„Die Bibel zu lesen ist ein reines Vergnügen“

Biblische Bezüge in der Lyrik der Exilsdichterin Stella Rotenberg

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra theologiae

an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Edith Petschnigg

bei Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft

Graz 2010

Vermächtnis aus Auschwitz

Daß du, Mensch, uns nicht vergissest, und vergiß unsre Mörder nicht! Das Unheil, das uns vernichtet, steht auch vor deinem Gesicht.

Verhülle nicht deine Augen Und halte deine Ohren nicht zu! Sonst sind wir für nichts gestorben, heute ich – und morgen du.

Stella Rotenberg

Stella Rotenberg (2009)

Inhaltsverzeichnis

PROLOG...... 2

1. EINLEITUNG ...... 4 1.1 INTERTEXTUELLE LEKTÜRE ALS ANALYSEMETHODE...... 6 1.1.1 Zum Intertextualitätskonzept von Julia Kristeva ...... 7 1.1.2 Auf dem Weg zu einer Operationalisierbarkeit von Intertextualität...... 9 1.1.3 Zu produktions- und rezeptionsästhetischen Ansätzen in der Intertextualitätsforschung ... 11 1.1.4 Latente und intendierte Intertextualität ...... 13 1.1.5 Zu Formen intertextueller Verweise ...... 14 1.1.6 Konsequenzen für diese Arbeit ...... 16 1.2 ZUR BIBELREZEPTION IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR DES 20. JAHRHUNDERTS ...... 19 1.2.1 Die Bibel als Literatur...... 20 1.2.2 Die Bibel in der Literatur ...... 24 1.2.3 Zur Bibelrezeption im 20. Jahrhundert...... 27

2. BIOGRAPHISCHE ANNÄHERUNGEN AN DAS LEBEN STELLA ROTENBERGS...... 32 2.1 KINDHEIT UND JUGENDJAHRE IN WIEN ...... 33 2.2 „“, FLUCHT UND EXIL: 1938–1945 ...... 42 2.3 BLEIBENDES EXIL – LEBEN IN GROßBRITANNIEN...... 55 2.4 LYRIK ALS AUSDRUCKFORM DES ERLEBTEN – ZUM LITERARISCHEN WERK STELLA ROTENBERGS ...... 59

3. ZUR REZEPTION BIBLISCHER BEZÜGE IN AUSGEWÄHLTEN GEDICHTEN STELLA ROTENBERGS ...... 65 3.1 DIE BIBEL ALS BEZUGSRAHMEN DER LYRIK STELLA ROTENBERGS ...... 65 3.1.1 Zum Gottesbild Stella Rotenbergs ...... 67 3.2 „VON ANFANG HER, EIN WILDES TIER“ – ÜBERLEGUNGEN ZUR REZEPTION DER KAINSFIGUR .70 3.2.1 Zur biblischen Kain-und-Abel-Erzählung (Gen 4,1–16) ...... 70 3.2.2 Zum Kain-und-Abel-Motiv in der Literatur...... 80 3.2.3 Das Gedicht „Kain“ im Spiegel von Gen 4,1–16 und dessen literarischer Rezeption...... 82 3.3 „LAß MEIN VOLK ZIEHEN“ – ÜBERLEGUNGEN ZUR EXODUS-REZEPTION...... 87 3.3.1 Zur Exoduserzählung (insbesondere Ex 1–15)...... 88 3.3.2 Zum Exodus-Motiv in der Literatur...... 96 3.3.3 Das Gedicht „Laß mein Volk ziehen“ im Spiegel der biblischen Exoduserzählung und deren literarischer Rezeption ...... 98

4. ZUSAMMENFASSUNG UND RESÜMEE ...... 104

5. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS...... 108 5.1 QUELLENVERZEICHNIS...... 108 5.2 LITERATURVERZEICHNIS...... 108 5.2.1 Primärliteratur ...... 108 5.2.2 Sekundärliteratur...... 109

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Prolog

„Wer eine Zukunft aufbauen will, muss die Vergangenheit kennen.“ Otto Frank1

Um der Vergangenheit Präsenz zu verleihen, gibt es viele Möglichkeiten, nicht zuletzt eine poetische. Die österreichisch-jüdische Exilliteratin Stella Rotenberg, selbst durch Flucht der nationalsozialistischen Vernichtung entronnen, hält in ihren Gedichten das fest, was eigentlich unsagbar ist: die Schreckenszeit der Shoa. Wie ihre Schicksalsgenossin Hilde Domin ist sie eine Dichterin des Dennoch, die trotz – oder gerade wegen – ihrer persönlichen und der jüdischen Leidensgeschichte nicht verstummt. So wird Stella Rotenberg, die ihre Gedichte zuallererst für sich selbst verfasst und sich erst nach und nach zu einer Veröffentlichung durchgerungen hat, zu einer Mahnerin für Gegenwart und Zukunft. Bezeichnenderweise trägt eines ihrer Gedichte den Titel „Erinnere Dich“: „Du strebst in höhere Regionen doch auf die Erde zieh ich dich Du willst dein Gewissen schonen Doch ich sag: Erinnere dich!“2 Als Vertriebene hat Stella Rotenberg ihr Herkunftsland Österreich und mit ihm alles, was ihr von Bedeutung war, verloren. Ihr neuer Lebensmittelpunkt Großbritannien sicherte ihr das Überleben, wahrhaft zur „Heimat“ werden konnte ihr das Zufluchtsland, in dem sie bis heute lebt, jedoch nicht. Ihre Liebe zur deutschen Sprache, zur Sprache Goethes und Thomas Manns, zur Sprache ihrer Mutter, ist der Dichterin bis heute geblieben. In rund 200 Gedichten – alle in deutscher Sprache verfasst – verleiht sie ihrem Schicksal auf ganz persönliche Weise Ausdruck. Als Bewunderin der Bibel als grandioses Werk der Weltliteratur griff Stella Rotenberg in ihrer Lyrik nicht zuletzt auf die Schriften der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments zurück. Biblische Texte, Themen und Figuren nutzte sie in vielfältiger Weise als Initialzündung ihrer dichterischen Auseinandersetzung mit der Shoa. Der Analyse einiger dieser Gedichte widmet sich diese Arbeit. Für die reiche Unterstützung im Laufe des Entstehungsprozesses meiner Arbeit gilt es an dieser Stelle aufrichtigen Dank zu sagen: An erster Stelle danke ich Frau Stella Rotenberg selbst, ohne deren Bereitschaft, mir über ihr Leben und Werk in drei langen, ausführlichen Gesprächen Auskunft zu geben, die Entstehung meiner Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Ohne zu zögern war sie bereit, sich meinen Fragen zu stellen und mir damit unschätzbare Einblicke in ihre Lebensgeschichte und ihr literarisches Schaffen

1 Aus: Anne-Frank-Haus. Ein Museum mit einer Geschichte. Begleitheft Deutsch, o.O. o.J. 2 Rotenberg, Stella: An den Quell. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Siglinde Bolbecher und Beatrix Müller-Kampel, Wien 2003, 47. 2 zu bieten. Dafür sei ihr herzlich gedankt. Für die Ermöglichung der Kontaktaufnahme mit Stella Rotenberg gilt mein besonderer Dank Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel, die mir auch bei der Identifizierung des Versmaßes der analysierten Gedichte hilfreich zur Seite gestanden ist. Dem „David-Herzog-Fonds“ der Universität Graz danke ich sehr herzlich für die finanzielle Ermöglichung meiner Forschungsreise nach Großbritannien. Meiner Betreuerin, Frau Vizerektorin Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer, gilt mein herzlicher und besonderer Dank für viele wertvolle Hinweise und Denkanstöße im Laufe des Werdens meiner Arbeit und nicht zuletzt für alle wissenschaftliche Förderung im Laufe meines Theologiestudiums. Frau Dr. Elisabeth Klamper, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), und Frau Mag. Siglinde Bolbecher, Theodor-Kramer-Gesellschaft, danke ich für alle Auskünfte und Literaturhinweise. Meinen Freundinnen und Studienkolleginnen danke ich für ihre unterstützende Weggemeinschaft während des gesamten Studiums. In besonderer Weise danke ich Frau Dipl.-Päd. Veronika Feiner für die mühevolle und wertvolle Arbeit des Korrekturlesens. Für alle Unterstützung und Begleitung während meiner gesamten Studienzeit gilt meiner Mutter, Frau Erika Petschnigg, mein zutiefst empfundener Dank. Abschließend möchte ich demjenigen danken, der mich am intensivsten durch alle Höhen und Tiefen meiner theologischen Studienjahre und die Zeit der Abfassung meiner Diplomarbeit begleitet und zuletzt die Arbeit Korrektur gelesen hat: Herrn Mag. Arno Wonisch. Ihm sei diese Arbeit gewidmet.

Graz, im April 2010 Edith Petschnigg

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1. Einleitung

Wenn Dichterinnen und Dichter der Shoa3 auf die Bibel zurückgreifen, dann nicht in exegetischer Absicht, sondern in Bezug auf existentielle Fragen. Das Wort der Bibel wird nicht nur aktualisiert und in die Gegenwart transformiert, sondern enthält lebensbedeutsame und lebensdeutende Kraft. Sei es in der Klage, sei es in der mahnenden Erinnerung: Biblische Schriften – selbst Jahrtausende alte Lebens- und Weltdeutung – eignen sich in besonderer Weise, um dem Erlebten und Erlittenen Ausdruck zu verleihen. Gerade die Bibel bietet ein breites Spektrum an Themen, die sich für die Auseinandersetzung mit der Shoa als bedeutsam erweisen. Vom Brudermord bis zu Verfolgung und Exilierung reichen die Bezugspunkte zwischen Bibel und Literatur nach der Shoa. Die Bibel wird gleichsam zum paradigmatischen Referenzpunkt einer Welt, die aus allen Fugen geraten ist. Indem biblische Erzählungen zentrale Menschheitserfahrungen widerspiegeln, ermöglichen sie Dichterinnen und Dichtern ihr eigenes Schicksal in ihnen wieder zu finden, durch sie zu deuten und – sofern überhaupt möglich – zu bewältigen. Auch die jüdische Exilslyrikerin Stella Rotenberg formuliert viele ihrer Botschaften mithilfe des Buches der Weltliteratur, der Bibel. Biblische Texte, Figuren und Motive bieten ihr einen reichen Fundus, auf den sie zurückgreift, um ihren Anliegen besondere Prägnanz und Tiefe zu verleihen. Fasziniert von der Luther-Bibel, die sie vor allem um der Schönheit ihrer Sprache willen liebt, greift Stella Rotenberg zentrale Themen der Hebräischen Bibel auf: die Kainserzählung und die Sintflutgeschichte, Themen aus dem Buch Exodus, wie das Pessachfest und die Zehn Gebote, oder die Aussätzigenthematik. Vor allem den Zehn Geboten als moralische Leitinstanz jeglichen Zusammenlebens, die die Menschheit der Hebräischen Bibel verdankt, sind mehrere Gedichte gewidmet. Obgleich nicht religiös sozialisiert, sind biblische Bezüge ein wichtiges literarisches Ausdrucksmittel der Lyrik Stella Rotenbergs. Biblische Figuren wie Hagar oder Aussätzige werden zum Teil ihrer poetisch formulierten Grundthemen: Wie sie selbst, sind diese Figuren Vertriebene, Ausgegrenzte und Unerwünschte. Auch das Thema der Gottverlassenheit, ein zentrales Motiv etwa der Klagepsalmen, findet Ausdruck in der Lyrik Stella Rotenbergs. Ziel dieser Arbeit ist es, diesen biblischen Bezügen nachzuspüren und sie in exemplarischer Weise zu analysieren. Als methodisches Instrumentarium soll dazu das in der Literaturwissenschaft entwickelte Modell der Intertextualität dienen. Einleitend werden zu

3 Im Rahmen dieser Arbeit wird für den Genozid an rund sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Regime der hebräische Begriff „Shoa“ („Untergang“, „Katastrophe“) anstatt des aus dem Griechischen stammenden Begriffs „Holocaust“ („Brandopfer“) verwendet – im Bewusstsein, dass jede begriffliche Fassung dieser Schreckenszeit stets unzureichend bleiben muss. „Es gibt keinen Begriff, der das Faktum des Grauens zu fassen vermöchte“, wie die Judaistin Gabrielle Oberhänsli-Widmer betont. Vgl. Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Die Schoa in der hebräischen Literatur, in: BSGJF 5 (1996), 17– 36; 18. 4 diesem Zwecke unterschiedliche Intertextualitätskonzepte vorgestellt und auf ihre Operationalisierbarkeit hin untersucht. Besonderes Augenmerk wird dabei auf spezifische Signale – so genannte Intertextualitätsindikatoren – zu legen sein, mit deren Hilfe intertextuelle Bezüge für Rezipientinnen und Rezipienten erst erkennbar werden. Zur literarhistorischen Verortung der Lyrik Stella Rotenbergs sei im Rahmen des folgenden Kapitels der Bibelrezeption in der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert nachgegangen. Ausgehend von der Frage nach einer literaturwissenschaftlichen Erforschung der Bibel, die unabdingbare Voraussetzung jeder literarischen Bibelrezeption ist, soll im Folgenden der nicht zu unterschätzende Einfluss der biblischen Schriften auf die Literatur aufgezeigt werden. Denn kein anderes literarisches Werk hat die deutschsprachige Kultur zu allen Zeiten mehr geprägt als die Bibel. Daran anschließend und als Basis der späteren Analyse werden unterschiedliche literarische Rezeptionsformen biblischer Texte, Themen und Figuren in der deutschsprachigen Literatur, insbesondere der des 20. Jahrhunderts, beleuchtet. Doch nicht nur literarische Implikationen sind wesentlich für die Grundlegung des literarischen Schaffens der Exilautorin: Untrennbar verbunden mit der Lyrik Stella Rotenbergs ist zweifellos ihre Biographie. Aus diesem Grund wird im Zuge des dritten Kapitels ihrem Leben – beginnend mit ihrer Kindheit und Jugend in Wien, ihrer Vertreibung aus dem nationalsozialistisch gewordenen Österreich und ihrer Flucht, zunächst in die Niederlande und dann nach Großbritannien, wo sie bis heute lebt, – nachgegangen. Erst durch die Extremerfahrungen ihres Lebens wurde Stella Rotenberg zur Literatin, und ihre Lyrik – aus den Schrecknissen der Shoa, aus Trauer und Verlust entstanden – ist ohne diesen biographischen Hintergrund nicht verstehbar. Die abschließenden Ausführungen dieses Kapitels sind einem Überblick über das lyrischen Œuvre der Dichterin gewidmet. Um den biographischen Kontext ihrer Lyrik authentisch beleuchten zu können, wurden im Juli 2009 drei lebensgeschichtliche Interviews mit der Autorin geführt, die auszugsweise in die Darstellung sowohl dieses als auch des folgenden Kapitels einfließen. Alle Gespräche fanden auf Deutsch, der Muttersprache der Autorin, statt. Das dritte Kapitel, der Hauptteil der Arbeit, ist der Bibelrezeption Stella Rotenbergs gewidmet. Als Literatin beschäftigt sie sich nicht mit dem literarischen Werden der Bibeltexte, sondern rezipiert die biblischen Schriften in ihrer kanonischen Endgestalt. Obgleich nicht religiös sozialisiert, durchzieht ihre Hochschätzung der Bibel als Werk der Weltliteratur das ganze Leben der Dichterin und nicht zuletzt ihre Lyrik. In rund einem Dutzend Gedichten nimmt sie auf alttestamentliche Stoffe Bezug oder geht der Gottesfrage angesichts der Shoa nach. Zwei dieser Gedichte – „Kain“ und „Laß mein Volk ziehen“ – sollen beispielhaft ihre Bibelrezeption veranschaulichen. Während das erste gewählte Gedicht auf die biblische Figur des Brudermörders Kain (Gen 4) Bezug nimmt, greift das zweite die Exodusthematik

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(Ex 5) auf. Exegetische Beobachtungen zu beiden Bibelstellen bilden den Ausgangspunkt der Analyse, die mittels eines historischen Durchgangs durch die Rezeptionsweisen beider Motive ergänzt und in einen größeren Kontext gestellt werden. Als Schlusspunkt steht jeweils die biographisch verortete Interpretation der Gedichte – die, wie jede Deutung, stets Versuch und Annäherung bleiben muss. Gewagt sei dieser Versuch mit einem Ausspruch der Autorin selbst: „Ein Gedicht kann man auslegen wie es einem beliebt!“4

1.1 Intertextuelle Lektüre als Analysemethode

„Kein Verfassen von Texten ist ein adamitischer Akt, in dem der Textproduzent gleichzeitig mit seinem Text auch seine Sprache von Grund auf erst schaffen müßte, und kein literarischer Autor ist ein Kaspar Hauser, der noch nie einen fremden literarischen Text gehört oder gelesen hätte. Und ebenso geht in jede Textrezeption die Erfahrung des Rezipienten mit früheren Texten ein, ja setzt diese voraus.“5 Manfred Pfister

Mit dieser prägnanten Aussage skizziert Manfred Pfister treffend einen der schillerndsten Begriffe der Linguistik, Literaturwissenschaft und Semiotik – die Intertextualität. Seit den 1980er Jahren in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen als „Modebegriff“ und „Zauberwort“ tituliert, ist der Terminus „Intertextualität“ ebenso weit verbreitet wie auf die unterschiedlichsten Weisen definiert.6 Wolfgang Heinemann ist auf 48 Verwendungsweisen von Intertextualität gestoßen, die er exemplarisch wie folgt wiedergibt:

„Sie reichen – in adjektivischer Prägung – von der ‚intertextuellen Disposition des Textes’ (was immer das sein mag) über ‚intertextuelle Strategien, Übercodierungen und Schreibweisen’ bis zum ‚intertextuellen Leser’ […]; als Substantiv begegnet uns die ‚wissenschaftliche Intertextualität’, die ‚ästhetische Intertextualität’, die ‚explizite’ und ‚implizite’, die ‚autorspezifische’ und sogar eine ‚kryptische Intertextualität’. Aber auch das ‚Intertextwissen’ spielt eine Rolle, ebenso wie ‚Intertextsignale’ und ‚intertextuelle Indikatoren’; sogar verbale Prägungen kommen gelegentlich vor: ‚Intertextualisieren’ […] sowie das Partizip ‚intertextualisierend’.“7 Der Begriffsvielfalt rund um den Terminus Intertextualität scheinen, wie diese Auflistung veranschaulicht, also kaum Grenzen gesetzt zu sein. Ebenso facettenreich ist, welche Inhalte mit dem Begriff konkret umschrieben werden. Konsens besteht einzig in der Definition, dass Intertextualität das Phänomen von „Beziehungen zwischen Texten“ benennt, wie Susanne Gillmayr-Bucher8 und Manfred Pfister9 festhalten. Die Schwierigkeit, den

4 Interview mit Stella Rotenberg, Leeds, Großbritannien, 4.7.2009. 5 Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz, in: Broich, Ulrich – Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 52–58; 52. 6 Vgl. Heinemann, Wolfgang: Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht, in: Klein, Josef – Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen 1997, 21–37; 21. 7 Ebd. 8 Vgl. Gillmayr-Bucher, Susanne: Intertextualität. Zwischen Literaturtheorie und Methodik, in: Protokolle zur Bibel 8 (1999), 5–20; 5. 6

Begriff Intertextualität zu fassen, ergibt sich jedoch durch die Frage, für welche Arten von Verbindungen zwischen Texten der Terminus Verwendung finde. Pfister benennt die grundlegende Differenz in der Intertextualitätsdebatte wie folgt: „Und je nachdem, wie viel man darunter subsumiert, erscheint Intertextualität entweder als eine Eigenschaft von Texten allgemein oder als eine spezifische Eigenschaft bestimmter Texte oder Textklassen.“10 Älter als der Begriff selbst und die Diskussionen darüber ist der Sachverhalt, den das literaturwissenschaftliche Konzept der Intertextualität zu fassen versucht. Denn als Phänomen besteht Intertextualität seitdem literarische Texte existieren. Bereits die antike Rhetorik und Poetik widmeten sich der Vernetzung von Texten, die sie mit dem Begriff der „imitatio“ bezeichneten. Ebenso beschäftigte sich die Topos-, Motiv- und Quellenforschung der klassischen Philologie mit Relationen zwischen Texten. Die Begriffsschöpfung Intertextualität bezeichnet somit nicht eine bisher unbekannte Tatsache, sondern gilt als „neuer theoretischer Horizont für bekannte Fragen“.11

1.1.1 Zum Intertextualitätskonzept von Julia Kristeva

Die Ursprünge des Intertextualitätsbegriffs sind im französischen Poststrukturalismus der 1960er Jahre zu finden.12 Innerhalb der Literaturwissenschaft vollzog sich zu dieser Zeit ein Paradigmenwechsel, der das bis dahin vertretene strukturalistische Konzept der „Werkimmanenz“, d. h. der Postulierung eines literarischen Textes als ein „in sich geschlossenes und organisches Ganzes“, radikal in Frage stellte.13 Als Leitbegriff dieses literaturwissenschaftlichen Neuaufbruchs formulierte die damals 25-jährige bulgarische Semiologin Julia Kristeva14 im Jahre 1966, kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Paris, einen neuen Terminus: Der Begriff der Intertextualität war geboren.15 1967 publizierte Kristeva ihre Begriffsschöpfung erstmals in der französischen Zeitschrift Critique im Rahmen ihres Artikels „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“16. Ausgangspunkt ihrer Konzeption war das Konzept der Dialogizität des russischen Literatur- und Kulturtheoretikers Michail M. Bachtin

9 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, in: Broich, Ulrich – Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 1–30; 11. 10 Ebd. 11 Vgl. Grohmann, Marianne: Anneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000, 29. 12 Vgl. etwa Leisering, Christina: Susanna und der Sündenfall der Ältesten. Eine vergleichende Studie zu den Geschlechterkonstruktionen der Septuaginta- und Theodotionfassung von Dan 13 und ihren intertextuellen Bezügen, exuz 19, Berlin 2008, 23. 13 Vgl. Holthuis, Intertextualität, 12. 14 Zur Einführung in Theorie und Werk der 1941 geborenen Semiologin Julia Kristevas siehe etwa McAfee, Noëlle: Julia Kristeva, New York 2005. 15 Vgl. Heinemann, Eingrenzung, 22. 16 Vgl. Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 6. Zur deutschen Übersetzung des Artikels siehe Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II (Ars poetica, Texte 8), Frankfurt a. M. 1972, 345–375. 7

(1895–1975)17, dessen in den 1920er Jahren erschienene Werke sie in Westeuropa bekannt machte.18 Im Gegensatz zu der von den russischen Formalisten vertretenen Textimmanenz bezog Bachtin den Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft in seine Theorie mit ein. Dialogizität bezeichnet nach Bachtin den Dialog eines Textes mit anderen Texten und mit seinem gesellschaftlichen Kontext.19 Der Sinn eines Textes konstituiert sich somit nicht allein textimmanent, sondern ist bereits durch andere Texte geprägt. In Hinsicht auf die Textanalyse bedeut dies, dass es nach Bachtin unzulässig ist, diese allein auf den jeweiligen Text zu beschränken. Jeder Text weist über sich selber hinaus und auf andere Texte hin. Dem Literaturtheoretiker ging es primär jedoch nicht um Bezüge zwischen Texten, sondern darum, die einzelnen Stimmen innerhalb eines Textes sichtbar zu machen.20 Demzufolge konstatiert Pfister: „Damit ist Bachtins Theorie dominant intratextuell, nicht intertextuell.“21 Was Kristeva später als Intertextualität bezeichnen wird, ist in seiner Analyse noch sekundär. Ausgehend von einer freien Interpretation von Bachtins Dialogizitätskonzept22 entwickelte Julia Kristeva den Begriff der Intertextualität. Als besonders relevant erachtete sie dabei den von Bachtin aufgezeigten Zusammenhang von Literatur und Kultur. Für den Literaturtheoretiker stellten Monologizität und Dialogizität Grundprinzipien gesellschaftlicher Strukturen dar: Monologizität definierte er als charakteristisch für totalitäre Systeme, während Dialogizität Kritik an bestehende Strukturen beinhalte und damit ein revolutionäres, ideologiekritisches Moment in sich trage.23 Die Semiologin Kristeva griff Bachtins ideologiekritisches Potential auf und weitete es radikal aus. Text bedeutet in ihrer Konzeption nun „Gesellschaft“ oder ein „historio-kulturelles“ Paradigma. Damit führte sie einen völlig entgrenzten, universellen Textbegriff ein: Text ist in dieser Konsequenz nur als Intertext denkbar, „als der gesamte Bestand soziokulturellen Wissens, an dem jeder Text partizipiert, auf ihn verweist, aus ihm entsteht und sich wieder in ihm auflöst“, wie Susanne Holthuis analysiert.24 Kristeva formulierte ihr Textverständnis selbst wie folgt: „[…] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der

17 Zur Biographie Michail M. Bachtins siehe etwa Grübel, Rainer: Michail M. Bachtin. Biographische Skizze, in: Grübel, Rainer (Hg.): Michail M. Bachtin. Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979, 7–20. 18 Vgl. Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 6. 19 Grohmann, Aneignung, 30. 20 Rakel, Judit, 10f. 21 Pfister, Konzepte, 4f. 22 Im Gegensatz zum Intertextualitätskonzept des Poststrukturalismus, der den „Tod des Subjekts“ und den „Tod des Autors“ proklamierte, hielt Bachtin an der „künstlerischen Gestaltungsabsicht“ der Autorin bzw. des Autors fest. Der Einschätzung Larissa N. Polubojarinovas nach sind die beiden Ansätze unvereinbar: „Bachtins ‚Dialogizität’ und strukturalistisch-poststrukturalistische Intertextualität sind also zwei ziemlich weit auseinanderliegende Dinge und, streng genommen, inkompatibel.“ Polubojarinova, Larissa N.: Intertextualität und Dialogizität: Michail Bachtins Theorien zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft, in: May, Markus – Rudtke, Tanja (Hg.): Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann, Heidelberg 2006, 55–63; 58f. 23 Vgl. Gillmayr-Bucher, 6. Zum ideologiekritischen Ansatz Bachtins siehe etwa Holthuis, Intertextualität, 12f. 24 Holthuis, Intertextualität, 14f. 8

Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“25 Im Sinne von Kristevas globalem Intertextualitätsbegriff existiert ein „Universum der Texte“, in dem jeder Text in einem unendlichen Regress auf andere und prinzipiell auf alle anderen Texte verweist. Ihre radikale Entgrenzung des Textbegriffs beschränkt sich jedoch nicht auf geschriebene Werke, sondern sieht Geschichte und Gesellschaft ebenso als etwas an, das wie ein Text zu lesen ist.26 Texte sind somit keine „creatio ex nihilo“ mehr,27 sie greifen immer – ob bewusst oder unbewusst – auf bereits Vorhandenes zurück,28 sind eingebettet in ein Netz von Kultur und Literatur. Die Konsequenz daraus ist zwangsläufig eine Relativierung der Rolle der Autorin bzw. des Autors, die damit ihre Stellung als originäre Schöpferin bzw. als kreativer Schöpfer des Textes verlieren.29 Der Prozess des Schreibens ist untrennbar mit dem des Lesens verbunden, so dass beide miteinander verschmelzen und zu einem Ereignis werden.30 Ebenso wie die schreibende Person von zahlreichen Vortexten inspiriert ist, so ist es auch die Rezipientin und der Rezipient. Die Textinterpretation ist folglich kaum noch an die Vorgaben der Verfasserin bzw. des Verfassers gebunden. Sie wird zu einem freien, universellen Geschehen, das sich auf den Gesamtbestand soziokulturellen Wissens bezieht, an dem jeder Text partizipiert.31 Der Sinn eines Textes konstituiert sich nach Kristeva somit nicht aus dem Text selbst, ist nichts bereits Gegebenes, das es nur freizulegen gelte, sondern „etwas Flüchtiges, das sich immer erst herstellt – als Effekt einer Beziehung zwischen Text und Leser“.32 Doch auch der Prozess des Lesens ist – wie der des Schreibens – in Kristevas Verständnis ein nicht-personaler Vorgang: Die Lesenden bleiben anonym, ohne Geschichte und Persönlichkeit.33

1.1.2 Auf dem Weg zu einer Operationalisierbarkeit von Intertextualität

Kristevas universelles Intertextualitätskonzept, demzufolge alles – jegliche Form von Kommunikation und Kultur – Text ist,34 erwies sich in der Praxis der intertextuellen Lektüre als nicht handhabbar. „Allein schon deswegen“, wie Henning Tegtmeyer konstatiert, „weil man das Universum der Texte kennen muß, um einen einzelnen Text zu verstehen. Und wer

25 Kristeva, Bachtin, 348. 26 Vgl. Pfister, Konzepte, 7–9. 27 Vgl. Rakel, Judit, 13. 28 Vgl. Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität, in: Stierle, Karlheinz – Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, 139–150; 139. 29 Vgl. Heinemann, Eingrenzung, 23. 30 Vgl. Rakel, Judit, 14. 31 Vgl. Heinemann, Eingrenzung, 23f. 32 Suchsland, Inge: Julia Kristeva zur Einführung, Hamburg 1992, 80. 33 Vgl. Gillmayr, Intertextualität, 10. 34 Vgl. Brockmöller, Katrin: „Eine Frau der Stärke – wer findet sie?“. Exegetische Analysen und intertextuelle Lektüren zu Spr 31,10–31 (BBB 147), Berlin 2004, 20. 9 kennt schon das Universum der Texte?“35 Es war jedoch keineswegs die Intention Kristevas, eine Texttheorie zu entwickeln, aus der eine Methodik der Textanalyse ableitbar wäre, da Wissenschaft bei ihr generell unter Ideologieverdacht steht. Aus der Motivation einer Herrschafts- und Gesellschaftskritik entstanden, ist ihr Intertextualitätskonzept politisch und nicht wissenschaftlich zu verstehen.36 Erst in der Auseinandersetzung mit Kristevas Konzeption wurden Modelle entwickelt, die den globalen Intertextualitätsbegriff der Literaturtheoretikerin einzugrenzen und für die konkrete Textanalyse nutzbar zu machen versuchten. Mittlerweile besteht eine große Vielfalt an unterschiedlichen Konzepten, die produktions- oder rezeptionsästhetisch, diachron oder synchron ausgerichtet sind.37 Neben Konzeptionen, die sich an Kristevas allumfassendem Textverständnis orientieren, etablierten sich Modelle, die von einem begrenzten Intertextualitätsbegriff ausgehen. Ziel dieser Ansätze ist die konkrete „Identifizierbarkeit der Beziehungen zwischen Texten“.38 Im Zentrum dieser engen Intertextualitätskonzepte steht die These, dass Intertextualität Merkmal einzelner Texte und nicht generelle Eigenschaft aller kommunikativen und kulturellen Äußerungen ist. Die Autorin bzw. der Autor gelten wieder als Schöpferin bzw. Schöpfer ihrer eigenen Werke – der Text entwickelt keine Eigendynamik, die unabhängig von seiner Urheberin oder seinem Urheber Bestand hätte.39 Manfred Pfister konkretisiert diese Sichtweise wie folgt: „Damit wird Intertextualität zum Oberbegriff für jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen, wie sie die Literaturwissenschaft unter Begriffen wie Quellen und Einfluß, Zitat und Anspielung, Parodie und Travestie, Imitation, Übersetzung und Adaption schon bisher behandelt hat […].“40 Im Rahmen dieser Konzeption entwickelte sich Intertextualität – im Gegensatz zum universellen, texttheoretisch arbeitenden Verfahren – zu einem textdeskriptiven Vorgang.41 Im deutschsprachigen Raum ist es vor allem Anliegen der „Konstanzer Schule“, das globale Intertextualitätskonzept einzuschränken und so für die konkrete Textanalyse nutzbar zu machen. Als eine der profiliertesten Literaturtheoretikerinnen, die sich mit Intertextualität beschäftigen, gilt die deutsche Slawistin Renate Lachmann. Um das Phänomen der

35 Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis’, in: Klein, Josef – Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen 1997, 49–81; 53. 36 Ebd., 54. 37 Leisering, Susanna, 24. 38 Tegtmeyer, Begriff, 51. Für die Bezeichnung dieser Sichtweise haben sich unterschiedliche Terminologien herausgebildet. Henning Tegtmeyer spricht beispielsweise von einem „lokalen Intertextualitätskonzept“, vgl. ebd., während Katrin Brockmöller „enges Konzept von Intertextualität“ anführt. Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 21f. 39 Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 21. 40 Pfister, Konzepte, 15. 41 Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 22. 10

Intertextualität handhabbar zu machen, unterscheidet sie drei Ebenen des Intertextualitätsbegriffs42, die sie jede für sich als unverzichtbar erachtet:

• Die texttheoretische Ebene: In dieser Perspektive ist die Grundentscheidung für ein Intertextualitätskonzept – sei es ein weites oder ein einschränkendes – zu treffen. • Die textdeskriptive Ebene: Ziel dieser Stufe ist die Entwicklung eines deskriptiven Analyseverfahrens. • Die literatur- und kulturkritische Ebene: Aufgabe dieser Perspektive ist es, das Sinnpotential eines Textes zu erschließen. Lachmann geht in ihrer Konzeption insbesondere der Frage nach, welche Beziehungen sich zwischen Texten belegen lassen, welche Funktion diese textuellen Relationen erfüllen und welche neuen Verständnismöglichkeiten sich aus der Vernetzung von „präsentem und absentem Text“ ergeben.43

1.1.3 Zu produktions- und rezeptionsästhetischen Ansätzen in der Intertextualitätsforschung Während im universellen Intertextualitätsentwurf Julia Kristevas die Frage nach der Autorin bzw. dem Autor sowie nach der Rezipientin bzw. dem Rezipienten weitestgehend ausgeblendet blieb, kam diesem Aspekt im weiteren Forschungsdiskurs erhebliche Relevanz zu.44 Produktions- und Rezeptionsintertextualität stellen zwei wesentliche Pole dieser Diskussion dar. Einen „eng umgrenzten produktionsorientierten Intertextualitätsbegriff“45 vertreten etwa die Anglisten Ulrich Broich und Manfred Pfister. Ihrer Konzeption nach kommt dem schreibenden Subjekt die zentrale Rolle im intertextuellen Prozess zu: Die Verfasserin oder der Verfasser eines literarischen Textes setzt bewusst intertextuelle Markierungen, verbunden mit der Intention, dass diese von den Lesenden als solche wahrgenommen werden. Ulrich Broich definiert den von ihm und Pfister vertretenen intertextuellen Ansatz selbst in folgender Weise: „Nach diesem Konzept liegt Intertextualität dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten

42 Vgl. Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Stierle, Karlheinz – Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, 133–138; 134. 43 Vgl. Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 14f. Auf diese dreigliedrige Konzeption berufen sich etwa Merz, Selbstauslegung, 5–22, und Leisering, Susanna, 26–30, die ihren Untersuchungen einen weiten Intertextualitätsbegriff zugrunde legen. Wie noch zu zeigen sein wird, soll dieser Arbeit jedoch ein enger Intertextualitätsbegriff dienen, da explizit literarische Bezüge zu alttestamentlichen Texten den Analysegegenstand dieser Arbeit bilden. 44 Vgl. Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 16. 45 Alkier, Stefan: Intertextualität – Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: Sänger, Dieter (Hg.): Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (Biblisch- theologische Studien 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 1–26; 16. 11

Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewußt sind, sondern bei dem jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorganges darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert.“46 Ein deutlich rezeptionsorientiertes Intertextualitätsmodell vertritt dagegen Susanne Holthuis, deren Konzept sowohl vielfach aufgegriffen47 als auch mehrfach einer kritischen Beleuchtung unterzogen wurde.48 Ausgangspunkt ihrer Konzeption war die Beobachtung, dass der Rolle der Rezipientinnen und Rezipienten in der Intertextualitätsdiskussion bisher zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Im Sinne Holthuis’ ereignen sich intertextuelle Beziehungen im Prozess des Lesens und sind daher nicht „im und durch den Text allein“ begründbar.49 In theoretischer Hinsicht gründet sich ihre Arbeit auf die „semiotische Texttheorie“ János Petöfis. In Anlehnung an seine Definition versteht Holthuis Texte als „dominant verbale relationale semiotische Objekte“ und Intertextualität grundsätzlich als Relation zwischen diesen Objekten. Mit Petöfi konform gehend sieht sie Textualität als eine Texten nicht inhärente Eigenschaft an.50 Diese Sichtweise weitet sie auch auf den Intertextualitätsbegriff aus:

„Demzufolge muß auch Intertextualität verstanden werden als eine Texten nicht inhärente Eigenschaft, auch hier muß davon ausgegangen werden, daß intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen, im und durch den Text selbst.“51 Im Sinne Holthuis’ ist Intertextualität ein zweidimensionales Phänomen: Einerseits umfasst Intertextualität die Disposition des Textes, die sowohl unbeabsichtigt als auch intendiert sein kann, und andererseits die Relevanzentscheidungen der Rezipientinnen und Rezipienten.52 Obgleich „Intertextualitätsindikatoren“ für die Identifizierung intertextueller Relationen von Bedeutung bleiben, kommt die entscheidende Intertextualitätskompetenz der rezipierenden Person zu. Ihr obliegt es, über die Relevanz intertextueller Referenzen zu entscheiden und diese in ihre eigene „subjektive Textwelt“ zu integrieren.53

46 Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität, in: Broich, Ulrich – Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 31–47; 31. Dem Ansatz der produktionsorientierten Intertextualität ist etwa auch die Arbeit von Jörg Helbig zuzurechnen, die er der Markierung intertextueller Bezüge gewidmet hat. Siehe Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, 141), Heidelberg 1996. 47 Vgl. beispielsweise, Brockmöller, Frau der Stärke, 43–51; Alkier, Intertextualität, 12–16. 48 Vgl. etwa Tegtmeyer, Begriff, 56–75; Heinemann, Eingrenzung, 26; 33f. 49 Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 43f. 50 Vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Stauffenberg Colloquium 28, Tübingen 1993, 30f. 51 Holthuis, Intertextualität, 31. 52 Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 51f. 53 Vgl. ebd., 50. 12

1.1.4 Latente und intendierte Intertextualität Ob Intertextualität in einem Text von einer Autorin oder einem Autor intendiert oder aber latent vorhanden ist, lässt sich kaum eindeutig fassen. Immer bleibt eine gewisse Unschärfe zurück, die Resultat der subjektiven Einschätzung seitens der oder des Rezipierenden ist. In einer idealtypischen Differenzierung liegt intendierte Intertextualität dann vor, wenn die schreibende Person sich der Verwendung anderer Texte bewusst ist und von den Lesenden erwartet, dass sie die intertextuellen Relationen eines Textes als beabsichtigt und für das Textverständnis als notwendig erkennen. Zum Phänomen der latenten Intertextualität dagegen zählen neben der Verwendung allgemein bekannter sprachlicher Codes und semantischer Felder auch Einflüsse aus anderen literarischen oder sprachlichen Kontexten, die der Verfasserin bzw. dem Verfasser nicht bewusst sind.54 In vielen Fällen stimmt jedoch diese klare Unterscheidung mit der Realität der Textproduktion und Textinterpretation nicht überein. Annette Merz fast diese Problematik in folgender Weise zusammen:

„Es wird immer viele Fälle geben, an denen empirische LeserInnen rätseln, ob der Text bzw. der dahinter angenommene Autor in einem bestimmten Ausdruck einen subtilen Verweis intendiert oder nicht und welche Folgen die Antwort auf die Interpretation des Textes hat. Umgekehrt können auch AutorInnen das Pech haben, dass ihre LeserInnen die intendierten Prätextverweise entweder ganz übersehen, missverstehen oder intendierte Referenzen gar für schlecht kaschierte latente Intertextualität, etwa Klischeeverhaftetheit, halten.“55 Trotz unterschiedlicher Interpretationsansätze herrscht heute – in Fortführung des Bedeutungsverlusts der AutorInnenintention im Verlauf des 20. Jahrhunderts – vielfach Konsens darüber, dass Textproduzentinnen und -produzenten über kein alleiniges Interpretationsrecht ihrer Werke verfügen und damit auch nicht die Existenz intertextueller Bezüge unumschränkt feststellen oder leugnen können. Der Text selbst wird zur entscheidenden Kontrollinstanz für haltbare und unhaltbare Interpretationen. Die Intention der Autorin bzw. des Autors rückt hinter die des Textes zurück.56 Umberto Eco, selbst Semiotikprofessor und Schriftsteller, führte in diesem Zusammenhang den Begriff der „intentio operis“, der Werksintention, in den Diskurs ein. Ein „exemplarischer Leser“ bzw. eine „exemplarische Leserin“, die Eco von „empirischen“ und „implizierten“ Lesenden unterscheidet, müssten einen Text demnach so lesen, „wie er in gewissem Sinne angelegt ist, einschließlich der Möglichkeit vielfältiger Interpretationen“.57 Allein im Text selbst sieht Umberto Eco einen zuverlässigen Bezugspunkt der Textanalyse:

„Das Seelenleben des empirischen Autors ist gewiss unergründlicher als seine Texte. Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren

54 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 29f. 55 Ebd., 30. 56 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 32. 57 Vgl. Collini, Stefan: Einführung: Die begrenzbare und die unbegrenzbare Interpretation, in: Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Entwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 1996, 7–28; 15f. 13

Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verlässliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können.“58 In der Semiotik existieren allerdings auch andere Auffassungen über das Zusammenspiel von „intentio auctoris, „intentio operis“ und „intentio lectoris“. Die Exegetin Silvia Pellegrini etwa sieht keinen Nutzen darin, Texte von ihren Autorinnen bzw. Autoren zu trennen. Auch betrachtet sie eine Differenzierung von Texten von ihren Rezipientinnen und Rezipienten als eine künstliche und damit problematische Unterscheidung.59

1.1.5 Zu Formen intertextueller Verweise Damit es Leserinnen und Lesern prinzipiell möglich ist, eine Beziehung zwischen Texten herzustellen, bedarf es eines Hinweises, eines Signals, das die Rezipierenden darauf aufmerksam macht, dass eine Relation zwischen Texten besteht.60 Solche intertextuellen Verweise manifestieren sich grundsätzlich in zwei Formen: der Einzeltextreferenz und der Systemreferenz. Unter Einzeltextreferenz ist die Bezugnahme auf einen bestimmten oder auf mehrere andere Texte zu verstehen, während sich Systemreferenz in Bezügen zu Textstrukturen, etwa Gattungen, zeigt.61 Obwohl beide Bezugsformen im Allgemeinen voneinander trennbar sind, finden sich in vielen Texten sowohl Einzeltext- als auch Systemreferenzen, die jeweils zur Konstituierung des Textes beitragen.62 Das Interesse der Intertextualitätsforschung gilt jedoch in erster Linie der Identifizierung von referentiellen Bezügen zwischen Einzeltexten. Wie Intertextualität überhaupt ist auch dieser Bereich der Intertextualitätsdebatte von vielfältigen und unterschiedlichen Herangehensweisen geprägt.63 Jörg Helbig spannt in seiner Studie über die Markierung von Intertextualität den Bogen von der so genannten „Nullstufe“, der unmarkierten Intertextualität,64 bis zur „Vollstufe“, der explizit markierten Intertextualität.65 Ulrich Broich zufolge ist davon auszugehen, dass Intertextualität häufig markiert wird, wobei diese Kennzeichnung in einer stärkeren oder schwächeren Form – bis hin zu nur mehr „unsichtbare[n] Anführungszeichen“ – erfolgen kann. Auf eine Markierung intertextueller Verweise kann seinen Ausführungen zufolge dann verzichtet werden, wenn davon

58 Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text, in: Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Entwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 1996, 75–97; 97. 59 Vgl. Pellegrini, Silvia: Elija – Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium (HBS 26), Freiburg i. Br. 2000, 95f. 60 Vgl. Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 19. 61 Vgl. Brockmöller, Frau der Stärke, 22; Gillmayr-Bucher, Intertextualität, 19. 62 Vgl. Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz, in: Broich, Ulrich – Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 48–52; 51f. 63 Vgl. Holthuis, Intertextualität, 89. 64 Vgl. Helbig, Intertextualität, 87–90. 65 Vgl. ebd., 111f. Zur Markierung von Intertextualität siehe auch Füger, Wilhelm: Intertextualia Orwelliana. Untersuchungen zur Theorie und Praxis der Markierung von Intertextualität, in: Poetica 21 (1989), 179–200. 14 auszugehen ist, dass der eingespielte Text einem breiteren Publikum bekannt ist. Häufig der Fall ist dies bei Klassikern und bei Bezugnahmen auf die Bibel.66 Als Intertextualitätsindikatoren lassen sich mit Annette Merz drei Formen von Einzeltextreferenzen unterscheiden: onomastische, titulare und allusive Intertextualitätsverweise,67 die – wie sich zeigen wird – in der Analyse ausgewählter Gedichte Stella Rotenbergs eine wichtige intertextuelle Verweisfunktion erfüllen. Onomastische Intertextualität bezeichnet die Verwendung von Namen als intertextuelle Referenzen, wobei sowohl Orts- als auch Personennamen bzw. Namen literarischer Figuren referentiellen Charakter erhalten können. Ohne weitere Kennzeichnung verweisen diese zuverlässig auf bestimmte literarische Zusammenhänge68 und stellen damit eine explizite intertextuelle Markierung dar.69 Linguistisch betrachtet ist die Übertragung des Namens einer literarischen Figur – ob in identischer oder veränderter Form – auf eine Figur in einem anderen Text mit dem Zitat verwandt; bisweilen ist in der Forschung auch von „zitierten Namen“ die Rede.70 Als „Interfiguralität“ bezeichnet, stellt das Phänomen internymischer Beziehungen eine besondere Form der Intertextualität dar. Greift eine Autorin oder ein Autor einen Figurennamen aus einem fremden Text auf, evoziert sie bzw. er damit auch den Charakter der verwendeten Figur. Im neuen literarischen Kontext kann, aber muss die aufgegriffene Figur keineswegs identisch mit dem Original sein, „da die wiederverwendete Figur jeweils neu konzipiert und in einen neuen ästhetischen Funktionszusammenhang eingebunden ist“. Die Differenz zwischen Prä- und Folgetext kann soweit gehen, dass die namensgleichen oder -verwandten Figuren keinerlei Ähnlichkeiten in Charakter oder Schicksal aufweisen. Die Spannbreite interfiguraler Bezüge reicht somit von einer „Quasi-Identität“ bis hin zum Fehlen jeglicher Gemeinsamkeiten zwischen namensidentischen Figuren im alludierten und im alludierenden Text.71 Titulare Intertextualität – sie tritt oft in Verbindung mit onomastischer Intertextualität auf72 – zählt zu den ausgeprägtesten Formen intertextueller Markierung. Titel, Untertitel, Motti, Widmungen, Vorworte oder Fußnoten zählt Jörg Helbig zur Kategorie der Paratexte. Durch ihre exponierte Stellung – einerseits in engem Bezug zum Text, andererseits in formaler Abgrenzung zum selben – kommt solchen Paratexten eine erhöhte, gleichsam automatische Signalwirkung zu.73 Nach Ulrich Broich kommt dem Titel eines Werkes

66 Vgl. Broich, Formen der Markierung, 32f. 67 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 22. 68 Vgl. ebd., 23. 69 Vgl. Helbig, Intertextualität, 112–115. 70 Vgl. Müller, Wolfgang G.: Namen als intertextuelle Elemente, in: Poetica 23 (1991), 139–165; 144. Müller weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass der Vergleich mit dem Zitat nicht überstrapaziert werden sollte, da Personennamen in der Literaturwissenschaft eine eigene Kategorie bilden. Vgl. ebd., 145. 71 Vgl. ebd., 146f.; 150–152. 72 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 23f. 73 Vgl. Helbig, Intertextualität, 106f.; 110f. Siehe auch Broich, Formen der Markierung, 35–38 und Karrer, Wolfgang: Titles and Mottoes as Intertextual Devices, in: Plett, Heinrich F. (Hg.): Intertextuality (Research in Text Theory – Untersuchungen zur Texttheorie 15), Berlin 1991, 122–134. 15 insbesondere dann Signalcharakter zu, wenn der in ihm enthaltende Verweis auf den Prätext im Folgetext sonst keine Erwähnung mehr findet.74 Neben dem Titel sind Untertitel und Motto ebenso häufig Orte explizit markierter Intertextualität. Ihnen kommt vielfach die Funktion zu, den intertextuellen Charakter eines Textes zu explizieren.75 Allusive Intertextualität umfasst Textreferenzen unterschiedlicher Explizitheit, wie Zitate oder Anspielungen, auf einen konkret identifizierbaren Prätext. Unter den Oberbegriff der allusiven Intertextualität fallen auch die beiden bereits besprochenen Sonderformen der onomastischen und titularen Intertextualität.76 Als die evidenteste Bezugnahme auf einen fremden Text gilt das Zitat. Sein „a priori intertextueller Charakter“ gilt im Intertextualitätsdiskurs als unumstrittene Tatsache. Durch Zitation eines vollständigen Textes oder eines Textteiles erreichen ein oder mehrere Referenztexte im Folgetext unmittelbare Präsenz.77 Fremdes Textmaterial kann dabei sowohl in unveränderter als auch modifizierter Form wiedergegeben werden.78 Kennzeichen eines Zitates sind Anführungszeichen, Verweise und Ähnliches79 sowie die Relinearisierung des Bezugstextes. Neben dem Zitat gilt die Allusion als wichtigste intertextuelle Referenz. Im Unterschied zum Zitat handelt sich bei Allusionen um nicht relinearisierte Bezüge zu Prätexten. In einer universalen Definition wird Allusion sogar als Synonym für Intertextualität überhaupt gesehen.80 Konkreter verstanden sind Allusionen „nicht markierte, indirekte oder versteckte Bezüge eines Textes zu einem anderen Text“81. Susanne Holthuis weist jedoch darauf hin, dass eine klare Grenzziehung zwischen Zitat und Allusion nicht immer leicht zu treffen ist. Anstelle einer ausdrücklichen Zuordnung sollte ihrer Meinung nach von „Gradationen“ zwischen beiden Formen ausgegangen werden. Je nach Text und funktionaler Einbettung erfolgt demzufolge eine Zuordnung eher zu der einen oder eher zu der anderen Kategorie.82

1.1.6 Konsequenzen für diese Arbeit

„Habe ich denn biblische Stoffe aufgegriffen?“,83 zeigte sich Stella Rotenberg in einem Gespräch über Bezüge ihrer Gedichte zu biblischen Figuren und Motiven ein wenig erstaunt. Obgleich die Autorin im Titel ihres Gedichts „Lass mein Volk ziehen“84 explizit ein Zitat aus der Exoduserzählung anführt (Ex 5,1) und im Untertitel direkt auf dieses verweist, scheint ihr

74 Vgl. Broich, Formen der Markierung, 36. 75 Vgl. Helbig, 110f. 76 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 22. 77 Vgl. Holthuis, Intertextualität, 94. 78 Vgl. Rakel, Judit, 28f. 79 Vgl. Helbig, Intertextualität, 24. 80 Vgl. Holthuis, Intertextualität, 123. 81 Rakel, Judit, 29. 82 Vgl. Holthuis, Intertextualität, 126f. 83 Interview mit Stella Rotenberg, Leeds, 6.7.2009. 84 Rotenberg, Quell, 62. 16 der intertextuelle Charakter ihrer lyrischen Texte weitgehend unbewusst zu sein. Lebenserfahrungen und Lektüren der Dichterin verschmelzen gleichsam zu intuitiven Gesamtkompositionen, und Intertextualität wird – texttheoretisch gesprochen – zu einem latenten Phänomen.85 Wenn Stella Rotenberg biblische Figuren wie Kain und Hagar aufgreift oder auf die Zehn Gebote Bezug nimmt und mit den traumatischen Erfahrungen ihres Lebens korreliert, scheint sie nicht bewusst biblische Anknüpfungspunkte zu wählen, vielmehr waren diese alttestamentlichen Erzählungen Teil des allgemeinen Bildungsgutes ihrer Jugendzeit – ein reicher Fundus, auf den sie jederzeit und wie selbstverständlich zurückgreifen konnte. Ihrer Selbsteinschätzung zufolge „nicht gut bibelbewandert“86 sind ihr alttestamentliche Texte dennoch so vertraut, dass sie als Autorin mehrfach und explizit auf diese Bezug nimmt. Als von besonderer Bedeutung in Stella Rotenbergs Lyrik erweisen sich Einzeltextreferenzen in Form titularer und onomastischer Intertextualität, insbesondere das Phänomen der Interfiguralität. Um die intertextuellen Beziehungen zwischen den Gedichten Stella Rotenbergs und biblischen Prätexten beschreiben zu können, wird in dieser Arbeit auf texttheoretischer Ebene mit dem Modell der engen bzw. einschränkenden Intertextualität operiert. Eine universelle Textkonzeption im Sinne Kristevas erweist sich für die konkrete Gedichtinterpretation als nicht praktikabel. Im Besonderen wird die Analyse intertextueller Relationen auf die Referenztextgruppe biblischer Bücher begrenzt, wobei Bezüge zu anderen literarischen Vorlagen keineswegs ausgeschlossen werden. Im Zentrum der Analyse sollen jedoch Stella Rotenbergs Perzeption alttestamentlicher Texte und deren Sinnkonstitution im Werk der Exilsschriftstellerin stehen. Im Umgang mit Gedichten einer Gegenwartsautorin erscheint es zudem als sinnvoll, sowohl rezeptions- als auch produktionsorientierte Ansätze zu verbinden. Zum einem sollen aus rezipierender Perspektive Intertextualitätssignale in den Blick genommen und analysiert werden, denn ohne deren explizite Wahrnehmung bliebe Intertextualität im Verborgenen und unentdeckt. Kenntnis der biblischen Schriften auf Seiten der Lesenden ist unumgängliche Voraussetzung für das Gelingen jeglicher literarischer Bibelbezüge. Eine alleinige Orientierung an der Intention der Autorin bzw. des Textes würde demnach zu kurz greifen. So möchte ich mich der deutsch-jüdischen Exilsdichterin Hilde Domin, die sich auch auf theoretischer Ebene mit Gedichtinterpretationen auseinandersetzte, anschließen, wenn sie feststellt:

85 Zur Unterscheidung von indentierter und latenter Intertextualität vgl. Merz, Annette: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 52), Göttingen 2004, 29–35. 86 Interview mit Stella Rotenberg, Leeds, 3.7.2009. 17

„Das Gedicht gehört dem Leser, für den Autor hat es seine Schuldigkeit getan. Und immer wird der Leser sich selber mitlesen in dem Gedicht, das er liest. Er kann gar nicht anders. Insofern gibt es keine absolute Interpretation.“87 Andererseits sollen die Lebenserfahrungen Stella Rotenbergs – soweit sie aus den geführten lebensgeschichtlichen Interviews rekonstruierbar und greifbar sind – ebenfalls in die Analyse miteinfließen. Denn ohne Bedachtnahme auf ihre kaum in Worte zu fassenden Leid- und Verlusterfahrungen blieben ihre Gedichte wohl im Letzten unverständlich und leere Worthülsen. Nur durch die Einbettung in den Kontext ihrer Biographie und die Realität der unsagbaren Leiderfahrungen von Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Machtbereich können die Gedichte der Exilsschriftstellerin zumindest ansatzweise greifbar werden. Schreiben wurde für Stella Rotenberg zu einer Form von Bewältigungsstrategie: „Wenn ein Gedicht da war und es war so halbwegs annehmbar, war ich schon irgendwie erleichtert.“ Doch fügt sie umgehend hinzu: „Aber man kann es ja nicht in Worte fassen.“88 Dennoch wagte Stella Rotenberg dieses Unterfangen. Ihrer Lyrik, die das Unsagbare – nicht zuletzt mittels biblischer Figuren, Motive und Verse – in Worte zu fassen versucht, nachzuspüren, ist Ziel dieser Arbeit.

87 Domin, Hilde: Ein Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a. M. 31999, 68. 88 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 18

1.2 Zur Bibelrezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts

„Die deutsche Sprache und Kultur ist […] ohne den Einfluss der Bibel nach Geist, Form und Sprache nicht zu denken.“ Magda Motté89

Seit Jahrhunderten haben biblische Erzählungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller fasziniert und inspiriert. „Welch ein Buch! Groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinausragend in die blauen Geheimnisse des Himmels“, so Heinrich Heines Lobpreis auf die Bibel.90 Bertold Brecht, Angehöriger der literarischen Avantgarde und überzeugter Kommunist, antwortete 1928 auf die Frage nach seinem stärksten literarischen Eindruck: „Sie werden lachen: die Bibel“. Die österreichisch-jüdische Schriftstellerin Hilde Spiel ging noch weiter und bezeichnete die Bibel als „die Mutter der Dichtung“, als „das Buch der Bücher, dessen Bedeutung nicht nur für die Religion, sondern für die Dichtung […] unseres Abendlandes einzigartig ist.“91 Ebenso betont Umberto Eco: „Grob geschätzt lassen sich drei Viertel der westlichen Kunst nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was Altes und Neues Testament und die Heiligengeschichten erzählen.“92 Das Themenfeld „Bibel und Literatur“ vermag sowohl aus theologischer als auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Bände zu füllen. Als ein „schier endloses“ Thema, als „eines ohne Ufer“ bezeichnet es etwa Jörg Seip in einem Aufsatz über die Verhältnisbestimmung von Bibel und Literatur.93 Aleida Assmann identifiziert mindestens vier mögliche Ansätze, um nach dem Verhältnis von Bibel und Literatur zu fragen: Mithilfe der Kategorie „Bibel als Subtext der Literatur“ lässt sich die „überragende Bedeutung der Bibel für die Literatur“ untersuchen. Die Rubrik „Bibel als Literatur“ betrifft weiters den „Nachweis der literarischen Qualität der Bibel“. Unter dem Begriff „Bibel-Literatur“ lässt sich die Neubearbeitung biblischer Stoffe durch Schriftstellerinnen und Schriftsteller subsumieren. Die Fragestellung „Bibel versus Literatur“ schließlich umfasst die Annahme einer „Rivalität unvereinbarer kultureller Paradigmen“, die einander kategorisch ausschließen.94 Im Folgenden soll den ersten beiden Ansätzen – beginnend mit der grundlegenden Frage nach

89 Motté, Magda: Mehr als Spuren. Der Einfluss der Bibel auf unsere Sprache und unsere Literatur, in: ThPQ 157 (2009), 126–137; 127. 90 Gellner, Christoph: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2004, 9. 91 Lermen, Birgit: „Ich begann die Geschichten der Bibel zu lesen: Ein Riß; und der Abgrund Mensch klaffte auf“. Rezeptionsformen der Bibel, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 22000, 48–88, 48f. 92 Eco, Umberto: Offen gesagt: Religionswissen gefragt, in: Sonntagsblatt für Steiermark, 10.1.2010, 2. 93 Seip, Jörg: Die Bibel und die Literatur. Eine poetische Spurensuche, in: Dillmann, Rainer (Hg.): Bibel-Impulse. Film – Kunst – Literatur – Musik – Theater – Theologie (INPUT 5), Berlin 2006, 205–224; 205. 94 Vgl. Assmann, Aleida: Jordan und Helikon – der Kampf der zwei Kulturen in der abendländischen Tradition, in: Ebach, Jürgen – Faber, Richard (Hg.): Bibel und Literatur, München 1995, 97–111; 97. 19 der „Bibel als Literatur“ und daran anschließend der Bibelrezeption in der deutschsprachigen Literatur – nachgegangen werden. Die beiden letztgenannten Kategorien – „Bibel-Literatur“ und „Bibel versus Literatur“ – erweisen sich für die Frage nach dem Verhältnis von Bibel und Literatur in der Dichtung Stella Rotenbergs als unerheblich.

1.2.1 Die Bibel als Literatur „Es ist Literatur, gewiß, aber doch auch mehr als Literatur. Ich zitiere die Botschaft, und ich erzähle vom Leben“,95 beschreibt der deutsche Schriftsteller Horst Bienek in seinem Essay „Paulus an die Korinther, an uns und an mich“ seinen Zugang zur Bibel, die er im sibirischen Arbeitslager Vorkuta für sich entdeckte.96 Ist die Bibel nun als „Heilige Schrift“ oder als „Literatur“ zu verstehen – oder als beides? Bis ins 18. Jahrhundert erblickte man in den biblischen Büchern die göttliche Offenbarung in verschrifteter Form. Eine Erforschung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive begann erst mit dem 1753 erschienenen Werk „De sacra poesia Hebrorum“ des amerikanischen Bischofs Robert Lowth. In dieser Schrift wurde die Bibel erstmals auch als literarisches Dokument gewürdigt. Lowth, der in Oxford Poetologie gelehrt hatte, war vor allem der „Parallelismus membrorum“ aufgefallen, den er als Grundgesetz der hebräischen Poesie entdeckte.97 Drei Jahrzehnte später schloss sich Johann Gottfried Herder, der vom Denken Lowths zutiefst beeindruckt war, dessen Würdigung der Bibel als literarisches Werk an und gab einen ähnlichen Band mit dem Titel, „Die jüdischen Dichtungen und Fabeln“ heraus. Zudem verfasste Herder ein bedeutsames, wenn auch unvollendetes Manuskript, das er mit „Vom Geist der hebräischen Poesie“ überschrieb.98 Herder, der als Begründer der Vergleichenden Literaturwissenschaft gilt, brachte vor allem eine komparatistische Blickrichtung in die literarische Auseinandersetzung mit der Bibel ein.99 Als sich schließlich auch Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine und viele andere namhafte Schriftstellerinnen und Schriftsteller der literarischen Würdigung der Bibel durch Lowth und Herder anschlossen, galt das Buch der Bücher endgültig als Werk der

95 Bienek, Horst: Paulus an die Korinther, an uns und an mich, in: Institut für Interdisziplinäre Kultur und Medienforschung (IKM) – Katholische Akademie Hamburg (Hg.): Almanach. Bibelillustration für Kinder. Ein Wettbewerb, Hamburg 1992, 19–21; 20. Ursprünglich erschienen in: Das Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1983, 2. Lieferung, Heidelberg 1984. 96 Vgl. Frühwald, Wolfgang: Die Bibel als Literatur produzierende Kraft, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 22000, 39–47; 46f. 97 Vgl. Konstantinović, Zoran: Die Nachwirkungen der Bibel als Problem der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: Holzner, Johann – Zeilinger, Udo (Hg.): Die Bibel im Verständnis der Gegenwartsliteratur, St. Pölten 1988, 17–24; 17. 98 Vgl. Motté, Magda: Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart (Theologie und Literatur 6), Mainz 1997, 48; Motté, Spuren, 132; Konstantinović, Nachwirkungen, 17. 99 Vgl. Konstantinović, Nachwirkungen, 18. 20

Weltliteratur, aus deren reichen Fundus Autorinnen und Autoren bis in die Gegenwart schöpfen.100 Spätestens seit den 1970er Jahren wird auch in der Bibelexegese ein dezidiert literaturwissenschaftlicher Forschungsansatz vertreten. „Die Bibelwissenschaft ist […] ein kleiner Zweig der Literaturwissenschaften; sie ist Literaturwissenschaft“,101 wie Wolfgang Richter, ein Wegbereiter dieser Methode, konstatiert. Das Zusammenwirken von Theologie und Literaturwissenschaft entwickelte sich seitdem zu einem sehr fruchtbaren Forschungsgebiet.102 Während in der vor allem im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert bis etwa 1980 dominanten historisch-kritischen Methode nach dem literarhistorischen Werden der Texte und der Verfasserintention gefragt wurde, ist all den literaturwissenschaftlichen Ansätzen gemeinsam, dass sie die Endgestalt der Bibeltexte als Grundlage ihrer Forschungen wählen. Jan Assmann unterstreicht die normative Gültigkeit des kanonischen Endtextes wie folgt: „Die Normativität des Textes, seine Autorität und Hochverbindlichkeit, bezieht sich ausschließlich auf diese Endgestalt, nicht auf irgendwelche Vor- oder Urstufen. Es gibt innerhalb dieser kanonischen Endgestalt kein mehr oder weniger an Verbindlichkeit, keine wichtigeren und unwichtigeren Sätze, keine ursprünglichen und sekundären Partien. Mit der Endgestalt ist das geschichtliche Werden des Textes vergessen.“103 Im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Ansatzes lassen sich wiederum drei Richtungen unterscheiden: die „Richter-Schule“, der „New Literary Criticism“ und die „Kanonische Exegese“.104 Mit dem Stichwort „Richter-Schule“ wird jene im deutschsprachigen Raum entstandene Exegetengruppe um Wolfgang Richter105 und Walter Groß106 bezeichnet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, grammatikalische Analysen zum Ausgangspunkt ihres Textverständnisses zu machen. Vertreterinnen und Vertreter dieser Richtung sehen Texte „als in sich fixierte, komplizierte Geflechte von Bezügen“, die „entflochten“ werden müssen und erst dadurch verstehbar werden. Erst nach Analyse der Grammatik eines Textes wird nach dahinter stehenden Bedeutungen gefragt.107 Exponentinnen und Exponenten des „New Literary Criticism“, als deren Wegbereiter Brevard S. Childs gilt, fragen nach der Aussageabsicht und Theologie eines biblischen

100 Vgl. Motté, Spuren, 132. Siehe auch Gössmann, Wilhelm: Die Bibel in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gössmann, Wilhelm (Hg.): Welch ein Buch! Die Bibel als Weltliteratur, Stuttgart 1991, 79– 113. 101 Richter, Wolfgang: Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971, 12. 102 Vgl. Schutti, Carolina: Die Bibel in Elias Canettis Blendung. Eine Studie zur Intertextualität mit einem Verzeichnis der Bibelstellen (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 70), Innsbruck 2006, 36. 103 Assmann, Jan: Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im frühen Judentum und seiner Umwelt (Münsterische Theologische Vorträge 1), Münster 1999, 14. 104 Vgl. Fischer, Georg: Wege in die Bibel. Leitfaden zur Auslegung. Unter Mitarbeit von Boris Repschinski und Andreas Vonach, Stuttgart 2000, 49f. 105 Vgl. Richter, Exegese. 106 Vgl. Groß, Walter: Bileam. Literar- und formkritische Untersuchung der Prosa in Num 22–24 (StANT 38), München 1974. 107 Vgl. Fischer, Wege, 50. 21

Textes oder eines ganzen biblischen Buches, wobei sie die für die jeweilige Textgestalt passende literaturwissenschaftliche Methode heranziehen. Intention dieses Ansatzes ist es, ein „spezifisches textimmanentes Verständnis“ eines Bibeltextes bzw. eines biblischen Buches zu erzielen,108 also soweit als möglich am Text selber zu bleiben. Brevard S. Childs beschreibt seinen Ansatz selbst folgendermaßen: „The major task of a canonical analysis of the Hebrew Bible is a descriptive one. It seeks to understand the peculiar shape and special function of these texts which comprise the Hebrew canon. […] Canonical analysis focuses its attention on the final form of the text itself. It seeks neither to use the text merely as a source for other information obtained by means of an oblique reading, nor to reconstruct a history of religious development. Rather, it treats the literature in its own integrity.”109 Die „Kanonische Exegese“ fragt „nach dem Kontext einzelner Texte und Schriften im biblischen Kanon“. Der Kanon110 („Maßstab“111) als „‘Liste‘ der als inspirierte Schriften akzeptierten Bücher“112 einer Glaubensgemeinschaft wird als Ganzes ernst genommen und bestimmt die Auslegung der jeweiligen Texte entscheidend mit. Im Zentrum der „Kanonischen Exegese“ stehen das Auffinden innerbiblischer Beziehungen sowie das Sichtbarmachen von Strukturen in der Anordnung der biblischen Schriften.113 Dieses Prinzip führt Norbert Lohfink wie folgt aus: „Zur Theologie […] wird der Umgang mit der Bibel auf jeden Fall erst, wenn der kanonische Text synchron unter Berücksichtigung der innerkanonisch gegebenen Strukturen erschlossen wird.“114 Für Georg Steins, einem Hauptvertreter der kanonisch-intertextuellen Bibelauslegung, wird der biblische Kanon zur „hermeneutischen Zentralkategorie“.115 Mit dem Kanonbegriff verbindet er im Wesentlichen folgende drei Aspekte: „erstens einen Einheitsanspruch der Schrift, bei aller unaufhebbaren Diversität“, „zweitens […] das Moment des Überzeitlichen“ und „drittens […] den Anspruch des Normativen“, wobei dieser auf der Schrift als Ganzes beruht. Ein wesentliches Merkmal der kanonischen Bibellektüre ist zudem der Zusammenhang von Bibeltext und Glaubensgemeinschaft: „Eine kanonische Lektüre baisert auf dem Gegenüber von Text und

108 Vgl. Fischer, Wege, 50. 109 Childs, Brevard S.: Introduction to the Old Testament as scripture, London 1979, 72f. 110 Zur Kanonisierung der Schriften der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments siehe etwa Brandt, Peter: Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin 2001. 111 Vgl. zu den Implikationen des biblischen „Kanons“ als „Maßstab“ Lohfink, Norbert: Eine Bibel – zwei Testamente, in: Dohmen, Christoph – Söding, Thomas (Hg.): Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn 1995, 71–81; 74f. 112 Scaiola, Donatella: Tora und Kanon: Probleme und Perspektiven, in: Fischer, Irmtraud – Navarro Puerto, Mercedes – Taschl-Erber, Andrea (Hg.): Tora (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie 1.1), Stuttgart 2010, 133–148; 134. 113 Vgl. Fischer, Wege, 50f. 114 Lohfink, Bibel, 80. 115 Vgl. Steins, Georg: Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen22). Grundlagen und Programm einer kanonisch- intertextuellen Lektüre. Mit einer Spezialbiographie zu Gen 22 (HBS 20), Freiburg i. Br. 1999, 10. Zur „Kanonhermeneutik“ siehe weiters Janowski, Bernd: Die kontrastive Einheit der Schrift. Zur Hermeneutik des biblischen Kanons, in: Janowski, Bernd (Hg.): Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär 1), Neukirchen Vluyn 2007, 27–46; und zu neueren Ansätzen dieser Richtung siehe Barthel, Jörg: Die kanonhermeneutische Debatte seit Gerhard von Rad. Anmerkungen zu neueren Entwürfen, in: Janowski, Bernd (Hg.): Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär 1), Neukirchen Vluyn 2007, 1–26. 22

Gemeinschaft, einer Beziehung, die nicht sekundär und von außen an die Bibel herangetragen wird.“116 Literaturwissenschaftliche Methoden haben zudem vielfach Eingang in die Feministische Exegese gefunden. So ergeben sich etwa Anknüpfungsmöglichkeiten an die textlinguistisch arbeitende „Richter-Schule“, insbesondere hinsichtlich einer grammatikalischen und semantischen Beschreibung des Femininums in der hebräischen bzw. griechischen Sprache. Narratologisch arbeitende Ansätze bringen weiters Grundkategorien der Erzählanalyse in die wissenschaftliche Annäherung an biblische Texte ein.117 Vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum ist des Weiteren die literaturwissenschaftlich orientierte Textarbeit des „New Literary Criticism“118 verbreitet. Weiters kommen in der Feministischen Exegese der rezeptionsorientierte „Reader-Response Criticism“ sowie semiotische Theorien und Methoden zum Einsatz.119 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass literaturwissenschaftliche Ansätze ein methodisches Instrumentarium zur Verfügung stellen, das es ermöglicht, wie Irmtraud Fischer konstatiert, kritisch zu hinterfragen, „wie weit die Konstruktion von Lebenswelten in Texten und durch das Lesen der Texte bis heute aus männlicher Perspektive geschieht“120. Die Aufnahme literaturwissenschaftlicher Methoden in die Bibelexegese sah sich im Laufe der Forschungsgeschichte allerdings immer wieder mit der polaren Sichtweise der Bibel als autoritative Schrift mit Offenbarungscharakter auf der einen Seite und als Werk der klassischen Literatur auf der anderen Seite konfrontiert. In der modernen Exegese setzt sich zunehmend ein Verständnis durch, das beide Pole zu vereinen vermag: Die Bibel lässt sich in dieser Sichtweise sowohl als Offenbarungsschrift als auch als literarisches Kunstwerk begreifen.121 Denn einerseits kommt der Bibel für Gläubige eine außerordentliche Bedeutung als verbindliches Grunddokument ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft zu, und andererseits war und ist die Bibel durch alle Epochen hindurch eine Kultur prägende Kraft.122 So sieht etwa die Alttestamentlerin Phyllis Trible in der Rezeption der Bibel als literarisches Werk keine Minderung ihrer Autorität als „Heilige Schrift“.123 Sie bringt die Verknüpfung beider Aspekte wie folgt auf den Punkt: „Die Bibel als Literatur zu untersuchen, heißt anzuerkennen, nicht zu beweisen, daß sie in der Tat Literatur ist. Ich streite nicht um ihren literarischen Status […]. Stattdessen erforsche ich die Literatur, um ihre Vitalität zu entdecken. Dieses künstlerische Anliegen ist weder isoliert

116 Steins, Georg: Kanonisch lesen, in: Steins, Georg: Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (SBAB 48), 37–60; 47. 117 Vgl. z. B. Müllner, Ilse: Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1–22) (HBS 13), Freiburg i. Br. 1997. 118 Vgl. z. B. Exum, J. Cheryl – Clines, David J. A. (Hg.): The New Literary Criticism and the Hebrew Bible (JSOT 143), Sheffield 1993. 119 Vgl. Schottroff, Luise – Schroer, Silvia – Wacker, Marie-Theres: Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1997, 67–73. 120 Fischer, Irmtraud: Feministische Exegese – eine Herausforderung, in: ThPQ 149 (2001), 146–155; 146. 121 Vgl. Grohmann, Aneignung, 44. 122 Vgl. Schutti, Bibel, 37. 123 Vgl. Grohmann, Aneignung, 65. 23

vom religiösen Interesse noch ihm entgegengesetzt, ist weder über- noch untergeordnet. […] Somit ist die Bibel als Literatur auch die Bibel als Hl. Schrift, ungeachtet der Einstellung, die man zu ihr als Autorität hat. Und umgekehrt ist die Bibel als Hl. Schrift auch die Bibel als Literatur, ungeachtet der Einschätzung, die man ihrer Qualität gibt.“124 Daniel Weidner betont in seinem einleitenden Beitrag zur Anthologie „Bibel als Literatur“, dass sowohl Bibel als auch Literatur von einer Sichtweise der biblischen Bücher als Werk der Weltliteratur profitieren können. Einerseits wird die Bibel damit nicht zu einem Reservoir literarischer Vorlagen degradiert, und andererseits kann die Rezeption der Bibel als Werk der Weltliteratur auch für den Umgang mit literarischen Texten fruchtbar sein: „Um die Bibel selbst nicht nur als Quelle von Stoffen und Motiven zu begreifen, muss man ihre literarischen Strukturen untersuchen können; die literarische Lektüre der Bibel wird ihrerseits die literarischen Texte über die Bibel leichter verständlich machen.“125

1.2.2 Die Bibel in der Literatur „Die Bibel ist das zitierte Buch schlechthin“,126 konstatiert Daniel Weidner ebenso kurz wie trefflich. Wie kein anderes Buch erweist sich die Bibel als kultur- und literaturprägend, als Kulturgut par excellance, als „das Buch der abendländischen Kultur“127. Ohne Kenntnis der Bibel lassen sich viele Werke der abendländischen Kunst – sei es in Malerei, Plastik, Musik oder Literatur – kaum verstehen. „Abgesehen von einigen bestimmten Epochen und kulturellen Orten waren Bibeltexte – und sind es bis heute – ein integraler Bestandteil des (häufig unterbewussten) kulturellen Codes der westlich orientierten Kulturen“,128 wie die Herausgeberinnen der exegetisch-kulturgeschichtlichen Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“ in der Einleitung zu ihrer Reihe den überragenden kulturellen Einfluss der Bibel hervorheben. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem die Übersetzung des Alten und Neuen Testaments durch , die Sprache und Kultur nachhaltig prägte. Zwar war Luthers Übersetzung nicht die erste in deutscher Sprache, doch gilt es als sein Verdienst, „eine sprachlich übergreifende, sprachschöpferische deutsche Bibel“ geschaffen zu haben.129 Luther gelang es auf Grundlage der Bibel, eine neue und lebendige „Kunstsprache“ zu gestalten, die durch den Buchdruck eine bis dahin ungekannte Verbreitung erfuhr und die deutsche Sprache nachhaltig beeinflusste.130 „Wer über neuere deutsche Literatur reden

124 Trible, Phyllis: Gott und Sexualität im Alten Testament. Mit einer Einführung von Silvia Schroer (Gütersloher Taschenbücher 539), Gütersloh 1993, 26. 125 Weidner, Daniel: Einleitung: Zugänge zum Buch der Bücher, in: Schmidt, Hans-Peter – Weidner, Daniel (Hg.): Bibel als Literatur, München 2008, 7–28; 20. 126 Weidner, Daniel: Zitieren in Wort, Bild und Schrift. Bibelzitate in „Sankt Joseph der Zweite“ aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: BThZ 25/2 (2008), 270–289; 271. 127 Vgl. Fischer, Irmtraud – Økland, Jorunn – Navarro Puerto, Mercedes – Valerio, Adriana: Frauen, Bibel und Rezeptionsgeschichte. Ein internationales Projekt der Theologie und Genderforschung, in: Fischer, Irmtraud – Navarro Puerto, Mercedes – Taschl-Erber, Andrea (Hg.): Tora (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch- kulturgeschichtliche Enzyklopädie 1.1), Stuttgart 2010, 9–35; 11. 128 Ebd., 15. 129 Vgl. Reventlow, Henning Graf: Die Bibel als abendländisches Kulturgut, in ThPQ 157 (2009), 114–125; 115f. 130 Vgl. Motté, Spuren, 130; Reventlow, Bibel, 116. 24 will…, muß mit Luther beginnen“, so etwa Heinrich Heine zur Bedeutung der Luther-Bibel. Selbst Friedrich Nietzsche zollte der Übersetzung des Reformators höchsten Respekt: „Unser letztes Ereignis ist immer noch Luther, unser einziges Buch immer noch die Bibel.“131 In hohem Maße wurde die Bibel nicht in ihren Originalsprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch zur Vorlage für Literatinnen und Literaten, sondern fand in Form von Übersetzungen Eingang in die Welt der Literatur. Im deutschsprachigen Raum war dies in besonderer Weise die Luther-Bibel, die lange Zeit eine Vorrangstellung einnahm und sowohl sprachlich als auch inhaltlich zur wichtigsten Quelle literarischer Bibelrezeption wurde.132 So ist die Übersetzung Luthers in doppeltem Sinne als Literatur zu verstehen: Zum einen ist die Bibel, wie oben behandelt, per se ein literarisches Werk, zum anderen ist sie in der Rezeption Luthers wiederum Literatur – „Literatur gewordene Übersetzung“.133 In allen Epochen der deutschsprachigen Kultur hat die Bibel zweifellos den stärksten Einfluss auf die Literatur ausgeübt. Mit ihrem großen Repertoire an Deutungen der menschlichen Existenz fanden und finden sich Autorinnen und Autoren mit ihren eigenen Fragen nach Sinn und Ziel des Menschen sowie nach , Sterben und Tod wieder. „In den Gestalten und Ereignissen der Bibel sind die Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins eingefangen, enthüllt sich auch das Abgründige menschlicher Existenz“,134 so Birgit Lermen über die Strahlkraft der Bibel für Literaturschaffende. Biblische Gestalten erscheinen als Symbolfiguren menschlichen Lebens, an denen sich eigene Erfahrungen und Erlebnisse explizieren und konkretisieren lassen. Der Rückbezug auf biblische Stoffe und Motive erlaubt es Autorinnen und Autoren, ihre Anliegen prägnant auf den Punkt zu bringen und ihnen besonderes Gewicht zu verleihen.135 Magda Motté erhellt die große Bandbreite möglicher literarischer Bezugnahmen auf die Schriften des Alten und Neuen Testaments in folgendem exemplarischen Durchgang durch die Bücher der Bibel: „Es gibt in der Tat kaum eine menschliche Befindlichkeit oder Erfahrung, für die es nicht ein treffendes biblisches Vorbild gäbe; z.B. Kain und Abel oder die Geschichte vom ersten Brudermord als aktueller Beitrag zur Friedensdiskussion; Jona als Prototyp eines aufsässigen, Widerstand leistenden Menschen, der von der höheren Macht eingeholt wird; Hiob als Paradigma für die Frage nach unverschuldetem Leid; Lazarus als ein mit Todeserfahrung Lebender; [...] Maria von Magdala als die unbedingt Liebende und als Frau für die Verkündigung Zurückgewiesene; Jesus als Revolutionär, Versuchter, Idealist, Pazifist.“136

131 Vgl. Kopperschmidt, Josef: Bibelübersetzung als Literatur? Versuch einer Übersetzungskritik, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 22000, 89–114; 91. 132 Vgl. Gillmayr-Bucher, Susanne: Biblische Texte in der Literatur, in: Utzschneider, Helmut – Blum, Erhard (Hg.): Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 295–310; 296. Zur Problematik von Bibelübersetzungen siehe Kopperschmidt, Bibelübersetzung, 92– 114. 133 Vgl. Kopperschmidt, Bibelübersetzung, 91. Zur herausragenden Bedeutung der Luther-Bibel vgl. auch Schmidt, Johann Michael: Die Bibel in ihrer literarischen Struktur, in: Gössmann, Wilhelm (Hg.): Welch ein Buch! Die Bibel als Weltliteratur, Stuttgart 1991, 13–31, 14. 134 Lermen, „Ich begann…“, 49. 135 Vgl. ebd. 136 Motté, Suche, 52. 25

Neben Rückbezügen auf biblische Figuren finden auch biblische Metaphern, wie beispielsweise Sintflut, Taube oder Babel, vielfach Eingang in die moderne Literatur. Desgleichen greifen Autorinnen und Autoren Motive des biblischen Glaubens auf, die Ursehnsüchte der Menschheit ausdrücken – zum Beispiel der Dekalog oder das Motiv von Schuld und Umkehr.137 Dichterinnen und Dichter gehen unbelastet von historisch-kritischen Fragestellungen vom kanonischen Endtext der Bibel aus. Sie besitzen, wie Notker Füglister konstatiert, „einen scheinbar ungebrochenen und unmittelbaren Zugang zum biblischen Wort“.138 Zu bedenken bleibt in dieser Hinsicht jedoch, dass literarische Bearbeitungen biblischer Stoffe stets auch auf jenes Wissen Bezug nehmen, das zu einer bestimmten Zeit von einer biblischen Figur oder Erzählung verfügbar ist. Diese Wissensbestände müssen sich nicht unbedingt mit dem biblischen Wortlaut decken, dennoch bleiben sie auch im Falle einer Nichtübereinstimmung Bibeldichtung, wie Andrea Polaschegg in einer Überblicksdarstellung über literarische Bezugnahmen auf die Bibel festhält.139 Der Anreiz auf biblische Stoffe zu rekurrieren, liegt für Autorinnen und Autoren – neben dem bereits erwähnten reichen Fundus an lebensdeutenden Texten – auch in der Darstellungsweise der biblischen Schriften. Nur selten findet sich in den Büchern der Bibel eine persönliche Erzählweise, wie etwa in den Psalmen, in den Prophetenbüchern oder im Hohelied. Meist wird der Handlungsverlauf aus einer berichtenden Außenperspektive erzählt, wobei die Innensicht der agierenden Personen vielfach ausgeblendet bleibt. Diese Leerstellen aufzufüllen, den Motiven und Gefühlen der Protagonistinnen und Protagonisten nachzuspüren, eröffnet ein fruchtbares Schaffensfeld für Literatinnen und Literaten. Darüber hinaus entdecken bibelkundige Autorinnen und Autoren seit Jahrhunderten, verstärkt jedoch seit der Neuzeit, neben den Leerstellen auch Unstimmigkeiten und Widersprüche im Bibeltext. In ihren Werken suchen sie nach eigenen Antworten, wobei sie oft zusätzlich unterschiedliche Übersetzungen, apokryphe Schriften sowie jüdische und orientalische Sagen einbeziehen. Dadurch wecken sie, wie Magda Motté ins Treffen führt, „das Interesse der Leser, was sowohl der Bibelrezeption als auch dem Interesse an der entsprechenden Literatur zugute kommt“.140 Einen schematisierenden Überblick über die Art und Weise, „wie und mit welchen Intentionen“ Literaturschaffende biblische Stoffe und Motive verarbeiten, gibt Birgit Lermen. Sie unterscheidet sieben verschiedene Rezeptionsformen, wobei sie aufgrund fließender Übergänge „auf eine klare Abgrenzung zwischen den einzelnen Formen“ verzichtet.141 An erster Stelle nennt sie die so genannte „Paraphrase“, die eine „freie, nur sinngemäße

137 Vgl. ebd. 138 Füglister, Notker: Die Wirkgeschichte biblischer Motive in den Dichtungen von Nelly Sachs, in: Holzner, Johann – Zeilinger, Udo (Hg.): Die Bibel im Verständnis der Gegenwartsliteratur, St. Pölten 1988, 47–60; 57. 139 Vgl. Polaschegg, Andrea: Das Wort in den Büchern. Ein kleines Panorama literarischer Bezugnahmen auf die Bibel, in: BThZ 25/2 (2008), 205–218; 211. 140 Vgl. Motté, Spuren, 133f. 141 Vgl. Lermen, „Ich begann…“, 49. 26

Übertragung oder auch die erweiternde und erläuternde Umschreibung“ einer biblischen Vorlage bezeichnet. Die paraphrasierende Rezeption biblischer Texte orientiert sich hauptsächlich am biblischen Ton und Vokabular und bringt kaum sprachliche Innovationen. Anders verhält es sich im Falle der „Aktualisierung“ eines biblischen Stoffes. Autorinnen und Autoren, die diese Form wählen, übertragen die gewählte Vorlage in die Sprache und Vorstellungswelt ihrer Zeit und versuchen mit der Anknüpfung an die Bibel aktuelle Probleme zu thematisieren. Eine weitere Herangehensweise an biblische Inhalte ist die so genannte „Verfremdung“. Einen Text zu „verfremden“ bedeutet „Konventionelles unkonventionell“ zu sehen. Vertrautes verliert seine Selbstverständlichkeit, und das Neue, Überraschende, in Frage Gestellte „ermöglicht eine Neuentdeckung der biblischen Botschaft“. Unter den zeitgenössischen Literaturschaffenden gehen viele noch einen Schritt weiter zur radikalen „Umdeutung“ eines biblischen Bezugstextes. Ihre Werke stehen „meist sogar bewusst“ in einem „unüberbrückbaren Gegensatz“ zu den biblischen Vorlagen. In der so genannten „Parodierung“ beziehen sich Autorinnen und Autoren noch darüber hinausgehend auf einen Bibeltext, um sich mittels Textentstellung – etwa durch „satirische, obszöne oder vulgäre Darstellungen“ – von diesem zu distanzieren. Ihre parodierende Rezeption richtet sich häufig jedoch nicht gegen den biblischen Text selbst, sondern gegen fragwürdige Lebens- und Moralvorstellungen, die aus diesem abgeleitet werden. Mit dem Terminus der „Transfiguration“ ist weiters die Übertragung einzelner Züge biblischer Gestalten in eine zeitgenössische Figur bis hin zur Kontrastfigur umschrieben. Diese Konzentration „auf wenige wesentliche Aspekte führt zu völligen Neuschöpfungen“ und provoziert damit eine neue Auseinandersetzung mit den biblischen Figuren. In der „freien dichterischen Gestaltung“ schließlich wird die biblische Vorlage für Autorinnen und Autoren zum schöpferischen Sprungbrett, zur „Initialzündung, die ihre dichterische Kraft auslöst“. Die Schreibenden bleiben dem biblischen Text zwar häufig nahe, doch dient er ihnen nur als Ausgangspunkt, um daran anknüpfend eigene Gedanken bis hin zu politischen Fragen der Gegenwart zu entfalten.142

1.2.3 Zur Bibelrezeption im 20. Jahrhundert

„Gestalten der Bibel, biblische Stoffe, zahlreiche geflügelte Worte und Wendungen, ja, sogar ein bestimmter ‚Bibelton’ gehörten bis weit in das 20. Jahrhundert zum allgemeinen

142 Vgl. ebd., 50–88. Horst Langenhorst unterscheidet acht Typen literarischer Bibelrezeption, die sich großteils mit der Schematisierung Lermens decken, wenngleich er z. B. mit dem Typus der „psychologisierenden- historischen Ausmalung“ eine weitere Kategorie einführt. Seine Einteilung umfasst neben der bereits genannten Form folgende Typen: „Paraphrasierung oder Nacherzählung“, „Dramatisierung“, „Perspektivische Verfremdung“, Verfremdung durch Umdeutung“, „Verfremdung durch Sprache“, „Aktualisierung“ und „Frei- assoziative Ausgestaltung“. Vgl. Langenhorst, Georg: Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen – Methoden. Ein Werkbuch für Schule und Gemeinde, München 2001, 14–21. 27

Bildungsgut“,143 wie Matthias Köckert in seinem Vorwort zum Themenheft „Die Bibel in der Literatur“ der Berliner Theologischen Zeitschrift konstatiert. Dementsprechend reichhaltig gestaltete sich auch die Bibelrezeption sowohl in Prosaschriften als auch in der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Auch abgesehen vom religiösen Gesichtspunkt übte die Bibel als nicht wegzudenkender Bestandteil von Bildung und Gesellschaft nachhaltigen Einfluss auf die abendländische Kultur aus. Ähnlich wie die Mythen der Antike diente sie Literaturschaffenden unabhängig von ihrer religiösen Gesinnung als Inspiration und Quelle für Geschichten, Figuren und Motive.144 Durch gewaltige Modernisierungsschübe im 18. und 19. Jahrhundert, die eine Ausdifferenzierung aller Wertesysteme mit sich brachten, war die Religion zu einem Bezugsrahmen neben anderen geworden. Säkularisierungstendenzen wurden jedoch, wie Wolfgang Frühwald bilanziert, zunehmend von der Literatur aufgefangen: „Kompensatorisch zur Säkularisierung biblischer Texte erfolgte die Sakralisierung profaner Literatur, die Bibel wurde zum bevorzugten Referenztext der deutschen Literatur.“145 Dennoch werfen auch Werke, die keine religiöse Zielrichtung zu haben scheinen, die Frage nach der religiösen Funktion der Bibelbezüge auf. Mit Cornelia Schutti lassen sich drei Richtungen der Rezeption biblischer Stoffe eruieren. Im Blick darauf, dass die Aufnahme von Bibelbezügen „niemals […] wertfrei“ sein könne, unterscheidet sie folgende Kategorien: „religiöse Dichtung“, „religionskritische Dichtung“ und „neutrale Dichtung“, wobei letztere Religion als Element der abendländischen Kultur begreift. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Positionen und Perspektiven war nicht nur ein Charakteristikum der Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern in allen Kunstrichtungen verbreitet.146 Für das assimilierte Judentum Deutschlands bedeuteten die Herausbildung einer biblischen Typologie und die Rezeption biblischer Szenen, Figuren und Motive in der Literatur einen beinahe religiösen Zugang zu Bildung und Kultur. Diese „deutsch-jüdische Kultursymbiose“ fand durch das Erstarken des Nationalsozialismus zunächst in Deutschland und später auch in Österreich jedoch ein jähes, unwiederbringliches Ende.147 Der jüdische Psychoanalytiker Heinz Kohut legt ein berührendes Zeugnis über den Verlusts seiner Kultur und Identität durch die nationalsozialistische Machtergreifung ab: „Ich fühlte mich geradezu leidenschaftlich in der deutschen und österreichischen Kultur aufgehoben. Sie war für mich der Höhepunkt der Humanität […] und ich saß bis drei Uhr morgens in den Kaffeehäusern, jeden Abend über ein anderes Sonett von Rilke diskutierend. […] das war für mich mein Leben. Und dann kamen plötzlich diese vierschrötigen Raufbolde und behaupteten, sie wären die wahren Deutschen, und ich war plötzlich ein Ausländer und gehörte nicht dazu. Es war das Ende einer Welt, es war das Ende einer Epoche. Und ich hatte das Gefühl, es war das Ende meines Lebens.“148

143 Köckert, Matthias: Zu diesem Heft, in: BThZ 25/2 (2008), 203f.; 203. 144 Vgl. Schutti, Blendung, 45. 145 Frühwald, Bibel, 40. 146 Vgl. Schutti, Blendung, 45. 147 Vgl. Frühwald, Bibel, 40. 148 Ebd. 28

Gerade für die entrechteten und verfolgten Jüdinnen und Juden Deutschlands und Österreichs spielte nicht zuletzt die Bibel in der literarischen Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal eine herausragende Rolle. Denn die Bibel stellte mit ihren Urszenen, Archetypen und Beispielgeschichten – vom biblischen Brudermord bis hin zur Ijobgeschichte – ein existentiell bedeutsames Repertoire an Deutungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten bereit. Getragen von der Autorität der Bibel wurde die Literatur zu einem Grundpfeiler des Kampfes gegen Gewalt und Unterdrückung im nationalsozialistischen Machtbereich. Die Bedeutung der Bibel für die Widerstandsliteratur manifestiert sich beispielhaft im vierten Flugblatt der „Weißen Rose“, das ein Zitat aus dem Buch Kohelet aufgreift: „Ich wandte mich und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren so mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten“ (Koh 4,1).149 Auch in Exil und Emigration griffen zahlreiche deutsche sowie österreichische Autorinnen und Autoren auf den Fundus biblischer Stoffe, Motive und Figuren zurück,150 um eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, Sehnsüchten und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen.151 Insbesondere das biblische Exodusmotiv erlebte in der Literatur des Exils eine große Blütezeit. Gerade in Zeiten von Flucht und Verfolgung entdeckten viele, nicht nur jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die lange vernachlässigten Schriften der Hebräischen Bibel wieder und schöpften aus ihrem Repertoire die für ihre Lebenssituation geeigneten Modelle und Figuren. Besonders das Mose-Motiv fand vielfache Rezeption und bot Identifikationspotential für die Exilierten.152 So widmete auch seine berühmte Erzählung „Das Gesetz“ der Rezeption der Mose-Figur.153 Er ist nur einer, wenn auch einer der bedeutendsten, von zahlreichen namhaften deutschsprachigen Literatinnen und Literaten, die sich von der erzählerischen und poetischen Kraft des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel auf vielfältige Weise beeinflussen ließen. Zu nennen sind in dieser Hinsicht ebenso Max Brod, Franz Kafka, Stefan Zweig, Franz Werfel, Gottfried Benn, Bert Brecht, Else Lasker-Schüler, Hilde Domin, Paul Celan, Nelly Sachs,154 Erich Fried, Grete Weil oder Rosa Ausländer,155 um nur einige zu erwähnen. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Für die Mehrzahl der deutsch-jüdischen bzw. österreichisch-jüdischen Autorinnen und Autoren waren es nicht jüdische Übersetzungen, wie etwa jene Martin Bubers und Franz

149 Ebd., 42. 150 Vgl. ebd. 151 Vgl. Lermen, „Ich begann…“, 49. 152 Vgl. Braun, Michael: „Unverlierbares Exil / du trägst es bei dir“. Exil und Exodus, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 22000, 358–384, 365f. 153 Vgl. Mann, Thomas: Das Gesetz. Erzählung, 1944. 154 Vgl. Zenger, Erich: Das Alte Testament in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Zenger, Erich (Hg.) unter Mitarbeit von Christoph Dohmen, Irmtraud Fischer, Christian Frevel, Frank-Lothar Hossfeld, und Georg Steins: Lebendige Welt der Bibel. Entdeckungsreise in der Alte Testament, Freiburg i. Br. 1997, 57–65; 58. 155 Vgl. Gellner, Schriftsteller, 5. 29

Rosenzweigs, sondern die Luther-Bibel, die zur Quelle und Vorlage ihrer Schriften wurde. Selbst der Bibelübersetzer, Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig zollte der Übersetzung Martin Luthers Respekt. Indem Luther die Satzbauart des Hebräischen ins deutsche Sprachbewusstsein eingeführt habe, sei das „Wunder der Vermählung beider Sprachregister“ geschehen, so Rosenzweig.156 Für Stella Rotenberg war und ist die Luther-Bibel die einzige ihr bekannte Bibelübertragung. Ihr bringt sie nicht nur größte Bewunderung entgegen, sondern sie liest sie bis heute mit Leidenschaft als grandioses Werk der deutschsprachigen Literatur: „Was ich gelesen habe von der Bibel, habe ich auf Deutsch gelesen, und das ist die Übersetzung von Martin Luther. Und das ist ein herrliches Deutsch! Und das hat mir so imponiert. Ich mag den Martin Luther nicht, er war ein Antisemit, aber sein Deutsch war herrlich.157 […] Mir war damals, vielleicht auch jetzt noch, die deutsche Sprache eigentlich das Wichtigste. Und der Martin Luther – was immer er sonst gemacht hat – Deutsch hat er gekonnt. Das war eine Leistung.“158 Nach 1945 geschah Bibelrezeption bei vielen deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern – ob jüdischer oder nichtjüdischer Provenienz – im Schatten der Shoa, die gleich einer Zäsur die literarische Rezeptionsgeschichte der Bibel in unterschiedliche Epochen teilt. Durch die Shoa entstand eine „unaufhebbare Erinnerungsdifferenz“ zwischen jüdischen und nichtjüdischen Literaturschaffenden, die vor allem in der poetischen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen zum Tragen kam und häufig zu „völlig anderen Schreibweisen“ führte, wie Christoph Gellner resümierend feststellt.159 „Nichts ist mehr, nach Auschwitz, so wie es vorher war“,160 gibt der deutsche Exilschriftsteller Stefan Heym zu bedenken. „Auch das Schreiben ist, nach Auschwitz, nicht mehr, was es einst gewesen.“161 Schreiben nach der Shoa zwingt zu größerer moralischer Sensibilität – und nicht nur das: Über die Shoa zu schreiben wird gleichsam zum moralischen Auftrag, zum Auftrag eines humanen Engagements, das dazu zwingt, die Wahrheit über die Shoa offen zu legen. „So gesehen, entzieht der Völkermord an den Juden der Literatur nicht ihre Existenzberechtigung; er gibt ihr vielmehr eine neue“,162 bringt Dieter Lamping den Stellenwert von Dichtung über die Shoa im Nachwort seiner diesbezüglichen Anthologie auf den Punkt. Mehr als jede andere Literatur sieht er lyrische Annäherungsversuche an die Shoa der Humanität verpflichtet, deren Ziel es ist, zuallererst den Deckmantel des Schweigens, unter den das Geschehene vielfach gehüllt wurde, zu

156 Vgl. ebd., 15. 157 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 158 Interview mit Stella Rotenberg, Leeds, 4.7.2009. Die Bibelrezeption Stella Rotenbergs wird auch im Kapitel „Zur Rezeption biblischer Bezüge in ausgewählten Gedichten Stella Rotenbergs“ zur Sprache kommen. 159 Vgl. Gellner, Schriftsteller, 15f. 160 Heym, Stefan: Wo stehe ich, geboren nach Auschwitz, geheißen Soundso?, in: Mosler, Peter (Hg.): Schreiben nach Auschwitz, Köln 1989, 16–26; 16. 161 Heym, Wo stehe ich…, 18. 162 Lamping, Dieter: Nachwort, in: Lamping, Dieter (Hg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Dichtung über den Holocaust, München 21993, 271–289; 275. 30 heben163 – ein hoch prekäres Unterfangen, dem nicht zuletzt die Worte der Bibel das nötige, lebensdeutende Sprachrepertoire zur Verfügung stellten. Die literarische Bibelrezeption im 20. Jahrhundert war, wie dieses Kapitel nur andeuten konnte, ein derart vielschichtiges Phänomen, sodass alle Versuche von Kategorisierungen und Schematisierungen stets nur Annäherungen bleiben können.164 Eines zeigt der facettenreiche Gebrauch der Bibel durch Literatinnen und Literaten jedoch deutlich: Dass die Bibelkenntnis vor allem in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch allgemein verbreitetes Bildungsgut war und die Bilder, Figuren und Geschichten der Bibel als Ausdruckformen von Gefühlen und Erfahrungen auch unanhängig von religiösen Intentionen hoch geschätzt wurden. Das gegenwärtige Schwinden von Bibelwissen bedroht nicht nur eine mögliche Rezeption biblischer Schriften in der zeitgenössischen Literatur, sondern auch den Zugang zu biblischen Bezügen in literarischen Werken älteren Datums. Dennoch verliert die Bibel auch im 21. Jahrhundert nicht völlig an Bedeutung. Noch heute begegnet sie, wie Matthias Köckert bilanziert, „in Kultur und öffentlichem Raum auf Schritt und Tritt: in der Werbung, auf der Bühne, in nicht wenigen Werken der Gegenwartsliteratur. Offenbar hat die Bibel noch nicht alle Faszination eingebüßt. […] Das liegt nicht zuletzt an ihrer literarischen Qualität.“165 Für den Bereich von Kunst und Literatur spricht auch Henning Reventlow der Bibel eine fortwährende Bedeutung zu: „Die Bibel ist auch heute nicht vergessen. Auf den verschiedensten Feldern der abendländischen Kultur übt sie in unterschiedlicher Weise ihre Wirkung aus. Auch wer sich als Künstler oder Literat der biblischen Tradition zu entziehen sucht, wird immer wieder in ihren Bann gezogen.“166

163 Vgl. ebd., 276. 164 Vgl. Schutti, Bibel, 46. 165 Köckert, Heft, 203f. 166 Reventlow, Bibel, 124. 31

2. Biographische Annäherungen an das Leben Stella Rotenbergs

„Wir leben wie Tiere leben, auf der Hut, auf der Wacht, am Sprung. Von einem friedlichen Leben blieb uns keine Erinnerung.“ Stella Rotenberg, Im Exil167

„Ich habe geglaubt, Wien ist die herrlichste Stadt auf der Welt! Dann habe ich aber gemerkt, dass es nicht so ist.“168 „Heimat“ und „Heimatverlust“ sind bis heute die prägenden Lebensthemen der Wiener Exilslyrikerin Stella Rotenberg. Ihr Verhältnis zu ihrem Herkunftsland Österreich und im Besonderen zu ihrer Heimatstadt Wien ist ein äußerst ambivalentes: Als geliebte Stadt ihrer Kindheit und Jugend ist Wien unauslöschlich in ihrer Erinnerung präsent, doch diese Erinnerung ist überschattet von einem seit frühester Kindheit spürbaren und im Jahr 1938 jäh kulminierendem Ausgegrenzt- und Unerwünschtsein, das schließlich – als letzter Ausweg vor der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik – in der Flucht ins Exil mündete. Der Verlust der Heimatstadt kam abrupt und war irreversibel: „Ich habe gedacht, Wien gehört mir. Na ja, das habe ich mir abgewöhnt. Wien gehört nicht mir, warum soll’s denn mir gehören?“,169 so Stella Rotenberg über die Drastik des plötzlichen Heimatverlusts, der zugleich den Verlust der Geborgenheit im Elternhaus und das Ende ihrer erträumten Zukunft als Ärztin mit sich brachte. „Ich denke, daß unser Jahrhundert, wenn es einmal einen Namen bekommen wird, das Jahrhundert der Flüchtlinge genannt werden wird“, bilanzierte der deutsche Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll im Blick auf das 20. Jahrhundert im Jahr 1972.170 Für die Wiener Jüdin Stella Rotenberg, die auf mehr als 90 schicksalhafte Lebensjahre zurückblickt, trifft dieser Ausspruch ohne Zweifel zu. Flucht und Vertreibung sind ihr bis heute unvergesslich – eine Lebensbürde. Der erzwungene Aufbruch in die Fremde sicherte ihr das Überleben, doch wahrhaft zur „Heimat“ werden konnte ihr das britische Exil nicht. Zu sehr liebt sie bis heute die deutsche Sprache, die sie in ihren Gedichten als ihre einzig verbliebene „Heimat“ bezeichnet – die einzige „Heimat“, aus der sie nicht vertrieben werden kann.

167 Rotenberg, Quell, 77. 168 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 169 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 170 Müller, Henning: Exil – Asyl. Tatort Deutschland. Texte von 1933 bis heute – eine literarische Anthologie. Mit einem Nachwort von Wilhelm von Sternburg, Heidelberg 1994, 160. 32

2.1 Kindheit und Jugendjahre in Wien

Mehr als 70 Jahre und mehr als 1500 Kilometer trennen Stella Rotenberg heute von ihrer Heimatstadt Wien. Mit gemischten Gefühlen blieb sie dem Ort ihrer Kindheit Zeit ihres Lebens verbunden. Nicht nur in ihrer Erinnerung, auch in ihrem Wohnzimmer ist die österreichische Hauptstadt präsent. „Das sind die Bilder von Wien: Das ist der Vermählungsbrunnen am Graben, das kleine ist das Rathaus. Die hat mein Bruder mir geschickt“,171 erklärt mir die Exilsdichterin ihre kleine Bildergalerie. Neben den Gemälden erinnern in ihrer Wohnung in der mittelenglischen Industriestadt Leeds noch einige Fotografien – Abbildungen ihrer Eltern und ihres Bruder – an ihre Vergangenheit in einem anderen Land, in einer anderen Zeit. „Ob ich manchmal von Wien träume? Ich weiß gar nicht. Vielleicht, vielleicht nicht, man vergisst ja auch Träume. Nach Wien komme ich nicht mehr. Ich bin zu alt“,172 so die 95-jährige gebürtige Wienerin, die ihren einstigen Lebensmittelpunkt längst unwiderruflich verloren hat. Als Stella Rotenberg am 27. März 1915173 in Wien als zweites Kind der assimilierten jüdischen Familie Siegmann das Licht der Welt erblickte, tobte in Europa jener Krieg, den man später als Ersten Weltkrieg bezeichnen sollte.174 Das Ende einer Epoche, das Fin de Siècle, war gekommen. Am 12. November 1918 war der Zerfall des Habsburgerreiches endgültig, und der verbliebene Kleinstaat „Deutschösterreich“ wurde zur Republik erklärt.175 Die prekäre wirtschaftliche Situation der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre traf auch bürgerliche jüdische Familien, und der bürgerliche Lebensstil konnte in vielen Haushalten nur mit Abstrichen aufrechterhalten werden.176 Auch Familie Siegmann bekam die Not dieser Zeit zu spüren: Stellas Mutter, Regine Siegmann, gelang es nur mit „Hamster-Aktionen“ bei Bauern der Umgebung den Lebensunterhalt der Familie aufzubessern. „[…] im Elend der Nachkriegsjahre brachte sie ihnen Zigaretten (wo hat sie die nur herbekommen?) im Tausch für Fett und Eier“,177 berichtet Stella Rotenberg in ihrer autobiographischen Schrift „Ferienaufenthalte“. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte die nunmehrige Exilsdichterin und britische Staatsbürgerin im 20. Wiener Gemeindebezirk, in der . Hier lebte sie mit ihren Eltern Bernhard und Regine Siegmann sowie ihrem 1914 geborenen Bruder Erwin nahe dem

171 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 172 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 173 Vgl. Schriftliche Mitteilung des Wiener Stadt- und Landesarchivs (MA 8 – B-MEW – 1178/2010) vom 15.3.2010. 174 Zu Österreich und dem Ersten Weltkrieg siehe etwa Rauchensteiner, Manfried: Österreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, in: Steininger, Rolf – Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, 65–98. 175 Vgl. Rauchensteiner, Österreich, 78. 176 Vgl. Lappin, Eleonore: Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Stern, Frank – Eichinger, Barbara (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009, 17–38; 26. 177 Rotenberg, Stella: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher, Wien 1997, 57. 33

Wallensteinplatz, in der Hannoverstraße 17.178 Als Tochter eines Textilhändlers wuchs sie in bescheidenen, jedoch für Bildung sehr offenen Verhältnissen auf: „Ich komme aus einem einfachen Haus und hatte in Wien einen beschränkten Freundeskreis. Alles war arm, alles ging aufs Gymnasium oder die Universität, diskutierte über Politik oder Literatur…“, so Stella Rotenberg in ihrer autobiographischen Rückschau „Ungewissen Ursprungs“.179

Abb. 1: Regine und Bernhard Siegmann Abb. 2: Regine Siegmann mit Stella und Erwin (ohne Jahr) (ohne Jahr) (Fotos der Abbildungen: Edith Petschnigg)

Regine Siegmann, geborene Kirschen, war gebürtige Wienerin, während Bernhard Siegmann ursprünglich aus einem ehemals zur Donaumonarchie gehörigen Teil Polens stammte. „Mein Vater war mager. Ich sehe ja eigentlich dem Vater mehr ähnlich, also die Augen habe ich von der Mama. Aber sonst, das glatte Haar und so, das habe ich alles vom Papa“, so die Selbstbeschreibung der Dichterin. Im Elternhaus wurde Hochdeutsch gesprochen, wenngleich Stella Rotenberg auch das Wienerische, das sie vor allem mit ihrer Großmutter, Eva Kirschen, verbindet, nach wie vor unvergessen ist: „Sie hat etwas können, was ich nicht kann: Sie hat richtig Wienerisch sprechen können. Ich kann es nicht. Wenn ich es versuche, merkt man, dass ich mich dazu zwinge, und dann klingt es natürlich falsch.“180

178 Vgl. Schriftliche Mitteilung des Wiener Stadt- und Landesarchivs (MA 8 – B-MEW – 1178/2010) vom 15.3.2010 und die telefonische Mitteilung von Stella Rotenberg, 7.1.2010. 179 Rotenberg, Ursprung, 68f. 180 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 34

Stella Rotenbergs Liebe zur deutschen Sprache ist früh, bereits in der Volksschule, erwacht, ja scheint immer schon bedeutender Teil ihres Lebens gewesen zu sein. Heute erinnert sie sich: „Deutsch habe ich immer gern gehabt. Deutsch war mein Lieblingsfach. […] Eine Lehrerin haben wir gehabt, die hat eine Stunde gehabt am Samstag, die letzte Stunde, auf das habe ich mich gefreut. Sie hat nämlich immer etwas vorgelesen.“181 Selbst lesen zu erlernen war für die spätere Lyrikerin ein Kinderspiel. So rekapituliert sie: „Ich habe nie lesen gelernt, das Lesen ist mir sozusagen zugeflogen. Mein Bruder ist älter als ich, und als er in die Schule ging, lernte er lesen. Ich bin nebenan gesessen und habe sozusagen mitgelesen. Ich habe nie lesen lernen müssen, ich habe immer lesen können. Das hat mir eigentlich nicht gut getan, denn wahrscheinlich nahm ich seither an, dass mir alles zufliegen sollte und man nichts lernen müsste. Denn ich hab nichts gelernt; ich wollte nichts tun als lesen!“182 Ihr einziger Wunsch galt stets dem Erhalt von Büchern: „Ich habe zum Geburtstag, wenn mir mein Bruder etwas kaufen wollte, habe ich immer gesagt ‚ein Buch’. Er hat gewusst, für die Stella kaufen wir ein Buch, dann haben wir eine Ruh’“, schmunzelt Stella Rotenberg. Ihr Lieblingsautor war und ist Zeit ihres Lebens Thomas Mann, dessen Werk sie immer wieder von neuem fasziniert und das sie bis heute liest. Darüber hinaus verehrte sie in ihrer Jugend vor allem Klabund und Bert Brecht, die sie für ihren poetischen Umgang mit der deutschen Sprache überaus bewunderte.183 Literatur ist für Stella Rotenberg jedoch weit mehr als Freizeitbeschäftigung in unbeschwerten Stunden: „Wenn ich ganz verzweifelt bin, kann ich immer noch lesen, und das hilft mir, das ist eine Medizin.“184 Dennoch gibt es im Leben der Exilierten Momente, in denen selbst die von ihr so sehr geliebte Literatur nur bedingt zu helfen vermag. So bekennt sie: „Manches Mal bin ich richtig verstört, dann hilft mir eigentlich überhaupt nichts. Aber insgesamt gibt es einen Augenblick von Zufriedenheit oder Ruhe beim Lesen. Von deutscher Literatur.“185 Vorboten jener traumatischen Erfahrungen, die Stella Rotenbergs Leben zutiefst verändern und prägen sollten, waren schon in ihrer Kindheit präsent: Es waren antisemitische Äußerungen, mit denen sie schon sehr früh konfrontiert wurde. „Vom Antisemitismus wußte ich schon lang vor meinem Schulbeginn (‚Jud, Jud, spuck in den Hut, sag der Mama das ist gut.’)“,186 erinnert sich die gebürtige Wienerin. Unter ihren Lehrerinnen und Lehrern war Antijudaismus und Antisemitismus zwar kein durchgängiges, aber dennoch verbreitetes Phänomen. Nach wie vor in Erinnerung ist Stella Rotenberg eine ihrer Lehrerinnen in ihrer Volksschule in der Raffaelgasse187: „Die Volkschullehrerin, die war streng katholisch, die hat Juden nicht sehr gerne gemocht. Aber ich war gut in Deutsch, ich

181 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 182 Müller-Kampel, Beatrix: Gespräch mit der Wiener Exilsdichterin Stella Rotenberg. Regelbruch und Respekt als Leitfaden für ein Interview, in: Krohn, Claus-Dieter u.a. (Hg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 23: Autobiographie und wissenschaftliche Biographik München, 2005, 162–178; 165. 183 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 184 Müller-Kampel, Gespräch, 167. 185 Ebd., 168. 186 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 58. 187 Telefonische Mitteilung von Stella Rotenberg, 7.1.2010. 35 habe nie etwas falsch gemacht, ich habe immer gewusst, wo der Beistrich hingehört. Jetzt habe ich vergessen, wo der Beistrich hingehört. Na ja, in Deutsch war ich gut. Da konnte sie mir eigentlich keine schlechte Note geben.“188 Trotz ihrer antijudaistischen Haltung empfand Stella Rotenberg als Schülerin eine gewisse Sympathie für ihre Lehrerin: „Als sie versetzt wurde, habe ich sehr geweint, ich habe sie gemocht, ich glaube, daß sie ehrlich war. Ihre Nachfolgerin war nur antisemitisch.“189 Bereits seit den 1880er Jahren beeinflusste der Antisemitismus das Leben der Wiener jüdischen Bevölkerung in einschneidender Weise, und spätestens seit der Jahrhundertwende gehörte in Wien antisemitischer Wortschatz zum „offiziellen“ Ton;190 auch Aggressionen und Gewaltausbrüche gegen Jüdinnen und Juden oder Personen, die aufgrund ihres Namens oder ihres Aussehens stereotypisierend für solche gehalten wurden, waren keine Seltenheit. Vor allem Universitäten und Schulen waren Orte antisemitischer Übergriffe.191 Wien war zu unrühmlichen „Hauptstadt des Antisemitismus“ geworden.192 „Das spezifisch Österreichische am Antisemitismus hat nicht nur mit der Politisierung des Katholizismus zu tun“, wie Albert Lichtblau in einem Beitrag über Antisemitismus in Wien von 1900 bis 1938 schlussfolgert, „sondern auch mit der dynamischen Entwicklung nationalistischer Strömungen innerhalb der verschiedenen Sprachgruppen, denen sich auch die jüdische Bevölkerung nicht entziehen konnte.“193 Die deutschsprachigen Jüdinnen und Juden der k.u.k. Monarchie gerieten bald zwischen die Fronten des Nationalitätenkonflikts, in dessen Fahrwasser sich die Frage abzeichnete: „Sind Juden Deutsche?“ In altliberaler Sichtweise waren sie es, für deutschnational Gesinnte nicht. Diese versuchten sich in der Folge mit rassistischen Argumenten immer mehr von der jüdischen Bevölkerung abzugrenzen, während die kleinen Nationen der Monarchie für ihren Antisemitismus in erster Linie ins Treffen führten, dass sich Jüdinnen und Juden als Deutsche verstünden. Ein Resultat daraus war eine „Zweigleisigkeit des Antisemitismus“ in Mitteleuropa,194 der die Opfer somit in doppelter Weise traf. Der Erste Weltkrieg schien der antisemitischen Agitation vorerst Einhalt zu gebieten. Das gemeinsame Feindbild wirkte integrativ auf das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis – so kämpften jüdische Männer Seite an Seite mit Soldaten anderer religiöser Provenienz –, und

188 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 189 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 58. 190 Vgl. Stern, Frank – Eichinger, Barbara: Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938, in: Stern, Frank – Eichinger, Barbara (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009, XIII–XXV; XIV. 191 Vgl. Lichtblau, Albert: Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte, in: Stern, Frank – Eichinger, Barbara (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009, 39–58; 50. 192 Vgl. Stern – Eichinger, Einleitung, XXIV. 193 Lichtblau, Antisemitismus, 40. 194 Vgl. Albrich, Thomas: Vom Vorurteil zum Pogrom: Antisemitismus von Schönerer bis Hitler, in: Steininger, Rolf – Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, 309–366; 313. 36 auch die Zensur unterband antisemitische verbale Ausfälligkeiten. Auf längere Sicht blieb die kriegsbedingte integrative Wirkung jedoch äußerst gering. Dazu kamen in Folge der Niederlage der Mittelmächte neue Feindseligkeiten: Einerseits schuf ein Flüchtlingsstrom galizischer und bukowinischer Jüdinnen und Juden nach Westen ein neues soziales Problem, das in xenophobe und antisemitische Ressentiments mündete. Die ostjüdische Bevölkerung, die aufgrund ihrer spezifischen Kleidung sowie ihrer Haar- und Barttracht als „fremd“ klassifiziert wurde, war nun das vorrangige Angriffsziel antisemitischer Medien. Andererseits wurde in den Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen der Nachkriegszeit die jüdische Bevölkerung erneut zum „Ventil für die Frustrationen“ jener, die ein personenbezogenes Projektionsziel für Missstände und Armut suchten.195 „Hinaus!“ lautete die kurze, doch umso prägnantere und die unheilvolle Zukunft bereits antizipierende Parole einer Kundgebung des Wiener Antisemitenbundes im Oktober 1919. Der jüdischen – vor allem der ostjüdischen – Bevölkerung wurde die alleinige Schuld an der ökonomischen Misere der Nachkriegszeit zugeschrieben. „Wir wollen eine demokratische, aber judenfreie Republik!“, lautete die Losung, in der sich der antisemitische Volkszorn drastisch entlud.196 Wenige Jahre später, 1922, publizierte der vom Judentum zum Protestantismus konvertierte Schriftsteller Hugo Bettauer einen Roman, der sowohl den Zeitgeist einfing als auch einer „prophetischen Vision“ glich:197 „Die Stadt ohne Juden“.198 Der „Roman von Übermorgen“ war Bettauers erfolgreichstes und zugleich kontroversiellstes Werk. Seine Parodie auf die antisemitische Atmosphäre Wiens, deren Darstellung von Juden und Christen „auf beiden Seiten als Provokation empfunden wurde“, so Murray G. Hall, erzählt folgende Geschichte: Österreich steht vor dem Ruin, und die Schuld daran wird der jüdischen Bevölkerung angelastet. Das Parlament beschließt infolgedessen die Ausweisung sämtlicher Personen jüdischer Herkunft. Doch ohne jüdische Bevölkerung steht Wien innerhalb kürzester Zeit vor dem Verfall; es „verdorft“ in jeder Hinsicht. Das Judenausweisungsgesetz wird vom Parlament wieder rückgängig gemacht, und die Jüdinnen und Juden dürfen zurückkehren. Wien erstrahlt wieder in seiner alten kulturellen Größe und Wirtschaftskraft.199 Hugo Bettauer selbst sollte drei Jahre später Opfer eines antisemitischen Gewaltaktes werden: Im März 1925 wurde er von einem Nationalsozialisten ermordet.200

195 Vgl. Lichtblau, Antisemitismus, 41f. 196 Vgl. Hall, Murray G.: „Hinaus mit den Juden!“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand, in: Stern, Frank – Eichinger, Barbara (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009, 59–70; 59f. 197 Vgl. Hall, „Hinaus…“, 59–70. 198 Vgl. Bettauer, Hugo: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von Übermorgen, Wien 1922. Der Roman Bettauers wurde 1923/24 unter der Regie von Karl-Hans Breslauer und mit Hans Moser in der Rolle eines antisemitischen Parlamentariers verfilmt. Vgl. Hall, „Hinaus…“, 66–70. 199 Vgl. Hall, „Hinaus…“, 66. 200 Vgl. Lichtblau, Antisemitismus, 45. 37

So weit verbreitet der Antisemitismus in Wien zweifelsfrei war, wird doch in der Erinnerung vieler vertriebener Jüdinnen und Juden eindeutig zwischen antisemitischen und nicht-antisemitischen Österreicherinnen und Österreichern differenziert.201 Auch in Stella Rotenbergs Retrospektive auf ihre Schulzeit finden sich Hinweise auf das „andere“ Österreich: „Es gab genug Nazis. Ja, antisemitisch waren die Wiener, die Österreicher immer. Sie sind ein römisch-katholisches Land gewesen. Der Religionslehrer in der Schule für die Römisch-Katholischen, der war anders. […] Der hat den Kindern gesagt, die Juden sind auch Menschen. […] den habe ich gern gehabt.“202 Nach der Volksschule wechselte Stella Rotenberg, wie auch bereits ihr Bruder, in das Realgymnasium Unterbergergasse nahe dem Wiener . Auch hier traf sie nicht nur auf antisemitisch eingestellte Lehrerinnen und Lehrer: „Die Lateinlehrerin war nicht antisemitisch, die war sozialdemokratisch. Die hat den Posten sofort verloren, weil sie Sozialdemokratin war. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Dann haben wir auch eine jüdische Lehrerin gehabt.“ Antisemitische Stereotype begegneten der nunmehrigen Dichterin allerdings bisweilen auch in ihrem privaten Umfeld. Noch gut ist ihr folgende Begegnung mit einem jungen Mann in Erinnerung: „Einer hat mich auf der Gasse angesprochen, er war ein hübscher junger Mann. Aber ich habe ihm gesagt, bitte nicht, ich bin Jüdin. Er hat mir’s aber nicht geglaubt. Ich habe gesagt, warum wollen Sie mir das nicht glauben? Ich würde das doch nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre. Er sagte, die Jüdinnen sind gewöhnlich klein und fett, und Sie sind groß und mager. Ich war ja groß, ich war schon erwachsen. Ich war ja damals wirklich mager, ich war ja spindeldürr. […] Aber er hat mir nicht geglaubt. Er hat gesagt, kommen Sie mit mir auf einen Kaffee. Ich habe gesagt, ich kann nicht, ich kann Ihnen das ja nicht antun.“203 Stella Rotenbergs Freundeskreis bestand jedoch großteils aus Nichtjüdinnen: „Meine Freundinnen, die habe ich mir ja nicht nach der Religion ausgesucht. Die Freundinnen waren keine Jüdinnen. Eine war eine Jüdin, die Anni. […] aber die war aus einer Freidenkerfamilie. Das war die eine, aber die anderen waren keine Jüdinnen“.204 Zu ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen gehören auch Ferienaufenthalte auf dem Land, etwa im Mühlviertel oder in Reichenau an der Rax. Einige Male begleiteten sie und ihr Bruder Erwin ihre Mutter auch zu Kuraufenthalten in Baden bei Wien. Im Alter von etwa 15 Jahren nahm Stella Rotenberg gemeinsam mit ihrem Bruder an einer „Schülerkolonie“ der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler im steirischen Zeltweg teil.205 Unter den Jugendlichen waren solche Ferienkolonien sehr beliebt, und das Wachsen der Zahl an gemischtgeschlechtlichen Gruppen ist ein Hinweis auf die veränderten Geschlechterbeziehungen unter der Jugend in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren.206 „Da habe ich gute Erinnerungen“, so die

201 Vgl. Lappin, Lebenserinnerungen, 37. 202 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009; Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 59. 206 Vgl. Lappin, Lebenserinnerungen, 27. 38

Exilsschriftstellerin, „da habe ich einige ‚boyfriends’ gehabt.“207 In Zeltweg machte Stella Rotenberg zudem Bekanntschaft mit dem um vier Jahre älteren ,208 der durch Artikel in Schüler- und Studentenzeitungen sowie seine satirischen Texte für das „Politischen Kabarett“ bekannt war.209 „Jeden Morgen war eine andere Veranstaltung. Ich erinnere mich, dass er ein Referat gehalten hat. Aber sonst habe ich ihn nicht gekannt“,210 blickt Rotenberg auf ihre Ferienbegegnung zurück. Die erste politische Erinnerung der gebürtigen Wienerin kreist um den Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927.211 In ihrer autobiographischen Skizze „Gott erhalte – das kleinere Übel“ beschreibt sie ihre Eindrücke folgendermaßen: „An einem goldenen Sommertag, an dem es heiß vom Himmel strahlte, wartete ich erregt und freudig auf unsere Abreise in die Sommerfrische, ein hübsches Dörfchen im Burgenland. Die Koffer waren gepackt, alles bereit. Plötzlich sagten meine Eltern, wir können heute nicht reisen, es sei etwas geschehen, die Straßenbahnen führen nicht, vielleicht morgen, wahrscheinlich morgen… Enttäuscht setzte ich mich ans Fenster und sah hinaus auf die große Straßenkreuzung, auf der immer die ‚Elektrischen’ vorbeiklingelten, hin, her, kreuz, quer…“.212 Die Erinnerungen an die Ereignisse vom Juli 1927 sollten Stella Rotenberg schon einige Jahre später wieder zu Bewusstsein kommen: Es war im Februar 1934 – ihrem Maturajahr – der nächsten entscheidenden innenpolitischen Zäsur der Zwischenkriegszeit. Wieder erinnert sich die Exilsdichterin an leerstehende Straßenbahnwaggons: „Es war ein bewölkter Wintermorgen im Februar 1934, als ich wieder einmal die Schule schwänzte und meinen Weg zum Wertheimsteinpark nahm. Da es aber zu kühl und zu feucht war, sich lange im Freien aufzuhalten, ging ich nach einigem Herumspazieren auf den einsamen Pfaden des Parks bald in ein kleines Kaffeehaus […]. Als es Zeit war aufzubrechen, um zum Mittagstisch regulär wie nach dem Schulbesuch zu erscheinen, schritt ich gemächlich über den Döblinger Steg und die Klosterneuburger Straße entlang. Zu meiner Verwunderung sah ich da eine Kette von Straßenbahnwagen leer auf den Gleisen stehen. […] Was war geschehen?“213 Am Vormittag des 12. Februar 1934, exakt um 11.46 Uhr, waren die Wiener Straßenbahnzüge stehen geblieben, nachdem die Arbeiter der Elektrizitätswerke das Zeichen zum Generalstreik gegeben hatten. In ganz Wien kam die Stromversorgung zum

207 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 208 Ebd.; Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 59. 209 Vgl. Kaiser-Bolbecher, Siglinde: Stella Rotenberg (1916), in: www.literaturepochen.at/exil/l5022.pdf, zuletzt abgerufen am 23.2.2010. Zu Leben und Werk Jura Soyfers siehe etwa Arlt, Herbert – Manger, Klaus (Hg.): Jura Soyfer (1912–1939) zum Gedenken (Österreichische und internationale Literaturprozesse 7), St. Ingbert 1999. 210 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 211 Der Justizpalast in Wien geriet infolge heftiger Demonstrationen und Proteste aufgrund des Freispruchs der Angeklagten im Schattendorf-Prozess – Auseinandersetzungen zwischen Republikanischem Schutzbund und Frontkämpfervereinigung in der burgenländischen Ortschaft Schattendorf hatte am 30. Jänner 1927 zwei Todesopfer gefordert – in Brand. Zusammenstöße zwischen sozialdemokratischen Demonstranten und Exekutivbeamten forderten 89 Todesopfer und hunderte Verletzte. Vgl. Steininger, Rolf – Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, 567. 212 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 61f. 213 Ebd., 61. 39

Erliegen, alle elektrischen Lampen erloschen.214 Zum Hintergrund der Geschehnisse: Am 4. März 1933 hatte sich die Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß durch die Ausschaltung des österreichischen Parlaments absolutistische Regierungsgewalt angeeignet und in der Folge unter permanenten Verfassungsbruch rund 300 Verordnungen aufgrund eines kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus dem Jahre 1917 erlassen. Sowohl die Pressefreiheit als auch das Versammlungsrecht wurden stark eingeschränkt; am 30. März 1933 erfolgte die Auflösung des Republikanischen Schutzbundes.215 Ab dem 24. Jänner 1934 wurden in Auftrag des Innenministers, Vizekanzlers und „Führers“ der Wiener Heimwehren, Emil Fey, groß angelegte Hausdurchsuchungen in sozialdemokratischen Einrichtungen und in Privatwohnungen durchgeführt. Am 8. Februar wurde die sozialdemokratische Parteizentrale an der Rechten Wienzeile mit Polizeigewalt besetzt; insgesamt wurden rund 200 Schutzbundfunktionäre verhaftet. In den Morgenstunden des 12. Februar entwickelte sich, ausgehend von Linz, wo Polizeieinheiten im Hotel „Schiff“ eine Waffensuche durchführen wollten, ein heftiger Kampf, der auf Industriegebiete in Oberösterreich, der Steiermark, in Tirol und schließlich in Wien übersprang. Die heftigen Gegenmaßnahmen der Dollfuß-Regierung bewirkten bereits in den Abendstunden des 12. Februar ein Zusammenbrechen des Generalstreiks, die Sozialdemokratische Partei sowie alle sozialdemokratischen Vereine und Freien Gewerkschaften wurden aufgelöst, führende sozialdemokratische Funktionäre wurden standrechtlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.216 „Rückblickend scheint es mir“, so Stella Rotenberg in ihren autobiographischen Schriften, „daß von jenen Tagen an die Freiheit für mich nicht mehr selbstverständlich war. Man hütete seine Zunge, lebte vorsichtig. Ich war also in diesem Februar vom unbekümmerten Backfisch zum verunsicherten Menschen herangewachsen.“ Neben ihren politischen Erinnerungen blickt die gebürtige Wienerin jedoch auch auf ganz persönliche Begebenheiten zurück: „Am zweiten Tag [der Kämpfe] – oder war es am dritten? – stellte eine Blumenhandlung Blumen zu, einen Strauß Mimosen und Vergissmeinnicht, den ein junger Verehrer an mich schickte. Seit jenen Tagen denke ich bei Mimosenduft und Mimosengelb an den Februar 1934.“217 Und sie fügt hinzu: „Das war der einzige schöne ‚boyfriend’, den ich je gehabt habe. Der war groß und schlank und schön. Und gerade den habe ich nicht wollen. Weiß nicht warum. Nicht, weil er kein Jude war, mir war das damals

214 Vgl. Maderthaner, Wolfgang: 12. Februar 1934: Sozialdemokratie und Bürgerkrieg, in: Steininger, Rolf – Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, 154–200; 177. 215 Vgl. ebd., 166f. 216 Vgl. ebd., 175–183. 217 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 63f. 40 ganz wurscht. Heute zum Beispiel würde ich mich hüten, heute würde ich wissen wollen, ob er ein Jude ist oder nicht, aber damals war er für mich ein Freund.“218 Stella Rotenbergs weitere Erinnerungen an das Jahr 1934 kreisen sodann um ihre Matura, mit deren Ergebnissen sie sich rückblickend zufrieden zeigt – bis auf ihre Note in Deutsch: „In Deutsch hätte man mir gerechterweise ein Sehr gut geben müssen, aber man hat mir ein Gut gegeben. […] Vielleicht war das schon religiös bedingt, vielleicht wollte man einer Jüdin kein Sehr gut geben, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, ich habe gedacht, in Deutsch hätte ich doch ein Sehr gut verdient. Aber gut, jetzt spielt es ja keine Rolle mehr“,219 so ihre Resümee. Nach abgelegter Matura oder während des Studiums reisten viele Studentinnen und Studenten, häufig mit minimalen finanziellen Mitteln, quer durch Europa – insbesondere für junge Frauen ein Ausdruck großer Freiheit.220 Eine ebensolche Reise oder „Tippeltour“, wie die nunmehrige Exilsdichterin das Unternehmen liebevoll bezeichnet, unternahm auch Stella Rotenberg gemeinsam mit ihrem Bruder Erwin und einem ihrer Cousins im Sommer 1934. „Der Vetter war älter als wir, er hat sich ein bisschen ausgekannt. Ich weiß nicht, ob er das vielleicht schon vorher einmal gemacht hat. Der hat sich ausgekannt. Er hieß Adalbert, wie Adalbert Stifter. Wir waren ja Österreicher, wir haben alle deutsche Namen gehabt“, so die gebürtige Wienerin. Diese abenteuerliche Reise führte das junge Trio „mit wenig Gepäck und wenig Geld und viel Unverstand“ quer durch Süd- und Westeuropa: durch Italien, Frankreich, Belgien und Holland. Doch auch während dieser unbeschwerten Tage blieb Stella Rotenberg nicht ganz von der fatalen politischen Entwicklung in Europa verschont: „In Mailand trafen wir zum ersten Mal Flüchtlinge aus Deutschland“,221 erinnert sich die heute 95-jährige an ihre erste Begegnung mit den Vorboten ihres eigenen Schicksals. Wieder zurück in Wien begann Stella Rotenberg, wie bereits ihr älterer Bruder, mit dem Studium der Medizin,222 was in Zeiten der Wirtschaftskrise, die die Bildungschancen der jüdischen Jugend vielfach beeinträchtigte, vor allem für Frauen keine Selbstverständlichkeit war.223 Dennoch ermöglichten ihre gegenüber Bildung sehr aufgeschlossenen Eltern Bernhard und Regine Siegmann ihrer Tochter ein Universitätsstudium. Aufgrund einer Erkrankung ihrer Mutter konnte Stella ihr Studium jedoch nicht unmittelbar nach der Matura, sondern erst ein Jahr später aufnehmen.224 Zu ihrer Studienwahl, die aufgrund ihrer Affinität zur deutschen Sprache und Literatur verwundern mag, erklärt die Dichterin selbst wie folgt:

218 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 219 Ebd. 220 Vgl. Lappin, Lebenserinnerungen, 27. 221 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 60. 222 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 223 Vgl. Lappin, Lebenserinnerungen, 27. 224 Vgl. Interview Rotenberg, 4.7.2009. Zu weit verbreiteten Hochschätzung von Bildung in der jüdischen Lebenswelt siehe Beller, Steven: Was nicht im Baedecker steht. Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Stern, Frank – Eichinger, Barbara (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009, 1–16; 4. 41

„Im Haus, da gab’s Nachbarn, und die hatten drei Töchter. Und die zweite Tochter, die Elsa, die war gut in der Schule, und die ist Ärztin geworden. Ich habe sie bewundert, sie hat mir gefallen, vielleicht deshalb. Kann sein, man weiß ja nie. Aber ich weiß, sie hat mir gut gefallen, die Elsa, sie war hübsch, und sie ist Ärztin geworden.“225 Wie bereits in der Schule war nun Stella Rotenberg auch an der Universität mit einer zunehmenden Zahl an Nationalsozialisten konfrontiert: „Als ich dann auf die Universität ging, hatte ich den Eindruck, daß es unter den Studenten eine Handvoll Kommunisten und einen schwellenden Schwarm von Nationalsozialisten gäbe. Unter ihnen waren gar manche, deren Eltern oder die selber Sozialdemokraten gewesen waren. Nachdem im Jahr 1936 die Heimwehr aufgelöst worden war, strömten auch aus ihren Reihen viele den Nationalsozialisten zu“,226 schildert die Exilierte in ihren autobiographischen Aufzeichnungen. Hier erlebte sie die Allgegenwart antisemitischer Verbalexzesse und Gewaltausbrüche hautnah mit: „Da haben die Nazis schon gegrölt und haben geschrieen, Juden raus, und haben die Juden schon verprügelt. Also, nicht die Mädchen. Die männlichen Studenten sind verprügelt worden. Einmal hat mich einer angesprochen, ob er mit mir gehen darf, der hat gedacht, wenn er mit mir geht, werden sie ihn nicht verprügeln. Dann sind wir die Stufen hinunter gegangen.“227 Trotz Illegalität konnten sich die offiziell verbotenen nationalsozialistischen Studierendenorganisationen durch ihre Integration in nationale Korporationen frei an der Universität bewegen und durch Schulungen und Wehrübungen den „Anschluss“ vorbereiten.228 Für Stella Rotenberg wie für viele andere sollte mit dieser fatalen Entwicklung bald nicht nur ihr Studium, sondern alles bisher Gekannte ein jähes und unwiederbringliches Ende finden.

2.2 „Anschluss“, Flucht und Exil: 1938–1945

1938 lag der „Anschluss“ bereits „in der Luft“. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, Nachfolger des im Juli 1934 von Nationalsozialisten ermordeten Engelbert Dollfuß, war es nicht gelungen, die politischen „Lager“ Österreichs zu versöhnen und das gespaltene Land zusammenzuführen. Dazu kamen eine zunehmende außenpolitische Isolierung des „Ständestaates“ durch seine Annäherung an das faschistische Italien Benito Mussolinis und eine katastrophale Wirtschaftspolitik mit der prozentuell höchsten Arbeitslosenrate in Europa. Illegale Nationalsozialisten nutzen die Schwäche der Regierung und verstärkten ihre Aktivitäten zusehends. Nach dem Berchtesgadener Treffen mit Adolf Hitler am 12. Februar 1938 – für Österreich „der Anfang vom Ende“ – kapitulierte Schuschnigg und ernannte den

225 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 226 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 64. 227 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 228 Vgl. Posch, Herbert – Ingrisch, Doris – Dressl, Gert: „Anschluss“ und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien (Emigration – Exil – Kontinuität 8), Wien 2008, 95. 42

Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister mit unbeschränkter Polizeikompetenz.229 Als die Situation zunehmend kritischer wurde, versuchte Schuschnigg in einer verzweifelten Aktion die Initiative zurückzugewinnen und verkündete am 9. März die Abhaltung einer Volksabstimmung über die Selbstständigkeit Österreichs für Sonntag, den 13. März. Seine Initiative kam jedoch zu spät: Am 10. März reagierte Hitler auf Schuschniggs Ankündigung und befahl für den 12. März, den Einmarsch der „Deutschen Wehrmacht“ in Österreich vorzubereiten. Am 11. März begann in den österreichischen Städten und Ländern fast gleichzeitig die nationalsozialistische Machübernahme. Hitler rief Schuschnigg unter Androhung des militärischen Einmarsches zum Rücktritt auf. Dieser kapitulierte und verlautbarte in seiner letzten Rundfunkansprache in den Abendstunden des 11. März, dass das österreichische Bundesheer keinen Widerstand leisten werde. Kurz vor Mitternacht wurde Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler ernannt. Die nun erfolgte nationalsozialistische Machtübernahme änderte jedoch nichts am Einmarschbefehl. Bei Tagesanbruch des 12. März begann der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. Der die Machtübernahme begleitende Jubel und die Begeisterung vieler Österreicherinnen und Österreicher übertrafen alle Erwartungen auf deutscher Seite und trugen dazu bei, dass der „Anschluss“ ohne die geplanten Übergangsregelungen sofort und vollständig durchgeführt wurde.230 Für die jüdische Bevölkerung traten die Konsequenzen unmittelbar ein: Bereits während der Nachtstunden vom 11. zum 12. März kam es zu ersten Übergriffen und Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden: Fenster und Auslagen wurden eingeschlagen, Geschäfte geplündert; Verhaftungen, Demütigungen und Prügelaktionen – vielfach unter Beifall einer applaudierenden Zuschauermenge – trafen die jüdische Bevölkerung mit voller Härte. „Die Juden Österreichs waren während der ersten Wochen nach dem ‚Anschluß’ gleichsam vogelfrei. Haß, Herrenmenschendünkel, Neid und jahrzehntelanger ‚salonfähiger’ Antisemitismus brachen in Form von Sadismus, Brutalität und einer mittelalterlich anmutenden ‚Judenhatz’ aus“,231 bilanziert die Historikerin Elisabeth Klamper die Schrecknisse der „Anschlusstage“. Stella Rotenberg sind die dramatischen Ereignisse des 12. März unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Bis heute sind ihr sowohl die Begeisterungsstürme auf der einen Seite als auch die Ablehnung der nationalsozialistischen Machtübernahme auf der anderen Seite in Erinnerung geblieben: „Als die deutschen Truppen 1938 über die Grenze gekommen

229 Vgl. Steininger, Rolf: 12. November 1918 bis 13. März 1938: Stationen auf dem Weg zum „Anschluß“, in: Steininger, Rolf – Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, 99–151; 122–125. 230 Vgl. ebd., 126–130. 231 Klamper, Elisabeth: Diskriminierung und Verfolgung nach dem „Anschluß“, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten (Erzählte Geschichte 3), Wien 1992, 90–98; 90. 43 sind, hat Österreich gejubelt, aber doch nicht alle. Es waren ja doch viele, die das nicht wollten. Aber so kam es eben.“ Den Moment, in dem sie vom Einmarsch der „Deutschen Wehrmacht“ in Österreich erfuhr, schildert sie wie folgt: „Meine Mutter ist abends ausgegangen, sie wollte irgendeine Kleinigkeit kaufen. Und dann kommt sie zurück und hat geweint und hat gesagt, die deutschen Truppen sind über die Grenze gekommen. Ich habe ja Medizin studiert und habe ein Buch aufgeschlagen gehabt, und mein Bruder geht zum Buch, macht es zu und sagt, jetzt brauchst du nichts mehr zu lernen, jetzt ist alles vorbei. Und so war es. […] Er hat schon gewusst, wenn die deutschen Truppen kommen, ist das das Ende von uns.“232 Auch mit Gewaltexzessen wurde die gebürtige Wienerin in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung direkt konfrontiert. In einem autobiographischen Rückblick beschreibt sie die Geschehnisse in folgender Weise: „Ich erinnere mich, ich gehe die Straße entlang, da ist ein Juweliergeschäft, Leute stehen davor, und ich bleibe auch stehen, als zwei oder drei Männer in der braunen SA-Uniform einen Mann herausschleppen: Der hat eine Glatze gehabt, hat geblutet. Die Leute sind einfach dagestanden, haben nichts gesagt und nichts getan. Ob sie sich gefreut haben oder nicht, das weiß ich nicht. Das war in der Wallensteinstraße im 20. Bezirk, nahe der Friedensbrücke.“233 Jedoch nicht nur Stella Rotenbergs Umgebung, sondern auch ihre Familie und sie selbst wurden Opfer der Übergriffe. Ein besonders schmerzlicher Teil ihrer Erinnerungen betrifft ihre Mutter, Regine Siegmann: „Es fällt mir persönlich nicht leicht, über den Anschluß zu sprechen, weil das mit meiner Mutter zusammenhängt. […] Sie wurde mißhandelt, aber darüber will ich nicht… Da gibt es ein Gedicht von mir mit dem Titel Deutsche Nacht: Wer klopft? Warum klopft es in der Nacht? Ich weiß schon, wer es ist, darum – nicht aufgemacht! Ich habe Angst. Meine Mutter steht auf aus dem Bett. Bis hin zur Türe geht sie wie ein Blindes. Sie will den Vater schützen. Auf’s Türholz wird gehaut. Drei Mann mit Mützen, der Schirm verwegen auf den Nasenrücken, stürmen herein. Ich will mich bücken um nicht gesehen zu sein, da hör ich meine Mutter schrein, ich faß den einen Mann am Bein – seither hab ich die Schramme im Gesicht.“234 Die „Judenhatz“ traf noch weitere Familienmitglieder: Stella Rotenbergs Onkel wurde von Nationalsozialisten in einer zum Kerker umfunktionierten Schule derart verprügelt, dass er sein Gehör verlor.235 Auch ihr Bruder wurde von drei mit einem Messer bewaffneten Männern bedroht, er konnte jedoch entkommen. Fluchtgedanken waren in der Familie bald allgegenwärtig: „Um als Familie aus Österreich weggehen zu können, dazu hätte man Geld gebraucht, Geld im Ausland. Meine Mutter wollte unbedingt weg. Wer hätte sie denn

232 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 233 Rotenberg, Stella: „Ich habe gewusst, das ist das Ende meiner Existenz in Österreich…“, in: Wimmer, Adi (Hg.): Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, Wien 1993, 81–84; 83. 234 Rotenberg, „Ich habe gewusst…“, 82. 235 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 44 genommen – eine kranke Frau? Es hätte sie doch kein Land genommen! Aber mein Vater hat gemeint, es wird schon nicht so schlimm werden.“236 Das gewohnte Alltagsleben kam zum Stillstand. Stella Rotenberg und ihr Bruder Erwin mussten ihr Medizinstudium gleich nach dem „Anschluss“ abbrechen. Ab Mitte März 1938 blieb die Universität Wien geschlossen und wurde erst am 25. April – nach ihrer Umwandlung in eine nationalsozialistische Institution – unter Anwesenheit von Gauleiter Josef Bürckel wiedereröffnet. „’Selbstgleichschaltung’ und ‚Gleichschaltung’ durch die neuen Machthaber gingen Hand in Hand und ergänzten einander“,237 so Herbert Posch in einer Studie zum Ausschluss jüdischer Studierender und Lehrender von der Universität Wien. Am 23. April 1938 wurde ein Numerus clausus von zwei Prozent für jüdische Studierende festgelegt. Nur wer im Rahmen dieser Quote zum Studium zugelassen war, durfte die Universität weiterhin betreten.238 Ab 11. November 1938 wurde jüdischen Hörerinnen und Hörern der Zutritt zu Hochschulen generell verwehrt.239 Stella Rotenberg erfuhr bereits wenige Tage nach dem „Anschluss“ von ihrem Studienausschluss, der gleichsam pars pro toto für die sukzessive Entrechtung der jüdischen Bevölkerung steht. Sie berichtet über das Zutrittsverbot zur Universität und ihre Gefühle der Ohnmachts- und Hoffnungslosigkeit wie folgt: „Draufgekommen bin ich, als ich ins Physiologie-Institut ging. Am Eingang wurde einem gleich gesagt, jüdische Studenten seien unerwünscht. Ich habe keinen Aushang, kein entsprechendes Gesetzblatt hängen gesehen. Das war gleich in der Woche nach dem Anschluß. Die Reaktion von mir und aller Betroffenen war, um ein Abgangszeugnis anzusuchen. […] Ob es wenigstens halbherzigen Protest gegeben hat, von Leuten, die mit mir studiert haben, die doch Bekannte waren? Ja, wem hätten sie es denn sagen sollen? Ich glaube, man hat mich gar nicht trösten, mir gar nicht Hoffnung geben können. Ich habe gewußt, das ist jetzt das Ende, das Ende meiner Existenz in Österreich.“240 Das Leben der jüdischen Bevölkerung wurde durch massenhafte Entlassungen sowie zunächst „wilde“, dann „planmäßige Arisierungen“ von Geschäften, Betrieben und Wohnungen immer weiter beschnitten. Allein in den ersten neun Monaten der NS-Herrschaft wurden von 70.000 „Judenwohnungen“ 44.000 „arisiert“.241 Da die vor 1917 erbauten Gemeindebauten einem Kündigungsschutz unterlagen, konzentrierten sich die NS-Behörden auf die zwischen 1917 und 1938 erbauten Wohnungen, aus denen die Mieterinnen und Mieter innerhalb einer 14-Tages-Frist vertrieben werden konnten.242 Zu dieser Kategorie zählte auch die Wohnung der Familie Siegmann in der Hannovergasse 17 im 20. Wiener Gemeindebezirk. Stella Rotenberg schildert ihre Begegnung mit dem „Ariseur“ folgendermaßen:

236 Rotenberg, „Ich habe gewusst…“, 84. 237 Posch – Ingrisch – Dressl, „Anschluss“, 100. 238 Vgl. ebd., 105. 239 Vgl. Klamper, Diskriminierung, 93. 240 Rotenberg, „Ich habe gewusst…“, 84. 241 Vgl. Klamper, Diskriminierung, 94f. 242 Vgl. Exenberger, Herbert – Koß, Johann – Ungar-Klein, Brigitte: Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938–1939, Wien 1996, 28. 45

„Ich kann mich erinnern, es hat geklopft an der Tür und ich mache auf, und da steht ein Mann in Zivil, aber mit einer Hakenkreuzbinde und sagt, ‚Ich bin gekommen, die Wohnung zu inspizieren’. Da konnte ich ihm nicht nein sagen. Und er kommt herein, geht in jedes Zimmer, macht die Schranktüren auf und sagt, ‚Ja, mir gefällt die Wohnung. Ich bringe meine Frau und wenn sie auch meiner Frau gefällt, nehme ich die Wohnung’. Und so hat er sie genommen.“243

Abb. 3: Wohnhaus Stella Rotenbergs, Hannovergasse 17 (Foto: Edith Petschnigg)

Als besonders belastend ist der gebürtigen Wienerin die Tatsache in Erinnerung, dass sich der „Ariseur“ nicht mit der Besichtigung der Wohnung begnügte, sondern zudem alle Schränke mit den persönlichen Habseligkeiten der Familie inspizierte. Nach Verlust der Wohnung musste Stella Rotenberg mit ihren Eltern – ihrem Bruder war bereits die Flucht ins Ausland gelungen – über Vermittlung der Israelitischen Kultusgemeinde eine „Sammelwohnung“ in der Zelinkagasse 4244 im 1. Bezirk beziehen: „Und alle Juden, die keine Wohnung hatten, sind dort hingekommen. Und zum guten Schluss haben 20, 30 Personen in der Wohnung gewohnt. Das war schrecklich für meine Eltern.“245 Erwin Siegmann hatte bereits im Juli 1938 – kurze Zeit nach dem auf ihn verübten Übergriff – gemeinsam mit einem Studienkollegen Österreich verlassen. Stella Rotenberg schildert seine waghalsige Flucht, die ihn nach vergeblichen Einreisebemühungen in die Schweiz, nach Liechtenstein, Belgien und in die Niederlande schließlich ins sichere Schweden246 führte: „Er ist sozusagen weggegangen ohne Pass, ohne irgendwas. Und in Deutschland auf einem Dampfer, und der Dampfer legt an in Stockholm. Und in Stockholm kommt er an und hat nichts, keinen Pass. Da wollten sie ihn gar nicht reinlassen, aber schließlich, sie wollten ihn nicht zurückschicken. Sie wollten ihn nicht in Schweden, aber sie wollten ihn nicht

243 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 244 Zelinkagasse 4/5 scheint als letzte Wohnadresse von Regine (Ruchel) und Bernhard Siegmann auf. Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, http://www.doew.at/ausstellung/shoahopferdb.html, zuletzt abgerufen am 25.1.2010. 245 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 246 Vgl. Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 66. 46

zurückschicken. Sie haben gewusst, was ihm in Deutschland blüht. Und so war er dann in Stockholm.“247 Stella Rotenbergs Bruder drängte brieflich wiederholt auf ihre Ausreise.248 Auch eine Schwedin, die in Stockholm Flüchtlinge betreute, versuchte Stella Rotenberg während eines Wienbesuchs zur Emigration nach Schweden zu bewegen. „Aber ich wollte nach England, weil ich dort meinen ‚boyfriend’ hatte. Ich habe ihn schon aus Wien gekannt“, so die Dichterin über ihren späteren Ehemann, den Medizinstudenten Wolf Rotenberg, dem bereits die Flucht nach Großbritannien gelungen war.249 Auch Stella Rotenberg begleitete seit dem Einmarsch der „Deutschen Wehrmacht“ das Gefühl, Österreich verlassen zu müssen. „Das war weniger meiner politischen Einsicht zuzuschreiben als einem Gefühl des Untergangs, das mich bis zu meiner Einreise in England nicht verließ und davor bewahrte, in Holland zu bleiben.“250 Bis zum Zeitpunkt der Okkupation Österreichs war die Zahl österreichischer Emigrantinnen und Emigranten in Großbritannien sehr gering. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung wartete zunächst ab und begann erst nach dem Entzug ihrer Grund- und Freiheitsrechte sowie ihrer wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten das Land zu verlassen. Über die Anzahl der jüdischen Flüchtlinge in Großbritannien liegen keine präzisen Angaben vor. Nach Aufzeichnungen der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien und der Reichsvereinigung der Juden Deutschlands an das Reichssicherheitshauptamt vom 11. November 1941 haben im Zeitraum von 2. Mai 1938 bis 31. Oktober 1941 von insgesamt 206.000 österreichischen Jüdinnen und Juden (Stand vom 2. Mai 1938) 146.816 Personen die „Ostmark“ verlassen; davon fanden 27.293 in Großbritannien Zuflucht. Eine Studie, die nach Kriegsende von der Kultusgemeinde und der Jüdischen Historischen Kommission durchgeführt wurde, ergab für den Zeitraum von 13. März 1938 bis Mitte November 1941 für Großbritannien 30.850 Flüchtlinge. Der jüdische Anteil der Gesamtemigration im Vereinigten Königreich dürfte bei rund 90 Prozent gelegen sein.251 Als die Zahl der Flüchtlinge aus Österreich nach dem „Anschluss“ drastisch anstieg, führte Großbritannien ein Visasystem für Einreisende mit deutschen und österreichischen Reisepässen ein. Der „Wert oder Unwert des Antragstellers für das Königreich“ entschied nun über die Ausstellung eines Visums. Während etwa renommierte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Forschung sowie Industrielle ohne Schwierigkeiten Visa erhielten, wurden ärmere Bevölkerungsschichten wie etwa Gewerbetreibende, Handwerker oder Musiker von vornherein ausgeschlossen. Sie erhielten nur bei Nachweis einer unmittelbaren Gefahr oder wenn sie in Großbritannien über einen finanziellen Bürgen verfügten, eine

247 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 248 Vgl. Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 66f. 249 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 250 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 65. 251 Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Österreicher im Exil. Großbritannien 1938–1945. Eine Dokumentation. Einleitungen, Auswahl und Bearbeitungen: Wolfgang Muchitsch, Wien 1992, 8. 47

Einreisebewilligung. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste die Regierung ihre Einreisebestimmungen jedoch wieder etwas lockern, was vor allem Flüchtlingen, die weiteremigrieren wollten, zugute kam. „Gemessen am internationalen Standard kann die britische Einwanderungspolitik, besonders in den kritischen Jahren 1938–39 als großzügig gelten“, so die Bilanz des Historikers Wolfgang Muchitsch. Diese Politik änderte sich allerdings mit Kriegsausbruch: Anfang September 1939 verloren alle an „feindliche“ Ausländerinnen und Ausländer ausgestellte Visa ihre Gültigkeit.252 Der Mangel an Hausgehilfinnen in Großbritannien erleichterte vor allem jungen Frauen die Einreise.253 So waren mehr als die Hälfte der deutschsprachigen Flüchtlinge in Großbritannien Frauen, die meist als Hausgehilfinnen oder Krankenpflegerinnen Visa erhalten hatten.254 Auch Stella Rotenberg erfuhr im Sommer 1938 von der Möglichkeit, auf diesem Wege nach Großbritannien zu gelangen. Auf ihr diesbezügliches Ansuchen hin erhielt sie vom Home Office in London die Zusage, da sie Medizinstudentin gewesen war, als „Pfleger-Lehrling“ in einem Krankenhaus arbeiten zu können. Doch die Ausstellung des britischen Visums ließ auf sich warten. In der Zwischenzeit erhielt Stella Rotenberg ein Hausgehilfinnen-Visum für die Niederlande: „Nun weiß ich nicht mehr, wie ich die Bewilligung bekam, in die Niederlande einzureisen; wo ich die Adresse von jenem Mann in Leiden erfuhr, der mich als Hausgehilfin anforderte; wie lange es dauerte, bis ich das Visum bekam, wann ich es bekam. Ich erinnere mich an das nächtelange Anstellen vor den verschiedenen Ämtern, um alle Papiere zusammenzubekommen, die für einen Paß nötig waren, und daran, daß ich schließlich meinen ‚J‘-Paß erhielt. Es hat ungefähr neun Monate gedauert, ehe es soweit war.“255 Der Umstand, dass sie in zwei Ländern gleichzeitig um Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung ansuchte, ist für die Exilierte bis heute eine Belastung. So schreibt sie in ihren Erinnerungen: „Es bedrängt mich oft, daß ich dadurch einer anderen die Lebensmöglichkeit weggenommen haben mag, aber ich weiß, daß die Flüchtlinge, die in Holland verblieben sind, nicht überlebt haben.“256 Als es im März 1939 immer wahrscheinlicher zu werden schien, dass das NS- Regime die Tschechoslowakei besetzen würde und der Kriegsausbruch drohte, entschloss sich Stella Rotenberg schließlich zur Flucht.257 Am 14. März 1939, wenige Tage vor ihrem 24. Geburtstag, verließ sie Wien.258 Am Westbahnhof sah sie ihre Eltern zum letzten Mal – es war ein Abschied für immer. Denn für sich selbst sahen Regine und Bernhard Siegmann keine Chancen mehr zur Emigration: „Sie haben gewusst, es ist aus“, so Stella Rotenberg. Obwohl ihr Bruder für die Eltern eine schwedische Einreisegenehmigung erhielt, blieben alle

252 Vgl. ebd., 5f. 253 Vgl. Bollauf, Traude: Flucht und Zuflucht: Als Dienstmädchen nach England. Am Beispiel dreier Frauen aus Wien, in: L’Homme Z. F. G. 15/2 (2004), 195–215; 198–205. 254 Vgl. Dokumentationsarchiv (Hg.), Großbritannien, 8. 255 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 65. 256 Ebd., 66. 257 Vgl. Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 67. 258 Vgl. Rotenberg, „Ich habe gewusst…“, 83. 48

Bemühungen vergeblich: „Die Deutschen haben meine Eltern nicht weggelassen. Sie hätten sie ja weglassen können! Was hätte das ihnen denn gemacht?“259 Eine der wenigen Habseligkeiten, die Stella Rotenberg mit auf die Reise nehmen konnte, war eine Literaturgeschichte von Klabund. Diese wurde auf der Durchreise von einem deutschen Zöllner genauestens inspiziert: „Und der Zollbeamte hat aufgeschlagen und ein bisschen gelesen und hat sich dann lange mit dem Buch… Da [...] habe ich gedacht, der nimmt mir am Ende noch das Buch weg. Aber er hat es mir nicht weggenommen, er hat es mir gelassen. Hat vielleicht nicht gewusst, dass Klabund ein Kommunist gewesen ist.“260 Während ihrer Fahrt durch Deutschland erfuhr die gebürtige Wienerin schließlich vom Einmarsch der „Deutschen Wehrmacht“ in der Tschechoslowakei. Es war der 15. März 1939.261 Sie erinnert sich an diesen Tag wie folgt: „Ich kam nach siebzehnstündiger Fahrt frühmorgens in Köln an, wo ich umsteigen mußte, und die Zeitungen verkündeten: ‚Unser Führer in der Tschechoslowakei!’ Da fing ich zu weinen an – wohl nicht allein deswegen – und habe sechs Wochen lang wenig anderes getan als geweint.“262 Nach ihrer Ankunft in Leiden trat Stella Rotenberg ihren Posten als Haushaltshilfe bei einem alleinstehenden Mann an. „Er war ledig und hatte gehofft, ein Mädchen ins Haus zu bekommen, das für ihn kocht, im Geschäft hilft, mit ihm ausgeht und vielleicht mehr. Ich habe ihm nichts bieten können“,263 so Rotenberg in ihren Erinnerungen. Durch Vermittlung einer jungen Holländerin und mit Hilfe des Flüchtlingskomitees fand sie schließlich eine geeignetere Stelle in einem Waisenhaus in Den Haag. Sie betont, von ihrem Arbeitgeber in Leiden jedoch nie schlecht behandelt worden zu sein: „Der arme Mann hat von mir nichts zu essen bekommen. Ich bin ihm davon. Warum? Die Leute haben gemeint, vielleicht war er schlecht zu mir. Er war aber nicht schlecht zu mir.“264 Die Trennung von ihren Eltern, von der sie schon ahnte, dass sie eine endgültige sein würde, der Verlust der „Heimat“ und die neue Lebenssituation in einem fremden Land machten der jungen Wienerin sehr zu schaffen. „In Holland war ich sehr unglücklich“, so Stella Rotenberg rückblickend. Einzig die Tatsache, den Nazis entkommen zu sein, hielt sie aufrecht: „Einmal hat ein Mann mir ganz böse gesagt, wenn Sie vorhaben da zu bleiben, müssen Sie Holländisch lernen. Er war böse auf mich, aber ich hätte ihn umarmen können, ich war begeistert von ihm. Ich habe gewusst, das war kein Nazi.“265 Kurz vor Kriegsausbruch erhielt Stella Rotenberg schließlich das lang erwartete britische Visum. Per Schiff verließ sie Den Haag und erreichte so ihre zweite und endgültige Zufluchtsstätte Großbritannien. Als erste Arbeitsstelle wurde ihr ein „Spital für

259 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 260 Ebd. 261 Vgl. dazu Zentner – Bedürftig, Lexikon, 243. 262 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 67. 263 Ebd. 264 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 265 Ebd. 49

Geistesgestörte“ in Colchester in der Grafschaft zugewiesen. Die schwere Arbeit wurde bald zur Belastungsprobe: „13 Stunden Arbeit am Tag, ich war das nicht gewöhnt. Ich bin krank geworden. Der englische Arzt hat zu mir gesagt, ‚Das ist kein Beruf für Sie, suchen Sie sich etwas anderes’. Damals habe ich aber nicht suchen können, damals habe ich tun müssen, was man mir zugewiesen hat. Aber ich bin dann schließlich doch weg von dem Spital.“266 Kurze Zeit nach ihrer Ankunft im rettenden Exil brach der Zweite Weltkrieg aus. Als sie in Colchester am 3. September 1939, dem Tag, an dem Großbritannien Deutschland den Krieg erklärte267, vom Kriegsbeginn erfuhr, ahnte sie bereits, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen würde. Heute schildert sie jenen Tag wie folgt: „Es war ein Sonntag. Der 3. September war ein Sonntag und ich war frei. […] Ich habe Strümpfe gewaschen, die Pflegerinnen haben schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe getragen. Und ich habe die schwarzen Strümpfe gewaschen, und das Fenster war offen, es war ein warmer Tag. Und da höre ich eben vom Kriegsbeginn, und da habe ich gewusst, ich werde meine Eltern nie wieder sehen.“268 Gleich nach Kriegsausbruch wurden österreichische Flüchtlinge in Großbritannien als „enemy aliens“ eingestuft, ein Status, der sich bis Kriegsende nicht ändern sollte. Um zu eruieren, welche Ausländerinnen und Ausländer tatsächlich eine Bedrohung für Großbritannien darstellten, wurden Mitte September 1939 so genannte „alien tribunals“ eingerichtet. Die Ausländertribunale behandelten fast sämtliche Fälle der rund 62.200 registrierten deutschen und 12.000 österreichischen „enemy aliens“. Nach eingehenden Befragungen ordneten die Tribunale die Flüchtlinge – wobei etwa die Abneigung einzelner Tribunalvorsitzender gegenüber kommunistischen und sozialistischen Emigrantinnen und Emigranten sowie Denunziationen zu Fehleinschätzungen führen konnten – einer von drei Kategorien zu.269 Unter die Kategorie A fielen Personen, deren Loyalität bezweifelt wurde und die als potentielles Sicherheitsrisiko eingestuft wurden; diese wurden umgehend interniert. Personen, die der Kategorie B zugeordnet wurden, unterlagen zwar keiner Internierung, aber verstärkten Restriktionen, wie etwa dem Verbot ohne polizeiliche Genehmigung mehr als fünf Meilen zu reisen. Außerdem war ihnen der Besitz von Autos, Fotoapparaten, Landkarten, Feldstechern und Waffen verboten. Unter die Kategorie C fielen all jene Personen, an deren Zuverlässigkeit kein Zweifel bestand. Sie unterlagen lediglich jenen Beschränkungen, die auch in Friedenszeiten für ausländische Personen galten. Der Großteil der befragten Ausländerinnen und Ausländer – 64.200 Personen – wurde dieser Kategorie zugeordnet. Weniger als ein Prozent fiel unter die Kategorie A und wurde sofort interniert. Als sich die Kriegslage jedoch zuspitzte und eine deutsche Invasion immer wahrscheinlicher erschien, wurden die Internierungsmaßnahmen verschärft. Im Mai 1940 wurden die

266 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 267 Vgl. Piekalkiewicz, Janusz: Der Zweite Weltkrieg, Düsseldorf 1985, 89. 268 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 269 Vgl. Dokumentationsarchiv (Hg.), Großbritannien, 53f. 50

Verhaftung aller männlichen „feindlichen Ausländer“ der Kategorie B und die Internierung aller Frauen dieser Gruppe zwischen 16 und 70 Jahren beschlossen. Zudem wies man die Polizeistellen an, alle Männer der Kategorie C, deren Loyalität zweifelhaft erschien, zu inhaftieren. Am Höhepunkt der Internierungen, im Juli 1940, befanden sich über 27.000 deutsche und österreichische „enemy aliens“ in britischen Lagern. Generell von den Internierungen ausgenommen waren Personen unter 16 und über 70 Jahren, Kranke und Gebrechliche, Frauen der Kategorie C sowie kriegswirtschaftlich wichtige Fachkräfte.270 Stella Rotenberg blieb – als Angehörige der Kategorie C – von jeglicher Internierung verschont. „Ich habe – für meine Person – nur Gutes über England zu berichten. Vom Tribunal […] wurde mir das Prädikat ‚Friendly Alien‘ zugesprochen. Das bedeutete, daß ich eine kaum eingeschränkte Freiheit genoß, Wohnungs- und Postenwechsel anzugeben hatte, sonst aber ungeschoren blieb“,271 so die Exilliteratin. Über die Befragung selbst berichtet sie Folgendes: „Also ich habe keine Angst gehabt, ich habe gewusst, wer ich bin. […] Mir haben sie alles gleich auf’s Wort geglaubt. Es war ja auch richtig! Es war ja nicht gelogen.“272 Einige Wochen nach ihrer Ankunft in Großbritannien kam es zum ersehnten Wiedersehen mit ihrem Freund, Wolf Rotenberg, der sich bald nach Kriegsausbruch freiwillig zur britischen Armee gemeldet hatte273 und zu diesem Zeitpunkt in einem Militärlager im Süden Englands stationiert war. „Und dann schließlich hat er frei bekommen und mich besucht. Und dann haben wir uns entschieden zu heiraten“, erinnert sich die gebürtige Wienerin. Den Bund fürs Leben schloss das Paar am 23. Oktober 1939 im Standesamt von Colchester im Beisein zweier britischer Trauzeuginnen, Kolleginnen der Braut. Als Flüchtlinge nahezu mittellos, konnte das frisch vermählte Paar die Eheschließung kaum feierlich begehen. Stella Rotenberg erinnert sich: „Mein Mann hat gerade genug Geld gehabt, dass wir die Trauzeuginnen und zwei andere Mädchen zum Tee eingeladen haben. Und da waren wir in einem Restaurant und haben dort Tee getrunken und Kuchen gegessen.“274 Nachdem Stella Rotenberg im Frühjahr 1940 ihre Anstellung als Pflegerin in Colchester aufgegeben hatte, folgte sie ihrem Mann in die verschiedenen Garnisonen, in die er verlegt

270 Vgl. ebd., 54f. 271 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 69. 272 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 273 Zum Einsatz von Ausländern in der britischen Armee siehe Muchitsch, Wolfgang: Mit Spaten, Waffen und Worten. Die Einbindung österreichischer Flüchtlinge in die britischen Kriegsanstrengungen 1939–1945 (Materialien zur Arbeiterbewegung 61), Wien 1991, insbes. 23–92. Wolf Rotenberg, geboren 1913 in Polen (Vgl. Posch – Ingrisch – Dressl, „Anschluss“, 461) und aufgewachsen Wien, besaß nach seiner Ausbürgerung aus Polen weder die polnische noch die österreichische Staatsbürgerschaft. Als staatenloser Flüchtling erreichte er mit einem Nansen-Pass Großbritannien. Als solcher fiel er nicht unter die Kategorie der „feindlichen Ausländer“. Vgl. Interview Rotenberg, 3.7. und 6.7.2009; Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 72 und Müller-Kampel, Beatrix: Man nennt sie Emigranten, doch meint man die Verbannten. Zum Leben von Stella Rotenberg, in: Rotenberg, Stella: An den Quell. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Siglinde Bolbecher und Beatrix Müller-Kampel, Wien 2003, 199–208; 203. 274 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 51 wurde.275 Während dieser Zeit arbeitete sie unter anderem als Hilfskraft bei einem Arzt, als Verkäuferin in einer Apotheke und als Buchhalterin. Wie viele Flüchtlinge litt sie unter dem Leben in der Fremde ohne Verwandte und Freunde, in ständiger Untermiete und unter mangelhafter Versorgung.276 Ihre Lebenssituation während der Kriegsjahre rekapituliert sie folgendermaßen: „Die Kompanie, in der mein Mann diente, wurde in ein Dorf in Somerset versetzt; ich folgte nach, wohnte in einer Dachkammer und fror in diesem Winter viel. Überhaupt war in den Jahren des Kriegs und nachher ‚Obdachlosigkeit’ mein Problem. Ich wohnte immer in Untermiete, konnte jederzeit und kurzfristig gekündigt werden, hatte entsetzliche Angst vor den Vermieterinnen – die waren so schlimm nicht – und getraute mich nirgendwo zu kochen. [...] Die Unterernährtheit hat mir weiter nicht geschadet, aber die Angst vor der Wohnungslosigkeit ist mir geblieben.“277 Obgleich Stella Rotenberg bis zu ihrer Ankunft im britischen Exil kein Englisch beherrschte, erlernte sie die Landessprache rasch, und die Verständigung machte ihr kaum Schwierigkeiten. „Aber gefreut habe ich mich darüber nicht“,278 so die Dichterin, die befürchtete, je mehr sie von der neuen Sprache erlernte, desto mehr würde sie ihre Muttersprache – das Einzige, was ihr aus ihrer „Heimat“ verblieben war – verlernen. Dies führte bald auch zu einem anderen Dilemma. So sehr sie die deutsche Sprache auch liebte, so sehr scheute sich die gebürtige Wienerin davor, sie in ihrem Zufluchtsland öffentlich zu gebrauchen und ebenso davor, an ihrem österreichischen Akzent als „feindliche Ausländerin“ erkannt zu werden. Sie schildert folgende Begebenheit: „Ich bin nach Southampton gefahren, um meinen Mann zu treffen, er war auf Urlaub. Und ich habe mir vorgenommen, im Zug werde ich kein Wort sagen, denn man hört doch, dass ich keine Engländerin bin. Ich habe mir gedacht, die erkennen doch, dass du einen deutschen Akzent hast. Habe ich mir vorgenommen, ich werde stumm sein. Und ich sitze im Zug, und da sitzen Engländer. Ich höre natürlich, dass sie Englisch sprechen, ich sage aber kein Wort. Ich bin stumm. Und dann plötzlich, eine Frau beugt sich vor und bietet mir ein Sandwich an. Und na ja, das war schon peinlich. Ich habe gedacht, wenn ich jetzt spreche, weiß sie, dass ich keine Engländerin bin. Ich habe aber doch ‚nein, danke’ sagen müssen. Und die Engländer waren genauso nett nachher wie vorher.“279 Die Jahre des Krieges waren für Stella Rotenberg nicht zuletzt eine Zeit des Wartens – des Wartens auf das Ende der Kampfhandlungen und des nationalsozialistischen Schreckensregimes. Vom Kriegsende am 8. Mai 1945 erfuhr sie schließlich in der nordenglischen Stadt Darlington, wo sie zu diesem Zeitpunkt lebte und arbeitete;280 genaue Erinnerungen an diesen Tag hat sie jedoch nicht mehr.281 „Ich glaube, ich denke nicht allzu gerne zurück. Es war ja doch eine schreckliche Zeit“,282 bekennt sie im Interview.

275 Abgesehen von einer Stationierung in Ägypten befand sich Wolf Rotenberg zu seiner eigenen Sicherheit als Jude großteils in Garnisonen in Großbritannien. Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 276 Zu den oftmals prekären Lebensbedingungen der Flüchtlinge siehe etwa Dokumentationsarchiv (Hg.), Großbritannien, 50–53. 277 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 71. 278 Ebd., 73. 279 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 280 Vgl. ebd., 3.7.2009. 281 Vgl. Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 73. 282 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 52

Im Herbst 1945 begannen Stella Rotenberg und ihr Bruder Erwin Siegmann nach dem Schicksal ihrer Eltern zu forschen. Ihre schlimmsten Befürchtungen sollten sich bald bewahrheiten: Regine und Bernhard Siegmann waren in Richtung Osten deportiert und ermordet worden. Genaueres über Todesort und -datum herauszufinden, war ihnen zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht möglich. „Mein Bruder war in Wien und hat sich bemüht. Aber Genaues hat auch er nicht herausgefunden. Man hat sie alle nach Osten transportiert und von dort weiter geschickt nach Osten, also nach Auschwitz oder Treblinka, und dort umgebracht. Vielleicht ist meine Mutter auf dem Weg dorthin gestorben, sie war ja krank. Das wäre mir eigentlich lieber gewesen“,283 so die heute 95-jährige. Wie die Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien zeigt, wurden Regine284 und Bernhard Siegmann285 tatsächlich am 20. Mai 1942 aus dem „Sammelquartier“ in der Zelinkagasse, in dem sie seit ihrer Vertreibung aus ihrer eigenen Wohnung leben mussten,286 nach Malyj Trostenec nahe Minsk deportiert. Am 28. November 1941 war der erste Transport von Wien in das Ghetto von Minsk abgegangen, weitere folgten am 6., 20. und 27. Mai, am 2. und 9. Juni, am 17. und 31. August, am 14. September sowie am 5. Oktober 1942. Da es infolge von Massenerschießungen im und um das Ghetto von Minsk in dessen Umkreis keinen Platz mehr für Massengräber gab, wurde ein wenige Kilometer von dem Gut Malyj Trostenec entferntes Kieferwäldchen als neues Exekutionsgelände ausgesucht. Sämtliche ab dem 6. Mai 1942 aus Wien abgegangenen Transporte wurden direkt nach Malyj Trostenec geführt.287 Allein die unmenschlichen Transportbedingungen in Güter- bzw. Viehwaggons ohne Wasser, Nahrung und Toiletten kosteten vielen Menschen das Leben. Andere starben an den Knüppelschlägen der SS und Ordnungspolizisten während des „Umladens“ auf den Bahnsteigen. Bis zuletzt wurden die Opfer in dem Glauben gelassen, sie würden auf Befehl des „Führers“ in Weißrussland „angesiedelt“ und bis zur Beendigung des Krieges als landwirtschaftliche Arbeitskräfte eingesetzt. Die Transporte nach Malyj Trostenec hatten

283 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 284 Regine Siegmann (1884–1942), in der Deportationsliste mit ihrem jüdischen Namen Ruchel geführt, erhielt die Transportnummer 22/279. Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Deportationsliste, http://www.doew.at/ausstellung/shoahopferdb.html, zuletzt abgerufen am 25.1.2010. 285 Bernhard Siegmann (1877–1942) erhielt die Transportnummer 22/278. Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Deportationsliste, http://www.doew.at/ausstellung/shoahopferdb.html, zuletzt abgerufen am 25.1.2010. 286 Zur fortlaufenden Entrechtung und zur Deportation österreichischer Jüdinnen und Juden nach Ausbruch des Krieges siehe etwa Klamper, Elisabeth: Die Situation der jüdischen Bevölkerung in Wien vom Ausbruch bis zum Ende des Krieges, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten (Erzählte Geschichte 3), Wien 1992, 164–176. Ende 1942 war die Deportation der österreichischen jüdischen Bevölkerung praktisch abgeschlossen. Von den knapp 8.000 in Wien verbliebenen jüdischen Personen wurden im Laufe des Jahres 1943 weitere rund 3.700 Personen deportiert. Vgl. ebd., 175f. 287 Vgl. Klamper, Elisabeth: Die Auslöschung des Malers Fritz Schwarz-Waldegg, in: Boeckl, Matthias (Hg.) für das Jüdische Museum der Stadt Wien: Fritz Schwarz-Waldegg. Maler-Reisen durchs Ich und die Welt, Wien 2009, 155–166; 161. 53 jedoch nur ein Ziel – die Vernichtung. Wer den etwa viertägigen Transport überlebte hatte, wurde unmittelbar nach der Ankunft in Malyj Trostenec ermordet.288 Regine und Bernhard Siegmann kamen mit großer Wahrscheinlichkeit Ende Mai 1942 zu Tode. Regine starb kurz vor ihrem 58. Geburtstag; ihr Ehemann Bernhard im Alter von 65 Jahren. Das genaue Datum ihrer Ermordung ist unbekannt. Die Last dieses Schicksals prägt bis heute das Leben Stella Rotenbergs: „Meine Mutter umzubringen, war wie ein Kind zu ermorden, sie war ja schuldlos.“289 In mehreren Gedichten versuchte die Lyrikerin das Unsagbare – die Ermordung ihrer Mutter – in Worte zu kleiden, ihr und ihrem Schicksal – und damit dem aller Opfer der Shoa – ein bleibendes Vermächtnis zu schaffen.290 Ihr Gedicht „Besuch im Heimatort (Im Haus aus dem man sie zum Sterben holte)“ mag dies beispielhaft aufzeigen:

I. II. Mutter höre mich! Die Steine stehen. Ich habe überlebt! Dein Kind hat Satan überlebt. Die Steine stehen und sie fallen, sie fallen nicht Sieh mich heute unter dem Gericht Wie ich die lange Treppe hinunterschreite – der Schreie, der Schreie. deinen letzten Gang. Es stehen die Mauern Ich setzte meinen Fuß die die Schreie überdauern, auf die Fliesen im Flur, die Wände stehen und sie zeigen in die Fährte deines Fußes, keine Zeichen… ich suche, suche deine Spur… Die Häuser stehen und sie brechen, Das Tor steht offen sie brechen nicht so wie es offen stand zu deinem Tod. auf beim Aufstieg der Schreie, sie brechen nicht auf! O Zeit die nichts vermag, o Not. Wir müssen ewig trauern. Sie stehen als sei nichts geschehen.291

288 Vgl. ebd., 161–164. Lediglich 20 bis 50 junge Menschen wurden bei jedem Transport für die Zwangsarbeit auf dem Gut Malyj Trostenec ausgesucht. Vgl. ebd., 161f. Zum Vernichtungslager Malyj Trostenec siehe ausführlicher Kohl, Paul: Das Vernichtungslager Trostenez. Augenzeugenberichte und Dokumente, Dortmund 2003. 289 Stella Rotenberg in Willgruber, Rudi: Gedichte nach Auschwitz, in: Neue Zeit, 31.10.1991, 14f.; 15. 290 Vgl. „Auf Besuch in Deutschland nach dem Jahr 1945“, „An meine Landsleute“, „Besuch im Heimatort“, in: Rotenberg, Quell, 87–91. 291 Rotenberg, Quell, 90f. 54

2.3 Bleibendes Exil – Leben in Großbritannien

Für viele Vertriebene wurde das vorübergehende Asyl zu einem fortwährenden Exil.292 Eine Rückkehr nach Österreich stand für Stella und Wolf Rotenberg nie zur Debatte: „Ich wollte mit Österreich überhaupt nichts zu tun haben. Denn ich habe gedacht, das ist ungerecht: Alles schimpft auf die Deutschen, und die Österreicher waren genauso. Hitler war Österreicher“,293 schildert die Exilierte ihre Entscheidung in Großbritannien zu verbleiben. Wie die überwiegende Mehrheit der österreichischen Flüchtlinge294 hatte sich das Ehepaar Rotenberg für die Einbürgerung in ihrem Zufluchtsland entschieden. Am 28. November 1946 nahm das britische Innenministerium die im November 1940 eingestellten Einbürgerungen wieder auf, wobei gewisse Personengruppen, wie Ausländer, die in der britischen Armee gedient oder einen Beitrag zu den britischen Kriegsanstrengungen geleistet hatten, vorrangig behandelt wurden. Im Zeitraum von 1946 bis 1949 wurden insgesamt 7.760 österreichische Flüchtlinge eingebürgert, der Großteil in den Jahren 1947 und 1948.295 Stella Rotenberg und ihr Mann, der als ehemaliger Soldat der vorrangig behandelten Personengruppe angehörte, erhielten bereits 1946 die britische Staatsbürgerschaft.296 An ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen konnte die ehemalige Studentin im Exilsland jedoch nicht – zu groß waren die Einschnitte, die Verluste unwiederbringlich. „Ich habe sozusagen alles verloren. Meine Eltern, mein Studium, meine Zukunft,“297 versucht Stella Rotenberg ihre Lebensbürde in Worte zu fassen. Nach Kriegsende hatte sie keine Möglichkeit, ihr in Wien zwangsweise abgebrochenes Studium wieder aufzunehmen. Allein ihrem Mann Wolf Rotenberg gelang es in London zum Doktor der Medizin zu promovieren. Rückblickend schildert sie die Gründe, die dazu führten, dass sie ihr Studium nicht vollenden konnte: „Ich habe ja kein Geld gehabt. Ich weiß nicht, vielleicht… Wenn jemand unbedingt hätte wollen, wäre es wahrscheinlich gegangen. So begabt war ich nicht. Ich war ja keine so besondere… Ich war so mittel, so Durchschnitt. Aber ich glaube, ich wäre eine ganz gute Ärztin geworden, aber ich hätte es schwer gehabt, bis zum Ärztinwerden. Nachher vielleicht wäre ich nicht so schlecht gewesen. Immerhin, mein Mann war ein guter Arzt.“298 Ihrem Ehemann folgte sie 1948 schließlich in die mittelenglische Industriestadt Leeds, wo er zunächst in einem Krankenhaus Arbeit fand und später eine eigene Praxis eröffnete. Seit damals lebt Stella Rotenberg in der heute rund 760.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Provinzstadt. Für die Literatin – sie hatte bereits 1940 mit dem Schreiben von

292 Vgl. Bolbecher, Siglinde: Es sind die Gejagten den Jägern voraus. Zur Dichtung von Stella Rotenberg, in: Stella Rotenberg, An den Quell. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Siglinde Bolbecher und Beatrix Müller-Kampel, Wien 2003, 11–17; 13. 293 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 294 Vgl. Dokumentationsarchiv (Hg.), Großbritannien, 600. 295 Vgl. ebd., 601. 296 Vgl. Kabić, Slavija: „Einzig um den Klang meiner Muttersprache wiederzuhören“. Zur Exil- und Shoa-Lyrik von Stella Rotenberg, in: Zagreber Germanistische Beiträge 14 (2005), 51–72; 58. 297 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 298 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 55

Gedichten begonnen299 – war und ist das Leben in Leeds ein Exil im Exil. Fernab von anderen deutschsprachigen Exilierten und literarischen Klubs, die großteils in London angesiedelt waren, führte und führt sie ein Leben ohne die Möglichkeit zu Kontakten mit anderen Exilsautorinnen und -autoren. Der Alternative eines Umzugs nach London konnte ihr Mann, der in Leeds als Arzt bereits Fuß gefasst hatte, jedoch nichts abgewinnen: „Gelebt habe ich in London nie. Ich war ab und zu auf Besuch, ein oder zwei Nächte, aber gelebt habe ich dort nie. Das tut mir leid. Ich bin aus Wien, mir hätte London zugesagt. Aber meinem Mann hat’s in Leeds gefallen. Mir nicht. Ich habe gedacht, ich bin aus einer großen Stadt, ich bin an eine Kleinstadt nicht gewöhnt. Aber er hat mich reden lassen, er hat nichts getan.“300 Auch in Leeds musste Stella Rotenberg zunächst wieder in Untermiete wohnen. „Ich war nicht sehr glücklich dort“,301 erinnert sie sich heute. Als 1951 der einzige Sohn des Paares, Adrian, zur Welt kam, besaßen Stella und Wolf Rotenberg nach wie vor keine eigene Wohnung.302 Erst in späteren Jahren konnte sich die Familie die Anschaffung eines Hauses leisten. Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1992303 verkaufte die Exilsdichterin schließlich das gemeinsame Haus und bezog eine Wohnung am Stadtrand von Leeds.304

Abb. 4: Stella Rotenberg mit ihrem Sohn Adrian Roberts vor Bildern aus Wien (Foto: Edith Petschnigg).

299 Zum lyrischen Werk Stella Rotenbergs siehe das folgende Unterkapitel. 300 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 301 Ebd. 302 Vgl. Interview Rotenberg, 4.7.2009. 303 Vgl. Gruber, Doris: Das Exil als Schreiberfahrung und literarisches Thema im Werk von Ilse Losa, Stella Rotenberg und Ruth Tassoni, Dipl. Arb. Wien 1998, 106. 304 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 56

Die Schatten der Vergangenheit schwebten all die Jahre über Stella Rotenberg und ihrer Familie. So lehnte es ihr Mann Wolf ebenso wie ihr Sohn Adrian ab, Deutsch – die Sprache der Täterinnen und Täter, der Mitläuferinnen und Mitläufer – zu sprechen. „Er [Wolf] hat nur Englisch gesprochen. Ich habe vielleicht Deutsch gesprochen, natürlich, wenn ich etwas auf Deutsch gesagt habe, hat er’s ja verstanden. Also war das kein Problem. Mein Sohn wollte nicht Deutsch lernen […]. Er hat gesagt, nein, mit Deutsch will er nichts zu tun haben“,305 so die gebürtige Wienerin. Ihre Liebe zur Muttersprache blieb jedoch all die Jahre über ungebrochen: „Mir fehlt ja nicht Wien, mir fehlt die deutsche Sprache. Ich könnte wo leben, wo man Deutsch spricht“,306 lässt sie ihre Sehnsucht, vom Klang ihrer Muttersprache umgeben zu sein, erahnen. In berührender Weise kommt dieser Wunsch auch in ihren Gedichten immer wieder zum Ausdruck – so auch in „Rückkehr“, wo es am Ende heißt: „Einzig / um den Klang meiner Muttersprache wiederzuhören / möchte ich mich zurückbegeben in den / Schlund der Hölle.“307 Im Exil wird die Sprache zur neuen „Heimat“,308 einer „Heimat“, die viele Exilierte in ihrem Zufluchtsland nicht zu finden vermögen. Auch für Stella Rotenberg scheint die deutsche Sprache gleichsam zum Synonym für „Heimat“ geworden zu sein. „Und in dem Wort / bin ich zuhause. Heimat, Hort / sind hier im Wort, nicht tausend Meilen fort und – dort.“309 Die Erfahrung der Heimatlosigkeit und das Finden einer Ersatzheimat im Wort prägen ebenso die Lyrik ihrer Schicksalsgenossinnen, der beiden jüdischen Exilsdichterinnen Nelly Sachs und Rose Ausländer. Auch in ihren Gedichten wird das „Wort“ zum „Ort“, zu einer „Heimat“ für Heimatlose.310 Magda Stroińska fasst die Bedeutung der Sprache für Emigrantinnen und Emigranten in einem Aufsatz über die Rolle von Sprache für die Identitätskonstruktion in folgenden Worten zusammen: „Language is one of the least noticeable, yet strongest links between our internal life and who we are on the one hand, and the way we function in the outside world and interact with fellow human beings on the other. Whenever we move to a new territory […] we carry with us the baggage of experience that is stored in the form of senory and, more often than not, also verbal memories. Without these memoires – images, feelings, voices and words – we would not be who we are.“311 Deutlich wird hierin der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität, die durch das Leben in einer fremdsprachigen Umwelt herausgefordert und infrage gestellt wird. Vor allem für Literaturschaffende, denen „die Sprache nicht nur Heimat, sondern Werkzeug ist“,

305 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 306 Ebd. 307 Rotenberg, Quell, 94. 308 Vgl. Fischer, Wolfgang Georg: Einleitung. Zur Sprache des Emigranten, in: Wolff, Ilse R. (Hg.): Doch die Sprache bleibt… Eine Prosa-Anthologie des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, Gerlingen 1990, 9–18; 9. 309 Auszug aus dem Gedicht „Die Heimat“, in: Rotenberg, Quell, 194. 310 Vgl. Beil, Claudia: Sprache als Heimat. Jüdische Tradition und Exilerfahrung in der Lyrik von Nelly Sachs und Rose Ausländer, München 1991, 263–321. 311 Stroińska, Magda: The role of language in the re-construction of identity in exile, in: Stroińska, Magda – Cecchetto, Vittorina (Hg.): Exile, language and identity, Frankfurt a. M. 2003, 95–109; 95. 57 bedeutete das Leben in einem anderen Sprachraum vielfach eine besondere Belastung. Nur wenigen Autorinnen und Autoren gelang in ihren literarischen Werken der Wechsel in die jeweilige Landessprache.312 Besonders deutschsprachige jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller sahen sich allerdings mit der Problematik konfrontiert, dass ihre Muttersprache – ihre einzig verbliebene „Heimat“ – ebenso die Sprache des nationalsozialistischen Vernichtungsregimes war.313 „Ich habe immer gesagt: Von mir aus kann Österreich in die Donau sinken. Mir liegt überhaupt nichts an Österreich, aber mir liegt an der deutschen Sprache. Das haben sie mir doch weggenommen, denn ich lebe doch in England“,314 resümiert Stella Rotenberg die Ambivalenz, der sie sich als österreichisch-jüdische Exilsautorin gegenübersieht. Großbritannien, in dem sie seit mehr als 70 Jahren lebt, konnte ihr nie wahrhaft zur neuen „Heimat“ werden: „Mir fehlt ja in England nur die deutsche Sprache. Sonst geht’s mir ja gut. Sonst würde ich ja gar nicht weg wollen. Aber dass mir die Sprache fehlt, das finde ich ein Malheur.“315 Ihre Lebenserinnerungen zeigen deutlich, unter welchen Verlusten – abseits der Sprache – die Exilierte in ihrem Zufluchtsland zu leiden hatte und hat: „[…] es ist ein schönes Land – ich verdanke diesem mein Leben. Daß ich mich da nicht zu Hause fühle, liegt an mir, ich bin nirgendwo zu Hause. Mir ist ja kein Ort verloren gegangen, sondern eine Entwicklung – und eine Generation.“316 Die Frage, wie ihr Leben ohne Hitler-Regime, ohne Krieg und Verfolgung verlaufen wäre, beschäftigt die gebürtige Wienerin Zeit ihres Lebens: „Stellen Sie sich vor, das wäre nicht so gewesen, da wäre ich doch in Wien geblieben, und wir hätten in Wien geheiratet und mein Sohn hätte Deutsch mit Ihnen gesprochen. Das ganze Leben wäre anders. […] Vielleicht wäre ich Ärztin geworden. Sicher bin ich nicht, denn es ist ein hartes Studium. Man muss schon sehr tüchtig sein, um Arzt zu werden, und ich weiß nicht, ob ich durchgehalten hätte. Aber vielleicht. Ich jedenfalls wäre anders gewesen als ich bin. Ich hätte vielleicht genauso ausgesehen, aber ich wäre vielleicht anders geworden.“317

312 Vgl. Fischer, Einleitung, 13f. 313 Vgl. Stüben, Jens – Woesler, Winfried: Das Osnabrücker Symposion zur deutschen Literatur jüdischer Autoren nach dem Holocaust, in: Stüben, Jens – Woesler, Winfried (Hg.) in Zusammenarbeit mit Ernst Loewy: „Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde“. Acta-Band zum Symposion „Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945“ (Universität Osnabrück, 2.–5.6.1991), Darmstadt 1991, 11–18; 13. 314 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 315 Interview Rotenberg, 6.7.2009. 316 Rotenberg, Ungewissen Ursprungs, 74. 317 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 58

2.4 Lyrik als Ausdruckform des Erlebten – zum literarischen Werk Stella Rotenbergs

„Stella Rotenberg zählt mit ihrem Schreiben zur großen internationalen Literatur des Exils“,318 bilanziert Siglinde Bolbecher. Dennoch blieb ihr Werk in Österreich lange Zeit nahezu unbeachtet, und auch heute, mehr als 70 Jahre nach ihrer Flucht, ist ihr literarisches Vermächtnis kaum mehr als einem kleinen Kreis an Exilliteratur interessierter Personen bekannt. Dieses Schicksal teilt Stella Rotenberg mit nicht wenigen Exilautorinnen und - autoren, und besonders mit jenen, die erst aus der Exilerfahrung heraus zu schreiben begannen, sowie mit jenen, die nach Kriegsende nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Beides trifft auf Stella Rotenberg zu. Die Nichtbeachtung von Exilierten und ihren Werken ist symptomatisch für die Politik des Verdrängens der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegszeit – eine Verdrängung, die das Exil für die Betroffenen auch nach der Zeit der Verfolgung perpetuierte. Erst sehr spät wurden die Exilierten als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt und teilweise319 mit bescheidenen Mitteln entschädigt.320 Der renommierte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der selbst nach erfolgreicher Flucht aus dem Warschauer Ghetto im Untergrund den Krieg überlebt hatte, beschreibt die Gründe für das Außenseiterdasein jüdischer Exilliteratinnen und -literaten folgendermaßen: „Die deutsche Literatur unserer Zeit verdankt diesen Poeten aus einer anderen Welt nicht wenig. Sie werden geachtet und sogar gelesen. Die Leistungen einiger von ihnen hat man mit hohen und höchsten Preisen anerkannt. […] Aber machen wir uns nichts vor: […] Außenseiter und Randfiguren sind sie trotzdem. Und es wird sich daran, vermute ich, nichts mehr ändern. Denn was sie schreiben, befremdet und muß wohl auch befremden. Wer zum Tode verurteilt war, bleibt ein Gezeichneter. Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, kann nicht in Frieden mit sich selber leben. Wer vertrieben wurde, bleibt für immer nicht nur ein Vertriebener, sondern auch und vor allem ein Getriebener.“321 Diese Feststellung Reich-Ranickis trifft wohl auch auf Stella Rotenberg zu. Ihre Gedichte sind Ausdruck ihrer durch Entrechtung, Vertreibung, Flucht, Heimatlosigkeit und Verlust geprägten Extremerfahrungen – von Wunden, die auch die Zeit nicht zu heilen vermag. „Leiden mag vergehn, doch nicht / vergeht gelitten haben“, bekennt sie etwa in ihrem Gedicht „Abbitte“.322 Gleichzeitig wollen ihre Gedichte dem Vergessen Einhalt gebieten, die Erinnerung an Unrecht und Vernichtung wach halten, Mahnmal für gegenwärtige und zukünftige Generationen sein. „Du strebst in höhere Regionen / doch auf die Erde zieh ich

318 Bolbecher, Es sind die Gejagten, 15. 319 Stella Rotenberg erhielt von der Republik Österreich keinerlei Entschädigungen. Vgl. Interview Rotenberg, 4.7.2009. „Ich habe auch nicht angesucht. Vielleicht hätte man ansuchen müssen. Ich habe nicht angesucht, ich habe gedacht, von denen will ich nichts. Ich wollte mit Österreich überhaupt nichts zu tun haben“, so die Vertriebene. Ebd. 320 Vgl. Gruber, Exil, 1, 5 und Herz-Kestranek, Miguel – Kaiser, Konstantin – Strigl, Daniela: Einleitung, in: Herz- Kestranek, Miguel – Kaiser, Konstantin – Strigl, Daniela (Hg.): In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands, Wien 2007, 11–16; 12. 321 Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart 1989, 35. 322 Rotenberg, Quell, 95. 59 dich. / Du willst dein Gewissen schonen / doch ich sag: Erinnere dich!“, schreibt Stella Rotenberg in einem weiteren Gedicht.323 Dennoch ist sich die Lyrikerin der begrenzten Möglichkeiten von Literatur bewusst: „Was nützt das Schreiben? Ich schreibe Gedichte, aber keiner kehrt wieder. Die Toten sind tot und die Ermordeten sind ermordet.“324 Stella Rotenberg wurde erst im Exil zur Literatin. Ihre ersten Gedichte entstanden im Frühjahr 1940 während des Frankreichfeldzuges325 in einem kleinen Untermietezimmer in Colchester. Sie erinnert sich an ihre damaligen kargen Lebensbedingungen wie folgt: „Da habe ich erst gehungert, und dann bin ich in eine Familie gekommen, die haben mich richtig aufgefüttert. Da habe ich mich natürlich auch besser gefühlt, da war ich nicht so mager und verhungert. […] Es war gerade Platz für ein Bett. Und da habe ich meinen Koffer dann an die Tür gestellt, und dort habe ich gewohnt.“326 Unter diesen Bedingungen entstand Stella Rotenbergs erstes Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Ohne Heimat“.327 Wohl kein anderes Motiv konnte ihrer Situation besser entsprechen. Es lautet wie folgt: „Wir sitzen auf Stühlen die nicht unser sind. Wir essen von Tellern die nicht unser sind. Wir sprechen die Sprachen die nicht unser sind.

Unser ist: Der Staub und der Steg. Unser ist: Das Wandern und der Weg. Unser ist das Leben das keinen Keim hat.

Wir haben keine Heimat.“328 In unregelmäßigen Abständen, mit großen, durch zahlreiche Umzüge bedingte Pausen verfasste die Exilierte weitere Gedichte,329 die großteils um die Shoa, das durch Verfolgung und Vertreibung erfahrene Leid, Täterinnen, Täter und Opfer, den Tod der Mutter, das Leben im Exil und um Menschen am Rande der Gesellschaft, denen sie sich als Ausgegrenzte besonders nahe fühlte, kreisen. Über den Vorgang des Schreibens selbst sagt die Autorin: „Manches Mal ist es einfach, dann wieder dauert es eine Weile, da trage ich das vielleicht mit mir herum, und nach und nach ‚kommt es’.“330 Das Versmaß wählte die Lyrikerin intuitiv. „Das kommt von selbst. Das findet sich sozusagen“,331 gibt sie Einblick in ihre Schreibpraxis.332 Stella Rotenberg, die Zeit ihres Lebens abseits vom Kultur- und Literaturbetrieb stand, verfasste ihre Gedichte zunächst ausschließlich für sich selbst; erst nach Jahren

323 „Erinnere dich“, in: Rotenberg, Quell, 47. 324 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 325 Vgl. Müller-Kampel, Gespräch, 169. Der Westfeldzug der „Deutschen Wehrmacht“ begann am 10. Mai 1940 und endete am 22. Juni 1940 mit der Niederlage Frankreichs. Vgl. Zentner, Christian – Bedürftig, Friedemann (Hg.): Das große Lexikon des Zweiten Weltkriegs, München 1988, 196. 326 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 327 Vgl. Müller-Kampel, Gespräch, 169. 328 Rotenberg, Quell, 69. 329 Vgl. Müller-Kampel, Gespräch, 169. 330 Ebd., 173. 331 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 332 Zu den Reimschemata und sprachlichen Stilmitteln in der Lyrik Stella Rotenbergs siehe Somer, Manfred: Der lange Weg nach Hause. Holocaust und Exil in Stella Rotenbergs Lyrik, Dipl. Arb. Graz 2004, 42–63. 60 dachte sie an eine Veröffentlichung. Die erste Person, der sie ihre lyrischen Werke zeigte, war ihr Ehemann. Der Welt der deutschsprachigen Literatur war Wolf Rotenberg jedoch aus zweierlei Gründen kaum zugänglich: „Ich hab’s ihm schon gezeigt, aber er war nicht so für’s Gedichte lesen. Er war nicht für’s Deutsche“,333 erinnert sich die Lyrikerin heute. Großteils in den 1980er Jahren entstanden neben den Gedichten auch zwei Prosazyklen mit den Titeln „Als meine Mutter…“ und „Ungewissen Ursprungs“.334 Während Stella Rotenberg im ersten Zyklus eine imaginäre Kindheit und Jugend ihrer Mutter in einem fiktiven Dorf in der Habsburgermonarchie entwirft – gleichsam als „Suche nach einer zerbrochenen Vergangenheit und zerbrochenen Erinnerung“335 – gibt sie im zweiten Zyklus in Form von autobiographischen Skizzen Einblick in prägende Momente ihres Lebens. Der Literatin selbst erscheinen ihre Prosatexte zugänglicher als ihr lyrisches Werk: „Ich bin eigentlich mit den Geschichten mehr zufrieden als mit den Gedichten. Die Geschichten sind mittelmäßig. Ich kann doch nicht schreiben wie Thomas Mann schreibt. Die Geschichten denke ich mir, na ja, das geht, das ist ein Bücherl. Wenn einer das kauft, ist das kein Malheur. Muss er sich nicht kränken, dass er Geld ausgegeben hat. […] Bei den Gedichten bin ich nie sicher.“336 Dennoch sind es gerade die Gedichte Stella Rotenbergs, die ihre Gefühle und Gedanken in einer Prägnanz widerspiegeln, die Prosatexte kaum zu erreichen vermögen. In ihrer Lyrik fokussiert sie die Erinnerung an die Shoa, eng verschmolzen mit ihrem eigenen Schicksal, in ebenso klaren und eindringlichen wie plastisch anmutenden, die Schrecken der Verfolgung hautnah aufzeigenden Worten. In Stella Rotenbergs Lyrik wird die Geschichte, das längst Vergangene wieder unmittelbar. Auch wenn die Katastrophe der Shoa letztlich unsagbar337 bleibt, so versucht sie dennoch Worte zu finden – andernfalls bliebe nur das Schweigen, ein Schweigen, das jegliche Erinnerung verschüttet. Unbewusst setzte sie damit auch ein Zeichen gegen Theodor Adornos338 Verdikt, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Indem Stella Rotenberg das Barbarische beim Namen nennt, verleiht sie den Millionen von Opfern ein letztes Gehör: „Schreibt es nieder, / Brüder, schreibt es nieder“, lässt sie einen polnischen Rabbiner im Moment seiner Verschleppung flüstern. Obgleich sie um die Grenzen der Lyrik weiß, folgt sie seinem Auftrag: „Keiner kehrt wieder. / Dennoch schreibe ich.“339

333 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 334 Vgl. Bolbecher, Siglinde: Nachwort, in: Rotenberg, Stella: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher, Wien 1997, 83–91; 84. 335 Wallas, Armin A.: „Dennoch schreibe ich“ – Eine Annäherung an das literarische Werk von Stella Rotenberg, in: Kucher, Primus-Heinz – Wallas, Armin A. (Hg.): Stella Rotenberg. Scherben sind endlicher Hort. Ausgewählte Lyrik und Prosa (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte 6), 179–186; 185. 336 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 337 Vgl. Das Gedicht „Auschwitz“: „Das Unsagbare, / wie sag ich es – / das Undenkbare, / wie denk ich es […]“. Rotenberg, Quell, 46 338 Vgl. Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft (Gesammelte Schriften 10/1), Frankfurt 1977, 30. Vor allem unter dem Eindruck der Gedichte von Paul Celan und Nelly Sachs nahm Adorno seine 1949 getane Äußerung im Jahr 1966 wieder zurück. Vgl. Gruber, Exil, 130 und Müller, Exil, 30. 339 Aus dem Gedicht „Prolog“, in: Rotenberg, Quell, 49. 61

Insgesamt umfasst Stella Rotenberg lyrisches Œuvre etwa 200 Gedichte. „Ich glaube, ich hätte vielleicht mehr und besser geschrieben, wenn es nicht England wäre“,340 so die Autorin zu ihrer Trennung vom deutschen Sprachraum. In ihrem Gedicht „Der Dichter im Exil“ verleiht die gebürtige Wienerin ihrer sprachlichen Isolation auch poetisch Ausdruck. Auszugsweise heißt es darin: „Aus Verdämmerndem klaube ich Scherben / von Silben zu Wörtern heraus. / Das sind noch gesegnete Tage. / Scherben sind endlicher Hort.“341 Stella Rotenbergs Sprache ist gekennzeichnet von einer Konzentration auf das Wesentliche; Schnörkel und Verklausulierungen sind ihr fremd. Knapp und schlicht, jedoch in immenser Verdichtung präsentieren sich ihre lyrischen Texte.342 Gerade ihr reduktionistischer Stil mit „parallelen Satzkonstruktionen und sich wiederholenden Mustern“343 lassen ihre Botschaft umso mehr hervortreten. Rotenbergs Gedichte wollen verständlich sein und sind es. „Auf jeden Fall meine ich, daß ein Autor, der an die Öffentlichkeit tritt, auch die Pflicht hat, verständlich zu sein“,344 so die Lyrikerin. Nur wer verstanden wird, kann wachrütteln, den eigenen Anliegen Gehör verschaffen. Konstantin Kaiser, der gemeinsam mit Siglinde Bolbecher wesentlich zur Bekanntmachung Stella Rotenbergs in Österreich beigetragen hat, illustriert den kargen, jedoch meisterhaften Stil der Exilliteratin mit folgenden Worten: „Stella Rotenbergs Lyrik und Prosa stellen sich nie auf die Zehenspitzen, wollen nie dramatischer und größer tun, als sie sind. In der Schlichtheit ihrer Zeilen verbirgt sich ihre Kunst – die ganze Fülle der Reflexion, der Kenntnis, Übung, all der Voraussetzungen, ohne die jene Schlichtheit nicht möglich wäre.“345 Erst mehr als drei Jahrzehnte nachdem das erste Gedicht entstanden war, entschied sich Stella Rotenberg zur Veröffentlichung ihrer Lyrik, allerdings nicht in Österreich, sondern bei einem deutschsprachigen Verlag in . Dort erschien 1972346 ihr erster Lyrikband „Gedichte“347. Sie erinnert sich: „Ich habe irgendwie erfahren, es gibt einen Verleger in Israel, der deutsch verlegt. Das war ein Dr. Gold348. Ich habe an ihn geschrieben, und er hat zurück geschrieben, ja er verlegt deutsch. Ja, er würde meine Gedichte gerne [publizieren], aber ich muss es selber bezahlen. Ich weiß nicht, ob ich alles bezahlt habe, ich glaube, er hat etwas beigesteuert.“349 Unter finanzieller Beteiligung ihres Mannes, Wolf Rotenberg, konnte der erste Band ihres Werkes schließlich veröffentlicht werden.350

340 Interview Rotenberg, 6.7.2009. 341 Rotenberg, Quell, 142. 342 Vgl. Wallas, „Dennoch schreibe ich“, 185. 343 Gruber, Exil, 113. 344 Brief Stella Rotenbergs an Doris Gruber, 4.11.1997, zit. n. Gruber, Exil, 114. 345 Kaiser, Konstantin: Das unsichtbare Kind: Stella Rotenberg. Zur späten Entdeckung einer bedeutenden Lyrikerin, in: Kaiser, Konstantin: Das unsichtbare Kind. Essays und Kritiken, Wien 2001, 122–125; 125. 346 Vgl. Müller-Kampel, Emigranten, 206. 347 Vgl. Rotenberg, Stella: Gedichte, Tel Aviv o.J. 348 Es handelt sich um den 1895 in Wien geborenen Historiker Dr. Hugo Gold. Vgl. Kaiser, Konstantin: Stella Rotenberg, in: Mit der Ziehharmonika, 6/4 (1989), 9. 349 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 350 Vgl. Interview Rotenberg, 4.7.2009. 62

Ende der 1970er Jahre ging die gebürtige Wienerin schließlich trotz aller Vorbehalte auf den Vorschlag ein, ihre Gedichte auch in Deutschland und Österreich zu publizieren, „denn wohin denn sonst mit den Gedichten, wenn nicht nach Österreich oder Deutschland?“351 1978 erschien in Darmstadt die Gedichtanthologie „Die wir übrig sind“352; 1991 wurde in Wien – und damit zum ersten Mal in ihrem Herkunftsland – die Lyrik- und Prosasammlung „Scherben sind endlicher Hort“353 veröffentlicht; 1997 kam ebenfalls in Wien der Prosaband „Ungewissen Ursprungs“354 heraus; in Klagenfurt erschien 1999 die deutsch- englischsprachige Anthologie „Meine wahre Heimat / My true Homeland“355 mit ausgewählten Gedichten von Stella Rotenberg und der Auschwitz-Überlebenden Tamar Radzyner; 2003 wurden in Edinburgh die ebenfalls zweisprachige Lyrikanthologie „Shards“356 sowie in Wien eine Gesamtausgabe ihrer Gedichte mit dem Titel „An den Quell“357 veröffentlicht. Im Jahr 1975 besuchte die Exilautorin zum ersten Mal nach ihrer Flucht ihre Geburtsstadt Wien.358 Ein Leben in Österreich war für sie jedoch unvorstellbar: „In England leben potentielle, aber hier leben tatsächliche Mörder. [...] Natürlich würde ich gerne hier leben, aber ich kann’s nicht.“359 Es sollten noch mehr als 15 Jahre vergehen, ehe Stella Rotenberg in Wien erstmals aus ihrem Werk las: Es war im Herbst 1991 anlässlich der Vorstellung ihres dritten Buches, „Scherben sind endlicher Hort“.360 Zahlreiche weitere Lesungen in mehreren Bundesländern folgten. Spät wurden Stella Rotenberg auch öffentliche Ehrungen zuteil. Als „eine der bedeutendsten Repräsentantinnen der österreichischen Exilliteratur“361 erhielt sie 1996 das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. In ihren Dankworten bezog sich die Lyrikerin auf ihr Gedicht „Ungewissen Ursprungs“362, in dem sie ihre „Heimat“- und damit auch Vergangenheitslosigkeit mit den Worten „Ich bin unbestätigte Vergangenheit“ auf den Punkt brachte. Dies sollte sich für sie anlässlich der Ehrung durch die Republik Österreich in folgender Weise ändern: „Man hat eigentlich den Juden die Vergangenheit genommen. Diese Auszeichnung gibt mir ja eigentlich eine gewisse Vergangenheit zurück. [...] heute ist mir meine Vergangenheit bestätigt

351 Vgl. Müller-Kampel, Emigranten, 206. 352 Vgl. Rotenberg, Stella: Die wir übrig sind, Darmstadt 1978. 353 Vgl. Rotenberg, Stella: Scherben sind endlicher Hort. Ausgewählte Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Primus-Heinz Kucher und Armin A. Wallas (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte 6), Wien 1991. 354 Vgl. Rotenberg, Ungewissen Ursprungs. 355 Vgl. Rotenberg, Stella – Radzyner, Tamar: Meine wahre Heimat / My true Homeland. Ins Englische übersetzt von Herbert Kuhner. Mit einem Vorwort von Armin A. Wallas (Edition Mnemosyne 8), Klagenfurt 1999. 356 Vgl. Rotenberg, Stella: Shards. Translated by Donal McLoughlin & Steven Richardson, Edinburgh 2003. 357 Vgl. Rotenberg, Quell. 358 Vgl. Willgruber, Gedichte, 15 und Hackl, Erich: Leben im Wort, in: Der Standard, 21.4.2001, Beil. Album. 359 Stella Rotenberg, in: Willgruber, Gedichte, 15. 360 Vgl. Bolbecher, Es sind die Gejagten, 15. 361 Bolbecher, Siglinde: Laudatio für Stella Rotenberg, in: Mit der Ziehharmonika 13/4 (1996), 7–9; 7. 362 Vgl. Rotenberg, Quell, 72. 63

worden. Heute gehöre ich doch zu der Vergangenheit Österreichs. [...] Eine Vergangenheit haben heißt: meine Vergangenheit ist bestätigt.“363 Im Jahr 2001 erhielt Stella Rotenberg zudem den erstmals verliehenen Theodor-Kramer- Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. Mit diesem Preis versuchte die Theodor- Kramer-Gesellschaft ein Zeichen zu setzten, „dass in Österreich nicht alles in eine Richtung verläuft, dass dies ein Land mit seinem Widerspruch ist und im Widerspruch und im Ringen mit sich selbst auch weiterschreitet“.364 2002 wurde der Literatin auch eine britische Auszeichnung zuteil: In diesem Jahr wurde ihr das Ehrendoktorat für Literatur der Heriot Watt University in Edinburgh verliehen.365 „Ich war so überrascht, als der Brief gekommen ist. Ich habe das nicht erwartet“, gesteht Stella Rotenberg. Und sie fügt hinzu: „Es war eine schöne Verleihung“.366

363 Rotenberg, Stella: Ein paar Worte über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Mit der Ziehharmonika 13/4 (1996), 8. 364 Theodor-Kramer-Preis für Rotenberg: Schreiben im Exil, in: Wiener Zeitung, 11.4.2001, 10. 365 Vgl. Müller-Kampel, Emigranten, 206. 366 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 64

3. Zur Rezeption biblischer Bezüge in ausgewählten Gedichten Stella Rotenbergs

„Die Bibel zu lesen ist ein reines Vergnügen.“367 Stella Rotenberg

Dass die Bibel Literatur – vielmehr Weltliteratur – ist, daran besteht für Stella Rotenberg kein Zweifel. „Unerreichbar“ – mit diesem Prädikat unterstreicht sie die herausragende Bedeutung, die den biblischen Schriften in der Übersetzung Martin Luthers für sie zukommt. Diese Wertschätzung der biblischen Schriften hat auch Eingang in ihre Lyrik gefunden. In insgesamt zehn Gedichten368 nimmt Stella Rotenberg in unterschiedlicher Intensität auf alttestamentliche Texte, Themen, Gattungen oder Figuren Bezug. In drei weiteren Gedichten369 setzt sich die Lyrikerin zudem mit der Frage nach Gott angesichts der Shoa auseinander. Zwei ihrer Gedichte haben – neben zahlreichen weiteren, die explizit die Shoa thematisieren – das Judentum und seine Leidensgeschichte zum Thema.370 Mit ihrer Bezugnahme auf biblische Stoffe steht Stella Rotenberg in enger Resonanz mit anderen Exilliteratinnen und -literaten wie Hilde Domin, Rose Ausländer, Paul Celan oder Erich Fried. Auch wenn ihr deren Werke kaum bekannt waren, so ließ das gemeinsame Schicksal die Verfolgten doch in vielerlei Hinsicht – trotz aller Unterschiedlichkeit – ein gemeinsames Sprachrepertoire finden, das es ihnen ermöglichte, das Erlebte und Erlittene zumindest ansatzweise in Worte zu fassen. Die Lyrik der Dichterinnen und Dichter im Exil wurde zu einer essentiellen Ausdrucksform ihres Schicksals, dem sie nicht zuletzt mit den Worten der Bibel besondere Prägnanz verliehen.

3.1 Die Bibel als Bezugsrahmen der Lyrik Stella Rotenbergs

Stella Rotenberg wuchs in einem äußerst assimilierten Elternhaus auf, in dem die jüdische Religion kaum eine Rolle spielte. Mit der Bibel wurde sie nicht in der Familie, sondern erst durch den schulischen Religionsunterricht vertraut. „Wir waren eigentlich weder noch: Wir waren keine Christen, und wir waren eigentlich auch keine Juden“,371 resümiert sie rückblickend. Stella Rotenberg lernte die Bibel allein in der Übersetzung Martin Luthers kennen, die sie bis heute wegen ihrer sprachlichen Ausdruckskraft überaus wertschätzt. „Es

367 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 368 Vgl. „Ein Mann sinnt“, „Passahfest 1944“, „Das Gewissen der Welt“, „Lass mein Volk ziehen“, „Heimatlos“, „Die Leidtragenden“, „Kain“, „Der Aussätzige“, „Eine Hagar“ und „Bejahung“. Vgl. Rotenberg, Quell, 40, 56, 61f., 81, 84, 108, 119, 131, 161. 369 Vgl. „Transport nach Treblinka“, „Drei Sternchen“ und „Die schwerste Strafe“. Vgl. Rotenberg, Quell, 60, 113, 155. 370 Vgl. „Am Jisrael Chai! (Das Volk Israel lebt!)“ und „Sagt man“. Vgl. Rotenberg, Quell, 71, 73. 371 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 65 ist so herrlich – die Sprache. Wenn Sie es lesen, es ist richtig wundervoll“,372 schwärmt die Autorin. Jüdische Übersetzungen sowie Talmud und Midraschim waren und sind der Dichterin unbekannt. Als assimilierte Wiener Jüdin war ihr auch Jiddisch kaum vertraut. „Manchmal verstehe ich es schon. Aber bei uns zuhause hat man so gesprochen wie ich spreche oder so Wiener Deutsch“,373 erinnert sich die Exilsdichterin. Ihre Erziehung bezeichnet sie als sehr liberal und nicht-religiös. Einzig zum Neujahrsfest besuchte ihre Mutter eine Synagoge. Dass sie der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte, war Stella Rotenberg jedoch seit ihrer frühesten Jugend stets bewusst, denn seit in ihrer Kindheit war sie, wie bereits dargestellt, immer wieder mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert.374 Ihr Jüdin-Sein erlebte sie infolgedessen zunächst als negative Identifikation: „Was ich bin? Eine Jüdin, sonst gar nichts. Hitler hat mich zur Jüdin gemacht. Engländerin? England hat mir die Staatsbürgerschaft gegeben.“375 Das Judentum sieht sie weder zionistisch noch religiös,376 sondern als moralische Instanz der Menschheit. Besonders im Dekalog (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21), für sie Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens, sieht sie diese moralische Kraft des Judentums verwirklicht: „Es ist sozusagen eine Regel: Ihr müsst euch so benehmen, sonst kommt ihr alle um. Stimmt ja auch. Wenn jeder jeden totschlagen kann, dann bleibt ja keiner. Die Juden sind ja nicht bessere Menschen als andere. Sie sind genauso schlecht wie alle anderen. Aber sie haben eigentlich eine Botschaft: Ihr müsst euch benehmen, ihr müsst Regeln haben, sonst kommt ihr um.“377 Stella Rotenberg sieht in der moralischen Kraft des Judentums den Anlass, der Jüdinnen und Juden in Konflikt mit ihrer Umwelt bringt. Prägnant bringt sie diese Botschaft in ihrem 1973 entstandenen Gedicht „Das Gewissen der Welt“ unter Rückgriff auf zentrale Themen des Dekalogs und auf soziale Gebote aus dem Buch Levitikus (vgl. Lev 19,11–18) zum Ausdruck. Auszugsweise heißt es hierin: „Sie haben sich unterfangen / zu verlangen / daß man das Morden lasse, / den Feind nicht hasse – […] daß man den Nachbarn ehre, / sein Hab nicht begehre – […] daß man alles Leben pflege / und seinen Nächsten hege. / Sie sind nicht beliebt, / die Juden…“.378 Wie ihr Vorbild Thomas Mann versteht Stella Rotenberg die Zehn Gebote als „universales Grundgesetz der Menschheit“379: „Ich meine, die Gesetze gelten für alle Menschen, ob sie schwarz sind oder weiß oder was immer. Wenn Menschen miteinander leben wollen, müssen sie die Gesetze […] einhalten.“380 Als moralische Leitinstanz von Hitler

372 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 373 Ebd. 374 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 375 Bolbecher, Es sind die Gejagten, 15. 376 Vgl. ebd. 377 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 378 Rotenberg, Quell, 61. 379 Köckert, Matthias: Die Zehn Gebote (Beck’sche Reihe 2430), München 2007, 9. 380 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 66 und den Nationalsozialisten verachtet, griff Thomas Mann im amerikanischen Exil die Thematik auf und verfasste 1943 eine Novelle über Mose und die Zehn Gebote, die in der englischsprachigen Version mit den Worten des ersten Gebots „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ betitelt war und auf Deutsch ein Jahr später in Stockholm unter dem Titel „Das Gesetz“381 erschien. Als „Fels des Anstandes“ und „A und O des Menschenbenehmens“382, das nicht nur an Israel gerichtet sei, sondern für alle Menschen Gültigkeit besitze, stellte Thomas Mann den Dekalog der barbarischen nationalsozialistischen Ideologie entgegen.383 In „Das Gewissen der Welt“ geht Stella Rotenberg jedoch über den Dekalog noch hinaus. Gekonnt verbindet die Lyrikerin in diesem Gedicht die ethischen Forderungen der Zehn Gebote, die sich, wie etwa Frank Crüsemann festgestellt hat, an freie, erwachsene, grund- und viehbesitzende Männer, die rechts- und kultfähig sind,384 wenden und damit Frauen, Kinder und sozial unterprivilegierte Gruppen nicht in den Blick nehmen, mit der im Buch Levitikus im Rahmen des „Heiligkeitsgesetzes“ (Lev 17–26) geforderten universalen Nächstenliebe. Diese gilt sowohl Volksangehörigen als auch Fremden (Lev 19,18.34).385 Durch die Verknüpfung dieser zentralen Texte der Hebräischen Bibel gelingt es Stella Rotenberg, ihrem Anliegen eines friedlichen Miteinanders besonderen Nachdruck zu verleihen, wenngleich ihre Hoffnung auf Verwirklichung eine geringe ist: „Mose hat tatsächlich einen Idealzustand beschrieben, wie sie [die Menschen] sein sollten. […] Bei einem kann es vielleicht nützen, aber der eine?“386

3.1.1 Zum Gottesbild Stella Rotenbergs Obgleich nicht religiös sozialisiert, geht Stella Rotenberg in einigen ihrer Gedichte auch der Gottesfrage, eng verbunden mit der Theodizee, der Frage nach dem Ursprung des Leids in

381 Vgl. Mann, Gesetz. 382 Ebd., 157. 383 Vgl. Köckert, Gebote, 8. Zur Rezeption der Mosefigur und des Dekalogs durch Thomas Mann siehe auch Wallas, Armin A.: Gesetz – Weisung – Weisheit, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 22000, 318–357; 333– 336. 384 Vgl. Crüsemann, Frank: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, Gütersloh 21998, 28. Norbert Lohfink spricht dagegen von einer besonderen, herausgehobenen Position des Dekalogs in der Sinaiperikope und im Buch Deuteronomium, wodurch dieser besonderes Gewicht erhalte. Vgl. Lohfink, Norbert: Kennt das Alte Testament einen Unterschied von „Gebot“ und „Gesetz“? Zur bibeltheologischen Einstufung des Dekalogs, in: Lohfink, Norbert (Hg.): Studien zur biblischen Theologie (SBA 16), Stuttgart 1993, 206–238. Siehe dazu auch Graupner, Axel: Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik. Anmerkungen zum gegenwärtigen Stand der Forschung, in: Reventlow, Henning Graf (Hg.): Weisheit, Ethos und Gebot. Weisheits- und Dekalogtraditionen in der Bibel und im frühen Judentum, Neukrichen-Vluyn 2001, 61–95; 91–95. 385 Lev 19 beschränkt sich jedoch nicht auf das Gebot der Nächstenliebe, sondern umfasst ebenso die Gottesfurcht. Dem Doppelgebot der Gottesfurcht und Nächstenliebe in Lev 19 kommt „als abschließende Zusammenfassung der Willensoffenbarung des Gottes Israels am Sinai“, eine herausragende Bedeutung zu. Vgl. Köckert, Matthias: Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament (FAT 43), Tübingen 2004, 163–166. 386 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 67 der Welt angesichts eines guten Gottes, nach. Als „Gott der Schriftsteller“ hat Paul Konrad Kurz die spezifische Gottesannäherung Literaturschaffender im 20. Jahrhundert charakterisiert. Dieser Definition gemäß geht es in literarischen Gottesbezügen mehr um einen „Gott der Erfahrung als um einen Gott der Lehre“387; persönliche Lebenserfahrungen stehen vor Lehr- und Glaubenssätzen. Besonders die Frage der Theodizee ist seit Auschwitz ein drängendes Thema der modernen Literatur.388 Nach Gott zu fragen ist für Stella Rotenberg immer auch die Frage nach dem Warum, nach Gott angesichts der Shoa und vor allem Klage und Anklage gleichermaßen. In Anlehnung an die biblischen Klagepsalmen formuliert sie etwa in ihrem Gedicht „Heimatlos“: „Herr, du hast uns keinen Frieden zugedacht / uns Heimatlosen. Mit leergeweinten Augen starrn wir in die Nacht […] Du mußt büßen, büßen…“389 Anders als in den Klagepsalmen390 – mit Ausnahme des Psalms 88391 – erfolgt für die Beterin im Laufe des gebetsähnlich gestalteten Gedichts keine positive Wende, kein Lobpreis Gottes, kein Dank für die Errettung aus der Bedrohung. Das Leid dauert fort, der Verlust der „Heimat“ ist unwiderruflich und lebenslänglich. Auch in Gott findet die Dichterin keine „Heimat“. „Warum hat Gott nicht nach euch gefragt?“392 – erhebt Stella Rotenberg in ihrem Gedicht „Transport nach Treblinka“ Anklage im Namen der unzähligen Opfer. Die Antwort bleibt jedoch offen, das Gedicht endet mit dieser Frage, die eine Gleichgültigkeit Gottes angesichts der Shoa impliziert. Das Rechten mit Gott geht in „Die schwerste Strafe“ über die Theodizeefrage noch hinaus. In diesem Gedicht macht Stella Rotenberg Gott zum strafenden Akteur, der das Leid der Menschen nicht nur mitansieht, sondern selbst herbeiführt: „Gott wog in den Händen die Strafen / wie ein Kämpfer die Waffen wägt. / Dann lächelte er mit List / und hieß uns: Voneinanderstieben. / Denn die schwerste Strafe ist: / getrennt zu sein von jenen, die wir lieben.“393 Hiermit greift die Autorin – ob bewusst oder unbewusst – eine der beiden Extrempositionen theologischer Erklärungsmuster auf, die die Erwählung Israels durch einen gütigen Gott mit der Vernichtung des jüdischen Volkes in der Shoa zu verbinden versuchen: das „Sünde-Strafe-Schema“, wenngleich das Thema „Sünde“ bei Stella Rotenberg unerwähnt bleibt. Diesem Erklärungskonzept stehen „radikale Gott-ist- tot-Theologien“ als entgegengesetzter Pol gegenüber.394

387 Kurz, Paul Konrad: Gott in der modernen Literatur, München 1996, 244. 388 Vgl. Kurz, Gott, 237. 389 Rotenberg, Quell, 81. 390 Die Klagelieder des Psalters bestehen in der Regel aus folgenden Grundelementen: Invocatio – Klage – Bitte – Vertrauensäußerung – Schuld-/Unschuldsbekenntnis – Lobgelübde. Vgl. Janowski, Bernd: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 41. 391 Zu den Besonderheiten des 88. Psalms siehe Janowski, Konfliktgespräche, 231–250. 392 Rotenberg, Quell, 60. 393 Ebd., 155. 394 Vgl. Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Gottesbilder in säkularer Holocaust-Literatur. Theologien der Schoa und Aharon Appelfelds Die Eismine, in: Judaica 4 (1998), 231–246; 236. 68

„Ich beklage mich bei ihm, dass er uns schlecht behandelt“, expliziert die Dichterin. Und im Blick auf die Gestalt des Ijob (vgl. Ijob 1f.) fügt sie hinzu: „Er hat ihm ja alles genommen. Ich will nicht, dass man dem Menschen etwas nimmt. Man soll die Menschen leben lassen.“395 Wenngleich Stella Rotenberg in einigen ihrer Gedichte Gott direkt oder indirekt als strafenden oder anteilnahmslosen Gott anspricht und anklagt, ist ihr Gott außerhalb ihrer Lyrik kein Ansprechpartner, kein persönliches Gegenüber, dem sie sich im Gebet klagend oder rechtend zuwendet. Das Leben selbst nimmt für sie den Stellenwert der Gottheit ein: „Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott. Aber an die Schöpfung glaube ich, ja. Ich weiß, das ist alles von der Sonne. Wenn heute die Sonne untergeht, stirbt die Erde.“396 So wie das Leben für sie keine religiöse Komponente im Sinne eines göttlichen Schöpfungswerkes besitzt, so auch der Tod nicht. „Ich glaube, der Tod ist endgültig“, sagt Stella Rotenberg. Allein in der Erinnerung leben Verstorbene für sie weiter – freilich ist auch dieses Gedenken von begrenzter Dauer: „[…] und wir die trauern / halten ein blasses Bild / im bleichenden Gedächtnis. / Dieses gilt / – vielleicht – / noch bis an unser Ende. / So / weit / reicht / Unsterblichkeit.“397

395 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 396 Ebd. 397 Auszug aus „Gesang (für C.)“, in: Rotenberg, Quell, 176. 69

3.2 „Von Anfang her, ein wildes Tier“ – Überlegungen zur Rezeption der Kainsfigur

In der Literatur des 20. Jahrhunderts wurde kaum ein biblisches Motiv so häufig und facettenreich aufgegriffen wie der Mord Kains an seinem Bruder Abel (Gen 4)398 – die erste Gewalttat in der biblischen Menschheitsgeschichte. Als paradigmatische Schilderung dessen, wozu der Mensch fähig ist – seinem Nächsten Gewalt anzutun – besitzt die biblische Geschichte zu allen Zeiten Aktualität. Gerade angesichts der Shoa griffen jüdische Autorinnen und Autoren verstärkt auf das Motiv des biblischen Brudermordes zurück, um das unsagbare Leiden des europäischen Judentums ansatzweise in Worte fassen zu können.399 Auch Stella Rotenberg bewegte die biblische Erzählung, insbesondere die Frage nach der Figur des Kain, der sie ein gleichnamiges Gedicht widmete. Diesem soll – ausgehend von exegetischen Annäherungen an Gen 4,1–16 und einen Einblick in die Rezeptionsgeschichte des alttestamentlichen Kain-und-Abel-Motivs in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts – im Folgenden nachgegangen werden.

3.2.1 Zur biblischen Kain-und-Abel-Erzählung (Gen 4,1–16)

Als Teil der so genannten biblischen Urgeschichte des Buches Genesis (Gen 1,1–11,26) verweist die Erzählung über Kain und Abel nicht auf Historisches, einmal Gewesenes, sondern auf allgemein menschliche Grundphänomene. Die Erzählungen der Genesis stellen teils Ätiologien, teils Paradigmen menschlicher Verhaltensweisen, des Mensch-Seins überhaupt dar. Einerseits wollen sie die Anfänge menschlichen Verhaltens ergründen, andererseits immer wiederkehrende Muster aufzeigen. Erich Zenger hält zur Bedeutung der biblischen Urgeschichte-Texte resümierend fest: „Urzeit-Erzählungen erzählen nichts Einmaliges, sondern Erstmaliges als Allmaliges. Sie erzählen ‚was niemals war und immer ist’, sie decken auf, ‚was jeder weiß und doch nicht weiß’, und sie wollen helfen, mit diesem vor-gegebenen Wissen und Wesen das Leben zu verstehen. Ihre Helden und Antihelden sind keine historischen Figuren, aber sie sind durch und durch geschichtlich, weil jeder an ihnen teilhat.“400 Die Erzählung über Kain und Abel ist sowohl thematisch als auch strukturell aufs engste mit der Erzählung vom so genannten „Sündenfall“ (Gen 3) verbunden. Die Bezüge erweisen sich

398 Vgl. Motté, Magda: „Brudermord als abendländische Tradition“. Kain und Abel – Urmuster zwischenmenschlicher Konflikte, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 2: Personen und Figuren, Mainz 22000, 64–79; 64 und Gellner, Christoph: Wer machte dem Menschen das böse Blut? Kain und Abel in der Gegenwartsliteratur, in: Stimmen der Zeit (2006), 407–421; 407. 399 Vgl. etwa Gellner, Wer machte dem Menschen…, 409. 400 Zenger, Erich: „Das Blut deines Bruders schreit zu mir“ (Gen 4,10). Gestalt und Aussageabsicht der Erzählung von Kain und Abel, in: Bader, Dieter (Hg.): Kain und Abel – Rivalität und Brudermord in der Geschichte der Menschen, München 1983, 9–28; 11. 70 als so weitreichend, dass beide Texte eine „geschehensmäßige und theologische Einheit“401 bilden. Beide sind Geschichten über menschliche Schuld, in beiden handeln Menschen wider den Auftrag Gottes, in beiden wird ihre Verfehlung aufgedeckt, und beide enden mit dem Verlust der unmittelbaren Gottesgemeinschaft. In struktureller Hinsicht weisen die Erzählungen neben auffallend vielen Entsprechungen auch zum Teil wörtliche Übereinstimmungen auf. Folgende tabellarische Gegenüberstellung soll diese Bezüge, die ab Gen 2,4b einsetzen, veranschaulichen:402

Gen 2.3 Gen 4 2,4b–15 Exposition 4,1–5 Erschaffung der Welt und des Geburt Kains und Abels, ihre Menschen, der Garten Eden Opfergaben 2,16 Warnung 4,6f. Verbot, vom Baum der Warnung JHWHs an Kain Erkenntnis zu essen 3,1–7 Verbotene Tat 4,8 Essen der verbotenen Frucht Kain tötet Abel 3,9 1. Frage JHWHs: 4,9 „Wo bist du?“ Wo? „Wo ist Abel, dein Bruder?“ 3,13 2. Frage JHWHs: 4,10 „Was hast du getan?“ Was? „Was hast du getan?“ 3,14 Verfluchung 4,11 Verfluchung der Schlange Verfluchung Kains 3,15–19 Folge 4,12f. Folgen für Schlange, Frau und Folge für Kain Mann (und Einspruch Kains)

Gen 2 und 3 zeichnen die Entwicklung des Menschen beginnend von seiner Erschaffung durch Gott über sein Leben in Gemeinschaft mit diesem bis hin zu seinem Abfall vom Willen seines Schöpfers. Gen 4 setzt mit denselben, aus Gen 2.3 bereits bekannten handelnden Akteuren ein: dem ersten Menschenpaar, Adam und Eva. In Gen 4,1f. bewahrheitet sich, was in Gen 3,20 angekündigt wurde: Eva wird zur Mutter aller Lebendigen. Sie gebiert die ersten nicht von Gott geschaffenen Menschen, Kain und Abel. War mit Adam und Eva durch das Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse die Möglichkeit zur Sünde in die Welt gekommen, so wird diese in der Erzählung um die Brüder Kain und Abel erstmals Wirklichkeit.403 Der Mensch zeigt sich als Wesen, das nicht nur zu gottwidrigem Handeln fähig ist, sondern dieses auch in die Tat bzw. Untat umsetzt. Erich Zenger bringt den Zusammenhang der beiden Erzählungen wie folgt auf den Punkt: „Der Brudermord wurzelt im Abfall von Gott und offenbart diesen. […] Der gewalttätige Brudermörder-Mensch ist das ‚natur-notwendige‘ Kind des Gottesrebellen

401 Zenger, „Das Blut…“, 21. 402 Diese Tabelle ist – mit leichten sprachlichen Abwandlungen – dem Artikel von Heyden, Sünde, 103, entnommen. 403 Vgl. Heyden, Sünde, 104. 71

Adam.“404. Wie die biblische Urgeschichte das Drama vom Brudermord entfaltet, wird sich im Folgenden zeigen.

Text und Gliederung Als Grundlage der nachstehenden Ausführungen werden sowohl der masoretische Text als auch zwei Übersetzungen desselben dienen: Da sich Stella Rotenbergs Bibellektüre ausschließlich auf die Luther-Bibel bezieht, wird Gen 4,1–16 einerseits anhand dieser Übersetzung – konkret in der Fassung von 1912, die der Autorin höchstwahrscheinlich vorlag – wiedergegeben. Andererseits soll eine zeitgenössische Übertragung von Katharina Heyden als textliche Grundlage der folgenden exegetischen Annäherungen dienen.

BHS405 Luther-Bibel 1912406 Übersetzung Heyden407 Und Adam erkannte sein Weib Und Adam erkannte Eva, seine וְהָ ֣אָדָ֔ ם יָדַ ֖ ע אֶ ת־חַוָּ ֣ה אִשְׁתּ֑ וֹ 1 Eva, und sie ward schwanger Frau. Und sie wurde וַתַּ֨הַר֙ וַתֵּ ֣לֶ ד אֶ ַ֔ ת־קיִן וַ תֹּ֕ ֶ אמר und gebar den Kain und schwanger und gebar den sprach: Ich habe einen Mann Kain. Und sie sagte: Ich habe קָנִ֥ ִ יתי אִ ֖ ישׁ אֶ ְת־י ָ ֽהוה׃ gewonnen mit dem HERRN. einen Mann erworben mit Jahwes Hilfe. Und sie fuhr fort und gebar Und sie fuhr fort zu gebären וַ תֹּ֣סֶ ף לָלֶ֔דֶ ת אֶ ת־אָחִ ֖ יו 2 Abel, seinen Bruder. Und Abel seinen Bruder Abel. Und Abel אֶ ָ ת־ה֑בֶ ל וַ ֽ יְהִ י־הֶ֨בֶ ל֙ רֹ֣ עֵ ה צֹ֔ אן ward ein Schäfer; Kain aber war Kleinviehhirt, und Kain war .ward ein Ackermann. Landarbeiter וְקַ֕ יִן הָ יָ ֖ה עֹבֵ ֥ ד אֲדָמָ ֽ ה׃ Es begab sich nach etlicher Und es geschah nach einiger וַ ֽ יְהִ ֖ י מִקֵּ ֣ ץ יָמִ ֑ ים וַיָּבֵ֨ א קַ֜ יִן 3 Zeit, daß Kain dem HERRN Zeit, da brachte Kain von den מִפְּרִ ֧ י הָ ֽאֲדָמָ ֛ ה מִ נְחָ ֖ ה לַ ֽ ָ ֽיהוה׃ Opfer brachte von den Früchten der Erde eine Gabe Früchten des Feldes; dar für Jahwe. und Abel brachte auch von den Und auch Abel brachte von וְהֶ֨בֶ ל הֵבִ֥ יא גַ ֛ם־הוּא מִבְּ כֹר֥ וֹת 4 ,Erstlingen seiner Herde und den Erstlingen seiner Herde צ ֹ ֖ אנוֹ ֵ ֽוּמחֶלְבֵהֶ ֑ ן וַיִּ ֣שַׁ ע יְ ָ֔ הוה von ihrem Fett. Und der HERR und zwar von ihren sah gnädig an Abel und sein Fettstücken. Und Jahwe sah אֶ ֶ ל־ה֖בֶ ל וְאֶ ִ ל־מנְחָתֽ וֹ׃ Opfer; Abel und sein Gabe an. aber Kain und sein Opfer sah Aber Kain und seine Gabe sah וְאֶ ַ ֥ ל־קיִן וְאֶ ִ ל־מנְחָת֖ וֹ לֹ֣ א 5 er nicht gnädig an. Da er nicht an. Da entbrannte Kain שָׁעָ ֑ה וַיִּ ֤חַ ר לְקַ֨ יִן֙ מְ אֹ֔ ד וַ ֽ יִּפְּל֖ וּ ergrimmte Kain sehr, und seine sehr, und sein Gesicht fiel (in .(Gebärde verstellte sich. sich zusammen פָּנָ ֽיו׃ :Da sprach der HERR zu Kain: Und Jahwe sagte zu Kain וַ יֹּ֥ ֶ אמר יְ ָ הו֖ה אֶ ָ ֑ ל־קיִן לָ֚מָּ ה 6 Warum ergrimmst du? und Warum bist du entbrannt? Und חָ ֣רָ ה לָ֔ ְך וְלָ ֖מָּ ה נָפְל֥ וּ פָנֶ ֽיָך׃ warum verstellt sich deine warum ist dein Gesicht Gebärde? gefallen?

404 Zenger, „Das Blut…“, 22. 405 Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS), in: http://www.bibelwissenschaft.de/de/nc/online-bibeln/biblia-hebraica- stuttgartensia-bhs/lesen-im-bibeltext/bibelstelle/gen%204,1-16/anzeige/single/#iv, zuletzt abgerufen am 17.2.2010. 406 Luther-Bibel von 1912, in: http://www.bibel-online.net/buch/01.1-mose/4.html, zuletzt abgerufen am 15.2.2010. 407 Heyden, Katharina: Die Sünde Kains. Exegetische Beobachtungen zu Gen 4,1–16, in: BN 118 (2003), 85– 109; 85–102. 72

Ist's nicht also? Wenn du Ist es nicht so? Wenn du es gut הֲ ל֤ וֹא אִם־תֵּ ִיט ֙יב שְׂאֵ֔ ת וְאִם֙ 7 fromm bist, so bist du sein läßt, kannst du es לֹ֣ א תֵ ִ֔יטיב לַפֶּ ֖תַ ח חַטָּ ֣ את angenehm; bist du aber nicht ertragen. Wenn du es aber fromm, so ruht die Sünde vor nicht gut sein läßt, lagert er als רֹבֵ ֑ץ וְאֵ לֶ֨יָך֙ תְּשׁ֣ וּקָת֔ וֹ וְאַתָּ ֖ ה der Tür, und nach dir hat sie Anlaß zur Verfehlung. Und תִּמְשָׁ ֽל־בּוֹ׃ Verlangen; du aber herrsche doch ist zu dir hin sein über sie. Verlangen. Und du sollst über ihn hin walten. ,Da redete Kain mit seinem Und Kain sagte es zu Abel וַ יֹּ֥ ֶ אמר קַ ֖ יִן אֶ ֶ ל־ה֣בֶ ל אָחִ ֑ יו 8 Bruder Abel. Und es begab seinem Bruder. Es geschah וַ ֽ יְהִי֙ בִּהְ ָ ֣ יוֹתם בַּשָּׂדֶ֔ ה וַיָּ ֥ ָ קם sich, da sie auf dem Felde aber, als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain wider waren – da erhob sich Kain קַ ֛ יִן אֶ ֶ ל־ה֥בֶ ל אָחִ ֖ יו וַיַּהַרְ גֵ ֽהוּ׃ seinen Bruder Abel und schlug gegen Abel, seinen Bruder, ihn tot. und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Und Jahwe sagte zu Kain: Wo וַ יֹּ֤ ֶ אמר יְהוָה֙ אֶ ַ֔ ל־קיִן אֵ ֖ י הֶ ֣בֶ ל 9 Wo ist dein Bruder Abel? Er ist Abel, dein Bruder? Und er ֑ אָחִ יָך וַ יֹּ֨ אמֶר֙ לֹ֣ א יָדַ֔עְתִּ י sprach: Ich weiß nicht; soll ich sagte: Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter sein? denn der Hüter meines הֲ שֹׁמֵ ֥ ר אָחִ ֖ י אָ נֹֽכִ י׃ Bruders? Er aber sprach: Was hast du Und er sagte: Was hast du וַ יֹּ֖ ֶ אמר מֶ ֣ה עָשִׂ ֑ ָית ק֚ וֹל דְּמֵ ֣י 10 getan? Die Stimme des Bluts getan? Höre, das Blut deines אָחִ֔ יָך צֹעֲ ִ֥ קים אֵלַ ֖י deines Bruders schreit zu mir Bruders schreit zu mir von der !von der Erde. Erde מִ ָ ן־הֽאֲדָמָ ֽ ה׃ Und nun verflucht seist du auf Und nun: Verflucht seist du von וְעַתָּ ֖ ה אָר֣ וּר אָ ֑תָּ ה 11 der Erde, die ihr Maul hat der Erde, die ihren Mund מִ ָ ן־הֽאֲדָמָה֙ אֲשֶׁ ֣ ר פָּצְתָ ֣ ה aufgetan und deines Bruders aufgerissen hat, um das Blut Blut von deinen Händen deines Bruders aus deiner אֶ ִ֔ת־פּ ָיה לָ ַ ק֛חַ ת אֶ ת־דְּמֵ ֥ י .empfangen. Hand zu nehmen ֖ אָחִ יָך מִ יָּדֶ ֽ ָך׃ ,Wenn du den Acker bauen Wenn du die Erde bearbeitest כִּ ֤ י תַ ֽעֲ בֹד֙ אֶ ָ ת־ה֣אֲדָמָ֔ ה 12 wirst, soll er dir hinfort sein wird sie dir ihre Kraft nicht לֹֽ א־תֹסֵ ֥ ף תֵּ ת־כֹּחָ ֖ הּ לָ ְ֑ך נָ ֥ע וָנָ ֖ד Vermögen nicht geben. Unstet mehr geben. Schwankend und und flüchtig sollst du sein auf heimatlos wirst du auf der Erde תִּֽהְ יֶ ֥ה בָאָ ֽרֶ ץ׃ Erden. sein. :Kain aber sprach zu dem Und Kain sagte zu Jahwe וַ יֹּ֥ ֶ אמר קַ ֖ יִן אֶ ְל־י ָ הו֑ה גָּד֥ וֹל 13 HERRN: Meine Sünde ist Meine Sünde ist zu groß, als עֲ ִ וֹנ֖י מִ נְּ שֹֽׂ א׃ größer, denn daß sie mir daß ich sie ertragen könnte. vergeben werden möge. Siehe, du treibst mich heute Siehe, du hast mich heute הֵ ן֩ גֵּרַ ֨שְׁתָּ אֹתִ֜ י הַ יּ֗ וֹם מֵעַ ל֙ פְּנֵ ֣י 14 aus dem Lande, und ich muß vertrieben vom Angesicht der הָ ֽאֲדָמָ֔ ה וּמִפָּנֶ ֖יָך אֶסָּתֵ ֑ ר mich vor deinem Angesicht Erde und vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und werde ich mich verbergen. Und וְהָ יִ֜ ִ יתי נָ ֤ע וָנָד֙ בָּאָ֔רֶ ץ וְהָ יָ ֥ה flüchtig sein auf Erden. So wird schwankend und heimatlos bin כָ ל־מֹצְאִ ֖ י יַ ֽהַרְ גֵ ֽנִ י׃ mir's gehen, daß mich ich auf der Erde. Und es wird totschlage, wer mich findet. geschehen: Jeder, der mich findet, wird mich töten. :Aber der HERR sprach zu ihm: Und Jahwe sagte zu ihm וַ יֹּ֧ ֶ אמר ל֣ וֹ יְ ָ֗ הוה לָכֵן֙ כָּ ל־הֹרֵ ֣ ג 15 Nein; sondern wer Kain Darum: Jeder, der Kain קַ֔ יִן שִׁ בְעָתַ ֖ יִם יֻקָּ ֑ ם וַ יָּ֨שֶׂ ם יְ ָ הו֤ה totschlägt, das soll siebenfältig erschlägt – siebenfach soll er gerächt werden. Und der gerächt werden. Und Jahwe לְקַ֨ יִן֙ א֔ וֹת לְבִלְתִּ֥ י הַ כּוֹת־אֹת֖ וֹ HERR machte ein Zeichen an setzte Kain ein Zeichen, so כָּ ל־מֹצְאֽ וֹ׃ Kain, daß ihn niemand daß niemand ihn tötet, der ihn erschlüge, wer ihn fände. findet. Also ging Kain von dem Und Kain ging weg vom וַ יֵּ ֥צֵ א קַ ֖ יִן מִלִּפְנֵ ֣י יְ ָ הו֑ה וַיֵּ ֥שֶׁ ב 16 Angesicht des HERRN und Angesicht Jahwes. Und er wohnte im Lande Nod, jenseit wohnte im Land der בְּאֶ ֽרֶ ֖ץ־נוֹד קִדְמַ ֵ ת־עֽדֶ ן׃ Eden, gegen Morgen. Heimatlosigkeit, östlich von Eden.

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In der neueren Exegese werden exemplarisch folgende Gliederungsmodelle vertreten: In teilweiser Anlehnung an Lothar Ruppert408 gliedert Katharina Heyden die Perikope in fünf zwei Aspekte des Menschseins“ (V1f.), 2. „das Opfer“ (V3–5), 3. „die – הֶ֨בֶ ל und קַ ֖ יִן„ .Teile: 1 Warnung Jahwes“ (V5b–7), 4. „die Tat Kains“ (V8) und 5. „die Folgen“ (V9–16).409 Nach Bernd Janowski lässt sich folgendes viergliedriges Schema festmachen. 1. die „Exposition“ (V1f.), 2. der „Konflikt zwischen Kain und Abel“ (V3–8), 3. das „Verhör durch Jahwe“ (V9– 15a) sowie 4. „Kains Schutzzeichen und Niederlassung“ (V15b–16). Zudem führt Janowski folgende weitere Gliederungsebenen ein: Punkt 2 differenziert er in „Anlaß des Konflikts“ (V3–5), „Warnung Jahwes“ (V6f.) und „Tat Kains“ (V8). Ebenso formuliert er für Punkt 3 weitere Unterteilungen: „Beschuldigungsformel“ (V9), „Urteil Jahwes“ (V10–12), „Klage Kains“ (V13f.) und „Antwort Jahwes (15b–16).410 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Heydens und Janowskis Modell – unter Einbeziehung der Zwischenunterteilungen Janowskis – bis V8 völlig übereinstimmen. Während Heyden die V9–16 als einen großen, die Folgen von Kains Handeln umspannenden Teil denkt, differenziert Janowski hier zwei weitere Unterpunkte, die das Handeln JHWHs und Kains detaillierter betrachten. Diese Ausdifferenzierung erweist sich im Blick auf das Kainsgedicht Stella Rotenbergs jedoch als nicht relevant. Wie sich zeigen wird, bezieht sich die Autorin nicht auf die gesamte Perikope, sondern fokussiert explizit die Gestalt des Kain.

Einige exegetische Bemerkungen zu Gen 4,1–16 Die Geschichte um Kain und Abel ist nicht nur eine Geschichte zwischen zwei Brüdern, die zu Rivalen werden und in deren Verlauf der eine zum Mörder des anderen wird, sondern vielmehr eine „Dreiecksgeschichte“ mit JHWH als drittem Akteur. Obgleich sowohl Kain als auch Abel Gott ein Opfer als Liebeszeichen darbringen, sieht JHWH ohne ersichtlichen Grund nur auf das Opfer des einen und verschmäht das des anderen: „die klassische Ausgangssituation für ein Eifersuchtsdrama“411, wie Gabrielle Oberhänsli-Widmer die literarischen Implikationen der Genesis-Erzählung auf den Punkt bringt. Der Entfaltung dieses großen biblischen Dramas soll nun Schritt für Schritt nachgegangen werden. Die ersten beiden Verse erzählen von der Geburt der ersten nicht geschaffenen Menschen, der Brüder Kain und Abel. Die Lebensweitergabe bleibt aber nach wie vor mit der

408 Lothar Ruppert nennt folgenden dreigliedrigen Aufbau: 1. „die Exposition“ (V1f.), 2. „das Vergehen“ (V3–8) mit weiteren Unterteilungen in „das Opfer“ (V3–5), „Zwischenspiel: Warnung Kains durch Jahwe“ (V6f.) und „die Tat“ (V8), 3. „die Strafe bzw. Ahndung“ (4,9–16) mit Unterteilungen in „das Verhör“ (V9f.), „das Urteil“ (V11f.), „Kains Klage und Jahwes Antwort“ (V13–15) sowie „Vollzug der Strafe“ (V16). Vgl. Ruppert, Lothar: Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar. 1. Teilband: Gen 1,2–11,26, Würzburg 1992, 189–211. 409 Vgl. Heyden, Sünde, 85–102. 410 Vgl. Janowski, Bernd: Jenseits von Eden. Gen 4,1–16 und die nichtpriesterliche Urgeschichte, in: Kiesow, Klaus – Meurer, Thomas (Hg.): Textarbeit. Studien zu Texten und ihrer Rezeption aus dem Alten Testament und der Umwelt Israels. Festschrift für Peter Weimar, Münster 2003, 267–284; 269–271. 411 Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Das Böse an Kains Tür: Die Erzählung von Kain und Abel in der jüdischen Literatur, in: Kirche und Israel 19 (2004), 164–181; 168. 74 göttlichen Sphäre verbunden, wie die Erklärung des Namens Kain durch die Mutter zeigt: „Ich habe einen Mann erworben mit JHWHs Hilfe“. Ihre Namenserklärung ist ein Jubel- und Dankesruf, vergleichbar dem „Bräutigamsjubel“ in Gen 2,23.412 Formuliert ist er so, dass sich daraus der Name des Kindes ableiten lässt. Bereits August Dillmann nahm an, dass dem .“zwei Bedeutungen zukommen: „hervorbringen, erschaffen“ und „erwerben קנה Verb Demnach bestehen zwei Übersetzungsmöglichkeiten: „Hervorgebracht, erschaffen oder erworben habe ich einen Mann“.413 Mercedes Navarro Puerto hat jüngst in Anlehnung an Spr 8,22 für die Übersetzungsvariante „geformt“, „erschaffen“ votiert.414 In der Forschungsgeschichte wurden für die beiden Bedeutungen „erwerben“ und „erschaffen“ auch zwei verschiedene Wurzeln angenommen. So führte Umberto Cassuto ,die im Arabischen „gestalten, formen, bilden“ bedeutet ,קין den Namen Kain auf die Wurzel nicht קין zurück und verwies auf ugaritische Parallelen. Seiner Ansicht nach korrespondiert Der Interpretation Cassutos hat sich in der jüngeren Exegese 415.קנה mit der Wurzel Katharina Heyden angeschlossen. Für sie bedeutet der Name „Kain“ ebenfalls „geformtes Wesen“.416 Gesichert ist, dass der Name Kain auf eine Wurzelbedeutung zurückgeht, die im Zusammenhang mit der Metallbearbeitung steht. Endgültig klären lässt sich seine Bedeutung aber wohl nicht: „Wir haben es in 4 2–16 mit einem Personennamen zu tun, dessen unmittelbare Bedeutung für uns nicht mehr zugänglich ist. Was von diesem Kain gesagt wird, kann allein aus der Erzählung 4 2–16 entnommen werden.“417 Hauch, Windhauch“ – kommt in V2 neben der„ – (הֶ֨בֶ ל) Mit dem Namen Abel Geschöpflichkeit eine zweite entscheidende Komponente des Menschseins hinzu: die Vergänglichkeit. Sie ist eine Grundaussage alttestamentlicher Anthropologie (vgl. Gen 3,19; Ps 39,6; 62,10; 144,4; Ijob 7,16; Koh 3,19.6,11).418 Abels Name präludiert bereits sein späteres Schicksal: „There was no need, therefore, to assign a reason here for the giving of the name as was done in the case of Cain.“419 Unter Rückbezug auf Gen 2 und 3 fassen die Namen Kain und Abel die wesentlichen Merkmale des Menschen zusammen: In Gen 4 begegnet uns der Mensch als ein geschaffenes Wesen, das vergänglich ist.420

412 Vgl. Westermann, Claus: Genesis. 1. Teilband: Genesis 1–11 (Biblischer Kommentar Altes Testament I/1), Neukirchen-Vluyn 1974, 394f. 413 Vgl. Dillmann, August: Die Genesis, Leipzig 61892, 91. Vgl. auch Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, Berlin 171962, 717. 414 Vgl. Navarro Puerto, Mercedes: Abbild und Ebenbild Gottes: Frau und Mann in Gen 1–3 als offenes System im Kontext von Gen 1–11, in: Fischer, Irmtraud – Navarro Puerto, Mercedes – Taschl-Erber, Andrea (Hg.): Tora (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie 1.1), Stuttgart 2010, 186– 237; 233. 415 Vgl. Cassuto, U.: A Commentary on the Book of Genesis. Part 1: From Adam to Noah. Genesis I–VI 8, Jerusalem 1989, 197–201. 416 Heyden, Sünde, 86. 417 Vgl. Westermann, Genesis, 394. 418 Vgl. Heyden, Sünde, 86. 419 Cassuto, Commentary, 202. 420 Vgl. Heyden, Sünde, 86. 75

In den folgenden Versen (3–5) bahnt sich der Konflikt, der letztlich zur Bluttat führen wird, in knappen Sätzen an: Sowohl Kain, der Ackerbauer, als auch sein Bruder Abel, der Kleinviehhirt, bringen JHWH Opfergaben vom Ertrag ihrer Arbeit dar. Die Erzählfolge ist chiastisch421 geformt: Es ist Kain, der Erstgeborene, der als erster von den Früchten der Erde opfert; erst nach ihm opfert auch Abel von den Fettstücken der Erstlinge seiner Herde. Nun jedoch wendet sich die Erzählung, und die Reaktion JHWHs steht der Opferfolge der Brüder entgegen, und nicht nur das: Gott sieht auf Abel und sein Opfer, auf Kain und seine Gabe jedoch blickt er nicht – ohne, dass eine nähere Explikation der Gründe JHWHs erfolgen würde.422 In der bibelwissenschaftlichen Forschung hat gerade dieses Fehlen einer Erklärung für die Annahme bzw. Ablehnung des Opfers Anlass zu zahlreichen Spekulationen gegeben, geht es doch um den „verläßliche[n] und treue[n] Gott“, der „auf dem Spiel steht“. „Kain selbst wird zu einer tragischen Figur“, wie Katharina Heyden diesbezügliche Forschungen charakterisiert, „Gott selbst, der Schöpfer, gibt ihm Anlaß zum Brudermord“.423 Wurde in der älteren Exegese die Antwort auf die Ungleichbehandlung der beiden Brüder etwa in einer unterschiedlichen Qualität der Opfergaben vermutet, geht die neuere Forschung des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts vielfach davon aus, dass Gott entweder willkürlich oder in einer für den Menschen nicht durchschaubaren Weise seine Gunst verteilt.424 So steht etwa für Bernd Janowski – in Rückbezug auf Claus Westermann – die Unerklärbarkeit von Gottes Handeln im Vordergrund.425 Erich Zenger lehnt eine Qualifizierung der Opfergaben als „müßig, überflüssig und theologisch falsch“ ebenfalls ab. Vielmehr sieht er „die scheinbare Paradoxie Jahwes“ als „die Realität des außerparadiesischen Lebens, mit der die ‚Adam-Kinder‘ leben müssen“. Die Herausforderung, die Gen 4 an Kain stellt, liegt für Zenger in der „unterschiedliche[n] Abhängigkeit von Gott als lebensförderliche Vor-Gabe für echt brüderliches Zusammenleben“ begründet. Dieses misslingt jedoch, da die Brüder nicht gemeinsam, sondern als Rivalen handeln. Warum allerdings Gott auf Abel sieht und auf Kain nicht, bleibt letztlich „ohne nähere Erklärung“.426 Katharina Heyden weist in einem Durchgang durch das Alte Testament und seine altorientalische Umwelt darauf hin, dass weder hier noch dort Opfer ohne Grund abgelehnt werden. Nur an zwei anderen Stellen (Num 16; 1 Sam 15) ist im Alten Testament von der Zurückweisung eines Opfers die Rede, und in beiden Fällen liegt der Nichtannahme Ungehorsam gegen JHWH zugrunde. In Gen 4 lässt sich jedoch keinerlei Ungehorsam Kains finden, und es ist sogar Kain, der als erster Gott mit seiner Opfergabe dankt. Heyden sieht

421 Vgl. etwa Seebass, Horst: Genesis I (Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 152. 422 Vgl. Zenger, „Das Blut…“, 13. 423 Heyden, Sünde, 87. 424 Vgl. ebd., 87–89. 425 Vgl. Janowski, Eden, 272. 426 Vgl. Zenger, „Das Blut…“, 13f. 76 die trotz dessen erfolgende Bevorzugung Abels in dessen innerer Einstellung gegenüber JHWH begründet, die sich in einer besonders sorgfältigen Wahl der Gaben manifestiert.427 „Erst bei Abel aber kommt der eigentliche Sinn des Opfers zur Geltung. Er gibt das Wertvollste und sucht seine Gaben mit Sorgfalt aus. Damit zieht er die Aufmerksamkeit Jahwes auf sich und seine Gabe. In dieser inneren Haltung ist der Sinn des Opfers recht verstanden – nicht als Abgabe, sondern als Hingabe“, wie Heyden in Anlehnung an die Deutung Thomas Willis interpretiert.428 In einer jüngst vorgelegten Deutung von Emanuel Pfoh liegt die Ursache für die Ungleichbehandlung der beiden Brüder wiederum nicht bei diesen selbst oder in der Qualität ihrer Gaben, sondern in einem göttlichen Akt der Prüfung. „We may see God’s rejection as a test of Cain’s humility“, so Pfohs Analyse. Der weitere Handlungsverlauf von Gen 4 veranschaulicht seiner Darstellung nach, welche Konsequenzen die Nichtbeachtung göttlichen Willens für Kain und damit für alle Menschen nach sich zieht.429 Das zweite Interpretationsproblem der Perikope setzt nach der Reaktion Kains ein, der vor Zorn entbrennt und dessen Gesichtszüge in sich zusammen fallen (V5b). Gerade in dieser Situation wird er jedoch von JHWH angesprochen (V6) und erhält damit „mehr als sein Bruder Abel. Dieser wurde des göttlichen Blickes teilhaftig, Kain aber des göttlichen Wortes“. Der folgende V7 mit seiner Gottesrede gilt als „dunkelster der Genesis“,430 so schwierig und vielfältig sind seine Übersetzungen und Interpretationen. „Das Hebräische ist unklar. Jede Übersetzung ist hier nur eine begründete Vermutung“,431 stellt etwa der Genesis-Kommentar der „Tora in jüdischer Auslegung“ fest. Viele traditionelle Übersetzungen sehen in V7 die Sünde vor der Tür Kains lauern, so etwa auch die Luther- Bibel, andere gar einen „Schwellendämon“ – abgeleitet von der akkadischen Dämonenbezeichnung rabisu –, der sich des Kain bemächtigen möchte. Das Problem dieser חַטָּ ֣ את Deutung besteht jedoch in der Inkongruenz zwischen dem femininen Substantiv lauernd). Bernd Janowski und Katharina Heyden) רֹבֵ ֑ץ Sünde) und dem maskulinen Partizip) nicht auf einen בּֽ וֹ und תְּשׁ֣וּקָת֔ וֹ vertreten diesbezüglich die Meinung, dass sich die Suffixe bei „Schwellen-„ bzw. „Sündendämon“ beziehen, sondern auf Abel: Während der ältere Bruder über den jüngeren im Sinne einer brüderlichen Verantwortung „herrschen“ bzw. „walten“ soll,

427 Vgl. Heyden, Sünde, 90–95. 428 Ebd., 95. Zur Kritik an Heydens Deutung siehe Rohde, Michael: Kain und das ausgebliebene Gebet. Anmerkungen zum Verständnis der Figuren, der Opferablehnung und der Sünde von Genesis 4, in: Theologisches Gespräch 33/1 (2009), 15–33; 23f. Für Rohde bleiben die unterschiedlichen Reaktionen JHWHs auf die Opferhandlungen unerklärlich: „Wer die Annahme des Opfers Abels erklären könnte, hätte auch den Schlüssel für die Güte Gottes in der Hand, genau diese Güte bleibt aber unverfügbar und unberechenbar. […] Die Unterschiede zwischen dem Ergehen von Menschen will Gen 4 nicht erklären oder herleiten, sondern feststellen und von dieser Ausgangsbasis den Umgang mit der Unterschiedlichkeit problematisieren.“ Ebd., 25. 429 Vgl. Pfoh, Emanuel: Genesis 4 Revisited, in: SJOT 23/1 (2009), 38–45; 40. 430 Vgl. Heyden, Sünde 96f. 431 Plaut, W. Gunther (Hg.): Die Tora in jüdischer Auslegung. Bd. 1: Bereschit – Genesis, Gütersloh 32008, 102. 77

Im folgenden V8 antwortet der von JHWH angesprochene Kain jedoch nicht diesem, sondern spricht zu seinem Bruder Abel. Wieder ist der Erzählstil äußerst knapp, nichts erfahren die Lesenden über die Worte Kains. Nicht seine Rede wird berichtet, sondern seine Tat: Kain erhebt sich gegen Abel und tötet ihn auf freiem Feld. Damit ist die Warnung JHWHs ungehört geblieben. Indem Kain seinen Konkurrenten tötet, verfehlt er den göttlichen Auftrag eines brüderlichen Miteinanders: „Um Gottes willen ist der Mensch zum Mörder geworden – gegen Gottes Willen.“433 Während durch eine Frau – Eva, die „Mutter aller Lebendigen“ – das Leben in die Welt gekommen ist, hält der Tod durch einen Mann Einzug in die menschliche Gesellschaft. Eva handelt im Einklang mit Gott, ihr Sohn Kain stellt sich dem göttlichen Auftrag entgegen.434 Wie so oft in der Hebräischen Bibel symbolisiert auch in Gen 4 das Weibliche die Sphäre des Lebens, das Männliche hingegen die Sphäre des Todes (vgl. etwa die nekrophile Darstellung des Pharao versus die Schilderung der Hebammen Schifra und Pua sowie der Tochter des Pharao in Ex 1f. als Lebensförderinnen435 sowie die Zeichnung Ruts als „Figur des Lebens“436). Mit V9 setzt der zweite Akt der Erzählung ein. Wieder ergreift JHWH das Wort: In gezielter Analogie zu Gen 3,9 – „Wo bist du?“ – stellt Gott nun die Frage nach Abel, der ausdrücklich als „Bruder“ bezeichnet wird. Mit diesem Zusatz will die Erzählung explizit auf die Zerstörung des „brüderlich-teilenden Menschseins“ hinweisen. Kain reagiert ähnlich wie Adam und weist die Schuld zurück. In der Wortfolge des hebräischen Nominalsatzes kommt die Zurückweisung besonders deutlich zum Ausdruck: „Bin denn meines Bruders Hüter ich?“437 Von der Mehrzahl der Exegetinnen und Exegeten als Gotteslästerung gedeutet, stellt sich dem gegenüber die Frage, ob Kain in dieser Erzählsequenz zum ersten Mal „eine Ahnung seiner eigenen Stellung überkommt“.438 Sogleich spricht JHWH Kain auf seine Tat an, das ungesühnte Blut Abels lege Zeugnis439 über die Tat ab; denn ihm wohnt noch die „Macht des Lebens“ inne, zu Gott zu schreien und Kain anzuklagen. In der verwendeten Pluralform steht „Blut“ ausschließlich für vergossenes Blut und vorwiegend für die Blutschuld. Es geht um das nicht sühnbare Blut, das nur noch zu JHWH schreien kann (vgl. den

432 Vgl. Janowski, Eden, 272–276 und Heyden, Sünde, 97–100. 433 Heyden, Sünde, 101. 434 Vgl. Navarro Puerto, Abbild, 232f. 435 Vgl. Fischer, Irmtraud: Gottesstreiterinnen. Biblische Erzählungen über die Anfänge Israels, Stuttgart 32006, 160–180. 436 Vgl. Fischer, Irmtraud: Rut als Figur des Lebens. Ein Einspruch gegen die Konstruktion des Zusammenhangs „Frau und Tod“, in: JBTh 19 (2004), 103–120. Siehe ausführlicher Fischer, Irmtraud: Rut (HThK.AT), Freiburg i. Br. 22005. 437 Vgl. Zenger, „Das Blut…“, 17. 438 Vgl. Heyden, Sünde, 102. 439 Zur „Zeugenschaft“ des Blutes Abels siehe Noort, Ed: Genesis 4:1–16. From Paradise to Reality: The Myth of Brotherhood, in: Luttikhuizen, Gerald P. (Hg.): Eve’s Children. The Biblical Stories Retold and Interpreted in Jewish and Christian Traditions, Leiden 2003, 93–106; 96–98. 78 verdeckten Mord Davids an Urija in 2 Sam 12 und den Justizmord Ahabs an Nabot in 1 Kön 21).440 Der in den V11 und 12 folgende Fluchspruch Gottes entfremdet Kain vom Ackerboden, seiner Lebensgrundlage, und macht ihn heimatlos. „Die soziale Desintegration durch den Brudermord führt zur Entfremdung des Lebensraums überhaupt“, resümiert Erich Zenger.441 Spät erkennt und gesteht Kain seine Schuld, die er nicht mehr zu tragen vermag (V13). Dieser Vers korrespondiert mit der Gottesrede in V7: „Wenn du es gut sein lässt, kannst du es ertragen“. Wurde Kain von JHWH zugemutet, die Zurücksetzung hinter seinen Bruder zu ertragen, muss er nun erkennen, dass die Folgen seiner Tat unerträglich sind.442 An dieser Stelle richtet JHWH erneut das Wort an Kain (V15): Durch ein Zeichen wird er Kain vor möglichen Bluträchern schützen, dem Morden soll damit Einhalt geboten werden. „Unsere Erzählung lehnt es ab, den Mord und die Gewalt in welcher Gestalt immer zu legalisieren“, bilanziert Zenger. Kain ist vor Gewalt geschützt, aber dennoch heimatlos. Wie Gen 3 endet die Erzählung mit dem Verlust der unmittelbaren Gottesgemeinschaft: Kain entfernt sich von JHWH und lässt sich im Land „Heimatlos“ nieder.443 Betrachtet man Gen 4 aus erzähltechnischer Perspektive zeigt sich folgendes Bild: Das Hauptaugenmerk der Erzählführung gilt nicht dem Opfer Abel, sondern eindeutig dem Brudermörder Kain. Er tritt als Erster in Erscheinung, sein Name erhält eine Deutung, und Abel wird erst in der Beziehung zu ihm definiert. Nur dreimal wird Abels Name ohne nähere Bestimmung genannt (V2–4). Im Laufe der Erzählung wird er zusehends flüchtiger, bis er – seinem Namen gerecht – ganz von der Bühne verschwindet. Ab V5 wird Kain explizit zum menschlichen Hauptakteur, ihm gilt die Empathielenkung der Erzählung. Doch warum setzt die Erzählung alles daran, dass sich Lesende mit Kain identifizieren? Gerade mit ihm, dem Mörder, und nicht mit Abel?444 Ilse Müllner sieht die Antwort in der Textpragmatik begründet: Indem Moral – die verurteilenswürdige Tat Kains – und Empathie – die auf Seiten Kains liegt – in der Erzählung auseinanderdriften, werden die Leserinnen und Leser in einen Lernprozess geführt, der ihre eigene Entscheidungskraft für moralisches Handeln stärken soll: „Durch die Identifikation mit dem Täter wird der Leser/die Leserin dazu gedrängt, eine Entscheidung zu treffen. Jene Entscheidung, die Gott von Kain in der Erzählung fordert – nämlich, mit seinem Zorn anders umzugehen als durch Gewalt. Geschichten, die von ihren LeserInnen und HörerInnen eine Entscheidung fordern, fördern das moralische Lernen. […] Den ‚Kain in uns’ zu erkennen, bietet die Möglichkeit, mit dem Impuls zur Gewalt umzugehen; ein Umgehen, das jenseits der simplen Verurteilung der Tat liegt. Die Erzählung fordert von

440 Vgl. Seebass, Genesis, 155. 441 Zenger, „Das Blut…“, 18. 442 Vgl. Heyden, Sünde, 102. 443 Vgl. Zenger, „Das Blut…“, 20f. 444 Vgl. Müllner, Ilse: Moralisches Lernen an unmoralischen Vorbildern. Zur Textpragmatik der Erzählung von Kain und Abel (Gen 4,1–16), in: http://www.jcrelations.net/de/?item=854, zuletzt abgerufen am 17.3.2010. Erstveröffentlicht in: Deutscher Koordinierungsrat (Hg.): „Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen“ – 50 Jahre Woche der Brüderlichkeit, Bad Nauheim 2002, 19–23. 79

ihren LeserInnen eine Entscheidung gegen das Handeln der Hauptgestalt Kain. Diese Entscheidung können LeserInnen aber nur in der Identifikation mit ihm treffen.“445

3.2.2 Zum Kain-und-Abel-Motiv in der Literatur Die Geschichte von Kain und Abel – „die härteste Nuß, die uns die Bibel zum Knacken aufgibt“446 – wurde in der Dichtung immer wieder neu und kontrovers aufgerollt. Literatinnen und Literaten betrachten die biblische Erzählung aus ihrer jeweiligen zeitgenössischen Perspektive, fragen weniger nach moralischen Prinzipien als nach dem konkreten Konflikt. Sie spüren etwa der Natur Kains, seiner Familie oder zwischenmenschlichen Beziehungen nach. Einige zeigen auch Sympathie für Kain, der als ein an sich und der Welt Leidender erfahren wird. Kain regt Literaturschaffende zum Nachdenken an: „Er löst Fragen, Vergleiche, Annäherungen und Verfremdungen, Projektionen und Identifikationen aus“,447 wie Paul Konrad Kurz die unterschiedlichen Herangehensweisen an diese biblische Figur schildert. Die Rezeptionsgeschichte448 von Gen 4 durchlief von der Antike bis zur Gegenwart zahlreiche Veränderungen und Nuancierungen, denen an dieser Stelle in aller Kürze nachgegangen werden soll. Sowohl die frühen jüdischen als auch die frühen christlichen Texte zeichneten ein klares Schwarz-Weiß-Bild: Während Abel als Sinnbild der Gerechtigkeit gilt, erscheint Kain als der Bösewicht par excellance. Der dritte Akteur, Gott, stand in diesem Interpretationsrahmen als ungefochtene Autorität über dem Geschehen. In der Spätantike und im Laufe des Mittelalters begann allerdings eine vorsichtige Hinterfragung der Rolle JHWHs, als deren Konsequenz Kain ein gewisses Verständnis entgegengebracht wurde.449 In den mittelalterlichen Mysterienspielen blieb Kain jedoch der Sündenbock, auf den alles Böse übertragen wurde. Martin Luther interpretierte die Annahme bzw. Ablehnung der Opfergaben sodann im Lichte des Glaubens: Während Abel aus Glauben das bessere Opfer dargebracht habe, sei das Opfer Kains aufgrund seines mangelhaften Glaubens abgelehnt worden (vgl. Hebr 11,4). Im 17. Jahrhundert wurde der moralische Gegensatz sogar noch weiter zugespitzt und erhielt seinen Ausdruck in der barocken Stilisierung von Tyrannen und Märtyrern. Im Zuge der Literatur der religiösen Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert gewann die Figur des Kain jedoch neue Nuancen und wurde als tragischer Charakter interpretiert. Nach der rebellischen Auslegung der „Sturm und Drang“-Zeit rückten im 19. Jahrhundert

445 Ebd. 446 Leopold Ziegler, zit. n. Braun, Michael: Kain und Abel in der Literatur, in: Katholische Bildung 99/6 (1998), 263–275; 263. 447 Kurz, Paul Konrad: Wer ist Kain? Literarische Relecture der biblischen Geschichte, in: Stimmen der Zeit 215 (1997), 104–116; 105. 448 Zum Terminus „Rezeptionsgeschichte“, der in der Erforschung der Nachgeschichte eines Bibeltextes „allmählich allgemeinen Konsens“ findet, siehe Fischer u.a.: Frauen, 30–32. 449 Vgl. Oberhänsli-Widmer, Das Böse, 177. 80

Kain und das Schuldmotiv mehr und mehr in den Mittelpunkt, wobei auch hier Kain bisweilen als Rebell erschien.450 Seit der Aufklärung war Kain zunehmend entlastet worden, während Gott immer stärker unter kritischen Beschuss geraten war. Mit den großen menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Shoa, sollte diese Sichtweise allerdings eine Revision erfahren. Kain und Abel wurden wieder auf ihre traditionellen Rollen als Täter und Opfer zurückgestuft. In den modernen Kain-Texten kommt Gott jedoch kaum noch vor; das Böse hat nunmehr jegliche „Sicht auf Gott verdeckt“. Bis heute ist die literarische Bearbeitung der Kain-und-Abel-Geschichte von der Shoa überschattet, und Kain hat „seine Rolle als Sympathieträger verloren“, wie Gabrielle Oberhänsli-Widmer konstatiert.451 Auch Exilsdichterinnen wie Nelly Sachs und Hilde Domin griffen Gen 4 auf und interpretierten die biblische Konstellation auf ihre Weise neu. In „KAIN! um dich wälzen wir uns im Marterbett“ fragt Nelly Sachs den Brudermörder hartnäckig nach dem „Sinn von Leid, Verfolgung und Mord“, wie Braun resümiert. In Sachs’ Gedicht erscheint Kain als „Totengräber des Lebens“ und „Usurpator der göttlichen Macht“. Am Ende bleibt er allein zurück: „Kain – Bruder – ohne Bruder –“.452 In Hilde Domins Gedicht „Abel steh auf“ steht nicht Kain, sondern der ermordete Abel im Mittelpunkt. Immer wieder beschwört die Lyrikerin seine Wiederauferstehung, um so einen Neuanfang der Geschichte zu ermöglichen.453 Die Sinnmitte des biblischen Textes wird in ihrer Interpretation ins Positive gewendet: „Abel steh auf es muß neu gespielt werden täglich muß es neu gespielt werden täglich muß die Antwort noch vor uns sein die Antwort muß ja sein können.“454 Indem der erste Brudermord rückgängig gemacht wird, kann der Kreislauf von Tätern und Opfern durchbrochen werden, so die Hoffnung der Dichterin. Für Hilde Domin war jeder Mensch „ein potentieller Abel“ und „ein potentieller Kain“.455 Ihr Gedicht richtet sich nicht vorrangig an Abel, sondern an den „möglichen Kain“ und somit an jeden Menschen.456

450 Vgl. Braun, Kain, 264f. 451 Vgl. Oberhänsli-Widmer, Das Böse, 177f. 452 Vgl. Braun, Kain, 269f. 453 Vgl. ebd., 272. 454 Vgl. Süß, Ulrike: „Seines Bruders Hüter. Dies große Versäumnis!“. Alttestamentliche Motive in der Lyrik von Nelly Sachs und Hilde Domin, in: Ansgar, Franz (Hg.): Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Literatur, St. Ottilien 1997, 337–355; 352f. 455 Gellner, Schriftsteller, 75. 456 Vgl. Welz, Claudia: Hilde Domin im Gespräch über ihr Gedicht „Abel steh auf, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 54 (2002), 347–352; 351. 81

3.2.3 Das Gedicht „Kain“ im Spiegel von Gen 4,1–16 und dessen literarischer Rezeption

Kain

Von Anfang her, ein wildes Tier, vor Hunger häßlich, schreit in mir nach Liebe.

Es tobt und stöhnt, verlangt und muß den Opfern Schreck und Überdruß verlangen.

Bleich und begierig fällt es her auf alles Leben. Ich trag’s schwer, o Vater.

Wie es wächst, so werd ich schwach; es legt die Kraft zu Boden, brach und welkend.

Ich wünscht, ich wäre tot und auch der Schlächter in mir, Feuerhauch, versengend.

Entsetzt sich ob sich selber, doch im letzten Grauen schreit es noch nach Liebe.457

Stella Rotenbergs Gedicht „Kain“ verfügt über ein eindeutiges intertextuelles Signal, eine explizite intertextuelle Markierung: seinen Titel. Onomastische – in der Spezialform der Interfiguralität – und titulare Intertextualität gehen hier ineinander über und verstärken einander. Mit der Nennung des Namens „Kain“ in der Titelzeile evoziert die Autorin umgehend Bilder vom biblischen Brudermord, die die bibelkundige Leserin, der mit den „Heiligen Schriften“ vertraute Leser sofort mit Gen 4 assoziiert. Da die Figur des Kain im Gedicht selbst keine weitere Erwähnung mehr findet, kommt dem Titel eine besondere intertextuelle Signalwirkung zu. Strukturell besteht das Gedicht aus sechs dreizeiligen Strophen, wobei die ersten beiden Verse jeder Strophe jeweils einen reinen Paarreim – mit Ausnahme des unreinen Reimes in der vierten Strophe – bilden und der dritte Vers durch das Stilmittel des Enjambements – der Trennung von syntaktisch oder semantisch zusammen gehörigen Einheiten458 – eine betonte Stellung einnimmt.459 Eine besondere Akzentuierung kommt zudem der jeweils zweiten und dritten Zeile des ersten und letzten Verses zu, die aus

457 Rotenberg, Quell, 108. Entstehungszeit und Entstehungsort des Gedichtes sind der Autorin nicht in Erinnerung geblieben. Vgl. Interviews Rotenberg. Auch die Lyrikgesamtedition „An den Quell“, 215, führt kein Datum an. 458 Vgl. Somer, Weg, 62. 459 Für Hinweise zur Reimstruktur des Gedichtes danke ich Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel, Institut für Germanistik, Universität Graz, sehr herzlich. 82 denselben Worten – „schreit […] nach Liebe“ – bestehen. Die Sehnsucht „nach Liebe“ wird damit zu einem Zentralbegriff des Gedichts. In den ersten fünf Strophen des Gedichts lässt Stella Rotenberg ein lyrisches Ich aus der Innenperspektive Kains zu den Rezipientinnen und Rezipienten sprechen. Die dritte Strophe spielt mit der Anrede „o Vater“ auf die vertikale Beziehung zwischen Mensch und Gott an und lässt das Gedicht, zumindest teilweise, als Gebet erscheinen. In der letzten Strophe wechselt die Perspektive jedoch von der Innen- zur Außensicht: Nicht mehr das lyrische Ich spricht, sondern ein in dieser Strophe nicht näher bestimmtes „Es“ wird nun zum Akteur. In der Zusammenschau aller Strophen lässt sich dieses „Es“ aber wiederum an das lyrische Ich der vorangehenden Strophen anbinden. Wenn in der ersten Strophe vom „wilden Tier […] in mir“ die Rede ist, das im Laufe des Gedichts immer mehr expliziert wird, so steht das „Es“ der letzten Strophe zweifellos mit dieser unbändigen, gewalttätigen Seite der menschlichen Existenz in Zusammenhang. Diese wird am Ende so mächtig, dass sie das „Ich“ verdrängt. Indem die Autorin ihr Gedicht aus der Innenperspektive Kains verfasst, nutzt sie gezielt eine Leerstelle der biblischen Vorlage und füllt sie mit den Gefühlen ihres Protagonisten aus. Während in Gen 4 in knappen Worten geschildert wird, dass Kain entbrennt, gleichsam in sich selbst zusammenfällt und bei sich selber bleibt, versucht Stella Rotenberg einem möglichen inneren Kampf zwischen Mensch und Unmensch in ihm nachzuspüren. Neu interpretiert die Dichterin den biblischen Prätext insofern, als Kain in Gen 4 nicht von Anfang an als der Gewalt verfallen gezeichnet wird, sondern sich erst durch die Ablehnung durch JHWH zum Mörder entwickelt. Rotenbergs Kain ist dagegen „von Anfang her, ein wildes Tier“ – die unmenschliche Seite ist von Anbeginn an existent, doch erlangt sie erst im Laufe der Zeit – trotz Widerstand – Oberhand. Der Schrei nach Liebe ist für Stella Rotenberg das zentrale Motiv des Handelns Kains. Die Zurücksetzung, die er durch JHWH erfährt und die seiner Tat in der Erzählfolge von Gen 4 vorausgeht, schildert die Autorin nicht, wie überhaupt der Erzählverlauf ausgeblendet bleibt. Die Geschichte des biblischen Brudermordes ist jedoch durch die Titelgebung stets präsent. Konform geht die Autorin mit Gen 4,1–16 dahingehend, dass Kain auch in ihrem Gedicht nicht als Individuum gedacht wird, sondern für den geschaffenen Menschen im Allgemeinen steht. „Kain stellt sozusagen keine Person vor, sondern Kain hat doch seinen Bruder erschlagen aus Eifersucht“,460 rückt die Lyrikerin die Tat und das Motiv, das sie dieser zugrunde liegen sieht, ins Zentrum. „Er hat sich vernachlässigt gefühlt. Vielleicht war er vernachlässigt, ich weiß nicht“, 461 ergänzt Stella Rotenberg.

460 Interview Rotenberg, 6.7.2009. 461 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 83

In ihrem Gedicht schildert die Autorin, wie die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung schließlich in Hass und Mord münden. Hierin geht sie mit der biblischen Erzählung konform: Wie der biblische Kain fühlt sich auch ihre lyrische Figur zurückgesetzt, in beiden Fällen mündet der Mangel an Liebe in Gewalt. Anders als im alttestamentlichen Prätext wird das Opfer im lyrischen Text nicht namentlich genannt; zudem spricht Stella Rotenberg von „den Opfern“ im Plural. So transformiert sie die biblische Geschichte noch weiter ins allgemein Menschliche, ihr Gedicht erhält dadurch zeitlose Relevanz. Deutlich zum Ausdruck kommt dies auch in der dritten Strophe, in der die gewalttätige Seite des lyrischen Ichs „auf alles Leben“ herfällt. In dieser Strophe wird auch noch eine weitere Differenz zur Vorlage evident: Stella Rotenbergs Kain spricht mit der Formulierung „o Vater“ Gott direkt an, klagt ob der Last der eigenen unzügelbaren Gewaltbereitschaft: „Ich trag’s schwer / o Vater“. Mit der Vater-Anrede greift Stella Rotenberg eine Gottesmetapher auf, die – wie oft fälschlicherweise vermutet – kein Spezifikum des Neuen Testaments ist, sondern der Hebräischen Bibel entstammt.462 Im Judentum ist sie eine von vielen bildhaften Vorstellungen über Gott, im Christentum wurde die Rede von Gott dem Vater das wichtigste und bekannteste aller Gottesbilder,463 mit dem Stella Rotenberg zweifellos auch durch ihre Lektüre des Neuen Testaments vertraut war.464 Dadurch, dass die Dichterin die göttliche Sphäre in ihre Interpretation miteinbezieht, unterscheidet sich ihr Kaingedicht signifikant von anderen literarischen Deutungen des 20. Jahrhunderts, in denen diese Dimension vielfach ausgeklammert wurde. Als innerer, gebetsähnlicher Monolog Kains scheint das Gedicht dem Brudermord unmittelbar voranzugehen. Das lyrische Ich verliert schließlich seinen Kampf gegen die destruktive Seite seiner selbst, doch bis zuletzt bleibt die Abscheu vor der Tat: „Ich wünscht, ich wäre tot und auch / der Schlächter in mir, Feuerhauch, / versengend.“ Die Mordtat selbst erscheint als Bündelung der unerfüllten Sehnsucht Kains: „…im letzten Grauen schreit es noch / nach Liebe“. Im Schrei nach Liebe, der als letzten Ausweg, um sich Gehör zu verschaffen, nur die Bluttat sieht, manifestiert sich die ganze Ambivalenz der Figur. So sehr sie ihre eigene destruktive Seite innerlich verabscheut, so sehr verfällt sie ihr. Weder dem biblischen Kain noch dem lyrischen Kain Stella Rotenbergs gelingt es, diesem Dilemma zu entkommen. In dieser Hinsicht bleibt die Dichterin ihrer alttestamentlichen Vorlage treu, die sie einerseits mittels Herausnahme einzelner Elemente paraphrasiert und andererseits durch

462 Die Vorstellung von Gott als Vater hat ihren Ursprung in der vorexilischen, judäischen Königsideologie (vgl. 2 Sam 7). Vgl. Böckler, Annette: Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000, 393. 463 Vgl. ebd., 1–8. 464 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 84 neue Akzente in ihre Zeit und Gegenwart aktualisiert.465 Von den vorherrschenden Rezeptionslinien der Kain-und-Abel-Erzählung im 20. Jahrhundert trennt die Autorin mehr als sie mit ihnen eint. Eine Übereinstimmung besteht darin, dass auch in Stella Rotenbergs Gedicht Kain seine traditionelle Rolle als Mörder beibehält und sogar zum Massenmörder avanciert. Doch in der Schilderung des inneren Kampfes ihrer lyrischen Figur zeigt die Autorin durchaus Sympathie für die Kainsgestalt, die unter Zurücksetzung und Vernachlässigung leidet. Ihr widmet sie ihr Gedicht, mit ihr identifiziert sie sich über das immer wiederkehrende lyrische Ich. Damit folgt sie explizit der Empathielenkung der biblischen Erzählung, die ebenfalls Kain und seine Gefühle ins Zentrum rückt. Für sie ist Kain nicht allein der verurteilenswerte Mörder, sondern ein an Gott und an sich selbst Leidender, den seine desaströsen Gefühle überwältigen. Damit unterscheidet sich Stella Rotenberg grundlegend von der vorherrschenden Kain-und-Abel-Rezeption nach der Shoa, die schwarzweiß malend klar zwischen Täter (Kain) und Opfer (Abel) trennt. Für Stella Rotenberg ist Kains Schrei nach Liebe Hilfeschrei und destruktiver Kampfruf zugleich. Sie sieht ihr Kain-Gedicht nicht, wie so viele andere Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts, von der Tragödie der Shoa überschattet, wenn auch manches Vokabular („die Opfer“, „alles Leben“ oder „Feuerhauch“) daran erinnern mag. Ihr ging es dezidiert um eine Auseinandersetzung mit dem biblischen Bruderkonflikt. „Kain“ steht für sie nicht synonym für die nationalsozialistischen Täterinnen und Täter: „Nein, ich glaube nicht. Nein, ich glaube, das war tatsächlich Kain und Abel, dass er sich benachteiligt gefühlt hat“.466 Der Schrei nach Liebe ist für sie eine allgemein menschliche Grundkonstante, der sie sich über die biblische Geschichte um Kain und Abel annähert. „Und der Schmerz, er hat doch gelitten. Es hat ihm doch wehgetan, dass er vernachlässigt wird“, ist Kain für Stella Rotenberg nicht nur Täter, sondern auch selbst Opfer. Hier wird die biblisch erzählte Konfrontation zwischen Kain und seinem von Gott bevorzugten Bruder transparent: Wie der biblische Kain, auf dessen Opfer Gott nicht sieht, fühlt sich auch sein lyrisches Pendant zurückgesetzt, grundlos benachteiligt und zu einem Leben ohne Liebe verurteilt. In ganz ähnlicher Weise wie in „Kain“ schildert die Dichterin in „Susannes Lied“, wie die Protagonistin, eine von ihrem Ehemann betrogene Frau, zur Mörderin ihres jüngsten Kindes wird. Auch sie tötet aus Verzweiflung, aus Sehnsucht nach Liebe: „Als der Richter sie fragte, warum sie’s getan / da sagte sie und sah ihn lange an, / damit Vater sie lieben solle“.467 In der Annahme, dass die Ausschaltung eines vermeintlichen Hindernisses zur lang

465 Zu der Unterscheidung zwischen paraphrasierenden und aktualisierenden Rezeptionsmustern von Gen 4 vgl. Motté, Brudermord, 67–75. Doch trotz aller Differenzierungmöglichkeiten bleiben die Grenzen zwischen beiden Formen unscharf: „Entfernt sich die Paraphrasierung spürbar vom Urmuster und ist der Bezug zur jeweiligen Gegenwart des Autors vorherrschend, so ist der Begriff der Aktualisierung angezeigt. Im Grunde ist jede Übersetzung der Bibel in eine lebende Sprache eine solche.“ Ebd., 71. 466 Interview Rotenberg, 4.7.2009. 467 Rotenberg, Quell, 135. 85 ersehnten Liebe und Wertschätzung führen würde, handelt Susanne wie Kain. Beide fühlen sich von einem Dritten benachteiligt, beide zerbrechen an dieser Situation. Ausgeblendet bleibt in diesen Gedichten Stella Rotenbergs die Schuldfrage, sowohl in „Susannes Lied“ als auch im Gedicht „Kain“. Während die biblische Erzählung die Schuld Kains, die dieser letztlich vor Gott einbekennt, explizit thematisiert, spricht die lyrische Kainsfigur nie von Sünde. Die Sehnsucht nach Liebe, die Introspektive scheint so stark zu sein, dass sie den Blick nach außen, den Blick auf die Opfer und die eigene Schuldhaftigkeit verdeckt. Implizit kommt die Thematik dennoch zum Vorschein, wenn der Protagonist bekennt: „Ich wünscht, ich wäre tot und auch / der Schlächter in mir / Feuerhauch, / versengend.“ Im Vordergrund steht jedoch nicht die Schuldfrage, sondern der innere Kampf Kains. An diesem nimmt die Dichterin Anteil, diesen versucht sie verstehbar zu machen. Nicht der biblische Brudermord als erste Gewalttat der Menschheit steht für Stella Rotenberg im Zentrum ihres Kaingedichts, sondern das Leid und der Schmerz, Ausgrenzung und Einsamkeit – all dies kennt sie aus eigener Erfahrung zur Genüge: „Wie der Magnet das Eisen zieht, / zieh ich an mich das Leid. / Auch ich hab ein magnetisch Feld, / genannt die Einsamkeit.“468 Wie sie selbst muss Kain seine „Heimat“ verlassen, ist ein Exilierter und Heimatloser. Er ist – wie viele ihrer lyrischen Figuren469 – ein Benachteiligter, ein Mensch am Rande der Gesellschaft, rastlos, immerwährend auf der Suche nach Geborgenheit und „Heimat“. „So irre ich von Städterand / zu Städterand im Niemandsland / und suche eine Nähe.“470 Auch wenn Stella Rotenberg in ihrem Kaingedicht die Vertreibung der biblischen Figur nicht zur Sprache bringt, so wird diese doch aus dem Kontext ihrer Biographie und vieler ihrer Gedichte evident. Beide sind Vertriebene, beide sind heimatlos. In dieser Hinsicht tragen Kain und Stella Rotenberg dasselbe Schicksal.

468 Aus „ Wie der Magnet“, in: Rotenberg, Quell, 28. 469 Vgl. „Der Dorfnarr“, „Ein Mann mit einem Buckel“, „Der Hausierer oder Eines Mannes Traum“, „Der Aussätzige“, „Eine Hagar“, „Susannes Lied“, „Abend in einer Anstalt für geistig Behinderte“ und „Im Altersheim“. Rotenberg, Quell, 112, 114, 118f., 131, 135, 139f. 470 Aus „Lied des Verworfenen“, in: Rotenberg, Quell, 141. 86

3.3 „Laß mein Volk ziehen“ – Überlegungen zur Exodus-Rezeption

Die Exoduserzählung zählt nicht nur zu den Höhepunkten der Weltliteratur, sondern ist einer der wirkmächtigsten Texte, die seit der Antike die europäische Geistesgeschichte beeinflusst und mitgeprägt haben.471 Mit ihrer Schilderung zutiefst menschlicher Grundprobleme wie Unterdrückung und Verfolgung und zutiefst menschlicher Hoffnungen wie die auf Freiheit und Selbstbestimmung wirkt es ebenso in religiöser wie in profaner Kunst bis heute nach. Eine existentiell-politische Dimension erlangte die Botschaft der Befreiung Israels aus der Sklaverei für die afroamerikanische Befreiungsbewegung. Ihr Spiritual „Let my people go“ zählt wohl zu den berühmtesten Beispielen der Exodus-Rezeption.472 Ebenso politisch wirksam wurde der biblische Exodusnarrativ in der Befreiungstheologie: Die Botschaft von der Errettung des unterdrückten Volkes Israel wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt im Einsatz für die sozial und wirtschaftlich unterdrückten Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas. Mittlerweile ist die Befreiungstheologie auch in vielen Ländern Asiens und Afrikas verbreitet.473 „Laß mein Volk ziehen“ – dieser prägnante wie eindringliche Appell Moses und Aarons an den ägyptischen Pharao wurde für Stella Rotenberg zur Inspiration ihrer lyrischen Exodus-Rezeption. Wie zahlreiche Autorinnen und Autoren des antifaschistischen Exils,474 nimmt sie in vielfältiger Form auf die Exoduserzählung Bezug. In insgesamt drei Gedichten greift sie auf unterschiedliche Themen und Motive des zweiten Buches der Tora zurück: In „Das Gewissen der Welt“475 rezipiert sie Teile des Dekalogs (Ex 20,2–17; vgl. Dtn 5,6–21), in „Passahfest 1944“476 den göttlichen Auftrag zur Feier des Pessachfestes (Ex 12) sowie in „Laß mein Volk ziehen“477, dem die folgende Analyse gilt, die Aufforderung Moses und Aarons an den Pharao, das Volk Israel in die Wüste ziehen zu lassen, um dort für JHWH ein Fest zu feiern (Ex 5,1). In allen drei Gedichten verbindet die Lyrikerin die biblischen Texte mit der Erfahrung der Shoa und transformiert sie damit in ihre eigene Lebenswelt. Während diese Verknüpfung in „Das Gewissen der Welt“ und „Laß mein Volk ziehen“ auf metaphorischer Ebene erfolgt, situiert Stella Rotenberg ihre Pessach-Rezeption explizit in den historischen Kontext des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. In Form eines Gebetes jüdischer Häftlinge während der Zeit des Pessachfestes im Jahr 1944 verbindet sie den biblischen Referenztext mit der Shoaerfahrung von Jüdinnen und Juden im 20. Jahrhundert. Damit setzt sie einen

471 Vgl. Fischer, Georg – Markl, Dominik: Das Buch Exodus (NSK – AT), Stuttgart 2009, 9. 472 Vgl. ebd., 397f. und Willi-Plein, Ina: Das Buch vom Auszug. 2. Mose (Exodus) (Kleine Biblische Bibliothek), Neukirchen-Vluyn 1988, 43. 473 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 399. 474 Vgl. Braun, „Unverlierbares Exil“, 365. 475 Vgl. Rotenberg, Quell, 61. 476 Vgl. ebd., 56. 477 Vgl. ebd., 62. 87

Kontrapunkt zur Vorlage: Während die Betenden des Gedichtes der biblischen Befreiungserfahrung schlechthin gedenken, sind sie, selbst Gefangene in einem KZ, dem Untergang geweiht. Pessach erhält in dieser Situation höchste Aktualität:

„[…] führ uns aus Knechtschaft hier mit mächt’ger Hand. Deine Gebote hast du uns gegeben, daß wir nicht untergehen, sondern leben, dein Volk! Zieh deine Hand nicht von uns in der Not.“478

3.3.1 Zur Exoduserzählung (insbesondere Ex 1–15)

Der Auszug Israels aus Ägypten ist die kollektive Ursprungserzählung Israels.479 Zum ersten Mal ist in der Exoduserzählung von Israel als „Volk“ (Ex 1) und als „ganze Gemeinde“ (Ex 12) die Rede.480 Israel wird in Ägypten aber nicht nur zu einem großen Volk – es wird zum „Gottesvolk“481. Die Gottesbeziehung Israels erhält im zweiten Buch der Tora eine neue Dimension: Zum ersten Mal in der Bibel offenbart sich Gott namentlich (Ex 3,14) und lässt sich als derjenige erkennen, der aus der Sklaverei befreit und einen Bund mit seinem Volk schließt.482 Die herausragende Bedeutung der Exoduserzählung zeigt sich nicht zuletzt in weiten Teilen der Hebräischen Bibel: „Virtually every kind of religious literature in the Hebrew Bible – prose narrative, liturgical poetry, didactic prose, and prophecy – celebrates the exodus as a foundational event“,483 so Ronald Hendel zur großen innerbiblischen Wirkung des Exodusgeschehens. JHWH wird in der Hebräischen Bibel fortan insbesondere als derjenige näher bestimmt, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat.484 Zwei große thematische Schwerpunkte kennzeichnen das Buch Exodus: das Auszugsgeschehen selbst und die Gottesoffenbarung am Sinai. Wie Christoph Dohmen konstatiert, gliedert sich das Buch anhand dieser thematischen Schwerpunkte in zwei große Teile: Der erste Abschnitt, Ex 1–18, umfasst die Herausführung aus Ägypten (Exodus) mit der Vorgeschichte des Volkes Israel in Ägypten und den nachfolgenden Wüstenwanderungen; der zweite Teil, Ex 19–40, beinhaltet die Theophanie am Gottesberg (Sinai bzw. Horeb) inklusive Bundesschluss, Gesetzesübermittlung sowie der Anweisung zum Bau des Heiligtums und dessen anschließender Ausführung.485 Diese Grobgliederung lässt sich, wie etwa Georg Fischer vorschlägt, in weitere Abschnitte unterteilen. An dieser Stelle soll aufgrund des thematischen Bezugs zum Gedicht

478 Ebd., 56. 479 Vgl. Schmid, Konrad: Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008, 90. 480 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 12. 481 Vgl. Schmid, Konrad: Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments (WMANT 81), Neukirchen-Vluyn 1999, 130. 482 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 54. 483 Hendel, Ronald: The Exodus in Biblical Memory, in: JBL 120/4 (2001), 601–622; 601. 484 Vgl. Schmid, Erzväter, 130. 485 Vgl. Dohmen, Christoph: Exodus 19–40 (HThK.AT), Freiburg i. Br. 2004, 33. 88

Stella Rotenbergs auf den ersten Teil des Buches, Ex 1–18, Bezug genommen werden. Nach Fischer lassen sich für diesen Abschnitt folgende Untergliederungen festmachen: 1. „Vermehrung und Unterdrückung der Israeliten in Ägypten“ (Ex 1–2), 2. „Die Berufung des Mose“ (Ex 3–4), 3. „Erstes Scheitern und Gottes Antwort darauf“ (Ex 5–6), 4. „Gottes Zeichen an Ägypten“ (Ex 7–11), 5. „Pessach, Aufbruch und endgültige Befreiung von Ägypten“ (Ex 12,1–15,21) sowie 6. „Auf dem Weg zum Sinai“ (Ex 15,2–18,27).486 Erich Zenger plädiert hingegen nicht für eine Zweiteilung des Buches und eine daran anschließende Gliederung in Unterkapitel, sondern erkennt im gesamten Buch Exodus sieben Teile: 1. „Jahwe und die Not der Söhne Israels“ (Ex 1,1–6,27), 2. „Die Plagen – Auseinandersetzung mit dem sündigen Pharao“ (Ex 6,28–11,10), 3. „Die wunderbare Rettung“ (Ex 12,1–16,36), 4. „Der Bund“ (Ex 17,1–24,18), 5. „Auftrag zur Errichtung des Heiligtums“ (Ex 25,2–31,18), 6. „Abfall von Jahwe und Erneuerung des Bundes“ (Ex 32,1– 34,35) sowie 7. „Die Errichtung des Heiligtums“ (Ex 35,1–40,38).487 Eine von Zengers Konzept leicht divergierende Siebenteilung schlägt auch Walter Bühlmann vor, wobei er insbesondere Ex 19,1–24,18, den Bundesschluss am Sinai, als Mittelteil und theologisches Zentrum des Buches betont.488 Diese exemplarische Darstellung kann nur einen kleinen Einblick in die Erschließung möglicher Sinneinheiten des Buches bieten, denn die Liste möglicher Gliederungen ließe sich noch lange fortsetzen. Ziel dieses Abrisses war es, die textliche Grundlage der Exodusrezeption Stella Rotenbergs im Überblick vorzustellen. Im Folgenden steht der unmittelbare Kontext, dem die Literatin den Titel ihres Gedichtes „Laß mein Volk ziehen“ entnommen hat, im Mittelpunkt.

Zur Textgrundlage des Gedichts „Laß mein Volk ziehen“ Stella Rotenberg lässt durch den Untertitel ihres Gedichtes, in dem sie explizit Ex 5,1 nennt, klar erkennen, welchen biblischen Text sie diesem zugrunde legt. Dennoch wird aus dem Inhalt des Gedichts offensichtlich, dass die Autorin nicht nur diesen einen Vers fokussiert. Vielmehr steht das Auszugsgeschehen als Ganzes, der gesamte Exodusnarrativ im Blickpunkt ihrer Rezeption. Die bekannte und vielfach rezitierte Formel „Laß mein Volk ziehen“ wird zur Initialzündung ihrer eigenen lyrischen Auseinandersetzung, verortet in der Erfahrung der Shoa und eng verwoben mit ihrem eigenen Schicksal. Dass Stella Rotenberg die gesamte Exoduserzählung bis zur Herausführung Israels aus Ägypten im Blick hat, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der von ihr aufgegriffene Imperativ – nach seiner ersten Nennung in 5,1 – als fixer Bestandteil der Plagenerzählungen

486 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 13. 487 Vgl. Zenger, Erich: Das Buch Exodus (GSL.AT 7), Düsseldorf 31987, 21–24. 488 Vgl. Bühlmann, Walter: Die literarische Komposition und theologischen Anliegen des Exodusbuches. Das Buch Exodus im Überblick, in: BiKi 4 (2007), 238–240; 239. 89

(Ex 7–11) immer wieder kehrt. Insgesamt sechs weitere Male (7,16.26; 8,16; 9,1.13; 10,3) wird der Appell wiederholt, entweder in der Rede JHWHs an Mose, verbunden mit dem Auftrag, diese Worte an den Pharao zu richten, oder in der direkten Rede Moses an den Pharao. Diese Aufforderung muss so lange wiederholt werden, bis sie der Pharao – von JHWH mittlerweile schwer gezeichnet – notgedrungen erfüllt und Israel ziehen lässt (Ex 12,31f.). Ehe JHWH das gesamte Volk aus dem Sklavenhaus führt, erweist er seinen Beistand einem Einzelnen: Mose, der zentralen Gestalt des Exodusgeschehens. Als Moses Leben bereits unmittelbar nach seiner Geburt durch den Mordbefehl des Pharao an allen hebräischen Knaben gewaltsam zu enden droht, sind es „Frauen mit Zivilcourage“489 – seine Mutter und Schwester sowie die ägyptische Königstochter – die den Säugling vor dem Verdikt des despotischen Herrschers retten (1,15–2,10). Erst nachdem Mose selbst gerettet wurde, kann er zum Retter für andere, zum von Gott gesandten Befreier seines Volkes werden. Handelt Mose – inzwischen erwachsen – zunächst noch ohne Auftrag und eigenmächtig (2,11–15a),490 so ereilt ihn – nach einer Zeit der Reifung und Vorbereitung491 – in der Wüste nahe dem Gottesberg Horeb seine Berufung durch JHWH (3,1–4,17). Gott hat das Elend des Volkes gesehen, sein Wehklagen gehört (2,23–25). Nun handelt er, indem er sich Mose als „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (3,6) zu erkennen gibt und ankündigt, Israel in die Freiheit zu führen (3,8). Mose wird er – gemeinsam mit Aaron (4,10–17) – zum Pharao entsenden, um den Auszug Israels zu erwirken (3,10). Nachdem seine Berufung das Volk zur Gemeinschaft untereinander und zur Gemeinschaft mit JHWH492 (3,16) geführt hat, kann Mose daran gehen, seinen Auftrag in die Tat umzusetzen. Hier setzt Stella Rotenbergs Gedicht ein. Sie stellt den Verhandlungsbeginn Moses und Aarons mit dem Pharao als titulares Zitat an die Spitze ihres lyrischen Textes. Um dieses in seinem biblischen Kontext besser verorten zu können, soll nun insbesondere die Perikope Ex 5,1–6,1 näher beleuchtet werden. Diese Verse als Sinneinheit zusammen zu lesen wurde etwa von Erich Zenger493, Ina Willi-Plein494 und William H. C. Propp495 vorgeschlagen. Dieser Bibeltext muss im Hintergrund des Gedichtes als stets präsent gedacht werden, gilt doch Ex 5 als „Modellfall für erbarmungslose Ausbeutung“496 und

489 Fischer, Gottesstreiterinnen, 166. Zur gesamten Rettungserzählung des Mose durch weibliche Initiative siehe ebd., 160–172. 490 Vgl. Zenger, Exodus, 39. 491 Vgl. Willi-Plein, Auszug, 21f. 492 Vgl. Zenger, Exodus, 55. 493 Vgl. ebd., 66–76. 494 Vgl. Willi-Plein, Auszug, 41–47. 495 Vgl. Propp, William H. C.: Exodus 1–18. A New Translation with Introduction and Commentary (The Anchor Bible), Doubledav 1999, 243–261. 496 Fischer – Markl, Exodus, 88. 90

Repression – zentrale Themen auch der Lyrik Stella Rotenbergs. Als Grundlage der folgenden Ausführungen dienen – analog zum vorherigen Kapitel – der masoretische Text und zwei deutschsprachige Übersetzungen: die Lutherbibel von 1912 und als zeitgenössisches Pendant eine Übertragung des Alttestamentlers Erich Zenger. Als unmittelbarer Kontext des Zitats werden im Folgenden die ersten beiden Verse (Ex 5,1f.) wiedergegeben:

BHS497 Luther-Bibel von 1912498 Übersetzung Zenger499 Darnach ging Mose und Danach gingen Mose und וְאַחַ֗ ר בָּ֚ אוּ מֹשֶׁ ֣ ה וְאַהֲ רֹ֔ ן וַ יּ ֹאמְר֖ וּ 1 Aaron hinein und sprachen zu Aaron hinein und sagten zum אֶ ל־פַּרְ עֹ֑ ה כֹּֽ ה־אָמַ ֤ ר יְהוָה֙ אֱ ֵ ֣ ֹלהי Pharao: So sagt der HERR, Pharao: So spricht Jahwe, der Gott Israels: Laß mein der Gott Israels: Entlasse יִשְׂרָ אֵ֔ ל שַׁ לַּח֙ אֶ ת־עַמִּ֔ י וְיָחֹ֥ גּוּ לִ ֖ י Volk ziehen, daß mir's ein mein Volk, damit sie ein fest בַּמִּדְבָּ ֽ ר׃ Fest halte in der Wüste. feiern für mich in der Wüste. Pharao antwortete: Wer ist Da sagte der Pharao: Wer ist וַ יֹּ֣ ֶ אמר פַּרְ עֹ֔ ה מִ ֤ י יְהוָה֙ אֲשֶׁ ֣ ר 2 der HERR, des Stimme ich denn Jahwe, daß ich auf ,hören müsse und Israel seine Stimme hören sollte אֶשְׁמַ ֣ ע בְּ קֹל֔ וֹ לְשַׁלַּ ֖ח אֶ ת־יִשְׂרָאֵ ֑ ל ziehen lassen? Ich weiß Israel zu entlassen? Ich לֹ֤ א יָדַ֨ עְתִּי֙ אֶ ְת־י ָ֔ הוה וְגַ ֥ם nichts von dem HERRN, will kenne Jahwe nicht, und Israel אֶ ת־יִשְׂרָאֵ ֖ ל לֹ֥ א אֲשַׁלֵּ ֽחַ ׃ auch Israel nicht lassen werde ich nicht entlassen. ziehen.

Nachdem das ganze Volk durch Worte und Zeichen zum Glauben an JHWH gefunden hat (Ex 4,29–31), nehmen Mose und Aaron die geplanten Verhandlungen mit dem Pharao auf (V1). Auffallenderweise wird dieser namentlich nie genannt. Wie Ronald Hendel anmerkt, könnte das Fehlen des Pharaonennamens Bestandteil des immer wieder kehrenden „Verstockungsmotivs“500 (Ex 1–15) der Exoduserzählung sein und eine ähnliche Funktion besitzen, wie jenes in der Preisgabeerzählung Sarais (Gen 12,15–20).501 Wie der namenlose Pharao in Gen 12 erst durch das Eingreifen JHWHs gezwungen wird, Sarai aus seinem Harem, in den sie infolge der Preisgabe durch Abram geraten war, zu entlassen, so wird auch der namenlose Pharao der Exoduserzählung erst infolge göttlichen Handelns einwilligen, das in der Sklaverei gefangene Volk Israel ziehen zu lassen. Im kanonischen Endtext der Tora wird, wie Irmtraud Fischer konstatiert, die Befreiung Sarais zur Präfiguration des Auszugs Israels aus Ägypten.502 Wie sich JHWH der gefährdeten Verheißungsträgerin annimmt, so wird er sich auch seines versklavten Volkes annehmen.

497 Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS), in: http://www.bibelwissenschaft.de/nc/online-bibeln/biblia-hebraica- stuttgartensia-bhs/lesen-im-bibeltext/bibelstelle/ex5,1-6,1/anzeige/single/#iv, zuletzt abgerufen am 26.2.2010. 498 Lutherbibel von 1912, in: http://www.bibel-online.net/buch/02.2-mose/5.html und http://www.bibel- online.net/buch/02.2-mose/6.html, zuletzt abgerufen am 26.2.2010. 499 Zenger, Exodus, 67. 500 Zur Verstockung des Pharao im Exodusbuch siehe Kellenberger, Edgar: Die Verstockung Pharaos. Exegetische und auslegungsgeschichtliche Untersuchungen zu Exodus 1–15 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament. Neunte Folge, Heft 11), Stuttgart 2006. 501 Vgl. Hendel, Exodus, 604. 502 Vgl. Fischer, Gottesstreiterinnen, 25. 91

Unter Verwendung der aus Ex 4,22 bekannten Botenformel leiten Mose und Aaron in 5,1 ihre Rede an den Pharao ein:503 Sie fordern die Entlassung des Volkes, damit dieses seinem Gott JHWH in der Wüste ein Fest feiere. Ihr Ansinnen findet jedoch kein Gehör: Möglicherweise liegt der Grund darin, wie William H. C. Propp anmerkt, dass Mose die göttlichen Instruktionen für die Verhandlungen mit dem Pharao nur unvollständig ausführte. So lautete in Ex 3,18f. der Auftrag, auch die Ältesten Israels vor den Pharao zu bringen und in Ex 4,23, dem Pharao mit dem Tod seines erstgeborenen Sohnes zu drohen, falls er Israel nicht ziehen lassen wolle. Eine vollständige Ausführung der Weisung JHWHs wird erst in Ex 11,4–6 erfolgen, wo Moses die Worte JHWHs aus 4,22f. spricht.504 In V2 wird der in Ex 3,19f. und 4,21 angekündigte Widerstand des Pharao Realität: „Wer ist JHWH, dass ich auf seine Stimme hören sollte, Israel freizulassen? Ich habe JHWH nicht erfahren, und auch werde ich Israel nicht freilassen.“ In Spr 30,9 bedeutet die Frage „Wer ist JHWH?“ ein bewusstes Verleugnen Gottes. In ähnlicher Weise sagen die Frevler im Ijobbuch zu Gott: „Wer ist Schaddaj, dass wir ihm dienen sollten?“505 Dementsprechend schlussfolgert Edgar Kellenberger in seiner Studie zum Verstockungsmotiv in Ex 1–15: „Pharaos Frage ist kein Zeichen mangelnder Information, sondern eine bewusste und entehrende Herabsetzung JHWHs.“506 kennen, wissen) im Munde des Pharao begegnet in V2 zudem ein Leitwort) ידע Mit der Exoduserzählung. Im Verlauf der Erzählung ist es sowohl mit der göttlichen (JHWH) als auch mit der menschlichen Sphäre (Israel und Ägypten) verbunden. Als voraus weisendes Signal auf das Auszugsgeschehen stellt das Nicht-Wissen des ägyptischen Volkes und insbesondere seines Pharao ein tragendes thematisches Element des Buches dar. Ziel und Kennzeichen der folgenden Plagenerzählungen (Ex 7–11) wird es sein, Ägypten mit JHWH, dem Gott Israels, bekannt zu machen.507 In V3 wechseln Mose und Aaron vom Imperativ (V1) zum Wunsch („wir wollen“). Ergänzt wird dies im Hebräischen entsprechend der Vorlage Ex 3,18 durch die Formulierung „doch, bitte“. Zudem verleihen die beiden Sprecher ihrer Forderung mit der Warnung vor Seuche („Pest“) und Krieg („Schwert“) Nachdruck. Beide Bedrohungsszenarien finden auch in Lev 26,25 in Zusammenhang mit Ungehorsam und Fluch Erwähnung. Als Adressat der Strafandrohung im Falle des Ausbleibens des von JHWH gewünschten Festes muss allerdings nicht nur Israel gesehen werden: Die Formulierung „uns“ kann auch als versteckte, den Pharao und Ägypten mit einschließende Warnung verstanden werden.508

503 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 82. 504 Vgl. Propp, Exodus, 259. 505 Vgl. Kellenberger, Verstockung, 120f. 506 Ebd., 121. 507 Vgl. Utzschneider, Helmut: Gottes langer Atem. Die Exoduserzählung (Ex 1–14) in ästhetischer und historischer Sicht (SBS 166), Stuttgart 1996, 56–62. 508 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 82f. 92

In seiner Antwort in V4f. wendet sich der Pharao dezidiert und namentlich an Mose und Aaron, denen er befiehlt, wieder an ihre Fronarbeit zurückzukehren, und unterscheidet sie so vom Volk, das er durch die Beiden zur Untätigkeit verleitet sieht.509 Damit endet die Unterredung Moses und Aarons mit dem Pharao. Diese ist nicht nur erfolglos verlaufen, sondern führt – als Konsequenz des Aufbegehrens – zu einer drastischen Verschärfung der Arbeitsbedingungen: Bei gleich bleibendem Produktionssoll müssen die israelitischen Arbeiter den für die Ziegelherstellung nötigen Rohstoff („Stroh“, „Häcksel“) zusätzlich selbst beschaffen (V6–12). „Die harte Arbeit soll sie in jeder Hinsicht, geistig und körperlich, niederhalten“,510 so Erich Zengers Resümee der Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik des Pharao. Dass das übliche Soll unter diesen Bedingungen nicht aufrechterhalten werden kann, versteht sich von selbst. Die Folgen sind zunächst Ermahnungen, dann Schläge, die die israelitischen Schreiber als Bindeglied zwischen den ägyptischen Antreibern und dem arbeitenden Volk in voller Härte treffen (V13f.). Auf diese Weise führt der Pharao eine Art „Stellvertreter-Krieg“: Er wendet sich nicht an Mose und Aaron, sondern trifft mit seinen Repressionen die unteren Schichten.511 Wie Ina Willi-Plein anmerkt, geht es bei dieser Taktik vor allem darum, „die Unterdrückten untereinander uneinig zu machen“. Die Politik des Pharao treibt sowohl einen Keil zwischen Mose und Aaron auf der einen Seite und dem Volk auf der anderen Seite, als auch zwischen die israelitischen Listenführer, die den Druck von oben weitergeben müssen, und die einfachen Arbeitskräfte, die am untersten Ende der Machtskala stehen.512 Als die Last immer unerträglicher wird, ergreifen die Schreiber selbst die Initiative, wenden sich an den Pharao und legen ihm die Unerfüllbarkeit seiner Forderungen dar (V15f.). Dieser weist die Schuld jedoch mit dem Vorwurf der Faulheit an die Israeliten zurück.513 Carol Meyers expliziert diese Verkehrung der Tatsachen wie folgt: „The oppressor depicts his measures as necessary treatment for an inherently lazy people (5:17) – a classic case of ‚blaming the victim’ as a justification for tyranny.“514 In V18 wiederholt der Pharao den bereits bekannten Befehl: Die Arbeiter müssen das gleiche Soll wie bisher erfüllen, und auch für die Beschaffung des Rohstoffes bleiben sie weiterhin selbst verantwortlich. Mit dieser aussichtslosen Lage konfrontiert (V19) treffen die Schreiber auf Mose und Aaron, die bereits auf ihr Kommen gewartet haben (V20). Ihre Wut und Verzweiflung richtet sich nun gegen die Gesandten JHWHs. Über sie wünschen sie ein Gottesgericht herbei; ihnen werfen sie vor, sie beim Pharao und seinen Dienstleuten „in so üblen Geruch gebracht

509 Vgl. Willi-Plein, Auszug, 46. 510 Zenger, Exodus, 68. 511 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 85. 512 Vgl. Willi-Plein, Auszug, 46. 513 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 86f. 514 Meyers, Carol: Exodus, Cambridge 2005, 67. 93 und ihnen ein Schwert in die Hand gegeben“ zu haben (V21). Der Bezug zu Gen 34,30, wo Simeon und Levi durch ihr Vorgehen gegen die Sichemiten ihren Vater Jakob in „üblen Geruch“ bringen (EÜ: in Verruf bringen), zeigt, wie Georg Fischer konstatiert, die hohe Gefährdung des israelitischen Volkes.515 „Mose steht vor einem Scherbenhaufen“,516 bringt Ina Willi-Plein die aussichtslos scheinende Lage des Propheten auf den Punkt. Er zweifelt an Gott und seiner Sendung, verweigert jedoch nicht – wie Kain in Gen 4 – die Kommunikation mit JHWH. In V22 richtet und er kehrt zurück“) und wirft ihm vor, die„ :וַיָּ ֧שָׁ ב Mose seine Klage direkt an Gott (wörtlich

Notlage Israels verursacht zu haben. Erst in V23 benennt er den Pharao als den wahren Schuldigen der Misere. Mit der Bezeichnung „dein Volk“ unterstreicht Mose zudem die Verantwortung JHWHs für Israel – eine Verantwortung, der dieser bis dato nicht nachgekommen ist517 („Doch herausgerissen, herausgerissen hast du dein Volk nicht!“). Moses Appell verhallt nicht ungehört: Gerade im Augenblick höchster Not und Verzweiflung sagt JHWH seinen wirksamen Beistand zu (6,1). „Nicht der pharaonenhafte Anti-Jahwe ist die eigentliche Macht der Geschichte, sondern die Güte Jahwes, die sich in der Errettung seines Volkes in äußerster Verlassenheit erweist“,518 wie Zenger an diesem erzählerischen Wendepunkt den Grundtenor der Exodusgeschichte betont. Die nächsten Kapitel sind dem Prozess der Rettung des Gottesvolkes gewidmet, dem „größten Schauspiel […], das die Weltgeschichte bieten kann“519: Es ist der Machtkampf zwischen Gott und Pharao, ein Ringen zwischen göttlicher und irdischer Macht.520 Die Rettung Israels erfolgt nicht sofort, sondern vollzieht sich erst nach und nach, ist voller Rückschläge, bevor das fulminante Finale eintritt. Gezielt baut die Erzählung einen Spannungsbogen auf und unterstreicht damit das Zentralereignis des Volkes Israel. Benno Jacob expliziert die Intention der literarisch ausladenden Gestaltung der Exodusgeschichte folgendermaßen: „Die Tora will erreichen, daß der Auszug aus Ägypten von den Israeliten als dasjenige Ereignis begriffen werde, durch welches das Dasein seines Volkes wie auf einem ewigen Felsengrunde errichtet worden sei, so daß jedes künftige Erlebnis davor in den Schatten trete. […] Es ist daher zu erwarten, daß die Tora diese Geschichte mit aller Eindringlichkeit, mit der Kraft und Fülle ihrer Darstellungsmittel erzählt und sie voll und breit erst allmählich entfaltet.“521

515 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 87. 516 Vgl. Willi-Plein, Auszug, 47. 517 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 88. 518 Zenger, Exodus, 71. 519 Jacob, Benno: Das Buch Exodus, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, 137. 520 Zu der als kriegerische Auseinandersetzung stilisierten Konfrontation zwischen JHWH und dem Pharao in Ex 1–14 siehe Obermayer, Bernd: „Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen YHWHs Zebaoth!“ Die biblische Rede vom Krieg und das Bild des fremden Herrschers in ausgewählten alttestamentlichen Kriegsnarrativen, Dipl. Arb. Graz 2008, 77–89. 521 Jacob, Exodus, 138. 94

Nachdem JHWH in Ex 6 Mose erneut sein Eingreifen zugunsten des versklavten Volkes zugesagt hat, setzt mit Ex 7 eine neue Phase der Konfrontation Gottes mit dem Pharao ein. Das Geschehen bestimmt von nun an nicht mehr der ägyptische Herrscher, sondern JHWH.522 „Zeichen und Wunder“, deren vermehrtes Auftreten JHWH in 7,3 ankündigt, werden den Pharao nötigen, Israel in die Freiheit zu entlassen. Ziel der Auseinandersetzung ist aber nicht nur der Sieg über den Pharao, sondern die Erkenntnis JHWHs in Ägypten (7,5). „Der Tod des Götzen Pharao soll denen, die ihm untertan waren, die Augen und das Herz öffnen für die eigentliche Wirklichkeit ‚Er ist da‘, der Gott des Lebens und der Freiheit“,523 wie Erich Zenger die eigentliche Intention der Erzählung charakterisiert. Bis zum Ende von Ex 10 treffen neun Plagen bzw. „Gottesschläge“524 den Pharao, sein Volk und das Land Ägypten. Im Verlauf der Erzählung festigt sich das Bild des despotischen ägyptischen Herrschers, der sich auch angesichts der hereinbrechenden Naturkatastrophen kaum um sein Volk kümmert, nur auf Schaden reagiert und sein gegebenes Wort unverzüglich wieder bricht.525 Keines der neun Zeichen, die Ägypten und seine Bevölkerung schwer schlagen, vermag den Pharao dazu zu bewegen, Israel ziehen zu lassen. Letztlich bricht er die Verhandlungen mit Mose ab und verbietet diesem, ihm jemals wieder unter die Augen zu treten (10,28). Nun trifft ein letzter, ultimativer Schlag Ägypten und seinen unnachgiebigen Pharao (11,1): der Tod aller Erstgeborenen – vom Sohn des Pharao bis hin zu jeder Erstgeburt des Viehs (V4–6). Bevor JHWH die Ankündigung in die Tat umsetzt (12,29), instruiert er sein Volk für die Feier der beiden Gedächtnisfeste Pessach und Mazzot (12,1–20). Noch in der Fremde konstituiert sich damit Israel als religiöse Gemeinschaft, gleichsam als „Vorwegnahme der von Gott geschenkten Freiheit und neuen Würde“526. Sowohl das Pessach- als auch das Mazzot-Fest (12,14.17) sollen als „ewige Satzung“ in allen Generationen begangen werden – zur Erinnerung an die Herausführung aus Ägypten.527 In Ex 12,29 wird der angekündigte zehnte Schlag Gottes vollzogen. Nun muss sich der Pharao dem übermächtigen Druck endgültig beugen. Er gibt die Israelitinnen und Israeliten frei, ja, fordert sie sogar auf, sein Land zu verlassen (12,31). Der Exodus wird nun endlich Realität: Mit V37 erfolgt der Aufbruch symbolträchtig von Ramses aus, dem „Hauptort der Unterdrückung und der Unfreiheit“528 (vgl. Ex 1,11). Im Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 13,17–14,31), wo JHWH Israel abermals vor dem Pharao und seiner den Ausziehenden folgenden Streitmacht rettet, wird die Befreiung endgültig. Mit den Siegesliedern des Mose und der Prophetin Mirjam (Ex 15,1–21) – Hymnen auf JHWH und

522 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 99. 523 Zenger, Exodus, 87. 524 Vgl. Jacob, Exodus, 174–177. 525 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 99. 526 Vgl. ebd., 132. 527 Vgl. ebd., 136. 528 Zenger, Exodus, 130. 95 sein rettendes Handeln529 – endet der erste große Abschnitt der Exoduserzählung.530 Der Auszug ist vollbracht. Nun ist das Volk auf dem Weg zum Sinai, der Gottesbegegnung entgegen.

3.3.2 Zum Exodus-Motiv in der Literatur

Die befreiende Kraft der Exoduserzählung spiegelt sich über Jahrhunderte in seiner Rezeptionsgeschichte wider. Einerseits korrelierten die Lesenden ihre eigenen Erfahrungen mit dem biblischen Text, um sie vom biblischen Hintergrund her zu interpretieren, andererseits erschien der Text durch den aktuellen Erfahrungshintergrund jeweils in neuem Licht.531 Besonders die Figur des Mose und die mit ihr verbundene Fülle an Einzelmotiven regte seit der Antike zu literarischen Auseinandersetzungen an. Die Literaturschaffenden der Renaissance, des Barock und der Romantik verfassten vor allem Mose-Epen und Dramen. Friedrich Schiller zeichnete in seinem Werk „Die Sendung des Mose“ bereits ein aufgeklärtes Bild des Mose. Sein Zeitgenosse Johann Gottfried Herder pries in seiner Schrift „Vom Geist der hebräischen Poesie“ Mose als Gesetzgeber und als einen für die Literatur Israels überaus bedeutsamen Sammler von Volkssagen. Johann Wolfgang Goethe beschrieb in seinem Aufsatz „Israel in der Wüste“ Mose ebenso als herausragende Persönlichkeit, als einen Mann, „der durch seine Natur zum Größten getrieben ist“.532 In der Literatur des 20. Jahrhundert erfolgte die Bearbeitung des Mose-Stoffes nahezu ausschließlich in der ersten Jahrhunderthälfte. Der Großteil der lyrischen Texte, die im 20. Jahrhundert die Figur des Mose rezipierten, setzten sich mit der Endphase seines Lebens und seinem Tod – und damit mit dem Buch Deuteronomium – auseinander. Exponentinnen und Exponenten dieser Mose-Rezeption sind etwa Else Lasker-Schüler mit ihrem 1913 erstmals veröffentlichten Gedicht „Moses und Josua“ (vgl. Dtn 31,1–8) oder Rainer Maria Rilke mit seinem ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Gedicht „Der Tod Moses’“ (vgl. Dtn 34).533 Seit Goethes Erzählzyklus „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ (1795) erwies sich insbesondere die Verknüpfung des Exodusgeschehens mit dem Motiv des babylonischen Exils als bedeutsames Motiv der deutschsprachigen Literatur. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurden die biblischen Exodus- und Exilserzählungen zusehends säkularisiert und in existenzialistischer Weise interpretiert.534 Ab 1933 wurde die

529 Vgl. Zenger, Exodus, 151. 530 Vgl. Markl – Fischer, Exodus, 175. 531 Vgl. Langston, Scott M.: Exodus. Through the Centuries (Blackwell Bible Commentaries. Through the Centuries), Oxford 2006, 10. 532 Vgl. Fischer – Markl, Exodus, 397. 533 Vgl. Bodenheimer, Alfred: Mose, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Personen und Figuren, Mainz 22000, 119–136; 119–121. 534 Vgl. Braun, „Unverlierbares Exil“, 360. 96

Erinnerungsfigur des Exodus auch zu einem zentralen Ausdrucksmittel der antifaschistischen Literatur. Besonders in der Exilliteratur erwies sich der Motivkomplex von Exodus und Exil als Grundmetapher des eigenen Schicksals der Autorinnen und Autoren. „Exil und Exodus werden dabei als zwei Grundintervalle der jüdischen Geschichte und des jüdischen Lebens betrachtet, die die Erfahrung von Fremde und Heimat thematisieren“, so Ulrike Schneider in ihrem rezeptionsgeschichtlichen Beitrag zu den Exilautoren Robert Neumann und Soma Morgenstein.535 In der Literatur des Exils und des Widerstandes war es vor allem die Retterfigur des Mose, die die Aufmerksamkeit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in besonderer Weise auf sich zog. In Ernst Blochs Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ gewinnt Mose aus Leid und Empörung die Kraft zur Befreiung. Thomas Mann hebt in seiner Novelle „Das Gesetz“ ebenfalls das Elend und die menschliche Größe Moses hervor. Rose Ausländer wiederum stellt sich in einem ihrer späten Gedichte in die direkte Nachkommenschaft des durch die Wüste ziehenden Propheten: „Ich / Mosestochter / wandel durch die Wüste.“536 In Dietrich Bonhoeffers im September 1944 in Tegeler Haft entstandenem Gedicht „Der Tod des Moses“ weiß die lyrische Mosefigur – wie in der biblischen Vorlage – dass ihr der Einzug ins verheißene Land verwehrt bleibt, dass die persönliche Erfüllung nicht mehr stattfinden wird. Dennoch stirbt Bonhoeffers Mose getröstet, war er doch imstande, das Volk bis unmittelbar vor den lang ersehnten Einzug ins Land zu führen.537 Wie Mose kurz vor dem Erreichen seines Zieles stirbt, so kommt auch Bonhoeffer selbst nur wenige Tage vor dem Erreichen seines Zieles, der Beendigung des Zweiten Weltkrieges,538 ums Leben – vielleicht wie der Mose seines Gedichtes in der Hoffnung, „daß ein neues Volk hier werde“539. Die deutschsprachige Exodusrezeption im 20. Jahrhundert war zum größten Teil gegenwartsbezogen und gegenwartsdeutend. Vielfach hatte sie zeitgeschichtliche Ereignisse im Blick, allen voran die Massenflucht aus dem nationalsozialistischen Machtbereich und die Shoa, später auch auf die Fluchtbewegungen aus der DDR. Es gibt keine Gattungen und Formen, in die der biblische Exodus im Laufe des 20. Jahrhunderts keinen Eingang gefunden hätte. Die literarischen Bearbeitungen reichen von Nachgestaltungen über Transformierungen bis hin zu Neuinterpretationen. Die Erfahrung der Shoa brachte zudem vielfach eine neue Wahrnehmung des Exodusgeschehens mit sich: Im 20. Jahrhundert ging die Vorstellung eines göttlich geführten Auszugs und die Gewissheit einer Heimkehr ins Gelobte Land in der Regel verloren. Es lag

535 Schneider, Ulrike: Die Erinnerungsfigur des Exodus als literarisches Mittel einer zeitgeschichtlichen jüdischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58 (2006), 243–262; 243. 536 Vgl. Braun, „Unverlierbares Exil“, 365f. 537 Vgl. Bodenheimer, Mose, 122f. 538 Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet. Vgl. Henkys, Jürgen: Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft, in: Brakelmann, Günter – Jähnichen, Traugott (Hg.): Dietrich Bonhoeffer – Stationen und Motive auf dem Weg in den politischen Widerstand (Zeitansage 2), Münster 2005, 159–178; 164. 539 Bodenheimer, Mose, 123. 97 nunmehr allein bei den Menschen, sich zu befreien, zu erlösen oder selbst zu vernichten. Diese Wende ist jedoch nicht als universell anzusehen: Nelly Sachs tendierte in einigen ihrer Gedichte dahingehend, das Schicksal der Exilierten durchaus als göttlich beeinflusst zu sehen – „als Epiphanie Gottes […], der mit seinem Volk ins Exil zieht“.540 Ob göttliches Wirken angenommen wurde oder ausgeklammert blieb: Exil und Exodus waren zentrale und vielfach rezipierte Motive in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Oftmals verschmolzen sie gleichsam zu einer einzigen Erinnerungsfigur. Beide wurden lebens- und überlebensdeutend.

3.3.3 Das Gedicht „Laß mein Volk ziehen“ im Spiegel der biblischen Exoduserzählung und deren literarischer Rezeption

Laß mein Volk ziehen 2. Buch Mose, 5.1

Unter e i n e m Dach und an e i n e m Tisch wollen wir mit den Geschwistern sein…

Die wir übrig sind aus der Zeit der Angst aus der Zeit voll Blut: Laßt uns sein!

Keiner wehre uns unser Atemziehen, keiner schlag in Eisen unser Sein!

Denn wer Hand anlegt an Entrechtete wird für alle Zeit gezeichnet sein.541

Stella Rotenbergs Gedicht „Laß mein Volk ziehen“ ist durch seinen Titel – ein Zitat aus der Exoduserzählung – explizit intertextuell markiert. Verstärkt wird die titulare Intertextualität zudem durch den Untertitel „2. Buch Mose, 5.1“, mit dem die Autorin dezidiert auf den intertextuellen Bezug ihres Gedichtes hinweist. Die Zitation der Exoduserzählung erfolgt in der für die Luther-Bibel üblichen Weise. Durch die doppelte titulare Markierung verfügt das Gedicht über eindeutige, unübersehbare intertextuelle Signale. Ihnen kommt auch insofern besondere Bedeutung zu, als im Gedicht selbst keine weiteren expliziten Intertextualitätsindikatoren auftreten. Strukturell weist das Gedicht einen symmetrischen Aufbau auf. Es besteht aus vier Dreizeilern, die ein identisches, strophenübergreifendes Reimschema aufweisen: Die jeweils letzte Zeile einer Strophe besteht aus dem immer wieder kehrenden selben Wort – „sein“

540 Vgl. Braun, „Unverlierbares Exil“, 383f. 541 Rotenberg, Quell, 62. 98 bzw. „Sein“. Durch die viermalige Wiederholung und seine exponierte Stellung am Strophenende erlangt das Verb „sein“ – einmal in substantivischer Form – besondere Relevanz. Unterstrichen wird die Bedeutsamkeit dieses Wortes durch die auffallende Versgestaltung: Stets führen zwei kurze Verse zu einem dritten, längeren Vers, der den semantischen Höhepunkt der Strophe enthält.542 „Sein“ wird damit zum Leit- und Schlüsselwort des Gedichtes, in dessen inhaltlichen Zentrum das Recht auf Existenz, auf Leben steht. Stella Rotenbergs Gedicht entstand im Jahr 1973.543 Heute kann sie sich an den Entstehungsprozess oder spezielle auslösende Momente nicht mehr erinnern.544 Vielmehr greift die Autorin in „Laß mein Volk ziehen“ ein Thema auf, das ihr Leben in entscheidender und nachhaltiger Weise geprägt und verändert hat: den Verlust ihres Existenzrechtes als Jüdin in Österreich. „Es war doch das einschneidende Erlebnis in meinem ganzen Leben. Denn was habe ich hier zu suchen? Ich bin aus Wien. Jetzt lebe ich seit Jahrzehnten in England“, beschreibt Stella Rotenberg ihre Lebensbürde Flucht und Exil. In der ersten Strophe verwendet Stella Rotenberg als besonderes Stilmittel die Sperrung.545 Zweimal betont sie mithilfe dieses Stilelements den unbestimmten Artikel: „Unter e i n e m Dach / und an e i n e m Tisch / wollen wir mit den Geschwistern sein“. Durch diese gezielte stilistische Hervorhebung treten zentrale Aspekte des Gedichts in den Blickpunkt: Gemeinschaft und Einheit. Daraus wird deutlich: Bloße Existenz alleine ist zuwenig. Ein gelungenes Leben erfordert weitaus mehr. Das ist es, wofür Stella Rotenberg in ihrem Gedicht plädiert: für das Recht auf Gemeinschaft und gegen gewaltsame Trennungen jeglicher Art, die die Dichterin selbst auf schmerzliche Weise erfahren musste. Doch nicht nur ihren persönlichen Verlusten gilt der Fokus ihres Gedichtes. Mittels der Formulierung „mit den Geschwistern“ spricht die Dichterin, wie sich in der zweiten Strophe zeigt, im Namen der Überlebenden der Shoa. Erst an dieser Stelle wird das lyrische „Wir“ der ersten Strophe explizit: Mit der Formulierung „Die wir übrig sind“ verweist Stella Rotenberg auf einen kleinen Rest, der die Katastrophe – die „Zeit der Angst“, die „Zeit voll Blut“ – überlebt hat. Durch diesen zweifachen Verweis auf die grauenvollen Charakteristika der Vergangenheit schafft Stella Rotenberg mit dem sprachlich einfachen, aber dafür umso wirkungsvolleren Mittel der Wiederholung den Schrecknissen, denen sie und manch andere gerade noch entrinnen konnten, plastische Präsenz. „Angst“ und „Blut“ – mehr braucht es nicht, um den Genozid an Millionen Jüdinnen und Juden zu vergegenwärtigen.

542 Für Hinweise zur Reimstruktur des Gedichtes danke Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel, Institut für Germanistik, Universität Graz, sehr herzlich. 543 Vgl. Rotenberg, Quell, 215. 544 Vgl. Interview Rotenberg, 3.7.2009. 545 Für den Hinweis auf dieses Stilmittel gilt mein besonderer Dank wiederum Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel. 99

Doch der Fokus des Gedichts gilt nicht in erster Linie den Ermordeten, sondern den Überlebenden der Schreckenszeit: Für sie fordert Stella Rotenberg das simple Recht auf Existenz – ein Recht, das so vielen ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen verwehrt wurde. Im Appell „Laßt uns sein!“, mit dem die zweite Strophe endet, transformiert die Autorin das Zitat aus Ex 5,1 gleichsam in ihre Zeit und Gegenwart. Nicht ein despotischer Pharao ist Adressat ihres Aufrufs, sondern alle Menschen der Gegenwart und Zukunft, alle potentiellen Täterinnen und Täter, alle, die in die Fußstapfen der Unterdrückerinnen und Unterdrücker, der Möderinnen und Mörder treten könnten. Die nationalsozialistische Gewalt hat ein Ende gefunden, doch die Gefahr, dass sie wieder ausbricht, besteht für die Dichterin zu allen Zeiten und allerorts: „Die Leute haben gemeint, das kann nur in Deutschland passieren. Das kann irgendwo passieren. Wenn die Arbeitslosigkeit groß genug ist, kann es irgendwo passieren.“546 Die Gewissheit, in Sicherheit zu leben, sieht sie für Jüdinnen und Juden nirgendwo gegeben: „Ich weiß, es kann immer wieder passieren. Sicher bin ich nicht. Ich glaube, die Juden leben nirgendwo sicher.“547 Die fragile, verletzliche Seite menschlicher Existenz ist ein Grundthema der Lyrik Stella Rotenbergs. „Wir haben / nichts als unsere Leiblichkeit / und unsere / Verwundbarkeit“,548 heißt es in einem ihrer Gedichte. Wenn die Dichterin die Fragilität menschlichen Lebens anspricht, dann aus eigener, schmerzlicher Erfahrung. Als österreichische Jüdin musste sie die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz hautnah miterleben; den gewaltsamen Tod ihrer Eltern konnte sie nie verwinden. „Laßt uns sein!“, der Schlussappell der zweiten Strophe, ist im Kontext ihrer Biographie Überlebensschrei und Anklage zugleich: „Ich weiß nicht, was haben denn die Juden so Schreckliches getan, dass sie so gehetzt werden?“549 In der dritten Strophe des Gedichts führt Stella Rotenberg ihren lyrischen Appell weiter. Wieder spricht sie in der ersten Person Plural im Namen aller Überlebenden der Shoa. Die immer wiederkehrende Verwendung des Personalpronomens „wir“ verstärkt den bereits in der ersten Strophe evozierten Gemeinschaftscharakter. Das „Volk“ aus der im Titel angeführten Exodusstelle überträgt die Literatin auf die Gruppe der Shoa-Überlebenden. Wenn der Tod der Opfer auch unwiederbringlich ist, so fordert Stella Rotenberg wenigstens für die Davongekommen ein unverbrüchliches Recht auf Existenz. Unter Rückgriff auf die alttestamentliche Lebensmetapher des „Atems“ (vgl. z. B. Gen 2,7; 7,2; Ps 150,6; Ez 37,5f.) formuliert die Autorin eindringlich ihr Plädoyer für das Leben: „Keiner wehre uns / unser Atemziehen, / keiner schlag in Eisen unser Sein!“

546 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 547 Ebd. 548 „Wir haben“, in: Rotenberg, Quell, 18. 549 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 100

Der Begriff „Volk Israel“ hat für Stella Rotenberg noch eine andere Konnotation: Für sie ist er der Inbegriff von Verfolgung und Leid: „Man rottet uns aus, aber wir sind immer noch da. Das auserwählte Volk: Es ist auserwählt zu leiden. Ich bin nicht gerne auserwählt. Wir sind schon auserwählt genug. Wir sind schon seit Jahrtausenden die Auserwählten.“550 Dagegen rebelliert ihr Gedicht: Mit klaren und eindringlichen Worten setzt Stella Rotenberg ein Zeichen gegen jede Art von Unterdrückung und Verfolgung. Die Dichterin klagt jedoch nicht nur an, sondern stellt – so in ihrem Gedicht „Bitte“ – konkret die Forderung nach einem achtsamen Umgang miteinander: „Kraft, darnach zu trachten alles Leben zu beachten, zu beachten! und Behutsamkeit im Umgang mit allem Leben sei mir gegeben.“551 In der vierten und letzten Strophe ihres Gedichtes verleiht Stella Rotenberg ihrem Appell mittels des Hinweises auf die Konsequenzen für unmenschliches Handeln Nachdruck. Wer Menschen ihr Lebensrecht verwehrt, „wird für alle Zeit gezeichnet sein“. Explizit im Blick hat sie dabei die nationalsozialistischen Täterinnen und Täter: „Das ist eine Drohung, aber ich kann sie ja nicht ausführen. Ich meine, vielleicht hat es einigen Deutschen nach dem Krieg Leid getan, vielleicht auch nicht.“552 Sicher ist, dass kein Land seine Vergangenheit abschütteln kann, auch wenn sich die politischen Verhältnisse längst geändert haben. Der Makel des Verbrechens überdauert die Täter- und Opfergeneration und lastet auf Gegenwart und Zukunft. Stella Rotenbergs Gedicht plädiert wie die biblische Exodusgeschichte für das Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben. Anders als die Exoduserzählung zeichnet die Dichterin jedoch nicht eine prozesshafte Entwicklung von der Unterdrückung hin zur Freiheit. Ihr Gedicht ist keine Erfolgsgeschichte, kennt keine Retterfigur, wie die des Mose, und keinen Gott, der sich seines Volkes annimmt. Die Anklänge an den alttestamentlichen Referenztext sind – abgesehen von Titel und Untertitel – weniger im inhaltlichen Verlauf zu suchen als vielmehr in der Exoduserzählung als Metapher für Freiheit schlechthin. Der eindringliche, immer wiederkehrende Appell der Exoduserzählung „Laß mein Volk ziehen“ ist für Stella Rotenberg Ausgangspunkt und Triebfeder ihrer Botschaft, die sie an ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen richtet. Im Hintergrund ist der Bibeltext – aktualisiert und transformiert – jedoch stets präsent. Zunächst steht der Wunsch nach Gemeinschaft, den Stella Rotenbergs Gedicht mit dem biblischen Referenztext teilt: Gemeinsam will das Volk Israel seinem Gott in der Wüste ein Fest feiern, ein Wunsch, den ihm der Pharao kompromisslos verwehrt. Stattdessen treibt er einen Keil zwischen die Arbeitskräfte und ihre Vorgesetzten, zwischen das Volk und die zu seiner Befreiung Gesandten Gottes. Erst das Eingreifen JHWHs kann im Verlauf der

550 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 551 Rotenberg, Quell, 168. 552 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 101

Exoduserzählung die Gemeinschaft wieder herstellen. Wenn Stella Rotenberg in ihrem Gedicht das Recht auf Gemeinschaft einfordert, besteht thematisch zweifelsohne eine enge Verbindung zur biblischen Vorlage. In einem Punkt unterscheiden sich die beiden Texte jedoch: in Hinblick auf die handelnden Akteure. In Stella Rotenbergs Gedicht agieren allein Menschen, die Überlebenden der Shoa, für die sie stellvertretend das Wort ergreift. Gott spielt hier keine Rolle. Für die Dichterin hat er seine biblisch evozierte Rolle als Beschützer und Befreier seines Volkes verwirkt: „Es hat geheißen, die Juden haben einen Gott, und er kümmert sich um die Juden. Er hat sich aber nicht gekümmert.“553 Millionen von Opfern erfuhren keine Rettung, und diejenigen, die überlebt haben, erreichten dies aus eigener Kraft: „Wo ist der Erde Befreier? / […] Wohin ist die ewige Macht?“,554 fragt Stella Rotenberg etwa in einem ihrer Gedichte. In „Laß mein Volk ziehen“ erhebt sie keine Anklage gegen Gott, die vertikale Dimension ist schlichtweg gar nicht präsent. Sie spielt – ob als existent gedacht oder nicht – keine Rolle mehr. Vor allem in diesem Punkt unterscheidet sich das Gedicht von seinem Bezugstext. Mit dieser auf den säkularen Bereich beschränkten Form der Exodusrezeption fügt sich Stella Rotenberg in die Hauptlinie der literarischen Auseinandersetzungen mit der Exoduserzählung im 20. Jahrhundert ein, wo die göttliche Sphäre ebenfalls keine Rolle spielt und der Mensch auf sich allein verwiesen bleibt. Thematische Parallelen zwischen der Exodusgeschichte und Stella Rotenbergs dichterischer Bearbeitung zeigen sich wieder in den folgenden drei Absätzen. Wenn die Lyrikerin etwa auf die „Zeit der Angst“ und die „Zeit voll Blut“ anspielt, wird die Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik des despotischen Pharao unmittelbar präsent. Ihr Appell „Laßt uns sein“ erweist sich als inhaltliche Fortführung des biblischen Eingangszitats „Laß mein Volk ziehen“. Mit der Formulierung „Keiner wehre uns / unser Atemziehen, / keiner schlag in Eisen unser Sein“ lassen sich ebenfalls semantische Anklänge an den Bibeltext erkennen: Hierin scheinen einerseits der Mordbefehl des Pharao an allen männlichen Neugeborenen und andererseits die Versklavung des Volkes Israel in Ägypten durch. Wiederum plädiert die Autorin wie die Exoduserzählung für das Leben und gegen Unterdrückung. Und nicht nur das: Wenn die Dichterin in der letzten Strophe mit einer Brandmarkung der Täterinnen und Täter droht, evoziert sie das Schicksal des Pharao und seines Volkes. Wer Menschen das Recht auf Freiheit und Leben verwehrt, wird selbst ein bitteres Ende finden. Mit der Verknüpfung von biblischer Vorlage und zeitgeschichtlichen Ereignissen geht Stella Rotenberg eindeutig mit dem „Mainstream“ der literarischen Exodusrezeption im 20. Jahrhundert konform. Sie nutzt die biblischen Impulse gekonnt für den appellativen

553 Interview Rotenberg, 3.7.2009. 554 „Drei Sternchen“, in: Rotenberg, Quell, 113. 102

Charakter ihres Gedichtes und transformiert den Exodusnarrativ damit in ihre eigene Erfahrungswelt. Die biblische Befreiungserfahrung par excellance ist für die Autorin nicht etwas ein für allemal Geschehenes und ewig Gültiges, sondern muss sich stets aufs Neue bewähren. Die Fragilität des menschlichen Lebens zwingt dazu. Als eine der nationalsozialistischen Mordmaschinerie gerade noch Entkommene weiß Stella Rotenberg, wovon sie spricht, wenn sie in ihrem „Lied der Entronnenen“ schreibt: „Der Tod ist uns nahe getreten einen Untergang lang. Er trat aus dem Sonnenlicht schwarzschweigend vor uns hin, er griff mit gestachelter Hand uns ans Herz: und ließ uns ziehen.555 Der Bezug zum Gedicht „Laß mein Volk“ ziehen wird sprachlich durch dieselbe Wortwahl evident. Es ist der personifizierte Tod, der nach dem Leben der Opfer greift und sein Werk doch nicht zu Ende führt. Die Feststellung „Er […] ließ uns ziehen“ mutet wie eine Antwort auf den Appell in Stella Rotenbergs Exodus-Gedicht an. Der despotische Pharao und der nationalsozialistische Terror verschmelzen in dieser Hinsicht zu einem einzigen Bedrohungsszenario. Für beide steht der Tod als Synonym. Die Differenz zeigt sich freilich in der Tatsache, dass die biblische Erzählung die Rettung des gesamten Volkes verkündet, während in der Zeit des Nationalsozialismus nur ein Bruchteil der Verfolgten überlebt hat. In der biblischen Geschichte besiegt Gott die Todesmacht des Pharao, in Stella Rotenbergs Gedichten „Lied der Entronnenen“ und „Laß mein Volk ziehen“ ist Gott nicht präsent. Der personifizierte Tod handelt eigenmächtig, ergreift die einen und lässt die anderen ziehen. Doch auch die Erfahrung der Todesnähe hinterlässt Spuren. Ein Leben lang haben die Überlebenden daran zu tragen. Stella Rotenberg spricht aus eigener Erfahrung, wenn sie schreibt: „Wir haben ein wundes Herz / unser Herz ist wund.“ Für die Entronnenen sieht sie nur eine Perspektive: „Zukunftslos wollen wir lieben / und leben Mund an Mund.“556

555 Rotenberg, Quell, 80. 556. Ebd. 103

4. Zusammenfassung und Resümee

„Wenn der Holocaust inzwischen kulturbildend wirkt – und das ist unleugbar der Fall –, dann allein mit dem Ziel, daß aus der nicht wiedergutzumachenden Wirklichkeit auf dem Wege des Geistes Wiedergutmachung, Katharsis hervorgehen möge“,557 wie Imre Kertész, Literaturnobelpreisträger und selbst Opfer der Shoa, in seiner Rede anlässlich der Preisverleihung im Jahr 2002 betonte. Stella Rotenberg kann mit ihrem lyrischen Werk zweifellos diese Katharsis bewirken. Wie Imre Kertész ist sie trotz der Katastrophe der Shoa nicht verstummt. Mit ihren Gedichten legt sie Zeugnis ab, ein Zeugnis des Unsagbaren, dass doch gesagt werden muss. Viele Jahre wurde den Stimmen der Überlebenden in Österreich kaum Gehör geschenkt. Heute, 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gibt es nicht mehr viele, die dieses Zeugnis ablegen können. Stella Rotenberg hat es getan: in Form ihres lyrischen Werkes und in Form von Lesungen und Interviews. Im Rahmen der Vorarbeiten zu dieser Diplomarbeit durfte auch ich drei Interviews mit der Dichterin führen, ihre Lebensgeschichte und ihr Werk kennen lernen. Ihre herzliche und bescheidene Art, ihr gepflegtes Deutsch, die Zierlichkeit ihrer Erscheinung und ihre erstaunliche geistige Frische haben bleibenden Eindruck hinterlassen. Diese Arbeit war der Untersuchung ausgewählter biblischer Bezüge im lyrischen Œuvre der Dichterin gewidmet. Einleitend wurde in methodischer Hinsicht das aus der Literaturwissenschaft und Semiotik stammende Analyseinstrumentarium der Intertextualität vorgestellt. Ausgehend von einer Überblicksdarstellung über die historische Entwicklung des Intextualitätsbegriffs habe ich mich der Frage gestellt, welche Form von Intertextualität dieser Arbeit zugrunde gelegt werden kann. Da sich eine weite, das ganze Universum von Texten und kultureller Äußerungen umfassende Sichtweise des Phänomens Intertextualität für die konkrete Analyse als nicht praktikabel erwies, fiel die Entscheidung zugunsten eines einschränkenden Intertextualitätsbegriffs aus. Als Referenztextgruppe dienten die Bücher der Bibel. Damit intertextuelle Bezüge auf rezipierender Ebene überhaupt wahrgenommen werden können, bedarf es Intertextualitätsindikatoren, so genannter Markierungen. In Blick auf die Gedichte Stella Rotenbergs konzentrierte sich die diesbezügliche Untersuchung auf onomastische, titulare und allusive Intertextualitätsverweise. Im zweiten Teil des einleitenden Kapitels wurde der Bibelrezeption in der deutschsprachigen Literatur, vor allem in dem für die Lyrik Stella Rotenbergs relevanten Zeitraum, dem 20. Jahrhundert, nachgegangen. Den Ausgangspunkt bildete die Frage nach der „Bibel als Literatur“. Wie gezeigt wurde, setzte die literaturwissenschaftliche Erforschung der Bibel erst im 18. Jahrhundert ein. Von da an wurde die Bibel immer mehr als Werk der

557 Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt a. M. 2003, 253f. 104

Weltliteratur begriffen. Seit den 1970er Jahren kommen auch in der Exegese literaturwissenschaftliche Methoden zum Einsatz. Welch vielfältigen Niederschlag die Bibel in der Literatur gefunden hat, zeigte exemplarisch der Abschnitt „Die Bibel in der Literatur“ auf. Als Werk der Weltliteratur prägte die Bibel wie kein anderes Buch die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte. Sie gilt als das zitierte Buch schlechthin. Abschließend wurde der Fokus auf die Bibelrezeption im 20. Jahrhundert gerichtet. Wie sich zeigte, gehörte ein gewisser „Bibelton“ vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte zum allgemeinen Bildungsgut, und auch säkularisierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller nutzten das breite lebens- und weltdeutende Repertoire der Bibel, um ihren eigenen Anliegen Ausdruck zu verleihen. Besonders im Exil und nach der Shoa griffen Literatinnen und Literaten vermehrt auf den reichen Fundus der Bibel zurück. Das zweite Kapitel dieser Arbeit war dem Leben und Werk Stella Rotenbergs gewidmet. Will man das Werk einer Autorin verstehen, so ist es unerlässlich, sich auch mit ihrer Biographie auseinander zu setzten. Geboren 1915 in der Zeit des Ersten Weltkriegs, aufgewachsen im Wien der Zwischenkriegszeit wurde die Literatin früh mit Antisemitismus konfrontiert. Spätestens mit den Februarkämpfen und dem Juliputsch 1934 verlor ihr Leben alle Unbeschwertheit. Der „Anschluss“ 1938 bedeutete das Ende ihrer Existenz in Österreich, das Ende ihres bisherigen Lebens und das Ende ihrer erträumten Zukunft als Ärztin. Im März 1939 gelang ihr, wie zuvor schon ihrem Bruder Erwin und ihrem späteren Ehemann Wolf Rotenberg, die Flucht ins rettende Exil; ihre Eltern sollten die nationalsozialistische Verfolgung jedoch nicht überleben. Das Trauma der Shoa verfolgt die Autorin, die erst im Exil zu schreiben begann, bis heute. Ihre Gedichte sind erschütternder Ausdruck dieser Erfahrungen. Um ihre Anliegen und Gefühle in Worte zu kleiden und ihnen Prägnanz zu verleihen, griff die Autorin in vielfältiger Weise auf biblische Texte, Themen und Figuren zurück. Ihrer Bibelrezeption ist der Hauptteil dieser Arbeit, das dritte Kapitel, gewidmet. Obgleich nicht religiös sozialisiert, liebte sie es, in der Bibel zu lesen, die sie in der Übersetzung Martin Luthers überaus schätzt. In rund einem Dutzend ihrer Gedichte griff Stella Rotenberg alttestamentliche Stoffe auf oder setzte sich mit der Gottesfrage nach der Shoa auseinander. Wenngleich sie selbst an keinen persönlichen Gott glaubt, sind einige ihrer Gedichte eben diesem Thema gewidmet. Ihre Rezeption – die vielfach unbewusst erfolgte – ist Ausdruck eines umfassenden Bibelwissens, wie es in ihrer Jugendzeit zum selbstverständlichen Bildungsgut gehörte. Für Stella Rotenberg ist die Bibel Weltliteratur, ein Sprachkunstwerk und als solches unerreicht. Die folgenden beiden Abschnitte fokussierten exemplarisch zwei Gedichte der Exilautorin: Beide drücken Lebensthemen Stella Rotenbergs aus, in beiden spiegelt sich ihre Biographie wider. Es sind dies die Gedichte „Kain“ und „Laß mein Volk ziehen“. Die Analyse

105 vollzog sich jeweils in drei Schritten: Zunächst erfolgten einige exegetische Beobachtungen zum jeweiligen biblischen Referenztext, anschließend richtete sich der Blick auf deren Rezeptionsgeschichte in der deutschsprachigen Literatur, insbesondere im 20. Jahrhundert, drittens erfolgte die eigentliche Gedichtinterpretation im Zusammenspiel von biblischem Kontext, den dargestellten literarischen Rezeptionsformen und der Biographie der Autorin. Erst eine Zusammenschau dieser drei Elemente ließ eine Annäherung an die Gedichte möglich werden. Im Gedicht „Kain“ spiegeln sich Stella Rotenbergs Lebenserfahrungen in vielerlei Hinsicht wider: Ihre lyrische Kainsfigur ist wie sie ausgegrenzt, benachteiligt und heimatlos. Geleitet von der Empathielenkung des biblischen Bezugstextes gilt Stella Rotenbergs Aufmerksamkeit und Sympathie in hohem Maße dieser Figur. Dass sie mordet, führt die Dichterin wie die biblische Erzählung auf fehlende Liebe und Wertschätzung zurück. Ihr Schrei nach Liebe ist das zentrale Leitmotiv des Gedichts, in ihm offenbart sich die ganze Ambivalenz der Figur: Sie weiß um das Unrecht, das sie tut, kann die destruktive Seite ihrer selbst jedoch nicht beherrschen. Für Stella Rotenberg ist Kain zuallererst ein Leidender und nicht der Brudermörder. Nicht die erste Gewalttat der Menschheit steht im Mittelpunkt ihres Gedichtes, wenngleich sie auch das Leid der Opfer nie vernachlässigt, sondern ein Mensch, der an Gott, der Welt und sich zerbricht. Stella Rotenbergs Gedicht „Laß mein Volk ziehen“ greift ein gänzlich anderes Thema auf: das simple Recht auf Leben, auf eine menschenwürdige Existenz. In der Rezeption des Exodusnarrativs nutzt die Autorin die biblische Befreiungserfahrung Israels schlechthin als Initialzündung ihrer eigenen Botschaft. Noch stärker als im Gedicht um Kain transformiert sie den biblischen Referenztext in ihre eigene Lebenswelt und Zeit. Nicht mehr das Volk Israel ist Protagonist ihres Gedichtes: Es sind die Überlebenden der Shoa, die ein unverbrüchliches Recht auf Existenz und ein Leben in Gemeinschaft einfordern. Die biblische Befreiung Israels, das damit ein Leben in Freiheit und Würde erhält, wird somit zum Angelpunkt ihres eigenen Lebens- und Freiheitsappells. Am stärksten unterscheidet sich Stella Rotenbergs Gedicht von der biblischen Erzählung durch das Fehlen der göttlichen Dimension. Ist in der Exoduserzählung JHWH der zentrale handelnde Akteur, der seine Macht dem Pharao und ganz Israel erweist, so ist Gott im Gedicht „Laß mein Volk ziehen“ in keiner Weise präsent. Die Menschen sind auf sich allein gestellt, eine Erfahrung Stella Rotenbergs, die sich in vielen ihrer Gedichte manifestiert. Stella Rotenbergs Bibelrezeption steht immer im Zeichen der Shoa, ist Ausdruck ihrer persönlichen Leid- und Verlusterfahrungen. Die biblischen Gestalten, die sie in ihre Lyrik aufnimmt, sind keine Heldenfiguren. Sie sind nicht wie David, nicht wie Judit, die ihre Kontrahenten bezwingen, die glorreich gefeiert und bejubelt werden. Ihre Figuren sind Ausgestoßene, sie sind die Verlierer, leben im Schatten anderer, sind auf der Flucht, ringen

106 um ihre Existenz. Mit ihrem Schicksal kann sich die Autorin identifizieren, ihre Gefühle möchte sie verstehbar machen. Es geht um Kain, um Hagar, um Aussätzige. In ihnen erkennt Stella Rotenberg Opfer, wie sie selbst eines ist. In der Aufnahme biblischer Stoffe geht es Stella Rotenberg jedoch nicht nur um den Ausdruck der eigenen Leiderfahrungen. Gezielt nutzt sie die Bibel auch für ihr Plädoyer für ein friedliches Miteinander, für ein universelles Recht auf Leben. Mit Gedichten wie „Laß mein Volk ziehen“ appelliert sie an ihre Mitmenschen, dass sich die Schrecken der Vergangenheit nie mehr wiederholen mögen. In den Zehn Geboten, die sie in ihrer Lyrik mehrfach aufgreift, sieht sie die zentrale Leitinstanz für moralisches Handeln und menschliches Zusammenleben. Für die Zukunft wünscht sie sich nichts anderes, als dass Menschen diese Regeln beachten und Leben überall gedeihen möge:

„Leben, Brot, Gedeihn – so sollt es sein; Brot, Gedeihen, Leben – nur das sollt es geben.558

558 Rotenberg, Quell, 27. 107

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

5.1 Quellenverzeichnis

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5.2 Literaturverzeichnis

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