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46 Meiner

Archiv für Begriffsgeschichte

ABHANDLUNGEN Sven K. Knebel: Widerlegung. Umrisse der Begriffsgeschichte Tilman Anselm Ramelow: Der Begriff des Willens in seiner Entwicklung von Boethi- us bis Kant Rolf Darge: Transzendentale und numerische Einheit. Grundlinien einer mittelalter- lichen und frühneuzeitlichen Debatte Tobias Cheung: Die Ordnung des Organischen. Zur Begriffsgeschichte organismi- scher Einheit bei Charles Bonnet, Spinoza und Leibniz Gerhard Müller-Strahl: Der biologische Zellbegriff. Verwendung und Bedeutung in Theorien organischer Materie Helmut C. Jacobs: Capricho, Fantasía, Imaginación. Die Begriffsgeschichte der Phantasie in der Epoche der spanischen Aufklärung Ulrich Dierse: Geistliche und weltliche Zufriedenheit Dirk Westerkamp: Schellings Anthropologie der Schuld Javier Fernández Sebastián / Juan Francisco Fuentes: Von der Geistesgeschichte zur historischen Semantik des politischen Wortschatzes. Ein spanischer begriffsge- schichtlicher Versuch

MISZELLEN Niels Öffenberger: Die Theorie der Folgerung aus falschen Prämissenkonjunktionen in der Aristotelischen Syllogistik Ulrich Dierse: Fundsachen. Nachträge zu ausgewählten Wörterbuch-Artikeln

SELBSTANZEIGEN Archiv für Begriffsgeschichte · Band 46

Archiv für Begriffsgeschichte

Begründet von Erich Rothacker

Im Auftrage der Kommission für Philosophie und Begriffsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben in Verbindung mit Karlfried Gründer von Ulrich Dierse und Gunter Scholtz

Band 46

Jg. 2004

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG Archiv für Begriffsgeschichte

Bd. 1–10 Herausgeber: Erich Rothacker Bd. 11–26 Begründet von Erich Rothacker. Herausgegeben in Verbindung mit Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter von Karlfried Gründer Bd. 27–34 Begründet von Erich Rothacker. Herausgegeben in Verbindung mit Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter (†) von Karlfried Gründer und Gunter Scholtz Bd. 35–43 Begründet von Erich Rothacker. Herausgegeben in Verbindung mit Hans-Georg Gadamer und Karlfried Gründer von Gunter Scholtz

ISSN 0003-8946

© Felix Meiner Verlag 2004. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Ver- fahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bän- der, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type&Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Tho- mas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI- Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/afb Vorbemerkung

Nach rund zwanzig Jahren erfolgreicher Tätigkeit als Herausgeber hat sich Gunter Scholtz im Dezember 2003 von der „Vordersten Front“ des „Archivs für Begriffsgeschichte“ zurückgezogen, um mehr Zeit für eigene Forschungen zu gewinnen. Seiner Initiative und kundigen Führung ist es zuzuschreiben, daß das AfB international an zentraler Stelle für begriffsgeschichtliche Forschung steht. Mit großem Bedauern, vor allem aber mit hohem Respekt und besonderer Dankbarkeit für die geleistete Arbeit, haben Ulrich Dierse, Mitherausgeber seit Band 44, und der Verlag diese Entscheidung akzeptiert. Als weitere Herausgeber konnten nun ab Band 47 (2005) Christian Bermes, Hochschuldozent für Philosophie an der Universität Trier, sowie Christof Rapp, Professor für Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Univer- sität zu Berlin, gewonnen werden. Damit geht u. a. eine stärkere Zuordnung der inhaltlichen Verantwortung für die Bereiche „Antike und Mittelalter“, „Frühe Neuzeit bis zu Kant“ sowie „19. und 20. Jahrhundert“ einher. Das AfB ist interdisziplinär ausgerichtet, aber in seinem Zentrum steht nach wie vor die philosophische Begriffsgeschichte. Um dieses Profil, das von den Phi- losophen Gadamer, Gründer, Ritter, Rothacker und Scholtz geprägt worden ist, zu sichern und zu schärfen, ist die Neubesetzung des Herausgebergremiums gewiß die allerbeste Voraussetzung. Wir freuen uns darauf, sodann in naher Zukunft die Berufung eines tätigen Beraterkreises bekannt zu geben, zu dem wir bereits heute Gunter Scholtz zählen dürfen.

Der Verlag

Inhalt

abhandlungen

Sven K. Knebel Widerlegung. Umrisse der Begriffsgeschichte ...... 9

Tilman Anselm Ramelow Der Begriff des Willens in seiner Entwicklung von Boethius bis Kant . . . . . 29

Rolf Darge Transzendentale und numerische Einheit. Grundlinien einer mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Debatte ...... 69

Tobias Cheung Die Ordnung des Organischen. Zur Begriffsgeschichte organismischer Einheit bei Charles Bonnet, Spinoza und Leibniz ...... 87

Gerhard Müller-Strahl Der biologische Zellbegriff. Verwendung und Bedeutung in Theorien organischer Materie ...... 109

Helmut C. Jacobs Capricho, Fantasía, Imaginación. Die Begriffsgeschichte der Phantasie in der Epoche der spanischen Aufklärung ...... 137

Ulrich Dierse Geistliche und weltliche Zufriedenheit ...... 183

Dirk Westerkamp Schellings Anthropologie der Schuld ...... 197

Javier Fernández Sebastián / Juan Francisco Fuentes Von der Geistesgeschichte zur historischen Semantik des politischen Wortschatzes. Ein spanischer begriffsgeschichtlicher Versuch. Der „Diccionario de conceptos políticos y sociales de la Española de los siglos XIX y XX“ ...... 225 8 Inhalt

miszellen

Niels Öffenberger Die Theorie der Folgerung aus falschen Prämissenkonjunktionen in der Aristotelischen Syllogistik ...... 241

Ulrich Dierse Fundsachen. Nachträge zu ausgewählten Wörterbuch-Artikeln ...... 245

Selbstanzeigen ...... 253 Christian Bermes: ,Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff. – Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsge- schichte. – Sandra Kluwe: Krisis und Kairos. Eine Analyse der Werkgeschichte Rainer Maria Rilkes. – Kari Palonen: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck. – Jan Schröder: „Gesetz“ und „Naturgesetz“ in der frühen Neuzeit.

Abstracts ...... 267

Bibliographie ...... 271

Begriffsregister ...... 287

Adressenverzeichnis ...... 295 Abhandlungen

Sven K. Knebel

Widerlegung

Umrisse der Begriffsgeschichte

In memoriam Hans Joachim Knebel, 15.11.1929–24.4. 2004

Das Widerlegen ist diejenige rationale Praxis, an der, bei der und in der sich »die Wahrheitsfrage« effektiv stellt. Nun mangelt es weder an Theorien der Rationa- lität noch an Wahrheitstheorien. Davon unbeeindruckt wird es kaum einen An- gehörigen unserer Kultur geben, der daran zweifelte, daß er das Wort ›Widerle- gung‹ richtig verwendet. »Das Edelste, was wir besitzen,« hat Johann Gottfried Herder vor über zweihundert Jahren auf einen ebenso elementaren wie immer wieder erstaunlichen Sachverhalt aufmerksam gemacht, »haben wir nicht von uns selbst; unser Verstand mit seinen Kräften, die Form, in welcher wir denken, han- deln und sind, ist auf uns gleichsam herabgeerbt. Wir denken in einer Sprache, die unsere Vorfahren erfanden, in einer Gedankenweise, an der so viele Geister bilde- ten und formten […].«1 Der Begriff der Widerlegung ist solch ein Kulturgut, zu dessen Analyse einige Dokumente zusammengetragen seien. Es hat, so die These, »platonische« und es hat »aristotelische« Gene. Der folgende Beitrag behandelt die Begriffsgeschichte der »Widerlegung« als eines philosophischen Fachausdrucks. Zu diesem Zweck setzt er nicht bei dem griechischen Wort λεγχος an, denn auch in der Zeit nach Platon und Aristote- les war es auf die technische Bedeutung, die es durch die beiden erlangt hatte, nicht festgelegt. Er konzentriert sich vielmehr auf »refutatio« und »Widerlegung«. Am besten aus dieser Perspektive gewinnt man einen historischen Begriff der Wi- derlegung. Die Wahl dieser Perspektive ergänzt sinnvoll eine Reihe einschlägiger Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie: »Elenchus, Elenktik«, »Falsi- fikation«, »Irrtum (Schlußfehler)«, »Kritik«, »Rechtfertigung«, »Reductio ad ab- surdum«, »These« und »Widerlegung«. Allerdings hat sie den Nachteil, daß sie es vorläufig verwehrt, die Zeitfolge zum Leitfaden zu wählen. Insbesondere die feh- lende Berücksichtigung der juristischen Terminologie würde jedes mögliche Er- gebnis einer genetischen Darstellung entwerten. Deswegen mag es erlaubt sein, das Thema in freierer Form abzuhandeln.

1 Johann Gottfried Herder: Über die menschliche Unsterblichkeit (1792). Sämmtliche Wer- ke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 16 (Berlin 1887) 34.

Archiv für Begriffsgeschichte · Band 46 · © Felix Meiner Verlag 2004 · ISSN 0003-8946 10 Sven K. Knebel

I. Terminologie

›Widerlegt‹ werden sowohl Thesen, Argumente, Hypothesen usw. als auch – indi- rekt – Personen.2 Das Substantiv ›Widerlegung‹ ist grammatisch ambivalent, so- wohl ein nomen actionis als auch ein nomen acti, gemeint sein kann sowohl eine Handlung als auch ein Resultat.3 Aktiven und passiven Sinn hat auch λεγχος, während andere griechische Bezeichnungen, etwa ντíρρησις,4 nur aktiven Sinn haben. Ebenfalls ambivalent sind die in der Scholastik gebräuchlichen Termini ›redargutio‹ und ›reprobatio‹5 sowie die in den romanischen Sprachen bis heute bewahrten Termini ›confuta- tio‹ und ›refutatio‹6. Wie λεγχος7 stammen auch diese beiden Termini aus der Rhetorik. ›Confutatio‹ (νασκεω) geht auf die Rhetorica ad Herennium zurück,8 ›refutatio‹ auf Quintilian.9 Das war zunächst nicht die philosophische Terminolo- gie. Der lateinische Averroismus hat den Ausdruck ›destructio‹.10 Dem lateini- schen Aristotelismus hat der Übersetzer Boethius, neben ›redargutio‹, das Fremdwort ›elenchus‹ vermacht. ›Elenchus‹11 betont den diskursiven, ›redargu-

2 Platon: Gorg. 458a; Theaet. 162a. Hiob 32, 12 (»arguere Iob«). Bis in die frühe Neuzeit hat sich das Buch Hiob unter den ältesten Urkunden der Dialektik behauptet. Vgl. Jacob Brucker: Historia critica philosophiae (Leipzig 21766–67) 1, 97f. 3 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 14/1/2 (Leipzig 1960) 1110. 4 Sextus Empiricus: Pyrrh. Hyp. II, 103. 5 Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi (Leiden 1977ff.) Bd. 7, 4284b–85a. Beleg: Lambertus de Monte Domini († 1499): Compilatio commentaria in octo libros Aristotelis de Physico sive de naturali auditu (Köln 1498) 52ra. 6 Christian Wolff: rationalis sive Logica § 1017 (11728, Frankfurt, Leipzig 1740, Neudr. Hildesheim 1983) 733. 7 Platon: Phaedr. 267a. 8 »Confutatio est contrariorum locorum dissolutio.« Anonym: Rhetorica ad Herennium I, 3, 4 (vgl. Cicero: De div. I, 8). Dazu: Manfred Kienpointner: Confutatio, in: Gert Ueding (Hg.): Hi- storisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 2 (Tübingen 1994) 355-357 (mit Literatur). 9 Quintilianus: Inst. Or. V, 13, 1; Marius Victorinus: Explanationes in Ciceronis Rhetori- cam, in: Carl Halm (Hg.): Rhetores Latini minores (Leipzig 1863, Neudr. Frankfurt a.M. 1964) 274. 278f. 290; Adv. Arium I, 1. Opera theologica, hg. von Albrecht Locher (Leipzig 1976) 32; Augustinus: Contra Iulianum opus imperfectum, Praefatio. Corpus scriptor. eccl. lat. [=CSEL] Bd. 85/1 (Wien 1974) 4; ebd. IV, 105, Migne P. L. Bd. Bd. 45, 1402; De natura et origine animae I, 2, 2, CSEL Bd. 60 (Wien 1913) 304. Vgl. Bartholomaeus Keckermann (1571-1609): Systema Rhetoricae (Hanau 1608) 150–154. 10 »Intentio nostra in hoc sermone est declarare ordinem et apparentiam opinionum [et] ser- monum positorum in libro Destructionis Philosophiae Algazelis et diminutionem plurimorum dic- torum eius a gradu veritatis et demonstrationis.« Averroes: Destructio Destructionum Philoso- phiae Algazelis, in: ders.: Nonum volumen [operum] (Venedig 1562, Neudr. Frankfurt a.M. 1962) 15ra. Einer Anmerkung von Ernest Renan: Averroès et l’averroisme (Paris 21861) 65, ist aller- dings zu entnehmen, daß das arabische tehafot (destructio) selber keine technische Bedeutung ge- habt hat. 11 Aristoteles: Anal. pr. II, 20, 66b6, in: Aristoteles Latinus Bd. 3, 1 (Brügge, Paris 1962) 129; Soph. El. 1, 165a2, in: Aristoteles Latinus Bd. 6, 1 (Leiden, Brüssel 1975) 6. Daher: Petrus Hispa- nus († 1277): Tractatus (Summulae logicales), hg. von Lambertus Marie de Rijk (Assen 1972) Widerlegung 11 tio‹12 den kommunikativen oder pragmatischen Aspekt.13 Auch über diesen räumt die scholastische Logik der ›Diskursethik‹ nur bedingt ein Mitspracherecht ein, nämlich nur in der Beziehung, daß »es eine Sache ist, jemandem nachzuweisen, daß das Gegenteil seiner These wahr ist, und ihn argumentativ zu zwingen, das auch einzugestehen, […] eine andere Sache jedoch, jemandem nachzuweisen, daß er nicht bestanden hat, und ihn auf diese Weise zu beschämen«.14 Zwischen ›elen- chus‹ und ›instantia‹ (νστασις) macht die Scholastik in der Sache überhaupt kei- nen und terminologisch nur den Unterschied, daß die Instanz dem Defendenten, der Elenchus dem Opponenten zugeordnet ist.15 Unter ›elenchus‹ im engeren Sinn wird daher die ›obiectio‹ verstanden.16 Im Zuge der Augustinusrenaissance des 16. Jhs. setzt sich das rhetorische Voka- bular ›confutatio‹ / ›refutatio‹ auf breiter Front durch, besonders prominent in der Titulatur der konfessionellen Kontroversliteratur. Übernommen wird es aber auch von Teilen der Jesuitenscholastik17 und von der europäischen Gelehrtenrepublik.

161ff.; Guillelmus de Ockham: Expositio super libros Elenchorum, hg. von Francesco del Punta. Opera philosophica (St. Bonaventure 1974ff.) Bd. 3, 7.An dieser »vox peregrina« stößt sich Iohannes Petrus de Crosa: Logicae Systema (Genf 1724) 541. 12 Auch Wilhelm von Moerbeke († 1286) wählt ›redargutio‹ als Übersetzung für λεγχος: Corpus latinum commentariorum in Aristotelem graecorum [= CLCAG] Bd. 2, hg. von Gérard Verbeke (Löwen, Paris 1961) 400 [= Ammonius: In De Interpr. Commentaria in Aristotelem grae- ca (= CAG) Bd. 4, 5, hg. von Adolf Busse (Berlin 1897) 222, 30]; CLCAG Bd. 5, 2, hg. von Adrien Pattin (Leiden 1975) 320 [= Simplicius: In Cat. CAG Bd. 8, hg. von Carl Kalbfleisch (Berlin 1907) 234, 2]. Desgleichen Marsiglio Ficino (1433–99) für seine Platon-Übersetzungen, z. B. Gorg. 474a, Phaedr. 267a (Platon: Omnia opera translatione M. Ficini, hg. von Simon Grynaeus, Lyon 1548, 240b. 313a). 13 Thomas von Aquin (?): De fallaciis c. 3. 14 Auf die These »Redarguere […] pertinet ad moralem philosophiam« antwortet Boethius Dacus: Quaestiones super librum Topicorum [ca. 1270/80] (Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi Bd. 6, 1) (Kopenhagen 1976) 313: »[…] aequivocatur ›redarguere‹. Uno modo redar- guere est ostendere alicui oppositum dicti sui esse verum et cogere ipsum hoc concedere propter violentiam rationum; sic non pertinet ad moralem. Alio modo redarguere aliquem est sibi pravita- tem ostendere et ex illa confusionem sibi inducere et verecundiam […] Et ista (sc. redargutio) per- tinet ad moralem.« Synonym mit ›refutare‹ wird ›redarguere‹ weiter bis ins 19. Jh. verwendet. Vgl. z. B. Johann Friedrich Herbart: Commentatio de realismo naturali (1837), in: Sämmtliche Wer- ke, hg. von Gustav Hartenstein, Bd. 12 (Leipzig 1852) 303. 15 »‹Elenchus‹ dicitur in comparatione ad opponentem. Quando enim opponens syllogizat op- positum praesyllogizati vel concessi a respondente, est ›elenchus‹. Quando autem et respondens syllogizat oppositum syllogizati vel propositi ab opponente, ›instantia‹ est.« Aegidius Romanus († 1316): Expositio super libros Aristotelis de Priori Resolutione (Venedig 1516, Neudr. Frankfurt a.M. 1968) 75ra. Wiederholt 81rb. 16 »Elenchus est argumentatio redarguens thesin, dicitur etiam objectio.« Joachim Jungius: Logica Hamburgensis (1638), hg. von Rudolf Walter Meyer (Hamburg 1957) 343. 17 Belege für refutatio: Pedro da Fonseca (1528–99): Commentaria in libros Metaphysicorum Aristotelis (1577–1612, Köln 1615, Neudr. Hildesheim 1964) Bd. 1, 60. 753. 819ff. 849; Leonard Lessius (1554–1623): De gratia efficaci, decretis divinis, libertate arbitrii et praescientia Dei con- ditionata, Disputatio apologetica (1610), in: ders.: Opuscula varia (Paris 1637) 452a. 466b u. ö.; Diego Ruiz de Montoya (1562–1632): Commentarii ac disputationes de scientia, de ideis, de 12 Sven K. Knebel

Von nun an ist ›refutatio‹, im Unterschied zum Sprachgebrauch noch des 14. Jhs., auf seine argumentationstechnische Funktion eingeschränkt. Die nicht-argumen- tative Zurückweisung18 heißt anders (reiectio)19. Bis um die Mitte des 17. Jhs. ist die Aufnahme der Synonyme ›confutatio‹ / ›refutatio‹ in die philosophische No- menklatur erfolgt,20 allerdings nur im Einflußbereich der Schulphilosophie; die Encyclopédie behandelt ›réfutation‹ nach wie vor als einen Terminus der Rheto- rik.21 Seit der Eindeutschung von ›confutatio‹ durch ›Widerlegung‹, gegen 1520, ver- läuft die deutsche Entwicklung zweigleisig. Gegen Ende des 16. Jhs. kann gesagt werden, eine gewisse Theorie sei »unwirdig der widerlegung, als die sich selber bey allen Verstendigen widerlegt«.22 Bis in die Schullogik hinein ein Dauerthema der protestantischen Kultur ist die »Widerlegungsart«, der »modus refutandi adversa- rios«.23 In dieses Kapitel gehört speziell die Unterscheidung zwischen »sachlicher Widerlegung«24 und »Consequenzenmacherei«25. Der Wolffianismus vereinheit- licht die Nomenklatur, indem er als Oberbegriff ›Einwurf‹, ›Einwendung‹ (obiec- tio) wählt und diesen in die förmliche Widerlegung (refutatio) und in die logisch schwächere Bestreitung (impugnatio) einteilt.26 Die Widerlegung ist entweder di-

veritate ac de vita Dei (Paris 1629) 879a; Commentaria ac disputationes in primam partem S. Tho- mae: De voluntate Dei (Lyon 1630) 126ff. 197ff. 298a u. ö. 18 »[…] nier ce qu’un autre affirme, ce n’est pas le réfuter.« Félicité Robert de Lamennais (1782-1854): Défense de l’Essai sur l’indifférence en matière de religion (Paris, Lyon 21821) 181. 19 »Reiectio falsorum dogmatum, quae […] sanae doctrinae repugnant« (»Verwerfung der falschen Gegenlehre«). Formula Concordiae (1579), in: Die symbolischen Bücher der evangelisch- lutherischen Kirche, hg. von Johann Tobias Müller (Gütersloh 61886) 520b u. ö.; René Descar- tes: Principia philosophiae. Oeuvres hg. von Charles Adam / Paul Tannery, Bd. 8 (Paris 1905) 6f. 20 Johannes Micraelius: Lexicon philosophicum (Stettin 21662, Neudr. Düsseldorf 1966) 317. Beleg für ›confutatio‹: Henry More: Demonstrationis duarum propositionum, quae praecipuae apud Spinozium Atheismi sunt columnae, brevis solidaque Confutatio, in: Opera omnia (London 1675–79) Bd. 2/1, 615. 21 Encyclopédie (Paris 1751–80) Bd. 13, 907b. 22 Georg Nigrinus (1530-1602): Von Zäuberern, Hexen und Unholden (Frankfurt a.M. 1592) 120 (lt. Grimm, a. a.O. [Anm. 3] 1108). 23 Justus Henning Böhmer (Präs.): De iure circa libros improbatae lectionis (Diss. jur. Halle 1726) 73. Der deutsche Ausdruck bei Andreas Heinrich Buchholtz (1607–71): Herculiscus und Gerculadisus (Frankfurt a.M., Leipzig 1665) 1006 (lt. Grimm, a. a.O. [Anm. 3] 1111). 24 Der Ausdruck bei Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie (1840, Berlin 1987) 367. Zur Sache: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Bd. 55 (Leipzig 1748, Neudr. Graz 1962) 1787–1792. Ludwig Philipp Thümmig: De vera refutatio- nis notione, Diss. phil. Kassel (?) 1725, kenne ich leider nicht. 25 Ch. Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes (Deut- sche Logik) c. 14, § 5, hg. von Hans Werner Arndt (Hildesheim 1965) 239; Logica § 1040, a. a.O. [Anm. 6] 745; Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1792; Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre § 565 (1752), in: I. Kant: Gesammelte Schriften. Akad.-Ausg. Bd. 16: Handschriftlicher Nachlaß Bd. 3 (Berlin, Leipzig 1924) 856f. 26 Johann Peter Reusch: Systema logicum antiquorum et recentiorum (Jena 1734, Neudr. Hildesheim 1990) 849; Andreas Böhm: Logica (Frankfurt a.M. 1749, Neudr. Hildesheim 1997) Widerlegung 13 rekt (refutatio directa, immediata) oder indirekt (refutatio indirecta, mediata),27 logisch-deduktiv (refutatio a priori) oder empirisch (refutatio a posteriori).28 Die letztere heißt dann in der Logik und Wissenschaftstheorie des 20. Jhs. häufig ›Falsi- fikation‹.

II. Begriff

Ambivalent, wie das Wort ›Widerlegung‹ ist, stellt sich die Frage nach den seman- tischen Kriterien des Begriffs. Der bloße Vorsatz29 reicht nicht. Es ist »zu einer Wi- derlegung nicht genug, daß man ausposaune, es sey einer widerleget worden.«30 Auf der anderen Seite wird seit Platon und Aristoteles aber auch die Erfolgs- qualifikation abgelehnt: Die ›sophistische‹ Widerlegung, wie Platon sie im Euthy- demos vorführt, und deren Theorie der Schlußteil des aristotelischen Organon lie- fert, ist gar keine Widerlegung.31 Sie beruht auf einem Trugschluß (παραλογισµóς), dessen unterschiedliche Entstehungsbedingungen der geschulte Dialektiker ken- nen muß, um im gegebenen Fall die Täuschung durchschauen zu können. Arthur Schopenhauer wird zwar den ›sophistischen‹ Begriff der Widerlegung zu rehabili- tieren versuchen.32 In der Regel wird der Begriff der Widerlegung aber nicht so gefaßt, daß die Definition es unmöglich macht, in die Kritik einer Widerlegung ein- zutreten. Eine Widerlegung muß auch mißlingen33 oder unerheblich sein können.34 Widerlegungen sind widerlegbar.35 Für die Widerlegung gilt insofern dasselbe wie für jedes andere Argument.

188; Johann Georg Walch / Justus Christian Henning: Philosophisches Lexicon (Leipzig 41775, Neudr. Hildesheim 1968) Bd. 1, 962. 27 G. F. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (1752), in: Kant, § 196, a. a.O. [Anm. 25] 489; vgl. schon Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia, Tom. 1 (Herborn 1630, Neudr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989–90) Bd. 1, 441a; auf Deutsch: Ludwig Heinrich von Jakob: Grundriß der allge- meinen Logik (Halle 1788) 231; Johann Christian Lossius: Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon (Erfurt 1803-06) Bd. 4, 604. 28 Wolff, Logica § 1024, a. a.O. [Anm. 6] 737. Vgl. Karl Raimund Popper: Conjectures and Refutations (London 1963) 196. 29 »[…] tentamen, nisus, vel conatus ad refutandum […]« Alexander Gottlieb Baumgarten: Logica (Halle 1761, Neudr. Hildesheim 1973) 194. 30 Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1792. 31 Aristoteles: Soph. El. 1, 164a20ff. 32 Arthur Schopenhauer: Zur Logik und Dialektik, in: Parerga und Paralipomena (1851). Werke. Zürcher Ausg. Bd. 9 (Zürich 1988) 28–40. 33 »[…] frustra refutare conatus [sc. es] quod ego dixeram […]« Augustinus: Contra Iulianum Pelagianum V, 2, 5. Migne P. L. Bd. 44, 784; Contra Maximinum Arianorum episcopum II, 16, 1. Migne P.L. Bd. 42, 781. 34 »[…] Mais cette refutation n’est pas grandchose […]« Gottfried Wilhelm Leibniz:Théo- dicée I, n. 333. Philos. Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt (Berlin 1875–90, Neudr. Hil- desheim 1965) Bd. 6, 313. 35 »Derjenige, welcher die Widerlegung unternimmt, ist der angreifende Theil […], und wer die Widerlegung widerlegt, der vertheidigende […].« Meier, Auszug § 499, a. a.O. [Anm. 27] 847. – »The sophistication comes in by way of refutation of refutations, but this alone will never give a 14 Sven K. Knebel

Unter der Voraussetzung, daß die Widerlegung ein Argument ist, sind drei Typen der Widerlegung zu unterscheiden: 1. die dialektische, 2. die polemische und 3. die immanente Widerlegung. 1. Aristoteles ordnet den Begriff der Widerlegung dem Begriff des Schlusses unter.36 Die Differenz37 setzt er in eine rein funktionale Bestimmung, in den Hin- zutritt eines äußeren Umstands.38 Die Widerlegung ist definiert als ein »Schluß auf das kontradiktorische Gegenteil« (ντιφáσευς σωλλογισµóς, contradictionis syllo- gismus)39 bzw. »Schluß mit kontradiktorischem Gegensatz zu der Konklusion« (σωλλογισµóς µετ ντιφáσευς το σωµπερáσµατος, syllogismus cum contradictione conclusionis),40 d. h. als ein Schluß, dessen Konklusion im Gegensatz zu der Konklusion eines anderen Schlusses steht.41 Wenn der Defendent den Satz P auf- stellt, und der Opponent bekommt von ihm Prämissen zugestanden, aus welchen non-P folgt, dann heißt dieser Schluß eine ›Widerlegung‹. Sofern P weder evident bewiesen42 noch ein manifester Widerspruch ist, 43 ist P ein möglicher Gegenstand der Widerlegung. 2. Es erzeugt einen stärkeren Begriff der Widerlegung, wenn man ihn dem Be- griff des Beweises unterordnet: »Widerlegung ist der Beweis der Unrichtigkeit eines Urteils oder eines Argumentes (Schlusses, Beweises) durch Aufdeckung der (materiellen) Irrtümer und (formalen) Fehler.«44 Diese Definition geht auf positive result […]« Bertrand Russell: A History of Western (1946, London 1984) 213. 36 Ioannes Philoponus: In Anal. pr. II 20, 66b14. CAG Bd. 13, 2, ed. Maximilianus Wallies (Berlin 1905) 462. 37 Aristoteles: Rhet. II 22, 1396b26. 38 »De omni syllogismo potest fieri elenchus per suppositionem oppositae conclusionis […], quia ›elenchus‹ dicitur quidem aggregatum ex syllogismo et accidente eius, qui est contradictio conclusionis. Sed non est eadem definitio subiecti per se et subiecti sumpti cum accidente: quare ›syllogismi‹ et ›elenchi‹ non erit eadem definitio.« Aegidius Romanus, a. a.O. [Anm. 15] 75ra. – »… syllogismus aliquando non est elenchus, sc. quando non fit ad contradicendum respondenti, et aliquando est elenchus, quando fit ad contradicendum respondenti.« Ockham, a. a.O. [Anm. 11] Bd. 3, 9. 39 Aristoteles: Anal. pr. II 20, 66b11 (mit der Übers. des Boethius); Soph. El. 9, 170b1. 40 Soph. El. 1, 165a2 (mit der Übers. des Boethius). 41 »Elenchus enim nichil aliud est nisi sillogismus cuius conclusio contradicit conclusioni alteri- us sillogismi.« Petrus Hispanus, a. a.O. [Anm. 11] 162. – »[…] elenchus est ›syllogismus contradic- tionis‹,[…] quia infert conclusionem contradicentem positioni respondentis.« Johannes Eck: Dialectica (Augsburg 1516-17) Bd. 2, 171rb. – Ganz anders die Erklärung bei Ps.-Lambertus von Auxerre: Logica (Summa Lamberti) [ca. 1250], hg. von Franco Alessio (Florenz 1971) 142. 42 »[…] quod propositiones ad scientiam pertinentes falsificabiles essent […], est contra - sophum I Posteriorum […]« Hieronymus Pardo († 1502): Medulla Dyalectices (Paris 1505) 82vb–83ra, zit. bei Jeffrey Coombs: Jeronimo Pardo on the Necessity of Scientific Propositions. In: Vivarium 33 (1995) 13. 43 »Omnis falsitas refutari potest exceptis primis, in quibus idem negatur de seipso, vel affirma- tur de opposito. A non est A. A est non A.« G. W. Leibniz: Definitiones cogitationesque metaphysi- cae (1678/81?). Akad.-Ausg. Bd. 6/4 (Berlin 1999) 1395. 44 Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Berlin 41927-30) Bd. 3, 543. Vgl. Jean Ladrière: Réfutation, in: Sylvain Auroux (Hg.): Les Notions philosophiques. Dictionnaire Widerlegung 15

Christian Wolff zurück.45 Systematisch vorausgesetzt ist hier die Diskriminie- rung zwischen wahr und falsch.46 Wolff und seine Schule lehren mit Platon: »Ein wahrer Satz kann zwar bestritten und angegriffen, aber niemals widerlegt werden«.47 Umgekehrt folgt aus ihrer Unwiderleglichkeit allerdings nicht, daß eine These wahr ist.48 Thesen können »widerlegungsbedürftig« sein.49 Widerlegt werden φαντασíαι und δóξαι50: »Nur Irrthümer können richtig widerlegt wer- den.«51 Die Widerlegung zielt auf die »Vertilgung […] des Irrthums«,52 z. B. die »hermeneutische Widerlegung« (refutatio hermeneutica)53 auf die Berichtigung von Mißverständnissen. 3. Logische Korrektheit besagt wenig über die Qualität einer Widerlegung. Daß nach Aristoteles die Prämissen einer Widerlegung weithergeholt sein können, daß die Widerlegung nach klassischem Verständnis überhaupt irgendwoher geführt wird,54 wird im Deutschen Idealismus mißbilligt: »Ist die Widerlegung gründlich, so ist sie aus ihm (sc. dem widerlegten Satz) selbst genommen und entwickelt, – nicht durch entgegengesetzte Versicherungen und Einfälle von außen her bewerk- stelligt.«55 Die Widerlegung darf »nicht von außen kommen, d. h. nicht von Annah- men ausgehen, welche außer jenem Systeme liegen, denen es nicht entspricht […]

(Paris 1990) Bd. 2, 2203b: »Réfutation: Opération logique par laquelle on démontre la fausseté d’une thèse… La réfutation est l’inverse de la démonstration… Réfuter une proposition, c’est dé- montrer sa négation.« 45 »Refutatio est demonstratio falsitatis propositionis, quam alter pro vera habet.« Wolff,Lo- gica § 1021, a. a.O. [Anm. 6] 736. Daher Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1787; Meier, Auszug § 499, a. a.O. [Anm. 27] 846 f.; Jakob, a. a.O. [Anm. 27] 231; Friedrich Ueberweg: System der Logik § 136 (11857, Bonn 51882) 462. 46 »[…] Non melius prospici potest Studiosorum profectibus, quam si doceantur, […] cum παι- δεíα veri, cui fides inaedificetur, iungere λεγχον falsi, quo errores, quibus […] impugnari solet, so- lide refutentur.« Franciscus Turrettinus (1623–87): Institutio theologiae elencticae (Genf 1688) Praef. 47 »Propositio vera impugnari, non refutari […] potest.« Wolff, Logica § 1019, a. a.O. [Anm. 6] 734. Auf Deutsch: Jakob, a. a.O. [27] 231; Johann Gottlieb Buhle: Einleitung in die allgemeine Logik (Göttingen 1795, Neudr. Brüssel 1968) 209; Wilhelm Traugott Krug: Logik § 186 (Wien 1818) 683. Vgl. Platon: Gorg. 473b. 48 »[…] the logical or empirical irrefutability of a theory is certainly not a sufficient reason for holding the theory to be true.« Popper, a. a.O. [28] 196. 49 »[…] haec doctrina […] falsa est et refutanda […]« Ruiz de Montoya, De voluntate Dei, a. a.O. [Anm. 17] 197a. Vgl. Platon: Leg. X, 905d; Augustinus: Epist. 2, 8, 8. CSEL 88 (Wien 1981) 16. 50 Platon: Theaet. 161e. 51 Meier, Auszug § 499, a. a.O. [Anm. 27] 847. 52 Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre, Beilage X (1810–12). Kritische Ausg., hg. von Ernst Behler [u. a.] Bd. 19 (Paderborn 1971) 298. 53 G. F. Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (Halle 1757, Neudr. Düsseldorf 1965) 127. 54 Plotin: Enn. V 5, 2, 20–21. Vgl. Aristoteles: Soph. El. 9, 170a20ff. 55 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke Bd. 9 (Hamburg 1980) 21. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre (1804). Nachgelassene Werke, hg. von Immauel Hermann Fichte (Berlin 1834–35, Neudr. Berlin 1971) Bd. 2, 113. 16 Sven K. Knebel

Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.«56 Spätestens die Forderung nach immanenter Widerlegung macht eine grundle- gende Veränderung der Rahmenbedingungen bewußt. Die dialektische Widerle- gung hatte, nach forensischem Muster, ihren Ort in einer mündlichen Verhand- lung. Die Widerlegung war einer Argumentationspraxis zugeordnet, in der es völlig legitim ist, auch taktisch zu operieren, d. h. als Opponent die eigene Argu- mentationsabsicht zu verschleiern57 und als Defendent sich gegen Widerlegung zu immunisieren.58 Der Aristotelismus wird nicht müde zu betonen, die Widerlegung sei als solche situationsgebunden.59 Zweck der Übung ist die Überführung des Gegners: »Eine Widerlegung ist dann am Ziel, wenn der Defendent durch die Ar- gumentation und in derselben Disputation gezwungen wird, das zu verneinen, was er vorher bejaht hat, bzw. das zu bejahen, was er vorher verneint hat«.60 »Wenn ei- ner aber nicht in derselben Disputation oder nicht kraft der Argumentation, son- dern willkürlich, vorher Bejahtes verneint bzw. vorher Verneintes bejaht, dann ist

56 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik Bd. 2 (1816). Gesammelte Werke Bd. 12 (Hamburg 1981) 14f. 57 Aristoteles: Anal. pr. II, 19, 66a33–b3. Dazu Top. VIII, 1, für die lateinische Tradition auf- bereitet von Aganafat: Thesaurus philosophorum II, 4 (De cautelis ex parte opponentis), in: L.M. de Rijk: Die mittelalterlichen Traktate De modo opponendi et respondendi. Beiträge zur Gesch. der Philos. und Theol. des Mittelalters N.F. Bd. 17 (Münster 1980) 151ff. 58 »[…] defendens […] totum onus probandi relinquat arguenti. […] semper ante oculos habe- at commune adagium inter disputantes saepe nega, raro distingue, numquam concede […]« Bar- tolomeo Mastri da Meldola (1602–73) / Bonaventura Belluto (1603-76): Institutiones dialecticae I, 125, in: Cursus philosophicus ad mentem Scoti (Venedig 41727) Bd. 1, 41a. Eine abge- schwächte Version der Regel bei Matthaeus Liberatore: Institutiones philosophicae (Prati 1883) Bd. 1, 100: Saepe nega, concede parum, distingue frequenter. – Mehr eristisch Aganafat: Thesaurus philosophorum II, 6 (De cautelis ex parte respondentis), in: de Rijk, a. a.O. [Anm.57] 156ff. – »Wer […] nichts zugibt, den kann man auch von nichts überführen.« Jakob Friedrich Fries: System der Logik (Heidelberg 31837, Neudr. Leipzig 1914) 440. 59 »Elenchus formaliter est elenchus per respectum ad propositionem actualiter concessam vel conclusam.« Ps.-Alexander von Aphrodisias : In Aristotelis Sophisticos Elenchos commentarii in Latinum translati fragmenta, hg. von Sten Ebbesen: Commentators and Commentaries on Ari- stotle’s Sophistici Elenchi. A Study of Post-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Falla- cies (Leiden 1981) 2, 358f.Vgl. Aegidius Romanus: Expositio supra libros Elenchorum Aristotelis (Venedig 1500) 3vb; Ockham, a. a.O. [Anm. 11] Bd. 3, 9; Julius Pacius (1550–1635): In Porphyrii Isagogen et Aristotelis Organum Commentarius analyticus (Frankfurt a.M. 1597, Neudr. Hildes- heim 1966) 480a. 60 »[…] tunc dicitur respondens duci ad metam redargutionis, quando vi argumentationis et in eadem disputatione cogitur negare quod prius affirmaverit, vel affirmare quod prius negaverit.« Ps.-Lambertus von Auxerre, a. a.O. [Anm. 41] 144; Thomas von Aquin (?): De fallaciis c. 3; Walter Burley (?): Fallaciae breves, hg. von Clemens Kopp: Ein kurzer Fehlschlußtraktat: Die Fallaciae breves (ad modum Oxoniae), in: Albert Zimmermann (Hg.): Studien zur mittelalterli- chen Geistesgeschichte und ihren Quellen (Miscellanea Mediaevalia Bd. 15) (Berlin, New York 1982) 262–277, hier 263. Widerlegung 17 das keine Widerlegung«.61 Die Widerlegung zelebriert den gegnerischen Verstoß gegen das Widerspruchsprinzip:62 »Widerlegung heißt die Vereinigung (σωναγυγ) der Gegensätze.«63 Über die Kritik an den ›sophistischen‹ Widerlegungen kann daher nicht überse- hen werden, daß im Aristotelismus die Widerlegung etwas anderes ist als ein »ne- gativer Beweis«64. Bei Aristoteles würde dieser vielmehr als Spezialfall rangieren: »Es gibt indessen auch wahre Widerlegungen. Denn wo immer es möglich ist, et- was zu beweisen, in bezug darauf ist es auch möglich, den, der das Gegenteil der Wahrheit behauptet, zu widerlegen.«65 Die Angleichung der Widerlegung an die im Aristotelismus für den wissenschaftlichen Beweis üblichen Standards hat sich erst in der Tradition angebahnt.66 Die deutsche Schullogik diskriminiert jeden- falls regelmäßig zwischen der Widerlegung κατ λθειαν und der Widerlegung κατ νθρυπον (»wenn der Grundsatz, aus welchem sie geführt wird, eine bloß subjektive Meinung des Gegners ist«) zum Nachteil der letzteren. Daß sie »ex con- cessis« erfolgt, d. i. ihre Situationsgebundenheit, ist jetzt ein Einwand gegen eine Widerlegung.67 Zumindest inneruniversitär wird zwar vielfach daran festgehalten, die Widerlegung auf eine mündliche Verhandlung zu beziehen: »Wer mit einem andern disputiret, hat sich vorgenommen, ihn des Irrthums seiner Sätze, die er be- hauptet, mündlich zu überführen.«68 Aber der Ausdruck ›Disputation‹ läßt sich auf die Bezeichnung dafür nicht einschränken, denn um 1700 ist die Disputation ihrer- seits längst auch eine eigenständige literarische Gattung: »Man disputiret entwe- der mündlich oder in Schrifften.«69

61 »[…] si autem non in eadem disputatione, vel vi argumenti, sed propria voluntate aliquid ne- gat concessum, vel concedat negatum, non est redargutio.« Thomas von Aquin (?): De fallaciis c. 3. 62 »[…] redargutio est contra metaphysicam, ad quam pertinet consideratio huius primi princi- pii: contradictoria non sunt simul vera […]« Thomas von Aquin, ebd. 63 Aristoteles: Rhet. III, 9, 1410a22. Vgl. Platon: Soph. 230b. 64 I. Kant: Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) A 26.Ges. Schriften. Akad.-Ausg. Bd. 2 (Berlin 1912) 182; Christoph Sigwart: Logik (1873–78, Tübingen 41911) Bd. 2, 295f.; Ladrière, a. a.O. [Anm. 42]. 65 Aristoteles: Soph. El. 9, 170a23–25. 66 »Elenchus est argumentatio probativa conclusionis contradictoriae vel contrariae positioni respondentis. Ex quo patet, quod ad elenchum tres conditiones requiruntur: Prima est, quod sit ar- gumentatio, et propter hoc mala consequentia non potest esse elenchus. Secundo requiritur, quod sit probativa, et propter hoc syllogismi et consequentiae procedentes per praemissas falsas non sunt elenchi pro tanto, quod falsum nihil probat. Similiter consequentia procedens ex minus notis non est elenchus ex eo, quod minus notum non probat magis notum.Tertia conditio, quod illa argu- mentatio sit probativa conclusionis contradictoriae vel contrariae positioni respondentis. Ex quo sequitur, quod ad verum elenchum requiruntur omnes conditiones requisitae ad veram argumen- tationem […]« Johannes Dorp († nach 1418): Perutile compendium totius Logicae Ioannis Buri- dani, cum expositione (Venedig 1499, Neudr. Hildesheim 1965) Lage r3ra. 67 Jakob, a. a.O. [Anm. 27] 233; Krug, a. a.O. [Anm. 47] 683f.; Fries, a. a.O. [Anm. 58] 441. 68 Wolff, Deutsche Logik 15, 1, a. a.O. [Anm. 25] 241; Logica § 1083, a. a.O. [Anm. 6] 771. 69 Christian Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, 5. Kap. (»Von der Geschickligkeit, an- derer Irrthümer zu widerlegen«) (Halle 1691, Neudr. Hildesheim 1968) 275. 18 Sven K. Knebel

Sobald einsam, in literarischer Form, widerlegt wird, baut sich vor der Dialektik die Hermeneutik auf. Das belastet, schon seit Platon,70 das Verhältnis zu den Phi- losophen der Vergangenheit. »Je dunkler und vieldeutiger sein Stil ist, desto schwerer läßt sich ein Autor widerlegen, und daher«, meint Joachim Jungius (1587–1657), »läßt sich Aristoteles von allen am wenigsten widerlegen, denn sein Stil ist der allervieldeutigste. Jeder seiner Anhänger projiziert ja die eigene An- sicht in ihn und möchte lieber den Eindruck erwecken, sie von Aristoteles über- nommen zu haben, als originell zu sein.«71 Der Kreis der Autoren, die für eine Wi- derlegung in Betracht kommen, ist darum faktisch auf Angehörige derselben Kultur oder Subkultur beschränkt. Leibniz befolgt die Regel, nur lebende Auto- ren zum Gegenstand der Widerlegung zu machen.72 Dem pragmatischen Aspekt der Widerlegung wird unter diesen Umständen ›diskursethisch‹ Rechnung getra- gen (»Rechthaberei«;73 Umgangsformen;74 Klugheitsregeln;75 Anzahl der zu wech- selnden Streitschriften76). Allerdings hat sich eher der Cartesianer Samuel We- renfels (1657–1740) mit seiner Deeskalierungsstrategie durchgesetzt, jede polemische Bezugnahme auf Personen, Bücher und Schulen nur ja zu vermeiden.77

III. Einteilung

Die Schullogik unterscheidet zwischen der Widerlegung einer Behauptung und der eines Beweises. Im letzteren Fall bleibt die Behauptung unangefochten.78 »DieWiderlegung einer Behauptung ist identisch mit dem Gegenbeweise […]. Die

70 Platon: Prot. 347e; Theaet. 164e. 166a/c; Phaedr. 275e. 71 »Quo quis obscurius et magis ambigue scripsit, eo difficilius refutari potest, ideo Aristoteles omnium minime refutari potest, quia omnium maxime ambigue scripsit, hinc quilibet eius secta- torum suam opinionem ex eo deducit, eique acceptam refert, mavultque ex Aristotele didicisse vi- deri, quam ipse invenisse.« Joachim Jungius: Logica. Didactica. In: Logicae Hamburgensis addita- menta, hg. von Wilhelm Risse (Göttingen 1977) 133. 72 »[…] je me suis degouté de publier des refutations des auteurs morts, quoyqu’elles dûssent paroître pendant leur vie, et être communiquées à eux mêmes.« Leibniz: Brief an N. Remond (14. 3. 1714), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 3, 612 (zur Begründung dafür, warum er die Nouveaux Essais sur l’entendement humain nach dem Tod Lockes nicht publiziert). 73 Fries, a. a.O. [Anm. 58] 440. 74 Leibniz: Brief an Conring (24. 8. 1677), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 1, 181; Thomasius,a.a.O. [Anm. 69] 274f. 75 Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1788. 76 Thomasius, a. a.O. [Anm. 69] 290ff.; Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1790. 77 »Si non homines, non libros, non sectas, sed falsa dogmata refutamus, fieri vix potest, ut in lo- gomachiam incidamus: dogma enim, quod refutamus, plerumque revera cum nostra sententia pugnabit: sed si hoc dogma homini, libro, aut sectae tribuimus, si non tam dogma refutamus, quam homines propter dogma: fit saepe, ut cum verbis pugnemus.« S. Werenfels: De logomachiis erudi- torum (11692, Frankfurt a.M. 1724) 225. 78 August Friedrich Hoffmann: Vernunft-Lehre (Leipzig 1737) 1212f.; Jakob, a. a.O. [Anm. 27] 234. Vgl. Leibniz: Brief an H. Basnage (1693), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 3, 97. Ein Beispiel ist das Widerlegung 19

Widerlegung eines Beweises geschieht entweder durch Entkräftung der Beweis- gründe […] oder durch den Nachweis ihrer materialen Unwahrheit.«79 Die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Widerlegung wird zwar manchmal damit auch für deckungsgleich gehalten,80 in der Regel jedoch über- schneiden sich die beiden Einteilungen. Unter Rekurs auf die syllogistische Dispu- tationstechnik werden direkte und indirekte Widerlegung so erklärt: »Der erstere [sc. Weg] greift die These bei ihren Gründen, der andere bei ihren Folgen an. Jener beweist, daß sie nicht wahr sei; dieser, daß sie nicht wahr sein könne […] a) Auf dem direkten Wege widerlegend, also die Gründe der These angreifend, zeigen wir entweder, daß diese selbst nicht wahr seien, indem wir sagen: nego majorem, oder nego minorem; durch Beides greifen wir die Materie des die These begründenden Schlusses an. Oder aber wir geben diese Gründe zu, zeigen jedoch, daß die These nicht aus ihnen folgt, sagen also: nego consequentiam; wodurch wir die Form des Schlusses angreifen. – b) Auf dem indirekten Wege widerlegend, also die These bei ihren Folgen angreifend, um aus der Unwahrheit dieser […] auf ihre eigene Un- wahrheit zu schließen, können wir uns entweder der bloßen Instanz, oder aber der Apagoge bedienen«,81 d. h. entweder eines Einwandes in Form z. B. eines Gegen- beispiels oder der Reductio ad absurdum. Bei dieser nimmt der Opponent »den zu widerlegenden Satz als wahr an und zieht durch richtige Schlüsse eine Folge, die der andere selbst für falsch erkennt«.82 Der Begriff der indirekten Widerlegung deckt sich mit dem von anderen sog. »Gegenbeweis a posteriori«.83 Es ist keine Variante des indirekten Beweises, denn unter den Begriff des indirekten Beweises fällt auch die direkte Wider- legung: »Die Widerlegung ruht allenthalben auf indirekten Beweisen.«84 »Die Widerlegung eines Satzes kann niemals der unmittelbare Schlußsatz eines Be- weises sein.«85 Allerdings kommt es, wo die alte Disputationstechnik unberück- sichtigt bleibt, auch vor, daß die Widerlegung überhaupt in die indirekte Widerle- gung gesetzt wird: »[…] the logical schema, ›If P then Q; but not-Q; therefore not- P‹ […] is the standard argument-pattern of refutation.«86 Manchmal wird der

Dogma von der Unsterblichkeit der Seele, denn nicht wenige Scholastiker haben bestritten, daß es sich philosophisch beweisen läßt. Die vermeintlichen Beweise werden zerpflückt von den Franzis- kanern Mastri da Meldola / Belluto: Disputationes in Aristotelis Stagiritae libros De anima, I, 146–65, a. a.O. [Anm. 58] Bd. 3, 38ff. 79 Ueberweg, a. a.O. [Anm. 45]. 80 Buhle, a. a.O. [Anm. 47] 211. 81 Schopenhauer, a. a.O. [Anm. 32] 34f. Vgl. Der handschriftliche Nachlaß, hg. von Arthur Hübscher (Frankfurt a.M. 1966-74) Bd. 3, 677f. 82 Jakob, a. a.O. [Anm. 27] 233. 83 Hoffmann, a. a.O. [Anm. 78] 1217. 84 Adolph Trendelenburg: Logische Untersuchungen (Leipzig 31870) Bd. 2, 432. 85 Hermann Lotze: Grundzüge der Logik und Encyklopädie der Philosophie § 73 (Leipzig 21885) 72. 86 William Kneale / Martha Kneale: The Development of (Oxford 1962, 91986) 7 (mit Bezug auf Platon). 20 Sven K. Knebel

Modus tollens durch die Erwartung spezifiziert, daß Q hier speziell für eine Dis- junktion steht.87 Ein Sonderfall der Instanz ist die empirische Widerlegung.

IV. Empirische Widerlegung

Eine These unter Hinweis auf historische Beispiele,88 auf die Mehrheitsmeinung89 oder auf andere Formen der Autorität zu »widerlegen«, gilt seit Sokrates für un- zulässig. Anders steht es mit der »unmittelbaren«90 oder »Widerlegung aus der Er- fahrung«91. Daß Widerlegungen unverändert Erfolg zugetraut wird, hängt sogar wesentlich mit der Gewichtsverschiebung zusammen, welche der Mythos Galilei im Begriff der Widerlegung zugunsten der empirischen Widerlegung bewirkt hat: »Wenn dem Satz, den der andere für wahr hält, eine gegenteilige Beobachtung oder Erfahrung entgegengehalten wird, ist eben dadurch der Satz widerlegt.«92 Darauf gründet Goethe die Befugnis zur Aufstellung kühner Hypothesen: »In der Naturgeschichte […] kann man Hypothesen wagen; denn die Fehler sind leicht zu finden: jeder Knochen, jede Pflanze, die mir in die Hände fällt, widerlegt mich.«93 Die Wissenschaftstheorie des 20. Jhs. hat diese Zuversicht erschüttert. Karl Pop- pers Kritischem Rationalismus zufolge ist zwar grundsätzlich nur die Widerle- gung, nicht die Verifikation, einer empirischen Theorie möglich.94 Eine Theorie prüfen heißt sie widerlegen wollen.95 Vom »naiven Falsifikationismus« unterschei- det er sich jedoch durch den Zweifel daran, daß es die sichere Tatsachenbasis gibt, welche das leistet. Unter welchen Bedingungen »ein allgemeiner Satz mit Basissät-

87 Sigwart, a. a.O. [Anm. 64] 2, 296. Beispiel: Hegel: Wissenschaft der Logik Bd. 1 (1812). Ge- sammelte Werke Bd. 11 (Hamburg 1978) 34. 88 Platon: Gorg. 470d. 89 Gorg. 471e. 473e. 90 Hegel, a. a.O. [Anm. 87] 264. 91 Hegel, a. a.O. [Anm. 56] 227. 92 »Si propositioni, quam alter pro vera habet, observatio vel experimentum seu experientia contraria opponitur, propositio eo ipso est refutata.« Wolff, Logica § 1053, a. a.O. [Anm. 6] 753. Vgl. z. B. Leibniz: Hypothesis physica nova (1671), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 4, 188. 193; Brief an N. Hartsoeker (8. 2. 1712), a. a.O. Bd. 3, 533f. »Die schlagendste Widerlegung […] aller […] philoso- phischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie.« : Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Klassischen deutschen Philosophie (1888). Marx-Engels Werke, Bd. 21 (Berlin 1962) 276. 93 J.W. von Goethe: Gespräche, hg. von Flodoard von Biedermann (Leipzig 1909) Bd. 1, 174. 94 »[…] there is an important asymmetry between the verification and the refutation of a theo- ry in empirical science. Refutation has been said to be conclusive or decisive while verification was claimed to be irremediably inconclusive […]« Adolf Grünbaum: The Falsifiability of a Compo- nent of a Theoretical System, in: Paul K. Feyerabend / Grover Maxwell (Hg.): , Matter, and Method. Essays in Philosophy and Science in Honor of Herbert Feigl (Minneapolis 1966) 273–305, hier 274f. 95 »Every serious test of a theory is an attempt to refute it.« Popper, a. a.O. [Anm. 28] 197. Widerlegung 21 zen im Widerspruch« steht, 96 ist das von Popper und seiner Schule ungelöste Pro- blem. Was ist als Basissatz, d. h. als widerlegende Instanz, »anerkannt«?97 Wie die »Falsifikationskrise«98 bewältigt wird, ist allemal offen. Nicht nur, daß es immer möglich bleibt, sich durch Hilfshypothesen gegen Widerlegung zu immunisieren. Imre Lakatos (1922–74) behauptet, durch die empirische Widerlegung allein sei keine Theorie erledigt,99 ja Theorien wichen streng genommen überhaupt nur Theorien: »Für den naiven Falsifikationisten ist eine ›Widerlegung‹ ein experimen- telles Ergebnis, das kraft seiner Entscheidungen mit der zu prüfenden Theorie in Konflikt gebracht wird. Im raffinierten Falsifikationismus darf man aber solche Entscheidungen erst dann treffen, wenn die angeblich ›widerlegende Instanz‹ die bewährende Instanz einer neuen, besseren Theorie geworden ist.«100

V.Widerlegung in der Philosophie

Daß er »Theorien«101 oder »Systeme«102 widerlegt, gehörte einmal zum streitbaren Image des Philosophen.103 Auch der friedfertige common sense-Philosoph gab sich aus der Geschichte der Philosophie davon überzeugt, daß »die wichtigsten Ent- deckungen und Fortschritte in ihr [sc. der Philosophie] Folgen der Prüfung und Widerlegung älterer Meinungen gewesen sind«.104 Nun scheidet die empirische Widerlegung in der Philosophie aus. Auf der anderen Seite erschöpft sich die

96 K. Popper: Logik der Forschung (Tübingen 21966) 66 f. 97 Ebd. 54. 98 Hans Joachim Knebel: Ansätze einer soziologischen Metatheorie subjektiver und sozialer Systeme (Stuttgart 1970) 36. 99 Imre Lakatos: Wandlungen des Problems der induktiven Logik (1968), in: ders.: Mathe- matik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften Bd. 2, hg. von John Worrall / Gregory Currie (Braunschweig-Wiesbaden 1982) 124–195, hier 172. Vgl. I. La- katos: Proofs and Refutations: The Logic of Mathematical Discovery (Cambridge 1976). 100 I. Lakatos: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, dt. Übers. von A. Szabó, in: I. Lakatos / Alan Musgrave (Hgg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt [Engl.: Criticism and the Growth of Knowledge] (Braunschweig 1974) 89–189, hier 119. 101 »[…] I shall be concerned to refute a theory which is widely held, and which I formerly held myself […]« B. Russell: The of Mind (London 1921) 9. 102 François de Salignac de la Mothe Fénelon: Réfutation du système du Père Malebranche sur la nature et la grace. Œuvres philosophiques, hg. von Amédée Jacques (Paris 1845) 299– 483. Vgl. Leibniz: Brief an Jaquelot, a. a.O. [Anm. 34] 6, 570 (»[…] le système que vous voules refu- ter…«); Hegel, a. a.O. [Anm.56] 14 (»[…] Widerlegung eines philosophischen Systems […]«); Fried- rich Engels / Karl Marx: Die heilige Familie (1845), a. a.O. [Anm. 92] Bd. 2 (Berlin 1957) 137. 103 Vgl. namentlich Leibniz: Brief an de Volder (1699), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 2, 193; an Des Bosses (21. 7. 1707), a.a.O. Bd. 2, 336; an Coste (30. 5. 1712), a. a.O. Bd. 3, 421f.; an Remond (4. 11. 1715), a. a.O. Bd. 3, 657f.; an Clarke (1716), a. a.O. Bd. 7, 363; Nouveaux Essais sur l’entendement I, chap. 15, a. a.O. Bd. 5, 142. 104 Christian Garve: Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, in: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, 2. Teil (11796, Breslau 1801) 327. 22 Sven K. Knebel

Widerlegung aber auch nicht im Aufweis von Inkohärenzen und logischen Feh- lern. Die Masse der tatsächlich vorkommenden Widerlegungen argumentiert dia- lektisch, d. h. unter Rekurs auf bestimmte Topoi, z. B. Kategorienfehler, infiniter Regreß, Antinomie oder Verstoß gegen das Sparsamkeitsprinzip. Beliebt ist die Reductio ad absurdum.105 Ein besonders ergiebiger Topos ist die Retorsion.106 Im engeren Sinn versteht man darunter technisch das Umfunktionieren eines gegnerischen Arguments,107 ein Kunstgriff, auf den dann etwa eine Distinktion fällig ist.108 Sieht man die Re- torsion jedoch in der Verlängerung der περιτροπ το λóγοω, 109 dann rückt sie zum Oberbegriff für alle möglichen Formen der ›Selbstwiderlegung‹ auf. Subsumiert werden ihr der von Aristoteles geführte indirekte Beweis (ποδεíξαι ελεγκ- τικς) des Satzes vom Widerspruch;110 das klassische Argument gegen den Skepti- zismus, daß er sich durch die Bestreitung, daß es für irgendetwas einen Beweis gibt, selbst widerlege;111 die logische Struktur der Paradoxien;112 die aus der Eu- klid-Kommentierung geläufige consequentia mirabilis, derzufolge aus der Annah- me des Falschen unmittelbar das Wahre folgt.113 In diesem allgemeineren Sinn ist die Retorsion nicht auf das Parieren von Angriffen festgelegt. Da Philosophen Leute sind, deren Äußerungen grundsätzlich gegen sie verwendet werden können, ist es ein für philosophiegeschichtliche Sequenzen typisches Muster, daß Philoso- phen bei ihren Nachfolgern eben der Kritik verfallen, die sie an ihren Vorgängern geübt haben.

105 »Die psychologistischen Vorurteile […] § 45 Widerlegung: Auch die reine Mathematik wür- de zu einem Zweige der Psychologie.« Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. 1. Bd.: Pro- legomena zur reinen Logik. Husserliana Bd. 18/1 (Den Haag 1975) 171. 106 Carl F. Gethmann: Retorsion, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstrass (Stuttgart, Weimar 1995-96) Bd. 3, 597b–601b. 107 Jungius, a. a.O. [Anm. 16] 384 f.; Alsted, a. a.O. [Anm. 27] 441a; Meier, Auszug § 509, a. a. O. [Anm. 27] 855; Constantin Gutberlet: Logik und Erkenntnistheorie (Münster 31898) 127. 108 »[…] retorquebit fortasse aliquis argumentum contra nos […]. Huic obiectioni occurrimus notando discrimen […]« Ruiz de Montoya, De voluntate Dei a. a.O. [Anm. 17] 304b. 109 Sextus Empiricus, Pyrrh. Hyp. II, 128. 185. Den Hinweis verdanke ich Dr. Margarita Kranz (Berlin). 110 Aristoteles: Metaph. IV, 4, 1006a11ff. 111 Sextus Empiricus, Pyrrh. Hyp. II, 185. Vgl. auch John Howe (1630–1705): The Living Tem- ple II (Animadversions on Spinosa) 1, 10. The Works (London 1848, Neudr. Ligonier/Pennsylv. 1990) Bd. 1, 187: »Upon the whole, little more seems needful for the refutation of this horrid doc- trine of the unity, self-existence, and infinity of all substance, than only to oppose Spinosa to Spino- sa.« 112 Vgl. William C. Charron / John P. Doyle: On the self-refuting statement »There is no truth«: a medieval treatment, in: Vivarium 31 (1993) 241–266. 113 Vgl. Ignacio Angelelli: On Saccheri’s use of the »consequentia mirabilis«, in: Akten des II. Intern. Leibniz-Kongresses Hannover, 17.-22. Juli 1972 (Wiesbaden 1975) Bd. 4, 19–26; Cyril F.A. Hoormann: A further examination of Saccheri’s use of the ›consequentia mirabilis‹. In: Not- re Dame Journal of Formal Logic 17 (1976) 239–247; Christian Thiel: Clavius und die Conse- quentia Mirabilis, in: Leibniz. Werk und Wirkung. IV. Intern. Leibniz-Kongreß Hannover 1983. Vorträge (Hannover 1983) 765–774. Widerlegung 23

Je nachdem, von welchem Begriff der Widerlegung sie ausgeht, spielt die Wider- legung in der Philosophie eine unterschiedliche Rolle. Die polemische Widerle- gung hat traditionell einen apologetischen Tenor.114 Widerlegt werden Angriffe auf die Wertgegenstände der natürlichen Theologie – paradigmatisch die Widerlegung des Atheismus.115 Die »Widerlegung des Agnostizismus« weist der christliche Apologet der Philosophie zu.116 Aus dem Vermögen, Falsches zu widerlegen, zieht der Neuplatoniker sogar einen Beweis für die Immaterialität und Eigenaktivität des Geistes.117 Die dialektische Widerlegung hingegen ist ein Merkmal desjenigen Typs Philosophie, zu dessen Selbstverständnis es bis ins 18. Jh. gehörte, pro und contra zu disputieren.118 Der disputative Stil – Hochkonjunktur hatte er in der Je- suitenscholastik – beruht auf der Annahme, die Philosophie organisiere sich in ei- nem gewissen Inbegriff von Streitfragen, und der Wahrheitsanspruch der hierzu bezogenen Positionen sei danach zu beurteilen, wie weit es ihnen gelingt, die Ge- genargumente zu entkräften: »Solutio dubiorum est veritatis manifestatio.«119 »Alle Wahrheit wird durch Widerlegung der Möglichkeiten des Gegentheils klar.«120 Daraus folgt, daß Kant einen allzu engen Begriff der Widerlegung hat, wenn er sagt: »[…] um Irrthümer zu vermeiden, muß man die Quelle derselben, den Schein, zu entdecken und zu erklären suchen. Das haben aber die wenigsten Philo- sophen gethan. Sie haben nur die Irrthümer selbst zu widerlegen gesucht, ohne den Schein anzugeben, woraus sie entspringen. Diese Aufdeckung und Auflösung des Scheines ist aber ein weit größeres Verdienst um die Wahrheit als die directe Widerlegung der Irrthümer selbst, wodurch man die Quelle derselben nicht ver- stopfen und es nicht verhüten kann, daß nicht der nämliche Schein, weil man ihn nicht kennt, in andern Fällen wiederum zu Irrthümern verleite. Denn sind wir auch

114 »[…] Neque enim hoc opere omnes omnium philosophorum vanas opiniones refutare sus- cepi, sed eas tantum quae ad theologiam (sc. naturalem) pertinent.« Augustinus: De civ. Dei VIII, 1. Migne P.L. Bd. 41, 225. Vgl. Pius IX. (1792–1878): Ep. »Tuas libenter« (21.12.1863), in: Enchiri- dion Symbolorum § 2877, hg. von Heinrich Denzinger / Adolf Schönmetzer (Freiburg i. Br. 321963). 115 Vgl. z. B. Böhm, a. a.O. [Anm. 26] 188: »[…] refutamus atheum, dum demonstramus falsam esse propositionem non datur Deus.« 116 Eugen Rolfes: Die Wahrheit des Glaubens durch gründliche Beweise ins Licht gestellt. Bd. 1: Die natürliche Religion (Brühl 1910) 7. 117 »Quae vis […] veris falsa redarguit?« Boethius: De consolatione philosophiae 5 metr. 4. CSEL Bd. 67 (Wien 1934) 119. Antwort: die mens. 118 Im katholischen Deutschland verbreitete Lehrbücher waren: Laurent Duhan († 1726): Philosophus in utramque partem, sive Selectae et limitatae difficultates in utramque partem, cum responsionibus (11694, Nürnberg 151753); Matthias Heimbach S. J. (1666–1747): Philosophia argu- mentosa Theses philosophicas acriter in utramque partem disputatas exhibens (11703, Köln 1747). Besonders anspruchsvoll: Johann Baptist Hofer S. J. (1677–1760): Promptuarium philosophicum complectens argumenta e nobilioribus philosophiae totius controversiis proposita ad disputandum (Ingolstadt 11717, 41740). 119 Ockham: Summa logicae I, 17, a. a.O. [Anm. 11] Bd. 1, 57. 120 Hoffmann, a. a.O. [Anm. 78] 1210. 24 Sven K. Knebel

überzeugt worden, daß wir geirrt haben: so bleiben uns doch, im Fall der Schein selbst, der unserm Irrthume zum Grunde liegt, nicht gehoben ist, noch Scrupel übrig, so wenig wir auch zu deren Rechtfertigung vorbringen können.«121 Die scholastische Disputationsliteratur trifft Kants Vorwurf nicht, denn mit einer Er- klärung dafür aufzuwarten, wie der Gegner dazu kommt, die Sache anders zu se- hen, war ja ein Hauptzweck sowohl der Distinktionen als auch der habituellen Be- antwortung der Gegenargumente. An der Widerlegung eines Arguments, bemerkt der disputativ geschulte Bernard Bolzano (1781–1848), ist im übrigen häufig weniger der Nachweis der Unrichtigkeit selbst als der didaktische Ertrag zu würdi- gen. Bolzano definiert die Widerlegung als einen »Inbegriff mehrerer Sätze, wel- che in der bestimmten Absicht aufgestellt werden, oder doch so beschaffen sind, daß sie in der bestimmten Absicht aufgestellt werden könnten, um durch ihre Be- trachtung die Wirkung, welche durch die Betrachtung eines Einwurfes hervorge- bracht worden ist, wieder aufzuheben«.122 Dieser ›Psychologismus‹ ist gut aristote- lisch: »Man muß nicht nur das Wahre aufzeigen, sondern auch die Ursache des Irrtums. Das fördert die Überzeugung. Sobald einem einleuchtet, wieso etwas wahr scheint, ohne daß es das doch ist, macht das, daß man von dem Wahren in höherem Grad überzeugt ist.«123 Wie der Begriff der Widerlegung selber, so ist auch die in der protestantischen Philosophie häufig artikulierte Ablehnung124 des – von Leibniz noch geschätz- ten125 – disputativen Stils vieldeutig. Johannes Clauberg (1625–65) empfiehlt statt dessen den narrativen Stil der cartesischen Philosophie.126 Wolff hält es im Vertrauen auf die synthetische Methode für Zeitverschwendung, sich als Philo- soph mit Widerlegungen abzugeben.127 Jean Pierre de Crousaz (1663–1748)

121 I. Kant: Logik. Ges. Schriften. Akad.-Ausg. Bd. 9 (Berlin, Leipzig 1923) 56; vgl. Fries, a. a.O. [Anm. 58] 441. 122 Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre § 538. Gesamtausgabe Bd. I/14/2 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1999) 141. 123 Aristoteles: Eth. Nic. VII, 14. 1154a22–25. Die Übereinstimmung Kants mit Aristoteles notiert Ueberweg, a. a.O. [Anm. 45] 462. 124 Vgl. Brucker, a. a.O. [Anm. 2] Bd. 3, 880ff. Zum humanistischen Hintergrund: Hermann Schüling: Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden 17. Jh. (Hildes- heim 1969) 86ff. 125 Leibniz: Brief an Wagner (1696), a. a.O. [Anm. 34] Bd. 7, 520 f.;Théodicée, a. a.O. [34] Bd. 6, 376–387. 126 »Cartesiana Philosophia describitur et editur tanquam historia […] Scholastica Philosophia non ita historice propagatur, sed continuis disputationibus et litibus, consistitque maximam partem in controversiis.« Johann Clauberg: Differentia inter Cartesianam et in Scholis vulgo usitatam Philosophiam §§ 59. 62. Opera omnia philosophica (Amsterdam 1691, Neudr. Hildesheim 1968) 1230–1231. 127 »Cur in erroribus refutandis opera perdatur a philosopho. – Si quis methodo philosophica philosophatur, is oppositas sententias refellere non habet opus. Qui enim methodo philosophica philosophatur, is non admittit propositionem tanquam veram, nisi quam ex principiis sufficienter a se probatis deducere valet […]. Frustraneum itaque foret, si in refellenda alterius sententia peculi- arem operam collocare vellet.« Ch. Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere § 162, hg. von Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl (Stuttgart-Bad Cannstatt 1996) 204–206. Widerlegung 25 bekämpft im disputativen Stil den Skeptizismus.128 Pierre Bayle (1647–1706) wertet es als ein Zeichen der Isosthenie der frühneuzeitlichen Gnadensysteme, daß sie sich wechselseitig des Manichäismus überführen.129 Die in der Apologetik beliebte »Réfutation du Manichéisme« ihrerseits sei dagegen weder dringlich noch mit philosophischen Mitteln zu bewerkstelligen.130 Vollends seit Kant und seiner transzendentalen Dialektik gilt der Widerlegungserfolg als das »Blendwerk, womit die Bewunderer der Gründlichkeit unserer dogmatischen Vernünftler jederzeit hingehalten werden«: »Man kann nicht apagogisch durch die Widerlegung des Ge- genteils zur der Wahrheit gelangen.«131 Mit Blick auf die Sophistik und Scholastik steht für Hegel fest, daß »die Manier, einen Satz aufzustellen, Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerle- gen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann.«132 Die Philosophie als solche sei die »durchgeführte Widerlegung« des undialektischen Denkens.133 Daß im 20. Jh. auch von Philosophen, die keine Skeptiker sind, dem Begriff der Widerlegung mit Skepsis begegnet wird, hat ebenfalls unterschiedliche Gründe. Während Bertrand Russell sich darauf beschränkt, die Endgültigkeit von Wi- derlegungen zu bezweifeln,134 ist die dialektische Widerlegung, die diese Position ermöglicht, bei anderen so diskreditiert,135 daß sie der Ansicht sind, die Philoso- phie entziehe sich überhaupt der Widerlegung. So meint Nicolai Hartmann: »Von allen metaphysischen Gegenständen gilt das Gesetz: sie sind im strengen Sinne weder beweisbar noch widerlegbar.«136 Popper macht daraus sogar das Ab-

128 Crosa, a. a.O. [Anm. 11] 124f. 489ff. Ein Topos schon des 16. Jhs.: Schüling, a. a.O. [Anm. 124] 78ff. 129 »[…] la méthode la plus ordinaire des Controversistes est celle qu’on nomme reductionem ad absurdum […] Ils tâchent sur tout de faire voir que la suite nécessaire du Dogme qu’ils réfutent est que la conduite de Dieu seroit exécrable, et ils ne feignent point de dire beaucoup de mal du Dieu de leurs Adversaires […]« Pierre Bayle: Éclaircissement sur les Manichéens, in: Dictionnai- re historique et critique (Basel 61741) Bd. 4, 627. – »[…] un Manichéen seroit aujourd’hui plus terrible qu’autrefois; car il nous réfuteroit tous les uns par les autres.« Ebd. Bd. 3, 629a s.v. ›Pauli- ciens‹ note F. 130 Ebd. Bd. 4, 628. 622 (vgl. Bd. 3, 306b s.v. ›Manichéens‹ note D). Dagegen z. B. Pietro Sfor- za Pallavicino S. J.: Del Bene libri quattro (11644) II, 47 (»Rifiutasi la sentenza di Manicheo«). Opere (Mailand 1834) Bd. 2, 480f. 131 Kant: Kritik der reinen Vernunft A 793 / B 821. 132 Hegel, a. a.O. [Anm. 55] 35; ähnlich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3. Jubiläums-Ausg. (Stuttgart 1927–39) Bd. 19, 154; vgl. Bd. 2, ebd. Bd. 18, 23ff. 133 Hegel, a. a.O. [Anm. 87] 34. 134 »[…] philosophical theories, if they are important, can generally be revived in a new form after being refuted as originally stated. Refutations are seldom final; in most cases, they are only a prelude to further refinements.« Russell, a. a.O. [Anm. 35] 69. 135 »Par extension, on parle de réfutation d’une thèse philosophique; ce dernier emploi est pro- blématique: si la philosophie use avant tout d’arguments ›dialectiques‹ […], alors il est possible de fournir des arguments contraires à une théorie philosophique et de la rejeter, mais non de déclarer cette théorie objectivement fausse.« Ladrière, a. a.O. [Anm. 42]. 136 Nicolai Hartmann: Ethik (Berlin, Leipzig 1926) 648. 26 Sven K. Knebel grenzungskriterium zwischen Philosophie und Wissenschaft: »Philosophical theo- ries, or metaphysical theories, will be irrefutable by definition.«137 Auch nach Kant haben sich manche Philosophen allerdings unverdrossen der Widerlegung von »Irrtümern« gewidmet.138 Im Zeichen der polemischen Widerle- gung treffen sich Philosophie und Aufklärung.

VI. Aufklärung

Die Aufklärung akzentuiert an der Widerlegung das nomen actionis: Aus der Wi- derlegung wird ›Kritik‹. Christian Thomasius (1655–1727) unterscheidet dispu- tationstechnisch zwischen der »Syllogisterey« (»allzuverdrießlich und unange- nehm«) und dem »Discurs, das ist, daß man die Ursachen, die man wider einen Irrthumb vorzubringen hat, nach gewöhnlicher Redens- und Schreib-Art ordent- lich nach einander hinsetzet und darinnen entweder die Nichtigkeit des Satzes oder die Unzulänglichkeit seiner Ursachen und Schlüsse zeiget«.139 Die auf logisch ermäßigtem Niveau betriebene Widerlegung entlastet sich hermeneutisch, indem sie nicht mehr, wie das von Augustins Streitschrift gegen Julian von Eclanum bis ins 18. Jh. üblich gewesen ist,140 den Text des Gegners Punkt für Punkt zer- pflückt,141 sondern sich für ein weniger schwerfälliges Verfahren ausspricht.142 Endlich bricht die Widerlegung auch mit ihrem apologetischen Tenor und wird (»negative Widerlegung«143 ) Religionskritik: »Was wider die Natur ist, ist wider die Vernunft, und was wider die Vernunft ist, ist […] widerlegungsbedürftig.«144 Die Maxime lautet: »Widerlege die Irrthümer, die dem menschlichen Geschlecht schädlich […] sind.«145 Das geht über den Horizont der als Liebespflicht verstan- denen ›correctio fraterna‹ hinaus, in der die scholastische Moraltheologie durch-

137 Popper, a. a.O. [Anm. 28] 197. 138 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (Berlin 1902) 82; Gottlob Frege:Die Ver- neinung, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus Bd. 1 (Erfurt 1918–19) 143–157, hier 150; auch in: ders.: Logische Untersuchungen (Göttingen 1966) 54–71, hier: 62. 139 Thomasius, a. a.O. [Anm. 69] 283–284. 140 Man vergleiche etwa Leibniz’ Polemik gegen Locke und Benedikt Stattler (1728–97): Anti-Kant (München 1788, Neudr. Brüssel 1968), dessen Ankündigung, »eine vollständige Wider- legung des ganzen Werckes« zu bieten, nicht übertrieben ist. 141 »Et factum est ut […] secundum librum scriberem, contra quem Iulianus alios octo nimia loquacitate conscripsit. His nunc respondeo, eius verba proponens, eisdemque subiungens respon- sionem meam ad loca singula, sicut refutatio eorum visa est esse reddenda […].« Augustinus: Contra Iulianum opus imperfectum, Praef. CSEL Bd. 85/1 (1974) 4. 142 Thomasius, a. a.O. [Anm. 69] 284. 143 Engels / Marx, a. a.O. [Anm. 102] 135 (über P.Bayle). 144 »Quicquid enim contra naturam est, id contra rationem est, et quod contra rationem, id ab- surdum est, ac proinde etiam refutandum.« Baruch de Spinoza: Tractatus theologico-politicus, c. 6 (1670) 77. Opera / Werke Bd. 1, hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner (Darm- stadt 1979) 214. Vgl. dagegen Leibniz: Théodicée. Disc. prel. 28, a. a.O. [Anm. 34] Bd. 6, 67. 145 Thomasius, a. a.O. [Anm. 69] 292. Widerlegung 27 aus so etwas wie ein Menschenrecht auf Kritik verankert hatte.146 Doch an politi- schen Rücksichten findet die Befolgung jener Maxime ihrerseits ihre Schranke: »Jedoch, da einige grobe Irrthümer in der Welt so privilegiret sind, daß es höchst gefährlich wäre, darwider zu reden und zu schreiben, so unterläßt man zuweilen die Widerlegung.«147 Im 19. Jh. bewaffnet sich die polemische Widerlegung, quer durch die politischen Lager, mit der Forderung nach Pressefreiheit.148

VII. Schluß

Eine Position P läßt sich auf verschiedene Art erledigen. Sie läßt sich z. B. auch tot- schweigen. Unter den Möglichkeiten, P intellektuell zu erledigen, ist die Widerle- gung wiederum nur eine. Die Zensur ist eine andere. Die langen Listen akademi- scher und kirchlicher Lehrverurteilungen haben das intellektuelle Leben nachweislich stimuliert. Seit dem 19. Jh. hat die Zensur aufgehört, die einzige an- dere Möglichkeit zu sein. Zumindest außerhalb der englischsprachigen Philoso- phie experimentiert das 19./20. Jh. im Bereich der nicht-administrativen intellektu- ellen Erledigung unaufhörlich mit Alternativen zu dem ererbt räsonierenden Typ. Man denke etwa an das Konzept »Dekonstruktion« und dessen Heideggersche Vorgeschichte. Kaum mehr wegzudenken ist ein schon älteres Konzept: die histori- sche Erledigung. Neben der räsonierenden Widerlegung spielt die historische Erledigung, wenn überhaupt, nur eine bescheidene Rolle. So gibt es zwar aus der Scholastik Beispie- le dafür, daß eine Position als »überholt« qualifiziert wird. Aber damit ist lediglich gemeint, P sei endgültig widerlegt und liege außerhalb der Traditionen, an die phi- losophisch anzuknüpfen noch vertretbar ist.149 Der im 19. Jh. triumphierenden historischen Erledigung geht es indessen nicht darum, P als eine intellektuelle Option auszuschalten, sondern den Wahrheitsanspruch von P akzeptieren zu kön- nen, ohne deswegen non-P bestreiten zu müssen. Das geschieht, indem P in eine Entwicklung eingeordnet und entsprechend »relativiert« wird. Wie der Urheber

146 »[…] correctio fraterna, quae est actus charitatis, pertinet ad unumquemque respectu cuius- libet personae […], si in ea aliquid corrigibile inveniatur.« Thomas von Aquin: Summa theol. II–II, 33, 4c. 147 Zedler, a. a.O. [Anm. 24] 1788ff. 148 Der Royalist über die Pressepolitik des Ministeriums Decazes 1818: »Les journaux royali- stes étoient opprimés par la censure; les journaux d’une opinion opposée […] jouissoient de la plus grande liberté. Les principes religieux, les principes moraux, les choses et les hommes monarchi- ques, étoient journellement attaqués. Aucune réfutation n’étoit possible, ou du moins la censure mettoit de telles restrictions à la réponse, qu’il étoit expédient de se taire.« François René Vicom- te de Chateaubriand: Le Conservateur, 25. 5. 1819. Œuvres complètes, Bd. 7 (Brüssel 1852) 477. 149 »[…] Haec igitur et alia absurda […] sequuntur in vera Philosophia ac etiam peripatetica ex animarum circulatione, quam Ferchius antiquatam et obsoletam nuper suscitavit […]« Mastri da Meldola / Belluto: Disputationes de generatione et corruptione, V, 172, a. a.O. [Anm. 58] Bd. 3, 383a. 28 Sven K. Knebel dieses Konzept verstand, zeigt das Etikett, welches ihm, wenn auch nur vorüberge- hend, aufgeheftet war: ›Widerlegung‹. Hegel und seine Schule ordnen nämlich den Begriff der Widerlegung zuletzt te- leologisch dem der Entwicklung unter: »Ein System widerlegen, heißt […] nur: zei- gen, daß es nicht weit genug, nicht so weit als ein reiferes gediehen ist. Die Wider- legung erweist also gar nicht, daß ein System, am wenigsten sein Princip falsch sei; in seinem Principe ist vielmehr jedes System ein bleibendes Moment der Wahrheit, das in ihr wie aufgehoben, so aufbewahrt ist. Das reifste, vorgerückteste, neueste System enthält alle übrigen als Momente.«150 Die evolutionäre Widerlegung – die durch die jeweils höhere Entwicklungsstufe – hat überhaupt nicht mehr notwendig diskursive Form: »Die Entwicklung des Baums ist Widerlegung des Keims, die Blü- te die Widerlegung der Blätter, daß sie nicht die höchste, wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blüte wird endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirklichkeit kommen ohne das Vorhergehen aller früheren Stufen.«151 Hat zwischen der »Kritik« auf der einen Seite und der historischen Erledigung auf der anderen die rational-argumentative Widerlegung noch eine Existenzbe- rechtigung? Die Frage ist müßig.Als erzieherisch wirksamer Kulturfaktor ist sie de facto ausgeschieden. Vor dreihundert Jahren war es möglich, über die »Pest« der akademischen Kontroversen zu lamentieren.152 Einer Konsenskultur, welcher der Citation Index einheizt, liegt der Gedanke an »Federkriege« dagegen so fern wie das Werkzeug, mit dem man dergleichen einst ausfocht.

150 Carl Ludwig Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie (Berlin 1843) 5. Abhängig von Hegel, a. a.O. [Anm. 56] 14. 151 Hegel, a. a.O. [Anm. 132] Bd. 17, 67. Damit verwandt, aber nicht identisch ist die »Widerle- gung durch die Geschichte«, z. B. bei Heinrich Leo: Lehrbuch der Universalgeschichte (Halle 1835–44, 21850) Bd. 6, 821. 152 Werenfels, a. a.O. [Anm. 77] 85f.; Crosa, a. a.O. [Anm. 11] 125. Tilman Anselm Ramelow

Der Begriff des Willens in seiner Entwicklung von Boethius bis Kant

Der hier zu behandelnde Zeitraum unterscheidet sich von der Neuzeit und von der Antike durch die theologische Dimension in der Behandlung des Willensbe- griffes. Nicht nur der Mensch, sondern auch Gott hat einen Willen. Beide Arten des Willens werden in sich bestimmt, aber auch miteinander korreliert in Fragen der Prädestination und des göttlichen Heilswillens.

I.

Boethius verteidigt die Freiheit des menschlichen Willens gegen den stoischen Determinismus. Unter Berufung auf peripatetische Traditionen sieht er die Frei- heit in der Vernunft begründet. Der Wille allein ist eher ein naturales Vermögen, bloß tierische Spontaneität, basierend auf Imagination (imaginatio), nicht auf einem Urteil (iudicium). Freiheit hingegen beruht auf Vernunft. Seine entspre- chende Definition der Willensfreiheit (liberum arbitrium) als Willensurteil (»liber- um de voluntate iudicium«) hat Schule gemacht. Der Wille wird um so freier, je mehr er sich mit dem Geistigen, und speziell mit Gott, beschäftigt.1 Andererseits aber kann man den Willen auch als Herrin des ganzen Lebens der Vernunft (»do- mina […] totius vitae rationis«) bezeichnen.2 Auf besondere Weise verbinden sich göttlicher und menschlicher Wille als die zwei Willen in Christus. Ausgehend von dieser Thematik hat vor allen Dingen Ma- ximus Confessor mit seiner Unterscheidung eines naturhaften Wollens (»physi- kon«) (entsprechend der von Boethius kritisierten Konzeption) von einem akthaft bewußten Wollen (»gnomikon«) prägend gewirkt. Es ist der bewußte Wille, der uns zu Gottes Ebenbild macht; er ist terminologisch als »prohairesis« unterschie- den von der naturhaften »thelesis«, die auch als »exousiastikos« bezeichnet wer- den kann.3 Da die deliberierende »prohairesis« auch der Sünde fähig ist, kann sie von Gott nicht prädiziert werden. In Christus ist sie daher ersetzt durch den natur- haften (göttlichen) Willen. Was bei Boethius die niedrigere, determiniertere Form des Willens war, ist hier in gewisser Hinsicht die höhere, göttliche Form. Anderer- seits ist es gerade dieser naturhafte Wille des Menschen, der in Christus vor der

1 Boethius: In De Interpretatione. Migne P. L. Bd. 64, 492f.; vgl. auch De Cons. Philos. V, pr.2. Migne P.L. Bd. 63, 834–837. 2 In De Interpretatione, a. a.O. 505f. 3 Maximus Confessor: Disp. cum Pyrrho. Migne P.G. Bd. 91, 308f.; Ambiguorum Liber, a. a.O. 1088f.; Opuscula theol. et polemica, a. a.O. 12f. 48. 81. 201.

Archiv für Begriffsgeschichte · Band 46 · © Felix Meiner Verlag 2004 · ISSN 0003-8946