz gut rübergebracht, dass man epidemiologische Studien mit mehr als oft den Fehler, dass sie ihre Studie auf- Entwarnung geben kann. 420000 Handy-Nutzern in Fachzeitschrif- Wissenschaft ten erschienen, die allesamt keinen SPIEGEL: Wird denn diese groß an- Zusammenhang zwischen Handys gelegte EU-Kontrollstudie irgend- und Hirntumoren finden konnten. wann ein abschließendes Ergebnis Zuvor waren andere Untersuchun- bringen? gen zu dem gleichen Ergebnis ge- Michaelis: Das weiß man immer erst kommen. hinterher. Die Studie läuft noch bis Michaelis: Ich teile die Auffassung, 2003. Wenn die Erhebung ein Nega- dass man eigentlich heute keinen tivergebnis bringt, wie das einige Stu- konkreten Anlass hat, ernsthaft zu dien ja bereits tun, welche die Phä- befürchten, dass das Handy Krebs nomene in kleinerem Maßstab schon macht. Es gibt keine krank machen- untersucht haben, dann kann man den Mechanismen. Es gibt zwar die Akte wahrscheinlich erst mal

durchaus physiologische oder biolo- / ARGUM STOCKMEIER FRITZ schließen. gische Effekte. Nach heutiger Kennt- Medizinstatistiker Michaelis (2. v. l.), SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: „Die Elektrosmog-Gläubi- nis haben die jedoch keine krank- „Es gehen vagabundierende Ängste um“ gen geben nie auf“, schreibt das „Bri- heitsauslösende Wirkung. Wenn man tish Medical Journal“. Dabei sei es aber die Menschheit mit einer völlig neu- keine Aussage zu möglichen Langzeitwir- ganz egal, zu welchen Ergebnissen eine en Technik überzieht, die wirklich flächen- kungen zulassen. Aber in der Epidemiolo- Studie kommt. deckend eingesetzt wird, dann ist man gie ist es eben immer erforderlich, dass Michaelis: Ja, so ist das mit Glaubenssa- doch eigentlich auch verpflichtet, zu un- man sich nicht nur auf eine Studie verlässt, chen. Wenn man einem Glauben stark ge- tersuchen, ob das nicht doch Gefahren be- sondern dass man verschiedene unter- nug anhängt, ist man auch durch wissen- inhaltet. Wenn ich mir vorstelle, dass allein schiedlich strukturierte Studien macht, schaftliche Gewissheit nicht davon abzu- für die UMTS-Lizenzen fast 100 Milliarden die sich gegenseitig ergänzen und in der bringen. Der Gießener Psychoanalytiker Mark ausgegeben wurden, dann müssten Evidenz verstärken. Insofern machen wir Horst-Eberhard Richter sagt, es gingen va- auch ein paar Millionen für die Forschung jetzt an einer europaweiten Fallkontroll- gabundierende Ängste um. Im Krieg oder drin sein, damit man sich nicht nachher studie mit. Diese EU-Studie ist auch auf bei offensichtlichen Gefahren richten sie Vorwürfe macht. außereuropäische Staaten ausgedehnt und sich auf die handfeste Bedrohung. Wenn SPIEGEL: Das Phänomen wird gegenwärtig untersucht 12000 Menschen. Wir suchen aber sonst alles friedlich ist, kommen an- mit Millionenaufwand erforscht. Bisherige speziell nach Hirntumoren, um diesen Be- dere Sorgen auf, und das sind dann eben Studien finden aber keinen Zusammen- reich sicherheitshalber noch mal abzu- die Müllverbrennungsanlage oder die hang zwischen Handy-Strahlen und Krebs. checken. Hochspannungsleitung oder das Handy. Michaelis: Dann ist das ja schon mal ein SPIEGEL: Herr Professor Michaelis, wir dan- guter Hinweis, auch wenn diese Studien * Jörg Blech, Rolf S. Müller und Hans Halter. ken Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite

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Psychophysikerin Jordan Kompositionen aus neuartigen Farben

nach Menschen gemacht, die auf vier Kanälen Farben sehen – keine einfache Aufgabe, denn Tetrachromaten sind außer- ordentlich rar. Vor allem aber lassen sie sich nicht leicht ausfindig machen: Wer sieht einem Menschen schon an, wie viele Farben er sieht? Den angelsächsischen Wissenschaftlern war klar, dass sie sich bei ihrer Suche an das weibliche Geschlecht würden halten müssen, „dessen Auge“, wie schon Goethe zu wissen glaubte, „jedes Verhältnis der Farben so fein beurteilt“. Denn die Gene für den Rot- wie für den Grünzapfen liegen auf dem weiblichen X-Chromosom. Am besten, so jedenfalls sagt es die Genetik

MARK PINDER MARK voraus, müssten die Chancen, Tetrachro- maten zu finden, paradoxerweise bei Müt- piens überflügelt: Bienen etwa nutzen vier tern rot-grün-blinder Söhne sein. GENETIK verschiedene Zapfentypen, um Blüten Tatsächlich hatte die an der britischen präziser unterscheiden zu können, bei University of Newcastle lehrende Psycho- Buntes Gemisch Schmetterlingen kommt sogar noch ein physikerin Gabriele Jordan bald Glück bei fünfter hinzu. der Fahndung: 14 Mütter rot-grün-blinder Forscher erkunden die In den achtziger Jahren machte der Söhne unterzog sie einer ganzen Reihe Sinneswelt einer eigenartigen Cambridger Psychologe John Mollon dann von Wahrnehmungstests. Und tatsächlich: unter südamerikanischen Totenkopfäff- Zwei von ihnen verhielten sich, wie es bei Form menschlicher chen eine verblüffende Beobachtung: Ei- Tetrachromaten zu erwarten war. Mutanten: Sie sehen mehr Farben nige der Weibchen schienen Farben be- Normalsichtige nehmen unterschiedliche als ihre Mitwelt. sonders gut unterscheiden zu können, was Lichtgemische mitunter als ein und die- sie ihren Artgenossen überlegen machte. selbe Farbe wahr. Als Jordan jedoch ihre ynne M. sah durch ihre blaugrauen Sie konnten die Fruchtreife besser ein- beiden Probandinnen anhielt, derartige Augen offenbar schon immer mehr als schätzen und leichter saftige Leckerbissen Gemische zu vergleichen, zeigte sich, dass Lalle anderen – vor allem wenn es um im dichten Dschungellaubwerk ausmachen. sie dank ihres zusätzlichen Farbkanals fei- das ging, was die anderen „gelb“ nannten. Die Netzhaut dieser Mutanten ist mit drei ne Unterschiede machten. „Was ich für Noch immer kann sich die Sozialarbei- Farbrezeptoren bestückt, während ge- farbidentisch halte“, berichtet Jordan, „ist terin aus dem britischen Cambridge dar- wöhnliche Totenkopfäffchen mit nur zwei für die so unterschiedlich wie Äpfel und über empören, wie scheußlich sich ihre Zapfentypen auskommen müssen. Birnen.“ große Schwester zu kleiden pflegte: „Ein Könnte ein ähnliches Phänomen auch Niemand weiß bisher, wie es der kom- kieferngrüner Wollmantel und dazu ein ge- unter Menschen denkbar sein? Lange war plexe Rechner im Kopf vollbringt, Aufga- ranienroter Schal – ist das nicht schreck- darüber nichts bekannt. Erst in jüngster ben zu übernehmen, für die er gar nicht lich?“ Das Problem war nur: Keinen außer Zeit haben sich Forscher in Großbritan- ausgelegt ist. Denn um Farben verfeinert ihr entsetzte diese Kombination. nien und den USA auf die gezielte Suche wahrnehmen zu können, reicht ein zu- M. gehört einer kaum bekannten, ei- sätzlicher Rezeptor in der Netzhaut nicht genartigen Schwesternschaft an: der Grup- Der siebte Sinn aus; das Hirn muss seine Signale auch deu- pe der so genannten Tetrachromaten. Die- Wie Tetrachromaten ten, um neuartige Farbempfindungen kom- ponieren zu können. se teilen ein bestimmtes Genmerkmal mit- sehen einander und sehen deshalb Farbnuancen, Der Neurobiologe Jay Neitz, der am Me- für die ihre Mitwelt blind ist. dical College of Wisconsin einen Gentest In der menschlichen Netzhaut finden für Tetrachromasie entwickelt, sieht gera- sich gewöhnlich drei verschiedene Typen de hierin die größte Bedeutung von Studi- von zapfenförmigen Farbrezeptoren; der en über die seltene Anomalie: „Wenn wir eine reagiert besonders empfindlich auf Normalsichtige Menschen eines Tages Farbenblindheit und andere blaues, der zweite auf grünes, der dritte haben Rezeptoren für die neurologische Erbkrankheiten genetisch auf rotes Licht. Aus der unterschiedlichen Farben Grün, Rot und Blau. therapieren wollen, müssen wir herausfin- Reizung dieser drei Zapfen errechnet das Die im Farbspektrum zwi- den, unter welchen Umständen die Signa- Hirn dann die Farbtöne. schen Rot und Grün ange- le zusätzlicher Sinneszellen auch ins Be- Tetrachromaten hingegen verfügen über siedelten Gelbtöne werden wahrgenommen, wusstsein dringen.“ vier Farbrezeptoren: Zusätzlich zum Stan- wenn sowohl Rot- als auch Grünrezeptoren auf Eine Frage allerdings wird wohl aller dardset hat die Natur sie mit einer vierten der Netzhaut gereizt werden. Forschung zum Trotz offen bleiben: Wie se- Art von Sinneszelle beschenkt, die spezi- Tetrachromaten haben zu- hen die zusätzlichen Farben, die Te- ell auf den Spektralbereich zwischen Rot sätzlich einen Rezeptor für trachromaten wahrnehmen, eigentlich aus? und Grün anspricht, jenen Bereich mithin, eine Farbe zwischen Rot und „Ich weiß nicht, ob wir uns das je werden den der Mensch normalerweise in Gelb- Grün. In einer Mischung aus vorstellen können“, sinniert die Farbfor- tönen wahrnimmt (siehe Grafik). rotem und grünem Licht scherin Jordan. „Denn leider können wir Im Tierreich sind seit langem Wesen be- können sie daher viel mehr Farbabstufungen unseren Testpersonen ja nicht in den Kopf kannt, deren Farbsinn den des Homo sa- unterscheiden als Normalsichtige. gucken.“ Hubertus Breuer

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Seit Jahrzehnten werden Japans Bürger POLIZEITECHNIK des Nachts von Krachmacher-Banden ge- peinigt. Immer brutaler werden Nippons Rocker in der Motorradgangs. Einige sind mit Baseball- schlägern und Messern bewaffnet. Häufig halten sie Verbindung zur Yakuza-Mafia. Kakerlaken-Falle Im Kampf gegen die Plage ist die Polizei zu friedlichen Methoden verdammt. Denn Lärmende Motorradgangs würde sie auch nur einen der Randalierer ernsthaft verletzen, wäre in der auf Har- terrorisieren Japans Bürger. Nun monie bedachten japanischen Gesellschaft will die Polizei der Plage mit ein Aufschrei der Empörung die Folge. einer neuen Erfindung begegnen: „Auch Motorradrowdys genießen Men- Klebestreifen auf der Straße. schenrechte“, sagt Kotsubo pflichtbewusst. Auf keinen Fall dürfe Blut fließen, deshalb orgens um halb zwei tauchen die habe seine Truppe bisher auch nur selten Übeltäter auf. Von weitem schon Missetäter verhaftet: „Sobald uns die Mo- Mheulen ihre aggressiv frisierten Mo- torräder in die Klebefalle fuhren, spran- torräder und schrecken ganze Viertel aus gen die Kids ab und liefen wie die Strand- dem Schlaf. krebse davon“, erklärt er lächelnd. Seit Stunden hat Tetsunari Kotsubo, 51, In dieser Nacht allerdings bleibt Kot- diesem Moment entgegengefiebert. An ei- subos Truppe erfolglos: Die Motorradban- ner Kreuzung nahe der südjapanischen de ist kurz vor der Kreuzung abgedreht. Stadt Fukuoka liegt der Polizist mit seiner 30-köpfigen Truppe zur „Bekämpfung der Motorrad-Lärm-Banden“ im Straßengra- ben auf der Lauer. Bei der Einsatzplanung klang alles so ein- fach: Wenn die Bande naht, bläst die Poli- FOTOS: TOM WAGNER / SABA WAGNER TOM FOTOS: Motorrad-Fangapparat, blockiertes Hinterrad: „Auch Rowdys genießen Menschenrechte“ zei ein Plastiknetz als Straßensperre auf. Offenbar hat sie einer ihrer Kundschafter Die überraschten Rocker drehen daraufhin gewarnt. Schnell packen die Polizisten ihre in eine Seitenstraße ab – und genau dort er- Fallen wieder ein. Dann brausen zwölf ge- wartet sie der Motorrad-Fangapparat. tarnte Polizeifahrzeuge zu einer anderen „Kakerlaken-Falle“ nennen die Beamten Kreuzung. Mehrmals wiederholt sich das ihr neues Spielzeug: Ein Gürtel aus flachen Katz-und-Maus-Spiel. Jedes Mal nähern Aluminium-Schachteln wird quer über die sich die Kids gerade dicht genug, um ihre Straße gelegt. Sobald ein Motorradvorder- Häscher mit lautem Motoren-Geheule zu rad auf eine der Boxen fährt, springt ein necken. Dann drehen sie wieder ab. Deckel auf, ein Klebeband darunter legt Gleichwohl ist die japanische Polizei sich um das Hinterrad. An diesem Band stolz auf die abschreckende Wirkung ihrer wiederum ist ein Tau mit Gummistoppern neuartigen Waffe. Die „Kakerlaken-Falle“ befestigt. 30 Meter weit kommt das Motor- habe den nächtlichen Lärmpegel in der rad noch, dann kann die Polizei zugreifen. Präfektur hörbar verringert, beteuert Kot- Zwei Jahre tüftelten Kotsubo und seine subo. Die meisten Banden seien bereits auf Kollegen an der Erfindung. Nun sind 30 einen Kern von kaum mehr als zehn Mit- der Geräte im Einsatz, bei vier Razzien gliedern geschrumpft. schnappte die Falle erfolgreich zu. Seither Mit den Rockern sei es allerdings leider pilgern Polizeiexperten aus anderen Prä- wie mit den Kakerlaken, sagt Kotsubo: „Es fekturen nach Fukuoka. Selbst Taiwan mel- wachsen immer wieder neue nach.“ dete Interesse an der Wunderwaffe an. Wieland Wagner

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LITERATUR rat des Festivals die Wagner- Rattern im Kopf Tochter aus erster Ehe, Eva Wagner-Pasquier, 55, zur neu- eo Kaplan ist Jude, Schriftsteller und en Chefin auf dem Grünen LSchürzenjäger. Mit Hannah, einer Hügel ausgerufen hatte, die Tochter steinreicher Eltern verheiratet, schon im Herbst 2002 antreten brauchte er „die Illusion, nach Belieben soll. Im Grunde habe Zehet- aus dem auswählen zu können, was das mair, so sagt sein Sprecher Leben zu bieten hatte“, und das waren Toni Schmid, 50, in den letz- vor allem: Frauen. Sobald sich ihm die ten Monaten „den bösen Bu- Gelegenheit bot, eine Affäre anzufan- ben spielen müssen“. Das gen, „fühlte er sich so befreit, als hätte Verhältnis zum ablösungs- er die Schwerkraft abgestreift“. Dabei unwilligen Bayreuth-Chef sei geht nicht nur die Ehe mit Hannah in aber „keineswegs so zerrüt- die Brüche, auch seine schriftstellerische tet, wie es manche Medien, Energie kommt ihm abhanden. Noch die unbedingt Blut sehen keine 40 und schon ausgebrannt, wartet möchten, gerne hätten“. Aus Leo Kaplan darauf, endlich das Millio- der Umgebung Wagners, der nenerbe seines Vaters annehmen zu erst am Freitag von einer Asi- können, der vor 15 Jahren gestorben ist en-Reise zurückkehrte, gebe und außer viel Geld auch ein schikanö- es bereits „zarte Signale für ses Testament hinterlassen hat. Da trifft eine Verhandlungsbereit- Kaplan nach 20 Jahren Ellen, seine erste schaft“. Worüber aber kann

große Liebe, wieder, und für einen Mo- SEEGER-PRESS verhandelt werden? Eine Be- ment sieht es so aus, als bekäme er eine Wagner-Familie Katharina, Wolfgang, Gudrun teiligung der Wagner-Tochter letzte Chance, „diese Ruhelosigkeit, die- Katharina, 23, an der Fest- ses Rattern im Kopf“ zu beenden, erlöst BAYREUTH spielleitung, über die spekuliert wurde, zu werden. Natürlich bleibt er unerlöst. schließt Schmid aus, „Chefin wird auf je- Am Ende verführt er noch die überreife den Fall Eva Wagner-Pasquier allein“. Tochter eines älteren Freundes, und da- Zeit der Allerdings lasse sich „unterhalb dieses nach breitet sich sein Leben „wie eine Niveaus vieles regeln“. Wird also Wolf- gut überschaubare niederländische gang Wagner, wovor es vielen Fachleu- Landschaft“ vor ihm aus. Zärtlichkeit ten graust, auch in Zukunft in Bayreuth Leon de Winter hat „Leo Kaplan“ in Regie führen dürfen? Für die nun an- den Jahren 1984/85 geschrieben, er- uf den Fehdehandschuh folgt nun brechende Zeit der Zärtlichkeit setzt schienen ist das Buch in Adie ausgestreckte Hand: Bayerns Schmid ein strenges Limit: „Bis zum den Niederlanden 1986, Kunstminister Hans Zehetmair will in Ende der diesjährigen Spielzeit müssen Jahre bevor der Autor den nächsten Wochen Verhandlungen wir zu einer Regelung kommen.“ Was mit „Hoffmans Hunger“ mit Wolfgang Wagner, 81, dem greisen im Münchner Ministerium nicht gesagt bekannt wurde. „Leo Chef der Bayreuther Wagner-Festspiele, wird: Für den Fall, das es bis Ende Au- Kaplan“, jetzt erst in aufnehmen – nachdem Zehetmair, 64, gust keine Lösung gibt, droht Eva Wag- deutscher Übersetzung vergangene Woche mit dem Stiftungs- ner-Pasquier mit dem Absprung. herausgekommen, nennt de Winter, 47, selbst „ein Frühwerk“. Das Buch trägt autobiografische Züge – sowohl Leo wie JAZZ vor, den Gitarristen Tony Petrucciani. Leon sind Söhne reich gewordener Alt- Vater und Sohn improvisieren wunder- warenhändler – und schöpft aus dem Mein Papa, der Lehrer bar beherzt über Stücke von Gershwin, Vollen, als hätte der Autor Angst, ir- Ellington und Charlie Parker. gendetwas auszulassen. Das einzige usikalisch war Michel Petrucciani Ordnungsprinzip sind die Orte, die als Mein Gigant, körperlich ein Knirps – Kapitelüberschriften dienen, von Ams- die Folge der Glasknochenkrankheit. terdam bis Florenz. „Es ist ein wildes, Dem großen Publikum bekannt wurde turbulentes Buch, das sich nicht um der Pianist mit dem kraftvollen An- literarische Strukturen kümmert“, sagt schlag, der vor Energie schier explodie- de Winter, „ein Literaturvarieté mit ren konnte, als Musikbegleiter in Roger vielen kleinen Szenen.“ Was dem Buch Willemsens ZDF-Talkshow; in der Jazz- an Disziplin fehlt, das macht de Winter Welt aber war der Mann da längst ein mit Witz und Weisheit wett. Denn Leo gefeierter Star. Petrucciani starb 1999 im und Leon sind schließlich nahe Ver- Alter von 36 Jahren. Nun erinnert „Con- wandte. versation“, ein Mitschnitt aus einem Club in Lyon von 1992 (Dreyfus Jazz/ Edel Contraire), an den vitalen Künstler: Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Aus dem Niederländi- schen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich; 544 „Mon père, mon professeur“, stellt Pe- Seiten; 46,90 Mark. trucciani seinen Vater und Duo-Partner Michel Petrucciani mit Vater Tony

der spiegel 15/2001 217 Szene

AUSSTELLUNGEN Elefantenform setzt bessere zoolo- gische Kenntnisse voraus, als mit- Echt falsch telalterliche Künstler sie besaßen; ein anderes, pferdeähnliches wurde edes Museum hat wohl seine durch eine Analyse der Metall-Le- JLeichen im Depot – stolz erwor- gierung überführt. Nachträglich ist bene, dann aber als falsch entlarvte kaum zu fassen, dass 1927 der ar- Schaustücke. Nicht nur Gemälde menische „Meisterfälscher“ Oxan werden nachgemacht: Das Hanno- Aslanian selber dem Kestner-Mu- versche Kestner-Museum, das Plas- seum einen ägyptisierenden Frau-

tik und Kunstgewerbe seit der An- HANNOVER KESTNER-MUSEUM, enkopf andrehen konnte – mit tike sammelt, gibt jetzt den Blick Gefälschtes Gießgefäß, Original (um 1400) einer im Altertum unbekannten auf dubiose Eigenbestände an Perückenmode. Es gibt aber auch scheinbar mittelalterlichen Bronzen, Fälscher, aber auch manche Tapsigkeit, Gegenbeispiele: Eine bislang verdäch- vorgeblich altägyptischen Reliefs und mit der sie sich verraten. Erst geachtet, tigte Jupiter-Statuette wird jetzt, nach pseudorömischen Gläsern frei. Unter dann geächtet: Mal sind abgekupferte chemischer Untersuchung, wieder in die dem Wortspiel-Titel „geaECHTet“ de- Motive sinnwidrig kombiniert, mal Pin- römische Kaiserzeit datiert und muss, monstriert die didaktische Ausstellung selspuren vom Auftrag täuschender Pa- sozusagen geechtet, nicht in den „Fäl- (bis 1. Juli) das Virtuosentum begabter tina zurückgeblieben. Ein Gießgefäß in schungsschrank“ des Hauses zurück.

der „Kulturgeschichte eines besonderen Tages“ eine Ausstellung. An Gemälden, Fotos und vie- len Utensilien ist zu sehen, wie sich die Bräuche in Deutschland wandelten: Am siebten Tage ru- hen wie Gott der Herr mögen viele, zum Kirch- DREILAUG / DREIMASTEN DREILAUG / DREIMASTEN gang rafft sich aber kaum noch einer auf. Lieber Ausstellungstext wäscht der Bürger seinen Wagen oder tapeziert in Schwarzarbeit eines anderen Wohnung; statt ZEITGESCHICHTE Anzug und Krawatte sind Joggingkluft oder Gärtnerschürze der bevorzugte Sonntagsstaat. Überhaupt, so der Katalog, re- Immer wieder sonntags giere heute „demonstratives Ruheverhalten“ – von den alten Traditionen scheinen nur Parkspaziergang und Kaffeerunde ozu ist das Wochenende da? Durchatmen, die Familie ge- halbwegs überlebt zu haben. Und wie steht es um die Zukunft Wnießen, von Pflichten frei sein und einfach Spaß erleben: des Sonntags? Schon 1885 orakelte Reichskanzler Bismarck: Das sind laut Umfragen die aktuellen Sonntagspräferenzen der Ließe man den Leuten die Wahl, widmeten sie auch den sieb- Deutschen. Jetzt widmet das Hamburger Museum der Arbeit ten Tag am liebsten dem schnöden Zweck des Geldverdienens.

Kino in Kürze

„!Zusammen!“. Die Unschuld ist gegen Lügen immun. Der Blick von Kindern oder Halbwüchsigen auf die selbstsüchtige Erwachsenenwelt kann ratlos und naiv sein, doch er ist direkt, unvoreingenommen, im einfachsten Sinne: neu. Diese Offen- heit, sich ohne Herablassung auf die Seite der Jugend zu schla- gen, hat der schwedische Regisseur Lukas Moodysson schon in seinem ersten Film gezeigt, dem erfolgreichen Kleinstadt-Pu- bertätsdrama „Raus aus Åmål“. Dass das kein bloßer Glücks- fall war, beweist er nun mit dieser figurenreichen, konfliktfreu- digen Mittelstandskomödie: Da geht es, im Jahr 1975, um eine genervte Hausfrau, die vor ihrem Gatten flieht und mit ihren beiden Kindern zu ihrem Bruder in eine Kommune zieht, wo zeitgeistgemäß Pazifismus, Anarchie und freie Liebe auf dem Selbstverwirklichungsprogramm stehen. Was leicht zur abge- karteten Satire hätte missraten können, gewinnt durch Moo- dyssons Erzählkunst Lebendigkeit und überraschende Frische; indem er keine Nachsicht, doch Zuneigung zu den Jüngsten in Szene aus „Engel des Universums“ der Gruppe zeigt, lässt er leisen Trotz-Optimismus siegen. verrückt ist oder die Welt. Páll landet in der Anstalt und spin- „Engel des Universums“. In Island, umwoben von Sagen und tisiert vor sich hin, bis er eines Tages entlassen wird und lieber Tiefdruckgebieten, gehört „Schizophrenie zum Nationalcha- ein schnelles Ende sucht, als in der Umnachtung zu verrotten. rakter“, wie jemand im Film sagt. Das erfährt auch der Träu- Mit galligem Humor und ohne den Trost einer Erklärung er- mer Páll (Ingvar Eggert Sigurdsson), der noch bei seinen El- zählt Regisseur Fridrik Thór Fridriksson vom Irrwitz, bis auch tern in Reykjavik wohnt und so recht nicht durchschaut, ob er für den Zuschauer Wahn und Wirklichkeit verschwimmen.

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Am Rande Kanak-Dada ie Karwoche bietet Zeit zur DEinkehr – und zur Gedanken- arbeit wider die herrschenden Ver- hältnisse. Die Berliner Volksbühne hat dies begriffen und veranstaltet am kommenden Karfreitag „Kanak Attak – Dieser Song gehört uns“. „Kanak Attak“, Pop-Türkisch für Anfänger, ist längst ein durch- gesetzter Slogan multikulturellen

FOTO: BILLY & HELLS BILLY FOTO: Selbstbewusstseins. Die Ossis aus „Billy & Hells“-Fotos Berlin-Mitte aber machen aus der Kampfdevise fremdstämmiger jun- FOTOGRAFIE ger Menschen eine Dada-Fanfare zum allgemeinen Aufstand: Einen Deutsch für alle ganzen Tag lang geht es, so ver- spricht das Volksbühnen-Programm, chiller? Lange her. Bauhaus? Ergraute Moderne. Boris Becker? gegen die verlogene „Asimil-Kültür- SVerblasener Ruhm. Womit kann Deutschland die Welt beglücken? Kanak“, gegen „Kanak Chic“ als Vielleicht mit „Deutsch“, einem neuen vierteljährlich erscheinenden ideologische Verbrämung des all- Hardcover-Magazin. Anders als der Titel androht, geht es nicht um teutonische Erklärungssucht, sondern um Bilder, die für sich selbst sprechen sollen. In dem täglichen Rassismus und gegen jene Periodikum aus dem Hamburger Fotoverlag Kruse gibt es lediglich einen kurzen einfüh- „Kanak-Kultur“ in den Massenme- renden Text auf Deutsch und Englisch, dann folgt unkommentiert eine Bildstrecke, die dien, die die „Migranten“ zu „hy- jeweils von jungen deutschen Fotografen stammt. Die erste Ausgabe dieses weltweit ange- briden Subjekten“ stilisiert und sie botenen Botschafters deutscher Lichtbildkunst präsentiert das Berliner Fotografen-Paar so vom Aufruhr gegen die deutsche „Billy & Hells“ (68 Seiten; 38 Mark). Dessen Aufnahmen sehen wie Schwarzweißfotos aus, Niedertracht abhält. Schon die Pres- die nachträglich koloriert wurden, um sie noch irrealer wirken zu lassen: ein elegantes Da- seerklärung des Theaters pflegt die menporträt mit verwegener grauer Sturmfrisur, ein Babygesicht mit Hypnoseblick aus türkisglänzenden Kulleraugen, ein verschrecktes Modell mit Fühlern auf der Stirn und Flü- luzide Sprache eines dialektisch ge- geln auf dem Rücken – Biene Maja analysereif. Was auffällt, ist die ästhetische Anstrengung, schulten, durchaus vertrackten Asi- die Welt noch morbider erscheinen zu lassen, als sie ist. Da ist „Deutsch“ ganz deutsch. mil-Kanak-Marxismus-Leninismus: „Geschichte ist immer die Ge- schichte der Sieger“, heißt es da mit der ganzen Erfahrung von RECHTSSTREIT Goethe-Institut“ – und installierte in einem Museum einen Schreibtisch mit 5000 Jahren Ulk mit Goethe einem Telefon, das immer dann klingel- Menschheitsge- te, wenn jemand die Nummer der ge- schichte. Warum ls hätte es der Meister geahnt: „Ver- schlossenen Einrichtung anwählte. Die sollen Ali und Aflucht, was uns in Träumen heu- Münchner fanden den Schelmenstreich Abdallah da chelt / Des Ruhms, der Namensdauer erst „originell“, doch weil Müller weite- nicht gleich zu Hause bleiben? Weil Trug! / Verflucht, was als Besitz uns ren Goethe-Ulk trieb, will das Haus ihm es, so das Programm, um Strategien schmeichelt.“ So schimpft Faust bei nun verbieten, „ein der Marke ‚Goethe- Goethe. Das Goethe-Institut lässt sich Institut‘ ähnliches Zeichen“ zu verwen- der Selbstbehauptung zwischen von der Warnung seines Namensgebers den. Die nämlich sei „gegen jede Benut- „Kanakfußball“ und „Kanak-Rap“ nicht beeindrucken und verfolgt mit zung durch Dritte“ geschützt, teilte ein gehen soll. Dafür lassen (unter ande- deutscher Humorlosigkeit den Island- geharnisches Schreiben aus der Münch- rem) DJ Natascha Sadr Haghighian begeisterten Berliner Künstler Wolfgang ner Zentrale im März dem Künstler mit. und die European Kanak Resistance Müller. Als die Münch- Da er eine geforderte Unterlas- an vorderster Front den Plattentel- ner Zentrale 1998 die sungserklärung nicht unterschrieb, Dependance in Islands droht Müller nun eine Strafe von ler rotieren, bis den Faschisten die Hauptstadt Reykjavík rund 10000 Mark. Dabei hat er Glatze von der Rübe fällt. Es wird schloss, gründete Mül- sein Goethe-Dauerprojekt mittler- ein wunderbarer Karfreitag werden. ler bald darauf eben- weile in „Walther von Goethe Nie wieder soll Harald Schmidt aus- dort ein „privates Foundation Reykjavík“ umbe- rufen, „Üzgür, fahr schon mal den nannt, in Erinnerung an den un- Wagen vor!“

Künstler Müller S. SAUER glücklichen Goethe-Enkel Walther.

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FILMGESCHÄFT Viktor fährt den Wagen vor Schleichwerbung und Product Placement galten lange als anrüchig, doch heute werden ganze Werbekampagnen in Filmhandlungen integriert. Die neue deutsche Kinokomödie „Viktor Vogel“ spielt sogar im Werbermilieu – mit freundlicher Unterstützung des Opel-Konzerns.

eide sind recht kräftig gebaut, bei- anläuft. Opel und George – Zufall? Nicht firma kostenlos überlassen hat – sowie viel- de verbreiten einen eher rustikalen ganz. Eher ein Unfall. Vor allem aber ein leicht auch noch ein paar Lkw für den BCharme, und beide ziehen alle Bli- sehr spezieller Fall von Product Placement. Transport der Filmausrüstung –, interes- cke auf sich. Das ist der Sinn der Sache: Sie Product Placement gibt es, weil sich im- siert den Zuschauer nicht, weil er sich dar- wirken nämlich beim Film, und zwar vor mer mehr Menschen dem Dauerfeuer der an gewöhnt hat, dass Kommissare fast im- der Kamera. Werbung verweigern. Kommt ein Rekla- mer Mercedes fahren oder BMW oder Tatsächlich könnten sich die beiden meblock im Fernsehen, schalten sie um Audi, aber nur selten Opel oder VW. Hauptdarsteller also ähnlicher kaum sein. oder gehen aufs Klo; sehen sie eine An- Diese Form von Product Placement – Nur: Der eine ist ein Mensch, der andere zeige in der Zeitung, blättern sie nach ein die Platzierung von Produkten in Filmen eine Maschine. paar Sekunden weiter. Wenn aber zum gegen Honorar oder im Gegengeschäft – Der Mensch heißt Götz George, ist Beispiel der beliebte Fernseh-Kommissar gibt es seit Jahrzehnten; früher hieß so Schauspieler, 62, und seit 50 Jahren im Ge- Mercedes fährt, bleibt der Zuschauer in etwas Schleichwerbung und fiel den meis- schäft; seine Tagesgage liegt bei 15 000 der Regel dran. Dass der Kommissar vor al- ten nur dann auf, wenn James Bond plötz- Mark, ohne Extras. Die Maschine heißt lem deshalb Mercedes fährt, weil Daimler- lich die Automarke wechselte oder seine Opel Speedster, ist ein Sportwagen und Chrysler den Wagen der TV-Produktions- dicke Armbanduhr selbst dann nicht ab- kommt in Kürze in den Handel; der Lis- legte, wenn er mit Sophie Marceau tenpreis beträgt 60000 Mark, ohne Extras. ins Bett stieg. George und der Speedster treten gemein- Doch nie zuvor waren Marken- sam auf in „Viktor Vogel – Commercial produkte und -firmen so präsent in Man“, einem deutschen Komödiendrama, Film und Fernsehen wie heute: der das diese Woche in den deutschen Kinos Onlinedienst AOL in der Liebes-

CINETEXT (re.); COLUMBIA TRI-STAR (gr. u. li.)

„Viktor Vogel“-Darsteller Scheer im Opel Speedster (u.), mit Götz George (l.), Szene aus „Manta Manta“ (M., 1991) Vogel“ ist das Prestigeprojekt des Filmfrüh- jahrs 2001. Knapp 9 Millionen Mark hat die deutsche Columbia TriStar, eine Sony-Toch- ter, in das Werk investiert. „Unsere Kon- kurrenz“, sagt Columbia-Pressechefin Petra Schwuchow, „sind die amerikanischen Blockbuster.“ Viktor Vogel (Alexander Scheer, der Hauptdarsteller aus „Sonnenallee“) ist ein hibbeliger junger Mann, der von einer Kar- riere in der Werbebranche träumt. Unange- meldet stolpert er in dem Moment in eine Frankfurter Agentur, als der alte Rekla- meprofi Kaminsky (Götz George) von der Opel-Marketing-Leiterin auseinander ge- nommen wird. Seine Ideen für die Markt- einführung des neuen Sportwagens gefal- len ihr nicht. „Die Zielgruppe des Speed-

CINETEXT sters“, doziert die Dame, „ist halb so alt „Cast Away“-Szenen mit Hanks, FedEx-Paketen: Größte Placement-Aktion aller Zeiten wie Sie.“ Da kommt ihr Vogel gerade recht: Der wirkt spontan und kreativ, und deshalb komödie „E-Mail für Dich“ muss Kaminsky widerwillig mit dem Grün- (1998), Armani-Klamotten im schnabel zusammenarbeiten. Krimi-Reißer „Shaft“ (2000), Doch das klappt besser als gedacht: Vo- der Kosmetikkonzern Clinique gel klaut eine Idee seiner Freundin, einer im Liv-Tyler-Lustspiel „Eine Künstlerin, und macht daraus die neue – Nacht bei McCool’s“ (Start: 26. fiktive – Speedster-Kampagne. Erfolg, so April). Und nie zuvor standen die nicht ganz neue Botschaft von „Viktor Marken im Mittelpunkt einer Vogel“, hat seinen Preis. Geschichte – wie jetzt in eini- gen neuen Kinofilmen. Die größte Product-Place- ment-Aktion aller Zeiten be- ginnt mit einem Absturz. Ein

Frachtflugzeug gerät in ein Un- CINETEXT wetter und muss notwassern; der einzige Überlebende rettet sich auf eine Wesentlich subtiler bringt zurzeit der einsame Insel im Südpazifik. Das Einzige, Turnschuh-Multi Nike seine Produkte auf was ihm bleibt, sind ein paar Pakete des die Leinwand – mit Hilfe von Mel Gibson Kurierdienstes Federal Express (FedEx), und der Komödie „Was Frauen wollen“. die an den Strand gespült werden und de- Gibson spielt den Mitarbeiter einer Werbe- ren Transport er eigentlich überwachen agentur, der nach einem Unfall die Gedan- sollte. Denn der Mann, so heißt es, arbei- ken von Frauen lesen kann. Und was wollen tet für Federal Express. Frauen – außer Komplimenten, Zuneigung, In Wirklichkeit arbeitet er natürlich für Verständnis und mit Mel Gibson ins Bett? Hollywood. Superstar Tom Hanks, 44, Sie wollen natürlich Turnschuhe von Nike machte das moderne Robinson-Drama – oder zumindest eine Werbekampagne, die „Cast Away – Verschollen“ zum Welterfolg ebenso perfekt auf junge Frauen zuge- – und die vorher vor allem in den USA be- schnitten ist wie der Spielfilm selbst. Und so

kannte Kurierfirma FedEx zu einem Un- bosseln Gibson und seine Kollegin Helen CINETEXT ternehmen von Weltruf. Hunt minutenlang an einem passenden Slo- Armani-Model Samuel L. Jackson in „Shaft“ Die Werbung via Film sei rund 54 Mil- gan herum; das Ergebnis – ein Werbespot Nie waren Markenprodukte so präsent lionen Dollar wert, rechnete FedEx aus, „ein mit der Zeile „No games. Just sports“ – und unglaublicher Coup“, freute sich die PR- dessen Präsentation sind wie selbstver- Das dürfte mittlerweile auch Lars Krau- Abteilung. FedEx stellte der „Cast Away“- ständlich in die Handlung integriert. Kein me gemerkt haben. Kraume ist Regisseur Produktion 500 Mitarbeiter als Komparsen Wunder: Der Spot stammt von der echten und Drehbuchautor, „Viktor Vogel“ sein zur Verfügung, ließ FedEx-Uniformen Nike-Werbeagentur. Allein in Deutschland erster großer Kinofilm. Ursprünglich woll- schneidern und Hanks die Firmenphiloso- haben ihn schon über sechs Millionen Kino- te er eine Satire auf die Werbebranche in- phie nachsprechen. Selbst der echte FedEx- zuschauer gesehen: „Was Frauen wollen“ szenieren. „Die kenne ich eben“, sagt Chef Graham Smith trat in einer Szene auf. ist der bisher erfolgreichste Film des Jahres. Kraume, 27, denn sein Vater ist Werber. Vor allem aber warben unzählige FedEx- Auch „Viktor Vogel – Commercial Man“ Doch auch als man die Satire-Idee längst Anzeigen und TV-Spots nicht nur für den spielt in einer Werbeagentur, die Haupt- fallen gelassen hatte und das Drehbuch von Kurierdienst selbst, sondern gleichzeitig für figuren sind Werber, und wie in „Was Frau- „Viktor Vogel“ sich in eine Richtung ent- „Cast Away“. Mit Erfolg: Mittlerweile hat en wollen“ wird auch bei „Viktor Vogel“ wickelt hatte, die man in Hollywood „Dra- der Film allein in den USA 230 Millionen um einen wichtigen Werbekunden ge- matic Comedy“ nennen würde, waren Va- Dollar eingespielt; in Deutschland wollten kämpft. Diesmal geht es um den Reklame- ter Kraumes Kontakte gefragt. ihn seit Mitte Januar fast 4,9 Millionen Leu- Etat von Opel, 120 Millionen Mark. In Wirk- Schließlich wollte man mit großen Fir- te sehen. Jetzt kennen diese 4,9 Millionen lichkeit geht es auch mal wieder um die Zu- men zusammenarbeiten, zur Not „auch mit auch FedEx – ob sie wollen oder nicht. kunft des deutschen Kinos, denn „Viktor einem Zahnpasta-Hersteller“ (Kraume). So

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überredete Kraume unter anderem das er einen Brandbrief an den Autokonzern PR-Getöse gestartet, wollten nur 41000 Zu- Marketing-Blatt „Horizont“, den Bierkon- geschrieben mit der dringenden Empfeh- schauer sehen. zern Heineken sowie den Reiseveranstalter lung, die Finger von George und „Viktor Um solche Desaster zu vermeiden, be- Airtours, ihre Namen in „Viktor Vogel“ ver- Vogel“ zu lassen. treiben manche Konzerne inzwischen so- wenden zu dürfen. Aber Autos geben Auer ist nicht irgendwer. Bei ihm rufen gar umgekehrtes Product Placement: Sie natürlich mehr her, optisch wie finanziell. Schauspieler an und fragen, wie viel Geld bezahlen Regisseure dafür, dass diese die Also schrieb man an Mercedes. Die lehn- er ihnen zahlt, damit sie bei Dreharbeiten Konzernprodukte nicht in ihren Filmen ten ab. Dann an Ford. Die reagierten gar eine Saftflasche so in die Kamera halten, zeigen – oder wenigstens nicht die Böse- nicht. Schließlich an Opel. Dort durfte dass das Etikett gut zu sehen ist. Denn wichte mit ihren Autos herumfahren. Die- Kraume immerhin sein Drehbuch vorstel- Auer ist Geschäftsführer einer Firma mit ses so genannte Replacement dürfte so len, aber auch in Rüsselsheim „hat man dem etwas verklemmten Namen „Arrange- manchen schlechten Film erst möglich ge- sich nicht gerade darum gerissen, mit uns ment Group GmbH“. Von seinem Büro in macht haben. zusammenzuarbeiten“, so Kraume. Alfter bei Bonn aus sorgt er dafür, dass In jedem Fall gilt: Penetranz, so Place- Am Ende sagte Opel doch zu. Geld gab seine Kunden ihre Produkte in den richti- ment-Profi Auer, schadet einer Marke. es zwar angeblich nicht, dafür aber den gen Filmen unterbringen können. „Optimal ist es, wenn der Zuschauer über- Speedster, für den man „eine neue Film- „Viktor Vogel“, sagt Auer, ist kein rich- legt – war das jetzt Product Placement oder welt“ geschaffen habe, wie ein Opel-PR- tiger Film. Das Drehbuch sei zu schlecht, nicht?“ Deshalb plädieren Experten im Mann erklärt. Auf Deutsch: Die Adam Opel der Regisseur ein Anfänger, und statt Götz Zweifelsfall eher für Zurückhaltung, denn AG will um jeden Preis ihr biederes bis prol- George hätte er lieber Mark Keller gehabt. sonst werde der Zuschauer – der in einem liges Image loswerden – Manta, Manta, ade. Kinofilm eigentlich kei- Deshalb läuft jetzt in den Ausstellungs- ne Werbung erwarte – räumen der Opel-Händler ein „Viktor sauer. Reaktanz nen- Vogel“-Trailer. Deshalb konnte man dort nen Psychologen dieses eine Statistenrolle in einer der nächsten Phänomen, der Volks- Columbia-Produktionen gewinnen. Des- mund spricht vom Bu- halb verlost Columbia zum Filmstart einen merang-Effekt. Opel Speedster. Deshalb sitzt Götz Geor- Zumindest im deut- ge in der ARD-Talkshow „Beckmann“ und schen Fernsehen kann erzählt, man habe „mit richtigen Rekla- das allzu plumpe Prä- mesachen“ gearbeitet. Und deshalb heizen sentieren eines Pro- George und Scheer eben mit Fahrzeugen dukts auch richtig teu- von Opel über die Leinwand: George mit er werden, und zwar einem Opel-Oldtimer, dem Aero GT, über die rund 2000 Scheer mit dem neuen Opel Speedster. Mark hinaus, die ein Außerdem reden sie dauernd über Opel. Hersteller pro Sekunde

Sie leben von Opel. Sie tun alles, um Opel CINETEXT Bildschirmpräsenz an zu gefallen. Bond-Darsteller, Dienst-BMW*: Marke gewechselt die Placement-Agentur zahlen muss: Die Lan- Keller – das sagt Auer desmedienanstalten können seit einem allerdings nicht – kann Jahr Bußgelder bis zu einer Million Mark zwar nicht schauspie- verhängen, wenn „die direkte oder indi- lern, das aber dafür bei rekte Erwähnung von gewerblichen Wa- der „Autobahnpolizei“ ren oder deren Herstellern, von Dienstleis- von RTL. Außerdem ist tungen und deren Anbietern außerhalb Keller erst Mitte 30, und von Werbesendungen“ nicht „aus über- wenn er auf einer Party wiegend programmlich-dramaturgischen einer Popsängerin seine Gründen erfolgt“. So steht es im Rund- Hand auf den Schoß funkstaatsvertrag. legt, steht es ein paar Prompt wurde „Big Brother“-Produzent Tage später in der Endemol zu 100 000 Mark Bußgeld ver- „Bild“-Zeitung. Solche donnert: Moderator Oliver Geissen hatte Typen passen zum Opel den Namen des Wohnmobilherstellers, mit Speedster. dem die Kandidaten zum Container ge- Product Placement, karrt wurden, erst falsch ausgesprochen meint Auer, könne nur und sich dafür später mit dem entlarven- dann erfolgreich sein, den Satz „Der Kunde hat sich beschwert“

JAUCH & SCHEIKOWSKI JAUCH wenn die Marke in ei- entschuldigt. Endemol hat gegen den Buß- Nike-Träger Gibson in „Was Frauen wollen“: Penetranz schadet ner guten Geschichte geldbescheid Einspruch eingelegt; jetzt auftaucht. So nützte es prüft die zuständige Staatsanwaltschaft in Kurz: „Viktor Vogel“ ist – seit dem gran- Siemens wenig, sich mit mehreren Millio- Hannover den Fall. dios schwachsinnigen Proleten-Epos „Man- nen Mark (und unter dem Bildschirm- Bei Kinofilmen, entschied der Bundes- ta Manta“ (1991) – der Film mit der größ- Pseudonym Althan) beim Kinofilm „Feind- gerichtshof 1995, ist dagegen so ziemlich al- ten Opel-Dichte aller Zeiten. Nur: Wer hat liche Übernahme“ engagiert zu haben: les erlaubt: Im schlimmsten Fall muss schon etwas davon? Der Regisseur? Die Produ- Den deutschen Action-Thriller mit Désirée im Vorspann erwähnt werden, dass es sich zenten? Die Zuschauer? Nosbusch (Produktionskosten: 15 Millio- um Werbung handelt. Bei „Viktor Vogel“ Opel jedenfalls nicht. Das meint zumin- nen Mark), Anfang Februar unter großem fehlt ein solcher Hinweis. dest Manfred Auer. Auch Auer hatte mit Zu Recht: Wichtiger wären sowieso die „Viktor Vogel“ zu tun, zog sich aber bald * Pierce Brosnan in „James Bond – Die Welt ist nicht Namen der Firmen, die bei „Viktor Vogel“ „mit Entsetzen zurück“. Außerdem habe genug“, 1999. nicht dabei sein wollten. Martin Wolf

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Fische fängt und, natürlich, Artischocken erntet, sondern auch, wie man Koto und Klavier spielt, Bratsche und Klarinette, und mit acht hatte der spindeldürre Kent sogar mal den Kinderchor der Dorfkirche leiten dürfen. Aber viel mehr als ein Beach-Boy, der leidlich Noten lesen konnte, steckte damals nicht hinter Naganos Geschichte. Knapp 30 Jahre später gilt Kent Nagano, 49, als „Protagonist einer neuen Dirigen- tengeneration“ („Süddeutsche Zeitung“), als „heimlicher Revolutionär“ („Die Welt“), als „Jahrhundertbegabung“ („Fo- no Forum“), als „Mann für jeden Tonfall“ und – fortissimo – als „der erste Dirigent des 21. Jahrhunderts“ („Tagesspiegel“), der erste auch, der in T-Shirt, Jeans und Turn- schuhen auf Plakatwänden Modell geses- sen hat – als Kunstjünger für die philhar- monischen Spezereien seiner CDs und als ETOILES / ZAZ / SIPA PRESS / ZAZ / SIPA ETOILES Adams-Kantate „El Niño“ in Paris: Ohrwürmer zum Lagerfeuer

MUSIK Verdammt verwegen Der US-Stardirigent Kent Nagano macht Berlin zur Hauptstadt der musikalischen Avantgarde. In seinen Konzerten kreuzt er selbst die heiligsten Kühe der Klassik mit experimentellen Neutönereien. Von Klaus Umbach

uerst, da war er so um die sechs, woll- beiden auch für Kent was Standesgemäßes te der Junge Farmer werden und Ar- wollten, was mit Hand und Fuß und fürs Ztischocken züchten. „Wild waren wir Hirn und fürs Leben. KASSKARA damals“, erinnert sich der Enkel japanischer „Es waren die Watergate-Jahre“, erin- Dirigent Nagano Einwanderer, „richtige wüste Bauernkids“, nert sich Nagano an seine Studentenzeit, Maestro der kontrollierten Ekstase die als saubere Früchtchen die 860 Morgen „der Vietnam-Krieg ging zu Ende, wir alle der großelterlichen Plantage unsicher mach- waren voll gesellschaftskritischem Engage- Dressman für den amerikanischen Kla- ten, fetzig Gitarre spielten, an schrottreifen ment.“ Damals wählte er an der Universi- mottenschneider Gap. Oldsmobiles herumbastelten und die Wellen ty of California in Santa Cruz zwar Sozio- Seit letztem Herbst, mit der Übernahme der kalifornischen Pazifikbrandung ritten, logie und Musik als Hauptfächer, war aber, des Deutschen Symphonie-Orchesters Ber- was die Bretter hielten. Vita Kunterbunt. ganz gehorsamer Sohn, schon auf dem de- lin (DSO), setzt Nagano vor allem im Con- Spleene, nichts als Dumme-Jungen- finitiven Sprung in die juristische Fakultät. certo grosso der deutschen Hauptstadt apar- Träume, jedenfalls in den Augen der aka- Dann, fast über Nacht, vollzog er die Wen- te Akzente und extravagante Maßstäbe: demisch gebildeten Eltern, die ihren Sohn de: doch Musik, ganz klar Musik, und zwar Dieser Neue, ein Mann der asketischen Slim auf einen klassischen Bildungsweg lenken nur noch Musik. Line und ein Maestro der kontrollierten Ek- wollten. Dad war schließlich Architekt, Okay, die Mutter hatte ihrem Filius nicht stase, ist derzeit die verlässlichste Triebkraft Mum gelernte Mikrobiologin; klar, dass die nur gezeigt, wie man Erbsen pflanzt und in der eher faden Berliner Klassik-Hefe.

226 der spiegel 15/2001 An den beiden bevorstehenden Oster- tagen wird er das jüngste, von ihm urauf- geführte Bühnenstück „El Niño“ des ame- rikanischen Neutöners John Adams aus dem Pariser Châtelet in die Berliner Phil- harmonie importieren, anschließend mit dem DSO auf große Tour gehen, vom Ba- den-Badener Festspiel- zum Wiener Kon- zerthaus, von der Bonner Beethovenhalle bis zum Cankarjev-Dom in Ljubljana. Rei- sen bis Los Angeles sind fest geplant. Vor allem aber Berlin, so viel steht fest, kann sich unter Naganos Taktstock auf ei- niges gefasst machen. Denn der charmant agierende und elegant taktierende Kapell- meister, der auf dezente Art zu überrum- peln und mit analytischem Scharfsinn zu bezaubern versteht, hat im weltweit abge- schlafften Klassikbetrieb schon mehrmals für Überraschungen gesorgt. In knapp zehn Jahren, von 1989 bis 1998, hat der smarte Exot die Opéra National de Lyon zu Frankreichs avantgardefreudigs- tem Musiktheater geliftet und mit einem exquisiten Spielplan dem schwerfälligen hauptstädtischen Schlachtschiff, der Pariser Bastille-Oper, das blaue Band abgetrotzt: Lyon wurde führendes Opernhaus, das Stuttgart der Grande Nation. Fast gleichzeitig übernahm Nagano die Leitung des künstlerisch und wirtschaft- lich ausgebluteten Hallé Orchestra in Man- chester, führte den traditionsreichen Klang- körper, immerhin Britanniens ältesten, auf triumphale Tourneen nach Salzburg und Fernost und verschaffte den Musikern am Ende auch daheim wieder volle Säle, eine neue Konzerthalle und eine Bestandsga- rantie der Kommune. Noch leitet er mit Berlins DSO kaum mehr als ein solides Ensemble der klin- genden C-Klasse. Doch unter seiner Obhut hat das aus dem früheren Rias-Sympho- nie-Orchester hervorgegangene Ensemble die Chance zum schnellen Aufstieg in die Champions League, und das ohne all den Süß- und Schmier- und Schaumstoff des philharmonischen Mainstream. So wenig Zuckerschlecken war jedenfalls lange nicht – und auch nicht so viel erregende Auf- bruchstimmung. Bei seinem ersten Konzert als neuer DSO-Chef beispielsweise dirigierte Nagano Mitte September 2000 ausschließlich Wer- ke von Alban Berg, nicht gerade Weich- spieler. Zwei Wochen später mutete er seinem Publikum ein reines Stockhausen- Programm zu, auch das kein Lollipop. In seiner dritten Soiree koppelte er Anton Weberns radikales Neutöner-Opus 1 mit einer Messe des niederländischen Poly- phonikers Johannes Ockeghem aus dem 15. Jahrhundert zu einer faszinierenden Mesalliance. Und genauso ausgefallen, instruktiv und unterhaltsam geht das jetzt weiter. Da übernimmt der Chef in der nächsten Spiel- zeit immerhin 34 Berliner Auftritte, und was, bitte, hat er da zu bieten? In der ganzen der spiegel 15/2001 227 Kultur

Saison nicht mal eine halbe Stunde Mozart, nicht eine Note von Bach, keinen einzigen Ton von Ludwig van Beethoven. Nein, das schwere Tafelsilber der abendländischen Tonkunst fasst er am liebsten gar nicht erst an, und wenn, dann mit den spitzen Fingern eines intelligenten Provokateurs. So mischt er Schuberts biedermeierliche „Rosamunde“-Musik mit Texten der Wie- ner Radikal-Poetin Elfriede Jelinek auf, verfremdet das „Deutsche Requiem“ von Brahms durch kess darin versprenkelte Neutönereien des Avantgardisten Wolf- gang Rihm und scheut nicht mal davor zurück, mitten in Bruckners neunter, „dem lieben Gott“ geweihter Sinfonie das psy- choanalytische Monodram „Erwartung“ von Arnold Schönberg aufzuführen. DPA Nagano-Kollege Bernstein (1989) Mit Inbrunst in die Kummerfalte

Verdammt verwegen, wie er seinem Pu- blikum das Trommelfell über die Ohren zieht; verdammt spannend, wie die Kund- schaft darauf reagiert: Ein Drittel der alten Berliner Abonnenten hat ihm die Gefolg- schaft gekündigt – bei 45 Prozent Neuein- gängen ein sattes Plus. Doch so viel neues, sperriges Material Nagano sich, seinem Orchester und seiner Klientel auch aufhalsen mag, so häufig und unerschrocken er György Ligeti, Hans Werner Henze, Alfred Schnittke oder gar Novizen wie die koreanische Komponistin Unsuk Chin auf seine Programme setzt – dieser in Statur und Gestus jugendliche Taktierer kultiviert auch das typisch ame- rikanische Crossover aus klassischer Bau- weise mit halbseidenem Entertainment. Er hat halt, nach Landessitte, auch eine Schwäche für ff Talmi. Wenn da zu Ostern unter seiner Leitung der biblische Zimmermann Joseph ver- schwitzt von der Baustelle heimkehrt, von der seltsamen Schwangerschaft seiner Ma- ria erfährt und mit Bassgewalt seine Wut herausbrüllt über den angeblich himmli- schen Begatter und den Balg „El Niño“, der ihm da ungebeten in die Krippe kom- men wird, dann hat das deutsche Groß- feuilleton seine Watschen schon längst ver- teilt: „Mickymaus wärmt Jesulein“, hatte die „FAZ“ nach der Pariser Premiere von

228 der spiegel 15/2001 Adams’ „El Niño“ Mitte Dezember ge- spottet, und auch die „Süddeutsche Zei- tung“ rümpfte über „Mariä Verhängnis“ und den „Säuglingszauber“ der Christmas- Kantate genüsslich die Ohren. Doch wenn einer dieser postmodernen Mixtur aus heiligem Bimbam und holly- woodeskem Glamour Form, Stil und Power verpasst hat, dann Nagano. Er sorgte an der Krippe für orchestralen Wumm, zum Lagerfeuer des holden Paares tischte er Adams’ Ohrwürmer auf, und über dem Bretterbuden-Pathos des Regisseurs Peter Sellars jubelten die himmlischen Heer- scharen, die er mit Bravour durch den ir- dischen Chorsatz lenkte. Ist Nagano mit seiner Emphase und seinem draufgängerischen Elan vielleicht doch der neue Bernstein, den vor allem die Amerikaner aus ihm machen möch- ten? War das Magazin „New York“ doch nicht vorlaut und voreilig, als es im März 1994 seine Hommage an Nagano mit „Lenny“, dem populärsten Kosenamen des amerikanischen Klassikbetriebs, über- titelte? Kent Nagano, so seinerzeit das hymni- sche Journal, sei nach seinem Debüt in der New Yorker Met mit einer „geradezu über- wältigenden Ovation empfangen“ und „zum aufregendsten amerikanischen Diri- genten seiner Generation“ gekürt worden, in ihm dürfte die Musikwelt „den nächsten Bernstein gefunden“ haben. Nett, aber Nonsens. Denn mit Bernstein, diesem Maestro pomposo, hat Nagano we- nig gemein. Er ist alles andere als ein schwitzender, keuchender Theatraliker der Tonkunst, der sich voll Inbrunst in jede sinfonische Kummerfalte kniet, bei jeder Kantilene, die seine Seele streichelt, Trä- nen des Glücks vergießt und jedes Cres- cendo der Klänge mit einem Luftsprung seines Körpers krönt. Nagano bleibt, selbst wenn sein Tempe- rament abhebt, mit den Füßen auf dem Boden. Er schwärmt, aber mit Berechnung und kühlem Kopf, und die Romantik, Bernsteins Mutterboden, ist für ihn nur „ein Stück Tradition mehr“: „Nun, da das 20. Jahrhundert zum vergangenen Jahr- hundert geworden ist, haben wir noch ein- mal 100 Jahre mehr, auf die wir Rückschau halten können.“ Berlin bietet ihm dafür beste Chancen, „diese Stadt in ihrer stolzen Aufbruch- stimmung“ findet er „an jeder Ecke faszi- nierend“, und er will ihr vorerst auch treu bleiben. Aber den ganzen Nagano wird die Hauptstadt dennoch nicht länger für sich beanspruchen können: Im kommenden Sommer geht der umworbene Star, auf Einladung von Operndirektor Plácido Domingo, als Principal Conductor ans Musiktheater von Los Angeles. Erstes spektakuläres Großprojekt: Wagners Ni- belungen-„Ring“. Bis Wotans Welt am Pazifik untergeht, kann Nagano dort jede Menge Artischocken ernten. ™ der spiegel 15/2001 229 Werbeseite

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gangenen Jahres ist Kellersmann Chef von die Angst vor Klassik nehmen“, sagt Kel- MUSIKMARKT Universal Classics, zu der Traditionsmar- lersmann. Ähnliches hat er nun mit der Pop- ken wie Decca und die Deutsche Gram- Kundschaft vor: „Damit es im Hirn ‚Klick‘ Wunder und mophon gehören. Sein Ziel liegt irgendwo macht, he, Klassik ist gar nicht so schlimm.“ zwischen Wunder und Wahnwitz: Er will Klicken soll es dank einer Pop-Strate- die in der jungen Generation traditionell gie: Discos, DJs und Design sollen Sym- Wahnwitz als verschnarcht geltende klassische Mu- phonien und Sonaten Glamour verleihen. sik mit einem jungen Team für die Viva- Das ist nicht so verwegen, wie es sich an- Vom Konzertsaal in die Disco: und MTV-Generation attraktiv machen. hört: Pop-Größen wie Air und Aphex Twin Natürlich gab es Ähnliches schon: So schwärmen von Ravel und Rachmaninow. Weil die Klassik-Umsätze schrump- verhalf ein zeitweise sehr modisches Der Madonna-Produzent und Musiker Wil- fen, sollen junge Menschen für Crossover aus Klassik, Jazz und Pop in liam Orbit landete jüngst einen Hit mit der eine neue Mixtur aus Pop und alten den Sechzigern und Siebzigern Jacques CD „Pieces in a Modern Style“, auf der er Meistern begeistert werden. Loussier („Play Bach“) oder Bands wie Werke von Beethoven und John Cage zu Ekseption und Emerson, Lake & Palmer zu sanftem Elektrogesäusel umprogrammier- ls sich im März die wichtigsten Ein- Millionenerfolgen. Auf Dauer nützte all te. Die Pet Shop Boys, bekennende Klas- zelhändler der deutschen Klassik- das wenig. sik-Fans, sangen vor Jahren „Ché Gueva- ASzene in München trafen, plausch- Derzeit jedenfalls gilt die Klassik- ra and Debussy dancing to a disco beat“. te man zunächst wie je in gepflegter Kam- Branche als bedürftiger Pflegefall. Die Ver- In Londoner Clubs, wo sonst House- und mermusik-Atmosphäre – doch dann war käufe gingen allein von 1998 auf 1999 um Electro-Beats wummern, sorgen Bach und es plötzlich mit der Harmonie vorbei. über 17 Prozent zurück. Die Folgen: Fir- Mozart schon regelmäßig für lässige Ent- Ein Knabe mit kurz geschorenem Haar menfusionen und massiver Stellenabbau. spannung. Auch in Deutschland etabliert und nachgeschneidertem Designer-Anzug Schuld an der Misere ist das miese sich das Pop-Klassik-Kombipack. „Classic ergriff verschmitzt grinsend das Wort: „Al- Image: Die Werke von Bach bis Vivaldi gel- goes Disco. Schmusen mit Mozart“, be- les schön und gut, aber jetzt möchte ich ten vielen Menschen unter 50 zwar als re- richtete „Bild“ über den „After Work Clas- präsentieren, was mich interessiert“, sagte spektabel, aber reif fürs Platten-Altersheim. sic“-Club im Hamburger Schanzenviertel. Martin Hossbach, 25, Junior Product Ma- Kellersmann ist keiner je- Im „Kochsalon“ in St. Pauli nager bei Universal Classics. Er habe hier ner Plattenmanager, die ne- drängte sich jüngst das Szene- ein paar Platten mit zeitgenössischer Klas- benbei in einem Club auf- volk zu Satie und Mozart. sik und die seien „einfach krass“ – was im legen. Er hat ein Studium In guter alter Farbtradition Slang junger deutscher HipHopper so viel der Musikwissenschaften mit der Deutschen Grammophon wie großartig bedeutet. Note Eins abgeschlossen und soll eine „Yellow Lounge“ als Das Vokabular erzürnte einen Händler mit Andreas Dorau und den regelmäßiger Clubabend in derart, dass er aufsprang und sich verbat, Zimmermännern verquer diesem Jahr europaweit ein- hochkulturelle Themen mit derart „flapsi- schöne Popmusik produziert. gerichtet werden. Zum Chill- gen Worten“ abzutun. Eine junge Kolle- Seit 1990 hat er in der Jazz- out im Wohnzimmer werden gin aber fand, dass es angesichts trauriger Abteilung der Polygram, heu- auf einer Yellow-Lounge-CD Klassik-Verkaufszahlen überfällig sei, sich te Universal, erfolgreich Pro- Klassik-Hits wie Disco-Num- endlich auch in der E-Kultur mit der Welt gramm und Image moderni- mern ineinander gemixt. und dem Jargon der Jugend anzufreunden. siert. Als ihm daher auch die Wie Universal sucht auch

Ein Job, an dem sich Christian Kellers- Klassik-Abteilung zugeschla- THESOUNDSTORM.COM die Konkurrenz die Rettung mann, 40, und Boss des jungen Wilden gen wurde, musste er seinen Londoner Klassik-DJ im Disco-Beat. So ließ Sony Hossbach, zurzeit versucht. Seit März ver- jungen Mitstreitern „erst mal Entspannung im Club Classical für das Album „Club vs. Classics“ E-Musik- Gassenhauer wie Smetanas „Moldau“ vom deutschen Techno-Nachwuchs mit Elektro- Gezirpe aufpeppen: „Viele junge DJs und Musiker haben eine intensive Beziehung zur klassischen Musik, die sie nun ausleben können“, sagt Michael Brüggemann, Vice President Europe von Sony Classical. Dass vielen Klassik-Puristen da das Blut gefriert, ist kaum verwunderlich – doch selbst einige Künstler der Klassik-Branche sind abenteuerlustig. So veröffentlicht die Star-Mezzosopranistin Anne Sofie von Ot- ter in dieser Woche die CD „For the Stars“, die sie mit dem gefeierten Songwriter Elvis Costello aufgenommen hat. Costello und die schwedische Diva präsentieren neben Eigenkompositionen Klassiker von den Beach Boys und Tom Waits als kunstvoll arrangierte Barmusik. Ob sich das Werk des Duos wirklich ver- kauft, muss sich noch erweisen. Ohnehin ist nicht ausgemacht, dass die Fusion von Pop und Klassik langfristig ankommt. Kel- lersmann sagt: „Ich sitze hier auch nur, so- E-Musik-Werbung für junge Hörer: „Klassik ist gar nicht so schlimm“ lange das gut geht.“ Christoph Dallach

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die Kleriker später behaupteten. Man weiß nur, dass der Henker kein Meisterstück zu LEGENDEN Wege brachte und seine Knechte Mühe hatten, den starken Deutschen festzuhal- ten. Im Schinderkarren fuhr man den ge- Ein alter Schwede, fit for fun vierteilten Leib zum Kopenhagener Gal- genberg. Das Volk verlief sich, es war zu- Die Lebensgeschichte des Arztes und Frauenhelden frieden, Struensee war tot. In Wahrheit scheint Johann Fried- Struensee plündert der Dichter Per Olov Enquist in seinem neuen rich Struensee aus Halle an der Saale je- Roman – mit dem realen Vorbild hat sein Held wenig zu tun. doch unsterblich. Mehr als 600 literari- sche Bearbeitungen hat sein Leben ie Stimmung auf dem Richtplatz lassen, alle in deutscher Sprache: erfahren, Bänkelsänger haben war heiter und erwartungsfroh. den Frondienst der Bauern ein- sich seiner angenommen, die D30000 neugierige Dänen hatten sich geschränkt, die Pressefreiheit Filmfritzen („Herrscher ohne zum Osterfeld aufgemacht, draußen vor verkündet, die Folter abge- Krone“, 1957) – und nun den Toren Kopenhagens. Alle hatten eine schafft, Schulwesen, Kran- auch der Schwede Per Olov gute Sicht auf das Blutgerüst, damals, am kenhäuser und Universitä- Enquist, einer der bedeu- 28. April 1772, auch die Kinder. ten reformiert, uneheliche tendsten Romanciers in „So soll seine rechte Hand und darauf Kinder vor dem Gesetz Skandinavien. sein Kopf ihm lebendig abgehauen wer- gleichgestellt, Kirchen in „Der Besuch des Leib- den“, hatte die Inquisitionskommission Hospitäler umgewandelt arztes“ heißt das neueste über das ritualisierte Procedere der Hin- und – als alle Herrschen- Werk des Dichters, und richtung beschlossen, „sein Körper ge- den ihm schon Feind wa- sein deutscher Verlag viertheilet und aufs Rad geleget, der Kopf ren – auch noch das Volk rühmt es als „psychologi- mit der Hand auf einen Pfahl gestecket verprellt durch ein Verbot sches Drama um Politik, werden.“ des Schnapsbrennens. Macht und Liebe“**. Die Dann stieg Johann Friedrich Graf Nebenbei, gewöhnlich Hamburger Wochenzei-

Struensee aus der Kutsche. Der 34-Jährige um die Mittagsstunde, hat- AKG tung „Die Zeit“ greift trug einen blau samtenen Anzug, darüber te der Pastorensohn Struen- Struensee*, Filmplakat (1957) gleich in die Kiste mit den einen kostbaren Pelzrock. Sein langes, see zudem Zeit gefunden, Aufklärer ohne Doppelmoral Superlativen und lobt: blondes Haar bedeckte ein schwarzer Hut, der Königin beizuwohnen. „Ein großes Buch, ein den er höflich lüftete, denn die meisten der Als sie, im Juli 1771, mit ei- mächtiges Buch, souverän Herren Zuschauer an der Richtstatt kann- ner Tochter niederkommt, und selbstbewusst über- te Struensee gut. Schließlich war der De- entbindet er seine Gelieb- ragt es die landläufige Pro- linquent noch vor drei Monaten der einzi- te selbst, Arzt ist der Ka- duktion der Belletristen.“ ge „Geheime Kabinettsminister“ seiner valier ja auch. Deshalb sei Per Olov En- Majestät gewesen – und damit der mäch- Sein letztes Wort ist quist der wahre Anwärter tigste Mann im Staate Dänemark. nicht überliefert. Strittig ist für den nächsten Literatur- Als wisse er von seinem frühen Tod, hat- auch, ob der Atheist im Nobelpreis. te Struensee in knapp anderthalbjähriger Angesicht des Richtblocks Zumindest hat der alte Amtszeit mehr als 1800 Kabinettsorders er- zu Gott gefunden hat, wie Schwede, er steht im 67. Lebensjahr, die dichteri- sche Freiheit souverän aus- geschöpft. Mit den biogra- fischen Einzelheiten seines Helden geht er großzügig um – lieber eine Wahrheit

AKG verlieren als eine Pointe. Ein Roman ist ein Roman? Zwar darf Fiktion alles, und doch schimpft Stefan Winkle, 89, Medizinpro- fessor in Hamburg und der Struensee- Kenner schlechthin, über einen „Kultur- skandal“. Winkle hat 40 Jahre seines Le- bens hingegeben, um die verwehten Spu- ren seines Helden aufzuspüren. Sein dick- leibiges Buch – „Johann Friedrich Struen- see. Arzt, Aufklärer und Staatsmann“, 1983 erschienen, Auflage: 2000 Stück – enthält allein 2178 Anmerkungen, ist von den Medizinhistorikern hoch gelobt worden, beantwortet jede Frage, ist längst vergrif- fen und wird wohl nie wieder aufge- legt werden. „Dieser Enquist“, grummelt

* Zeitgenössischer Kupferstich von Joseph Friedrich Rein. ** Per Olov Enquist: „Der Besuch des Leibarztes“. Aus

A. WEISE dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Carl Hanser Ver- Romancier Enquist: Dichterische Freiheit souverän ausgeschöpft lag, München; 376 Seiten; 42 Mark.

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Winkle, „hat mein Buch niemals in der Bei seinen Reisen in die ländliche Um- Hand gehabt.“ gebung betätigt sich Physikus Struensee Muss er ja auch nicht. Details über auch als Tierarzt. Er seziert verstorbene Struensees königlichen Sex mit Ihrer däni- Tiere und publiziert 1764 einen „Versuch schen Majestät Caroline Mathilde, 18, findet von der Natur der Viehseuche und der man beim Biografen Winkle sowieso nicht. Art sie zu heilen“: Es ist die weltweit erste Beim Dichter Enquist liest sich das so: Beschreibung der Maul- und Klauenseu- Er konnte vollkommen still liegen, lange, sein Glied tief in ihr, und ihren Schleim- häuten lauschen, als seien ihre Körper Bestseller verschwunden und als gäbe es nur ihr und sein Geschlecht…Sie bewegte ihren Un- Belletristik terleib fast unmerklich, unendlich lang- 1 (1) Henning Mankell Der Mann, der sam, er tastete mit seinem Glied in ihr, als wäre es eine empfindliche Zungenspitze, lächelte Zsolnay; 39,80 Mark die nach etwas suchte … 2 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter Aber es nicht findet, denn die Liebe geht immer so weiter – „unerhörter Genuss … und der Feuerkelch Carlsen; 44 Mark niemals etwas Ähnliches erlebt“. 3 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter Glaubt man Romancier Enquist, probiert die Königin ihre Reize auch an einem äl- und der Stein der Weisen Carlsen; 28 Mark teren bösen Dänen aus, diesmal die „Run- 4 (5) John Grisham Die Bruderschaft dung ihrer Brüste“, die „Brüste in ihrer ganzen Fülle“, also ihre „fast entblößten Heyne; 46 Mark Brüste“. Dem Beschauer kommen die Trä- 5 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter nen, und zwar aus „Gemütsbewegung“. „Dieses ganze Buch“, urteilt Winkle, „ist und die Kammer des Schreckens die reinste Pornografie. Von Struensee Carlsen; 28 Mark stimmt nichts, aber auch gar nichts.“ Das scheint Struensees Schicksal zu sein. 6 (6) Joanne K. Rowling Harry Potter Bevor sein Kopf unter das Beil geriet – der und der Gefangene von Askaban Henker hieb mehrfach zu – führte der Carlsen; 30 Mark Hochbegabte ein umtriebiges Leben, im- mer rebellisch gegen die hergebrachte Wis- 7 (9) Ingrid Noll Selige Witwen senschaft, allen Konventionen feindlich ge- Diogenes; 39,90 Mark sinnt und zu fast jedem Risiko bereit. Struensee war 14 Jahre alt, als er in sei- 8 (7) Minette Walters Schlangenlinien ner Geburtsstadt Halle mit dem Medizin- Goldmann; 46 Mark 9 (8) Charlotte Link Struensee beschrieb als Die Rosenzüchterin Blanvalet; 48 Mark Erster die – später so benannte – Maul- und Klauenseuche 10 (10) Rosamunde Pilcher Wintersonne Wunderlich; 49,80 Mark studium begann, und 19 Jahre, als er es mit einer lateinischen Dissertation abschloss. 11 (12) Liza Marklund Studio 6 Als 20-Jähriger, 1757, wurde er Stadtphysi- Hoffmann und Campe; 44,90 Mark kus und Armenarzt in Altona. Die Hafen- stadt an der Elbe hatte 20000 Einwohner, 12 (11) Donna Leon In Sachen sie war seinerzeit Dänemarks zweitgrößte Signora Brunetti Gemeinde. Diogenes; 39,90 Mark Wie Ebbe und Flut kamen die großen Seuchen über die Stadt: Pocken, Ruhr, Der venezianische Fleckfieber, Diphtherie, Syphilis. Amtsarzt Kommissar in Nöten: („Physikus“) Struensee tat mehr als üblich Die eigene Gattin wird und war oft erfolgreich. Er bekämpfte im Dienst einer Schmutz und Schlendrian im Waisenhaus gerechten Sache zur Gesetzesbrecherin und in den Hospitälern, den Aberglauben und die Doppelmoral. In Adelskreisen galt die Syphilis als „galante Kavalierskrank- 13 (14) Amitav Ghosh Der Glaspalast heit“, für das gemeine Volk aber als „wohl- Blessing; 49 Mark verdiente göttliche Strafe an den Körper- theilen, mit denen man gesündiget“, wie 14 (15) Sándor Márai Die Glut die Bußprediger urteilten. Struensee sah Piper; 36 Mark die Sache anders: „Es ist falsch zu glauben, was die einen thuen, sey Galanterie, und 15 (–) Zeruya Shalev was die anderen thuen, sey Unzucht. Es Mann und Frau giebt nur eine Moral, wie es auch nur eine Berlin; 39,80 Mark Geometrie giebt.“

236 der spiegel 15/2001 che (die diesen Namen erst im 19. Jahr- Dieser Struensee war eben, wie sein Ver- hundert erhält). Immerhin entwickelt ehrer Winkle sagt, „ein heller Verstandes- Struensee eine richtige Methode, die an- mensch“. An seinem Charakter sei nichts steckende Seuche zu heilen – durch eine „Zwielichtiges oder Zweideutiges“ gewe- Schutzimpfung. 180 Jahre später wird sen, seine ärztliche Kunst über jeden Tadel sie zum ersten Mal und erfolgreich aus- erhaben. Als der dänische König Christian probiert. VII. 1768 einen Begleitarzt für seine Reise nach England sucht, fällt die Wahl auf den Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich deutschen Untertanen. ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ König Christian ist 19 Jahre alt und, wie so viele Majestäten in Dänemarks Sachbücher Geschichte, verrückt. Er leidet an Schi- zophrenie und wird von Halluzinationen 1 (1) Sebastian Haffner und Verfolgungswahn gequält. Während Geschichte eines Deutschen der Kabinettssitzungen spielt er unter DVA; 39,80 Mark dem Tisch mit seinem Hund und einem kleinen schwarzen Pagen. Vertraut man 2 (2) Norman G. Finkelstein dem Romancier Enquist, so ist des Kö- Die Holocaust-Industrie Piper; 38 Mark 3 (3) Dietrich Schwanitz Bildung Struensees Geliebte, die junge Königin, wurde ins Exil Eichborn; 49,80 Mark nach Celle überführt 4 (5) Günter Ogger Der Börsenschwindel C. Bertelsmann; 44 Mark nigs eigentliches Leiden das „Laster der Onanie“: 5 (4) Florian Illies Generation Golf Christians manische Art und Weise, sei- Argon; 34 Mark ne Melancholie mittels dieses Lasters zu dämpfen, schwächte langsam sein Rück- 6 (7) Hans-Olaf Henkel grat, griff sein Gehirn an und trug zu der Die Macht der Freiheit Econ; 39,90 Mark kommenden Tragödie bei. Manisch, stun- denlang, versuchte er, einen Zusammen- 7 (6) Günter de Bruyn Preußens Luise hang herbeizuonanieren oder seine Ver- Siedler; 28 Mark wirrung wegzuonanieren. Struensee, inzwischen Ehrendoktor in 8 (8) Dale Carnegie Sorge dich Oxford und Cambridge, wird in Kopen- nicht, lebe! Scherz; 46 Mark hagen zum Leibarzt ernannt. Er akzep- tiert weder den religiösen Hokuspokus der 9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur „Besessenheit“ noch die offizielle „Säfte- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark lehre“ als Ursache für das psychische Lei- den seines Patienten. Denn als Anhänger 10 (10) Lance Armstrong der Aufklärung liest er Voltaire, Rousseau Tour des Lebens Lübbe; 36 Mark und die französischen Philosophen, intel- lektuelle Rechtschaffenheit ist sein Leit- 11 (12) Carola Stern Doppelleben stern. König Christian fasst zu dem ich- Kiepenheuer & Witsch; 39,90 Mark starken Doktor Vertrauen, bald ist Struen- see sein einziger Freund. 12 (–) Fritz F. Pleitgen Als er seinem Leibarzt auch noch die Durch den wilden Kaukasus politischen Geschäfte anvertraut und die Hofaristokratie entmachtet, sammeln sich Kiepenheuer & Witsch; 39,90 Mark Verschwörer. Nach einem Maskenball ver- 13 (–) Edwin Black IBM und der haften Putschisten den deutschen Doktor. Mit zwei Ketten schmieden sie ihn in der Holocaust Propyläen; 59,90 Mark Gefängniszelle an, Struensee ist 34 Jahre. Seine Reformen, die viele soziale Krisen 14 (–) Bodo Schäfer friedlich entschärften und so auf humane Wohlstand ohne Stress Art vorwegnahmen, was die Französische Campus; 49,80 Mark Revolution von 1789 nur mit viel Blut durchsetzte, wurden zumeist annulliert. Struensees Geliebte, die junge Königin, Wer richtig investiert, arretierte man und ließ sie dann in das kann nicht verhindern, reich zu werden, Exil nach Celle überführen. Von Struensee meint der bekannte sprach sie als dem „seligen Grafen“. Mit Finanzguru 23 Jahren starb sie, angeblich an einem „ansteckenden Fieber“. Es kann aber, deu- 15 (14) Sabriye Tenberken tet Romancier Enquist an, auch Gift gewe- Mein Weg führt nach Tibet sen sein, beigebracht von der dänischen Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark Regierung. Damit wird er wohl Recht ha- ben, ausnahmsweise. Hans Halter

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Werbeseite Kultur F. BORKENAU F. Huber-Inszenierung „Saussures Herz“ in Hannover*: Ohne Verfremdung macht die Illusion keinen Spaß

peinlich abnutzt, hat er noch einmal plas- KUNST tische Abbilder der Schweizer Eisriesen Jungfrau, Mönch und Eiger als „Barriere“ mitten in seine bislang größte Ausstellung Herzkammer im Berg postiert. Aus älteren und neu erschaffenen Werken baut er da einen ebenso witzigen In Hannover schickt der Münchner Künstler Stephan Huber wie unheimlichen Parcours zusammen, durch den der Besucher traumwandeln sein Publikum auf Traumpfade durch eine kann wie Alice durch ihr Wunderland**. bizarre Welt aus Gips-Gipfeln und umgestülpten Zimmern. So dringt man etwa zur Berg-Barriere ahnungslos und gebückt durch eine nied- as Allgäu – „ein an die Alpen ge- 1999 ragten sie am alten Kriegshafen über rige Pforte vor und findet sich in einer Art presstes Hügelland“; so kann man ein Meer aus Schrott empor. Sogar Alpinis- Liftkabine wieder. Aus deren stählerner Des auch sagen. Der Künstler Ste- ten-Promi Reinhold Messner hat schon we- Wandverkleidung ist ein Schaukasten aus- phan Huber beschreibt seine Heimat mit gen der Anschaffung eines Kunst-Bergs gespart, in dem, mit vernehmlichem Ge- diesen Worten als Übergangsregion und vorgefühlt. räusch, ein großes Herzmodell pocht. Spannungsfeld. Denn als Kind in der Klein- Zu einer neuen – wie er ankündigt: letz- Der Kabinenausgang führt dann in einen stadt Lindenberg fühlte er sich von der Si- ten – Bergpartie lädt Huber jetzt das langen, scheinbar leeren Saal. Erst wer sich cherheit eines großbürgerlichen Eltern- Publikum in die norddeutsche Tiefebene, beim Weitergehen umdreht, erkennt, dass hauses umfangen, gleich hinter dem Ort in den Kunstverein Hannover. Ehe sich er eine Bergkette durchquert und ihr gewis- jedoch stieg, lockend und bedrohlich, das die majestätische „Pathosformel“ vielleicht sermaßen ins Herz geblickt hat. Der Werk- Hochgebirge auf. Seit einiger Zeit denkt Huber, mittler- weile 49 und zweifacher Vater, intensiver als je zuvor an seine Kindheit zurück. Und prompt ist ein passendes Leitmotiv in sei- ne opulente, symbolträchtige Kunst der Objektmontagen und Rauminstallationen geraten: der Berg. Ganze Gipfelmassive hat Huber in den vergangenen Jahren meterhoch aus schnee- weißem Gips aufgetürmt. In München, wo er wohnt, grüßen sie unter freiem Himmel vom Messegelände Riem zum realen Alpenhorizont hinüber. In Landshut bau- te er sie in einer Kirche auf („Gott als Berg denken“). Und bei der Venedig-Biennale

* Mit Kunstvereinsdirektor Stephan Berg. ** Bis 3. Juni; später im Museum der bildenden Künste, Leipzig, und im Lenbachhaus, München. Texte zu Huber: 48 Seiten; 18 Mark. Bebilderter Katalog (ab Mai): 48 Sei- BORKENAU F. ten; 25 Mark. Huber in seinem „Kopf-Labyrinth“: Verwirrung zwischen Klinik und Museum

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Werbeseite Kultur titel freilich lautet „Saussures samt Bewohner von den Stru- Herz“ – doppelte Anspielung auf deln einer Überschwemmungs- Horace Bénédict de Saussure, flut in den Untergang gerissen. den Schweizer Naturforscher Der Impuls, die Klappe nur ganz und Montblanc-Besteiger (1787), schnell wieder zuzuwerfen, hat sowie auf dessen Antipoden und etwas von Verdrängung oder von Urenkel Ferdinand, den Pionier dem Wunsch, aus einem Alp- des Strukturalismus. Sich auf ei- traum zu erwachen. nen der beiden festzulegen, wäre In zusätzliche, künstlerisch Huber zu simpel vorgekommen. weniger zwingende Verwirrung Schließlich geht es ihm weder stürzt Hubers „Labyrinth in mei- um schlichte Illustrationen aus nem Kopf“ den Ausstellungsbe- der erhabenen Gipfel- und klau- sucher: Große Landkarten sind strophobischen Höhlenwelt der auf Ständern wie zu Triptychon- Alpen noch um glatt lösbare Psy- Altären montiert, und wer sich in cho-Rätsel. Wohl ist die ganze ihre Topografie vertieft, ist ret- Ausstellung eine autobiografi- tungslos verloren. Vor Tokio bei- sche Inszenierung, aber mit der spielsweise liegt ein „King of the „Nabelschau des kleinen Ste- Mountains Island“ mit dem phan“ kann es nicht getan sein; Märchenschloss Linderhof des dahinter müssen „archetypische Bayernkönigs Ludwig II., mit Bilder“ (Huber) aufsteigen. Und „Freuds Klinik“ und dem „Mu- jede Illusion fordert zugleich Ver- seum Stephan Huber“. Auf fremdung, sonst macht sie kei- einem anderen Blatt ragt über-

nen Spaß. Eine bizarre „Mi- BORKENAU F. raschend die Halbinsel „West- schung aus Barock und Brecht“ Eingangsinstallation von Huber: Wie Alice durchs Wunderland allgäu“ ins Gelbe Meer. So necki- ist angestrebt. sche Privatscherze lassen sich Folglich erscheint Hubers Lindenberger ge ist die Ausstellung als Hubers Lebens- noch lange weitertreiben, und leider hat Elternhaus, dieser Gegenpol alles Steilen raum deklariert („7,5 Zi.-Whg. f. Künstler, der Künstler das auch vor. und Schroffen, einerseits in ausgesprochen 49 J.“), im Entree scheint jemand seine Gleich nebenan allerdings ist ihm die naturnaher Wiedergabe, andererseits aber Koffer und einen Riesenhut deponiert zu Wirklichkeit erst einmal verheerend und ir- in cool manipulierten Zusammenhängen. haben. Wer aber weitergeht, findet manche gendwie auch sinnig in die Fiktion ge- Das gediegene Fünfziger-Jahre-Heim, das Türen fest verschlossen, diejenigen der kracht. Wieder einmal war er dabei, seine seine Mutter nun allein bewohnt, versetzt Berg-Herzkammer sind niedrig wie für 18 Jahre alte Installation „Ich liebe dich“ der Künstler mit digitalen Fototricks in eine Kleinwüchsige, eine andere ist spaltweit aufzubauen, jenen Vexierraum mit zwei Trümmerwüste vom Ende des Zweiten offen fixiert und erlaubt den Blick auf ein Sesseln, wisperndem Tonbanddialog und Weltkriegs. verrücktes, gleichsam umgestülptes Zim- einem üppigen, irritierend hereinpendeln- Für eine zweite Lichtbildserie hat er sich mer, in dem das Parkett an der Decke dem Kronleuchter – nicht über Fußboden- ein handliches Hausmodell ins Atelier ge- klebt. Drei halbhoch in die Wände ver- parkett, das hier vielmehr an der Wand stellt – und darum herum eine wahre Kli- schiedener Räume eingebaute Durchrei- verlegt ist, sondern über einem unten an- makatastrophe angerichtet: Styropor, Gips cheklappen animieren den Besucher un- gebrachten Stuck-Plafond. Nun war das und Trockeneis erzeugen die Suggestion widerstehlich, sie aufzumachen – eine raf- tragende Drahtseil durchgescheuert und einer eisigen Polarlandschaft. Das letzte finierte Falle. riss. Der schon immer suggestiv drohende Bild indes führt den Betrachter hinter die Denn Achtung: Im Seelen-Haushalt der „Absturz zur Decke“ (SPIEGEL 39/1983) schon merklich abgeschmolzenen Kulissen. Schau sind dies die Schleusen zum Chaos wurde banale Tatsache. Mit dem Werktitel „Shining“ zitiert Hu- des Unbewussten. Wer das Tabu bricht und Danach hatte Huber viel Mühe, das ber Stanley Kubricks Nachtmahr-Film: Im sie öffnet, dem dröhnt betäubender Lärm Leuchtergestänge zurechtzubiegen und einsamen, verlassenen Berghotel sind die entgegen, und er sieht schreckliche Doku- verstreute Glasperlen neu aufzufädeln. Bewohner dem Wahnsinn ausgeliefert. mentarbilder in Videoprojektion. Hier geht Aber pünktlich zur Ausstellungseröffnung Horror droht auch in Hannover hinter ein Haus in Flammen auf, da wird eines mit war sein paradoxes Kunstkabinett wieder jeder Ecke. Im Stil einer Immobilienanzei- Lawinengewalt in die Luft gewirbelt, dort intakt. Jürgen Hohmeyer FOTOS: S. HUBER / GALERIE SIX FRIEDRICH LISA UNGAR SIX FRIEDRICH LISA S. HUBER / GALERIE FOTOS: „Shining“-Fotos von Huber: Zum Schluss ein Blick hinter die abgeschmolzenen Polarkulissen

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Werbeseite Asli kassiert mit. Seine Firma Dagam Film besorgt alles, was die Produzenten wün- schen – vom Esel bis zum Beduinenzelt. Regelmäßig suchen Dagam-Mitarbeiter in den Dörfern nach geeigneten Statisten. Dass die Marokkaner auch schon mal Christen darstellen müssen, die gegen Mus- lime kämpfen, stört die Komparsen nach Aslis Meinung nicht: „Kein Problem – wir machen doch Profit mit Jesus.“ Auch sonst bemühen sich die Marok- kaner um Reibungslosigkeit: Dreh- und Baugenehmigungen sind kostenlos. Selbst die Armeeführung ist engagiert und kom- mandiert Soldaten samt Jeeps und Ma- schinengewehren für Filmaufnahmen ab. Das Land profitiert zurzeit vor allem von der neuen Lust an monumentalen Historien-Spektakeln. Längst lassen die

RUDDIES / FACE TO FACE TO RUDDIES / FACE TV-Sender lieber selbst produzieren, als Dreharbeiten in Marokko für den Action-Film „Kreuzritter“: Jerusalem im Nirgendwo die Rechte an teuren Kinofilmen zu er- werben, denn die gibt es zumeist nur im Art maghrebinisches Hollywood. Pro Jahr Paket mit drittklassiger Ware. Die meisten TV-PRODUKTIONEN fallen mittlerweile bis zu zehn Produk- der aufwendig gemachten Fernsehfilme tionsteams ein. erreichen traumhafte Quoten – und das, Profit Auslöser für den Boom war die deut- obwohl sie uralte Geschichten erzählen. sche Kirch-Gruppe, die gerade in dem So erzielten auch „Arche Noah“ und nachgebauten Jerusalem den historischen „Cleopatra“, beide von Robert Halmis mit Jesus Action-Zweiteiler „Die Kreuzritter“ abge- Hallmark Entertainment produziert, 1999 dreht hat. Von Frühjahr 1993 an ließ der und 2000 in Deutschland zwischen 19 und Das Billiglohnland Marokko fromme Katholik Leo Kirch hier mit der 29 Prozent Marktanteil. Verfilmung der Bibel eines seiner Lieb- Der Kölner Sender RTL, der beide TV- hat sich zu einem beliebten Drehort lingsprojekte verwirklichen. Die auf 21 Epi- Filme koproduzierte und den Vertrag mit entwickelt – und profitiert soden angelegte, in 34 Länder verkaufte dem Amerikaner bis Ende 2003 verlän- vom neuen Interesse an History- Mammut-Reihe (die Folgen 19 und 20 wer- gert hat, glaubt an die Kraft des Bekann- Spektakeln mit Orient-Flair. den Ostern in der ARD ausgestrahlt*) ent- ten: „Der Erfolg liegt daran, dass die stand vornehmlich in Ouarzazate. Die Geschichten eben nicht neu sind“, so in lauter Knall, und in der Nähe des Kirch-Leute hatten sich Marokko ausge- RTL-Sprecherin Anke Eickmeyer, „die Jaffa-Tors steigt dichter schwarzer sucht, weil die archaische Landschaft, die Zuschauer kennen die Mythen zwar, aber EQualm in den Himmel. Die Altstadt noch anmutet wie vor 2000 Jahren, ins nicht gut genug. Darum schalten sie ein.“ von Jerusalem erlebt mal wieder einen Konzept passte. Da Strommasten und an- Der finanzielle Rahmen der Fernsehfil- verheerenden Terroranschlag. dere Zivilisationsspuren fehlen, sind noch me ist natürlich enger als der von Kino- Doch das Bild trügt. Weder haben isla- ungehinderte Schwenks mit der Kamera produktionen. So standen Robert Halmi, mische Extremisten eine Bombe gezündet, möglich. dem weltweit größten unabhängigen Pro- noch sind jüdische Eiferer schuld am Tu- Rund 400 Millionen Mark haben die duzenten von TV-Movies (SPIEGEL mult. Stattdessen hat ein Filmteam die Ex- bisherigen Marokko-Produktionen von 47/1999), vergleichsweise bescheidene 30 plosion fabriziert. Und auch der Tatort ist Kirch gekostet. „Davon blieben rund 60 Millionen Dollar für den pompösen Zwei- eine Täuschung. Das Jaffa-Tor steht nicht Prozent im Land“, so ein Mitarbeiter. teiler „Cleopatra“ zur Verfügung. Der Un- im Heiligen Land, sondern auf einem Hü- Vor allem die niedrigen Löhne ziehen ternehmer ließ in Marokko drehen und gel im marokkanischen Nirgendwo. die Filmleute an: Für rund 25 Mark am Tag hatte so nicht nur genügend Geld, um das Der nordafrikanische Staat hat sich in sind Einheimische bereit, zwölf Stunden alte Rom wieder aufzubauen und 20000 den letzten fünf Jahren zum Lieblings- bei sengender Sonne als Statist zu arbeiten. Statisten aufmarschieren zu lassen, son- spielplatz für Filmschaffende entwickelt. In Europa oder den USA bekommen Kom- dern konnte auch noch halbwegs bekann- Das Städtchen Ouarzazate am Fuß des At- parsen dagegen bis zu 300 Mark pro Tag. te Schauspieler wie Ex-Bond-Darsteller las-Gebirges gilt inzwischen gar als eine Auch die Arbeit von Technikern und Timothy Dalton bezahlen. Kulissenbauern, Handwerkern und Kos- Doch der Boom könnte ebenso schnell * „Paulus“, Teil 1: 13. April, 18.40 Uhr; Teil 2: 16. April, tümschneidern ist in Marokko bis zu zehn- wieder beendet sein, wie er begonnen hat. 18.28 Uhr. mal günstiger. Ein weiterer Vorteil: Die „Wird es irgendwann doch teurer“, schil- Kulissen müssen nach Drehschluss nicht dert Produktionsleiter Roberto Giussani einmal abgebaut werden – nervende Na- achselzuckend die Branchenpolitik, „zieht turschützer und klagefreudige Land- die Karawane eben weiter.“ schaftsfreunde gibt es unter den 40 000 Dass dieses Schicksal seinem Land wi- Bewohnern Ouarzazates nicht. derfahren könnte, mag Mohamed Asli Für sein Land, so glaubt der Unterneh- nicht glauben. Und wenn es doch mal so mer Mohamed Asli, sei das Filmgeschäft kommt? Der Geschäftsmann lacht und

DEFD inzwischen „wichtiger als der Tourismus“. zeigt auf das falsche Jerusalem auf dem Hügel: „Dann bringen wir eben die Touris- Kirch-Produktion „Paulus“ ten hierher, und aus Ouarzazate wird ein Archaische Landschaft wie vor 2000 Jahren gigantischer Freizeitpark.“ Fenja Mens

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Lamas investieren, aber trotzdem europäi- folgsproduktionen wie „Der König der KINDERFILM scher Rekord. Löwen“ und „Antz“ waren Fabeln über Tatsächlich ist „Hilfe! Ich bin ein Fisch“ Größenwahn und Totalitarismus. Wie Hit- Tyrannei nur schwer von einem Werk der US-Kon- ler im Dritten Reich, so lassen auch die kurrenz zu unterscheiden. Die Figuren sind Tierreich-Diktatoren ihre bedrohlichen Ar- niedlich und großäugig, die Handlung wird meen aufmarschieren. Ob Hyänenrudel, in der Tiefsee durch Lieder unterbrochen (auf Deutsch Ameisentruppen oder Krabbenheer – die gesungen von der dänischen Teenie-Band Ästhetik erinnert an Bilder aus der deut- Kinder werden zu Meerestieren Little Trees), und die Geschichte hat ein so schen Wochenschau. simples wie universales und archaisches Bezahlbar sind solche Massenszenen im und besiegen das Böse: Der clever- Thema: David gegen Goliath. Trickfilm erst, seit es die digitale Animation charmante deutsche Trickfilm Der tatendurstige Fly schleift seine klei- gibt. Die Tiersoldaten müssen also nicht „Hilfe! Ich bin ein Fisch“ tritt gegen ne Schwester Stella und seinen dicklichen mehr einzeln gezeichnet werden, sondern die US-Konkurrenz an. Cousin Chuck zum Angeln ans Meer. Die werden einfach kopiert. „Früher mussten drei werden von der Flut überrascht, fallen wir Aufmärsche mit akustischen Mitteln ie globale Erwärmung sei ein sehr aber durch eine Geheimtür in eine Fels- suggerieren“, sagt der Münchner „Hilfe! komplexes Thema, behaupten die höhle. Dort entdecken sie auf einem Schiff Ich bin ein Fisch“-Produzent Eberhard DKlimaforscher immer. Was da mit das Labor des konfus-genialen Professors Junkersdorf, 58, „heute können wir sie was zusammenhinge, Abgase und Kühl- Mac Krill. Als der einen Vortrag über die endlich zeigen.“ Allerdings sind die meis- schränke mit zu heißen Sommern oder zu Klimaerwärmung hält, nimmt Stella einen ten Szenen immer noch von Hand ge- lauen Wintern, das sei nur Spekulation. Schluck aus dem Zaubertrank – und wird, zeichnet, und zwar von deutscher, däni- Alles falsch. Im Labor von Professor Mac nomen est omen, zum Seesternchen. Ver- scher, irischer und thailändischer. Krill steht ein Modell der Klimaerwärmung: sehentlich wirft Fly seine geschrumpfte und Produziert wurde der Film auf Englisch und damit für den internationalen Markt. Nach Frankreich, Italien und Südamerika ist die Fisch-Fabel schon verkauft, mit drei US-Verleihern verhandelt Junkersdorf der- zeit. In Dänemark sahen eine halbe Million Menschen „Hilfe! Ich bin ein Fisch“, was bei fünf Millionen Einwohnern ein echter Erfolg ist. Die Zeiten für Zeichentrick sind auch in Deutschland günstig. Alle Großproduk- tionen wie „Werner“, „Das kleine Arsch- loch“ oder der ebenfalls von Junkersdorf produzierte Bremer Stadtmusikantenfilm „Die furchtlosen Vier“ waren in den ver- gangenen Jahren Publikumserfolge – wes- halb seit Dezember 1999 die Fondsgesell- schaft „Berlin Animation Film“ Gelder bei Privatanlegern einsammelt und in hoffnungsvolle Ani- mationsprojekte investiert. In diesem Januar gab es das Animationsfilm „Hilfe! Ich bin ein Fisch“: Intelligenz per Zaubertrank nächste Zeichentrickwun- der: Während deutsche Oben auf der Weltkugel sitzen Pinguine verformte Schwester ins Real-Kinofilme wie „Mar- auf Eiswürfeln. Die schmelzen ihnen unter Meer und muss dann selbst lene“ oder „Gripsholm“ im den Hintern weg, das Wasser rauscht am zum Fisch werden, um sie vergangenen Jahr spekta- Globus hinab in einen Glaskasten. Dort ist zu retten. Auch der dicke kulär gefloppt waren, wur- eine Insel aufgebaut, die langsam unter Chuck verwandelt sich in de die Zeichentrickpro- den steigenden Fluten versinkt. ein Meerestier: in eine duktion „Pettersson und Doch der Professor hat zum Glück eine Qualle, natürlich. Findus“ mit bisher 1,1 Lösung für die globale Katastrophe gefun- Leider ist auch das Ge- Millionen Kinobesuchern den: ein Mittel, das Menschen in Fische gengift in der Tiefsee ver- zum Hit. verwandelt. So einfach ist die Sache – im sunken, wo der Lotsenfisch Trickhelden Stella, Fly „Hilfe! Ich bin ein Fisch“ Zeichentrick jedenfalls. Joe es zufällig in sich hin- Niedlich im Disney-Stil hat gute Aussichten, die Er- Der in dieser Woche mit knapp 500 Ko- einschlürft. Joe stöhnt und folgsgeschichte deutscher pien startende Film „Hilfe! Ich bin ein ächzt, und, plopp, gibt ihm die Krillsche Er- Animationsproduktionen fortzuschreiben: Fisch“ weist nicht nur der Wissenschaft findung Sprache und Intelligenz. Genug ist die richtige Geschichte zur richtigen Zeit, neue Wege. Auch die europäische Anima- es mit dem Sklavenleben, beschließt Joe – und, wie in den US-Trickfilmen, der rich- tionsindustrie betritt eine unbekannte und errichtet mit Hilfe des zum Diener de- tige Schluss, ein Happy End nämlich. Dimension: Sie will nun endgültig den gradierten Hais, dem er früher noch die Die Botschaft sei, sagt der Produzent Hollywood-Produktionen von Disney, Zähne putzte, ein totalitäres Regime. Am Junkersdorf, „dass die Macht des Bösen Warner und Dreamworks Konkurrenz ma- Ende müssen Fly, Chuck und Stella erst nicht ewig dauert, sondern auch gebrochen chen. 27 Millionen Mark hat die deutsch- den Fisch-Faschismus besiegen, um end- werden kann“. dänisch-irische Produktion gekostet. Das lich wieder Menschen zu werden. Das gilt wohl auch für die nicht ganz ist zwar nur ein Sechstel dessen, was Schon der George-Orwell-Klassiker so böse Vorherrschaft der Hollywood- US-Studios in Löwenkönige und königliche „Farm der Tiere“, aber auch neuere US-Er- Studios. Marianne Wellershoff

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BASKETBALL U-Boot mit guten Manieren Erstmals seit elf Jahren haben sich die Dallas Mavericks für die Play-offs qualifiziert. Und nicht nur die Fans wissen, wem sie diesen Erfolg zu verdanken haben: Dirk Nowitzki aus Würzburg. Amerika hat viel vor mit dem Wunderknaben, der so vorbildlich normal ist. o andere nach tief schürfenden in Amerika Basketball gespielt hat. „Ger- Erklärungen suchen, zieht der man submarine“, deutsches U-Boot, hat WAmerikaner eine Statistik hervor. ihn Marc Stein getauft, denn „wo Nowitz- „38 Punkte sind 38 Punkte.“ Widerworte ki auftaucht, wird es gefährlich“. zwecklos. Marc Stein, Sportreporter bei den Der Blonde aus der Alten Welt ist so „Dallas Morning News“, sitzt an seinem treffsicher, dass er ein Spiel in zwei Minu- Arbeitsplatz in der Reunion Arena auf ten allein entscheiden kann. Ihm ist es zu einem schwarzen Drehstuhl. Er hat die verdanken, dass sich die Dallas Mavericks Hände hinter dem Kopf verschränkt und zum ersten Mal seit elf Jahren wieder für grinst in seinen Laptop. die Play-offs qualifiziert haben, die am Stein, 32, hat die Datei „Player Profile 21. April beginnen. Und ihm ist es auch zu Nowitzki“ aufgerufen. Auf dem Bildschirm verdanken, dass der Verein prosperiert wie erscheint eine Tabelle mit grünen Zahlen, nie zuvor. Die Mavericks verkaufen dop- dem Arbeitsnachweis des Basketballprofis pelt so viele Tickets wie in der vergange- Dirk Nowitzki. „Dieser Kerl macht pro Spiel nen Saison, sie erreichen doppelt so hohe durchschnittlich 22 Punkte. Das ist un- Einschaltquoten und erzielen doppelt so glaublich. Gegen Orlando waren es 38. Das hohe Fernsehgelder. ist sensationell.“ Seit sieben Jahren schreibt Nowitzki hat die Mavericks zu dem ge- Stein über die National Basketball Associa- macht, was sie sind. Aber Dallas bot auch tion (NBA), und so wie heute hockt er bei jedem Heimspiel der Dallas Mavericks direkt am Spielfeldrand. Sein Pult steht ganz rechts, auf einer Linie mit dem Korb. Von dort aus hat er beobachtet, wie Michael Jor- dan seine Gegner umkurvte wie Sla- lomstangen. Er hat Kobe Bryant be- staunt. Shaquille O’Neal. So einen wie Nowitzki aber hat er noch nie gesehen. „Er ist 2,11 Meter groß und kann alles: dribbeln, passen, werfen. Er ist ein Wunderkind.“ Als der hoch gelobte Deutsche fünf Minuten später die ausver- Profi Nowitzki (r., gegen Orlando Magic): kaufte Halle betritt, um sich für das Match gegen die Golden State War- den Nährboden, auf dem er zu dem riors aufzuwärmen, rollen vier Män- wachsen konnte, was er ist. Denn ner mit Cowboyhüten, die sich auf als Nowitzki im Januar 1999 in ihre nackten Oberkörper die Buch- der texanischen Metropole seinen staben D, I, R, K gemalt haben, auf Dienst antrat, kam er in eine Stadt der Tribüne ein Transparent aus: der Versager. Die Mavericks waren „You are the greatest!“ ein lausiger Club, der öfter verlor Nowitzki, 22, ist der Fleisch ge- als gewann und ungefähr so viel wordene Superlativ. Kein Neuling Glamour besaß wie der VfL Bo- hat die Liga so schnell erstürmt wie chum. Zu ihren Auftritten verirrten der Schlaks aus Würzburg. Schon sich meist nur 5000 Zuschauer, von

jetzt, in seiner dritten Saison, gilt er DPA denen die Hälfte weit vor Schluss als der beste Ausländer, der jemals Nowitzki-Fans in Dallas: „You are the greatest“ wieder ging.

248 der spiegel 15/2001 so akribisch geplant wie eine Invasion. pie hinter sich. „Eigentlich müsste ich mei- Geschwindner, 55, ist ein angriffslustiger nen Job aufgeben“, sagt er, „aber ich will Mann, dessen Sprache keine Kompromis- mit Dirk noch viele Siege feiern. Er wird se kennt. Am Tag nach dem Spiel gegen die von Tag zu Tag besser. Niemand kann ihn Warriors wacht er im Tom Landry Sports stoppen.“ & Recreation Center, der Trainingsstätte Nelson spürte den Deutschen im März der Dallas Mavericks, über seinen Schütz- 1998 in San Antonio auf. Nowitzki spielte, ling, der ein paar Freiwürfe übt. Die beiden so war das mit Geschwindner besprochen, haben sich in Schweinfurt kennen gelernt. in einer internationalen Juniorenauswahl Nowitzki war 16, spindeldürr und spiel- gegen die besten Nachwuchsspieler der te für DJK Würzburg. „Ich habe sofort USA. Er machte 33 Punkte und holte 14 gesehen, dass Dirk Talent hat“, sagt Rebounds. „Er war der beste 19-Jährige, Geschwindner. den ich in meinem Leben je gesehen Er wurde Nowitzkis Privatcoach und habe“, sagt Nelson. Er holte den Abitu- prägte seinem Schüler ein: „Entweder du rienten nach Dallas. trainierst vernünftig, gehst nach Amiland Nowitzki war am Ziel. Doch die Ausle- und mischst die NBA auf, oder du machst se in der NBA ist gnadenlos. Nur die Hälf- weiter wie bisher und wirst nur ein guter Bundesligaspieler.“ In täglichen Sonderschichten ver- passte Geschwindner, der in Bam- berg eine Firma für Projektmana- gement besitzt, dem Hochbegabten den nötigen Feinschliff. „Ich hatte einen hybriden Plan“, erzählt er. Spätestens in fünf Jahren sollte No- witzki reif sein für den härtesten Sportbetrieb der Welt. „Es war nie eine Frage für mich, ob Dirk es schafft.“ Wenn Geschwindner über No- witzki redet, klingt er manchmal wie ein verliebter Teenager. Es scheint, als projiziere er, der selbst

nur kurz in Australien als Profi ge- DPA spielt hat, seinen Traum vom NBA- Medienliebling Nowitzki: „Bescheiden und nett“ Profi auf Nowitzki. Geschwindner spielt im Leben des Em- te der jährlich 58 Debütanten halten sich porkömmlings eine ähnliche Rolle wie länger als ein Jahr in dieser Liga. Keiner, Günther Bosch in dem von Boris Becker. der einmal durchgefallen ist, erhält eine Nur hat Nowitzki, anders als der frühere zweite Chance. Tennisprofi, nicht die Nabelschnur zu sei- Nelson hätte eine Menge Gründe ge- nem Mentor durchtrennt. habt, Nowitzki abzuschieben. Die erste Sai- Noch heute prüft Geschwindner jede son lief bescheiden. Doch der Coach folg- Anfrage und jedes Angebot. Die beiden te seinem Instinkt: „Ich wusste: Ein Junge telefonieren fast täglich, bis zu zwei Stun- mit diesem Talent, der so bereitwillig an den. Dabei geht es auch um ganz profane sich arbeitet, kann nur gut werden.“ Dinge. Wenn Nowitzki zum Beispiel nicht Das Vertrauen wurde belohnt. In der weiß, ob er als Profi Alkohol trinken darf, zweiten Saison hatte sich Nowitzki an die rät ihm Geschwindner, sich „mal richtig schnelle, aggressive Spielweise gewöhnt. einen zu löten“. Am nächsten Tag werde er Er erzielte durchschnittlich 17,5 Punkte. ja sehen, wie fit er sei. Detlef Schrempf, der dreimalige NBA-All- Auch für sportliche Belange ist der Ver- star aus Leverkusen, brauchte acht Jahre,

L. MURDOCH / NBA PHOTOS trauensmann zuständig. Wenn Nowitzki um es auf 19,1 Punkte zu bringen. „Er kann alles: dribbeln, passen, werfen“ in einem Formtief steckt, setzt er sich ins Seit die Mavericks mit Nowitzki auf Er- nächste Flugzeug, um ihm persönlich aus folgskurs liegen, steigt bei Heimspielen wie Nowitzki war in Amerika ein Niemand, der Krise zu helfen. Sie gehen dann spät- gegen die Los Angeles Clippers eine gran- bevor er nach Dallas umsiedelte, aber in abends in die Halle und feilen an der diose Party. Bei der Präsentation der einem Team ohne Stars spielte das keine Wurftechnik, bis die Trefferquote wieder Mannschaft läuft Nowitzki als Zweiter auf Rolle. Der Trainer schickte ihn gleich in stimmt. das Feld. Lichtkegel zucken durch das Dun- der ersten Saison für durchschnittlich 20 Dass Nowitzki offenbar einen „Baby- kel der Arena, die Fans kreischen hys- Minuten aufs Parkett – bei einem besseren sitter“ braucht, wie Geschwindner in Dal- terisch. Das Volk feiert seinen Erlöser. Club hätte er niemals so viel Spielpraxis las genannt wird, ist kein Problem. Am Kurz vor dem Anpfiff nimmt Mark Cu- bekommen. wenigsten für Don Nelson. Der Coach ban, der Besitzer des Clubs, auf der Spie- Zufall? Oder glückliche Umstände? Hol- der Mavericks gibt nach dem Training eine lerbank Platz. Der Turnschuhträger hat, ger Geschwindner weist das zurück. Der Pressekonferenz. Er trägt Anzug und Wan- als an der Nasdaq noch die Bullen regier- ehemalige Kapitän der deutschen Bas- derstiefel, um den Hals baumelt eine ro- ten, seine Firma Broadcast.com für 5,7 Mil- ketballnationalmannschaft hat Nowitzki te Muschelkette. Nelson, 60, leidet an liarden Dollar an Yahoo verkauft. Dann, entdeckt und den Aufstieg des Jungen Prostatakrebs und hat gerade eine Thera- vor gut einem Jahr, erwarb er für 280 Mil-

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genug von selbstsüchtigen NBA-Stars, die mit Diamantringen protzen oder wegen Drogenbesitzes festgenommen werden. Der Zeitgeist, sagt Messick, verlange nach zurückhaltenden Typen wie dem Golfer Tiger Woods. Frische, unprätentiöse Hel- den müssen her. Für Messick ist Nowitzki „der Junge von nebenan – freundlich, bescheiden und nett“. Und er ist ein Weißer, was sicher dem Geschäftsgang dient, auch wenn der NBA-Stratege es nicht zugeben mag. „Dirk muss nur rausgehen und gut Basketball spielen“, sagt Messick, „den Rest macht die NBA mit ihrem Marketingapparat.“ Nach dem Spiel gegen die Clippers wird Nowitzki vor seinem Spind von Reportern umzingelt. Er trägt einen weißen Bade- mantel und Schlappen, während sich seine Kollegen splitternackt am Büfett bedienen. Nach den Interviews wirft er sich in Jeans und Sweatshirt. Die übrigen Spieler tragen Designermode; schwarze Anzüge, unifar- bene T-Shirts, Lackschuhe. „Nicht mein Stil“, sagt Nowitzki und verschwindet.

AP Nowitzki lebt in einem Paralleluniver- Mavericks-Besitzer Cuban: „Mit Dallas wird Dirk zum Megastar“ sum voller Egozentriker. Es ist eine frem- de Welt für ihn, und sie wird ihm wohl im- lionen Dollar die Dallas Mavericks. Deren Spiel mehr ist. So wie Nowitzki mit der mer fremd bleiben. Er wohnt zur Miete in Profis verhätschelt er, als wären sie seine NBA die Menschen in den Vereinigten einem Apartment mit zwei Zimmern und Kinder. Nowitzki hat es ihm dabei beson- Staaten erobert hat, will die NBA mit No- großem Fernsehsessel. Putzt selbst, wäscht ders angetan. witzki die Menschen in Deutschland ein- selbst und sieht keinen Grund, das zu „Ich mag Dirk, ich bewundere seine Pro- fangen. Als eine Art Vorzeigeathlet soll er ändern. fessionalität“, sagt Cuban, 42. „Er ist unser den Markt erschließen; seit kurzem kann Mit Freundin Sibylle, die ihn regelmäßig Juwel, unsere Zukunft.“ Daher hat er ihm man in deutschen Sportgeschäften seine mit Weingummis versorgt, führt er eine einen Rentenvertrag in Aussicht gestellt: Trikots kaufen. stabile Fernbeziehung – was in der NBA, in „Dirk kann so lange bleiben, wie er will. der statistisch jeder Spieler ein uneheli- Am Geld soll es nicht liegen.“ ches Kind gezeugt hat, ein eher unge- Derzeit kassiert Nowitzki 1,7 Millionen wöhnlicher Zustand ist. 10 Werbetermine Dollar pro Saison, demnächst werden es schreibt die NBA Nowitzki jährlich vor, vermutlich 11 Millionen sein. aber er macht natürlich mindestens 15. Er Cuban tut alles, damit Nowitzki Spaß besucht ein Kinderkrankenhaus, und es ist hat bei der Arbeit. Der Patron hat das für ihn keine lästige Pflichterfüllung: Team verstärkt und in der Umkleidekabi- „Wenn ich helfen kann, Basketball zu pro- ne jeden Spind mit DVD-Player und Sony moten, bin ich dabei.“ Playstation ausgerüstet. Kommende Sai- Wenn es darum geht, sich selbst zu pro- son zelebrieren die Mavericks ihre Heim- moten, ist er nie dabei. „Ich bin von Natur spiele in einer neuen Hightech-Arena. aus schüchtern“, sagt er. American Way of J. VINNIK / NBA MAVERICKS J. Zu den Auswärtsbegegnungen reisen sie R. ECKERT Life? „Kenne ich gar nicht.“ Sein Leben dann in einem Privatjet inklusive Satelli- Manager Geschwindner, Trainer Nelson sind die 48 Spielminuten, die 82 Vorrun- tenfernsehen, Fitness-Studio und Duschen. „Mal richtig einen löten“ denspiele in sechseinhalb Monaten und „Mit Dallas wird Dirk zum Megastar“, sagt 60000 Kilometer im Flugzeug. Cuban. Der Mann, der die Expansion steuert, Amerika ist für Nowitzki ein Land, in Nowitzki ist nämlich der richtige Mann sitzt im 19. Stock des Olympic Tower an der dem er arbeitet. Wenn er vor dem Spiel die zur richtigen Zeit. Auf einen Ausländer mit Fifth Avenue in New York. Andrew Mes- US-Hymne hört, empfindet er nichts. Er guten Manieren haben die NBA-Macher sick ist Senior Vice President International hat wenig Freunde, und in den paar deut- bloß gewartet. der NBA, zuständig für die Auslandsver- schen Restaurants, die es in Dallas gibt, ist Denn in Amerika ist das Unternehmen, tretungen des Sportkonzerns, also „für die das Essen von ausbaufähiger Qualität. So- das jährlich zwei Milliarden Dollar umsetzt, Globalisierung“. bald die Dallas Mavericks aus den Play- an seine Grenzen gestoßen. Die Fernseh- Der Manager mit Einstecktuch sieht in offs ausgeschieden sind, wird der Franke rechte sind meistbietend verkauft, und je- Nowitzki einen Modellfall. „Wir träumen die Koffer packen, heim nach Würzburg der Fan ist ausreichend mit T-Shirts und davon“, sagt er, „eines Tages bei den Olym- fliegen. Mützen ausstaffiert. Deshalb werden die pischen Spielen in jedem Nationalteam Für Marc Stein von den „Dallas Mor- Spiele inzwischen in 206 Länder übertra- fünf NBA-Profis zu haben.“ Da ist es nur ning News“ brechen dann harte Zeiten an. gen, und in 15 Büros auf der ganzen Welt konsequent, dass vorigen Donnerstag mit Er ist normalerweise Nowitzkis Schatten- kümmern sich Marketingexperten um den Wang Zhizhi erstmals ein Chinese in der mann; wo Dirk ist, ist er auch. Kürzlich Außenhandel. amerikanischen Profiliga gespielt hat. hat sich der Deutsche die blonden Haare Für sie ist Nowitzki der lebende Beweis, Aber auch für den Inlandsmarkt kommt stutzen lassen. Stein war das eine Schlag- dass Basketball kein uramerikanisches Nowitzki wie gerufen. Das Publikum hat zeile wert. Maik Großekathöfer

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Werbeseite bald nicht mehr geben – der französische Mischkonzern Vi- vendi, so heißt es in der Bran- che, prüft derzeit, ob er die ab- gehalfterte Nobelfirma in sein Im- perium eingliedert. Der Niedergang von ISL ist einzigartig in diesem Geschäft. Denn erstens machen eine Men- ge großer und kleiner Unterneh- men vor, wie mit der prosperie- renden Unterhaltungsware Sport gutes Geld zu verdienen ist. Und zweitens erstaunt, dass ausge- rechnet ein Pionier des Gewerbes ins Schleudern gerät, der sich stets auf sein fein gesponnenes Netzwerk zu den Wichtigen des Weltsports verlassen konnte. Es war Adidas-Juniorchef Horst Dassler, der Anfang der achtziger Jahre erkannte, wie viel

METELMANN Potenzial in den großen Sport- ISL-Geschäftsfeld Tennis (am Hamburger Rothenbaum): „Zwei Kilometer hinter dem Wahnsinn“ Events steckt. Und weil er zu den Fürsten des Weltfußballverban- des (Fifa) und des Internationalen Olym- MARKETING pischen Komitees (IOC) schon immer bes- te Beziehungen gepflegt hatte, bekam sei- ne 1982 gegründete Agentur ISL das Recht, Easy Rider in Nadelstreifen Fußball-Weltmeisterschaften und Olympi- sche Spiele zu vermarkten. Vier Jahre spä- Mit milliardenschweren Investitionen wollte der Sportvermarkter ter, beim WM-Turnier in Mexiko, machte der clevere Franke aus 54 Millionen Mark ISL den weltweiten Rechtehandel beherrschen. Nun stehen Einsatz 240 Millionen Mark Erlös. die Dassler-Erben vor den Trümmern ihres Expansionsdrangs. Vor allem IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hofierte Dassler nach Kräften. uf der Harley-Davidson, die durch vor mit dem Ziel, das auf die Vermarktung Wie einem Naturgesetz folgend durfte ISL das Nobelhotel am Zürcher Flug- von Fußball-Welt- und Europameister- lange Zeit die Marketingagentur des IOC Ahafen röhrte und nach einer Runde schaften spezialisierte Unternehmen „auf sein. Und als der Adidas-Patron 1984 mit um die Tische im Konferenzraum zum Ste- eine breitere Basis zu stellen“. Wunsch- dem Olympischen Orden dekoriert wur- hen kam, saß ein Mann im feinen Zwirn: gemäß kaufte die ISL ein, was der Sport- de, pilgerte Samaranch mit seinem Gefol- Heinz P. Schurtenberger, der Boss des rechtemarkt so hergab. ge ehrerbietig nach Herzogenaurach. Schweizer Sportvermarkters ISL. Sie hat sich übernommen. Am vorver- Nach Dasslers Tod 1987 franste das Be- Dass er gut drauf war an diesem No- gangenen Mittwoch beantragte die Hol- ziehungsgeflecht jedoch aus. Zudem re- vembertag 1998, bewies auch seine Rede ding ISMM, die 90 Prozent der Anteile an gierte die sechsköpfige Erbengemeinschaft vor 20 Führungskräften. „You are leaders der ISL Worldwide hält, beim Zuger Kan- dem ISL-Management immer stärker in die of the pack“, hieß der Easy Rider in Na- tonsgericht den Aufschub eines Konkurs- Geschäfte hinein. Peu à peu suchten die delstreifen seine erstaunten Angestellten verfahrens für drei Monate – bis Ende vo- Top-Leute das Weite. Prompt kamen die willkommen – und überreichte jedem eine riger Woche mochte der zuständige Rich- IOC-Weisen auf die Idee, die lukrativen Skulptur, die, passend zur Ansprache, ei- ter dem Begehren nicht zustimmen. Deals mit den Sponsoren im Alleingang nen Leitwolf darstellte. Und selbst wenn die Pleite noch abge- abzuwickeln – ISL hatte 1996 ausgedient. Schurtenbergers energischer Auftritt wendet werden sollte: Die ISMM-Gruppe, Spätestens jetzt wurde dem Dassler-Clan passte zum Programm. Angetreten war der die mit etwa 320 Millionen Mark verschul- die Abhängigkeit bewusst. Er beschloss ehemalige Mövenpick-Manager im Jahr zu- det sein soll, wird es in dieser Form schon eine umfangreiche Diversifikation – mit der Absicht, das Unternehmen fit zu ma- chen für einen Börsengang. Die massive ISL Worldwide Expansionspolitik, teilweise auf Pump fi- Zug/Schweiz nanziert, erreichte absurde Dimensionen. Die Bilanzsumme schwoll allein innerhalb Sportrechteverwertung der letzten drei Jahre von etwa 500 Millio- in Fußball, Tennis, Motorsport, nen auf knapp 9 Milliarden Mark an. Zah- Basketball, Leichtathletik, Schwimmen len, zu denen sich die ISMM-Gruppe nicht äußern will. 90% 10% So gönnte sich die Firma für 2,5 Milliar- ISMM Dentsu den Mark die Sponsoren- und außer- Dassler-Erben- japanischer europäischen TV-Rechte – mit Ausnahme

gemeinschaft Medien- DPA (6 Personen) Konzern Firmengründer Dassler (r.)* * Bei der Verleihung des Olympischen Ordens durch IOC- Fein gesponnenes Netzwerk Präsident Juan Antonio Samaranch am 19. Oktober 1984.

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Ehemalige Mitarbeiter berichten von „Zuständen wie in einer Klitsche“. So soll die Finanzabteilung im ISL-Haupt- quartier nicht immer durchgeblickt haben, welche Rechte für wie viel Geld die Nie- derlassungen auf vier Kontinenten eigent- lich verkauft hatten – Außenstände wegen nicht ausgestellter Rechnungen summier- ten sich so schon mal auf mehrere Millio- nen Mark. Für Verwirrung im Umgang mit den großen Zahlen sorgten gelegentlich die Währungen. Bei Meetings mit der Ge- schäftsleitung in der Schweiz war den an- gereisten Rechtehändlern oft nicht klar: Re- ferierte der Vorstand in Dollar, in Schwei- zer Franken oder in Deutscher Mark? Nun stehen die Dassler-Erben vor den Trümmern ihres Geschäftsgebarens – und längst führen die Banken, wie ein Ex-Ma- nager anmerkt, „im Headquarter in Zug ein strenges Regiment“.

ALLSPORT / ACTION PRESS / ACTION ALLSPORT Für die ersten drei Monate dieses Jahres Cart-Rennen (in Michigan): „Politische Preise“ konnte die ISMM-Gruppe bei ihren Gläu- bigern, einem Konsortium von elf Kredit- der USA – an den Fußball-Weltmeister- Das galt wohl auch für den Einstieg in instituten, angeblich noch eine Zinsstun- schaften 2002 und 2006. Zudem stieg ISL für den brasilianischen Vereinsfußball – denn dung durchsetzen. Das Unternehmen, das zehn Jahre dick in die Vermarktung des auch dort klotzte ISL. Das Investment seinen führenden Rechtehändlern – nicht Männertennis ein. Der Preis: 1,2 Milliarden in die zwei Spitzenclubs Grémio Porto Ale- wenige von ihnen sind um die 30 Jahre alt Dollar bis zum Jahr 2009 für neun ATP- gre und Flamengo Rio de Janeiro war in – Jahreseinkommen in Millionenhöhe zu- Top-Turniere und die Weltmeisterschaft. der Startphase auf mehr als 100 Millionen sichert, geriet bisweilen mit seinen Ge- Die Höhe dieses Betrags ist um so über- Dollar pro Jahr kalkuliert. Laufzeit der haltszahlungen in Verzug. Die ISMM- raschender, weil der letzte mitbietende Verträge: bis 2015. Die ISMM will diese Gruppe weist diese Darstellung zurück. Konkurrent bei rund 600 Millionen Dollar Angaben nicht bestätigen. Ende März lief nun die Schonfrist bei ausgestiegen war. „Ohne Not“, so ein Die Spekulationsblase platzte, nachdem den Banken ab – und die Probleme spitzen Branchenkenner, ließ sich ISL-Boss Schur- im Juni 2000 die tiefroten Zahlen des Ten- sich zu. Die Profitennis-Organisation ATP tenberger auf die doppelte Summe hoch- nis-Deals ruchbar wurden. Die ISL-Bosse zögert, in eine Vertragsauflösung einzu- handeln – und akzeptierte zusätzlich eine erstatteten dem Verwaltungsrat Rapport willigen, weil sie auf bessere Konditionen Bankgarantie über 120 Millionen Dollar für über ein Minus von mehr als 100 Millionen bei einem Verkauf von ISL spekuliert. Und den Fall, dass der Sportvermarkter vorzei- Mark, das sie aus der Rechteverwertung mit der US-Rennserie droht gar ein lang- tig aus dem Vertrag ausstiege. im Geschäftsjahr 2000 erwarteten. wieriger Rechtsstreit. Die einseitige Kün- Der Poker stieß intern auf heftigen Wi- In der Folge brachen alle Dämme. digung des Kontraktes durch ISL Ende Fe- derstand. So kursierte in der Chefetage der Schurtenberger verließ die Firma, sein Kol- bruar, verbunden mit einer Klage über 150 ISL-Zentrale ein Memorandum, lege Daniel Beauvois rückte Millionen Dollar wegen wiederholten Ver- in dem Mitarbeiter vor dem Ab- zum alleinigen Geschäftsführer tragsbruchs, haben die Cart-Manager mit schluss des Geschäfts warnten. auf. Der Börsengang wurde einer Schadensersatzklage über 100 Mil- Der Kontrakt liege „zwei Kilo- abgeblasen. Dabei hatte das lionen Dollar vor einem Gericht in Oak- meter hinter dem Wahnsinn“. Schweizer Bankhaus UBS War- land (Michigan) gekontert. Selbst dem abgezockten Ion burg das Unternehmen fast ein Die Luft wird immer dünner. Bei einer Tiriac schien der Deal peinlich. Jahr lang geprüft und den Wert Sitzung am 20. März, die nach Auskunft Der rumänische Tycoon, der die von ISL auf etwa zwei Milliar- eines Beteiligten „sehr turbulent“ gewe- Tennisvereinigung ATP vertrat, den Schweizer Franken taxiert sen sein soll, wurde der Gang zum Kan- rief nach dem Abschluss einen – Mitarbeiter befassten sich gar tonsgericht geebnet. Nun klammert sich ISL-Manager an und rechtfer- schon mit einer Road Show für die havarierte ISMM an Verhandlungen tigte sich für die groteske Sum- potenzielle Investoren. mit einem „finanzstarken Partner“, der die

me: „Was hätte ich machen sol- BONGARTS Auch die beabsichtigte Aus- Mehrheit der Anteile übernehmen soll – len – etwa Nein sagen?“ ISL-Partner Fifa gabe von Anleihen scheiterte. Vivendi. Auch auf anderen Feldern des Beste Beziehungen Um an frisches Kapital zu kom- Eine trügerische Hoffnung? Bisher wirk- Sports sackte ISL blindlings ein, men, wollte ISL mit Fußball- te der kritische Blick in die ISL-Bücher bei was einzusacken war. Für die weltweiten rechten gesicherte Bond Issues auf dem Übernahmeinteressenten durchweg ab- Rechte an der US-Rennserie Cart machte Kapitalmarkt platzieren und damit über schreckend. Mehrere Unternehmen – dar- die Geschäftsführung pro Jahr rund 20 Mil- 400 Millionen Mark einnehmen. unter angeblich Konkurrenten wie IMG lionen Dollar locker – obwohl eine haus- Offiziell redet die ISMM ihr Scheitern und Octagon – prüften die Bilanzen der eigene Expertise den jährlichen Verkaufs- nun mit „unglücklichen Entwicklungen“ Schweizer Agentur in den letzten Monaten wert der TV-Bilder in Europa gerade einmal schön. Tatsächlich hat Missmanagement eingehend nach so genannten Due-Dili- auf etwa 150 000 Dollar veranschlagt hatte. ISL an den Rand des Ruins getrieben. gence-Kriterien – und winkten hernach ab. Kritiker im eigenen Haus bügelte die Ge- „Hier wird mit voller Wucht“, so das Fazit Ein früherer ISL-Mann glaubt zu wissen, schäftsleitung ab: Man zahle „politische eines ISL-Managers aus Gründertagen, warum: „Die stehen mit abgesägten Ho- Preise“. „ein Rolls-Royce an die Wand gefahren.“ sen da.“ Michael Wulzinger

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Chopina 5 b m. 24, 00-559 Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Ham- Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Thilo Thielke, Michael Wulzinger Warszawa, Tel. (004822) 6216158, Fax 6218672 burg, widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Dr. Walter Knips, Kirsten Wied- WASHINGTON Dr. Stefan Simons, 1202 National Press Building, die rechtzeitige Absendung. ner, Peter Zobel Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 ✂ SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Abonnementsbestellung 5331732, Fax 5331732-10 PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina ZÜRICH Jan Dirk Herbermann, Freudenbergstraße 105, 8044 Zürich, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Stegelmann SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 3108, 8021 Zürich, Tel. (00411) 3508763, Fax 3508762 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. 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Manfred Ptersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, ten Hapke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Tapio Sirkka Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hefte bekomme ich zurück. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Hunger, Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: gestaltung), Christiane Gehner, Michael König, Matthias Krug, Anke Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Kraus- Wellnitz; Manuela Cramer, Josef Csallos, Peter Hendricks, Andrea pe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Monika Rick, Sabine Sauer, Claus- Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Ulrich Dieter Schmidt, Karin Weinberg. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Mario Schmidt, Tho- LAYOUT Wolfgang Busching, Rainer Sennewald, Ralf Geilhufe, mas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Braun, Volker Fensky, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, PLZ, Ort Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Dr. Iris Timpke-Hamel, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Ich möchte wie folgt bezahlen: PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, ❑ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Karl-Henning Windelbandt ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Christina Werner, Monika BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles von 1/4-jährlich DM 65,– Zucht INFORMATION Heinz P. Lohfeldt REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND KOORDINATION Katrin Klocke BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Bankleitzahl Konto-Nr. Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und LESER-SERVICE Catherine Stockinger Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax Geldinstitut 26703-20 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG DRESDEN Andreas Wassermann, Steffen Winter, Königsbrücker Verantwortlich für Anzeigen: Helma Spieker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 55 vom 1. Januar 2001 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Widerrufsrecht Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Verantwortlich für Vertrieb: Lars-Henning Patzke Diesen Auftrag kann ich ohne Begründung innerhalb Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 Druck: Gruner Druck, Itzehoe von 14 Tagen ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL- FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Almut Hielscher, Wolfgang KOMMUNIKATION Matthias Schmolz Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Verlag, Abonnenten-Service, Postfach MARKETING Christian Schlottau Main, Tel. (069) 9712680, Fax 97126820 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen. Zur Frist- VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck wahrung genügt die rechtzeitige Absendung. HANNOVER Osterstraße 3, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel

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256 der spiegel 15/2001 Chronik 31. März bis 6. April SPIEGEL TV

SAMSTAG, 31. 3. von etwa 2 Prozent. Die Bundesregie- MONTAG rung hält an der Wachstumsprognose von 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 NERVENKRIEG Die Festnahme des früheren mindestens 2,6 Prozent fest. jugoslawischen Machthabers Slobodan SPIEGEL TV REPORTAGE Milo∆eviƒ scheitert zunächst. Erst am VERDACHT Im münsterländischen Kreis Die Frauen der Nazis, Teil 3 frühen Sonntagmorgen lässt sich der ehe- Steinfurt werden nachts 100 Ferkel wegen „Nibelungentreue“ malige Staatspräsident aus seiner Belgra- einer möglichen Erkrankung an der der Villa ins Gefängnis bringen. Maul- und Klauenseuche getötet. Der Verdacht, dass die Seuche erstmals in SONNTAG, 1. 4. Deutschland ausgebrochen sein könnte, erweist sich als noch unbegründet. KOLLISION Ein amerikanisches Spionage- flugzeug muss nach dem Zusammenstoß MITTWOCH, 4. 4. mit einem rotchinesischen Kampfjet auf der China-Insel Hainan notlanden. Der BÜNDNIS Die geplante Kooperation zwi- Pilot des Jagdfliegers wird vermisst, die schen dem Axel Springer Verlag und der 24 US-Besatzungsmitglieder bleiben un- Deutschen Telekom beginnt mit einer Be- verletzt und werden arretiert. teiligung der Telekom-Tochter T-Online am Internet-Portal der „Bild“-Zeitung. EINKAUF Der Aufsichtsrat der Dresdner Bank stimmt der Übernahme durch die DONNERSTAG, 5. 4.

Allianz zu. Ab Mitte des Jahres steigt das SPIEGEL TV Unternehmen zum weltweit fünftgrößten ANSTIEG Millionen Mitglieder von Be- Albert Speer (u.r.), Rüstungsarbeiterinnen Vermögensverwalter auf. triebskrankenkassen müssen noch in die- sem Jahr mit höheren Beiträgen rechnen, Der „Totale Krieg“ veränderte zwangs- MONTAG, 2. 4. nachdem Bundesgesundheitsministerin läufig das Frauenbild in Nazi-Deutsch- Ulla Schmidt sich mit den Spitzenvertre- land: Frauen arbeiteten nun in der Rüs- VORSTOSS Die norddeutschen Küsten- tern der Kassen auf einen Mindestbei- tungsindustrie, dienten als Flakhelferinnen länder verlangen, die Zahl der Castor- tragssatz von 12,5 Prozent geeinigt hat. an der Front, bargen nach den Bom- Transporte ins Zwischenlager Gorleben bennächten Tote aus den Trümmern, DATENSCHUTZ Der Bundesdatenschutz- auf einen pro Jahr zu beschränken. wurden als Künstlerinnen zur Truppen- Beauftragte Joachim Jacob kritisiert, dass betreuung eingesetzt. Und manche taten die Zahl der Telefonüberwachungen durch DIENSTAG, 3. 4. als KZ-Aufseherinnen Dienst, mit erbar- die Polizei sprunghaft angestiegen ist. URTEIL Das Bundesverfassungsgericht er- mungsloser Härte. klärt Teile der 1995 eingeführten Pflege- FREITAG, 6. 4. versicherung für verfassungswidrig. El- DONNERSTAG tern muss ein Abschlag gewährt werden, BUNDESWEHR Bis zum Jahresende wird 21.55 – 22.50 UHR VOX der sich nach der Kinderzahl richtet. laut Verteidigungsminister Rudolf Schar- ping eine vorläufige Eingreiftruppe der SPIEGEL TV EXTRA KONJUNKTUR Der Internationale Wäh- EU aufgebaut. Bis 2003 sollen 60000 Sol- Welt im Untergrund – die Berliner U-Bahn rungsfonds rechnet 2001 für die deutsche daten bereitstehen, darunter 18000 aus 150 Kilometer Schienenstrang, 169 Sta- Wirtschaft nur noch mit einem Wachstum der Bundeswehr. tionen, täglich 1,5 Millionen Passagiere: Berlins U-Bahn-System ist eine eigene Außer sich vor Freude ist Bayern-Kapitän Welt unter dem Asphalt. Zugführer, Stefan Effenberg, als Paulo Sergio am Wartungstrupps, Kontrolleure und Si- Dienstag in der Champions League das cherheitsbeamte sorgen dafür, dass die 1:0 gegen Manchester United gelingt. größte Metro Deutschlands reibungslos funktioniert.

SAMSTAG 22.00 – 23.05 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Tod im Wüstensand – über die geheimen Operationen israelischer Elitesoldaten Fast täglich kommt es im Nahen Osten zu Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern. Mit bisher unveröffent- lichten Aufnahmen der israelischen Ar- mee wird der Kampf zwischen der His- bollah und einer israelischen Fallschirm- jägerstaffel im Libanon dokumentiert.

SONNTAG RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Entfällt wegen der Osterfeiertage. DPA

257 Register

gestorben benden“ (1958) wurden zum Skandal und spalteten die Nation. Um dieses Skandal- John Lewis, 80. Weil er den Jazz aus der Image loszuwerden, lehnte der schöne jun- Schmuddelecke holen wollte, trat er lieber ge Mann mehrere Filmrollen ab, dann eta- im Smoking in Konzertsälen auf als in Jeans blierte er sich als Charakterdarsteller. Der in verrauchten Kellern. Denn der klassisch gebürtige Schweizer, der als 19-Jähriger ausgebildete Pianist schätzte den Blues so nach Frankreich ging, spielte unter den sehr wie Barockmusik. Lewis war dabei, als Größten – Jean-Luc Godard, Roberto Ros- junge Schwarze um den Saxofonisten Char- sellini, Pier Paolo Pasolini, Michel Deville, lie Parker in ekstatischen Jazz-Nächten in Pierre Granier-Deferre. Die Theaterfans in New York den neuen Stil des Bebop kre- Paris, Lyon oder Straßburg indes schwär- ierten. Er hat aber auch Stücke aus Bachs men noch immer von Borys grandiosen Bühnenleistungen, unter anderem in Stücken von Kleist, Schiller, Bernhard und Müller. Jean-Marc Bory starb am 31. März auf der Insel Belle-Ile-en-Mer vor der Küs- te der Bretagne.

Darrell Posey, 53. Der Farmersohn aus Henderson (US-Staat Kentucky) hat sich als Anthropologe weltweit mit dramati- schen Aktionen für das Überleben india- nischer Völker und die Erhaltung ihres Le- bensraums eingesetzt. Gemeinsam mit dem

AP Rockstar Sting kämpfte er im Amazonas- Regenwald gegen ein Staudammprojekt auf „Wohltemperiertem Klavier“ aufgenom- indianischem Land. 1988 zog er mit zwei men. Mit dem Modern Jazz Quartet – vier Kayapó-Indianern nach Washington vor baumlangen schwarzen Gentlemen an Pia- die Weltbank und erreichte, dass der an- no, Vibrafon, Bass und Schlagzeug – be- gekündigte Kredit für das Projekt gestri- zauberte Lewis fast 50 Jahre lang Bildungs- chen wurde. Posey kam dafür bei seiner bürger in aller Welt. Seinem „Kammerjazz Rückkehr nach Brasilien in Haft. Zur Ge- auf Zehenspitzen“ („Frankfurter Allgemei- richtsverhandlung er- ne“) fehlte freilich nie die rhythmische schienen 500 nackte Spannung des Swings. Lewis glänzte nicht Kayapó-Krieger in Be- als Solist am Piano, aber er verfügte über malung. Später holte die stille Autorität eines Bandleaders und der brasilianische Um- komponierte Klassiker wie „Django“, in Er- weltminister José Lut- innerung an den französischen Zigeuner- zenberger Posey ins gitarristen Django Reinhardt. John Lewis Ministerium. Die Uno starb am 29. März in New York. ehrte ihn mit dem „Global 500 Roll of Hans-Joachim Mähl, 77. Seniorgärtner Honor Award“, der der blauen Blume hätte ein Poet den Sierra Club mit dem Kieler Germanisten nennen mögen: Die „Chico Mendes Award“. Als Unwissender von ihm betreute Ausgabe der Werke habe er den Regenwald betreten und als des Erzromantikers Novalis („Hymnen an Gebildeter sei er wieder heraus gekom- die Nacht“), im Lauf der Jahrzehnte zum men, so seine Überzeugung. Darrell Posey Monument gewachsen und unablässig starb, wie erst jetzt bekannt wurde, am überprüft, aber auch seine mustergültigen 5. März an einem Gehirntumor in Oxford. Studien über die philosophischen Hinter- gründe der romantischen Sehnsucht mach- urteil ten den hageren, uneitlen Forscher zum heimlichen Doyen seiner Zunft. Hans- Julius Viel, 83, ist vom Landgericht Ra- Joachim Mähl starb am 31. März bei Kiel. vensburg wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen zu zwölf Jahren Freiheits- Jean-Marc Bory, 67. strafe verurteilt worden. Er soll im Früh- Der Theater- und jahr 1945 sieben Häftlinge aus einem Ge- Filmschauspieler wur- stapo-Gefängnis, die einen Panzergraben de über Nacht berühmt ausheben mussten, als SS-Untersturmfüh- und eine Cause célèbre rer erschossen haben. Das Gericht stützte für die Moral im gaul- sich auf den Zeugen Adalbert Lallier, der listischen Frankreich: als SS-Mann den Vorgang beobachtet Borys heftige Liebes- haben will (SPIEGEL 10/2001). Die Ver- szenen mit Jeanne Mo- teidigung hat für Viel, der die Tat bestrei- reau in Louis Malles tet, Revision beim Bundesgerichtshof

kühnem Film „Die Lie- DEFD eingelegt.

258 der spiegel 15/2001 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Wolfgang Berghofer, 57, bis zum Mai 1990 Oberbürgermeister von Dresden, kann sich offenbar doch nicht von der Vergangen- heit lösen und übt sich – wie einst – in der Konspiration. Der frühere SED-Funk- tionär, der auch als Inoffizieller Mitarbei- ter der Stasi diente, hat Vertrauten ge- genüber erklärt, dass er noch vor Ostern al- len Spekulationen um seine mögliche Kan- didatur zu den Bürgermeisterwahlen im Juni für den Chefposten in der sächsischen Landeshauptstadt ein Ende machen will. Er wolle antreten, erklärte er Freunden. Berg- hofer, seit 1990 parteilos, hat auch bereits einen Pressesprecher und eine Werbe- agentur angeheuert. Doch den Termin für die Bekanntgabe seiner – nach eigenen Aussagen – Kandidatur „mit nationaler Be- deutung“ hat er mehrfach verschoben. In- zwischen zieht der virtuelle Kandidat in Dresden schon Spott auf sich. Er müsse, heißt es in Anspielung auf seine Vergan-

genheit, schon vor der Wahl seine Kandi- REUTERS datur erklären, danach sei diesmal nichts Werbemotiv mit da Silva mehr zu machen. Berghofer war nach der friedlichen Revolution 1992 wegen Wahl- Lúcia Maria Costa da Silva, 27, Gefängnisinsassin in Rio de Janeiro, posiert für fälschung verurteilt worden. die neue Werbekampagne des brasilianischen Unterwäsche-Herstellers Duloren. Seit acht Monaten ist die junge Frau im halboffenen Vollzug, tagsüber arbeitet sie Friedhelm Beucher, 54, Vorsitzender des in einer Metallfabrik. Sie ist eine von mehreren armen Brasilianerinnen, die für Sportausschusses des Bundestags, pflegt die jüngste Kampagne des Lingerie-Produzenten fotografiert wurden. Duloren eine besondere Art der Kleptomanie: Vor (Slogan: „Sie können sich nicht vorstellen, wozu eine Duloren fähig ist“) wirbt seit ihm ist kein Schreibgerät sicher. Der ehe- Jahren mit provozierenden und oft geschmacklosen Fotos. Unter anderem lancierte malige Schulrektor aus dem oberbergi- die Wäschefirma einen Schnappschuss auf den Slip von Hillary Clinton – das schen Land sammelt Stifte und Papier für Motiv wurde auf Drängen des Weißen Hauses wieder abgesetzt. Schulkinder auf Kuba, die dort erbärmlich

Schreibsachen und Medikamenten auch te viele Mailänder in Rage. Eine Zu- Hemden und Jacken von der Bundespost, schauerin ging anschließend gar zur Poli- die nach dem Logo-Wechsel ausgemustert zei: Sie erstattete Anzeige wegen öffentli- wurden, sowie zwei Fahrräder. cher Unsittlichkeit.

Kenneth Tynan, vor 20 Jahren im Alter Matthias Berninger, 30, grüner Parla- von 53 gestorbener amerikanischer Thea- mentarischer Staatssekretär im Ministeri- terkritiker und Musicaltexter, hätte postum um für Verbraucherschutz und Landwirt- einen Theater-Oscar verdient: für den schaft, setzt auf die neu-alte Devise „Ehr- nachhaltigsten Bühnenskandal aller Zei- lich währt am längsten“. Bei einer Diskus- ten. Seit über drei Jahrzehnten sorgt sein sionsrunde mit einer Gruppe von Natur- Erfolgsstück „Oh! Cal- cutta!“, in dem Dar- steller nackt auftre- ten, weltweit für öf- fentliche Erregung. Vorvergangene Wo- che entflammte die Empörung der Züch- tigen bei der Premie-

F. OSSENBRINK F. re einer Neuinszenie- Beucher rung in Mailand. Das Singstück zum The- schlecht ausgestattet seien. Freunde, aber ma Sex – auch der auch Bundestagskollegen, von denen er er- Titel „Calcutta“ ist fährt, dass sie auf die Castro-Insel fliegen, ein obszön-ironisches werden von ihm mit einem „Solidaritäts- Wortspiel mit dem Koffer“ (Beucher) ausgestattet, abzugeben französischen Satz in irgendeiner Schule. Über Ostern fliegt „Quel cul tu as“ der SPD-Politiker selbst auf die Insel und (etwa: „Oh, was für hat jede Menge Übergepäck dabei; neben ein Hintern“) – brach- „Oh! Calcutta“-Szene in Mailand

260 der spiegel 15/2001 kost-Erzeugern wurde dem politischen Jungstar die nicht gerade überraschende Frage gestellt: „Was können Sie denn Neu- es in der Polik bewirken?“ Berninger ant- wortete offen: „Trotz des harten Stils im Ministerium von Frau Künast habe ich mich in die Regierungserklärung einge- bracht. So ist der Satz ‚Regional ist 1. Wahl‘ von mir. Na, nicht ganz von mir. In Kassel kaufe ich seit Jahren bei Te-gut meine Bio- milch, da steht auf dem Aufsteller ‚1. Wahl regional‘. Aber bitte jetzt keine Gebühren verlangen.“ Berninger wurde alsbald ent- lastet von einem Kreuzberger Biomilch- Thierse, Castro Großhändler: „Also det mit den Sprüchen kommt nicht aus Kassel. Bei uns steht seit aus Anlass der Konferenz der Interparla- 1986 auf der Milchpackung ‚1. Wahl regio- mentarischen Union in Kuba auf. „Ich nal‘, also abkupfern muss nicht immer die habe 40 Jahre Sozialismus auf dem Politik, das können andere ooch.“ Buckel“, ließ der Mann vom Prenzlauer Berg Castro beim ersten Zusammentref- Jennifer Lopez, 30, amerikanische Sänge- fen – auf einem Empfang – wissen. Kurz rin und Schauspielerin („Antz“, „The Cell“) darauf wurde dem Gast aus Deutschland mit – nach eigener Einschätzung – „dickem signalisiert, der Comandante wolle mit ihm Hintern“, den sie mit viel Fahrradfahren einmal in Ruhe reden. Bei überbackenen „straff“ hält, hat nicht nur Bewunderer. Jakobsmuscheln erkundigte sich dann der Auf der Oscar-Preisverleihung trug die Revolutionsführer – zum Erstaunen seines Gastes – nach der Anzahl der Toten an der Berliner Mauer, um sogleich auf die Opfer an der amerikanisch-mexikanischen Gren- ze zu sprechen zu kommen. Thierse er- klärte dem Máximo Líder das „in Europa gewachsene System von Grundwerten“ und die Vorzüge des Mehrparteiensystems. Castro hatte für seinen deutschen Gast ewi- ge Wahrheiten parat: „Wahre Tugend“, do- zierte er, „erwächst nur aus dem Kampf mit dem Bösen.“ Zum Schluss bedankte sich Castro für den „Austausch zwischen zwei seriösen Männern“ und schenkte dem Gast Zigarren. Die lässt Nichtraucher Thierse nun Zigarrenfreund Gerhard Schröder zukommen.

Willi Lemke, 54, Bildungssenator des Lan- des Bremen, scheint sich mit dem Behör- dentum anzufreunden. Der einstige Mana- ger des Fußballclubs SV Werder Bremen hatte nach dem Motto „Geht nicht, gibt’s nicht“ neuen Schwung in die Amtsstuben zu bringen versucht. Inzwischen sind seine Hoffnungen dahin, Lehrer nach Leistung zu honorieren; sie heuern und feuern zu

REUTERS können. Damit die rund 1000 angestellten Lopez Lehrer nicht von anderen Bundesländern abgeworben werden, plädierte er unlängst Schöne ein halbdurchsichtiges Oberteil, im Senat gar dafür, auch Lehrer jenseits des was die Spottlust des Late-Night-Show- 40. Lebensjahres zu verbeamten, was freilich Plauderers Jay Leno weckte: „Nun hat Finanzressort und Senatskanzlei wegen der sie doch endlich ein Mittel gefunden, das Folgekosten durch Pensionsansprüche ver- die Leute davon abhält, auf ihren Hintern weigerten. Aber nicht nur mit dem Beam- zu starren.“ tengesetz, auch mit der Bremischen Lan- desverfassung ist Lemke neuerdings per Du. Wolfgang Thierse, 57, Bundestagspräsi- Auf dem Bildungsparteitag der Bremer SPD dent, ist zu einer seltenen Ehre gekommen brillierte er mit detaillierten Verfassungs- – er durfte drei Stunden mit dem kubani- kenntnissen, auf die er stolz verwies mit ei- schen Revolutionsführer Fidel Castro, 73, nem viel belachten Versprecher: „Das kann speisen und debattieren. Thierse hielt sich ich fast sinngemäß zitieren.“

der spiegel 15/2001 261 Hohlspiegel Rückspiegel Zitat Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIEGEL-Titel „Was fühlen Tiere?“ (Nr. 13/2001):

Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Seit wir planen, die Tiere in Massen zu töten, haben wir sie wieder ins Herz geschlossen. Der SPIEGEL macht sich in seiner jüngsten Aus der „Frankfurter Rundschau“: „Das Titelgeschichte Sorgen darum, was unsere eigentliche Problem ist nach Worten Schi- vierbeinigen Freunde fühlen, wenn wir sie lys der illegale Waffenbesitz. Darüber gebe schlachten. Frau Künast wird angeklagt, weil es keine verlässlichen Zahlen. Jährlich wür- sie – und zwar nicht zuletzt als Grüne – den den von der Polizei etwa 2000 Waffen fest- Teufel durch Beelzebub austreiben und also gestellt und etwa 6000 gestohlen.“ BSE mit der radikalsten Folge für alle Rind- viecher bekämpfen will. Und da nun auch noch die Maul- und Klauenseuche droht, fragt man sich, was man sich schon lange hätte fragen sollen: ob denn alles mit rech- ten Dingen zugeht, wenn man Tiere mit Pro- duktionsmaschinen verwechselt.

Der SPIEGEL berichtete … Aus der Werbung einer Wohnungsbau- gesellschaft … in Nr. 52/2000 „Affären – Marmor aus Lucca“ über Korruptionsvorwürfe gegen den Saarbrücker SPD-Ober- Aus den Dortmunder „Ruhr Nachrichten“: bürgermeister Hajo Hoffmann, dem „Nach der Besichtigung markanter Punk- beim Bau seines Privathauses te wurden dem Gast aus Düsseldorf auch von einem Bauunternehmer finanzielle noch ein Ordner voller Frauen mit auf dem Vorteile gewährt worden sein sollen. Weg gegeben.“ Wegen Untreue in zwei Fällen beantragte die Staatsanwaltschaft Saarbrücken vergan- Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- gene Woche einen Strafbefehl über 37500 tung“: „Will folgt Bauer nach, die die Mo- Mark gegen Hoffmann. Der OB, zugleich deration wegen ihrer bevorstehenden Ge- Präsident des Deutschen Städtetages, soll burt aufgibt.“ unter anderem bei der Außengestaltung sei- nes Privathauses „Hilfeleistungen“ einer Firma im Wert von rund 50000 Mark in An- spruch genommen haben. Ausgerechnet dieses Bauunternehmen hatte mit Hoff- manns Zustimmung in einem ungewöhnli- chen Eilverfahren den Zuschlag für ein 24- Millionen-Projekt in Saarbrücken erhalten. Laut Antrag der Staatsanwaltschaft soll die Geldstrafe ein Jahr zur Bewährung ausge- setzt werden. Als Bewährungsauflage soll der Oberbürgermeister außerdem 60000 Mark an die Staatskasse zahlen. Unions- politiker fordern den Rücktritt des Sozial- Aus einem Werbeprospekt der Firma demokraten, der erst im Februar in einer „Fotopoint“ Direktwahl im Amt bestätigt worden war.

… in Nr. 42/2000 „Der Guru des Aus „Spektrum der Wissenschaft“: „Vor al- Neuen Marktes“ über die fragwürdigen lem mit dem ‚Burst and Transient Source Methoden des Fondsmanagers Experiment‘ (Batse) an Bord des Compton- Kurt Ochner, der bevorzugt in markt- Gammastrahlungsobservatoriums konnten enge Hightech-Werte investierte in den neunziger Jahren mehrere tausend und damit die Kurse in die Höhe trieb. dieser einmaligen Ereignisse nachgewiesen werden.“ In der vergangenen Woche entband die Julius Bär Kapitalanlage AG Ochner von seinen Aufgaben. Die Trennung wurde mit „unterschiedlichen strategischen Auffassun- gen bezüglich der Geschäftstätigkeit“ be- gründet. Viele der von Ochner favorisierten Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Aktien stürzten am Neuen Markt ab.

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