Fraktion DIE LINKE Bund-Länder-Koordination Marian Krüger/Helge Meves/Dr. Harald Pätzolt 10. Oktober 2018

Die Grünen nach den Jamaika-Verhandlungen und vor den Landtagswahlen in Hessen und Bayern

Überblick: 2 Vorbemerkung 3 Zusammenfassende Thesen

5 Die bayerischen Grünen vor einer Koalition mit der CSU? 5 Zufriedenheit mit der Landesregierung 6 Probleme der CSU 8 Wechselstimmung 8 Grüner Umgang mit einer möglichen Koalition mit der CSU 9 Policy-Seeking - Grünes Themenmanagement 9 Vote Seeking - Grüne Wählersegmente bei SPD- und CSU-Anhängern 11 Konkurrenz in der Innenpolitik – Strategische Variabilität

13 Hessen: Grüne im Aufwind, Schwarz-Grün vor dem Aus, R2G möglich? 13 Bouffier gibt den „Anti-Koch“: Vorleistungen der CDU für Schwarz-Grün 13 Verzicht auf Bildungsreform: Vorleistungen der Grünen für Schwarz-Grün 15 Geben und Nehmen: Vote-Seeking, Policy-Seeking und Office Seeking 17 Konsolidierung und Differenzmanagement von Schwarz-Grün 2014/2015 18 Verluste bei den Kommunalwahlen 2016 und Aufstieg der AfD 19 Politische Achsenverschiebung durch Schwarz-Grün? 21 Die Stimmungslage in Hessen zwischen Juni und September 2018 21 Grüne Wähler mehrheitlich für R2G 23 Hessentrend September 2018: Verschiebung der Themenagenda nützt eher SPD Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 2

Vorbemerkung

„Als LINKE kann uns der zukünftige Kurs der Grünen nicht egal sein, wenn es uns darum geht, politische und gesellschaftliche Mehrheiten für einen sozialen und demokratischen Aufbruch zu gewinnen. Ob die Grünen in progressiven Mitte-Links-Bündnissen mit dabei sind, oder ob sie zukünftig mit SPD und FDP darum kämpfen wollen, wer als Mehrheitsbeschafferin für die Konservativen dienen darf, ist nicht nur aus linker Perspektive von Relevanz.“, fasste Jan Korte anlässlich eines Vorwortes vor zwei Jahren zusammen.1 Es erschien zu einer Studie die das Verhältnis der Grünen zur CDU untersucht hatte und dabei den Fokus auf die Bundestagswahlen 2017 gelegt hatte2. Schwarz-Grün ist alltäglich geworden – es gibt vier Koalitionen der Grünen mit der CDU und vier der Grünen mit der SPD und den LINKEN, in Sachsen-Anhalt koalieren sie mit CDU und SPD. Insgesamt regieren die Grünen in neun Bundesländern in acht verschiedenen Konstellationen. Was bedeutet dies für CDU/CSU und Grüne selbst? Sind die Grünen damit für linke Bündnisse verloren? Welcher Konfliktlinien ziehen sich durch das schwarz-grüne Projekt bzw. ist es überhaupt eines? Werden die Grünen nun konservativer, wenn ja, warum sollten ihnen die Konflikte, die Konservative heute um- und auseinandertreiben, erspart bleiben? Welchen Platz finden die Grünen im Parteienspektrum und was bedeuten „Komplementärkoalitionen“ nach diesen Entwicklungen? Die Grünen wissen um diese Risiken und Herausforderungen. Nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen soll erneut untersucht werden, wie sich die Grünen mit der neuen Situation umgehen. Obwohl dieses Verhandlungen scheiterten, gingen sie gestärkt aus ihnen heraus, allein weil sie verhandelten. Mit der Wahl der neuen Doppelspitze für die Partei und haben sie ein neues Machtzentrum geschaffen, das geräuschlos zusammenarbeitet. Die Landtagswahlen in diesem Oktober erlauben es, an Hand der Ergebnisse eine Bilanz zu ziehen. Hier erfolgt ein Ausblick vor den Wahltagen.

1 „Schwarz-grüne Perspektiven vor den Bundestagswahlen 2017. Modelle, Erfahrungen und Bedingungen für Gelingen oder Scheitern von Koalitionen zwischen CDU und Grünen von Hamburg 2008 bis Baden- Württemberg 2016“.Von Helge Meves und Marian Krüger mit einem Vorwort von Jan Korte. Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Berlin, 2. durchgesehene und korrigierte Auflage, 2016, 84 S. Vorwort Jan Korte S. 2 2 „Schwarz-grüne Perspektiven vor den Bundestagswahlen 2017…“ und die Fortsetzungen „Die Grenzen der Reformbereitschaft. Eine Analyse der sozial- und finanzpolitischen Beschlüsse des grünen Parteitages in Münster.“ Von Marian Krüger und Helge Meves. In: Sozialismus Heft 12/2016, S. 37-39 sowie „Ein Regierungsprogramm gegen Selbstzweifel. Die Grünen zwischen Münster und Berlin.“ Von Helge Meves und Marian Krüger. In: Sozialismus Heft 7-8/2017, S. 38-41; alle Texte auch online z. B. hier http://www.helgemeves.de/waehlbares-parteien.html Wie bedanken uns beim Gesprächskreis Parteien und soziale Bewegungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bei dem wir die Thesen dieses working papers am 27.9.2018 vorstellen und diskutieren konnten.

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Zusammenfassende Thesen

1. Die beiden Landtagswahlen in Hessen (28.10.2018) und Bayern (14.10.2018) sind Richtungswahlen für die Union. CSU und CDU werden gegenüber den letzten Landtagswahlen Verluste erleiden und rechts neben ihnen wird sich in beiden Landtagen erstmals die AfD etablieren. Die Richtungskämpfe in der Union werden neuen Auftrieb erhalten, die Union wird damit insgesamt weniger berechenbar und verlässlich.

2. In Bayern hatte die CSU bisher die absolute Mehrheit im Landtag. Sie führt seit 2 Jahren eine Auseinandersetzung mit der CDU um den Kurs der Union. Für die Landtagswahl relevant ist, dass sie die Sorgen und Wünsche ihrer bayerischen Wählerinnen und Wähler dabei aus den Augen verloren hat und mit dem unionsinternen Hadern auch die eigenen Wähler zu verlieren droht. Die Überdehnung der CSU – nicht nur das erwartende schlechte Wahlergebnis – wird zu heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen führen.

3. Die Grünen bieten sich in Bayern als Koalitionspartner an, suchen aber gleichzeitig den Konflikt mit der CSU im Feld der Innenpolitik. Das ist neu; das Innenressort hatten sie noch nie inne. In einer potentiellen Koalition von geschwächter CSU und gestärkten Grünen müssten beide ihren Wählerinnen und Wählern zeigen, dass sie den anderen Koalitionspartner jeweils im Zaum halten können. Wäre als einzige Zweierkoalition nur die mit den Grünen möglich, wäre das von der CSU zu zahlende Eintrittsgeld für die Grünen entsprechend hoch.

4. Durch ein geschicktes Management der Koalition gelang es in Hessen, anders als z. B. in Hamburg und dem Saarland, die Koalition fünf Jahre lang als Harmonieprojekt zu inszenieren. Schwarz-Grün in Hessen war von beiden Partnern als hegemoniales Projekt mit Referenzcharakter für den Bund angelegt. Infolge des Richtungsstreites in der Union und des Aufschwungs der AfD wird diesem politischen Ansatz jedoch mehr und mehr der Boden entzogen. Vor allem die grünen Wähler verlieren die Geduld mit der CDU.

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5. Beide Koalitionspartner in Hessen waren bereit, einen politischen Preis für das Bündnis zahlen. Die für sie vor den Wahlen entscheidende Frage ist nun, ob es ihnen gelingt, die damit verbundenen Verluste bei traditionellen Anhängern auf Kosten der SPD zu kompensieren. Schwarz-Grün will sich den sozialdemokratischen Mantel der Schutzmacht der kleinen Leute umhängen, de facto aber vor allem die mittleren Einkommensgruppen der Arbeitnehmerschaft an sich binden. Diese Strategie verfängt jedoch, wie der Hessentrend vom September 2018 zeigt, nicht in dem Maße, wie es zur Sicherung einer Regierungsmehrheit erforderlich ist.

6. Bei beiden Landtagswahlen wird damit über das Verhältnis von CDU und CSU zu den Grünen und damit strategisch zwischen der CSU und der CDU entschieden. Setzt sich der Kurs von Angela Merkel, Volker Bouffier u. a. durch, oder der der CSU, die die AfD durch Übernahme von Themen und Politikstil schwächen wollte? Es wird einen Verlierer und einen Gewinner geben. Aber auch der Gewinner dieser Richtungsentscheidung wird durch ein schlechteres Wahlergebnis geschwächt sein.

7. Die mit beiden Wahlen verbundene De-Thematisierung von R2G als Machtoption für Hessen wird nunmehr durch die aktuelle Hessentrendumfrage dementiert. Die Mehrheit der Wähler von Grünen und LINKEN steht für einen SPD-Ministerpräsidenten und für eine neue Regierungskoalition.

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Helge Meves

Die bayerischen Grünen vor einer Koalition mit der CSU?

Das letzte Mal in der Höhe ihres Landtagswahlergebnisses 2013 von 47,7 Prozent prognostiziert wurde die CSU im Frühjahr 2016. Seitdem fielen die Umfrageergebnisse immer schlechter aus, Ende 2017 gab es die erste Prognose unter 40 Prozent. Einer zwischenzeitlichen Verbesserung im Frühjahr dieses Jahres folgten seit Juli Umfragewerte wieder unter 40 Prozent. Dazu kommt, dass das Interesse der CSU-Anhänger an der Landtagswahl mit 69 Prozent das Geringste im Vergleich mit allen anderen Parteien ist. Die CSU wird nach der Landtagswahl am 14. Oktober einen Koalitionspartner benötigen, wenn sie weiter den Ministerpräsidenten stellen will. Einer wenn dann möglichen Koalition mit FDP oder AfD hat die CSU bereits eine Absage erteilt. SPD, Freie Wähler und Grüne bieten sich an und werden mit ja 44 Prozent auch am ehesten befürwortet. Evtl. ist auch eine Dreier-Koalition erforderlich. Auch die FAZ betont, dass einzig die LINKE nicht für eine Koalition zur Verfügung steht, „erinnert die anderen Teilnehmer der Runde daran, dass man Politik auch mal ganz anders denken könnte.“3

Zufriedenheit mit der Landesregierung

Hatten sich im Mai sieben von zehn Bayern (70 Prozent) positiv zur Leistung der CSU- Staatsregierung geäußert, gelangt im September weniger als die Hälfte der Bayern (47 Prozent) zu diesem Urteil. Eine ähnlich polarisierende Wahrnehmung der bayerischen Staatsregierung gab es zuletzt Anfang 2012, als im Freistaat CSU und FDP gemeinsam regierten. Am deutlichsten ist die Kritik am Agieren der CSU im Unions-Asylstreit in der Bundesregierung: 78 Prozent meinen, dass der Streit der CSU eher geschadet, nur 17 dass er eher genutzt hat. Während die CSU-Führung keine Gelegenheit auslässt, ihre Aversion gegen die Kanzlerin Angela Merkel zu demonstrieren, ist die Mehrheit der Anhänger der Grünen –

3 Timo Frasch: „Leise Hoffnung für Eisners Erben. Der Freistaat Bayern wurde einst von einem Sozialisten ausgerufen. Hundert Jahre später will die Linkspartei in den Landtag einziehen – und hat sogar Chancen.“ Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.10.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 6 wie auch die Mehrheit der Deutschen und der CSU-Anhänger4 - mit ihrer Politik zufrieden. Auch die Noten für das Spitzenpersonal der CSU verschlechterten sich. Horst Seehofer ist auf dem schlechtesten Wert seit Beginn der Messung vor 16 Jahren. Markus Söders Arbeit als Ministerpräsident polarisiert ebenfalls zunehmend: 42 Prozent hielten ihn im BayernTREND September 2018 für einen guten, 44 für keinen guten Ministerpräsident. Alle führenden Oppositionspolitiker haben bessere Noten erhalten, sind allerdings teils gravierend unbekannt. Drei Monate vor der Landtagswahl zeigt sich die bayerische Bevölkerung deutlich verunsichert. Knapp jeder zweite Wahlberechtigte (46 Prozent) sieht in den aktuellen Verhältnissen im Land Anlass zur Beunruhigung. Damit unterscheidet sich die aktuelle Grundstimmung in Bayern ganz erheblich von der in den ersten Monaten des Jahres, als die Verhältnisse im Freistaat mehrheitlich positiv bewertet wurden. Letztmalig überwog die Beunruhigung im Bayerntrend zum Jahreswechsel 2015/2016 auf dem Höhepunkt der Zuwanderungskrise (Januar 2016: 57 Prozent Beunruhigung, 36 Prozent Zuversicht).

Probleme der CSU

Gründe dafür liegen vor allem im Agieren der CSU besonders im zurückliegenden Jahr. Bundespolitisch sucht sie den Konflikt mit der CDU, indem Innenminister Horst Seehofer Ängste schürt („Die Migration ist die Mutter aller Probleme“), Probleme produziert, die es ohne sie gar nicht gäbe (Causa Maaßen) und immer wieder rechts ausschert („Konservative Revolution“). Daneben ist von dem Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gerd Müller, früher Katholische Landjugendbewegung, heute gewähltes Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken, nichts zu hören; Cem Özedemir schätzt ihn seit den Jamaika-Verhandlungen5. Andreas Scheuer, Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur, wechselt im Dieselskandal immer wieder seine Positionen, dem Dieselskandal folgt der Dieselentschädigungsskandal: Zunächst hatte die Koalition den Besitzern alter Dieselautos mit der Abgasnorm 1-5 eine Hardwarenachrüstung angeboten, die die Hersteller übernehmen sollten. Wenige Stunden später kündigten die ersten Autohersteller an, dass sie die Kosten dafür nicht übernehmen werden. Parallel dazu hatte Andreas Scheuer ein „Tauschprogramm mit attraktiven Umtauschprämien“ versprochen. Die Hersteller hatten Rabatte in Höhe von mehreren Tausend Euro versprochen, wenn Diesel der Abgasnorm 4 und 5 in Zahlung gegeben werden. Tatsächlich sollen diese Rabatte mit bereits gewährten

4 FORSA für rtl am 17.6.2018 https://www.welt.de/politik/deutschland/article177722716/Umfrage-Zwei- Drittel-der-Deutschen-halten-CSU-Asylstreit-fuer-blosse-Wahlkampftaktik.html und am 26.6.2018 https://www.rtl.de/cms/umfrage-schlechte-noten-fuer-soeder-und-seehofer-in-bayern-4182242.html 5 „Heimat wird nicht weniger, wenn man sie teilt. Cem Özdemir über Ausgrenzung, die Ziele der Grünen und Koalitionen mit der CSU“ Interview in: Nürnberger Nachrichten vom 17.8.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 7

Rabatten verrechnet werden, so dass die Hersteller im besten Fall für den Dieselbesitzer einen Bruchteil der Rabatte zusätzlich gewähren. Ministerpräsident Markus Söder kann kaum von einem Amtsinhaberbonus profitieren, da er auf Grund der langen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl erst seit März dieses Jahres Ministerpräsident ist. Eine vergleichbar kurze Amtszeit hatte Günther Beckstein, der vor der Landtagswahl 2008 knapp ein Jahr im Amt war – die CSU verlor damals 17,3 Prozent, verlor seit 1962 erstmals die absolute Mehrheit, und ermöglichte den Freien Wähler als direktem Konkurrenten vor allem um Wählerstimmen auf dem Land erstmals den Einzug in den bayerischen Landtag. „Die Menschen erleben die CSU-Führung als Querulanten, als Streithansl. … Seehofer gegen Söder und wenn denen gegeneinander nichts mehr eingefallen ist, dann ging‘s gegen Merkel“ analysiert der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld6. Früher wurden die unterschiedlichen Strömungen der Partei durch eigenständige konservative, christliche oder soziale Charaktere verkörpert. Jetzt „dominieren die Manager der Macht ohne Millieubindung“7. Es ist eine Überdehnung der CSU erkennbar, bei der konservative bzw. rechtspopulistische Positionen und christliche bzw. soziale Positionen auseinandertriften, namentlich etwa Seehofer, Söder und Dobrindt gegen Gerd Müller, Ilse Aigner und Manfred Weber. Edmund Stoiber meinte weiter zuletzt, dass die CSU unter ihrem eigenen Erfolg leide. Seit 2004 sind ca. 1,6 Mill. Menschen aus anderen Bundesländern nach Bayern zu und ca. 1,4 Mill. weg gezogen bei insgesamt ca. 9,5 Mill. Wahlberechtigten. Viele Zugezogene seien der guten Arbeitsangebote und geringen Arbeitslosigkeit wegen nach Bayern gezogen – sozusagen Wirtschaftsflüchtlinge – bringen aber auch keine tradierte Bindung zur CSU mit. An Hand der Wahlergebnisse lässt sich diese plausible These allerdings nur schwer belegen. Sie erklärt auch nicht die Kluft zwischen den 60,67 Prozent, die die CSU mit Edmund Stoiber als Ministerpräsident 2003 erreichte und den prognostizierten Ergebnis in diesem Jahr. Durch die Fokussierung auf die bundespolitische Auseinandersetzung mit der CDU gelingt es der CSU auch nicht, die Pläne ihres Regierungsprogramms zur Landtagswahl zu kommunizieren, obgleich es Vorstellungen ihrer Kernklientel bedienen würde und diese Pläne in Deutschland auch nicht selbstverständlich sind: 250 neue Stellen für bayerische Bauverwaltung, um Planung, Genehmigung und Durchführung von Baumaßnahmen zu beschleunigen; zusätzliche Förderung des ÖPNV mit 100 Mill. Euro jährlich, kostenloses WLAN im ÖPNV bis 2020; Amtszeitbegrenzung von 10 Jahren für den Ministerpräsidenten; neue Bayerische Grenzpolizei mit 1.000 Stellen, zusätzlich zu den bereits beschlossenen 2.000 Stellen weitere 1.000 bei der Polizei; „Bayerische Kavallerie“: in jeder Großstadt Bayerns eine Reiterstaffel und in München eine zweite mit dann insgesamt 200 Pferden; zusätzlich 100 Stellen für Gerichte und Staatsanwaltschaften und 100 für Justizvollzug.

6 „Es herrscht strategische Sprachlosigkeit“ Werner Weidenfeld zu den Landtagswahlen in Bayern. In: Die Rheinpfalz vom 18.9.2018 7 Timo Frasch: „Das Elend der CSU“ Frankfurter Allgemeine Zeitung und Frankfurter Allgemeine Woche vom 21.9.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 8

Gerade das Schüren von Ängsten führt dazu, dass die CSU ihre eigenen Erfolge als Regierungspartei in Bund und Land weg redet und sich selbst damit schwächt.

Wechselstimmung

Eine Regierung bestehend nur aus der CSU scheint derzeit nicht wahrscheinlich, weshalb nach Koalitionsoptionen gefragt wird. Die höchste Zustimmung fanden im September potenzielle Koalitionen der CSU mit den Freien Wählern und den Grünen (je 44 Prozent). Im Bayerntrend vom Mai und Januar lagen die Grünen im Vergleich vor den Freien Wählern und sprachen sich 83 Prozent der Grünen-Anhänger für eine Regierung mit der CSU aus; spätere Werte liegen noch nicht vor. Die Herausforderung ist den Grünen bekannt. Geprüft werden soll, wie die Grünen damit umgehen.

Grüner Umgang mit einer möglichen Koalition mit der CSU

Die beiden Spitzenkandidaten der Grünen, und hatten sich seit Ende letzten Jahres immer wieder für eine Regierungsbeteiligung in Bayern ausgesprochen, was eine Koalition mit der CSU bedeutet. Beide gelten als „Realos“; auch in Bayern sind die Doppelspitzen nicht mehr mit den „Fundis“ quotiert. Die Umfragewerte in der Gesellschaft, wie in ihrer Partei bestätigen sie darin. "Ein Ministerjob würde mir schon mehr liegen als der des Oppositionsführers“, sagt Hartmann. Und Schulze meint: "Ich bin ja nicht in der Politik, weil ich gern am Rand stehe und sage, wie’s besser geht.“8 Der bundespolitische Aufwind der Grünen unterstützt sie dabei: Nicht was die Grünen mit Union und FDP im Herbst 2017 verhandelten, ließ die Umfragewerte im Herbst steigen, sondern dass sie überhaupt über Jamaika verhandelten. Mit dem neuen Parteivorsitzendenduo in Berlin greift eine Aufbruchsstimmung um sich. Die bundespolitische Unterstützung aber reicht als Begründung für die Umfragewerte als zweitbeste Partei in Bayern nicht aus.

8 Zit. nach Dominik Baur: „Die Kämpferin und ihr Co.“ In: tageszeitung vom 4.8.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 9

Policy-Seeking - Grünes Themenmanagement

Beide Spitzenkandidaten ergänzen sich im Typ und den Themenspektren. Sie haben die beiden Mobilisierungsthemen „Polizeiaufgabengesetz“, „Flächenfraß und Betonflut“ zu ihren gemacht. Hartmann profiliert sich bei grünen Klassikern wie der Energiewende, der giftfreien Landwirtschaft oder eben den Kampf gegen den Flächenfraß. Schulze steht für Bürgerbeteiligung, Datenschutz, gegen Reichsbürger, für Polizeischulungen oder Tierschutz. Die Auseinandersetzung um den Hambacher Forst und die Veröffentlichung des Weltklimaberichts nützen den Grünen in Bayern zusätzlich. Das Themenmanagement passt sich mit einer Ausnahme in das Agieren der anderen Regierungsbeteiligungen ein: in den bundesweit zehn Regierungsbeteiligungen verantwortet die Partei die Geschäftsbereiche Energie, Umwelt und Klima. Darüber hinaus verantworten die Grünen angrenzende Politikfeldern, sechs MinisterInnen für Agrar, fünf für Verbraucherschutz, vier für Verkehr9. Problematisch für eine Regierungsbeteiligung ist die Fokussierung auf die Innenpolitik und Migration durch Katharina Schulze. Dieses Politikfeld ist für die CSU herausnehmend wichtig, weil es sich mit den Schwerpunkten der Partei überlappt. Zugleich haben die Grünen ein in anderen Landesregierungen das Innenministerium nicht.

Vote Seeking - Grüne Wählersegmente bei SPD- und CSU-Anhängern

Mit ihrem Agieren stoßen die Grünen in Wählersegmente von CSU und SPD vor: zuletzt sprachen sich 44 Prozent für eine Regierungsbeteiligung der Grünen aus, bei den unter-40- Jährigen 49 Prozent und bei den mit hoher Bildung 55. – Auch wenn diese Zahlen bezüglich der Grünen zurückhaltend zu werten sind, da die Grünen auf Grund ihres weichen Profils in den Umfragen öfter bessere Ergebnisse erzielen als in den dann folgenden Wahlen10. In der Innenpolitik, Asyl und Flucht sprechen die Grünen bürgerliche Wähler der CSU an, deren christliches Verständnis sie vor der Haltung der CSU und der SPD der Regierungskoalition in Berlin zurückschrecken lässt11. Auch bei der Debatte um den Kreuzerlass stellten sich die Führungen der beiden großen Kirchen gegen den

9 Arne Jungjohann/Natascha Spörle: „Ressortzuschnitte in Grünen Landesregierungen“. Heinrich-Böll-Stiftung, 30.11.2017 10 Thomas Petersen/Institut für Demoskopie Allensbach: „Grün mit Grauschleier“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.3.2017 11 Johannes Hartl: „Die konservativen Flüchtlingshelfer. In Bayern hadern christliche Unterstützer von Asylbewerbern mit der Politik der CSU.“ In: Neues Deutschland vom 22.8.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 10

Ministerpräsidenten Markus Söder. in Bayern ist knapp die Hälfte der Bevölkerung römisch- katholisch und weitere knapp 20 Prozent evangelisch. In der Sozialpolitik greifen die Grünen die SPD an. Hartz IV findet zwar keine Erwähnung in ihrem Landtagswahlprogramm. Aber auch sonst sind Differenzen erkennbar. Die Grünen machen sich für eine „Garantierente stark, die Altersarmut verhindert“, während die SPD hier unverbindlicher ist. Beide Parteien setzen sich für eine „wirksame Mietpreisbremse“ ein, aber die Grünen fordern höhere Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau und mehr Wohnungen. Aktuell schwer einzuschätzen ist die unterschiedliche Wirkung der Grünen in Stadt und Fläche. Ludwig Hartmann spricht ländliche Probleme direkt und geschickt an, z. B. "Ich kenne keinen Landwirt, der morgens aufsteht und den Boden vergiften will."12 Aber beide Spitzenkandidaten wohnen in München und in der Fläche waren die Grünen bisher nie so stark, wie in den Städten und es wird abzuwarten sein, ob sie mit zwei Münchnern als Spitzenkandidaten die regionalen Interessen und Eitelkeiten ansprechen können. In den Städten wird die Konkurrenz durch die LINKE spürbar sein. Auch ist Bayern sozialstrukturell für die Grünen ein anderes Pflaster als Baden-Württemberg. In Bayern ist der Stadt-Land- Gegensatz größer als in Baden-Württemberg, wo es viele Mittelstädte mit exportorientierten Weltmarktführern und Fachhochschulen gibt. Eine von der CSU geplante Straßenausbaubeitragssatzung hätte besonders im ländlichen Raum zu hohen Belastungen für die Menschen geführt. Die Freien Wählern hatten ein Volksbegehren dagegen initiiert und waren damit 2018 erfolgreich. Auf dem Land konkurrieren die Freien Wähler stark mit der CSU – und auch mit den Grünen. Nachdem sie in den Umfragen erstmals die SPD überholt hatten, titelte n-tv über die Spitzenkandidatin gar „Diese Frau zerstört die SPD“13. Manfred Güllner glaubt, dass dies nicht nur für Bayern gelten könnte: "Bei SPD und Grünen könnten sich die Größenverhältnisse auch auf Bundesebene bald umdrehen."14 Ein weiterer Grund könnte im vollzogenen Generationenwechsel liegen: „An Katharina Schulze kann man ebenso wie an Robert Habeck oder Annalena Baerbock beobachten, um wie vieles besser den Grünen der Generationenwechsel zu einer kraftvollen Neubesetzung gelingt als der SPD.“15 Für die bayerischen Grünen erweitert sich damit der Handlungsspielraum. Zwar stehen sie vor der Herausforderung, wie mit der CSU eine Regierung gebildet werden könnte, ohne Kernthemen aufzugeben. Aber die zunehmende Stärke bringt sie in eine andere Verhandlungsposition. Eine Regierungsbeteiligung in Bayern könnte auch zu einer

12 Zit. nach Timo Frasch: „Mit Maja, Willi und Flip. Die bayerischen Grünen konzentrieren sich im Wahlkampf auf griffige, lebensnahe Themen - Ziel ist die Regierungsbank“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.8.2018 13 Wolfram Weimer: „Katharina Schulze: Diese Frau zerstört die SPD“ ntv, 29.5.2018 14 Zit. nach: „Warum die Grünen der SPD gefährlich werden“ auf: Bild.de, 12.08.2018 15 Wolfram Weimer: „Katharina Schulze: Diese Frau zerstört die SPD“ ntv, 29.5.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 11

Kräfteverschiebung im Bundesrat führen16: erstmals wären die Grünen in mehr B- als A- Ländern, was ihr Gewicht vergrößern, aber auch das strategische Verhältnis zu CDU/CSU verändern würde.

Konkurrenz in der Innenpolitik – Strategische Variabilität

Eine Konkurrenzsituation ist also absehbar und diese hat sich seit Mitte Juni, mit dem Asylstreit in der Union und der Regierungserklärung von Ministerpräsident Markus Söder, verschärft. Katharina Schulze hatte 2016 die ersten Polizeikongresse der Grünen organisiert und zugleich gegen das geplante Polizeiaufgabengesetz mobilisiert. Die Landesregierung geht repressiv gegen das Kirchenasyl vor, die Grünen verteidigen es in ihrem Wahlprogram genauso klar. Die Grünen gingen auch gegen das Psychisch-Kranken-Gesetz der Landesregierung vor. Weiter unterstützten sie die #ausgehetzt-Demos gegen die bayerische Landesregierung. Als der Oberbürgermeister von München den Münchner Kammerspielen per Brief die Beteiligung an der Demonstration #ausgehetzt untersagte, gehörten die Grünen auch zu den ersten Kritikern17. - Insgesamt gab es in München in den letzten Monaten vier Großdemonstrationen gegen die Landesregierung. Im – von der bayerischen LINKEN ebenso mitgetragenen - Volksbegehren gegen den Pflegenotstand wurden am 9.10.2018 über 100.000 Unterschriften übergeben, die in acht Wochen gesammelt wurden – 25.000 wären erforderlich gewesen. Der für die Grünen neue Fokus auf die Innenpolitik ist nicht nur in Bayern manifest. Er zeigt sich auch im Entwurf des Europawahlprogrammes vom 29.08.2018, in welchem die Kapitel drei und vier von insgesamt sechs Sicherheitsfragen thematisieren.18

Auf einer Postkarte, die Katharina Schulze zum letzten Jahreswechsel verschickte, stand: „1918, 1968, 2018: wie wird die nächste Revolution in Bayern?“ Beim letzten Fasching verkleidete sie sich als Daenerys Targaryen, der Drachenmutter aus „Game of Thrones“, einer kühlen Strategin, die Sklaven befreit und ein Königreich erobern will. Sie versteht sich selbst nicht als Konservative, schätzt am Konservatismus aber seine „nüchterne, pragmatische Art, mit Dingen umzugehen, seine Verlässlichkeit und Berechenbarkeit“19.

16 Arne Jungjohann/Natascha Spörle: „Landesgrüne im Wandel: Neue Koalitionskonstellationen und beginnender Koalitionswechsel“. Heinrich-Böll-Stiftung, 14.8.2017 17 Z. B. „Was darf die Kunst? Bayerns Kulturszene zwischen Abhängigkeit und Aufbegehren. Ein Zwischenruf von Agnes Krumwiede.“ In: Frankfurter Rundschau vom 25.7.2018 18 „Europas Versprechen erneuern. Entwurf Europawahlprogramm des Bundesvorstandes Bündnis90/Die Grünen.“ Stand: 29.08.2018, S. 42-84 von 102 19 Zit. nach Silke Kersting „Kein Bündnis mit CSU im AfD-Gewand“ In: Handelsblatt vom 20.7.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 12

Die Grünen modifizierten ihre Koalitionsstrategie und suchten den Konflikt in der Innen- und Migrationspolitik: „Hartmann setzt auf die schnellen Selbstreinigungskräfte der CSU. Vor zehn Jahren habe auch niemand Horst Seehofer auf der Rechnung gehabt. Es brauche nur die entsprechende Wahlniederlage. ‚Bei 40 Prozent wird er sich wahrscheinlich halten können, bei 35 ist er weg.‘ Und dann, so hofft Hartmann, würden die liberalen Kräfte in der CSU Aufwind bekommen. Die Webers, die Aigners. ‚Wir stehen ja weiter zur Verfügung, nur der Mitspieler muss wieder in die politische Mitte zurückkommen.‘“ 20 Für potentielle Koalitionsgespräche forderten die Grünen auf ihrem Kleinen Parteitag am 7.10.2018 die Änderung des neuen Polizeiaufgabengesetzes oder die Abschaffung von Sammellagern für Flüchtlinge. "Nicht verhandelbar" sei ein proeuropäischer Kurs, sagte Hartmann21. Eine endgültige Absage an Schwarz-Grün gibt es bei beiden nicht, allerdings ist der Versuch einer Intervention in die Personalpolitik der CSU, namentlich Markus Söders Funktion, sehr gewagt. Aber die Grünen scheinen entschlossen, ihren innenpolitischen Kurs durchzuhalten.

20 Zit. nach Dominik Baur: „Die Kämpferin und ihr Co.“ In: tageszeitung vom 4.8.2018 21 Ein Bericht dazu Nell: „Grünen-Spitze schwört aufs Regieren ein“. In: Süddeutsche Zeitung vom 8.10.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 13

Marian Krüger

Hessen: Grüne im Aufwind, Schwarz-Grün vor dem Aus, R2G möglich?

Die schwarz-grüne Koalition in Hessen liefert ein Beispiel für eine bemerkenswerte politische Stabilität des Verhältnisses von CDU und Grünen. Während die Koalitionen von Grünen und CDU in Hamburg und im Saarland scheiterten, präsentiert sich Schwarz-Grün in Hessen als Erfolgsmodell. Was läuft in Hessen anders? Warum präferieren CDU und Grüne, die sich in Hessen über Jahrzehnte in schroffer Konfrontation gegenüberstanden, die Bildung und Fortsetzung einer Koalition? Die Entwicklung dieser neuen Koalitionspräferenz soll hier unter den drei Gesichtspunkten des Vote-Seeking, Policy-Seeking und Office-Seeking22 betrachtet werden. Zugleich muss das widersprüchliche Bild, das sich aus der politischen Stimmung im Vorfeld der Landtagswahlen im Oktober 2018 ergibt, analysiert werden. Denn trotz der vergleichsweise guten Popularitätswerte der Landesregierung und ihres Spitzenpersonals hat Schwarz-Grün in Hessen demoskopisch seit 2016 die Mehrheit verloren. Wie reagieren CDU und Grüne auf diese Lage und wie ist die parteipolitische Konkurrenzsituation in Hessen allgemein zu beurteilen? Schließlich: Welche Konsequenzen hat der politische Lagerwechsel für die Grünen? Und: Ist Rot-Rot-Grün in Hessen erledigt?

Bouffier gibt den „Anti-Koch“: Vorleistungen der CDU für Schwarz-Grün

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) spricht gerne davon, dass es in seiner Koalition keine grünen oder schwarzen, sondern nur schwarz-grüne Projekte gebe.23 Doch noch zu Zeiten von Bouffiers Amtsvorgänger Roland Koch galt die Hessen-CDU als „rechter Kampfverband“ und der Hessische Landtag als Ort der „Blockkonfrontation zwischen Rot- Grün und Schwarz-Gelb“.24 Mit dem Abgang des CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch (2010) und der Amtsübernahme seines mit dem Image des „schwarzen Sheriffs“ behafteten

22 Strøm, Kaare; Müller, Wolfgang C. (1999): Political Parties and Hard Choices. In: Müller, Wolfgang C.; Strøm, Kaare (Hg.): Policy, Office or Votes? How Political Parties in Western Europe Make Hard Decisions. Cambridge, New York, Melbourne, Madrid, Cape Town, Singapore, Sao Paulo: Cambridge University Press, S. 1–35. 23 Christoph Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für den Bund, Baden-Baden 2017, S. 872 24 Hubert Kleinert. Kulturrevolution in Wiesbaden? Zu Risiken und Perspektiven der schwarz-grünen Koalition in Hessen, in: Die Poltische Meinung, 525/14, S.84) Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 14

Nachfolgers Volker Bouffier vollzog die Union jedoch einen allmählichen Kurswechsel, der darauf abzielte, die Grünen aus ihrem traditionellen Lager herauszulösen. Dazu gehörte nicht nur eine Mäßigung der Rhetorik, sondern auch die Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber (Dezember 2013), eine Maßnahme, mit der den Grünen signalisiert wurde: Die Bouffier-CDU will nicht die Koch-CDU sein. Dies war mit Blick auf die weitere Entwicklung der Union eine weitreichende und folgenschwere Entscheidung. Denn inzwischen wird Bouffier weniger als Anti-Koch, sondern vielmehr als einflussreicher Antipode zum politischen Konfrontationskurs von Horst Seehofer wahrgenommen (Bouffier gibt den „Anti-Horst“).25 Bouffier gibt der CSU offensichtlich eine Mitschuld am Aufstieg der AfD. „Der ganze Streit zwischen CDU und CSU hat niemandem etwas gebracht“, so Bouffier. „Vielleicht der AfD. Aber uns nicht, und der CSU schon gar nichts.“26 Die schwarz-grüne Projekterhetorik ist ein Element einer Kommunikationsstrategie der CDU, den Lagerwechsel der Grünen zu konsolidieren. Die hessische CDU-Spitze ist deswegen auch auf deutliche Distanz zu den jüngsten Versuchen der CSU gegangen, durch eine Verschärfung der Flüchtlingspolitik die Achse der Union nach rechts zu verschieben, weil dies die Balance ihres Koalitionsprojektes in Hessen gefährden könnte. Allerdings ist hervorzuheben, dass die Bouffier-CDU in Hessen bereits vor 2013 eine Strategie betrieb, die auf die Förderung des Lagerwechsels der Grünen abzielte und in der hessischen Grünen-Spitze um Tarik Al-Wazir kongeniale Partner gefunden hat.

Verzicht auf Bildungsreform: Vorleistungen der Grünen für Schwarz-Grün

Auch die Grünen haben erhebliche Vorleistungen für das Zustandekommen der Koalition mit der CDU erbracht. So ließen sie in ihrem Landtagswahlprogramm von 2013 ihre langjährige Forderung nach einem Bruch mit dem gegliederten Schulsystem in Hessen fallen: „Wir werden diesen Schulkampf nicht fortsetzen“. Da es in Deutschland, anderes als in anderen Ländern, „keinen breiten Konsens über die Schulstruktur“ gebe, sollte dieser Konflikt nicht „mittels knapper parlamentarischer Mehrheiten“ entschieden werden. Eine Landesregierung mit grüner Beteiligung wird der Opposition die Hand zu einem Schulfrieden reichen.“27 Damit hatten die Grünen, die im Wahlkampf zwar offiziell weiter als Teil des Rot-Grünen Lagers agierten, ihrerseits ein klares Signal an die CDU, „ihr die Hand zu reichen“, ausgesandt. Die Hessischen Grünen haben damit ihre Konsequenzen aus der gescheiterten

25 Margarete von Ackeren, „Landtagswahlen in Hessen: Schwarz-Grün auf der Kippe: Warum Ministerpräsident Bouffier sauer auf die CSU ist“, Focus vom 13.8.2018 26 Volker Bouffier im Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 11.8.2018, Streit in der Union "hat niemandem etwas gebracht"

27 Hessen will den Wechsel. Das Grüne Regierungsprogramm 2014-2019 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hessen. Beschluss der Landesmitgliederversammlung vom 25. Mai 2013, S. 31 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 15

Hamburger Schulreform (2008) gezogen. Die GAL in Hamburg hatte zumindest versucht, ein linkes Reformprojekt unter den konkreten Bedingungen einer Koalition mit der CDU zu verwirklichen. Obwohl sich die GAL damit zwar in der Koalition durchsetzen konnte, scheiterte sie an der konservativen Gegenmobilisierung in der Gesellschaft. Die Grünen in Hessen stellten ihrerseits durch den Verzicht auf die Reform klar, dass für sie der Zusammenhalt mit der CDU wichtiger ist als ein ur-grünes Reformprojekt.

Geben und Nehmen: Vote-Seeking, Policy-Seeking und Office Seeking

Die gegenseitigen Koalitionspräferenzen von CDU und Grünen in Hessen ergeben sich aus einer Reihe weiterer Bedingungen, die 2013 gegolten haben und deren Fortgeltung für 2018 hier unter den drei Blickwinkeln Vote-Seeking, Policy-Seeking und Office Seeking28 anhand einiger Beispiele gezeigt wird:

Vote-Seeking (Profilbildung unter dem Blickwinkel der Maximierung von Wählerstimmen) Die Grünen haben es geschafft, sich aus der Rolle der ewig an die schwächelnde SPD gebundenen Oppositionspartei zu lösen. Die CDU, die sowohl nach den Landtagswahlen 2008 als auch 2013 damit konfrontiert war, dass die parlamentarische Mehrheit ihres traditionellen schwarz-gelben Blocks nicht mehr gegeben war, suchte einen neuen strategischen Juniorpartner, d. h. eine neue Blockbildung, mit der auch nach 2018 ein Regieren möglich wäre. Zugleich stehen beide Partner vor dem Problem, dass die Akzeptanz des neuen Modells in Teilen ihrer Wählerschaft nicht gegeben ist. Eine zu hohe Wechselprämie für die Grünen kann zur Erosion des konservativen Elektorates führen. Andererseits ist auch eine Koalitionspolitik, die auf das Kleinregieren des Juniorpartners abzielt, machtstrategisch kontraproduktiv, da damit die Mehrheit des Blocks gefährdet wird. Deswegen entschloss sich die CDU, die Koalition als Win-Win-Projekt mit harmonischer Regierungspraxis zu inszenieren. Im Gegensatz zum Saarland und zu Hamburg wurde diese Linie in der gesamten Wahlperiode durchgehalten.

Policy-Seeking (Einfluss auf politische Entscheidungen und Prozesse) Beide Parteien standen vor der Regierungsbildung vor dem Dilemma der Inkompatibilität von Grundsatzpositionen und gesellschaftspolitischen Rollen und der damit verbundenen Erwartungshaltung ihrer Wählerschaft. Dieses Problem wurde zudem auch dadurch verschärft, dass für den Regierungseintritt der Grünen eine „gewisse Prämie für den

28 Strøm, Kaare; Müller, Wolfgang C. (1999): Political Parties and Hard Choices. In: Müller, Wolfgang C.; Strøm, Kaare (Hg.): Policy, Office or Votes? How Political Parties in Western Europe Make Hard Decisions. Cambridge, New York, Melbourne, Madrid, Cape Town, Singapore, Sao Paulo: Cam-bridge University Press, S. 1–35. Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 16

Lagerwechsel“29 erforderlich war, ohne Essentials der CDU-Politik zu beschädigen und Wählerbindungen zu gefährden. Agierte die CDU als konservative Garantin des gegliederten Schulsystems und als beinharte Verfechterin der um den Frankfurter Flughafenausbau gruppierten wirtschaftlichen Interessen, stritten die Grünen für die Überwindung des ausgrenzenden Schulsystems und waren seit Jahren parlamentarischer Arm der Flughafengegner. So sorgte die Bereitschaft der CDU, mit den Grünen nun über den Flughafen und das umstrittene 3. Terminal mit seiner geplanten Kapazität von 14 Millionen Passagieren30 überhaupt zu verhandeln, für beträchtlichen Unmut bei den eigenen Anhängern. Die Übertragung der Zuständigkeit für den Flughafen an den grünen Wirtschaftsminister Al-Wazir ist von den Wirtschaftsverbänden als Provokation empfunden worden. Zusätzlich machte die CDU viele weitere Konzessionen: Mit der Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte, dem Promotionsrecht für Fachhochschulen, einem Aktionsplan zur Ausweitung des Ökolandbaus und der Deklaration des gesamten Landes Hessen zur gentechnik- und frackingfreien Zone konnten die Grünen nicht nur symbolisch Punkte sammeln. Aber auch die Grünen wurden zur Kasse gebeten: Das Terminal 3 wird gebaut, das von ihnen versprochene Nachtflugverbot kommt nicht, der „Hessentrojaner“ für die Polizei wird eingeführt. Und im Bundesrat haben die hessischen Grünen die beiden Asylpakete passieren lassen.

Office-Seeking (Implementierung der eigenen Politik in der Exekutive) Das politische Gewicht einer Partei in einer Koalition hängt von der Relevanz und der Anzahl ihrer Ministerien ab. Die Grünen stellen zwar nur zwei der zehn Landesminister, haben sich aber damit gleich mehrere Schlüsselressorts in zwei Superministerien gesichert: Das Ministerium Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung mit Tarik Al-Wazir und das Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz mit Priska Hinz. Auch hier hat die Union eine klare und strategische Botschaft an die Grünen ausgesandt. Mit dem Wirtschafts- und Landwirtschaftsressort hat sie den Grünen Schlüsselressorts, auf die die Konservativen zuvor selbst gepocht hätten, überlassen. Auch das Verkehrsressort hätten die Grünen in einer rot-grünen Koalition nur schwer bekommen können. Das institutionelle Gewicht der Grünen ist mit dem Zugriff auf mehr als ein halbes Dutzend Ressorts in zwei Ministerien auf ein neues Niveau gehoben worden. Ihre Verhandlungsmacht gegenüber Verbänden und wirtschaftlichen Interessengruppen ist damit gestärkt. Eine Koalition ist immer auch eine Frage des Preises. Der Preis für die Grünen ist klar zu umreißen: Verzicht auf gesellschaftliche Reformprojekte, Einbindung in eine Koalitionsräson, die sie zwingt, zuvor vertretene Positionen wie die „Ehe für alle“ im Landtag abzulehnen

29 Christoph Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für den Bund, Baden-Baden 2017, S.869 30 Jochen Remmert: FRANKFURTER FLUGHAFEN: Terminal 3 wächst erst einmal in die Tiefe, FAZ 18.6.16 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 17 sowie die Erosion des Verhältnisses zu alten Bündnispartnern wie den Bürgerinitiativen gegen den Flughafenausbau.31 Auch die CDU hat einen politischen Preis zahlen müssen. Zu den Zumutungen, die die CDU nach der Regierungsbildung ertragen musste, gehörte, dass die Grünen den Koalitionsvertrag als ihren Sieg auf Kosten der CDU ausgaben, um sich mit vielen kleinen Konzessionen der CDU zu schmücken. Dies wurde von Teilen des CDU-Milieus als Aufweichung des konservativen Profils wahrgenommen: „Indem sie auf die Grünen zugegangen ist, hat sie ihr traditionell kämpferisch konservatives Profil beschädigt“, so der Kasseler Politologe Wolfgang Schroeder.32 Insbesondere die Übertragung der Zuständigkeit für die Flughafenpolitik an den grünen Wirtschaftsminister Al-Wazir führte zu heftigen Reaktionen der Wirtschaftsverbände. Die CDU hat es jedoch verstanden, sich diese Kosten für die Wechselprämie an die Grünen an anderen Stellen in Rechnung zu stellen.

Konsolidierung und Differenzmanagement von Schwarz-Grün 2014/2015

Noch vor Weihnachten 2013 segnete die Bouffier-CDU den schwarz-grünen Koalitionsvertrag mit hundertprozentiger Zustimmung ab. Der pragmatische und pflegliche Umgang der CDU mit dem grünen Bündnispartner, ihre dosierten, kleinteiligen Zugeständnisse, ermöglichten es, die Grünen zugleich in eine Politik gegen ihrer traditionellen Bündnispartner einzubinden. Das betrifft insbesondere das Verhältnis zu den Bürgerinitiativen gegen den Flughafenausbau. Al-Wazir darf den Prellbock für die Bürgerinitiativen geben, Bouffier darf den Bau des neuen Terminals eröffnen, dessen Verhinderung die Grünen im Wahlkampf versprochen hatten. Heute greifen die Bürgerinitiativen Al-Wazir an, weil das „als Ausgleich für die Flughafenerweiterung gepriesene sog. Nachtflugverbot“ sich „immer mehr als Mogelpackung erweist.“33 In der Bildungspolitik war die Unterordnung der Grünen unter die CDU, der Verzicht auf große schulpolitische Reformprojekte wie in Hamburg, ohnehin die Geschäftsgrundlage. Es gibt zwar im Kleinen lokale Einstiegsprojekte in die Gemeinschaftsschule, im Großen haben die Grünen den Kampf dafür eingestellt. Eine Koalition mit so unterschiedlichen Partnern muss sich Raum für Differenzen lassen. Dies betrifft insbesondere das Thema Innenpolitik. 2015 stellten sich die hessischen Grünen demonstrativ gegen die erneute Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch die Bundesregierung, während ihre CDU-Kollegen das Gesetz begrüßten. Eine ähnlich wohldosierte Abgrenzung fand auch zum Thema Legalisierung von Cannabis statt. Damit

31 Bündnis der Bürgerinitiativen - Kein Flughafenausbau - Für ein Nachtflugverbot von 22 - 6 Uhr http://www.flughafen-bi.de 32In: Christoph Schmidt-Lunau: Bilanz von Schwarz-Grün in Hessen: Lautlose regieren mit Geräuscharmen, taz vom 3.9.2018 33 Presseerklärung der BIL (Bürgerinitiative Luftverkehr Offenbach) vom 3.7.2018, Das sog. Nachtflugverbot ist löcherig wie ein Schweizer Käse – Minister ist zwar entsetzt, handelt aber nicht. Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 18 betonen die Partner gegenüber ihren ideologisch motivierten Stammmilieus ihre diskursive Eigenständigkeit. Zugleich demonstrieren sie mit diesem Differenzmanagement, dass die traditionelle Gegensätzlichkeit von CDU und Grünen in der Innen- und Bürgerrechtspolitik nicht mehr so schwer wiegt, um eine gemeinsame Regierung zu verhindern. In der Praxis grenzten sich Grüne und CDU dann gemeinsam gegen außerparlamentarische Proteste wie etwa die Blockupy-Demos gegen die EZB-Eröffnung (2014) ab. Während die SPD die Indienstnahme ihrer grünen Juniorpartner auch noch mit einer verhöhnenden Koch-Kellner-Rhetorik abzufeiern pflegte, verzichtet die CDU in Hessen auf solche Pöbeleien, was nicht nur bei den Grünen gut ankommt. Die CDU hat so maßgeblich dazu beigetragen, ein Narrativ der Harmonie als ein wiederkehrendes mediales Deutungsmuster der Koalitionspolitik zu etablieren, das sich bis 2015 als die bestimmende Kommentierungslinie durchsetzte und sich seitdem erhalten hat. Mal war von „Verliebtheit“ die Rede34 und davon, dass „Differenzen geräuschlos hinter verschlossenen Türen ausgetragen (werden).“35 Damit wird Hessen als Beispiel für eine „erstaunlich reibungslose Zusammenarbeit“36 aufgeputzt und angesichts der zerrütteten Verhältnisse der Koalition im Bund im weiteren Sinne auch als generelles Referenzbeispiel für ein funktionierendes Regierungsmanagement dargestellt. Dieses Narrativ dürfte allerdings angesichts der zerrütteten Verhältnisse in der Union, die auf Bundesebene derzeit ein verheerendes Bild bietet, auch im Hessen-Wahlkampf an Glaubwürdigkeit einbüßen. Zudem zeigen die aktuellen Umfragewerte vom September 2018, dass das Ausklammern großer Konfliktthemen mit wohlfeilen Formelkompromissen (Schulfrieden) und die De- Thematisierung von Strukturproblemen, wie der historisch niedrigen Investitionsquote von 8,7 Prozent, spätestens im Wahlkampf ihr Ventil für die Unzufriedenen finden werden. Die vielen kleinen Erfolge der Grünen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich bei den großen Konflikten (Flughafen, Bürgerrechte, Asylpolitik) untergeordnet haben und als Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Gegenkräfte im Parlament nicht mehr zur Verfügung stehen.

Verluste bei den Kommunalwahlen 2016 und Aufstieg der AfD

Der Peak der Zustimmung für Schwarz-Grün in Hessen war demoskopisch im Juli 2015 mit insgesamt 55 Prozent für die beiden Parteien (CDU 41 Prozent, Grüne 14 Prozent) erreicht.37 Danach bröckelte der Wert der CDU wegen des Aufschwungs der AfD weg. Dies zeigte sich

34 TIMO FRASCH: SCHWARZ-GRÜN IN HESSEN : Geräuschloses Regieren, FAZ vom 13.1.2015 35 Koalitionsfrieden statt Inhalte , Deutschlandfunk 16.1.2015 36Martin Kessler: Normalfall Schwarz-Grün, RP-Online v. 18.7.2018 https://rp- online.de/politik/deutschland/analyse-zur-regierung-in-hessen-normalfall-schwarz-gruen_aid-23968647 37 dimap 20.7.15 auf http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/hessen.htm Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 19 auch bei den Kommunalwahlen 2016, wo die AfD aus dem Stand fast 12 Prozent der Stimmen erreichte. Die Grünen zählten mit Verlusten von 7 Prozent zu den großen Wahlverlierern. CDU und SPD verloren 4,8 bzw. 3 Prozent. Die LINKE konnte von 2,7 auf 3,5 Prozent zulegen.38 Für Schwarz-Grün ist dieses Kommunalwahlergebnis vor allem im Hinblick auf das Abschneiden in den Großstädten problematisch. Allerdings muss hier generell die Einschränkung gemacht werden, dass die Grünen bei den vorangegangen Kommunalwahlen 2011 infolge der aufgewühlten politischen Stimmung im Gefolge der Fukushima-Katastrophe ein Ausnahmeergebnis erzielten, mit dessen Wiederholung ohnehin nicht zu rechnen war. Die überdurchschnittlichen Verluste der Grünen in einigen Großstädten weisen jedoch häufig Korrelationen mit überdurchschnittlichen Gewinnen der LINKEN auf.39 In Frankfurt am Main brachen die Grünen um mehr als 10 Prozent ein, während die LINKE um mehr als 5,4 Prozent zulegte. Frankfurt ist ein Beispiel und ein Beleg dafür, wie Schwarz-Grün zu einer politischen Repräsentationslücke führt, in der sich Wähler neu auf die LINKE orientieren. Die LINKE, so der Politikwissenschaftler Christoph Weckenbrock, sei nunmehr „der letzte Verbündete der Fluglärmgegner“.40 Die CDU hat ebenfalls ein strukturell ähnliches Problem im Hinblick auf die Abwanderung rechter Wähler, die sich nun durch die AfD repräsentiert sehen wollen. Sollten sich jedoch beide Koalitionspartner mit ihrer Politik wieder stärker diesen wegstrebenden Milieus zuwenden, würden sie nicht nur ihren Zusammenhalt aufs Spiel setzen, sondern auch das lang gepflegte Image der mit ruhiger Hand regierenden „harmonischen“ Koalition.

Politische Achsenverschiebung durch Schwarz-Grün?

Es wäre jedoch verfehlt, das Regierungsbündnis von CDU und Grünen nur unter den Aspekten taktisch motivierter Rücksichtnahmen und Unbeweglichkeiten zu sehen. Schonte die CDU ihren Koalitionspartner zu Beginn der Wahlperiode, nötigte sie am Ende mit dem Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes die Zustimmung zu einem Projekt auf, das nicht mit dem linksliberal-bürgerrechtlichen Selbstverständnis der Grünen in Übereinstimmung zu bringen ist und zu Auseinandersetzungen zwischen dem grünen Landesverband und der Landtagsfraktion führte. Aus Koalitionsräson hatte sich die Landtagsfraktion entschieden, den Gesetzentwurf von CDU-Innenminister Peter Beuth zu stützen. Dazu musste sie sich nicht nur gegen eine ganze Phalanx bürgerrechts- und netzpolitischer Organisationen stellen, die sich zu der Plattform „Hessentrojaner - Nein

38 http://www.statistik-hessen.de/k2016/html/EK1.htm 39 Beispiele: Frankfurt/M Grüne -10,5 Prozent, LINKE + 5,4 Prozent, Kassel Grüne – 7,9 Prozent, LINKE + 3,9 Prozent, Wiesbaden – 7,7 Prozent, LINKE + 3,5 Prozent , Offenbach Grüne – 4,7 Prozent, LINKE + 2,4 Prozent 40 Christoph Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für den Bund, Baden-Baden 2017, S.874 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 20

Danke!“ zusammengeschlossen hatten.41 Mit ihrer Zustimmung zum neuen Verfassungsschutzgesetz42 im Sommer 2018 setzte sich die Landtagsfraktion auch noch über einen Beschluss der grünen Landesmitgliederversammlung hinweg, die die Einführung von „digitalen Waffen“ für den hessischen Verfassungsschutz zur sog. „Onlinedurchsuchung“ und zur „Quellen-TKÜ“ ablehnte.43 Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte sich noch im Juni 2017 von einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Online-Durchsuchung und der Quellen-TKÜ mit starken Worten abgegrenzt. Der Einsatz von „Staatstrojanern“ sei „ein radikaler und unverhältnismäßiger Einschnitt“, der auf den „finale(n) Angriff auf die Bürgerrechte“ hinauslaufe.“44 Die Zustimmung der grünen Landtagsfraktion markiert hier also eine Achsenverschiebung, eine Abkehr von bürgerrechtspolitischen Essentials der Partei. Während die Durchsetzung des Hessentrojaners als ein Beleg dafür gelten kann, wie das Bündnis mit der CDU die Politik der Grünen nach rechts verschiebt, gilt es zugleich, auch gegenläufige Tendenzen zu Kenntnis zu nehmen. So stellten im Juni 2018 Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) eine „Initiative für bezahlbaren Wohnraum“ vor, die eine sozial gestaffelte Deckelung der Mieterhöhungen für die Mieter der öffentlichen Wohnbaugesellschaft Nassauische Heimstätte und eine Erhöhung der Quote für Sozialwohnungen bei Neubauten auf 30 Prozent vorsieht. Für Haushalte mit mittlerem Einkommen sollen die Mieterhöhungen auf ein Prozent pro Jahr für die nächsten fünf Jahre begrenzt werden. Für Haushalte mit einem höheren Einkommen sollen sie „die niedrige Schwelle von 15 Prozent innerhalb von drei Jahren nicht überschreiten“, so Bouffier, womit die Gesellschaft „fünf Prozent unter dem gesetzlich möglichen Rahmen“ bliebe.45 Im Vorfeld der Landtagswahlen demonstrieren CDU und Grüne in Hessen so in einer sozialen Schlüsselfrage Einigkeit und Gestaltungswillen. Der Vorstoß in der Wohnungspolitik ist dabei nur ein Beispiel. Die Einführung des Schülertickets für 400.000 Kinder gehört ebenso dazu wie die Teilentlastung der Eltern bei den Kitabeiträgen, die allerdings mit den Krippen den

41 U.a. die Humanistische Union (HU), die Datenschützer Rhein-Main, Digitalcourage, das Bündnis Demokratie statt Überwachung, die Internationale Liga für Menschenrechte, die Marburger Initiative gegen den Überwachungsstaat sowie der Chaos-Computer-Club, 42 Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen, Drucksache 19/5412 43 Beschluss der LMV v. 24.11.17: Digitale Gefahrenabwehr statt digitaler Gefahrenquellen, https://www.gruene-hessen.de/partei/beschluss/digitale-gefahrenabwehr-statt-digitaler/ 44 und Hans-Christian Ströbele zur Online-Durchsuchung, der Quellen-TKÜ und dem Zugriff auf Messengerdienste, Statement vom 22.06.2017, HTTPS://WWW.GRUENE- BUNDESTAG.DE/PRESSE/PRESSESTATEMENTS/2017/JUNI/KONSTANTIN-VON-NOTZ-UND-HANS-CHRISTIAN- STROEBELE-ZUR-ONLINE-DURCHSUCHUNG-DER-QUELLEN-TKUE-UND-DEM-ZUGRIFF-AUF-MESSENGERDIENSTE- 22-06-2017.HTML 45 Hans-Gerd Öfinger: Schwarz-Grün entdeckt die Wohnungsfrage Hessens Regierungskoalition will angesichts der nahenden Landtagswahl vor allem der SPD das Wasser abgraben, Neues Deutschland, v.7.6.2018 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 21

Bereich ausklammert, wo die meisten Gebühren anfallen.46 Die anhaltende Unzufriedenheit mit der Situation im Schul- und Kitabereich ist damit nicht durchbrochen. Schwarz-Grün hat überdies das anhaltende Steuerplus genutzt, um mehr Neueinstellungen im öffentlichen Dienst (Polizei, Lehrer) vorzunehmen. Gesellschaftspolitisch legt Schwarz-Grün zum Ende der Wahlperiode nach rechts aus. Sozialökonomisch sieht es sich zu Konzessionen nach links veranlasst. Warum?

Die Stimmungslage in Hessen zwischen Juni und September 201847

Grüne und CDU betonten seit langem, dass sie sich eine Zusammenarbeit über die Wahlperiode hinaus vorstellen können. Bouffier ließ bereits 2015 durchblicken48, dass er sich eine weitere Wahlperiode mit den Grünen vorstellen kann. Angesichts der schwindenden Mehrheit für die Koalition setzt die CDU überdies auf eine auf den Ministerpräsidenten Bouffier zugeschnittene Mobilisierungskampagne "Wir für Bouffier."49 Die schwarz-grüne Koalition in Hessen steht demoskopisch seit Ende 2016 ohne Mehrheit da. Dieser Trend hat sich auch im Wahljahr fortgesetzt und im September 2018 weiter verschärft. CDU und Grüne kommen im Juni wie auch im September 2018 auf 45 Prozent. Allerdings fällt die CDU von Juni bis September von 32 Prozent auf 28 Prozent zurück, während die Grünen von 14 auf 17 Prozent zulegen. Konnte sich das Bündnis zunächst ohne große demoskopische Blessuren behaupten, führen der Richtungsstreit in der Union und der damit verbundene Aufstieg der AfD zu einer strukturellen Schwächung der CDU, die derzeit kaum aufholbar erscheint. Die Grünen liegen dagegen deutlich über ihrem Landtagswahlergebnis (11,1 Prozent) von 2013. Der SPD droht in Hessen dagegen ein weiterer Absturz von 7 bis 8 Prozent auf 22 (Juni 2018) bzw. 23 Prozent (September 2018). Das Ergebnis für die AfD könnte auch in Hessen zweistellig werden, die LINKE könnte auf bis zu 8 Prozent (+ 3) zulegen.

Grüne Wähler mehrheitlich für R2G

46 Erfolgreich regiert. Leistungen der Landesregierung in der 19. Legislaturperiode, Mitteilung der Pressestelle der Hessischen Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, vom 18.05.2018 47 Alle Zahlen aus: Hessentrend im Juni 2018, https://www.infratest-dimap.de/umfragen- analysen/bundeslaender/hessen/laendertrend/2018/juni/ bzw. Hessentrend im September 2018, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/hessen/laendertrend/2018/september/ 48 Bouffier kann sich längere schwarz-grüne Ehe in Hessen vorstellen, DPA vom 31.12.2015 49 Hessenkurier (CDU-Zeitschrift), Juli 2018, S.40 Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 22

FDP und SPD haben angesichts dieser Schwächeerscheinung eine Ampel ins Spiel gebracht.50 Die Befindlichkeit der FDP-Anhänger selbst dementiert diese Koalitionsoption, da über 60 Prozent Bouffier als Ministerpräsidenten bevorzugen (Juni 2018). Allerdings haben die Grünen trotz der Kuschelpädagogik der CDU ihren Wählern offensichtlich nicht die Suche nach Alternativen jenseits der Union abgewöhnen können. Zwar wünschten im Juni 42 Prozent ihrer Anhänger eine weitere Amtszeit für Bouffier, 46 plädieren jedoch für Schäfer- Gümbel und damit für einen Regierungswechsel, im September ist dieser Wert noch weiter auf 53 Prozent gewachsen. Nur bei der SPD selbst (76 Prozent) und der LINKEN (61 Prozent) liegt dieser Wert höher. Im unmittelbaren Vorfeld der Landtagswahlen taucht so erneut eine rot-rot-grüne Regierungsoption rechnerisch auf. Mit 48 Prozent liegt R2G im September 2018 vor Schwarz- Grün. Wesentlich ist jedoch, dass sich R2G in der Koalitionspräferenz mit 32 Prozent deutlich vor einer schwarz-roten-Koalition befindet, die lediglich 29 Prozent der Hessen befürworten. Bei den Wählern der Grünen wäre diese Präferenz mit 56 Prozent jedoch deutlich größer. Dies kann auch mit einer gewissen Verunsicherung des grünen Elektorates zusammenhängen, die in den Zufriedenheitswerten mit der Landesregierung zum Ausdruck kommt. Die Anhänger von CDU und Grünen sind zwar nach wie vor Hauptträger der insgesamt positiven Grundstimmung in Hessen, die sich im Vergleich von Juni zu September jedoch etwas eingetrübt hat. Schauten im Juni noch insgesamt 58 Prozent der Hessen mit Zuversicht in die Zukunft, sind es im September noch 53 Prozent. Die Anhänger von SPD und LINKEN zeigen sich mit 59 (-3) bzw. 55 (-2) Prozent noch relativ resilient gegen diesen Trend, die Anhänger von CDU und FDP sind mit 72 Prozent (-6) bzw. 66 (-11) dagegen etwas anfälliger. Etwas schreckhaft reagieren die Anhänger der Grünen. Schauten im Juni noch 77 Prozent positiv in die Zukunft, sind es im September noch 66 Prozent. Nur die AfD-Wähler setzen sich von dieser positiven Grundstimmung ab. Sie bevorzugen eine negative Zunftsprognose: 76 Prozent von ihnen sahen im Juni schwarz, 84 Prozent im September. Die Erfolgsbilanz der Landesregierung korrespondiert so sehr stark mit der Befindlichkeit der eigenen Anhänger und kann auch bei Wählern konkurrierender Parteien verfangen.

Im September 2018 ist die schwarz-grüne Koalition, der im Juni attestiert wurde, die „populärste Hessen-Regierung der letzten zwanzig Jahre“ zu sein, zwar immer noch stark, aber diese Stärke bekommt merkliche Risse:

50 Max Holscher: Hessen-Wahlkampf: Liberale machen Front gegen die CDU, SPON 12.7. 2018, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/landtagswahl-hessen-fdp-hofft-auf-ampel-buendnis-gegen-volker- bouffier-a-1217645.html Krüger/Meves/Pätzolt Die Grünen Oktober 2018 Seite 23

 Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) verliert zwischen Juni und September vier Prozent, Tarik Al-Wazir (Grüne) zieht mit 58 Prozent an ihm vorbei (-4 Prozent im Januar 2018).  SPD-Herausforderer Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) würde bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten zulegen, während Bouffier an Boden verliert: 43 Prozent der Hessen (-2) würden für den CDU-Amtsinhaber, 39 Prozent (+3) dagegen für den SPD- Kandidaten votieren.  Trauten im Juni lediglich 22 Prozent der Hessen der SPD zu, die Probleme besser zu lösen als die derzeitige Regierung, ist der Wert im September auf 31 angestiegen.  CDU und Grüne umwerben das SPD-Elektorat mit sozialpolitischen Angeboten, um die fehlenden Stimmen zu gewinnen, die ihnen zum Weitermachen fehlen. Doch diese Strategie verfängt nicht in dem erforderlichen Ausmaß. Vielmehr macht die SPD auf der Themen- und Sachebene Boden gut, während sich ihr Spitzenkandidat als stärker erweist als angenommen.

Hessentrend September 2018: Verschiebung der Themenagenda nützt eher SPD51

Der Hessen-Trend vom September 2018 attestiert eine „Themenverschiebung im Wahlkampf“. Während die Relevanz des Flüchtlingsthemas (29 Prozent, -8) weiter abnimmt und „generell … ein tendenziell positives Migrationsbild“ überwiegt, legen Sachthemen der Landespolitik weiter zu. “Themen wie Schule und Bildung (40 Prozent, +5), die Verkehrs- Infrastruktur (22 Prozent, +4), vor allem aber die angespannte Lage auf dem hessischen Wohnungsmarkt (21 Prozent, +9) werden von den Hessen aktuell häufiger problematisiert als noch im Frühsommer. In den hessischen Metropolen mit mehr als 100.000 Einwohnern werden Miet- und Wohnfragen (34 Prozent) gemeinsam mit Aspekten der Bildungs- und Schulpolitik (35 Prozent) momentan sogar am häufigsten genannt.“ Die Hessen-CDU liegt in ihren Kompetenzwerten in „Wirtschaftsfragen (50 Prozent, -2), in der Haushalts- und Finanzpolitik (42 Prozent, -6), bei der inneren Sicherheit (41 Prozent, -6), der Entwicklung des Frankfurter Flughafens (41 Prozent, -11) sowie in der Arbeitsmarktpolitik (37 Prozent, -6)“ vorn. Die Themenverschiebung im Wahlkampf nützt aber vor allem der SPD. „Bei der Schaffung bezahlbaren Wohnraums bleibt die CDU hinter der SPD (12:41 Prozent) zurück, ebenso in der Schul- und Bildungspolitik (24:33 Prozent). Unzufriedenheit bündelt sich auch beim Thema Verkehrspolitik. Hier hat die CDU kaum mehr Kompetenzwerte als die Grünen (26:23 Prozent). Auch in der Migrationspolitik, liegt sie hinter der SPD (22:25 Prozent).

51 Alle Zitate und Zahlen in: Hessentrend im September 2018, https://www.infratest-dimap.de/umfragen- analysen/bundeslaender/hessen/laendertrend/2018/september/