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Sendung vom 19.10.2007, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Helmut Oeller Ehemaliger Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: Meine Damen und Herren, seien Sie herzlich willkommen zum heutigen alpha-forum, in dem wir ausnahmsweise über uns selbst reden, also über das Fernsehen. Und wir werden über Sie, das Publikum, sprechen. Für beides gibt es einen guten Grund, einen guten Anlass, denn unser Gast heute ist der langjährige Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, Professor Dr. Helmut Oeller. Auch Sie, Professor Oeller, heiße ich herzlich willkommen. Dieter Hildebrand sagte einmal, das Wort "Bildung" komme von Bildschirm und nicht von "Buch", sonst hieße es "Buchung". Sie leben jetzt 20 Jahre ohne dieses fast mörderische Amt eines Fernsehdirektors innerhalb der ARD, der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands. Sie sind ein freier Mensch, der gelegentlich fernsieht. Oder machen Sie das heute gar nicht mehr? Oeller: Jeden Tag, aber wechselnd in Zeit und Umfang. Lindenmeyer: Verraten Sie mir doch bitte, wo Ihr Fernsehgerät steht. Oeller: Es steht an der Wand gegenüber der Fensterfront. Lindenmeyer: Ein Fernseher also im Wohnzimmer, und damit sozusagen das klassische Modell: Die Familie schart sich um den Bildschirm. Im Arbeitszimmer haben Sie kein Fernsehgerät? Oeller: Nein. Lindenmeyer: Das war früher sicherlich anders. Oeller: Wir haben noch ein anderes Fernsehgerät in einem anderen Zimmer: für den Fall, dass jemand für sich fernsehen möchte oder die anderen im Wohnzimmer etwas anderes machen möchten. Lindenmeyer: Ihnen ist zu verdanken - auch Ihnen und Ihnen speziell - die Gründung des Bayerischen Fernsehens mit einem sogenannten Dritten Programm. Es war damals Dritte Programm bundesweit, das da 1964 in Bayern als Bildungsfernsehen auf Sendung ging. Waren Sie selbst immer ein Fernsehzuschauer, der in erster Linie gebildet werden wollte? Oder hatten Sie auch Zeit für Unterhaltung? Oeller: Ich hatte für all das Zeit, denn bereits als Student habe ich ja nicht nur studiert, sondern mich auch unterhalten, wie das eben Studenten so zu tun pflegen, und zwar mit Vergnügen. Ich habe das Fernsehen ja angefangen, als es noch gar keines gab: Das war vor dem Bildungsfernsehen, vor dem Bayerischen Fernsehen, dem Dritten Programm. Ich war nämlich 1953 und 1954 zunächst einmal in Hamburg bei der ersten Versuchsphase und dann in München mit dabei, als es begann, das Erste Programm. Das war damals ja ein Mischprogramm. Lindenmeyer: "Mischprogramm" bedeutet was? Oeller: Ein Mischprogramm von Information, Unterhaltung, Bildung, Kultur und Hilfen verschiedener Art. Dieses Programm haben die Rundfunkanstalten zusammen gemacht. Der Bayerische Rundfunk trug damals 20 Prozent des Programms. Das war eine gute Zeit. Die ersten Sendungen konnten damals nicht aufgezeichnet werden, es gibt sie also nicht mehr. Die einzige Ausnahme ist die "Gärtnerin aus Liebe", mit der wir damals begonnen haben, bei der es eine Halbbildaufzeichnung gab. Ziemlich bald danach gab es allgemein die Möglichkeit, die Sendungen aufzuzeichnen und deswegen kann man heute noch relativ frühe Sendungen im Archiv finden. Gegenüber diesem Mischprogramm und unter dem Gesichtspunkt, dass dann ja im Jahr 1960 das Zweite Deutsche Fernsehen kam, das noch einmal ein solches Mischprogramm war, ergab sich … Lindenmeyer: Dieses Zweite Deutsche Fernsehen waren ein Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Oeller: Zuerst war es sein Wunsch und dann der Wunsch der Mehrheit der Ministerpräsidenten. Aus meiner Sicht ergab sich jedenfalls damals eine Lücke und eine große Chance, die ich schon von Anfang an gesehen hatte, nämlich das Fernsehen auch als Kulturinstitut zu präsentieren, zu nutzen, den Menschen nutzbar zu machen; das Fernsehen also als Kulturinstitut und daher das bayerische Fernsehen als bayerisches Kulturinstitut. Diese Idee trug ich dem damaligen Intendanten Christian Wallenreiter vor, der sie dann engagiert und offen aufgenommen hat und alles dafür getan hat, um sie zur Wirkung zu bringen – was nicht einfach war. Denn es gab nicht nur unter den verschiedenen Mitgliedern des Rundfunkrates wie auch bei den Politikern, sondern auch bei den anderen Rundfunkanstalten Leute, die der Meinung waren, das sei nicht erforderlich, und wenn überhaupt, dann machen wir das alles wieder gemeinsam. Lindenmeyer: War es ein bayerisch-partikularistischer Schritt, ein eigenes bayerisches Fernsehen zu gründen? Oeller: Ich würde sagen, dass es im Konzept kein partikularistischer Schritt war. Dieses Wort greife ich gerne auf, weil es nämlich auch das Wort "part" enthält, also Teil. Bei mir war nämlich von vornherein die Idee mit dabei, dass Bildung und Kultur nur das Ganze betreffen können, und zwar nicht nur in der Sache selbst, sondern auch im Fernsehen, in der Verbreitung im Land, in Deutschland und darüber hinaus. Das war die Idee, die ich verfolgt habe, und dafür habe ich einen Plan entwickelt, der dann übernommen und durchaus kämpferisch durchgesetzt wurde. Ich hatte damals einige hervorragende Kollegen, von denen ich selbst viel gelernt habe. Da die Unterstützung bei den anderen Anstalten der ARD für meine Idee nicht so arg groß war, haben wir für das Studienprogramm, so hieß ja das erste Bildungs- und Kulturprogramm, das im Herbst 1964 begonnen hatte, bereits im Jahr 1967 die Verbindung mit dem Ausland gesucht: mit den Österreichern, den Schweizern, den Franzosen, den Engländern, den Belgiern, den Holländern. Ich habe dann mit ihnen zusammen in Kooperation Kulturprogramme gemacht: Wir haben also schon damals im europäischen Verbund Kulturprogramme mit der entsprechenden Nutzungsfähigkeit gemacht. Lindenmeyer: War der Grund dafür der, dass die Finanzen noch schwach waren, also aus Gründen des Etats? Oder rührte das aus einem bereits damals vorhandenen starken europäischen Engagement von Ihnen? Oeller: Das Letztere war der primäre Grund. Und außerdem hatte ich natürlich große Lust, es den anderen zu zeigen, den anderen in der ARD. Das hat dann auch regelrecht für Bewegung gesorgt, denn so etwas war damals einfach nicht üblich. Wir hatten jedoch großen Erfolg mit unseren Partnern: Wir hatten wirklich ein ausgezeichnetes Verhältnis untereinander. Eines der großen Beispiele dafür, das über Jahrzehnte überall in den Programmen lief, waren die "Reisewege zur Kunst". Lindenmeyer: Sie gelten als einer der Ahnväter dieser legendären Fernsehsendereihe. Oeller: Ja, das ist in unserer Kooperation entstanden. Wir machten da immer wechselseitig in den verschiedenen Sendestädten unsere Besprechungen und tauschten dabei unsere Ideen und Entwürfe aus. Lindenmeyer: Was sagen Sie denn den heutigen Fernsehmachern, die die Auffassung vertreten, Fernsehen könne gar nicht bilden? Oeller: Ich würde darauf bestehen, dass sie mit so einer Aussage nicht nur im Widerspruch zu den Hoffnungen, sondern auch zu den Erfahrungen von Müttern stehen. Ich erinnere mich da z. B. an jene Mutter, die mich eines Tages anrief und zu mir sagte: "Das müssen Sie machen! Diese Sendung müssen Sie machen! Mein Kind soll Fernsehbildung bekommen!" Ich habe dieser Mutter dann dadurch geholfen, dass wir auf der einen Seite das Angebot an Informationen, an Einführungen, an Hinweisen ausweiteten und auf der anderen Seite das Moment des Mitmachens stärkten, dass also das Kind nicht alleine bleiben soll, wenn es denn auch mit dem Fernsehen zusammen gebildet werden soll. Konkret angewendet haben wir das dann ja im Telekolleg, Lehrerkolleg, im Teleclub usw. Das sind alles Begriffe, die ich damals erfunden habe: Der Bayerische Rundfunk hat das dann über Jahrzehnte hinweg mit Glück wahrgenommen. Das Telekolleg ist also ein klassisches Gegenbeispiel im Hinblick auf diese Aussage von einigen heutigen Fernsehmachern. Das Telekolleg war ja ein Verbundsystem: Fernsehen und Hörfunk und Buch und Gespräch mit dem Lehrer. Lindenmeyer: Und mit den wissenschaftlichen Einrichtungen, mit den Schulen, mit den Universitäten. Oeller: Richtig, es bildete mit den Einrichtungen rundherum einen Verbund. Es gab damals dann sehr bald eine Veröffentlichung des Rowohlt Verlags, in dem das als das erste Medienverbundsystem bezeichnet wurde. Das war im Jahr 1967! Also immerhin 30 Jahre vor der Idee von Netzen und Verbünden. Das Telekolleg gibt es ja heute noch. Lindenmeyer: Mit großem Erfolg. Oeller: Der Bayerische Rundfunk macht das heute zusammen mit , Mecklenburg-Vorpommern und zu meiner Freude mit Rheinland-Pfalz. Lindenmeyer: Sie gelten in der Medienlandschaft als ein Meister der Diplomatie. Sie gelten als jemand, der gelegentlich das direkte Wort scheut, der die Dinge sich entwickeln lässt, bevor er sie analysiert, bevor er sie benennt. Sie haben soeben aber gesagt, dass Sie vor 1964 um das Studienprogramm kämpfen mussten. Was waren denn die Hauptargumente, die dagegen sprachen, in der Politik, in der Öffentlichkeit? Oeller: Dagegen sprachen am Anfang natürlich die wenigen Zuschauer. Denn das wusste damals kaum jemand und außerdem gab es nur wenige Sender, die das ausstrahlten. Denn die Technik war eben auch immer ein Bestandteil der Entwicklung. Es war darüber hinaus schwierig, weil wie überall in offenen, freien Systemen die Konkurrenz, der Wettbewerb nicht willkommen waren. Und ein langsames, aber sichtbares Wachstum im Medienbereich hat das dann noch verstärkt. Lindenmeyer: Das war also zunächst einmal eine interne Konkurrenz unter den öffentlich- rechtlichen Programmen. Oeller: Es gab außerdem schon ganz früh Leute, die das zwar nie gesagt haben, die aber das Interesse hatten, andere Programme zu machen als Bildungs- und Kulturprogramme. Und weil ich das witterte und weil ich direkt eine Passion hatte für diese Art, Fernsehen zu machen … Lindenmeyer: Sie hatten immer eine Passion. Oeller: Ja, die hatte ich dafür. Lindenmeyer: Wenn ich jedoch Interviews mit Ihnen lese, dann stelle ich fest, dass Sie immer wieder betont haben, Sie seien mit vielen Ihrer Ideen und Konzepte um zehn, 20 Jahre zu früh dran gewesen. Woher kam das? Oeller: Das ist ein Phänomen, das es ganz allgemein in der Kulturgeschichte gibt: Die Renaissance war z. B. in Italien auch früher da als in Deutschland. Es gab also Künstler in Italien, die bereits früher als die Künstler in Deutschland die Renaissance gestaltet und entwickelt haben. Es gibt eben unterschiedliche Phasen der Entwicklung und ich war da in der Tat früher dran. Die Frage, woher damals die Widerstände kamen, kann man z. T. damit beantworten, dass man halt nicht gesehen hat, was das eigentlich ist. Man hat das nicht gesehen und meinen Versuchen, das zu vermitteln, ist nicht zugehört worden. Das ist z. B. wie bei der modernen Musik gerade in den letzten Jahrzehnten: Da hörten einfach viele Leute nicht, was da gespielt wird. Dieses Phänomen ist ein Naturphänomen und deshalb musste ich damit rechnen. Ich musste das also durchstehen und habe das dann auch durchgestanden, und zwar mit einem erfreulichen Ergebnis, über das wir ja noch reden können. Lindenmeyer: Sie haben gesagt, dass Sie gekämpft haben. Wie muss ich mir das vorstellen? Waren das Kämpfe am Telefon? Waren das Kämpfe in Gremien? Haben Sie Briefe geschrieben? Haben Sie Politiker besucht? Wie sah dieser Kampf konkret aus? Oeller: Primär habe ich diesen Kampf natürlich in Gesprächen mit Gedanken und Worten ausgetragen. Ich hatte dabei am Anfang genauso wie mit der Hochschule für Fernsehen und Film, über die wir ja noch sprechen werden, oder beim Prix Jeunesse, den wir schon ganz früh gegründet haben und der der erste internationale Fernsehpreis für ein Kinder- und Jugendprogramm war und ist, das Glück, dass ich da mit den wichtigen und gescheiten Leuten der großen, gesellschaftlich relevanten Gruppen zusammenarbeiten konnte, z. B. mit Hans-Jochen Vogel von der SPD, mit dem ich im Ratskeller im Nebenstüberl gesessen habe. Er hat das unterstützt. Oder z. B. mit Ludwig Huber von der CSU, dem Fraktionsvorsitzenden und Kultusminister. Außerdem hat Christian Wallenreiter von sich aus seine Verbindungen genutzt und das Terrain bereitet. So ist das Ganze dann in vielen, vielen Gesprächen aufgebaut worden. Wir haben das aber auch in der Auseinandersetzung betreiben müssen. Lindenmeyer: Sie brauchten die Politiker als Partner, um so etwas entwickeln zu können: Das entspricht auch dem Rundfunkgesetz. Zugleich aber sieht das Rundfunkgesetz eine Staats- und Parteienferne vor. Wo entstanden da Konflikte für Sie? Oeller: Ich habe genau dabei eigentlich nie wirklich einen Konflikt erlebt. Stattdessen bin ich einfach von dem Sachverhalt ausgegangen, dass ich keine Einstimmigkeiten brauche, dass ich bei dem, was ich mache, auch keine großen Mehrheiten brauche. Diese Philosophie habe ich immer verfolgt, sowohl im Rundfunkrat wie auch in der ARD. Ich brauchte stattdessen immer nur kleine Mehrheiten. Wenn ich die habe, dann habe ich ja das Ganze. So habe ich – wenn auch phasenweise mit Verzögerung in der ARD – dann jeweils die nötige Zustimmung bekommen. Am Anfang gab es dann z. B. Probleme mit den Kollegen beim Programmaustausch. Denn das, was wir hier in Bayern gemacht haben, hatte ja eine suggestive Kraft: Im Laufe der Zeit fingen nämlich auch alle anderen Rundfunkanstalten in Deutschland an, Dritte Programme zu machen. Lindenmeyer: Einer fängt an, die anderen ziehen nach. Oeller: Am Anfang waren sie dagegen gewesen, aber mit der Zeit haben sie das alle selbst auch gemacht. Eines Tages hatten alle Rundfunkanstalten ihr eigenes Drittes Programm. Es gab dann aber welche, die gemeint haben, dass man beim Austausch von Programmen, wie das der Oeller meint, auch etwas bezahlen muss. Ich jedoch war der Meinung: "Wir bezahlen einander nichts! Die ARD ist ein Verbund, ist eine gemeinsamer 'Club' und deswegen zahle ich bei euch nichts und ihr zahlt bei mir nichts!" Lindenmeyer: Aber es muss ein gerechter Austausch sein. Oeller: Nein, das wurde einfach ganz frei gemacht, das wurde so gemacht, wie man wollte. Das waren wirklich genau die Streitpunkte damals: "Habe ich dabei dann einen Vorteil oder einen Nachteil? Bin ich dann der Dumme?" Ich habe jedenfalls deutlich gemacht, dass wir es völlig frei und ohne Bezahlung machen sollen. Ich hatte damals bereits das Muster im Kopf, das allerdings erst später wirksam wurde: Mir war klar, dass dieser freie Austausch in den Dritten Programmen alle reich und stattlich machen wird, also nicht nur den Bayerischen Rundfunk, sondern auch die anderen Rundfunkanstalten in den anderen Bundesländern. In der Zwischenzeit gilt das sogar für die ARD, weil auch in der ARD die Programme ausgetauscht werden, also in den verschiedenen Netzen des Ersten Deutschen Fernsehens, das ja auch mehrere Programme macht. Mit diesem gemeinsamen großen Repertoire und mit dieser Idee, die Programme auszutauschen, sie verfügbar zu halten, ist die ARD an die Spitze der Programmsysteme in Deutschland gekommen. Lindenmeyer: Wenn man sich so umsieht hier im "Fernsehstudio 1" des Bayerischen Fernsehens in München-Freimann, dann sieht man drei Kameras und man sieht viele Menschen, die für unser Gespräch hier im Hintergrund arbeiten. Sie selbst waren ganz früh auch einmal einer davon. Sie waren nämlich Assistent an einer Kamera bzw. haben sogar Kabel getragen im Studio. Oeller: Ich habe alles gemacht, ich habe Kabel getragen, ich habe die schweren Scheinwerfer getragen, ich habe die schweren Kameras auf die Stative gehoben, denn die Kameras waren damals wirklich noch groß und sehr schwer. Ich habe das alles also von der Pike auf gelernt. Ich war auch bei Fernsehspielszenen mit dabei, ich habe aber auch Außenaufnahmen z. B. in Kreuth zusammen mit dem Kiem Pauli und mit Friedrich Sauer gemacht und auch noch mit Werner Heisenberg. Eines seiner Worte bei einer dieser Aufnahmen ist mir die ganze Zeit über in Erinnerung geblieben. Dieser Satz von ihm hat mich dann wirklich geleitet: "Was wären wir, wenn wir nicht immer wieder aufbrächen in der fast wahnsinnigen Hoffnung, jenseits des Meeres wieder Land zu finden!" Ich dachte mir, dass das ganz genau meine eigene Situation beschreibt: Ich wollte wirklich immer wieder aufbrechen. Ich bin während dieser verschiedenen Etappen des Bayerischen Fernsehens in der Tat immer wieder aufgebrochen. Wir haben dann ja das Erste und das Dritte Programm hier zusammengefasst, wir haben aus dem Dritten Programm ein Vollprogramm gemacht und wir sind schließlich zu meiner Freude und Genugtuung auf den Satelliten gegangen, womit gewährleistet wurde, dass das Bayerische Fernsehen überall zu sehen ist, nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland. Auch dabei gab es viele Leute, die der Meinung waren: "Das muss aber doch gar nicht sein. Es genügt doch, wenn das Bayerische Fernsehen in Bayern zu empfangen ist." Wir waren jedoch der Meinung, dass es überall zu empfangen sein sollte. Heute wird ja das Bayerische Fernsehen noch mehr außerhalb Bayerns gesehen als in Bayern und insgesamt steht es, auch wegen dieser Philosophie der größtmöglichen Verbreitung, gut da. Lindenmeyer: Gibt es denn in Bayern andere Werte, andere Lebenswerte als in anderen Bundesländern? Oeller: Ich glaube schon. Es gibt unterschiedliche und andere, wie ich meine. Das ist aber ganz natürlich so. Lindenmeyer: Welche von diesen Werten sehen Sie als urbayerisch an? Wo gehen also die Uhren in Bayern doch ein bisschen anders? Oeller: Hier tanzen im Apfelgarten die Sonnenkringel etwas lustiger und anders. Das ist natürlich nur ein Bild, das ist schon klar. Lindenmeyer: Ich frage Sie das natürlich nicht ohne Hintersinn. Der "Donaukurier" hat Sie einmal den "Meister der Absetzung" genannt, den "Meister der Absetzung" von Fernsehfilmen. Es gab verschiedene Entscheidungen in Ihrer Amtszeit in dieser Richtung: u. a. gab es die Entscheidung, den großen Mehrteiler "Holocaust" nicht in das Erste Programm zu übernehmen. Was waren die Gründe dafür? Oeller: Das war keine Absetzung, das war eine Ausstrahlung im System, also auf unsere eigene Weise hier in Bayern. Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass auch sonst das Wort "Absetzung" den Sachverhalt nicht traf. Das waren verfassungs- und gesetzesgemäße Entscheidungen, die da zu treffen waren. Sie waren teilweise deshalb abweichend von denen anderer Kollegen in anderen Rundfunkanstalten, weil es hier wie fallweise überall bei den Juristen unterschiedliche Interpretationen gab. Der Rundfunkrat hat dann aber ganz eindeutig alle diese Programmentscheidungen, die ich im Einvernehmen mit dem Intendanten und dem Justitiar jeweils für Bayern getroffen habe, mit ausdrücklicher Mehrheit gebilligt und für richtig gehalten. Das heißt also, das demokratische System hat funktioniert, das verfassungsgemäße, gesetzesgemäße System hat funktioniert. Und darauf lege ich Wert! Lindenmeyer: Da hatten Sie dann die Mehrheiten, die Sie sonst nicht so gebraucht haben. Oeller: Ich habe immer Mehrheiten gebraucht, das hatte ich ja vorhin bereits gesagt. Lindenmeyer: Kleine Mehrheiten. Oeller: Ja, ich musste halt nie die einstimmige Mehrheit haben. Einstimmigkeit habe ich nie gebraucht. In einer Demokratie braucht man keine Einstimmigkeit. Mir ist jedenfalls Demokratie lieber mit Mehrstimmigkeit und mit Mehrheiten unter jeweils unterschiedlichen Konditionen. So möchte ich das verstanden wissen. Die kleineren Mehrheiten, die ich am Anfang hatte, und die größeren, die ich zum Schluss hatte, haben bewiesen, wie langsam, aber sicher die Erkenntnis und das Verständnis wuchsen, dass da etwas dran sein muss an dem, was der Oeller macht, was man vorher nicht gesehen hat. Und unter uns gesagt: Sie meinten vorher, ich hätte fallweise so manches nicht direkt ausgesprochen: Das ist in der Tat so, ich habe manches gesehen, was ich nicht gesagt habe, von dem ich aber wollte, dass das eines Tages auch die anderen sehen. Da musste ich halt warten. Und in der Zwischenzeit ist es ja so gekommen: Die Dritten Programme, die alle ihr Vorbild und ihre Essenz ursprünglich im Bayerischen Studienprogramm hatten, stehen heute an der Spitze der Akzeptanz bei den Zuschauern mit einer Einschaltquote von 13,1 Prozent. Erst danach kommt die ARD mit 12,9 Prozent und erst danach kommen RTL mit 12,8 und das ZDF mit 12,5 Prozent. Das heißt, wir haben es fertig gebracht, dass diese scheinbare Nebensächlichkeit, diese scheinbare Entbehrlichkeit – denn so dachten am Anfang ja einige Leute, freilich nicht die Mehrheit, denn eine gewisse kleine Mehrheit hatte ich ja – im Hinblick auf die Akzeptanz absolute Spitze geworden ist. Und dies geschah zum Nutzen der Zuschauer, denn die Akzeptanz der Zuschauer ist doch das beste Zeugnis, das man erbitten darf. Und das geschah zum Nutzen des öffentlichen Bürgerprogramms, das aus meiner Sicht ein besonderes Gut ist. Lindenmeyer: Wir kommen gleich darauf zu sprechen, auch im Hinblick auf den Unterschied zu den privat-kommerziellen Medien. Ich möchte noch einmal bei diesem Film "Holocaust" bleiben. Wir reden jetzt nicht über die Filme, die während Ihrer Amtszeit in Bayern nicht gezeigt werden durften, also nicht über Filme z. B. von Rosa von Praunheim. Auch eine Ausgabe von "Panorama" und noch dieses und jenes fielen mal weg. Ich will lieber bei dem Film "Holocaust" bleiben. "Holocaust" war ein außerordentlich erfolgreicher amerikanischer Film, der in Deutschland im Fernsehen als Mehrteiler ausgestrahlt wurde. Aus dem Abstand von 30 Jahren betrachtet: War die Entscheidung damals richtig, diesen Film nicht im Ersten Deutschen Fernsehen zu zeigen? Denn er wurde dann verteilt auf die Regionalprogramme, auf die Dritten Programme. Oeller: Ich meine, dass Sie das, wie sehr vieles andere auch, bitte aus der damaligen Zeitperspektive sehen müssen. Diese Entscheidung war situationsgerecht. Das ist meine Antwort. Lindenmeyer: Eine kurze und knappe Antwort. Herr Dr. Oeller, Sie sagen, der öffentlich- rechtliche Rundfunk sei, ganz anders als der privat-kommerzielle Rundfunk, ein Bürgermedium, und zwar mit einer gesetzlich verankerten Beteiligung des Bürgers. Woran aber ist der Bürger beteiligt? An den Entscheidungen? An der Finanzierung? An den Programmen? Oeller: Es gibt ja nicht nur ein ungeheures, ein unendliches Angebot, ein riesenhaftes Angebot, eine Flut von Angeboten, sondern es gibt auch viele Formen, diese Angebote zu organisieren. Dass darin die demokratisch organisierten Interessen der Bürger auch ihre Stimme haben, einen Programmträger haben, finde ich ebenso legitim wie die Tatsache, dass Einzelne, die ihrerseits Angebote machen wollen, ihre Plätze haben. Wir haben hier ein duales System vorliegen. Auf der einen Seite gibt es den Programmträger "Bürgerprogramm", das sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit einem entsprechenden besonderen Auftrag hinsichtlich des Programmguts. Dieses Programmgut ist demokratisch verfasst und wird demokratisch kontrolliert – und ist nicht verkäuflich. Auf der anderen Seite gibt es die Programmträger des privaten Angebots, also nicht von der Gesamtheit der Bürger, sondern von Einzelnen, die ebenfalls das Recht haben, so etwas zu machen. Das ist legitim, das ist ganz klar. Verbunden ist das hier mit einer subjektiven Positionierung und mit einer globalen Befugnis und Befähigung rundum. So ein Anbieter ist auch nicht ortsgebunden wie die öffentlich-rechtlichen Programmträger. Und so ein Anbieter hat im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten ein verkäufliches Programmgut. Das Schwingen dieser beiden Prinzipien, dieser beiden Systeme, dieser unterschiedlichen Organisationsformen als Gestaltungsweisen und Zeichen der Vielfalt des Angebots ist für mich von daher begründet, und zwar ganz strikt von Grund auf begründet. In der ganzen Flut des Angebots sehe ich dabei das Angebot der öffentlich- rechtlichen Anstalten als Ankerprogramme mit menschlichem Gesicht: Das sind die im öffentlichen Bereich verwurzelten Programme, die dazu verpflichtet sind, das menschliche Gesicht zu zeigen. Ansonsten gibt es eine solche demokratisch verpflichtende und kontrollierte Verwurzelung nicht. Es gibt da zwar eine moralische Verwurzelung, aber keine verfasste. Lindenmeyer: Lassen Sie uns noch ein wenig mehr über das Fernsehen in Deutschland reden. Wir sprechen also jetzt nicht über das Bayerische Fernsehen und auch nicht über BR-alpha. Wird das Fernsehen in Deutschland, in Europa in den nächsten Jahren zu dumm? Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung? Denn es gibt ja Teile des Publikums, die sich über eine ihrer Ansicht nach zunehmende Trivialität der Fernsehprogramme, über eine Austauschbarkeit der Fernsehformate beklagen. Wie sehen Sie das? Oeller: Es gibt da den einen oder anderen scheinbaren oder wirklichen Hinweis darauf. Ich sehe aber diese Entwicklung insgesamt nicht. Ich sehe in der Vermehrung der Programme natürlich auch die Vermehrung des Fragwürdigen. Ich sehe natürlich die Schwierigkeiten, die diese "Ankerprogramme", diese "Wurzelprogramme", von denen ich vorhin sprach, heute haben. Ich sehe sie auch weiterhin und selbstverständlich in diesem Gesamttableau vertreten, aber ich sehe sie auch als Ergebnis einer großen Anstrengung gerade gegenüber dieser Überflutung. Lindenmeyer: Gehen wir in Ihrer Biographie noch einmal weit in die Vergangenheit zurück. Sie stammen aus Würzburg und wollten eigentlich nie zum Fernsehen gehen, Sie wollten gar nicht Journalist werden. Eigentlich wollten Sie Universitätsprofessor werden. Sie sind dann Honorarprofessor geworden an der Hochschule für Fernsehen und Film, der HFF, dies aber erst sehr viel später. Dazwischen lag Ihre ganze Fernsehkarriere, denn Sie haben ja nicht nur Kabel und Kameras getragen. Wie kam also nach Ihrem Studium der Fächer Germanistik, Romanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in Würzburg und München Ihre Entscheidung zustande, zum Fernsehen zu gehen? Wie entstand bei Ihnen diese Liebe zu diesem neuen bürgernahen und populären Medium? Oeller: Die Antwort darauf ist komplexer Natur. Ich habe als Student mein Geld auch als Journalist verdient. Ich habe damals für die Lokalredaktion der "Mainpost" gearbeitet: Ich schrieb sowohl Gerichtsreportagen wie auch über Osterspaziergänge usw. Ich habe dann zusammen mit anderen Autoren und vor allem mit verschiedenen Zeichnern auch Kinderbücher gemacht. Eines dieser Kinderbücher ist sogar in den USA veröffentlicht worden, und zwar von Kurt Wolff. Ich hatte ihm das damals zu Beginn der 50er Jahre als Namenloser, als Nobody in die USA geschickt. Er hat das tatsächlich übernommen und genau davon hat wiederum Walter von Cube erfahren, ebenso Clemens Münster. Lindenmeyer: Walter von Cube war der damalige Programmdirektor im Hörfunk und stellvertretende Intendant. Oeller: Ja, und gleichzeitig der große alte Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks. Lindenmeyer: Clemens Münster war dann später … Oeller: … erster Fernsehdirektor. Ich war am Anfang Assistent bei ihm. Die haben mich dann jedenfalls zum Bayerischen Rundfunk eingeladen, obschon ich mich mitten im Habilitationsprozess befand. Lindenmeyer: Ich weiß sogar das Thema Ihrer Promotion, Sie haben über "Das schlafende Lied bei Eichendorff" geschrieben. Worüber ging Ihre Habilitation? Oeller: Der Arbeitstitel war "Rhetorik". Lindenmeyer: Kennen Sie den Satz über die Rhetorik von Helmut Oeller? Kollegen in diesem Haus und auch andere Kollegen, mit denen Sie zu tun hatten, haben die Helmut Oeller'sche Rhetorik immer sehr klar beschrieben. Sie gleiche nämlich dem weiß-blauen Himmel in Bayern: ein bisschen wolkig und schwer greifbar. Sie haben vorhin Ihre Führungskunst dahingehend beschrieben, austarieren und abwarten zu können, wie sich die Gewichte verschieben. Oeller: Und hoffentlich auch in die Tiefe gehend, ja. Lindenmeyer: Warum wählten Sie Rhetorik als Thema? Oeller: Das hat mich einfach interessiert und das war ja auch immer schon einer der großen Zweige in der Philosophie gewesen. Es ist mir sehr schwergefallen, diesem Thema und meiner Habilitation Valet zu sagen. Aber die haben mich einfach haben wollen, weil sie über den damaligen Kreis der Kollegen hinaus eben jemanden aus meinem Bereich haben wollten, jemanden, der sowohl Journalist war und bei der Zeitung gelernt hatte und solche Dinge wie den Seitenumbruch genau kannte … Lindenmeyer: Damals gab es ja noch den Bleisatz und es gab … Oeller: … keinen Computer wie heute. Und es waren eben auch die Bücher, die ich gemacht und geschrieben hatte, die mich für den Bayerischen Rundfunk interessant machten. Vielleicht waren sie auch von ein paar Sätzen von mir in der Zeitschrift "Der Ruf" sehr angetan, ich weiß es nicht. "Der Ruf" war damals eine bekannte Zeitschrift, die Erich Kuby herausgegeben hat. Lindenmeyer: "Der Ruf" war ja aus heutiger Sicht betrachtet eine eher linksliberale Zeitschrift. Oeller: Ich war nie linksliberal, aber "Der "Ruf" fand es gut, was er von mir druckte. Lindenmeyer: So frei war er, so tolerant. Oeller: Ich stelle mir vor, dass wirkliche Linksliberale überhaupt so frei sind, auch Sachen zu drucken, die sie selbst nicht geschrieben hätten. Lindenmeyer: Sie waren dann ja später an der Ludwig-Maximilians-Universität Lehrbeauftragter. Was haben Sie dort gelehrt? Oeller: Alles, was ich übers Fernsehen wusste, was ich mir über das Fernsehen mit Hilfe meiner journalistischen Grundausbildung und meiner erlernten Fernsehpraxis angeeignet hatte und was ich vermitteln konnte – einschließlich dessen, was ich im Hinblick auf Planungswissen, auf meine Entwerfer-Erfahrung weitergeben konnte. Aber noch einmal zurück dazu, wie ich überhaupt zum Bayerischen Rundfunk gekommen bin: Cube und Münster und all die anderen haben mich letztlich überredet und mich zum Bayerischen Rundfunk gelockt. Sie haben mich einfach überzeugt. Aber das waren ja auch wirklich erstklassige Leute. Bessere Leute konnte ich doch gar nicht finden, die mich haben wollten. Lindenmeyer: Das Fernsehen war damals ja noch übersichtlicher, es arbeiteten weit weniger Menschen dort. Manche kamen vom Hörfunk zum Fernsehen, Sie jedoch nicht. Sie hatten keine Radioerfahrung, Sie sind direkt von der Universität zum Fernsehen gegangen: zuerst als persönlicher Referent von Clemens Münster und dann später als Produktionschef. Ihre Karriere reichte dann bis hinauf zum Fernsehdirektor, der Sie 1964 wurden. Das Fernsehen war damals übersichtlicher, es waren einfach nicht so viele Menschen hier draußen in Freimann. Hat sich die Arbeit damals sehr von der Arbeit später und von der Arbeit heute unterschieden, weil man mit weniger Menschen, mit einem kleineren Team arbeitete? Heute ist das ja ein riesengroßer Apparat, der z. B. auch unglaublich viele Zulieferungen für andere Programme zu leisten hat. Oeller: Ich habe beim Fernsehen wie auch später an der Hochschule für Fernsehen und Film immer darauf geachtet, dass ich so wenig wie unbedingt notwendig Mitarbeiter habe. Das waren dann aber auch Mitarbeiter, die fest mit dabei waren, die eingebunden waren und die klare und kontinuierliche Aufgaben zu erfüllen hatten. Außerdem bemühte ich mich dann noch um viele Freie, die zusätzlich ihre Köpfe einbrachten. Denn für mich war immer klar, dass das Fernsehen, dass die Hochschule viele neue, junge, frische, phantasievolle Köpfe braucht. Ich wollte immer, dass man neue, frische Köpfe einbindet. Überall, wo ich gearbeitet habe, habe ich darauf geachtet, dass wir neue, junge Köpfe dazubekamen. Das ging so weit, dass wir damals als einzige Hochschule etwas tun durften, was keine andere Universität tun durfte. Denn die HFF befand sich von Anfang an auf Universitätsrang. Die Professoren der HFF durften sich die Studentinnen und Studenten selbst aussuchen! Auf diese Weise haben wir immer die besten Köpfe ausgesucht und dadurch die ansehnlichste Filmhochschule in Deutschland hervorgebracht. Lindenmeyer: Das müssen wir etwas näher erklären. Die Hochschule für Fernsehen und Film München, die HFF, entstand 1967. Sie wurde mit verschiedenen Ausbildungsgängen aufgebaut: von der Kameratechnik über die Regie bis zur Film- und Fernsehproduktion usw. Das Studienangebot an der HFF ist also weit gefächert. Und Sie waren dort von Anfang an als einer der Mitbegründer mit dabei. Was wollten Sie denn in München anders machen als die Filmhochschulen in Ludwigsburg, in Berlin, in Potsdam, in Stuttgart? Oeller: Die gab es damals ja noch gar nicht. Lindenmeyer: Berlin bzw. Potsdam gab es bereits. Oeller: Das war in Ostberlin, in der DDR. Im Westen gab es damals noch keine Filmhochschule. Bei meiner Arbeit beim Fernsehen habe ich gesehen, wie wichtig es ist, dass man dafür ausgebildete junge Leute hat – und eben nicht nur Leute vom Film oder altgediente Journalisten. Die Hochschule hatte und hat ja auch journalistische Fächer, die sich z. B. mit dem Dokumentarfilm beschäftigen usw. Die jungen Leute, die wir beim Fernsehen einstellten, sollten wenn möglich auch eine wissenschaftliche Ausbildung mitbringen, damit wir unsererseits beim Fernsehen wiederum Fachleute ausbilden und hervorbringen konnten für die Zukunft, wie ich sie vor mir sah. Wir haben also an der HFF die Studentinnen und Studenten selbst ausgesucht und auf diese Weise konnten wir so berühmte und hervorragende Leute wie Wim Wenders hervorbringen, der damals im ersten Kurs war. In jüngster Zeit hatte z. B. ein Florian Henckel von Donnersmarck überragenden Erfolg: auch er ein Absolvent der HFF. Daneben gab es noch viele Dutzend andere Absolventen, die ich hier gar nicht alle nennen kann, die aber im Laufe ihrer Karriere überall wichtige Stellen und Funktionen übernommen haben. Lindenmeyer: Auch ein Dominik Graf ist Absolvent der HFF. Oeller: Ja, auch Franz Xaver Bogner oder Caroline Link, die Oscarpreisträgerin. Es gefällt uns sehr, dass die HFF insgesamt so gut dasteht. Bei der Gründung damals haben der Bayerische Rundfunk, die Stadt München, der Freistaat Bayern und das ZDF zusammengearbeitet. Sie sollte mit möglichst wenig fest angestellten Leuten arbeiten und ihre Leiter sollten mitten aus der Praxis der Fernsehanstalten kommen. Und außerdem sollten und sollen immer wieder wichtige Leute aus der Wirtschaft, also von der Seite der Film- und Fernsehproduktion mit eingebunden werden. Lindenmeyer: Warum? Oeller: Das, was jetzt verlangt wird, dass also die Leute aus der Wirtschaft in den Hochschulgremien vertreten sind, haben wir damals schon praktiziert. Damit haben wir diese Hochschule überhaupt erst aufgebaut, das ist geradezu unser Erfolgsprinzip gewesen. Weil dadurch die Studenten von Anfang an sofort mit produzieren konnten: Die Studenten konnten dadurch gleich an die Kamera usw. Darüber hinaus haben wir natürlich auch immer wieder internationale Spitzenkräfte als Gäste an die HFF geholt. Wir haben jedenfalls, wie ich glaube, das Richtige getan, um auf diesem Sektor den potentiellen Nachwuchs zu stärken. Dieser Nachwuchs ist natürlich nicht nur hier in München bei uns geblieben, sondern der sitzt heute überall: in Köln, in Berlin, in ganz Deutschland und auch im Ausland. Erst später wurden dann die von Ihnen erwähnten Hochschulen gegründet. Lindenmeyer: So viele Jahre, so viele Entscheidungen, so viel Druck auch gelegentlich, so viel Kritik sehr oft: Wer war in diesen Jahren Ratgeber oder Ratgeberin, der bzw. die Ihnen besonders nahe stand? Oeller: Meine Frau! Meine Frau hat sich nie eingemischt, aber wenn ich sie gefragt habe oder wenn das Gespräch um diese oder jene Sendung oder diese oder jene öffentliche Auseinandersetzung ging, dann hat sie dieses oder jenes kluge Wort gesagt. Sie ist eine der belesensten Frauen, die man sich denken kann. Von daher hat sie einen guten Hintergrund. Lindenmeyer: Ihre Frau trat gegenüber dem mächtigen Fernsehdirektor immer etwas in den Hintergrund. Oder hat sie das nicht so empfunden? Oeller: Ich selbst war ja auch zurückhaltend. Wir waren das beide. Lindenmeyer: Sie haben mir erzählt, dass Sie unendlich viele, auch repräsentative Veranstaltungen absolvieren mussten: Empfänge, Festreden usw. Wie viel Lebenszeit ist Ihnen durch diese Repräsentationspflicht abhanden gekommen? Oeller: Sie meinen also diesen Teil meiner Arbeit, der nicht unmittelbar den Kern der Aufgabe und seine Inhalte betraf? Dreißig Prozent, würde ich sagen. Lindenmeyer: Bereuen Sie das? Oeller: Nein, denn das war einfach notwendig. Man musste einfach auch eine entsprechende Arbeit leisten, nicht nur für das Programm und die Produktion, sondern auch für den Umgang mit den Menschen. Das kann man nicht nur vom Büro aus machen, das muss man auch an anderen Orten, in anderen Städten im In- und Ausland machen. Ich halte diesen Teil der Arbeit wirklich für unentbehrlich. Auch die heutigen technischen Möglichkeiten ersetzen das nicht. Auch heute noch ist das persönliche Gegenüber gefordert, Aug' in Aug' muss man da u. U. das letzte Wort finden. Lindenmeyer: Es gibt manche Gesprächspartner, die tragen in Fernsehinterviews gerne ihre Orden am Revers wie z. B. den Bayerischen Verdienstorden. Sie selbst haben viele Orden und Auszeichnungen bekommen, tragen aber ein ganz anderes Schmuckstück am Revers, das mir jetzt während unseres Gesprächs immer stärker aufgefallen ist. Welche Geschichte verbindet sich denn mit diesem Schmuckstück? Ich glaube, es ist ein Achat. Oeller: Ja, das ist ein Achat. Ich habe den Bayerischen Verdienstorden auch, aber dieses Schmuckstück hier ist die erste Nadel, die mir meine Frau seinerzeit zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit schenkte; das hat sie über die Jahre hinweg jährlich so aufrechterhalten. Und die erste Nadel ist halt die erste. Lindenmeyer: Wir kommen gleich zum Ende unseres Gesprächs, Herr Dr. Oeller. Ich frage Sie nun nur noch nach einigen Menschen und bitte Sie jeweils um eine kurze Einschätzung: zuerst bitte ich Sie um einen Kommentar zu Gregor dem Großen. Das ist eine historische Persönlichkeit, die Ihnen besonders nahe steht. Ich darf kurz erklären, warum. Sie tragen nämlich das Komturkreuz des päpstlichen Ritterordens des heiligen Gregor des Großen. Oeller: Da wurde ich nie gefragt, das habe ich sozusagen gnadenhalber bekommen. Gregor war jedenfalls einer der großen Geister und Seelen unserer Geschichte. Lindenmeyer: Kommen wir zu einer Figur, die noch lebt, die sogar noch unglaublich vital ist, zu . Oeller: Sie fragen mich jetzt nach einer Einschätzung von Dieter Hildebrandt? Lindenmeyer: Ja, nach einer Einschätzung zu ihm als Person. Oeller: Dieter Hildebrandt ist ein blitzgescheiter, wortgewandter und sich im großen Garten des freien Denkens einfindender Kollege. Lindenmeyer: Hätten Sie das damals auch schon gesagt, als die Bayern den "Scheibenwischer" mit einem Beitrag über Tschernobyl nicht sehen durften? Oeller: Ich musste mit so vielen Irrtümern leben und mich auseinandersetzen, dass ich geübt war in Geduld. "Deine Geduld muss größer sein als deine Probleme", das hat mir schon mein Vater gesagt, als ich noch Gymnasiast war. Und deswegen dachte ich mir immer: "Na, meine Geduld ist größer, als ihr glaubt!" Lindenmeyer: Woody Allen hat einmal gesagt, am zuverlässigsten unterscheiden sich die einzelnen Fernsehprogramme immer durch den Wetterbericht. Hat Woody Allen Recht? Oeller: Nein. In meinen Augen ist das für ihn zu kurz gesprungen. Lindenmeyer: Wenn Sie nach dieser Sendung wieder zu Hause sind und den Fernseher einschalten, was werden Sie sich dann ansehen? Was sehen Sie besonders gerne? Dokumentarfilme? Spielfilme? Nachrichten? Oder gar Talksendungen? Oeller: Hm. Lindenmeyer: Sie denken lange nach? Oeller: Ja. Es kommt darauf an: Die Nachrichten sehe ich dann gerne, wenn sie wichtig und gut sind. Lindenmeyer: Was man aber vorher nie weiß. Oeller: Ja, aber so sehe ich das eben. Und dann sehe ich gerne guten Journalismus, wirklich guten Journalismus, der den Sachverhalt darstellt und ganz deutlich erkennen lässt, dass er über subjektive Meinungen hinausstrahlt. Und ich sehe gerne wirkliche Dichtung, wirkliche Poesie in den Spielfilmen und Fernsehfilmen. Lindenmeyer: Herr Dr. Oeller, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren Besuch im alpha- forum. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit für ein Gespräch, in dem es heute in erster Linie um das Fernsehen ging. Herzlichen Dank. Oeller: Ich danke Ihnen.

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