The Knowledge Bank at The Ohio State University

Article Title: und das frühe baltische Schrifttum

Article Author: Eckert, Rainer

Journal Title: Polata Knigopisnaia

Issue Date: August 1987

Publisher: William R. Veder, Vakgroep Slavistiek, Katholieke Universiteit, Postbus

9103, 6500 HD Nijmegen (Holland)

Citation: Polata Knigopisnaia: an Information Bulletin Devoted to the Study of Early

Slavic Books, Texts and Literatures 16 (August 1987): 6-25.

Appears in:

Community: Hilandar Research Library

Sub-Community: Polata Knigopisnaia

Collection: Polata Knigopisnaia: Volume 16 (August 1987) MARTIN LUTHER UNO DAS FRUHE BALTISCHE SCHRIFTTUM

R. ECKERT

I. EinZeitende Bemerkungen Am 10. November vergangenen Jahres beging man in vielen Ländern den 500. Jahrestag der Geburt des großen deutschen Reformators Dr. MARTIN LUTHER. Im Laufe des ganzen Jahres 1983 fanden Konferenzen und Festveranstaltungen änlaßl ich dieses: denkwürdigen Datums statt, erschienen zahlreiche BÜcher, Sammelschriften und Aufsätze zum Luther-Jubiläum, wurden Gemälde-, Kunst­ und Buchausstellungen gezeigt, die dem 16. Jahrhundert gewidmet waren, wie z. B. die Ausstellung "Kunst der Reformationszeit" im Alten Museum in Ber­ lin vom 26. August bis 13. November. Als bedeutendste sprachwissenschaftliche Veranstaltung der DDR im Luther-Jahr hat die internationale Konferenz "Luthers Sprachschaffen. Gesellschaftliche Grundlagen, geschichtliche Wirkungen" zu gelten, die vom Zentralinstitut fÜr Sprachwissenschaft der AdW der DDR ausgerichtet wurde und die vom 21. bis 25. März 1983 an historischer Stätte in Eisenach auf der Wartburg tagte. Der Kampf MARTIN LUTHERS gegen solch eine internationale Macht­ institution, wie sie die römische Kirche darstellte, und seine Reformen erlangten gleich von Anfang an internationale, europäische Bedeutung. Es war daher ganz folgerichtig, daß als eines der Hauptthemen der Komplex "Das lutherische Sprachschaffen in gesamteuropäischen Bezügen" auf der obenerwähnten Konferenz behandelt wurde. Es gelangten in diesem Zusammen­ hang vor allem Fragen zur Erörterung, die den Einfluß der reformatorischen Tätigkeit MARTIN LUTHERS auf die Entwicklung des Protestantismus in Mittel- und Nordeuropa betrafen sowie die Entstehung einer literatur­ sprachlichen Tradition bei den Lausitzer Sorben. Teilweise wurden auch Probleme der Verbreitung des Protestantismus unter den deutschen Einwan­ derern in Dänemark, in der Slowakei und in Rumänien berührt. Im Zusammenhang damit möchten wir Bedeutung und Aktualität des hier in Cambridge veranstalteten Kolloquiums hervorheben, das dem frühen Pro­ testantismus und Osteuropa gewidmet ist. Wir begrÜßen die Initiative der englischen Slawisten, die in der Gruppe fÜr slawische und osteuropäische mediävistische Studien vereinigt sind. Gleichzeitig möchten wir herzlich 6 danken fÜr die Einladung zur Teilnahme an dieser bedeutsamen wissen- schaftliehen Veranstaltung. Wie erklärt sich der rasche und sehr weitreichende Einfluß der Tä• tigkeit MARTIN LUTHERS, des BegrÜnders der deutschen ? Was verlieh dieser Bewegung den gewaltigen Schwung, der sie auszeichnete? Worin besteht MARTIN LUTHERS Bedeutung fÜr die Entwicklung des Schrifttums und der Literatursprachen (Schriftsprachen) fÜr eine Reihe von VÖlkern Osteuropas, im besonderen fÜr die baltischen VÖlker? Bevor eine Antwort auf diese Fragen versucht werden soll, ist es un­ umgänglich, kurz jene Epoche zu charakterisieren, in der der große Reform­ ator lebte und wirkte, und einige Besonderheiten seines Schaffens heraus­ zuarbeiten. MARTIN LUTHER traf die Geschichte in einer Zeit großer Wandlungen und UmbrÜche an: Das Mittelalter ging zu Ende, die Neuzeit begann. ln Deutsch­ land und in Europa trat der Feudalismus in die Epoche seines Zerfalls ein. Im Schoße der alten Gesellschaft entwickelte sich stÜrmisch die FrÜhform einerneuen Gesellschaftsformation der Manufakturkapitalismus. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts erreichten die WidersprÜche im Heiligen RÖmischen Reich deutscher Nation, das in viele feudale Teilstaaten zer­ splittert war, eine ungeahnte Schärfe. Die Vertreter der Renaissance und des Humanismus gestalteten Kunst und Literatur um und begrÜndeten immer tiefgrÜndiger eine neue Weltsicht und neue Ansichten Über die Stellung des Menschen, sie kritisierten immer schärfer die alten Überkommenen Vorstell­ ungen und gesellschaftlichen ZÜstande. Die großen geographischen Entdeck­ ungen und die neuen Errungenschaften in Wissenschaft und Technik (z. B. auf dem Gebiet der Astronomie; der Buchdruck) erschÜtterten die alte, durch die Kirche geheiligte Ordnung. Was die Kirche selbst anbelangt, so trat sie nicht nur als zentrale geistige Macht auf, deren Dogmen als ob­ ligatorisch galten, sondern sie war gleichzeitig der mächtigste Feudalherr und -eigentÜmer, der viele Länder Europas ausbeutete. Mit ihren Institu­ tionen nahm sie eine beherrschende Stellung im Leben der damaligen Zeit ein. Deshalb äußerten sich die sozialen Bewegungen in theologischem und kirchlichem Gewande und mÜndeten in Konflikten mit der offiziellen röm• isch-katholischen Kirche. Mit großer Ausdauer und einem ungewöhnlichen Mut nahm MARTIN LUTHER seinen Kampf gegen das römische Papsttum und seine Vertreter und Verfech­ ter auf, als es um die Entlarvung und Beseitigung des Ablaßhandels ging, der wohl widerwärtigsten Form der Bereicherung durch die rÖmische Kurie. 7 Er verurteilte mit aller Schärfe und Entschiedenheit den abermäßigen Bereicherungstrieb der kirchlichen Machthaber und die parasitäre Lebens­ weise des Klerus und der Mönche. Gleichzeitig stellte er der alten Kir­ che mit ihrem Streben nach alleiniger politischer und geistiger Macht seine neue Auffassung von der Kirche entgegen, die sich auf die Verkündi• gung des Gotteswortes, die Predigt des Evangeliums gründet, auf ein neues Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen. ln seiner schonungslosen Kritik der römischen Kirche verwies LUTHER immer wieder auf die Heilige Schrift. in der unglaublich kurzen Zeit vom Dezember 1521 bis zum 1. März 1522 übersetze er das Neue Testament. Zum Jahre 1534 waren auch die Übrigen Teile der Bibel übersetzt (z. T. zusam­ men mit seinen Mitkämpfern) und zwar in die ostmitteldeutsche Variante der deutschen Literatursprache. Unsere Geschichtswissenschaftler betrachten die Reformation und den Großen Deutschen Bauernkrieg im Kontext des einheitlichen historischen Prozesses des Obergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, wobei sie diese erste Etappe als die frÜhbÜrgerliche Revolution definieren1. Ein solch breites Herangehen ermöglicht ein tieferes Verständnis für die ganze Widersprüchlichkelt und Kompliziertheit der historischen Ereignisse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, erlaubt Erklärungen zu finden für die außerordentliche Breite der Reformationsbewegung, in der nicht nur die Proteste gegen das internationale Joch der römischen Kirche ihren Aus­ druck fanden, sondern auch verschiedenartige soziale, Ökonomische, poli­ tische und nationale Interessen. Die Prozesse der frÜhbÜrgerlichen Revolution im ganzen gesehen führ• ten zu starken Veränderungen in den Kommunikationsbedürfnissen der Men­ schen. Die gegendenPapstgerichtete Agitationsliteratur LUTHERS (Send­ schreiben, FlÜgblatter) richtete sich an breite Schichten der Gesell­ schaft. Eine solche technische Neuheit wie der Buchdruck beschleunigte und erweiterte die Kommunikation zwischen den Menschen in bedeutendem HaBe. Dies alles wirkte sich entscheidend auf die Sprachsituation aus: Die bereits in der vorhergehenden Entwicklungsetappe einsetzende Tendenz der Unifizierung und des Ausgleiches hinsichtlich verschiedener geograph­ ischer Varianten der deutschen Literatursprache, erhielt mächtige Impulse durch die Lutherische BibelÜbersetzung und die weite Verbreitung seiner anderen gedruckten Schriften. Die soziale Schicht der Träger der Litera- S tursprache wurde erweitert. ln funktionaler Hinsicht eroberte sich die deutsche Literatursprache neue Bereiche (z. B. teilweise in der Wissen­ schaft und auf dem kirchlich-religiösen Gebiet} bei Zurückdrängung des

Latelns2 • Wir sind der Meinung, daß diese eben charakterisierte wesentliche Ausweitung der Kommunikationsbedürfnisse im Zusammenhang mit den äußerst aktiven gesellschaftlichen Prozessen in der ersten Hälfte des 16. Jahr­ hunderts nicht nur für Deutschland Geltung besitzt, sondern auch für eine ganze Reihe von Ländern in Europa, in denen die Reformation schnell Fuß faßte oder zumindest Über einen bestimmten Zeitraum hinweg Verbreitung fand. Es ist bezeichnend, rlaß in diesen Landstrichen in der Folgezeit neue Zentren des Buchdrucks entstanden. ln Bezug auf den Gegenstand un­ serer Untersuchungen, nämlich des frühen baltischen Schrifttums, genügt schon ein Verweis auf die rege Buchdruckertätigkeit im vormaligen Königs• berg (heute: Kai iningrad} in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Hier er­ schienen bekanntlich die altpreußischen und altlitauischen Obersetzungen des Lutherschen Katechismus sowie frühe lettische und polnische protes­ tantische Schriften.

II. MARTIN LUTHER und das altpreußische Schrifttwn Noch zu Lebzeiten LUTHERS kamen 1545 in KÖnigsberg die ersten beiden alt­ preußischen Katechismen heraus, denen der sogen. Kleine Katechismus von M. LUTHER, erschienen 1531 in Wi ttenberg, zu Grunde 1i egt. Im einzelnen handelt es sich um den sogen. ersten altpreußischen Katechismus mit dem Titel: "Catechismus jn preußnischer sprach I vnd dagegen das deÜdsche. 1545." Von Interesse ist das in Deutsch verfaßte Vorwort dazu, in dem folgendes mitgeteilt wird: ... "dieser Cate- chismus ist inn vnde~tscher P(r}e~ßnischer sprach I wie die vff Samland I sonderlich am rechten preÜßnischen orth vnd strich gebreÜchlich aus F. D. vnsers gnedigsten herrn beuelch jn druck verordnet."' Neben Scunland (Sambia} finden hier noch einige weitere altpreußische Gebiets- (und wohl auch Stammes-} namen Erwähnung, nämlich Natangen und Sudawen mit dem Hin­ weis auf dialektale Unterschiede. Von den Pruzzen um Welaw wird gesagt, daß sie ihren Akzent nach der litauischen Sprache hin ausrichten. Es wird unterstrichen, daß der vorliegende Katechismus eine bestimmte norm­ ierende Rolle bei der V&rwendung des (Alt}preußischen im Gottesdienst zu spielen habe. Der sogen. zweite altpreußische Katechismus, der ebenfalls 1545 er- 9 schien, stellt, wie die Oberschrift mitteilt, eine verbesserte Auflage des ersten dar: "Catechismus jn preÜßnischer sprach gecorrigiret vnd dagegen das deüdsche." Das Vorwort zu dieser Ausgabe deckt sich in viel­ em mit dem zum ersten Katechismus, jedoch am Ende geht es auf die kon­ krete Sprachsituation ein: ... "Ob aber jnn diesem gecorrigireten Cate­ chismo I etliche wortIsonicht beyallen kirchspielenoder einem jedern Tolcken zugleych jnn Gbung vnd brauch gesetzt weren I Sonderlich vff Nat­ angen da von wegen der vielfeltigen vnd langwerigen kriege I das volck zu mermalen vertrieben vnd versetzt vnd deshalben auch die sprach zum theyl geendert vn vermenget I ists nicht vnbillich das man sich durch vnd durch allenthalben nach der alten angebornen, des rechten preflßnischem striches I sprache: wie oben gemeldt: richte."" Wir haben hier wohl die erste soziale Charakterisierung in der Ge­ schichte eines baltischen Dialekts überhaupt vor uns, was von besonderem Interesse für die in allerletzter Zeit zunehmende soziolinguistische Untersuchung der baltischen Sprachen ist. Der dritte altpreußische Katechismus oder das Enchiridion wurde 1561 ebenfalls in Königsberg von JOHANN DAUBMAN gedruckt (die ersten beiden hatte Hans Weinreich produziert). Der Obersetzer war ABEL WILL, dem als native speaker der Preuße PAUL MIEGOTT zur Seite stand. Als Ausgangstext diente der Kleine Katechismus oder das Enchiridion von LUTHER aus dem Jahre 1543, was partiell in der Titelei seinen Niederschlag fand: "Der Kleine Catechismus Doctor Martin Luthers I Teutsch vnd Preussisch Sowohl hinsichtlich seines Umfangs als auch seiner sprachlichen Besonder­ heiten stellt das Enchiridion des ABEL WILL den bedeutendsten und reich­ haltigsten Text des Altpreußischen dar, ungeachtet der Tatsache, daß das Altpreu,ische zu diesem Zeitpunkt schon das letzte Stadium einer ausster­ benden Sprache erreicht hatte und,. T. stark verderbt war. J. ENDZELIN unterstreicht den besonderen Wert des dritten Katechismus unter Hinweis auf seinen bedeutenderen Umfang und auf die Tatsache, daß WILL oft die Länge der betonten Vokale bezeichnete, was eine Rekonstruktion der Ak­ zentstelle und bei Diphthongen und diphthongischen Verbindungen sogar der Intonation erlaubt' Dadurch wird auch das altpreußische Sprachmaterial in einem gewissen Umfange fÜr die so wichtige Geschichte der prosodischen Charakteristika des Baltischen zugänglich. Es ist bekannt, daß die erwähnten drei Katechismen die einzigen 10 größeren Texte fÜr das Altpreußische darstellen. Die anderen altpreußi• sehen Sprachdenkmäler sind entweder Wörterbücher oder kleine Fragmente aus zwei drei Sätzen. Mit vollem Recht kÖnnen wir sagen, daß das Alt­ preußische als einziges westbaltisches Idiom in bedeutendem Maße dadurch der Nachwelt erhalten blieb, daß in der Frühperiode der Reformation Uber­ setzungen Lutherscher Schriften in diese Sprache getätigt wurden.

III. ~IN LVTHER und das aZtZitauische SchPifttum Im vormaligen Ostpreußen fand die Lehre LUTHERS rasch Anhänger. Sie wurde nicht nur von den deutschsprachigen Bevölkerungsteilen und den dort lebenden Polen angenommen, sondern, wie wir bereits gesehen haben, fand sie auch unter der preußischen Bevölkerung (den Pruzzen) und unter den dort ansässigen Litauern Verbreitung. HERZOG ALBRECHT von Preu~en unter­ stützte die Reformation ähnlich wie andere Fürsten aus bestimmten politi­ schen und Ökonomischen Erwägungen. Er war an der Festigung seiner Macht interessiert und daran daß die Volksteile verschiedener Nationalität und Sprache in seinem lande Gott und der weltlichen Macht untertan waren. Daher ordnete er an, den Katechismus ins Altpreußische zu Übersetzen. Auch die Ubertragung einer Reihe kirchlicher Schriften ins Altlitauische wurde vom Landesherrn gefÖrdert. An der Ausbildung von Pastoren für jene Gebiete des damaligen Ostpreußen, die mit Litauern besiedelt waren, d. h. fÜr das sogen. Kleinlitauen, lag ihm. Daher lud er sogar befähigte Män• neraus Großlitauen nach Ostpreußen ein, bzw. schickte sie als Stipendia­ ten auf die Universität Wittenberg.

1. Die ersten Zitauischen Reformatoren Die ersten Anhänger und Verbreiter der lehre LUTHERS in Litauen waren die aus Großlitauen stammenden (auch Kulviskis, bzw. latinisiert: ABRAHAM CULVENSIS) (1510/12 bis 1545) und STANISLOVAS RAPALIONIS (STANISLAUS RAPAGELANUS bzw. STANISLAUS LITUANUS) (1485/86 bis 1545) 6 KULVIETIS hatte an den Universitäten in Krakau, leuwen, Leipzig und Siena in Italien studiert. Er erfreute sich hoher Wertschätzung seitens des HERZOGS ALBRECHT. letzterer sandte ihn an die Wittenberger Universi- tät, wo er bei LUTHER selbst und bei Melanchthon im Jahre 1536 Vorlesun- gen hÖrte. 1538 kehrte er nach Litauen zurÜck und wurde an der Hohen Schule in (dem Vorläufer der 1579 gegründeten Universität) Lehrer. Zusammen mit verbreitete er die Ideen der Reformation in 11 Vilnius. ln seinen Predigten in der Annen-Kirche unterzog er den Lebens­ wandel der katholischen Geistlichen und MÖnche einer scharfen Kritik. Der Bischof von Vilnius verfolgte KULVIETIS und im Jahre 1542 mußte er GroSlitauen verlassen. Er ging nach KÖnigsberg, wo er von HERZOG ALBRECHT als Rat berufen wurde und nach GrÜndung der Universität KÖnigs• berg 1544 eine Professur fÜr Griechisch und Hebräisch erhielt. 1545 ging er wiederum nach Großlitauen, um seine protestantischen Freunde im Kampf gegen die sich verstärkende katholische Reaktion zu unterstützen; er starb jedoch sehr bald darauf. KULVIETIS war ein hervorragender Vertreter des Humanismus und der frühen Reformation in Litauen. Er war gleichzeitig einer der ersten lit­ auischen Gelehrten, der in litauischer Sprache schrieb. So Übersetzte er ins Litauische Psalmen und geistliche Lieder, wovon eines in die von M. MAl!VYDAS herausgegebene Sammlung "Giesmes krikscioniskos'' (Christi iche Lieder), deren 1. Teil 1566 und deren 2. Teil 1570 erschien, aufgenommen wurde. Es handelt sich um das Lied "Malonus dekawoghimas Ponui Diewui (Gott sey gelobet und gebenedeiet •.• ) ischwersta isch D. Mart. Luth. Giesmes per Daktara Abrahama Kulwiski."7 war ein Verwandter von KULVIETIS. Er stu­ dierte ebenfalls an der Universität Krakau und war dann Stipendiat des HERZOGS ALBRECHT an der Wittenberger Universität, wo LUTHER, MELANCHTHON und BUGGENHAGEN seine Lehrer waren. Nach Abschluß seines Studiums in Wittenberg wurde RAPOLIONIS an die Königsberger Universität als Theologie­ professor berufen. Er hielt glänzende Vorlesungen, die sogar der Herzog besuchte. Mit der Tochter des herzoglichen Leibarztes Dr. Achst, eines engen Freundes von LUTHER, war RAPOLIONIS verheiratet. Ganz am Anfang seiner erfolgreichen Tätigkeit erkrankte RAPOLIONIS und verstarb im Jahre 1545. Auch RAPOLIONIS Übertrug kirchliche Lieder ins Litauische. Einige

davon sind im "Katechismus" von M. M~VYDAS erhalten, L. B. "Giesme ape bernel i Jesu" "Der tag der ist so freueden reich" und "Christau, dena esi" "Christe, qui Iux es et dies."8 ln der bereits erwähnten Sammlung "Giesmes krikscioniskos" finden wir eine weitere Ubertragung eines Liedes von ihm mit dem Titel "Giesme ape kenteghima Jhesaus Christaus amßinoija Diewa Sunaus ischguldita nug Dactara Stanislausa Rapagelana." 9 Das Wirken von KULVIETIS und RAPOLIONIS zeugt davon, daß die Re- 12 formation in Litauen und im vormaligen Ostpreußen, das teilweise von Litauern besiedelt war, sehr früh Fuß faßte, ~och zu Lebzeiten LUTHERS. Bezeichnend ist, daß ihre ersten Verfechter aus Vilnius, aus Großlitauen stammten, eine vielseitige Bildung und Ausbildung besaßen und in enger Verbindung zu den Zentren des Humanismus und Protestantismus standen. Es war tragisch, daß beide frÜhzeitig zu Beginn ihrer fruchtbaren Tätigkeit verstarben. Sie bereiteten aber das Feld vor für den nächsten großen Vertreter der litauischen Kultur und des Schrifttums M. MA~VYDAS.

2. MAKrYNAS MA~VYDAS MARTVNAS MAIVYDAS stammte ebenfalls wie KULVIETIS und RAPOLIONIS aus Großlitauen, wahrscheinlich aus ~emaiten. Auch er studiert zuerst in Krakau und war danach als Lehrer an der Hohen Schule in Vilnius tätig, an der bekanntlich KULVIETIS eine Zeit unterrichtete. Wie die anderen An­ hänger der Lehre LUTHERS so wurde auch er verfolgt und es ist ein eigenes schriftliches Zeugnis darüber erhalten, in dem er von sich als einem "ersten Märtyrer" (protomartyr) spricht. Auf Einladung des HERZOGS ALBRECHT kam er 1546 nach KÖnigsberg, wo er zwei Jahre die Universität besuchte. Später war er Geistlicher in Ragainai. Er starb im Jahre 1563. Seine großtes Verdienst ist die Herausgabe des ersten litauischen Buches, das 1547 in KÖnigsberg in der Druckerei J. WEINREICH unter dem Titel "Katechismus prasty zadei ... "erschien. Es enthält eine latein­ isch verfaßte Widmung an das litauische GroSfürstentum, ein in Reimen gehaltenes Vorwort des Autors, das sich an die Litauer und Zemaiter richtet und zwar in litauischer Sprache, Grundlagen fÜr den Schreib- und Leseunterricht für Kinder, einen Katechismus und einen Liederteil. Der Katechismus stellt eine Ubersetzung ins Altlitauische auf der Grundlage eines polnischen bzw. lateinischen Katechismus dar. Nach der Meinung jüngster Forschungen ist das Buch weder als katholisches noch eindeutig protestantisches einzuschätzen10 , es handelt sich aber um ein Frühwerk, das natürlich im großen Kontext der Reformation zu sehen ist. Es kann nicht als Ubersetzung eines der Werke LUTHERS bestimmt werden, erschien aber unter den Bedingungen des Kampfes der frühen litauischen Reforma­ toren gegen die römische Papstkirche. Mit dem Buche von Mazvydas setzt das litauische Schrifttum ein. Sein gereimtes Vorwort stellt das erste originale Gedicht in der Geschichte der litauischen Literatur dar. Gleichzeitig ist es als Muster einer frÜhen Literatur zur Unterweisung im Lesen und Schreiben anzusehen 13 und da es zu den Kirchenliedern auch die Noten enthält als wertvolles Denkmal der Musikliteratur. Nicht zuletzt ist der Katechismus des MA~VYDAS als eines der wichtigsten Denkmäler der altlitauischen Sprache und der Geschichte der litauischen Kultur Überhaupt zu betrachten. MAZVYDAS ist der Autor einer Reihe weiterer litauischer Schriften kirchlichen Inhalts, darunter auch der bereits oben zitierten Sammlung geistlicher Lieder (Giesmes krikscioniskos), die nach seinem Tode sein NEFFE BALTRAMEJUS VILENtAS 1566, bzw. 1570 herausbrachte. Dieser Samm­ lung liegt nach Meinung von J. GERULLIS 11 ein Liederbuch von LUTHER zu Grunde, sie enthält aber auch Lieder anderer deutscher Reformatoren und einige Liedertexte, die aus dem Polnischen Übersetzt worden sind.

J. Weitere Werke des protestantisahen Zitauisahen Sahrifttwns in der Zr,1eiten IfaZfte des 16. Jahrhunderts Im Jahre 1573 erschien eine anonyme Sammlung von Predigten, bekannt unter der Bezeichnung "Wolfenbütteler Postille"" Aus dem umfangreichen Titel dieses altlitauischen Textes geht hervor, daß dieses Werk auch Ubersetz­ ungen von Predigten der deutschen Reformatoren, unter ihnen auch von LUTHER und MELANCHTHON, enthält: "lschguldimas evangeliv per wisvs mettvs, svrinktas dalimis isch davgia pastillv, tai est isch pastillas Nicvlai Hemingy, Antony Corvini, loannis Spangenbergi, Martini Lvtheri, Philippi Melanchthonis, loannis Brenty, Arsaty, Schoper, Leonardi Kvlmani lodocy Wilichi irisch kitty." Der bereits erwahnte VILENTAS, der ebenfalls aus Großlitauen nach Ostpreußen gekommen war, brachte 1579 eine Ubersetzung des Kleinen Kate­ chismus von MARTIN LUTHER in KÖnigsberg heraus, deren Titel im Anfangs­ teil folgendermaßen lautete: "Enchiridion/Catechismas maßas/d

4. JONAS BRETKfJNAS Unter den Autoren, die in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Klein- 14 Iitauen, d. h. im vormaligen Ostpreußen, wirkten und der lutheranischen Richtung angehörten, möchten wir besonders JONAS BRETKÜNAS hervorheben, da er als erster die gigantische Aufgabe Übernahm, die Gesamtbibel, d. h. das Alte und das Neue Testament, ins Litauische zu Übertragen. BRETKDNAS studierte (wie eine Anzahl seiner Vorgänger) von 1557 bis 1562 an der Universität Wittenberg und hörte dort Vorlesungen bei MELANCHTHON. Er vervollständigte seine Kenntnisse des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen. Außer der deutschen Sprache war er weiter des Polnischen und wohl auch des Altpreußischen mächtig; denn seine Mu~ tter was preußischer Herkunft.Er war somit ausgezeichnet vorbereitet auf seine Lebensaufgabe, die Ubersetzung der Gesamtbibel, die er in elf Jahren, von 1579 bis 1590 vollbrachte. Die Bibel wurde nicht gedruckt. Eine Kommission von Pastoren und Theologen erörterte längere Zeit den Text. Es wurden Korrekturen und Bemerkungen in den Text eingefügt und besonders viele Anmerkungen von BRETKÜNAS selbst zwischen den Zeilen, bzw. vor allem auf den Blatträndern. V. FALKENHAHN hat in einer speziellen Monographie13 vieles zur Entstehung dieses einzigartigen altlitauischen Textes erhellt und beschrieben. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges befin­ det sich die wertvolle Handschrift in GÖttingen in der Bundesrepublik Deutschland. Gegenwärtig haben sie die Baltisten Prof. F. SCHOLZ (MÜns• ter) und Dr. RANGE (MÜnchen) mit der Edition dieses Werkes befaßt und zwar soll vorerst das Neue Testament erscheinen 1 ". Im Jahre 1983 veröffentlichte Prof. J. PALIONIS (zusammen mit J. ZUKAUSKAITE) "Ausgewählte Werke'' des JONAS BRETKÜNAS in Vilnius15 , in denen grÖßere Ausschnitte aus dem Alten Testament erstmalig ediert wurden, das 2. und 3. Buch Moses, das Buch Hiob, das Buch der Sprüche Salomos,

Teile des Psalters u. d. Bereits 1927 hatte J. GERULLIS kleinere Ab­ schnitte aus dem Alten Testament der BretkÜnas-Bibel veröffentlicht, die aber mit den von PALIONIS edierten Teilen nicht zusammenfallen. Das Alte Testament ist von ganz besonderem Interesse, da es vor BRETKÜNAS nicht ins Litauische Übertragen wurde und natürlich thematisch und sprachlich (vor allem lexikalisch) ein weitaus Vielfältigeres und reicheres Material bietet als das Neue Testament. Auf eine Besonderheit der handschrift­ lichen Bibel des BRETKÜNAS ist in diesem Zusammenhang unbedingt einzu­ gehen. Er selbst (und die Korrektoren der obenerwähnten Kommission) hat in den Text, am häufigsten aher <>uf den Seitenrändern, viele Ergänzungen, Verbesserungen und Alternativvorschläge sowie auch Verweise eingetragen, so daß das sprachliche (vor allem lexikalische) Material wesentlich 15 vermehrt und eine beträchtliche Anzahl von Synonymen und synonymischen Wendungen angefÜhrt wird. Daraus läßt sich die ständige Suche nach möglichst guten Ubersetzungsaquivalenten für die deutsche, größtenteils Lutherische Vorlage, bzw. die lateinischen Vorlagen der Ubertragung erken­ nen. Man wird sozusagen in die Werkstatt des Obersetzers geführt. Es versteht sich, daß dieser Umstand als besonders glücklicher für die lexi­

kalische und L· T. syntaktische Erforschung des Altlitauischen anzusehen ist. Wir haben die von J. PALIDNIS kürzlich (erstmals) publizierten Aus­ schnitte aus dem Alten Testament der BretkÜnas-Bibel durchgearbeitet und sind dabei auf drei Randbemerkungen gestoßen, in denen umittelbar auf LUTHER verwiesen wird: (1) Im 3. Buch Hose, XI, 22: lsch thu galit walgiti 'Von denselben möget ihr essen'. Am Rande: Vide Lutheri Harginalia16 'Siehe Luthers Randbemerkungen'; (2) Im Buch der Richter, XV, 8: Ir nu,iems giwena Ülos plischeie Etame 'Und zog hinab und wohnte in der Steinkluft zu Etam'. 17 Am Rande: Vide Lutheri marginalia ; (3) Im Buch der SprÜche Salomos, XXX, 27: Liktarnas Pono ira Szmogaus dwase, Ta eit per wissa schirdi 'Eine Leuchte des Herrn ist des Menschen Geist; die gehet durch alle Kammern des Leibs'. 18 Am Rande: vide Lutherum • Bemerkenswert ist auch der Eintrag des Autors der Ubersetzung am Schluß der SprÜche Salomos: Galas Kalbesiu. Salamono, worauf. eine durchstrichene Stelle folgt, die den Vornamen (in deutscher Form) und den Familiennamen (in litauischer 19 Form) des Ubersetzers enthielt: Johan · Bretkunas • Neben den obenerwähnten dreimaligen direkten Verweisungen auf HARTIN LUTHER in den bisher edierten Teilen des Alten Testaments der BretkÜnas• Bibel in Form von Randbemerkungen kÖnnen wir natürlich eine Vielzahl von Stellen im Text selbst ermitteln, die die Abhängigkeit der Ubertragung 16 von der Lutherischen Vorlage deutlich zum Ausdruck bringen. Wir möchten hier nur drei Beispiele anführen, die recht kÜnstliche litauische Wort­ zusammensetzungen darstellen in Anlehnung an die bei LUTHER gebrauchten Komposita, auf die in den Randbemerkungen aufmerksam gemacht wird: (1) Im 3. Buch Hose, XVII, 7: Bei nieku budu toliaus Laukowelinams affierawoti, ... 'Und mit nichten sollen sie ihre Opfer hinfort den Feldteufeln opfern •. Es ist bezeichnend, daß zu lit. Laukowelinams die unterstrichenen Rand­ glossen Feltteuffeln, Demones angefÜhrt werden. Das lit. Kompositum besteht aus laukas 'Feld' und velnias 'Teufe1' 20 (2) lmPsalmLXVIII, 13: Karalei daugibi~ ira tarp saw~s prieteleis, ir namyczestis ischdalij pleschima. 'Die KÖnige der Herrscharen flohen eilends und die Hausehre teilte den Raub aus • Wiederum finden wir zu nam~szestis die Randglossen hausehre, decus domus 21 , wobei das lit. Kompositum aus namas 'Haus' und veralt. 2 1 it. cestis 'Ehre' (vgl. Lietuvil{ kalbos zodynas • II, 82, was das letz­ tere anbelangt) genau der deutschen Zusammensetzung nachgebildet ist. (3) Buch Hiob, XXXI, 24: Er nussitikeiau esch Auksu, ir Auksostukkui bau nesakiau. 'Hab ich das Gold zu meiner Zuversicht gemacht, und zum Goldklumpen gesagt' Auch dieses zusammengesetzte Wort auksostukas (aus lit. auksas 'Gold' und stukar 'Stuck, Klumpen', zu letzterem s. LKZ, XIII, 1014 wird am Rande mit galtklumpen glossiert22 Die Komposita laukovelnias, naml{cestis und auksostukas sind, soviel uns bekannt ist, in den litauischen WÖrterbÜchern nicht bezeugt. Sie sind wohl sicher als Neubildungen des BRETKÜNAS in Anlehnung an die deutsche (Lutherische) Vorlage anzusehen. Derartige Beispiele, die der Vorlage eng verhaftet sind, kommen in den von uns anhand der Palionis'schen Edition analysierten TextstÜcken nicht häufig vor. Charakteristisch ist vielmehr eine relativ freie, schÖpferische Ubertragung der Lutherschen Ubersetzung ins Litauische durch J. BRETKÜNAS, wie J. PALIONIS in seiner Einleitung "Jonas BretkÜnas (Gyvenimas ir rastai)" zu seiner Ausgabe sehr richtig be­ merkt23 Der Ubersetzer der Gesamtbibel ins Litauische im letzten Drit­ tel des 16. Jahrhunderts stand vor einer äußerst schwierigen Aufgabe. Er konnte sich weder auf bereits gemachte Erfahrungen, was das Alte 17 Testament betraf, stützen, noch stand ihm eine fÜr literarische Zwecke bis zu einem gewissen Grade ausgearbeitete Literatur- oder Schriftsprache zur Verfügung. Dennoch erfüllte er die komplizierte Aufgabe mit Erfolg. Zahlreiche Bemerkungen und Durchstreichungen im Text sowie Ubersetzungs­ vorschläge und -varianten auf den Blatträndern sowie die Anführung der entsprechenden deutschen oder lateinischen Wörter oder Ausdrücke der Ubersetzungsvorlagen zeigen das Ringen um eine möglichst genaueund gute Ubertragung. Wir wollen das am Beispiel einer Reihe von Ubertragungen deutscher Wörter und Ausdrücke (grÖßtenteils aus der Sphäre für abstrakte Begriffe) demonstrieren, für die BRETKONAS lit. piktas (und seine Deri· vate) in Ausweitung der Polysemie und Verbindbarkelt dieses Wortes setzt. Vgl. (I) piktas gottlos: 2. Buch Hose IX, 27: Ponas ira teisus, a asch ir mana Szmones esme Pikti 'der Herr ist ge­ recht,ich aber und mein Volk sind Gottlose'. Das Wort Pikti ist am Rande glossiert durch: ne Deiwischki (eigentl. 2 Nicht-Göttliche) bzw. das unterstrichene Wort der Vorlage: Gotlos " (2) piktasis- Ruchloser: Spruche Salomos XII, 2: Bet piktasis pats sawe skandin 'aber ein Ruchloser verdammt sich selbst'. 25 Auch hier erscheint zu piktasis pats am Rande ruchloser sich selbst • (3) piktasis- Verkehrter: Sprüche Salomos X? 31: Nasrai Telsolo atnesch lschminti, o burna pikt~iy pragaischt 'Der mund des Gerechten bringt Weisheit, aber die Zunge des Verkehrten wird ausg,­ rottet'. 26 Zur Form pik~~ wird eine Randbemerkung angeführt: Verkerten • (4) piktai leichtfertig: Buch Hiob XXXIX, 37: Schitai, esch piktai kalbelau k~ atsakisiu? 'Siehe ich bin leichtfertig gewesen, was soll ich antworten?' Die Randglosse betrifft hier piktai kaZbeiau. Sie enthält den Ausdruck der Vorlage (ich bin leichtfertig gewest und einen Alternativvorschlag: 27 nussideiau, piktai esch tariau • (5) piktybe Frevel: Psalm VII, 17: ir piktibe ant io mömenes puls .•• •und sein Frevel (wird) auf seinen Scheitel fallen'. ln der Anmerkung am Blattrand zu piktibe stehen: frevel, iniquitas, ~ 28 lentia und das lit. sinstas 'Raserei, Tollwut' • 18 (6) piktybe TÜcke: Psalm X, 4: wissos~ sawa piktibesu nieko werczia Diew~ ... 'in allen seinen TÜck• en hält er Gott fur nichts' Am Rande wird zu piktibesu folgendes vermerkt: tück[e], cogitationes, 29 ltem cogitationes scelerosce • (7) pikta, misZi frevles Vornehmen: Buch Hiob XXI, 27:

ir ius~ pikt~ Misli prisch mane. '··· und euer frevles Vornehmen wider mich'. Die entsprechende Randglosse enthält die Vorlage freue! furnemen und das lit. synonymische duma zu Misli 30 (8) bur-na pikta Heuchelmaul: Sprüche Salomos XXVI, 28: ... Ir burna pikta praman~ prap~lim~ '··· und ein Heuehelmaul richtet Verderben an ' . Die Randbemerkung zu diesem Ausdruck führt das Wort heuehelmaul aus der Lutherschen Ubersetzung an sowie den lit. Ausdruck burna lughianti mit dem Part. Praes. Akt. zu Zuginti 'heucheln' 31 (9) pikCiausis emirdas Erzbösewicht: Sprüche Salomos XXIV, 8:

Kas saw pats iskad~ dara. Tas tikrai wadiunams ira pikcziausis smirdas 'Wer sich vornimmt Böses zu tun, den heißt man billig einen Erzbösewicht'. Auch hier erscheint das Wort Erzbösewicht der deutschen Vorlage in der Randbemerkung 32 ( 10) '!mones piktas lose Leute: Sprüche Salomos XX, 1:

Winas dara szmones piktas· ir stiprus gierimas dara bang~. 'Der Wein macht lose Leute und stark Getränk macht wild.' Die Rand­ bemerkung enthält den Verweis auf die Wendung in der Vorlage: löse (sie!) leute33 Das alternative Wort zu piktas nämlich bloznas hat wahrschein- 2 1 ich die Bedeutung 'schwach'. vgl. LK1 , I, 947. Es wird leider weder im Kommentar noch im Wörterverzeichnis der Ausgabe von Palianis erklärt. (11) piktus daiktus böse Tücke: Psalm X, 2: ir pramana piktus daiktus '··· und erdenken böse Tücke' Die Randglosse enthält das Wort der deutschen Vorlage: tücke 3 ~ Bereits weiter oben (Beispiel 6) hatten wir gesehen, daß Tücke auch mit piktybe wiedergegeben wurde. (12) piktas kirmeZes Ungeziefer: 2. Buch Mose VIII, 21: 0 iei ne, Schitai, asch wissokes piktas Kirmeles ussiunsiu ant tawens, ... 'Wo nicht, siehe, so will ich allerlei Ungeziefer lassen kommen über dich, ..• ' Der Ausdruck piktas KirmeZes wird am Rande glossiert mit dtsch. vngezifer 19 35 und lit. schmiszinjs , Letzteres (in der modernen Schreibung lfmi'ifynis) gehört nach Fraenkel (LE'J, 1014-1015) zu lit. ffmi'ifti 'klein bleiben, verkümmern' und 1fmi'if~ti 'kribbeln, wimmeln; sich rühren, tätig sein; flackern', lfmyzin~ti 'hin- und herlaufen Die angeführten Beispiele demonstrieren überzeugend das schöpferische Herangehen und die ständige Suche nach dem besseren Äquivalent in der Ubersetzungspraxis des BRETKÜNAS. Ein letLtes Beispiel aus der Reihe vieler gelungener und schöpferischer Ubertragungen se' hier noch ange­ führt, da es gleichzeitig zeigt, daß BRETKÜNAS sehr gut mit der litaui­ schen Volkssprache vertraut war. Vgl. 2. Buch Mose VIII, 3: iog Strowe (Variante: Vpe) warlemis guszete guszes, ... ' ... daß der Strom soll von Fröschen wimmeln, ... ' FÜr den Ausdruck guszete guszes wird die Variante k.ne2szdes (heutige Schribung krebzdeti 'wimmeln, durcheinanderlaufen, hinund herlaufen') angeführt 36 Bei dem von BRETKÜNAS verwendeten Ausdruck gulfete gulfes 37 handelt es sich um eine volkssprachliche Wendung, die eine Wiederholung der Stämme aufweist und die besonders expressiv das Gewimmel der Frösche wiedergibt. Man vergleiche das synonymische lit. kreb'ifdete kreb'ifda (von einem Gewimmel von Wildenten, s. LK1, VI, S. 487) sowie das entsprechende russische KHWMR KHWeTb. BRETKUNAS' Werk, obwohl es nicht veröffentlicht wurde, übte dennoch einen gewissen Einfluß auf das frühe litauische Schrifttum aus (über die mit der Handschrift bekannten Pastoren). Seine überragende Bedeutung besteht darin, daß es die erste Gesamtübersetzung der Bibel in eine balti­ sche Sprache war.

IV. Zum Schrifttum der Kalvinisten in Litauen Die Reformation im ehemaligen GroßfÜrstentum Litauen wurde nicht nur von den Lutheranern, sondern nachhaltiger noch von den Kalvinisten getragen, die über einen längeren Zeitraum hinweg (vom Ende des 16. bis weit in die Mitte des 17. Jahrhunderts) auch die Gunst einflußreicher litauischer Adliger (wie RADVILA RUDASIS 1512-1584; RADVILA JUODASIS 1515-1565) besaßen. Im Zuge der Tätigkeit der Kalvinisten entstanden in einer Reihe von Städten Schulen und Druckereien und ein bedeutender Teil des altlitaui­ schen Schrifttums. 20 Im Jahre 1598 erschien in Vilnius der kalvinistische Katechismus des Herkeils Petkevicius zusammen mit dem entsprechenden Text der polnischen 38 Vorlage • Bereits 1600 folgte die kalvinistische Postille aus der Druckerei des J. HORKÜNAS, die eine Ubersetzung der Postille des bekannten polni­ schen Reformators H. REJ ist. Der Ubersetzer ist unbekannt. Ein bedeutendes Werk des kalvinistischen Schrifttums stellt der Sam­ melband "Knyga Noba~nystes'' aus dem Jahre 1653 dar, der eine Liedersamm­ lung, eine kurze Auslegung des Evangeliums des polnischen Kalvinisten Grzegorz z Zarnowca und christliche Gebete mit einem Katechismus enthält. Die in Reimen verfaßte Widmung an JONU~AS RADVILA stammt vom Bürger• 39 meister von KEDAINIAI STEPONAS JAUGELIS-TELEGA (1600?-1666) , weitere Teile des Bandes vom Kalvinisten SAHUELIS HINVYDAS aus KEDAINIAI 40 ln der Mitte des 17. Jahrhunderts war diese Stadt ein Zentrum des kalvinist­ ischen litauischen Schrifttums. Auch der Ubersetzer der kalvinistischen Bibel SAHUELIS BOGUSLAVAS CHILINSKIS (SAHUEL BOGUstAW CHYLINSKI, 1634-1668) begann seine Studien in Kedainiai. Er setzte sie dann in Holland und an der Universität Oxford (1657-1658) fort und begann 1660 in london seine Bibelübersetzung zu drucken. Die Drucklegung wurde nicht zu Ende geführt. Erst in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurde das Neue Testament der Chylinskischen Bibel­ übertragung durch polnische Baltisten ediert41 • CHlliNSKI 'STätigkeit eröffnete eine glänzende Seite in der Geschichte der litauisch-polnisch­ englischen Kulturbeziehungen.

V. Zu den tpühen Beziehungen zwischen dem luthe~ischen PPotestantismus und dem altlettischen SchPifttums Das erste lettische Buch war der katholische Katechismus (Catechismus Catholicorum) eine Ubersetzung des Kleinen Katechismus des deutschen Jesuiten PETER CANISIUS durch ERTHANIS TOLGSDORFS ins lettische. Das Buch erschien 1585 in Vilnius. Bereits ein Jahr später 1586 kam in Königsberg das erste Werk des lettischen Protestantismus heraus, das folgenden Titel trug: "Enchiridion. Der kleine Catechismus: Oder Christliche Zucht für die gemeinen Pfarherr vnd Prediger auch Hausueter. Durch D. Hartin luther. Nun aber aus dem Deudschen ins vndeudsche gebracht/ ... Gedruckt zu Königsperg bey George Osterbergern Anno H. D. LXXXVI." 42 Königsberg war im 16. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum des protestantischen Buchdrucks. Hier gelangten wich- 21 tige Werke der polnischen Reformatoren zum Druck und hier erschienen, wie bereits erwähnt, die altpreußischen und altlitauischen protestantischen Drucke, zu denen sich etwas später auch die altlettischen Schriften ge­ sellten. Ein weiteres Jahr später, nämlich 1587, kamen ebenfalls in Königs• berg gleich zwei Tutheranische Bücher heraus: 1) "Vndeudsche Psalmen vnd geistliche Lieder oder Gesenge welche in den Kirchen des Fürstenthums Churland vnd Semigall ien in Liefflande gesungen werden'' und 2) "Evangel ia vnd Episteln/aus dem deudschen in vndeudsche Sprache gebracht" Die Reformation hatte natürlich Lettland schon früher erreicht und bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts war der grÖßte Teil der Bevölk• erung zum Tutheranischen Glauben Übergetreten. Es wird angenomme·n, daß das von JOHANNES HASENTOTER aufgeschriebene lettische Vaterunser (Hasen­

täter kam 1547 nach Riga) von einem Tutheranischen Pastor stammt" 3 • Die Tradition des Tutheranischen Schrifttums wird im 17. Jahrhundert in Lettland durch GEORGS HANCELIS (1593-1654), KRISTOFORS FIREKERS (1615- 1685), JÄNIS REITERS (1632-1695), JOHAN FISERS (1633-1705) und ERNESTS GLIKS (1652-1705) weitergeführt.

Zusanmenfassende Beme:r>kungen 1. Die Lutheranische Reformation mit ihrer Forderung der Verbreit­ ung der christlichen Lehre in der jeweiligen Landessprache war von emin­ enter Bedeutung für die erste schriftliche Fixierung der baltischen Sprachen. Ihr haben wir die Bewahrung eines westbaltischen Idioms, des Altpreußischen, in Texten zu verdanken, wenngleich diese einen bereits weit fortgeschrittenen Zustand einer aussterbenden Sprache widerspiegeln. 2. Bemerkenswert ist die rasche und frühe Verbreitung der Reforma­ tion in den baltischen Ländern (noch zu Lebzeiten M. LUTHERS). Eine Gruppe frÜher litauischer Reformatoren mit ausgezeichneter Bildung und Verbindungen zu den damals bedeutendsten Zentren des Humanismus und der Luther'schen Lehre trat zuerst in Vilnius auf und ging erst dann, durch die katholische Reaktion gezwungen, nach Ostpreußen. Fast alle diese Vertreter des frÜhen litauischen Protestantismus begannen ihre Studien in Krakaw. Ihre Beziehungen zu den Vertretern der frühen polnischen Reforma­ tion bedÜrfen weiterer Forschungen. 3. Große Bedeutung für die Verbreitung der-Reformation in den balti- 22 sehen Ländern hatte die auf die Festigung der eigenen Macht und daher auf die LoslÖsung von der katholischen Kirche gerichtete Politik des HERZOGS ALBRECHT im ehemaligen Ostpreußen. Gegenüber den altpreußischen und litauischen BevÖlkerungsteilen verfolgten die preußischen Herzöge eine stete Germanisierungspolitik, gleichzeitig war man an der Entwicklung kirchlicher Literatur in den Sprachen dieser Bevölkerungsschichten inter­ essiert. Eine besondere Rolle spielte das vormalige Königsberg als kul­ turelles Zentrum (Universität, Druckereien). 4. Eine komplizierte historische Situation kennzeichnete das Groß• fÜrstentum Litauen im 16. u. 17 Jahrhunderts. Die römisch-katholische Kirche verdrängte hier frÜh die lutheranischen Protestanten, während die Kalvinisten sich (mit Hilfe einer Gruppe einflußreicher litauischer Adlig­ er) länger behaupten konnten. Das altlitauische lutheranische Schrifttum (darunter das erste litauische Buch) erschien daher in Ostpreußen. Auch spätere kalvinistische Schriften erschienen im Ausland (z. B. Chylinskis Bibel). 5. Das frÜhe lettische lutheranische Schrifttum wurde ebenfalls in KÖnigsberg gedruckt. Die Lutheranische Reformation setzte sich jedoch im grÖßten Teil der lettischen Gebiete in der Folgezeit durch. 6. Die protestantischen Übersetzungen der Kirchenliteratur ins Litauische und Lettische riefen noch Ende des 16. Jahrhunderts als Reak­ tion eine Reihe katholischer Ubertragungen in diese Sprachen hervor (z. B. der lettische Katechismus von Talgsdorf 1585, die litauische Postille des Dauksa 1599). 7. Mit den ersten Schriftdenkmälern des Litauischen (seit der Mitte des 16. Jahrhunderts) und des Lettischen (seit dem Ende des 16. Jahrhun­ derts), die fast alle im Zuge der Reformation entstanden, setzte fÜr die beiden ostbaltischen Sprachen die literatursprachliche Entwicklung ein. 8. FÜr die weitere Erforschung des frühen Schrifttums der balti­ schen Sprachen ist einerseits ein weiteres vertieftes philologisches Studium der entsprechenden Sprächdenkmaler (vor allem auch erstmals edierter Schriften wie z. B. der Tnle aus der BibelÜbersetzung des J. BRETKÜNAS) von Wichtigkeit. Andererseits ist u. E. den verschiedenen Beziehungen der Vertreter der Reformation in den baltischen Ländern zu den Reformatoren in Deutschland und in Polen sowie ihren weiteren inter­ nationalen Verbindungen der Schweiz, Holland, England, Schweden usw. erhÖhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Der Gesamtkomplex dieser Fragen ist nur in interdisziplinärer Arbeit von Sprach- und Literaturwissenschaft- 23 lern, Historikern, Spezialisten fur Kirchengeschichte etc. zu bewältigen.

Anmel'kungen Thesen über MaPtin Luthel'. Zum 500. Geburtstag, in: Einheit, 36, H. 9, Berlin 1981: 890-903. 2 J. SCHILDT. Mal'tin Luthel's deutsches ßPPachschaffen. Seine Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sprache, in: Luthel's ßPl'aChschaffen. GeseLLschaftLiche Gl'Undlagen, geschichtliche Wil'kungen. Zentralinsti­ tut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR. Linguistische Studien 119., 1-111 (1984). 3 V. HAZIULIS. PrÜs~ kalbos paminklai, II. Vilnius 1981: 66. 4 lbid.: 82. 5 J. ENDZELIN. Altpl'eußische Grammatik, Riga 1944: 15. 6 Ausführlicher darüber s. Lietuvi~ LiteratÜl'os istorija, I, Vilnius 1957: 102-104.

7 J. GERULLIS. Senieji Lietuvi~ skaitymai. I. Dalis. Tekstai su ~vadais, Kaunas 1927: 28-29. 8 HARTYNAS HAZVYDAS. Pil'mOji Lietuviska knyga, Vilnis 1974: 226-231 und 236-241. 9 J. GERULLIS. Op. cit.: 29-30. 10 HARTYNAS HAZVYDAS. Op. cit.: 64. 11 J. GERULLIS. Op. cit.: 18. 12 J. GERULLIS. Op. cit.: 74-75. 13 V. FALKENHAHN. Del' Vbel'setzel' del' Litauischen BibeL Johannes ßpetke und seine HeLfel', KÖngisberg-Berlin 1941. 14 F. SCHOLZ. Die BaLtistik in del' BundespepubLik Deutschland. Zeit­ schrift fÜr Slawistik, 29 (1984), 2 (Beiträge zur Baltistik 111): 230- 231. 15 JONAS BRETKÜNAS. Rinktimiai l'aSklai. Parenge J. Palionis ir J. Zukauskaite, Vilnius 1983. 16 lbid.; 80. 17 lbid.: 105. 18 I b i d. , 261. 19 lbid.: 282. 20 lbid.: 97. Im Zweitglied des litauischen Kompositums liegt entweder eine falsche Lesung oder eine Verschreibung vor (-weLinams anstelle von -we Lniams) . 21 lbid.; 208. 22 lbid.: 163.

23 lbid. i 19-21. 24 lbid.: 50. 24 25 lbid.: 245. 26 lbid .• 243. 27 lbid .. 178. An einer anderen Stelle (Psalm XI, 5) setzt BRETKÜNAS fÜr das deutsche die gerne freveZn das lit. ir rodas piktai darqt­ zius, wobei letzteres berichtigt ist durch is darati, während die Randglosse lautet: freuvZer, diZigeus iniquitatem; Item amans vioZentiam, vgl. JONAS BRETK0NAS, RR, S. 194. 28 lbid .. 189. 29 lbid.: 192. 30 lbid .• 150. 31 lbid.; 273 und 370. 32 I bid.; 268. 33 lbid.: 259. 34 lbid.; 192. 35 lbid.; 46. 36 lbid.; 45. 37 L~, 111. 768. 38 Die bekannteste Edition dieses Werkes stammt von J. BAL~IKONIS: 1598 me~ MerkeZio Petkevi~ Katekizmas. 2-s leidimas (foto­ grafnotinis), Kaunas 1939. 39 Z. ZINKEVI~IUS. Lietuvi~ kaZbos istorine gramatika, II, Vilnius 1981: 271. 40 J. GERULLIS. Op. cit.; 244-276. 41 BibZia Utewska ChyUnskiego. N0f11Y testament, t. II Tekst. (Wydal i Cz. Kudzinowski, J. OTR~BSKI) Poznan 1958; tom 111 lndeks. (Wydai Cz. KUDZINOWSKI) Poznan f964. 42 Latviesu Ziteratüras vesture, I, Rigä 1959: 338 et. seq. 43 lbid •• 323-327.

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