Plenarprotokoll 15/109

Deutscher

Stenografischer Bericht

109. Sitzung

Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Zusatztagesordnungspunkt 7: neten ...... 9912 C Antrag der Abgeordneten Nicolette Kressl, Jörg Tauss, , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Tagesordnungspunkt 21: ordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, a) Zweite und dritte Beratung des von den Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten GRÜNEN: Ausbildungschancen für alle Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung jungen Frauen und Männer sichern – und Förderung des Fachkräftenach- durch einen konzertierten Ausbildungs- wuchses und der Berufsausbil- pakt dungschancen der jungen Generation (Drucksache 15/3055) ...... 9895 D (Berufsausbildungssicherungsgesetz – Willi Brase (SPD) ...... 9896 A BerASichG) (Drucksachen 15/2820, 15/3064, 15/3065) 9895 A Dr. (FDP) ...... 9898 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Willi Brase (SPD) ...... 9898 C Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) ...... 9898 D trag der Abgeordneten , Jörg Tauss (SPD) ...... 9901 B Christoph Hartmann (Homburg), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) ...... 9901 D Fraktion der FDP: Ausbildungsplatzab- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ gabe verhindern – Wirtschaft nicht wei- DIE GRÜNEN) ...... 9902 B ter belasten – Berufsausbildung stärken (Drucksachen 15/2833, 15/3064) ...... 9895 B Christoph Hartmann (Homburg) (FDP) . . . . . 9903 C in Verbindung mit (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9904 C , Bundesministerin Zusatztagesordnungspunkt 6: BMBF ...... 9905 D Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Lensing (CDU/CSU) ...... 9908 B Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Hom- burg), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter Hans-Werner Bertl (SPD) ...... 9909 D und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Michael Kretschmer (CDU/CSU) ...... 9911 C wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be- rufsbildungsgesetzes Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/3042) ...... 9895 D DIE GRÜNEN) ...... 9912 D in Verbindung mit Dr. (FDP) ...... 9914 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 9933 A DIE GRÜNEN) ...... 9914 C Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 9914 D DIE GRÜNEN) ...... 9933 D (fraktionslos) ...... 9915 D Nicolette Kressl (SPD) ...... 9916 C Tagesordnungspunkt 23: Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 9918 B a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- (FDP) ...... 9919 B setzes zur Korrektur von Leistungsver- schiebungen bei häuslicher Krankenpflege Namentliche Abstimmung ...... 9920 A zwischen gesetzlicher Krankenversiche- rung und sozialer Pflegeversicherung (Pflege-Korrekturgesetz – PKG) Ergebnis ...... 9922 D (Drucksachen 15/1493, 15/3075) ...... 9935 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 22: Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung a) Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Cajus Julius Caesar, Dr. Maria – zu dem Antrag der Abgeordneten Flachsbarth, weiterer Abgeordneter und , Gudrun Schaich- der Fraktion der CDU/CSU: Naturschutz Walch, Helga Kühn-Mengel, weiterer im Miteinander von Mensch, Tier, Um- Abgeordneter und der Fraktion der welt und wirtschaftlicher Entwicklung SPD sowie der Abgeordneten Petra (Drucksache 15/2467) ...... 9920 C Selg, Irmingard Schewe-Gerigk, (Köln), weiterer Abge- b) Antrag der Abgeordneten Gitta ordneter und der Fraktion des BÜND- Connemann, Peter H. Carstensen (Nord- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Demenz strand), Dr. , weiterer Abgeord- früh erkennen und behandeln – für neter und der Fraktion der CDU/CSU: eine Vernetzung von Strukturen, die Vertrauensvolle und konstruktive Zu- Intensivierung von Forschung und sammenarbeit zwischen Landwirtschaft Unterstützung von Projekten und Umweltschutz stärken (Drucksache 15/2969) ...... 9920 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Verena Butalikakis, Annette in Verbindung mit Widmann-Mauz, Andreas Storm, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Früherkennung, Be- Zusatztagesordnungspunkt 8: handlung und Pflege bei Demenz Antrag der Abgeordneten Dr. Christel verbessern Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , weiterer Abgeordneter Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, und der Fraktion der FDP: Projekt des Um- Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abge- weltbundesamtes zur so genannten ver- ordneter und der Fraktion der FDP: deckten Feldbeobachtung stoppen Für ein Gesamtkonzept zur Verbes- (Drucksache 15/2668) ...... 9920 D serung der Früherkennung und Be- Cajus Julius Caesar (CDU/CSU) ...... 9921 A handlung von Demenz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (Drucksachen 15/2372, 15/2336, 15/228, (SPD) ...... 9922 B 15/3075) ...... 9935 B Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 9925 A Hilde Mattheis (SPD) ...... 9935 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 9926 D Verena Butalikakis (CDU/CSU) ...... 9937 B (SPD) ...... 9928 A Petra Selg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9939 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9928 C Detlef Parr (FDP) ...... 9941 C (CDU/CSU) ...... 9929 C Peter Dreßen (SPD) ...... 9942 B Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) . . . . . 9930 A Dr. (SPD) ...... 9943 B Gustav Herzog (SPD) ...... 9931 A (Münster) (FDP) ...... 9943 C Gitta Connemann (CDU/CSU) ...... 9931 D Matthias Sehling (CDU/CSU) ...... 9944 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 III

Tagesordnungspunkt 24: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung und Entwicklung Erste Beratung des von den Abgeordneten für zukunftsfähige Energietechnolo- Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, gien – 5. Energieforschungsprogramm Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und umgehend vorlegen der Fraktionen der SPD sowie den Abgeord- neten Irmingard Schewe-Gerigk, Jerzy (Drucksache 15/2194) ...... 9959 D Montag, Hans-Christian Ströbele, weiteren Gudrun Kopp (FDP) ...... 9960 A Abgeordneten und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsge- Nächste Sitzung ...... 9961 C setzes – §§ 180 b, 181 StGB (Drucksache 15/3045) ...... 9946 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Anlage 1 BMJ ...... 9946 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9963 A (CDU/CSU) ...... 9947 B Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9948 C Anlage 2 Jörg van (FDP) ...... 9949 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alfred Hartenbach (SPD) ...... 9950 B , , , Dr. Uschi Eid, , Fritz Jörg van Essen (FDP) ...... 9950 C Kuhn, Undine Kurth (Quedlinburg), Jerzy Erika Simm (SPD) ...... 9950 D Montag, Christine Scheel, Rezzo Schlauch, Petra Selg, Rainder Steenblock, Marianne Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Tritz, Hubert Ulrich, Dr. Antje Vogel-Sperl, (CDU/CSU) ...... 9951 D Josef Philip Winkler und Dr. Ludger Volmer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- Tagesordnungspunkt 25: zes zur Sicherung und Förderung des Fach- Erste Beratung des von den Fraktionen der kräftenachwuchses und der Berufsbil- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- dungschancen der jungen Generation NEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten (Berufsausbildungssicherungsgesetz) (Tages- Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämi- ordnungspunkt 21 a) ...... 9963 B endurchführungsgesetzes (Drucksache 15/3046) ...... 9952 D , Parl. Staatssekretär Anlage 3 BMVEL ...... 9953 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten (CDU/CSU) ...... 9954 A Dr. , Angelika Krüger-Leißner, , Jörg Vogelsänger und Matthias Weisheit (SPD) ...... 9955 D Dr. Margrit Spielmann (alle SPD) zur Abstim- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9956 D mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenach- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) wuchses und der Berufsbildungschancen der (SPD) ...... 9957 C jungen Generation (Berufsausbildungssiche- (CDU/CSU) ...... 9958 D rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 21 a) . . . . 9963 C

Tagesordnungspunkt 26: Anlage 4 a) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Birgit Homburger, , Stephan Hilsberg, , Gerd weiterer Abgeordneter und der Fraktion Andres, Bernd Scheelen und Horst Schild der FDP: Nationales Energieprogramm (alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf vorlegen – Planungssicherheit für Wirt- eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung schaft und Verbraucher herstellen des Fachkräftenachwuchses und der Berufs- (Drucksache 15/2760) ...... 9959 D bildungschancen der jungen Generation b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, (Berufsausbildungssicherungsgesetz) (Tages- Cornelia Pieper, Angelika Brunkhorst, ordnungspunkt 21 a) ...... 9964 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Anlage 5 Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Wismar), Dirk Manzewski, der Anträge: Lothar Mark und Verena Wohlleben (alle – Nationales Energieprogramm vorlegen – SPD) zur Abstimmung über den Entwurf ei- Planungssicherheit für Wirtschaft und nes Gesetzes zur Sicherung und Förderung Verbraucher herstellen des Fachkräftenachwuchses und der Berufs- bildungschancen der jungen Generation – Forschung und Entwicklung für zukunfts- (Berufsausbildungssicherungsgesetz) (Tages- fähige Energietechnologien – 5. Energie- ordnungspunkt 21 a) ...... 9964 B forschungsprogramm umgehend vorlegen (Tagesordnungspunkt 26 a und b) Ulrich Kasparick (SPD) ...... 9965 D Anlage 6 Wilfried Schreck (SPD) ...... 9966 C Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Siche- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) rung und Förderung des Fachkräftenachwuch- (CDU/CSU) ...... 9967 C ses und der Berufsbildungschancen der Georg Girisch (CDU/CSU) ...... 9968 A jungen Generation (Berufsausbildungssiche- rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 21 a) Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9969 B Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD) ...... 9964 C

Dr. Elke Leonhard (SPD) ...... 9964 C Anlage 8 (CDU/CSU) ...... 9964 D Amtliche Mitteilungen ...... 9970 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9895

(A) (C) Redetext

109. Sitzung

Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Rainer Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sitzung ist eröffnet. der FDP Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b so- Ausbildungsplatzabgabe verhindern – Wirt- wie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: schaft nicht weiter belasten – Berufsausbil- dung stärken 21 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- – Drucksachen 15/2833, 15/3064 – NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenach- Berichterstattung: wuchses und der Berufsausbildungschancen der Abgeordnete Willi Brase jungen Generation (Berufsausbildungssiche- Werner Lensing (B) rungsgesetz – BerASichG) Grietje Bettin (D) Cornelia Pieper – Drucksache 15/2820 – ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten (Erste Beratung 102. Sitzung) Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der schusses für Bildung, Forschung und Tech- Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines nikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungs- gesetzes – Drucksache 15/3064 – – Drucksache 15/3042 – Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Überweisungsvorschlag: Werner Lensing Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Grietje Bettin Innenausschuss Cornelia Pieper Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schuss) Landwirtschaft gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/3065 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Berichterstattung: Ausschuss für Kultur und Medien Abgeordnete Klaus-Peter Willsch Haushaltsausschuss Dr. Günter Rexrodt ZP 7Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicolette Kressl, Jörg Tauss, Willi Brase, weite- Alexander Bonde rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Dückert, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia GRÜNEN 9896 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausbildungschancen für alle jungen Frauen sich nichts vor – sie geht zulasten der jungen Leute. Das (C) und Männer sichern – durch einen konzertier- nehmen wir nicht mehr hin. ten Ausbildungspakt (Beifall bei der SPD – Kurt J. Rossmanith – Drucksache 15/3055 – [CDU/CSU]: Es ist nicht zu fassen! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wo ist denn der Zu dem Entwurf eines Berufsausbildungssicherungs- Herr Clement? – Zurufe von der FDP: Wo ist gesetzes, über den wir später namentlich abstimmen denn der Minister?) werden, liegen ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau sowie ein Entschlie- Daher ist ein Berufsausbildungssicherungsgesetz er- ßungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- forderlich. Dieses Gesetz hat zum Ziel, dass auch im ses 90/Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Ausbildungsjahr 2004/2005 alle jungen Menschen eine Fraktion der CDU/CSU vor. Ausbildungschance erhalten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Dabei haben freiwillige untergesetzliche Regelungen höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vorrang. Wir schlagen deshalb einen Ausbildungspakt Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen 2004 vor und sind der Auffassung, dass ein solcher frei- Willi Brase, SPD-Fraktion, das Wort. williger Ausbildungspakt Sinn macht und dann gegebe- nenfalls die Umlage ersetzen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich dazu aber einige Punkte anmerken. Wir müssen die Diskussion in der Öffentlichkeit verfol- gen. Aus dem Berufsbildungsbericht 2004 geht hervor, Willi Brase (SPD): dass nach wie vor 26,7 Prozent der ausbildungsfähigen Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Betriebe im Westen Deutschlands und 25,7 Prozent im Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Osten nicht ausbilden. Allein diese Tatsache macht deut- Herren! Nach einer Repräsentativbefragung des Instituts lich, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen. für Schulentwicklungsforschung der Universität Dort- Wenn wir die ausbildungsfähigen Betriebe veranlassen mund, an der 3 300 Erwachsene teilgenommen haben, könnten, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, haben 57 Prozent der Bundesbürger angesichts der Lehr- dann hätten wir sehr viel für die jungen Leute getan. stellenproblematik das Vorhaben der Koalitionsfraktio- nen, eine Ausbildungsplatzumlage zu erheben, begrüßt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Nur 20 Prozent waren dagegen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Sie haben sicherlich mitbekommen, dass wir einen (Beifall bei der SPD) Ausbildungspakt 2004 vorschlagen, den wir auch im Eine gleichzeitig von den Schulforschern vorgenom- Hinblick auf das Gesetz berücksichtigen werden. Wir mene Elternbefragung ergab, dass 42 Prozent der Väter wollen aber eine verbindliche Vereinbarung und ich und Mütter in Sorge sind, ihr Kind werde nach Ab- möchte zwei Gründe nennen, warum sich eine solche schluss der Schule keinen angemessenen Ausbildungs- Vereinbarung positiv von allen Bemühungen der letzten platz finden. Vor zehn Jahren waren bei einer vergleich- Jahre abheben könnte. Erstens. Wir wollen mit einem baren Umfrage desselben Instituts lediglich 32 Prozent solchen Ausbildungspakt erreichen, dass alle jungen der Eltern dieser Auffassung. Menschen in berufliche Ausbildung kommen. Wir wol- len nicht, dass nach den Kriterien „Ausbildungsfähig- Darüber, dass Handlungsbedarf besteht, müssen wir keit“ und „Ausbildungswilligkeit“ aussortiert wird. Es in diesem Haus hoffentlich nicht streiten. geht darum, wie gesagt, allen jungen Menschen eine Per- (Beifall bei der SPD – spektive zu geben. [CDU/CSU]: Bei dieser Regierung ist das kein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wunder!) DIE GRÜNEN) Die Dramatik der Situation sei kurz am Rückgang der Zweitens. Wir können uns beispielsweise Folgendes eingetragenen Ausbildungsverhältnisse dargestellt. Im vorstellen: Wenn Herr Braun, der Präsident des DIHK, Jahr 2003 war im öffentlichen Dienst ein Minus von anbietet, 50 000 neue Ausbildungsplätze zu schaffen, 7,1 Prozent, in den freien Berufen ein Minus von und wenn das auf die Ebene der örtlichen Kammern he- 7 Prozent und im Handwerk eines von 2,3 Prozent zu runtergebrochen und dort finanziert wird, dann ist das verzeichnen. Ich denke, diese Zahlen sprechen eine klare nach unserer Auffassung eine verbindliche Zusage, also Sprache. Sie werden zudem von Jahr zu Jahr schlechter. mehr als eine Willenserklärung. Wenn wir in den Ver- Dies wird auch im Berufsbildungsbericht der Bundes- handlungen über den Ausbildungspakt dafür sorgen, regierung deutlich zum Ausdruck gebracht. dass die dafür notwendigen Kriterien festgelegt werden, dann haben wir etwas Gutes für die jungen Menschen Allen Kritikern entgegnen wir: Es geht nicht an, dass geschaffen. sich niemand von ihnen dazu äußert, wie das Problem auf andere Weise zu lösen ist. Die Bedenkenträgerei fei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ert Urständ in nie gekanntem Ausmaß und – machen Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9897

Willi Brase (A) Tarifliche Vereinbarungen werden von uns aus- Man kann nicht ständig gegen die Verstaatlichung der (C) drücklich begrüßt. Wir haben das im Gesetz berücksich- beruflichen Bildung wettern, zugleich nach Senkung der tigt und werden das auch in den notwendigen Gesprä- Steuerquote rufen und dann, wenn es um die Bereitstel- chen über den Ausbildungspakt 2004 auf den Weg lung von mehr Mitteln geht, den Staat bemühen wollen. bringen. Das Kampfgeschrei mancher Unternehmens- Wir wollen die Bereitschaft der Wirtschaft fördern – das vertreter ist doch nicht sachdienlich. Entscheidend ist ist wichtig –, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu vielmehr, dass den jungen Menschen Ausbildungsplätze stellen, damit die jungen Leute auch im schulischen Sys- in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt werden. tem so ausgebildet werden, dass sie die für das Ergreifen eines Berufs notwendige Ausbildungsfähigkeit haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir halten es für verantwortungslos, wenn gesagt wird: Die mangelnde Ausbildungsreife ist allein das Pro- In den letzten Wochen ist viel über unsere Ansätze blem von Staat und Familie. Ich glaube, es macht Sinn, diskutiert worden. Es lohnt sich nicht, auf alle gängigen über den Tellerrand hinauszuschauen. Vielen Jugendli- Gegenargumente einzugehen. Das dümmste Argument chen fehlt es vor allem deshalb an sozialer und betriebli- ist das von der angeblich weiteren Verstaatlichung der cher Reife, weil sie keine Ausbildungs- und Beschäfti- Berufsausbildung durch die Abgabe. gungsperspektiven haben. Wie sollen sie sich denn in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vorstellungsgesprächen hoch motiviert präsentieren, wenn dies die 100. oder 150. Bewerbung ist? Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollege Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollegen Thiele? Wie sollen die Jugendlichen in der Schule Biss zeigen, wenn sie mitbekommen, wie es auf dem Arbeits- und Willi Brase (SPD): Ausbildungsmarkt aussieht? Die Wirtschaft trägt Mit- Nein. verantwortung für die Zukunftsperspektiven der Jugend- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lichen und damit auch für deren fehlende Motivation. Wir wollen Anschluss statt Ausschluss; wir wollen alle Ich halte diese Argumentation für falsch und verlo- jungen Leute mitnehmen. gen. Wir sind der Meinung, dass durch die Abgabe mehr betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bedeutet weniger Staat. Und das ist auch gut so in die- DIE GRÜNEN) (B) sem Lande. (D) Mangelnde Ausbildungsreife muss daher bedeuten: (Beifall bei der SPD) massive Verstärkung der Angebote der Arbeitgeber im Bereich der Berufsausbildungsvorbereitung. Hier muss, Ein weiteres Argument, das vor allem von der Wirt- gerade mit Blick auf den angebotenen Ausbildungspakt, schaft immer wieder angeführt wird, ist die fehlende etwas Konkretes mit Substanz auf den Tisch kommen. Ausbildungsreife der jungen Leute. Es besteht kein Eine Quantifizierung in diesem Bereich wäre ein weite- Zweifel daran, dass dies ein sehr ernsthaftes Problem ist, res verbindliches Merkmal für den zukünftigen Ausbil- das – möglicherweise – noch größer zu werden droht. Es dungspakt. Dadurch würde gerade den schwächeren, be- steht ebenso außer Frage, dass die Abgabe allein keine nachteiligten Jugendlichen wieder eine Perspektive Lösung hierfür ist. In diesem Punkt will ich den Kriti- gegeben. kern durchaus Recht geben. Nur leider sitzen Sie einem Irrtum auf: Keiner von uns hat jemals das Gegenteil be- Wenn die Lücke nicht geschlossen wird, dann hat die hauptet. Ich glaube vielmehr, dass andersherum ein Bundesregierung gesetzeskonform zu prüfen, die An- Schuh daraus wird. Die Ausbildungslücke wächst Jahr wendung und Erhebung der Abgabe in Kraft zu setzen für Jahr, und zwar in erster Linie deshalb, weil die Un- sowie die Schaffung und Förderung zusätzlicher betrieb- ternehmen aus kurzfristigen Kostengründen handeln. Al- licher Ausbildungsplätze und den Leistungsausgleich les andere ist Augenwischerei oder bewusste Täuschung auf den Weg zu bringen. des Publikums. Wie sonst sind die immer zahlreicher werdenden Meldungen zu erklären, dass Jugendliche mit Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Ent- mittlerer Reife oder sogar Hochschulreife keinen Aus- schließungsanträgen zum Angebot eines Ausbildungs- bildungsplatz finden? Wir brauchen ein Berufsaus- paktes 2004 und der Einrichtung einer Stiftung „Beruf- bildungssicherungsgesetz aus folgendem Grund: Wir liche Bildung und lebensbegleitendes Lernen“ müssen die Dominanz des kurzfristigen Denkens zu- nehmen wir die Verantwortung für unsere jungen Men- rückdrängen; denn es geht auch darum, eine Erosion der schen sehr ernst und sorgen dafür, dass die Umsetzung Facharbeitermärkte zu verhindern. Schließlich werden des Beschlusses des Europäischen Rates von Lissabon, wir in wenigen Jahren wesentlich mehr qualifizierte und die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildung bis 2011 um gut ausgebildete junge Leute für unsere Wirtschaft in die Hälfte zu verringern, endlich eine realistische Per- Deutschland brauchen. spektive bekommt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) 9898 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Willi Brase (A) Die Subsidiarität unserer Vorgehensweise – der Pakt, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) der die Anwendung des Gesetzes überflüssig machen kann – ist richtig. Sie ist eine moderne Antwort auf ver- Präsident Wolfgang Thierse: änderte Verhältnisse. Wir geben den Unternehmen damit Kollege Brase, Sie haben die Möglichkeit zur Erwide- die Gewissheit, auch in Zukunft über qualifizierten rung. Fachkräftenachwuchs zu verfügen. Den jungen Men- schen geben wir mit diesem Gesetz zusammen mit der (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der soll uns anstehenden BBiG-Novellierung die Sicherheit und die sagen, warum der Clement nicht hier ist! – Ge- Zuversicht, die bestmögliche Qualifikation für ihr zu- genruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] künftiges Arbeitsleben und für ihre soziale Sicherung zu [SPD]: Herr Schauerte, es ist ja schön, dass bekommen. Deshalb bitte ich um Zustimmung. wenigstens Sie da sind!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Willi Brase (SPD): DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, dass die zuständige Bundesministerin dort sitzt und Präsident Wolfgang Thierse: gleich zu uns sprechen wird. Wir freuen uns darauf; denn Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen sie wird die richtigen Worte sagen. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Kollege Brase, Sie haben in Ihrer Rede zu Recht Ich stelle weiterhin fest, dass nach unserer Auffas- darauf hingewiesen, wie ernst und wichtig das Thema sung die Bundesregierung ausreichend vertreten ist. ist, das wir jetzt zu beraten haben. Vor diesem Hinter- (Dr. [FDP]: Das glauben grund stelle ich für die Freien Demokraten fest, dass wir Sie selbst nicht!) es als einen Skandal empfinden, dass auf der Regie- rungsbank nur eine einzige Bundesministerin vertreten Ich weise es entschieden zurück, wenn Parlamentarische ist. So geht die Regierung mit dem Deutschen Bundestag Staatssekretäre als Auszubildende der Bundesregierung um! bezeichnet werden; das ist kein fairer Umgang miteinan- der, Herr Kollege Westerwelle. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir wissen, dass sich die deutsche Öffentlichkeit da- [CDU/CSU]: Sie sind nicht für interessiert, wie die Politik, wie die Regierung Ju- (B) Mitglieder der Bundesregierung!) (D) gendarbeitslosigkeit bekämpfen will. Wir streiten da- rüber, ob Ihr Weg, eine mit Bürokratie verbundene Uns geht es darum, dass wir mit einem Bündel von Abgabe einzuführen, richtig ist. Wir werden diesen Ge- Maßnahmen, wie ich sie zum Teil dargestellt habe und setzentwurf selbstverständlich ablehnen. Sie werden wie wir sie in der Debatte noch verdeutlichen werden, durch diese Maßnahme in Wahrheit nur mehr Mittel- endlich dazu kommen, dass sich Unternehmen in dieser ständler in die Pleite treiben und keinen einzigen neuen Republik ihrer Verantwortung stellen. Man kann nicht Ausbildungsplatz schaffen. immer nur von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen- geldempfängern Verantwortung verlangen und ihnen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Verpflichtungen auferlegen, aber bei den Unternehmen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist auf reine Freiwilligkeit setzen. doch keine Kurzintervention!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu einem politischen Diskurs gehört ein Minimum an DIE GRÜNEN) Umgang miteinander und ein Minimum an Respekt ge- genüber dem Deutschen Bundestag. Die Tatsache, dass Die Jugendlichen sind dann die Dummen, die in die die Regierung hier nicht vertreten ist, – – Röhre gucken. Das machen wir nicht mit! (Widerspruch auf der Regierungsbank) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Sie, die Parlamentarischen Staatssekretäre, sind – um das einmal klar zu sagen – die Auszubildenden der Bun- desregierung. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich das an Präsident Wolfgang Thierse: dieser Stelle sagen muss. Ich erteile Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Wenn Sie von der Regierungsbank aus Zwischenrufe [Salzgitter] [SPD]: Dann kommen wir viel- machen, dann kriegen Sie auch was zurück. leicht wieder zur Sache zurück!) Die Tatsache, dass die Regierungsbank leer ist, ist nicht nur eine Respektlosigkeit gegenüber dem Deut- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): schen Bundestag, sondern auch gegenüber den Men- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es schen in Deutschland, die Arbeit und Ausbildung su- ist in der Tat unerhört, dass die Bänke der Regierung in chen. dieser Art und Weise leer bleiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9899

Dr. Maria Böhmer (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (Lachen bei der SPD) (C) doch Unsinn!) und so ist es heute in der „Süddeutschen“ nachzulesen. Parlamentarische Staatssekretäre sind in dieser heutigen Was Sie hier verabschieden, ist nichts anderes als eine Debatte kein Ersatz für die zuständigen Minister. Maßnahme zur Erhaltung Ihrer Macht und zur Durchset- zung der Vorstellungen des Parteivorsitzenden. Hier ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schieht nichts im Interesse der Auszubildenden; denn Die CDU/CSU-Fraktion erwartet – das sage ich in al- diese Ausbildungsplatzabgabe ist kontraproduktiv. ler Deutlichkeit –, dass der Wirtschaftsminister unmit- telbar im Parlament erscheint und an dieser Aussprache (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) teilnimmt; Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegin Böhmer gestatten Sie eine Zwischenfrage denn er ist für das Chaos, das wir in diesem Land haben, des Kollegen Tauss? mit verantwortlich und er muss hier Farbe bekennen, was seine Haltung zur Ausbildungsplatzabgabe angeht. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Noch gestern hat er in der Öffentlichkeit deutlich ge- macht, dass er gegen diese Abgabe ist, dass er nichts da- Ich kenne den Kollegen Tauss so gut, dass ich mir von hält. Ich werte das als einen stillen Protest. Wir er- schon vorstellen kann, was er sagen will. Darauf ver- warten, dass er hier erscheint. zichten wir heute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was Sie uns heute bieten, ist absurdes Theater; Sehr geehrter Herr Müntefering, Sie handeln selbst wider besseres Wissen. Sie haben in der „Süddeutschen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Zeitung“ von Dienstag gesagt – ich zitiere –: müssen Sie nun gerade sagen, Sie, die Sie dieses Theater veranstalten! Sie machen hier Das Ziel, ausreichend Lehrstellen zu schaffen, Theater!) „kann man auch leichter erreichen als mit der Um- lage“. denn Sie wollen ein Gesetz beschließen, von dem Sie selbst sagen, dass es nicht in Kraft treten soll. Das hat Sie haben Recht. Man kann es leichter erreichen. Aber dieser Bundestag noch nie erlebt und das ist ein Verfah- warum handeln Sie denn nicht entsprechend? Warum ren, das letztlich auf dem Rücken der jungen Leute, der lassen Sie denn nicht von diesem unsinnigen Gesetz ab, (B) Unternehmen und der Zukunft unseres Landes ausgetra- das einen Irrweg ohnegleichen darstellt? Warum lassen (D) gen wird. Sie der Wirtschaft nicht den Spielraum, den sie braucht, um Ausbildungsplätze zu schaffen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Dabei Sie haben kurzfristig einen Antrag eingebracht und kommt ja nichts heraus!) bieten an, einen freiwilligen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft einzugehen. Aber die behauptete Vorrangig- Sie haben gesagt, es komme nichts dabei heraus. Im keit eines solchen Paktes gibt es nicht. Wer genau hin- letzten Jahr sind 500 000 neue Ausbildungsverträge schaut, erkennt, dass Sie keinen Millimeter nachgeben abgeschlossen worden. werden; denn die Bundesregierung wird letztlich ent- scheiden, ob die Wirtschaft die Anforderungen an diesen (Peter Dreßen [SPD]: Es waren einmal Ausbildungspakt erfüllt oder nicht. Das ist nicht Freiwil- 600 000!) ligkeit, das ist Zwang. Ich finde, das verdient Anerkennung. Deshalb möchte (Nicolette Kressl [SPD]: Verbindlichkeit!) ich mich bei all denjenigen herzlich bedanken, die sich bemüht haben und von Betrieb zu Betrieb gegangen Deshalb haben die Spitzenverbände der deutschen sind, sowie bei den Handwerksmeistern, die in einer Wirtschaft dieses Angebot mit Recht klar abgelehnt. wirtschaftlich schwierigen Lage noch Ausbildungsplätze Was Sie hier tun, ist im Grunde genommen das Ent- zur Verfügung gestellt haben. Ihnen allen gilt unser scheiden einer Machtfrage, nichts anderes. Dank für ihr Eintreten für eine bessere Ausbildungsper- spektive der Jugendlichen. (Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott! Erzählen Sie keinen Stuss!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie können es in den Kommentaren heute wie auch in Unser Ziel ist es – darin müssen wir alle in diesem denen der letzten Tage nachlesen. Es ist ein Vorhaben, Land übereinstimmen –, dass all den jungen Menschen, das dazu dient, dass Ihr neuer Parteivorsitzender das Ge- die ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind, eine sicht nicht verliert. Lehrstelle zugesichert wird. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (Zurufe von der SPD: Wie denn?) Unsinn!) Durch die Ausbildungsplatzabgabe wird es keinen einzi- So ist es in der „Welt“ nachzulesen gen zusätzlichen Ausbildungsplatz geben. 9900 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Maria Böhmer (A) (Nicolette Kressl [SPD]: Was für einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) Vorschlag haben Sie denn?) der FDP) Das ist nicht nur die Auffassung der CDU/CSU-Frak- Gehen Sie einmal durch die Innenstädte und in die Ein- tion, der FDP und der Wirtschaft. Diese Aussage hat kaufszentren. Sie werden sehen: Einzelhandelsgeschäfte Harald Schartau, SPD-Vorsitzender in Nordrhein-West- schließen, alteingesessene Familienbetriebe müssen falen, gemacht. Peer Steinbrück, der Ministerpräsident schließen. Das heißt, Ausbildungsplätze fallen weg und von Nordrhein-Westfalen, spricht von Gift für den die Chancen für junge Leute verringern sich. Ursache ist Standort Deutschland. Dazu wird es durch das Gesetz Ihre chaotische Wirtschaftspolitik. kommen, das Sie uns heute vorlegen. Das ist die Wahr- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heit. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind in der Tat mit einer dramatischen Situation Bei genauerer Untersuchung des Gesetzentwurfes zur ohnegleichen konfrontiert: Mehr als eine halbe Million Ausbildungsplatzabgabe stoßen wir auf absurde Rege- junger Menschen, darunter fast 200 000 allein in den lungen. Die Ausbildungsquote von 7 Prozent, die Sie neuen Bundesländern, suchen einen Job. Der Hälfte von bundesweit zugrunde legen, ist völlig willkürlich festge- ihnen fehlt jegliches Ausbildungszertifikat. legt. Das Gesetz droht damit auch verfassungsrechtlich (Peter Dreßen [SPD]: Was machen Sie dage- zu scheitern. Schließlich betragen die Verwaltungskosten gen? Sagen Sie doch, was Sie dagegen ma- 160 Millionen Euro. chen!) (Willi Brase [SPD]: Das ist falsch! Das ist Wir müssen einmal fragen, worin die Gründe dafür gelogen!) bestehen. Die Defizite liegen in der vorberuflichen Bil- Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben gestern Ihr großes dung, in der Schule und im Elternhaus. Wir wissen seit Projekt im Bereich der Nanotechnologie verteidigt. PISA um die mangelhaften Deutschkenntnisse; so haben Diese wird aber mit weniger als 160 Millionen gefördert. 200 000 Schüler jedes Jahrgangs schwere Lese- und Das heißt, die Relationen stimmen hier einfach nicht Schreibprobleme. Außerdem verlassen 100 000 Schüler mehr. die Schule ohne Abschluss. 85 000 von ihnen kommen aus der Hauptschule. Die Bugwelle der Klasse der Hoff- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nungslosen wächst von Jahr zu Jahr. Ihre Ausbildungs- [SPD]: Das ist doch falsch, was abgabe wird nichts daran ändern; denn damit lassen Sie Sie hier erzählen!) gerade die lernschwachen jungen Leute, die dringend der (B) Mit Ihrem Gesetz stoßen Sie eine Entwicklung an, die Förderung bedürfen, im Stich. (D) dazu führen wird, dass die duale Ausbildung ausgehöhlt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird. Sie wird deshalb ausgehöhlt werden, weil viele neten der FDP) Unternehmen angesichts einer drohenden Ausbildungs- platzabgabe von 500 Euro abwägen werden, ob sie für Heinz-Peter Meidinger, der Bundesvorsitzende des teures Geld tatsächlich ausbilden oder sich freikaufen. Philologenverbandes, Im Ausland hat man nach Einführung einer solchen Ab- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: gabe die Erfahrung gemacht, dass viele Unternehmen Ausgerechnet!) diesen Weg beschreiten. Das heißt, das duale System wird geschwächt und wir kommen zu einer Verstaatli- spricht von der Ausbildungsplatzabgabe als einem „gro- chung der beruflichen Ausbildung. ßen Ablenkungsmanöver der Politik“. Denn (Ulla Burchardt [SPD]: Grober Unfug!) die eigentliche Frage, die Förderung von schwa- chen Schülern, Damit bahnen Sie einen Weg, der für die jungen Men- schen und für die Wirtschaft fatal ist. Das ist schädlich (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist für unser Land. doch Länderaufgabe! Machen Sie doch was!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die nicht in der Lage sind, eine Ausbildung zu ma- chen, wird völlig außer Acht gelassen. Der eigentliche Fehler liegt darin, dass Sie den Haupt- grund für die anhaltenden Probleme auf dem Ausbil- Ich sage Ihnen: Hier muss endlich umgesteuert wer- dungsmarkt nicht sehen wollen: Es ist die Wachstums- den, schwäche in Deutschland. Diese Situation schlägt voll (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, auf den Ausbildungsmarkt durch. Es ist angesichts des- genau!) sen kein Wunder, dass immer weniger Ausbildungs- plätze von den Unternehmen bereitgestellt werden kön- und zwar besser, als Sie es tun. Wir müssen die Jugend- nen. Das möchte ich betonen. Die Unternehmen kann lichen während der Schulzeit fördern, hier kein Vorwurf treffen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jawohl! (Peter Dreßen [SPD]: Das ist aber neu!) Länderaufgabe!) Wer nämlich wirtschaftlich vor dem Aus steht, kann statt nach der Schulzeit mit teuren Reparaturmaßnahmen nicht noch zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen. zu versuchen, sie in eine Ausbildung zu bringen. Es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9901

Dr. Maria Böhmer (A) muss am Anfang investiert, statt am Ende mit Milliar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) denbeträgen repariert werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für inakzeptabel halte ich die Tatsache, dass Sie die Tau- Not tut die möglichst frühe Verzahnung von Schule senden von jungen Menschen, die berufsreif sind – wir und Berufspraxis. reden nicht von den anderen; um die kümmern wir uns weiterhin, was auch die Aufgabe des Staates ist; Länder (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr und Bund tun hier viel –, hier in dieser Form verhöhnen. gut! Sprechen Sie mit den neun CDU- und Sie sind die Opfer der Entwicklung und nicht die Täter. CSU-Kultusministern!) Aus diesem Grunde habe ich die herzliche Bitte, dass Wir brauchen längere Praxismodule schon in der Schul- diese Beschimpfung der Jugendlichen nicht fortgesetzt zeit; das ist der richtige Weg. Diese müssen später bei wird. der Berufsausbildung anerkannt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dringend notwendig ist – dazu haben wir Ihnen einen DIE GRÜNEN) konkreten Vorschlag gemacht – die Reform des Berufs- bildungsrechts. Dieses schleift seit langer Zeit, Frau Zweitens. Sie haben völlig Recht mit Ihrer Bemer- Bulmahn. Sie haben uns zuerst mit Worten und dann mit kung, dass die SPD ihren Partei- und Fraktionsvorsitzen- Eckpunkten abgespeist. Heute sollen wir im Bundestag den selbstverständlich gerne stützt. auch noch begrüßen, dass Ihr Berufsbildungsgesetz erst nächstes Jahr novelliert wird. Die Zeit rennt uns davon; (Beifall bei Abgeordneten der SPD) so kann man eine Aufgabe nicht schleifen lassen und Aber mit großer Freude sehen wir, dass auch die Christ- vernachlässigen. lich-Demokratische Arbeitnehmerschaft unsere Posi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion teilt. Ich zitiere einmal wörtlich aus den Beschlüssen neten der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Das der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Da müssen Sie gerade sagen!) heißt es: Stimmen Sie unserem Entwurf einer Novelle des Be- Betriebliche und überbetriebliche Ausbildung wird rufsbildungsgesetzes, wenn dieser zur Abstimmung an- auf der Grundlage eines kontinuierlichen Lasten- steht, zu! ausgleichs zwischen den Betrieben finanziert. Die Zum Schluss habe ich noch eine dringliche Bitte. Ich öffentlichen Arbeitgeber sind den privaten Arbeit- (B) hoffe, dass Sie zuhören und nicht nur schreien. Ich habe gebern gleichzustellen. Das soll im Berufsbildungs- (D) hier einen der vielen Briefe, die ich aus dem ganzen gesetz verankert werden. Land erhalten habe; ich schätze, viele von uns haben sol- che Briefe bekommen. Er kommt von einem mittelstän- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Kommt jetzt dischen Unternehmer vom Bodensee. die Pointe?) (Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie auch Ich freue mich, dass offensichtlich auch die CDA gese- Briefe von arbeitslosen Jugendlichen?) hen hat, dass der Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD gestützt werden soll. Herzlichen Dank an Ihre Kollegin- Dieser Unternehmer schreibt: nen und Kollegen von der Christlich-Demokratischen Ar- Wir appellieren im Interesse der Jugendlichen an beitnehmerschaft, die die Probleme so sieht wie wir! jene vernünftigen Politiker und Meinungsbildner, die ein solch unsinniges Gesetz ablehnen, sich ve- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hement für die Ablehnung einzusetzen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir tun das. Folgen auch Sie diesem Appell! Danke. Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Böhmer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Herr Kollege Tauss, ich habe keine andere Interven- Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort. tion von Ihnen erwartet. An Ihren Äußerungen ist nichts Überraschendes; wir kennen das ja schon. Aber ich (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Mein Gott, weise ganz klar Ihren wiederholten Vorwurf zurück, wir das darf ja nicht wahr sein!) würden Jugendliche verhöhnen. Uns geht es darum, dass die Qualifizierung der jungen Leute besser gelingt und Jörg Tauss (SPD): dass die Jugendlichen nicht durch eine Scheinlösung ins Frau Kollegin Böhmer, es ist gut, wenn wir uns hier Abseits gestellt werden. Genau das tun Sie nämlich, in- demnächst auch mit der Reform der beruflichen Bildung dem Sie die Probleme der lernschwachen Jugendlichen beschäftigen. Auch das ist ein Projekt, das Sie 16 Jahre stets tabuisieren. Ihre Politik des Unter-den-Teppich- lang liegen gelassen haben. Kehrens hat zu dieser Misere geführt. 9902 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Maria Böhmer (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Anders ist es wohl kaum zu erklären, warum wir jetzt (C) derspruch bei der SPD – Gegenruf von der zwei Alternativvorschläge zur Schaffung neuer Ausbil- FDP: Sie verhöhnen die jungen Leute! – Ge- dungsplätze auf dem Tisch liegen haben: einen Vor- genruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] schlag von Beck und Steinbrück und einen Vorschlag [SPD]: Jetzt verhöhnen Sie uns auch noch!) vom DIHK-Präsidenten Braun. Beide Initiativen verlan- gen jedoch, dass wir den Gesetzentwurf zurückziehen. Sie haben einen Beschluss der CDA zitiert. Dazu Aber das werden wir nicht tun. Ich sage Ihnen auch, wa- muss ich sagen: Sie haben zwar ein gut sortiertes Archiv rum. – es ehrt Sie, dass Sie Informationen sammeln –, aber Sie müssen auch wissen, was wo und wann gesagt wor- Erstens können wir es uns schlicht nicht leisten, noch den ist. Herr Tauss, der von Ihnen zitierte Beschluss ist einmal Zehntausende junger Menschen in Unsicherheit jahrzehntealt und Zukunftsangst zu stürzen. Zweitens können wir uns den absehbaren Mangel an Fachkräften nicht leisten. (Lachen bei der SPD) Drittens können wir uns die wirtschaftlichen und sozia- und bezieht sich auf völlig andere wirtschaftliche und len Probleme nicht leisten, die entstehen, weil jungen rechtliche Gegebenheiten. Wir ziehen hier an einem Menschen der Berufseinstieg vorenthalten wird und da- Strang. Dass Sie im Jahr 2004 eine Äußerung aus dem mit enorm viele Begabungsreserven brachliegen. Jahr 1977 zitieren, zeigt, dass Sie in die falsche Richtung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denken und nicht fähig sind, dieses Land zu regieren. und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, [CDU/CSU]: Modell die Ausbildungsplatzumlage ist – ich wiederhole es Deutschland! Helmut Schmidt!) gern so lange, bis Sie es verstanden haben – keine Straf- abgabe. Sie schafft einen fairen und sozial gerechten Präsident Wolfgang Thierse: Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbilden- Ich erteile das Wort Kollegin Grietje Bettin, Bünd- den Unternehmen. Kleinere Betriebe mit weniger als nis 90/Die Grünen. zehn Mitarbeitern sind von der Zahlung der Umlage be- freit. Zur Kasse gebeten werden logischerweise vor al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lem die großen Ausbildungsverweigerer unter den Fir- sowie bei Abgeordneten der SPD – Eckart von men. Klaeden [CDU/CSU]: War sie schon geboren, als das stattfand, was Herr Tauss zitiert hat?) In den vielfältigen Verhandlungen zum Gesetz haben wir unter anderem erreicht, dass schulische Ausbildun- (B) (D) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen mit hohem betrieblichen Anteil und akademische Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Berufsausbildungen im Gesetz gesondert berücksichtigt gen! Wer sich nicht um die Jugend kümmert und wer die und unter Umständen sogar gefördert werden. Auch für Jugendlichen allein lässt, der stellt sich selbst ins Ab- soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Pflege- seits. Wo bleiben Ihre konkreten Änderungsvorschläge? einrichtungen und für die finanziell häufig angeschlage- Wieder haben Sie nur die Interessen der Wirtschaft im nen Kommunen gelten entlastende Sonderregelungen. Kopf. Die Interessen der jungen Menschen erwähnen Sie Wir begrüßen natürlich jede Initiative – das will ich hier mit keinem Wort. ausdrücklich betonen –, die betriebliche Ausbildungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plätze schafft. Der vorgeschlagene Pakt vom DIHK-Prä- und bei der SPD) sidenten Braun ist dazu vielleicht geeignet. Deswegen haben wir in dem vorliegenden Antrag vorgesehen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- verbindlich und schriftlich vereinbarte freiwillige Rege- tion, sind für mehr verantwortlich als nur dafür, die Inte- lungen der Wirtschaft Vorrang vor der Anwendung des ressen der Wirtschaft zu vertreten. Sie tragen in den von Gesetzes haben. Ihnen regierten Ländern – das ist die Mehrzahl – die Ver- antwortung für die Qualität unseres Bildungssystems. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sind aber nicht bereit, beispielsweise über die Ab- und bei der SPD) schaffung der Eigenheimzulage zugunsten einer Verbes- Ich bin durchaus optimistisch, dass dies gelingen kann. serung der Bildung mit uns zu diskutieren. Was ist aber, wenn im Herbst trotz allem wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zehntausende von Jugendlichen dastehen, die keinen und bei der SPD) Beruf erlernen können, weil es wieder einmal nicht ge- Was wollen Sie dann? Die Jugend soll nach Ihren Vor- nug Ausbildungsplätze gibt? Sollen wir wieder appellie- stellungen die Zeche für alles zahlen. Da machen wir ren? Sollen wir noch mehr Programme auflegen? Aus nicht mit. genau diesem Grund haben wir ins Gesetz geschrieben, dass es nicht zur Anwendung kommt, solange genügend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betriebliche Ausbildungsplätze vorhanden sind. Fehlen und bei der SPD) sie, gibt es die Umlage. Eines kann ich aber mit Freude feststellen: Das Ge- Auch der Vorschlag von Beck und Steinbrück geht setz wirkt schon, noch bevor wir es beschlossen haben. teilweise in die richtige Richtung. Positiv finde ich etwa Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9903

Grietje Bettin (A) die regionale Ausrichtung der Vorschläge und die Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) bindung der Handwerkskammern oder auch die und bei der SPD) Erhöhung des Praxisanteils bei vollzeitschulischen Aus- bildungen. Das Konzept ist aber bislang völlig unver- Präsident Wolfgang Thierse: bindlich. Es setzt auf die Freiwilligkeit aller Akteure. Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Hartmann, Auf die setzen natürlich auch wir, deshalb das Auslöse- FDP-Fraktion. kriterium. (Beifall bei der FDP) Kritisch sehe ich die Ausweitung der außerbetriebli- chen statt der betrieblichen Ausbildung. Außerdem soll Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): in diesem Konzept die öffentliche Finanzierung der Be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und rufsausbildung ausgeweitet werden. Aber gerade diesen Herren! Herr Kollege Brase, Sie haben von der Verant- Trend zur Verstaatlichung der Berufsbildung müssen wir wortung der Wirtschaft gesprochen. stoppen. (Hans-Werner Bertl [SPD]: Ja, richtigerweise!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Wo ist denn die Verantwortung der Bundesregierung, wenn der Bundeswirtschaftsminister nicht hier ist? Deswegen halte ich diesen Vorschlag unterm Strich für ungeeignet. (Hans-Werner Bertl [SPD]: Der ist bei der IHK! Auch wichtig!) Wir wollen die Sicherung der dualen Berufsausbil- dung mit deren inhaltlicher und struktureller Reform Wo ist die Verantwortung der Ministerpräsidenten, wenn kombinieren. Wir wollen ein Gesetz schaffen, das An- Steinbrück und Beck nicht hier sind? Die sind ja nicht reize setzt, auszubilden, und das die Möglichkeit für zufällig nicht hier. Die sind deswegen nicht hier, weil sie junge Menschen verbessert, eine betriebliche Ausbil- dieses Gesetz ablehnen. dung zu erhalten. Die anstehende Reform des Berufsbil- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – dungsgesetzes, zwei Entschließungsanträge und das Um- Hans-Werner Bertl [SPD]: Und Stoiber? Wo lagegesetz werden einiges zur Sicherung der dualen ist der?) Ausbildung beitragen. Sie haben Recht: Diesem Ausbildungsplatzverhin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derungsgesetz, in dem Sie in 24 Paragraphen 23 Ände- sowie bei Abgeordneten der SPD) rungen vorgenommen haben, kann man nicht zustim- (B) men. (D) Unter anderem wollen wir die Anrechnung informell erworbener Kompetenzen verbessern und die Ausbil- Die Zeit der Alchemisten ist vorbei. Aus Eisen kann dungsvorbereitung und die Berufsausbildung besser mit- man eben mit noch so viel Hokuspokus kein Gold ma- einander verzahnen. Das erleichtert Jugendlichen mit chen. Anlaufschwierigkeiten die berufliche Qualifikation. (Zurufe von der SPD: Ha, ha, ha!) Neben dem Gesetz zur Umlage liegt ein Entschlie- Die Ausnahmen, die Sie vorgesehen haben – insolvente ßungsantrag vor, in dem wir anregen, eine Stiftung „Be- Betriebe, notverwaltete Gemeinden, Krankenhäuser und triebliche Bildungschance“, StiBB, einzurichten. Mit ihr Kirchen –, sind für die Betroffenen gut. Aber für den wollen wir Einzelpersonen, Unternehmen und Sozial- Mittelstand, der 500 Euro pro Ausbildungsplatz bezah- partnern Anreize geben, das Umlagevermögen zu ergän- len muss, ist dieses Gesetz nicht gut. Für ihn ist dies eine zen. Wir wollen einen gesellschaftlichen Prozess anre- Katastrophe. Sie setzen Ihre wirtschaftspolitische Geis- gen, der über das Bereitstellen privater Mittel weit terfahrt fort. hinausgeht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich abschließend ganz klar sagen: Das Gesetz, das wir heute verabschieden, Unternehmen, die keine Bewerber finden, sollen zah- len. Firmen, die keine geeigneten Bewerber finden, sol- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ist ein len zahlen. Hochschulen, die zum Beispiel Doktoranden Unfug!) ausbilden, aber nicht dual, sollen zahlen. Sie bringen mittelständische Unternehmen zusätzlich in Existenz- greift erst, wenn im Herbst wieder große Ausbildungslü- nöte. cken entstehen. Leider deuten im Moment – das muss man sehen – noch alle Zahlen darauf hin. Setzen Sie sich (Hans-Werner Bertl [SPD]: Ja, die Hoch- mit uns gemeinsam dafür ein, dass die Wirtschaft ihre schulen bringen wir in Existenznöte!) Zusagen endlich wahr macht und langfristig ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt! Nicht zu verges- Gestern rief mich eine Zeitarbeitsfirma aus meinem sen ist dabei: Hätte die Wirtschaft dies freiwillig früher Wahlkreis im an. Sie beschäftigt zehn Mitarbei- getan, hätten wir über eine Umlage gar nicht erst reden ter in der Verwaltung und einen Auszubildenden. Das müssen. bedeutet eine Ausbildungsquote von 10 Prozent. Insge- samt sind es 600 Mitarbeiter, wovon 590 verliehen wer- Danke schön. den. Ihre Ausbildungsquote von 7 Prozent gilt aber für 9904 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Christoph Hartmann (Homburg) (A) alle. Das heißt, dieses Unternehmen müsste 41 weitere Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): (C) Auszubildende bei nur zehn Mann Stammbelegschaft Lassen Sie mich bitte diese Argumentation zu Ende einstellen. führen, danach kann der Kollege gern eine Zwischen- frage stellen. Aber wie sollen sie überhaupt ausgebildet werden? Die Ausbildungsquote beim Bau beträgt 7,9 Prozent, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das ist überdurchschnittlich hoch. Der Bau zählt aber der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] zum Handwerk und die Ausbildungsquote beim Hand- [SPD]: Wer hat denn die anderen 500 ausgebil- werk insgesamt liegt bei 9,8 Prozent. Jedem einzelnen det? Diese Firmen sind doch Trittbrettfahrer! Argument, das Sie hier anführen, geht die Luft aus. Das ist Unsinn!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann Ihnen sagen, was am Montag passieren wird, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird. Die Alternative In der Probeabstimmung Ihrer Fraktion am Dienstag für diese Zeitarbeitsfirma heißt nämlich: entweder waren 20 Fraktionsmitglieder gegen dieses Gesetz. Es ist 250 000 Euro zahlen und damit in die Insolvenz gehen kein Berufsausbildungssicherungsgesetz, es ist ein Be- oder – das werden sie tun – die Arbeitsplätze nach Lu- rufssicherungsgesetz für Herrn Müntefering. xemburg verlagern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Ha- Quatsch!) ben Sie auch mal ein Argument, Herr Hartmann? Irgendwas Fachliches? Gibt es Dieses Gesetz ist kein Ausbildungsplatzschaffer, dieses auch ein fachliches Argument?) Gesetz ist ein Arbeitsplatzvernichter. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Präsident Wolfgang Thierse: Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Keine Kollege Montag, Sie haben das Wort. Ahnung!) Ich möchte die Kommunen als Beispiel anführen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Oberbürgermeister von München – in Klammern: Er Herr Kollege Hartmann, als Münchener Abgeordneter gehört der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands frage ich Sie, ob Sie bereit sind, das Parlament darüber an – schrieb an die FDP-Fraktion: in Kenntnis zu setzen, dass der Brief von Oberbürger- meister Ude nicht nur an Sie geschickt wurde und dass er Es kann doch nicht im Ernst wahr sein, dass die … (B) sich darüber hinaus auf einen ersten Entwurf dieses Ge- (D) Ausbildungsabgabe im konkreten Ergebnis zu einer setzes bezogen hat. Bestrafung der Städte führt, beispielsweise der Stadt München, die seit Beginn des letzten Jahrhun- (Nicolette Kressl [SPD]: Aber der Herr derts weltweit beachtete Leistungen für die berufli- Hartmann kennt sich wirklich aus!) che Bildung erbringt. Möchten Sie das Parlament ferner darüber in Kenntnis Herr Ude, es ist wahr; es sind Ihre Parteifreunde, die die- setzen, dass in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf sen Irrsinn durchsetzen wollen. aufgrund der Intervention von Oberbürgermeister Ude und vielen anderen Kommunalpolitikern all diese Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bleme bereinigt sind Schauen wir doch ins benachbarte Ausland: In Frank- (Widerspruch bei der FDP) reich und Dänemark gibt es die Ausbildungsplatzabgabe. In Deutschland beträgt die Jugendarbeitslosigkeit und die Anstrengungen der Kommunen zur Bekämpfung 10,3 Prozent, sie ist zugegeben zu hoch. In Dänemark der Jugendarbeitslosigkeit tatsächlich berücksichtigt liegt sie bei 10,6 Prozent und in Frankreich bei werden? 20,1 Prozent, und zwar trotz Umlage. Die Ausbildungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN quote in Deutschland beträgt 6,4 Prozent, in Dänemark und bei der SPD) beträgt sie 3 Prozent und in Frankreich 1,2 Prozent, trotz Umlage. Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): (Hans-Werner Bertl [SPD]: Die Zahlen sind Herr Kollege, ich bedanke mich herzlich für diese gar nicht vergleichbar!) Zwischenfrage, weil sie mir die Gelegenheit gibt, etwas Sie erzählen uns immer wieder, dass die Bauwirtschaft klarzustellen. eine freiwillige Umlage hat und dass das ein leuchtendes (Peter Dreßen [SPD]: Der hält sich doch für ei- Beispiel ist. nen Schauspieler! Das sieht man dem an! – Weiterer Zuruf von der SPD: Arrogant!) Präsident Wolfgang Thierse: Die Ausnahme, die Sie für die Kommunen machen, gilt Kollege Hartmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage nur für notverwaltete Kommunen. Für alle anderen gilt des Kollegen Montag? diese Ausnahme nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9905

Christoph Hartmann (Homburg) (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie len wir jetzt hier einen Tarifvertrag beschlie- (C) haben wieder keine Ahnung!) ßen, oder was?) Das heißt, dieses Gesetz bestraft die Kommunen, die gut Die weiteren Hindernisse müssen weg: Die Ausbil- und wirtschaftlich arbeiten. Sie haben damit die Pro- dungszeiten müssen entschlossen differenziert und flexi- bleme nicht beseitigt. bilisiert werden. Die immer noch reichlich vorhandenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bürokratischen Hemmnisse müssen abgebaut werden. Die Präsenz der Auszubildenden im Betrieb muss gestei- Sie differenzieren nicht nach Branchen, Sie differen- gert werden. zieren auch nicht nach Größe der Unternehmen oder nach Regionen. Dieses Gesetz ist Gleichmacherei, es Dieses Ausbildungsplatzverhinderungsgesetz ist der geht an der Wirklichkeit vorbei. Dass Planwirtschaft falsche Weg. Es ist bürokratisch. Es ist planwirtschaft- nicht funktioniert, hat man in der DDR gesehen. Das was lich. Es belastet die Wirtschaft. Es ist unsozial, weil es Sie jetzt hier einführen, ist Planwirtschaft light. Arbeitsplätze verhindert. Es stellt dem Kabinett eine ein- malige Möglichkeit zur Verfügung, nämlich per Knopf- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – druck zu entscheiden, ob diese Ausbildungsplatzabgabe Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nur Pa- kommt. Damit öffnet es der Willkür Tür und Tor. rolen! – Peter Dreßen [SPD]: So ein Schwach- sinn, was Sie da erzählen! – Wilhelm Schmidt Die Wirtschaft braucht aber Vertrauen, damit Arbeits- [Salzgitter] [SPD]: Sind Sie eigentlich junger plätze entstehen. Politiker? Wo kümmern Sie sich um die Pro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bleme junger Menschen?) der CDU/CSU) – Herr Kollege, ich kenne die Probleme schon deswe- Sie bezeichnen Unternehmer, die Deutschland verlassen, gen, weil ich selbst Inhaber einer kleinen Firma bin, die als „vaterlandslose Gesellen“. Dieses Gesetz wird dazu ausbildet. führen, dass es weitere „vaterlandslose Gesellen“ nach (Lachen bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle Ihrer Definition gibt – [FDP]: Muss man sich dafür schon entschuldi- (Willi Brase [SPD]: Ach Gott!) gen?) nicht weil die Betriebe dieses Land verlassen wollten, – Ja, dafür muss man sich in diesem Haus wirklich mitt- sondern weil diese Betriebe dieses Land verlassen müs- lerweile entschuldigen. sen. (B) (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei (D) gitter] [SPD]: Lächerlich!) Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Werner 90 000 Schülerinnen und Schüler verlassen unsere Bertl [SPD]: Jetzt wird es wirklich langsam Schulen ohne Abschluss. 25 Prozent – das wissen wir zur Schmierenkomödie! Das ist doch nicht auszuhalten – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] seit PISA – haben große Probleme beim Lesen und beim [SPD]: Mit einem solchen Unsinn profiliert Rechnen. 15 Prozent schaffen die Ausbildung nicht. Wir man sich nur in der FDP-Fraktion! Das ist ty- brauchen flächendeckend theoriegeminderte, zweijäh- pisch!) rige Ausbildungsberufe. Schwächere Jugendliche brau- chen eine Chance. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich erteile das Wort der CDU/CSU) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wenn wir fer- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zweite tig sind! – Anhaltender Beifall bei der FDP) Problem ist die Höhe der Auszubildendenvergütungen. Bundesministerin Edelgard Bulmahn. (Jörg Tauss [SPD]: Aha!) (Beifall bei der SPD) – Herr Tauss, dieser Meinung ist übrigens nicht nur die FDP. Ich zitiere den Sprecher des Arbeitskreises Arbeit und Soziales der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Herrn Höpfner: „Die Kosten der Ausbildung sind zu und Forschung: hoch.“ Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! In wenigen Monaten beginnt das Tausende von Auszubildenden verdienen in außerbe- neue Ausbildungsjahr. Für viele – zu viele – jugendliche trieblichen Ausbildungen weniger als 200 Euro. Wir Schulabgängerinnen und Schulabgänger gibt es bisher wollen, dass es betriebliche Ausbildungen gibt. Aber wir keinen Ausbildungsplatz. sind der festen Überzeugung, dass es besser ist, Men- schen für 350 Euro auszubilden, als sie für 750 Euro Wir wissen aber auch, dass der Wirtschaft in den nicht auszubilden. kommenden Jahren aufgrund der demographischen Ent- wicklung immer mehr Fachkräfte fehlen werden. Der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten deutliche Rückgang der Jahrgänge von jungen Men- der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Sol- schen, die in den Beruf gehen, ab dem Jahre 2009 führt 9906 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) nach Einschätzung aller Experten zu einem Fachkräfte- dann entzieht sich dadurch das System der beruflichen (C) mangel von rund 3,5 Millionen Menschen allein in der Ausbildung seine eigene Existenzgrundlage. Altersgruppe zwischen 30 und 45. Das ist gerade die Al- tersgruppe, von der die Innovationskraft der Wirtschaft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten abhängt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren auch von der Dazu habe ich von den Rednerinnen und Rednern der Opposition, die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes Opposition kein einziges Wort gehört, auch nicht von Ih- hängt davon ab, ob wir auch 2010 und 2015 noch ausrei- nen, Frau Böhmer. Sie haben keinen einzigen konkreten chend qualifizierte Fachkräfte haben. Vorschlag gemacht, wo die Jugendlichen ausgebildet werden sollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie kennen doch Wir werden im globalen Wettbewerb doch nicht mit un- unsere Anträge! – Gegenruf von der SPD: qualifizierten Menschen bestehen können. Welche denn?) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Auch nicht Sie sollen zwar weder zusätzlich in den Betrieben noch mit dieser Regierung!) in den Verwaltungen ausgebildet werden. Aber wo sol- len sie denn ausgebildet werden? Fachkräfte fallen nicht Deshalb sage ich Ihnen ganz ausdrücklich: Sie vertreten vom Himmel; sie müssen ausgebildet werden. Daher nicht die Interessen der Wirtschaft, brauchen wir Betriebe, die ausbilden! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: [FDP]: Die Interessen Deutschlands vertreten Das merkt man bei dieser Bundesregierung, wir! – Gegenruf des Abg. Willi Brase [SPD]: dass die nicht vom Himmel fallen!) Wir vertreten die Interessen der Menschen!) wenn Sie diese Entwicklung ignorieren und so tun, als Inzwischen, meine sehr geehrten Herren und Damen, gäbe es kein Problem und als könne man einfach so wei- werden öffentliche Mittel in Höhe von 10 Milliarden termachen. Das geht nicht. Euro in die berufliche Ausbildung investiert. Nichts ist schlimmer für einen Jugendlichen, als ohne (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was hat das mit qualifizierte Ausbildung in das Leben starten zu müssen, diesem Gesetz zu tun, was Sie da erzählen? (B) auf das Abstellgleis geschoben und nicht gebraucht zu Nichts!) (D) werden. Das ist für junge Menschen eine sehr harte Er- fahrung. Genau das ist die schleichende Verstaatlichung der be- ruflichen Ausbildung, die Sie hier immer beschwören. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl Wir wollen sie nicht. Ich halte eine Verstaatlichung für wahr!) eine falsche Entwicklung. Dieses Problem wird in den kommenden Jahren nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) geringer, sondern es wird ein noch brennenderes Pro- blem werden, Im Gegenteil, wir müssen wieder mehr Betriebe für die berufliche Ausbildung gewinnen. Darum geht es. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Vor allem mit diesem Gesetz!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weil die Zahl der Jugendlichen noch bis zum Jahre 2010 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf steigt. von der CDU/CSU: Aber doch nicht durch Strafen!) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Vor allem durch dieses Gesetz! – Elke Wülfing [CDU/ Den Vorzug der Ausbildung in Betrieben und Schulen, CSU]: So ist das!) den die Regierungsfraktionen und ich nicht preisgeben wollen, können wir nicht einfach durch eine staatliche Ein weiteres Problem. Nur rund die Hälfte der Be- Ausbildung ersetzen. triebe mit mehr als zehn Beschäftigten bildet überhaupt noch aus. (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun Sie aber!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]:Endlich mal Deshalb macht mir die Entwicklung der letzten Jahre so ein Gesetz, das die Welt verbessert!) große Sorge. Wenn sich in einem dualen Berufsbildungssystem zu In den letzten Jahren hat sich die Situation kontinuier- viele Unternehmen und Betriebe der Verantwortung für lich verschlechtert. Im Jahre 2003 ist die Anzahl der ihre eigene Zukunft entziehen, indem sie nicht genug Ausbildungsplätze wiederum zurückgegangen. Inzwi- qualifizierte Fachkräfte ausbilden, schen sind in den alten Ländern rund 50 000 Ausbil- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schon selt- dungsplätze, in den neuen Bundesländern rund sam, was Sie erzählen!) 26 000 weggefallen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9907

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Es ist doch kein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Wunder, wenn jedes Jahr Tausende Betriebe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf kaputtgehen!) der Abg. Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]) Damit befinden wir uns wieder auf dem Tiefstand der Wir haben die Benachteiligtenförderung verändert und Jahre 1997 und 1998, den Jahren, in denen noch CDU/ ein besseres Konzept entwickelt, das wirklich greift. Ich CSU und FDP dieses Land regiert haben. Das ist also sage ganz klar: Wir müssen auch die schulische Ausbil- eine Entwicklung, die nicht erst in den letzten drei, vier dung deutlich verbessern. Nur wundert es mich schon, Jahren stattgefunden hat. Wenn Sie das sagen, haben Sie warum die Opposition mich persönlich, aber auch meine sich nicht die entsprechenden Zahlen angesehen. Fraktion, massiv angreift, weil wir, die Bundesregierung es wagen, zu fordern, dass die schulische Ausbildung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des verbessert werden soll, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Nicolette Kressl [SPD]: Sie war gegen das Seit Anfang der 90er-Jahre gibt es diese Entwicklung. Ganztagsschulprogramm!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erwarte schon, dass man sich wirklich ernsthaft mit dieser Entwicklung es wagen, die Länder beim Ganztagsschulprogramm zu auseinander setzt. Darum bitte ich Sie. unterstützen. Sie haben sich dagegen gestellt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: So Wöhrl [CDU/CSU]: Tun Sie es doch endlich ist es!) mal!) Dabei ist es doch eine wichtige Voraussetzung dafür, Angesichts dieser Entwicklung einfach den Kopf in dass es besser wird. Was ist denn das für eine Politik? den Sand zu stecken – ich sage ganz offen, dass die Op- Sie haben ja Recht, dass die schulische Ausbildung nicht position hier diesen Eindruck erweckt –, das ist wirklich gut genug ist. Nur, dann tun Sie gefälligst auch etwas da- die schlechteste aller Lösungen. für, dass sie besser wird; unterstützen Sie uns dabei! (Zuruf von der SPD: Arrogant und aufgebla- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen! Das kennen wir ja von denen!) DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]) Vielmehr brauchen wir konkrete Vorschläge. Ich habe immer gesagt – das gilt auch für meine Kolleginnen und Ich finde es gut – das will ich ausdrücklich sagen –, Kollegen –: Wenn es gute, konkrete Vorschläge gibt, dass die Fraktionen den Antrag eingebracht haben, der (B) dann bin ich offen, sie aufzugreifen. Denn es geht uns zum Inhalt hat, über den Gesetzentwurf hinaus einen (D) um das Ziel: Wir wollen mehr betriebliche Ausbildungs- Pakt für Ausbildung zu schließen. Ich halte das deshalb plätze schaffen. Wir wollen, dass alle Jugendlichen aus- für so gut, weil ich persönlich davon überzeugt bin, dass gebildet werden. Darum geht es doch. freiwillige Lösungen immer besser sind als Gesetze. Auch das Gesetz über die Umlage nimmt deshalb genau (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesen Grundgedanken auf und setzt auf Subsidiarität; des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Subsidiaritätsprinzip gilt auch in diesem Gesetz: Zu- In den vergangenen Jahren haben wir zahlreiche Ini- nächst wird darauf gesetzt, dass die Wirtschaft aus eige- tiativen gestartet, um die Wirtschaft bei ihren Ausbil- ner Kraft, freiwillig, ein ausreichendes Ausbildungs- dungsanstrengungen zu unterstützen. Allein seit 1999 platzangebot schafft. haben wir – wenn ich auch dieses Jahr berücksich- (Zuruf von der CDU/CSU: „Freiwillig“ vor tige – 160 Berufe modernisiert bzw. neu geschaffen, im allen Dingen!) Übrigen auch Berufe mit zweijähriger Ausbildung. Das war von Anfang an der Kerngedanke und wird mit (Peter Dreßen [SPD]: Das weiß der junge diesem Antrag noch einmal ausdrücklich unterstrichen: Mann nicht! Das passt nicht in sein Bild) Die Wirtschaft ist und bleibt verantwortlich für die be- Hier besteht überhaupt kein Grundsatzstreit. Die Unter- rufliche Ausbildung; das wird auch durch dieses Gesetz nehmen müssen das aber auch nutzen. nicht geändert. Der Ball liegt jetzt im Feld der Wirt- schaft: Stellt sie bis zum Herbst genügend Ausbildungs- (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Aber plätze zur Verfügung, wird der Mechanismus des Geset- was für welche!) zes nicht ausgelöst und keine Umlage erhoben. Ich hoffe sehr, dass die Wirtschaft diesen Ball aufnimmt und dass – Herr Hartmann, schon vor zwei Jahren haben wir für sie mit Engagement und auch mit großer Bereitschaft da- Unternehmen die Möglichkeit geschaffen, für Teilquali- ran mitwirkt, dass dieser Pakt ein Erfolg wird. Das ist die fikationen auszubilden. Zielsetzung. Frau Böhmer, im Übrigen haben wir schon vor zwei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahren das Berufsbildungsgesetz zum ersten Mal novel- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liert. Ich bedauere, dass Sie als zuständige stellvertre- tende Fraktionsvorsitzende das offensichtlich nicht ein- Wir müssen es schaffen – da stehen wir gegenüber der mal wissen; das ist – offen gesagt – nicht gerade ein jüngeren Generation in der Verantwortung, aber genauso Zeichen von Qualität. gegenüber der Wirtschaft –, dass wir nicht bloß vage 9908 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Versprechungen und gute Absichten äußern, sondern Sie zeugen von plumper und daher durchsichtiger Taktik (C) dass wir wirklich verbindlich das Ziel sicherstellen, alle und sind Zeichen schlichter Anbiederung. jungen Menschen in Ausbildung zu bringen, um damit auch die qualifizierten Fachkräfte zu gewinnen, die wir (Lachen bei Abgeordneten der SPD) brauchen. Das beweist nur eines: Der Gesetzentwurf muss von Ih- rer Seite aus um jeden Preis durchgepeitscht werden, Die staatliche Seite – also auch der Bund, die Län- denn der neue Parteivorsitzende flattert schon genug, der – bleibt dabei selbstverständlich im Boot. Die Bun- nicht nur in einzelnen Punkten, sondern durchgehend. desregierung wird die bestehenden Programme zur Aus- bildungsförderung weiterführen; wir werden sie nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kürzen, auch nicht einschränken. Wir werden auch in den kommenden Jahren die Ausbildung von benachtei- Das alles ist bitter, weil durch dieses unrühmliche ligten Jugendlichen – also denjenigen mit schlechten Verfahren den Jugendlichen, denen unser aller Sorge Schulabschlüssen – finanziell unterstützen müssen. Das gilt, bedauerlicherweise nicht geholfen wird. Ihr Gesetz- können und werden wir nicht allein der Wirtschaft über- entwurf ist bei objektiver Betrachtung in jeder Hinsicht tragen; da muss auch die staatliche Seite kräftig mithel- kontraproduktiv: Er belohnt und bestraft die Falschen, er fen, damit es auch weiterhin gelingt. Deshalb werden wir verstärkt die Arbeitslosigkeit, er verschärft die Krise bei das auch in Zukunft tun. der Berufsausbildung. Das werde ich Ihnen im Rahmen meiner Rede beweisen. Ich baue darauf, dass die Unternehmen ihrer Verant- Wenn die Bundesregierung heute Morgen hier nicht wortung aus eigener Kraft mit gutem Willen gerecht hinreichend präsent ist, dann zeigt das für mich ihre sub- werden. Es kann und darf nicht dabei bleiben, dass nur tile Distanzierung von der Politik der eigenen Regie- ungefähr die Hälfte aller Betriebe überhaupt ausbildet, rungsfraktionen speziell in dieser Frage. Jugendliche auf der Straße stehen und die Wirtschaft da- mit ihren entscheidenden Wettbewerbsvorteil verspielt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie können es doch nicht leugnen, meine Damen und Mit dem Ausbildungspakt machen wir der Wirtschaft Herren von den Regierungsfraktionen: Ihre Abgabe stellt noch einmal ein ganz konkretes Angebot. Wenn es nicht eine gewaltige Fehlsteuerung planwirtschaftlichen Aus- zur Erhebung der Umlage kommt, dann deshalb, weil in maßes dar, ist inhaltlich Nonsens und wird fatale Folgen unserer Gesellschaft endlich wieder – freiwillig – all die haben. Kraft für Ausbildung mobilisiert wird, die – ich glaube: (B) immer noch – in ihr steckt. Es wäre die beste Lösung für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) alle Beteiligten. Zum einen wird die Schaffung kostengünstiger Ausbil- Ich bedanke mich. dungsplätze gefördert, kostenintensiver dagegen verhin- dert. So erhalten Jugendliche oftmals staatlich gelenkte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausbildungen, mit denen später kein Job zu gewinnen DIE GRÜNEN) ist. Zum anderen werden diejenigen bestraft, die heute noch Arbeitsplätze schaffen. Denn durch die Bemessung Präsident Wolfgang Thierse: der Abgabe auf die versicherungspflichtig Beschäftigten Ich erteile das Wort Kollegen Werner Lensing, CDU/ ist sie in Wirklichkeit eine Arbeitsplatzsteuer. CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Werner Lensing (CDU/CSU): Das ist eine Politik, die nicht den Jugendlichen dient. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Deswegen können wir diesem Gesetzentwurf nicht zu- Meine Kollegen! Der abstruse Kalauer „Wer nicht aus- stimmen. Wir, Frau Bulmahn, stecken den Kopf ange- bildet, wird umgelegt!“ wird heute durch den vorgeleg- sichts der Realität nicht in den Sand, sondern Sie tun ten Gesetzentwurf mit bitterem Ernst bestätigt. dies. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ganz abgesehen davon – das ist aber nicht meine pri- der FDP) märe Sorge – durchkreuzt die Bundesregierung mit die- Daran ändern auch die Ausführungen von Frau Bulmahn sem Gesetz ihre eigenen Ziele, nämlich die Bürokratie und die von Ihnen in Panik nachgeschobenen Anträge abzubauen, die Lohnnebenkosten zu senken und die Ta- nichts. Das Nachschieben von Anträgen bestätigt nur rifautonomie zu stärken. Ihre spürbare und täglich wachsende Unsicherheit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich wiederhole es: Ihr Entwurf ist falsch gedacht und Die Anträge zeugen von trauriger, ja sogar Mitleid schlecht gemacht. Sonst würden Sie heute nicht einen erregender Konzeptionslosigkeit in Ihren Reihen. weiteren Antrag einbringen, der der Intention Ihres eige- nen Gesetzentwurfs grundlegend widerspricht. Sie, (Nicolette Kressl [SPD]: Wer hat Ihnen das meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio- aufgeschrieben?) nen, müssen sich schon entscheiden, was Sie eigentlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9909

Werner Lensing (A) wollen: Antrag oder Gesetz. Beides zusammen geht rund 2,4 Prozent der gemeldeten Bewerber nicht vermit- (C) nicht. Ein anderes Handeln würde an Schizophrenie telt werden konnten. grenzen, der Wahnsinn würde wieder einmal traurige Damit von Ihnen nicht monotonartig immer wieder- Triumphe feiern. holt wird, wo die Vorstellungen der Union bleiben, sage Sie schieben einen Entschließungsantrag nach, um ei- ich Ihnen ganz zum Schluss: nen Sinneswandel zu suggerieren. Gleich 23 Änderun- gen an ursprünglich 25 Paragraphen vorzunehmen zeugt (Jörg Tauss [SPD]: Ja, zum Schluss! Jetzt nicht von Qualitätsarbeit, sondern von totaler Unsicher- kommen sie also! Hören wir mal zu! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU] zu Abg. Jörg heit. Tauss [SPD] gewandt: Sie machen ja schon (Beifall bei der CDU/CSU) beim Zuhören Fehler!) Die Abgabe wird trotz eines eventuell geschlossenen – Herr Tauss, stürzen Sie sich ruhig in den Katarakt der Paktes mit der Wirtschaft ausgelöst, wenn – allein nach Empörung. Kabinettsmeinung – diese Vereinbarung „für die Zieler- reichung nicht geeignet ist“. Gemeint sind hier wohl Die Union fordert eben keine staatlichen Eingriffe. allein die Ziele der Regierung. Das ist Politik nach Guts- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- herrenart. NEN]: Also alles so laufen lassen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unsere Grundsätze lauten präzise: Erstens. Freier Wille neten der FDP) anstatt staatlicher Bevormundung. Zweitens. Eigenini- Es ist sicherlich richtig, dass Praktikanten, Volontäre tiative anstatt rot-grünem Zwang. Drittens. Marktwirt- und Auszubildende an Berufsakademien jetzt zu den schaft anstatt blinder Plansollerfüllung. Auszubildenden gerechnet werden. Ich frage Sie aller- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – dings: Wieso werden nicht folgerichtig auch Firmen frei- Nicolette Kressl [SPD]: Das sollen Vorschläge gestellt, die nicht ausbilden können oder dürfen oder die sein! – Weiterer Zuruf von der SPD: Tolle Vor- nachweislich keine Auszubildenden finden? Sie sehen es schläge!) doch selbst: Der Gesetzentwurf ist und bleibt trotz aller Erweiterung aberwitziger Unsinn. Deswegen können wir In diesem Sinne hat die CDU/CSU eine Reihe von ihm im Interesse der Jugendlichen nicht zustimmen. Lösungsvorschlägen eingebracht. Ich denke nur einmal an unsere Anträge für die Wirtschafts-, die Finanz- und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. die Arbeitsmarktpolitik, durch die wichtige Vorausset- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) (B) zungen für die Bereitstellung geeigneter Ausbildungs- (D) Das Problem ist ganz offenkundig: Aufgrund Ihres plätze geschaffen werden sollen. mechanistischen und immer wieder ideologiefixierten (Nicolette Kressl [SPD]: Unglaublich! Das Denkens kommen Sie, weil Sie nicht mehr souverän sollen eure Vorschläge sein?) sind, geradezu zwangsläufig zu Ihren Ergebnissen. Im Gegensatz zu Ihrer Partei, in der es gewöhnlich zu Schließlich wollen wir – unser entsprechender Entwurf Basta-Beschlüssen und Kanzlerzwang kommt, können liegt bereits vor; Frau Kollegin Böhmer hat bereits da- die Kammern, die Betriebe und die Institutionen ihre rauf verwiesen – die Berufsausbildung modernisieren, Mitglieder eben nicht mit Druck und Gewalt zwingen, flexibilisieren, dynamisieren und internationalisieren. Auszubildende einzustellen. Wie sollte das praktisch (Hans-Werner Bertl [SPD]: Oh!) auch funktionieren? Noch leben wir in einem freien Staat. Ausbildungsplätze auf Knopfdruck gibt es eben – Sie haben es wohl nicht begriffen, obwohl Sie es be- nicht – nicht einmal in Ihren Ministerien, im DGB und in reits gelesen haben. seinen Unterorganisationen. Mit unserer Novelle wird die Ausbildung tatsächlich Sie versuchen immer wieder – das ist der eigentliche schneller, günstiger und zielgerichteter verlaufen. Damit arbeitsmarkt- und bildungspolitische Skandal –, Ihre Re- gehen wir konkret und nicht durch eine Symbolpolitik gierungsverantwortung auf den Mittelstand abzuwäl- auf die Sorgen und Nöte der Jugendlichen ein, die eine zen. Dabei unterstellen Sie, die Wirtschaft wolle erst gar Lehrstelle suchen. Wir bieten Anreize und setzen auf Er- nicht ausbilden. Die Realität aber sieht anders aus; das leichterung. wissen Sie und verschweigen es. Aufgrund Ihrer Politik Vielen Dank. kann der Mittelstand die genügende Zahl leider nicht be- reitstellen. Deswegen wiederhole ich es noch einmal: Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Entwurf dient nicht den Jugendlichen. Das ist ebenso be- dauerlich wie traurig. Präsident Wolfgang Thierse: Lassen Sie mich vielleicht auch diesen Aspekte noch Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Werner ansprechen: Zugleich ist Ihr Gesetzesentwurf auch des- Bertl, SPD-Fraktion. wegen abstrus, weil auch 1992, als ein Überhang von insgesamt rund 114 000 Lehrstellen gegenüber den Be- Hans-Werner Bertl (SPD): werbern zu verzeichnen war und somit jeder Jugendliche Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- eigentlich eine Stelle hätte finden können und müssen, gen! Die betriebliche Ausbildung ist nach wie vor eine 9910 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Hans-Werner Bertl (A) großartige Gemeinschaftsleistung eines Teils unserer ausgebildeten und qualifizierten Fachkräften erwarten (C) Wirtschaft. Wir alle wissen: Keine Delegation fährt von wird. Wir alle wissen, wie lange es dauert, junge Men- hier aus ins Ausland, ohne dort erfolgreich für praxisori- schen zu qualifizierten Fachkräften in unserem Land entierte und betriebsnahe Ausbildung zu werben. Dazu auszubilden: drei bis dreieinhalb Jahre Ausbildung, zwei passt, dass das duale System mittlerweile ein deutscher bis drei Jahren zusätzliche Qualifikation. Das heißt, es Exportschlager geworden ist. geht um einen Zeitraum zwischen fünf und sieben Jah- ren, in dem wir die Menschen ausbilden müssen. Wir erzählen aber nicht, dass sich in Deutschland nur noch 23 Prozent aller Unternehmen an der Ausbildung Vor diesem Hintergrund kann es doch nicht sein, dass beteiligen. Wir erzählen nicht, dass jeden Sommer Kara- die Wirtschaft die Regierung erpresst. Wir sitzen hier wanen von Ministern und Oberbürgermeistern durchs doch nicht an einem Pokertisch und zocken um die Zu- Land reisen und händeringend um Ausbildungsstellen kunftschancen unserer Jugend, werben und dass Kammerpräsidenten Tausende von Briefen an Unternehmen schicken, um Ausbildungsstel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len zu mobilisieren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Richtig!) ganz nach der Devise: weg mit dem Gesetz, dann gibt es Lehrstellen. Vor dem Hintergrund so vieler gebrochener Wir erzählen nicht, dass im letzten Ausbildungsjahr un- Versprechen können wir das nicht mehr glauben. In die- ter den insgesamt 720 000 jugendlichen Bewerbern ser Frage können wir der Wirtschaft nicht nur nicht 330 000 so genannte Altbewerber waren, die schon min- trauen, nein, wir müssen die Wirtschaft überdies davor destens einmal keine Ausbildungsstelle gefunden haben. bewahren, sich selbst zu schaden. Sie sind weiß Gott nicht alle ungeeignet gewesen. (Lachen des Abg. Christoph Hartmann [Hom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten burg] [FDP]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie braucht nämlich hoch qualifiziertes Personal. Wir erzählen nicht, dass unser duales Ausbildungs- system tatsächlich kurz vor dem Kollaps steht und nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des noch funktioniert, weil schon heute umgelegt wird: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) durch Vereinbarungen in der Bauindustrie, durch Verein- barungen im Bereich Chemie und durch öffentliche Mit- Viele fragen nun: Muss das Gesetz so kompliziert tel in Höhe von 10 Milliarden Euro. Jetzt liegt es wieder sein? Ich sage: Ja, leider; denn jene, die das alles nicht einmal auf dem Tisch: das Angebot der Selbstverpflich- wollen, haben dann um Ausnahmen gebeten. Dadurch (B) tung der Wirtschaft. Ich sage Ja zur Selbstverpflichtung wurde das Gesetz zwangsläufig kompliziert. Bei allen (D) der Wirtschaft, aber nur wenn wir Beweise haben, dass Klagen: Sind nicht die Handwerksordnung und das In- sie eingehalten wird. Ich sage das nicht leichtfertig, aber dustrie- und Handelskammergesetz ebenfalls hochkom- die Bilanz der Selbstverpflichtung der deutschen pliziert? Trotzdem sollen wir, wenn es nach der Wirt- Wirtschaft ist eine Bilanz des Versagens und des Täu- schaft geht, davon die Finger lassen. schens. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Für mich viel entscheidender ist eine andere Frage: Sehen Sie sich den „Spiegel“ von vor drei Wochen an, Wie kompliziert ist das Leben in einer Familie, deren dann wissen Sie um die Bilanz gebrochener Versprechen Kinder ein, zwei oder drei Jahre vergeblich nach einer der Wirtschaft: Klimaschutz, Altautoverwertung, Dosen- Ausbildungsstelle gesucht haben? pfand, Gleichberechtigung, Benzinverbrauch, Lehrstel- len. – Und dann kommt die Entschuldigung: Olaf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Henkel erklärt die Selbstverpflichtung zur reinen Not- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wehr. Das heißt im Umkehrschluss, bei Nichterfüllung Wie kompliziert – viel schlimmer: wie aussichtslos – war es eine Notlüge und damit eine lässliche Sünde. verläuft das Leben eines jungen Menschen, dessen wei- Jetzt stehen wir vor der Frage: Was tun? Sollen wir tere Lebensplanung durch eine fehlende Ausbildung in- nach dem Prinzip von Hoffnung und Glauben die Exis- frage gestellt wird? Welche gesellschaftlichen Kosten tenz von Tausenden von jungen Menschen in die Dispo- haben wir im Nachhinein zu tragen? Woher nimmt die sition einer möglichen Notwehrmaßnahme der Wirt- Wirtschaft eigentlich in fünf, sechs, sieben oder acht Jah- schaft geben oder schaffen wir es, Verbindlichkeiten ren Fachkräfte? Dann reicht eine Greencard nicht mehr. herzustellen? Für mich immer wieder faszinierend ist in Gesprä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen mit der Wirtschaft, mit dem Handwerk und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Handel der Appell an die Politik: „Nehmt euch ein Bei- spiel an den anderen Ländern!“ Und dann hört man be- Diesmal greifen wir zur Notwehr – Notwehr für die jun- liebig genehme Beispiele. Ich nehme jetzt auch einmal gen Menschen in unserem Land, die einen Anspruch auf ein Beispiel und frage: Ausbildung haben und Notwehr für unsere Wirtschaft, die vor dem Hintergrund der demographischen Entwick- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nehmen Sie lung schon in wenigen Jahren von uns Hilfe in Form von Frankreich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9911

Hans-Werner Bertl (A) Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen deut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) schen und dänischen Unternehmern? Louise Pihl vom des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dänischen Arbeitgeberverband sagt – das war gestern in der „Stuttgarter Zeitung“ zu lesen –, in Dänemark funk- Präsident Wolfgang Thierse: tioniere ein solches System der Umlage, das vom däni- Ich erteile das Wort Kollegen Michael Kretschmer, schen Parlament 1977 beschlossen wurde, seit langem CDU/CSU-Fraktion. prima; (Beifall bei der CDU/CSU) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber das Er- gebnis ist verheerend!) Michael Kretschmer (CDU/CSU): die solidarische Umlage habe die Bereitschaft der Ar- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- beitgeber gestärkt, Ausbildungsplätze anzubieten. desministerin stellt sich hier hin und sagt: Jeder Jugend- liche soll einen Ausbildungsplatz bekommen. (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Die Dänen haben eine niedrigere Ausbildungs- (Beifall bei der SPD) quote als wir!) Vor einem Jahr hat der Bundeskanzler den Jugendlichen Sind wir in unserem Land so viel anders als die Dä- genau dasselbe versprochen. Was ist daraus geworden? nen? Haben wir eine andere Vorstellung von Verantwor- Diese Bundesregierung will nur noch. Sie will die tung für die Generation unserer Kinder? Haben wir eine Jugendlichen unterbringen, sie will einen ausgegliche- andere Moral, andere Vorstellungen von Wirtschaft? Le- nen Haushalt, sie will die Halbierung der Arbeitslosig- ben und wirtschaften wir in unserem Land etwa auf Teu- keit – nur, in der Wirklichkeit sieht alles anders aus. Tat- fel komm raus nach der Devise: Uns fällt schon etwas sache ist doch: Sie bekommen einfach nichts mehr hin. ein, wenn es nicht mehr geht. Als letztes Mittel hilft bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns immer der Gang der Lobby in das Parlament. Denen pressen wir, wenn es nötig ist, die Finanzierung der Was ist die Lösung? Die Lösung besteht Ihrer Mei- Fachkräfte aus den Rippen bzw. aus den Haushalten? nung nach in Verschleierung. Die Ausbildungsplatzab- gabe ist ein dreistes Ablenkungsmanöver von den wirkli- Präsident Wolfgang Thierse: chen Ursachen des Lehrstellenmangels. Seit 1998 sind über 191 000 Unternehmen in Deutschland wegen Ihrer Kollege Bertl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Wirtschaftspolitik kaputtgegangen. Kollegen Schauerte? (Widerspruch bei der SPD) (B) (D) Hans-Werner Bertl (SPD): Die Binnennachfrage war noch nie so gering wie heute. Nein. – Das alles ist in den 60er- und 70er-Jahren pas- Der Einzelhandel klagt über eine enorme Kaufzurück- siert. Damals hatten wir das größte Umlagesystem in haltung. Das duale System, das hier und heute viel be- diesem Land. Damals haben die Beitragszahler mit ihren schrieben worden ist, lebt aber von der Dynamik der Beiträgen zur Bundesanstalt für Arbeit die Qualifizie- Wirtschaft. Es kann kein konjunkturunabhängiges Lehr- rung von Fachkräften, die die Wirtschaft dringend benö- stellenangebot in diesem System geben. tigt hat, bezahlt. (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) So etwas kann eine Lösung sein. Dann muss aber ehr- lich verhandelt werden, sonst verabschiedet sich die Wenn wir keine Verschulung wollen, was auch von Wirtschaft aus der Verantwortung für die duale Ausbil- Ihnen, Herr Tauss, oft genug erklärt worden ist, dann hat dung. Das wollen wir nicht. Für mich ist das Lamento die Politik nur zwei Möglichkeiten. Die erste besteht da- über dieses Gesetz, welches wir in den nächsten Wochen rin, die Hemmnisse für die Ausbildung so gering wie zu erwarten haben, nicht von Belang. Wir haben es ange- möglich zu machen. passt und die notwendigen Ausnahmen geschaffen. Ganz (Beifall bei der CDU/CSU) entscheidend ist, dass im Gesetz – einmalig in unserem Land – keine festen Zahlen definiert wurden. Auslöse- Das fängt bei der Ausbildungsvergütung an, geht weiter kriterium ist vielmehr der Tatbestand, den wir verbind- über die Abschaffung bürokratischer Regeln bis hin zur lich haben wollen. Wir entwickeln so einen Weg zwi- Schaffung zweijähriger Ausbildungsberufe, von denen schen Wirtschaft und Bundesregierung, der im Ergebnis uns Frau Bulmahn sagt, es gebe eine ganze Reihe. Von etwas mit Moral – das kann auch in der Wirtschaftspoli- 350 Ausbildungsberufen in Deutschland sind ganze 30, tik nicht schaden – zu tun hat: also nicht einmal 10 Prozent, zweijährig. Das ist die Realität in diesem Land. (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) (Beifall des Abg. Christoph Hartmann [Hom- Verantwortung für die Generation unserer Kinder ver- burg] [FDP]) bindlich wahrzunehmen heißt: Her mit den Ausbildungs- stellen! Dann liegt dieses Gesetz nicht als Drohung, son- Die zweite Möglichkeit besteht in einer Wirtschafts- dern als Notwehr für die junge Generation in unseren politik, die für Wachstum sorgt. Wenn das Wachstum Schubladen. gesichert ist, dann haben die Unternehmen in Deutsch- land eine Zukunft. Ein Unternehmen, das eine Zukunft Ich danke Ihnen. hat, wird auch ausbilden. Denn Ausbildung bedeutet für 9912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Michael Kretschmer (A) die Jugendlichen, aber auch für die Unternehmen eine unserem Land und zum anderen in der politischen Argu- (C) Investition in die Zukunft. In Deutschland besteht das mentation. Problem darin, dass die Unternehmen für sich keine Zu- kunft in diesem Land sehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie erzählen uns, dass Sie die Ausbildungsplatzabgabe neten der FDP) erst im Herbst auslösen wollen, wenn die Quote bis da- Wer das ignoriert oder umdreht, der handelt so, als wenn hin nicht erreicht wird. Parallel dazu kürzen Sie aber das er die Erde noch einmal zur Scheibe erklären würde. Programm, um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu konstruieren. Das ist in der Tat schändlich! Die Folgen werden besonders für die neuen Bundes- länder dramatisch sein. Denn Fakt ist, dass die Ausbil- In Ost wie West gibt es Unternehmen mit einer hohen dungsquote in den neuen Ländern mit 5,9 Prozent we- Ausbildungsquote. Ich habe unlängst eines davon be- sentlich höher ist als in den alten Ländern mit sucht, das 80 Auszubildende hat und eine Ausbildungs- 4,7 Prozent. Es ist die Arroganz der Macht, die dafür quote von 6,3 Prozent – das liegt weit über dem ostdeut- sorgt, dass Sie sich nicht fragen, woran das liegt und schen Durchschnitt – aufweist. In diesem Unternehmen welche Möglichkeiten es gibt, bewährte Regelungen aus wurde mir deutlich gesagt: Wir wollen die Jugendlichen den neuen Bundesländern auf die alten zu übertragen übernehmen, aber das ist nur dann möglich, wenn die und damit das Problem zu lösen. In den neuen Ländern wirtschaftliche Entwicklung positiv verläuft. haben sich – anders als in den alten Bundesländern – Das Unternehmen hatte vor wenigen Jahren Kammern, Gewerkschaften, öffentliche Verwaltungen 40 Auszubildende. Derzeit sind es 80 und in Zukunft und Betriebe eine Reihe von Freiheiten zugestanden. Die werden es vielleicht 100 Auszubildende sein; das richtet Vergütung ist in Teilen geringer; denn wer ausbildet, darf sich immer nach der wirtschaftlichen Entwicklung. Des- nicht durch ein hohes Entgelt abgeschreckt werden. Aus- wegen fordern wir Sie auf: Kümmern Sie sich um die bildungsplatzentwickler beraten die Betriebe und Aus- Wirtschaftspolitik! Sorgen Sie dafür, dass dieses Land bildungsverbünde unterstützen gerade die kleinen Unter- vorankommt! Verzichten Sie auf die Ausbildungsplatz- nehmen. Die neuen Länder zeigen, dass es auch in einem abgabe, schmeißen Sie sie in die Tonne! Sie schaden da- schwierigen wirtschaftlichen Umfeld möglich ist, neue mit Deutschland und ganz besonders den neuen Bundes- Ausbildungsplätze zu schaffen, wenn man den Beteilig- ländern und dem Aufbau Ost. ten die Freiheit bietet, für sich selbst zu arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neten der FDP – René Röspel [SPD]: Wieder (B) kein Wort zu den jungen Menschen!) (D) Deshalb quälen wir Sie seit Monaten mit unseren Vor- schlägen zur Reform des Berufsbildungsgesetzes. Präsident Wolfgang Thierse: (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) Lieber Kollege Kretschmer, ich gratuliere Ihnen im Unsere Aufforderung an Sie kann nur lauten: Moderni- Namen des ganzen Hauses sehr herzlich zu Ihrem heuti- sieren Sie endlich die Berufsausbildung! Das ist unsere gen Geburtstag. Antwort auf den Amoklauf von Rot-Grün bei der Aus- (Beifall) bildungsplatzabgabe. Nun erteile ich Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Grünen, das Wort. Das Problem in Ostdeutschland ist nicht die Ausbil- dungsquote, sondern die Unternehmenslücke. Das Insti- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tut für Wirtschaftsforschung Halle hat errechnet, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gemessen an der Einwohnerzahl 100 000 Unternehmen Wenn es um Ausbildung geht, wird häufig auch über die fehlen. Eine Folge davon ist, dass es an Ausbildungsbe- PISA-Studie geredet. Wenn man sich die Reden in die- trieben mangelt. sem Haus zu Gemüte führt, sollten wir das bedenken. Herr Hartmann, ich habe während Ihrer Rede festgestellt Tatsache ist deshalb, dass in Ostdeutschland staatliche – ich glaube, dieses Problem hat auch etwas mit der Förderung zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze PISA-Studie zu tun –, dass Sie offenbar unseren Gesetz- auch zukünftig unabdingbar ist. Deswegen gibt es ein entwurf nicht gelesen haben. Ausbildungsprogramm, mit dem zusätzliche Ausbil- dungsplätze geschaffen werden sollen, um den jährlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15 000 Jugendlichen ab 16 Jahre, die ihre Ausbildung und bei der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: fern der Heimat beginnen und zwischen Ost- und West- Nicht verstanden!) deutschland pendeln, eine Chance zu bieten. Bisher sind – Ja, oder Sie haben ihn nicht verstanden. mit diesem Programm 14 000 Ausbildungsplätze ent- standen. Aber ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Sie behaupten, die Ausnahmeregelungen zugunsten Probleme sehr groß sind, will Rot-Grün das Programm der Kommunen würden nur im Falle von Insolvenz oder kürzen und 4 000 Plätze streichen. Das nenne ich schofe- finanziellen Problemen gelten. Lieber Herr Hartmann, lig, und zwar zum einen gegenüber den Jugendlichen in lassen Sie sich Folgendes gesagt sein: Auch in unseren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9913

Dr. Thea Dückert (A) Reihen gibt es viele, die sich um die Kommunen sor- stehen muss. Auch für uns ist Eigeninitiative wichtig; (C) gen. Wir haben lange über den vorliegenden Gesetzent- denn wir wollen ja das duale System fördern, weil es ein wurf diskutiert und wesentliche Dinge festgelegt. Es Pfund für Deutschland ist. Da wir diese in der Debatte wird berücksichtigt, wenn sich die Kommunen, egal ob über unseren Gesetzentwurf erhobenen Einwände sehr kleine oder große, in der Ausbildung von jungen Leuten ernst nehmen, haben wir Folgendes hinzugefügt: Der oder beispielsweise in Ausbildungsgängen engagieren, von der Wirtschaft angekündigte Ausbildungspakt wird die nicht dem dualen System zugerechnet werden – wir Vorrang haben. Des Weiteren werden tarifvertragliche haben alle entsprechenden Bereiche im Gesetz ausge- Lösungen, die dem Schließen der Ausbildungsplatzlücke nommen –, oder wenn sie in der Arbeitsmarktpolitik dienen, Berücksichtigung finden. bzw. in der Arbeitsmarktintegration initiativ werden. Ich empfehle auch Ihnen von der FDP, unseren Gesetzent- Es ist wichtig, Folgendes deutlich zu machen: Wir ak- wurf zu lesen. Vielleicht kochen Sie dann Ihre Kritik auf zeptieren die bestehende Ausbildungsplatzlücke nicht. kleinerer Flamme. Wir wollen das duale System fördern und die betrieb- liche Ausbildung stärken. Nur in dem Fall, dass die Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft nicht initiativ wird und nicht Ausbildungsplätze in und bei der SPD) ausreichender Zahl zur Verfügung stellt, werden wir das Frau Böhmer hat in ihrer Rede – auch dieses Problem Instrument der Ausbildungsplatzumlage auf den Weg scheint mir etwas mit der PISA-Studie zu tun zu haben – bringen. aus Briefen, die sie vonseiten der Wirtschaft bekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat, vorgelesen und wollte damit darstellen, in welcher und bei der SPD) Situation sich die Betriebe nach Einführung der Ausbil- dungsplatzumlage befinden werden. Liebe Frau Böhmer, Zu der Debatte über die Ausbildungsplatzabgabe auch hier sollte man die komplette Wahrheit sagen. Es ist möchte ich Ihnen noch Folgendes sagen: Der momentan richtig, dass auch wir solche Briefe erhalten haben und zu beobachtende öffentliche Machtpoker ist unseriös. die Bedenken der Wirtschaft kennen. Aber wir haben Das, was uns die Wirtschaft anbietet, ist schizophren. Sie auch viele Briefe erhalten, in denen junge Leute ihre jah- sagt auf der einen Seite: Wir wollen den Pakt. Auf der relange Odyssee bei der Suche nach einem Ausbildungs- anderen Seite sagt sie: Wir schließen diesen Pakt ver- platz beschreiben. Wir haben Briefe von Aus- mutlich nicht, wenn ihr dieses Gesetz verabschiedet. Das bildungsträgern und Eltern bekommen, in denen ist doch merkwürdig. Dieses Gesetz schreibt fest: Die beschrieben wird, dass junge Leute kein Ausbildungs- Umlage greift nicht, wenn die Wirtschaft einen Pakt platzangebot erhalten, obwohl sie von Pontius zu Pilatus schließt. Gleichzeitig sagt die Wirtschaft: Wir wollen ei- (B) laufen und obwohl sie fit und ausbildungswillig sind. nen Pakt. Mit Hinweis auf das Gesetz will sie ihn aber (D) Das akzeptieren wir nicht. nicht schließen. Das verstehe wer will. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Wolfgang Thierse: und bei der SPD) Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Pinkwart von der FDP-Fraktion? Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist viel zu ernst, um weiterhin solche Spielchen zu treiben. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Spielchen? Herr Präsident, das tue ich nicht; denn ich habe ge- Wer macht denn Spielchen? Das ist doch un- rade von Frau Böhmer gelernt, dass wir in dieser Debatte verschämt!) keine Zwischenfragen zulassen. Ich möchte also fortfah- ren. – Spielchen macht die Wirtschaft, wenn sie die von mir gerade erwähnten Drohungen ausspricht. Spielchen ( [CDU/CSU]: Da ging es aber macht die Wirtschaft, wenn sie sagt: Wir wollen den um Herrn Tauss!) Pakt; aber wir schließen ihn nicht, wenn das Gesetz ver- Die neuen Zahlen belegen, dass die Lehrstellenlücke abschiedet wird. Das ist ein Spielchen, das ist ein Macht- größer wird. Das ist ein riesengroßes Problem. Deswe- poker. gen habe ich eben die Briefe angesprochen, in denen be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schrieben wird, was aufseiten der Jugendlichen ge- und bei der SPD) schieht. Aber die Hinweise in den Briefen aus der Wirtschaft zeigen auch, dass wir in Zukunft unter einem Die Bevölkerung hat das längst begriffen. 57 Prozent Facharbeitermangel leiden werden. Wir müssen dieses der Menschen in diesem Land sagen, dass in dieser Problem ebenfalls lösen. Diesem Zweck dient die Aus- Situation die mit diesem Gesetz beschlossene Umlage bildungsplatzumlage. der richtige Schritt ist. Ein Großteil der Bevölkerung sagt aber auch: Eigeninitiative hat Vorrang. Dem schlie- Die Umlage ist – auch das sage ich – kein Selbst- ßen wir uns an. zweck. Ich weiß, dass es harte Debatten – auch in unse- rer Fraktion – über dieses Instrument gibt, das dem Er- Wir haben uns mit vielen Einwänden auseinander ge- reichen des Ziels dient, mehr Ausbildungsplätze zu setzt. Ich sprach schon vorhin von den Problemen der schaffen. Es gibt grundsätzliche Einwände, die sich da- Kommunen. Wir sind darauf eingegangen. Wir haben rauf beziehen, dass die Eigeninitiative im Vordergrund uns natürlich damit auseinander gesetzt, wie es möglich 9914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Thea Dückert (A) ist, die betriebliche Ausbildung zielgerichtet zu unter- tionen auf, dies dann auch hier im Plenum und (C) stützen. Dabei haben wir zum Beispiel an kleine Unter- gegenüber der Öffentlichkeit deutlich zu machen. nehmen gedacht, was darin zum Ausdruck kommt, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wir auch Bildungsverbünde unterstützen. Wir haben uns damit auseinander gesetzt, dass es um duale Ausbil- dung geht. Bei Ausbildungsgängen wie denen in der Präsident Wolfgang Thierse: Pflege darf die Umlage natürlich nicht greifen. Kollegin Dückert, Sie haben Gelegenheit zur Reak- tion. Alles in allem muss ich Ihnen sagen: Auch die in un- serer Fraktion geäußerten Bedenken – einige haben eine Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sehr kritische Debatte geführt – sind mit den am Gesetz- entwurf vorgenommenen Änderungen – Vorrang für die Lieber Herr Kollege Pinkwart, das klang ziemlich Eigeninitiative; Vorrang für einen Pakt; Konzentration kompliziert. Sie haben auch ziemlich lange gebraucht, auf betriebliche Ausbildung – beseitigt worden. Unsere um das zu formulieren. Fraktion unterstützt dieses Gesetz. Ich hoffe, Sie machen (Lachen bei der CDU/CSU – Zuruf von der da mit. FDP: Das ist Ihr Gesetz!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich will Ihnen damit sagen: Es ist viel einfacher. Sie und bei der SPD) haben viele Worte für einen sehr einfachen Sachverhalt gebraucht. Präsident Wolfgang Thierse: Wenn die Kommunen einem Haushaltssicherungsver- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen fahren unterliegen – das ist der erste Punkt –, müssen sie Andreas Pinkwart das Wort. – das ist der zweite Punkt – einen Antrag stellen. So ein- fach ist das. Das ist die Voraussetzung, die erfüllt werden muss. Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herren! Frau Kollegin Dückert hat eben zum Ausdruck und bei der SPD – Widerspruch bei der FDP – gebracht, dass die Kommunen, insbesondere solche, die Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie kennen Ihr sich in einem Haushaltssicherungskonzept befinden, eigenes Gesetz nicht! Das ist ja peinlich!) von diesem Gesetzentwurf nicht betroffen seien. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der beamtete Präsident Wolfgang Thierse: (B) Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, Herr Ich erteile Kollegen Alexander Dobrindt, CDU/CSU- (D) Catenhusen, im Finanzausschuss des Deutschen Bundes- Fraktion, das Wort. tages – er hat sich in dieser Woche annähernd zwei Stun- den mit dem Gesetzentwurf und mit den Änderungsan- (Beifall bei der CDU/CSU) trägen der Koalitionsfraktionen befasst – den vorliegenden Gesetzentwurf auf Nachfragen dahin ge- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): hend interpretiert hat, dass nicht nur Kommunen, die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die „Süd- sich nicht in einem Haushaltssicherungskonzept befän- deutsche Zeitung“ berichtet heute darüber, dass Wirt- den, abgabepflichtig seien, sondern dass auch Kommu- schaftsminister Clement für kommenden Mittwoch zur nen, die sich in einem Haushaltssicherungskonzept be- Ausbildungsoffensive 2004 einlädt: fänden, durchaus abgabepflichtig sein könnten. Der Wirtschaftsminister hatte dem Vernehmen nach In § 10 dieses Gesetzentwurfs werden nämlich zwei kein Interesse, Bulmahn einzubinden, weil er von Bedingungen an den Härtefall geknüpft. Dabei geht es ihrer Mitarbeit an einer vergleichbaren Initiative im nicht nur um die Tatsache, dass ein Arbeitgeber kommu- vergangenen Jahr enttäuscht sei. nalaufsichtlichen Notbewirtschaftungsmaßnahmen un- Wer will das dem Wirtschaftsminister verdenken? terworfen sein müsse – ich verweise auf § 10 Abs. 1 die- ses Gesetzentwurfs –, sondern auch darum, dass er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gegenüber dem Bundesverwaltungsamt zusätzlich den neten der FDP) Nachweis erbringen müsse, dass seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht hinreichend sei, um eine solche Die heutige Debatte bringt es immer mehr zum Vor- Abgabe zu erbringen. schein: Ihr Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzumlage ist an Absurdität kaum zu überbieten. Anstatt die Rah- Herr Catenhusen war fest davon überzeugt, dass seine menbedingungen so zu ändern, dass Ausbildung in Heimatstadt Münster in Nordrhein-Westfalen nach dem Deutschland wieder in größerer Zahl möglich wird, ver- vorliegenden Gesetzentwurf die Ausbildungsplatzab- suchen Sie, diejenigen zu bestrafen, die unter ohnehin gabe zu zahlen habe, obwohl sie jetzt in ein Haushaltssi- schon großen Schwierigkeiten in Deutschland den Men- cherungskonzept komme. schen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Die Ankündigung von SPD und Grünen, die Kommu- Über ein Drittel der deutschen Unternehmen macht nen seien nicht betroffen, entbehrt damit jeder Grund- überhaupt keinen Gewinn mehr. 50 Prozent aller Mit- lage. Das Gegenteil ist der Fall. Ich fordere die Frak- telständler haben ihr Eigenkapital nahezu vollständig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9915

Alexander Dobrindt (A) aufgebraucht. Laut der Produktionsstudie 2004 des Städten und Gemeinden – das ist angesprochen wor- (C) Fraunhofer-Institutes will jedes zweite Unternehmen in- den – steht das Wasser bis zum Hals. Sie werden bei der nerhalb der nächsten drei Jahre seine Produktion teil- Bezahlung mit dabei sein und sie werden sich das Geld weise oder komplett nach Osten verlagern. Ihre Ausbil- über die Gewerbesteuer bei den Unternehmen wiederho- dungsplatzabgabe macht vielen diese Entscheidung len. Auch das ist Ihre Politik. deutlich leichter, und zwar deswegen, weil Sie den büro- kratischen Unsinn in unserem Land weiter verstärken, Sie schaden mit diesem Gesetz den Jugendlichen und weil Sie die Belastungen für die Unternehmen hoch- Sie schaden der Wirtschaft. Es ist beschämend, wenn in schrauben und weil Ihre Politik nicht mehr verlässlich dieser wirtschaftlich katastrophalen Situation, für die die ist. Bundesregierung verantwortlich ist, ein bürokratisches Monstrum geschaffen wird, nur um Ihre Gewerkschaften Schauen Sie sich das Gezerre um die Ausbildungs- und linken Ideologen zu bedienen, die gern einmal wie- platzumlage auch heute wieder an! Seit Wochen erzählen der die Lieder vom Klassenkampf singen würden. Das Sie öffentlich, welche Wunderwaffe dieses Gesetz für ist der wahre Grund. die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ist – einmal ab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gesehen von den ständigen Zwischenrufen unwesentli- cher Regierungsmitglieder, die schon lange darauf hin- Die eigentlich wichtige und richtige Aufgabe bleibt, weisen, dass es fahrlässig ist, dieses Gesetz zu dafür zu sorgen, dass junge Menschen in diesem Land verabschieden. Aber es liegt ohnehin die Vermutung wieder eine Perspektive bekommen, eine echte Zukunfts- sehr nahe, dass dieses Gesetz wohl eher einem einzigen chance, die ihnen auch nach einer erfolgreichen Lehre Arbeitsplatz liegen soll, nämlich dem des Parteivorsit- die Möglichkeit bietet, einen entsprechenden Arbeits- zenden der SPD. platz zu finden. Dazu muss die wirtschaftliche Wachs- tumsschwäche unterbrochen werden, die Jahr für Jahr (Ulla Burchardt [SPD]: Ach Gott! Das ist doch – Sie müssen sich diese Zahl einmal vor Augen halten – gar nicht originell!) 40 000 Unternehmensinsolvenzen verursacht und die – Hören Sie doch zu! heute die meisten Menschen davon abhält, sich über- haupt noch selbstständig zu machen. Das „Handelsblatt“ schreibt in seiner gestrigen Aus- gabe – das ist auch für Sie interessant –: Viele Kollegen – auch ich gehöre dazu – sind in den Schulen sowie in den Unternehmen und Betrieben unter- (Ulla Burchardt [SPD]: Haben Sie auch einen wegs, die ganz selbstverständlich ihre gesamtgesell- eigenen Gedanken?) schaftliche Aufgabe, die sie in diesem Zusammenhang (B) haben, wahrnehmen wollen und mit großen Anstrengun- (D) SPD-Chef Müntefering hat noch rechtzeitig die gen – auch das muss gesagt werden – in den letzten Jah- Kurve gekriegt. Und das offenbar nicht nur aus tak- ren bei den Nachvermittlungen zusätzliche Ausbildungs- tischen Gründen, sondern aus der Einsicht heraus, plätze geschaffen haben. Diese sagen in den Gesprächen dass die Abgabe viel Schaden anrichten würde und aber auch immer wieder deutlich, dass sie an der Grenze vermutlich nicht das gewünschte Ergebnis bringt. ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind, und fordern dringend eine Entrümpelung des Berufsbildungsgesetzes Ich persönlich glaube, dass das „Handelsblatt“ hier ei- ein. Wir haben entsprechende Vorschläge gemacht, wie ner Fehlinformation aufgesessen ist. Von Einsicht kann die Ausbildungsplatzsituation positiv beeinflusst werden überhaupt keine Rede sein. Sonst würden Sie diesen Ge- kann. Ich fordere Sie auf, diesen unseren Vorstellungen setzentwurf – er ist ohnehin das Papier nicht wert, auf zu folgen. dem er steht – heute zurückziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Meine Damen und Herren, das einzig Entscheidende und Wichtige an dieser Debatte ist, dass die Hoffnung Diese Ausbildungsplatzabgabe wird zu gewaltigen bleibt, dass das Engagement aller gesellschaftlichen Fehlsteuerungen innerhalb des Arbeitsmarktes führen. Gruppen dazu führen wird, dass es Ende dieses Jahres In Branchen, in denen überhaupt keine Arbeitsplätze zur 2004 keine Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz mehr Verfügung stehen, werden zukünftig mehr Menschen gibt. Sie können aber sicher sein, dass, wenn es dazu ausgebildet werden, um anschließend auf der Straße zu kommt, Ihr Gesetzentwurf dazu nicht beigetragen hat. stehen und dann mit teurem Geld von der Bundesagentur für Arbeit in Umschulungen qualifiziert zu werden. Ich (Beifall bei der CDU/CSU) kann mir nicht vorstellen, dass dies richtig ist. Präsident Wolfgang Thierse: Betriebe, die hart ums Überleben kämpfen und ein- fach nicht mehr die Kraft haben, Lehrlinge auszubilden, Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. werden mit zusätzlichen Kosten und Bürokratie belastet. Dafür können sich gut verdienende Großkonzerne zu- Petra Pau (fraktionslos): künftig über ordentliche Subventionen freuen, wenn sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Lehrlinge zusätzlich ausbilden und die anschließend auf Streit um eine Ausbildungsplatzumlage hat die Jahrhun- die Straße setzen. Das ist Ihre Politik, meine Damen und dertwende überdauert und hält an. Dabei wird er mit Herren! ganz eigenartigen Argumenten weitergeführt. 9916 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Petra Pau (A) Ich will gleich vorneweg wiederholen, was ich in der Bremerhaven, eine Chance bekommen und nicht von der (C) ersten Lesung gesagt habe: Die PDS im Bundestag Schulbank weg in ein ungewisses Schicksal entlassen stimmt für eine Ausbildungsplatzumlage, obwohl, liebe werden. Zweitens wollen wir, dass diejenigen, die bisher Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, das vorlie- ausbilden und es auch weiterhin tun wollen, nicht in gende Gesetz nicht unbedingt das Gelbe vom Ei ist. finanzieller Hinsicht die Dummen sind, während andere sich durch Nichtstun eine goldene Nase verdienen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Deshalb ist die PDS für eine Ausbildungsplatz- umlage; sie ist längst überfällig. Ich hoffe, dass Sie nicht Wir sind nicht etwa für die Umlage, weil uns nun plötz- unsere zwei Stimmen brauchen, um diese Umlage heute lich die Regelwut erfasst hätte. Wir sind für eine Ausbil- durchzubekommen, sondern bis zum heutigen Morgen dungsplatzumlage, weil es zu viele Jugendliche gibt, die genügend Überzeugungsarbeit dafür geleistet haben, keine Lehrstelle bekommen. 35 000 Lehrstellen fehlen dass Rot-Grün zu diesem Gesetzentwurf bis zur Umset- nach Ansicht der Bundesregierung; allein das wäre zung steht. schon schlimm. Real sind es aber rund 200 000 und das ist schlimmer. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Nun haben die Ministerpräsidenten Beck und Steinbrück – beide SPD – einen Ausbildungspakt ins Spiel gebracht. Das ist, wie ich finde, wahrlich keine Präsident Wolfgang Thierse: neue Idee, zumal die Hoffnung, dass die Wirtschaft von Ich erteile das Wort Kollegin Nicolette Kressl, SPD- sich aus ausreichend Lehrstellen anbietet, seit Jahren im- Fraktion. mer wieder getrogen hat. Deshalb ist der Steinbrück/ (Beifall bei der SPD) Beck-Vorstoß aus meiner Sicht unglaubwürdig. Mir sind übrigens die SPD-internen Kontroversen weitgehend Nicolette Kressl (SPD): egal. Ich halte hier für das Protokoll nur fest, dass maß- gebliche SPD-Politiker im Zweifel als Anwalt der Unter- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nehmen und nicht als Anwalt der Zukunft operieren, Wenn jemand in der heutigen Debatte ausschließlich die ganz so wie Minister Clement beim Klimaschutz. Rednerinnen und Redner der Opposition gehört hätte, wäre ihm nicht klar geworden, um was es eigentlich (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- geht. tionslos]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unserer Meinung nach geht der so genannte Ausbil- DIE GRÜNEN) (B) dungspakt auch an der Sache vorbei. Zum Ersten soll der (D) Denn was Sie gebracht haben, war ausschließlich Genör- Pakt zu einem Drittel durch Steuergelder finanziert wer- gel; Sie haben keinen einzigen konkreten Vorschlag ge- den. Mit einem solchen Pakt würden also der unbefriedi- macht. gende Status quo und die Flucht der Unternehmen aus ihrer Verantwortung noch legalisiert werden. Zum Zwei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten soll der Pakt Ländersache sein. Das heißt, die Län- DIE GRÜNEN) der, die arm dran sind, bleiben auch arm, und die Länder, Ich will Ihnen sagen, um was es geht. Es geht um in denen mehr ausgebildet werden könnte, werden aus zwei wichtige Dinge: zum einen um Zukunftschancen der Solidarität entlassen. Schließlich soll der Pakt auch für junge Leute – bedeutend für die Stabilität von Gesell- noch eine Alternative zur Umlage darstellen nach dem schaft und Demokratie – Motto: Entweder-oder. Der Steinbrück/Beck-Vorstoß trägt also obendrein auch noch erpresserische Züge. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) und zum anderen um die Zukunftsfähigkeit von Wirt- schaft. Die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft ist einer- Tatsache ist: Drei von vier Unternehmen bilden nicht seits deshalb notwendig, weil wir dringend ausreichend aus, obwohl viele von ihnen es könnten. Das ist unmora- Fachkräfte brauchen und im Hinblick darauf lang- und lisch, asozial und übrigens auch rechtlos. Regelrecht mittelfristig denken müssen, und andererseits deshalb, dumm wird es, wenn dieselben Unternehmen, die nicht weil junge Leute – ich habe immer den Eindruck, das ausbilden, nun drohen: Kommt die Umlage, dann bilden wird gerne vergessen –, wenn wir ihnen keine Ausbil- wir überhaupt nicht mehr aus. Dass die Opposition zur dung ermöglichen, Sozialkosten verursachen. Sie tun so, Rechten diesen Blödsinn auch noch durch alle Medien als ob nur Unternehmen und nicht alle Bürgerinnen und trägt, spricht nicht gerade für ihre PISA-Tauglichkeit. Bürger das letztlich über Steuermittel bezahlen müssten. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionslos]) Das Schlechteste, was wir machen können, ist, die jun- Ich wiederhole für die PDS im Bundestag: Wir hätten gen Leute zu Sozialhilfeempfängern der Zukunft werden gern ein besseres Gesetz. Deshalb haben wir entspre- zu lassen, deren Kosten wir alle gemeinsam tragen müs- chende Änderungsanträge gestellt. Wir haben zwei sen. Grundanliegen: Wir wollen, dass alle Jugendlichen, egal ob in Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland oder in (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9917

Nicolette Kressl (A) Wir diskutieren eigentlich gern mit Ihnen über den Die dritte Säule der Freiwilligkeit: In diesem Gesetz (C) Weg, um das Ziel einer qualifizierten Ausbildung für alle ist die Möglichkeit einer konzertierten Aktion verankert. zu erreichen. Das Problem ist nur, dass es nichts gibt, Wirtschaft, Staat und andere wichtige beteiligte Partner worüber wir mit Ihnen diskutieren könnten. sollen verbindliche Vereinbarungen hinsichtlich Ausbil- dungsplatzangeboten für junge Leute treffen. Auch die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ser Teil des Paktes hat Vorrang vor den Instrumenten des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesetzes. Es ist die größtmögliche Einbindung von Frei- Sie legen uns zwei Vorschläge vor. Der eine beinhaltet willigkeit, ohne dass wir uns auf den Goodwill der Be- die Kürzung der Ausbildungsvergütung. Dazu kann ich teiligten verlassen müssen. nur sagen: Wir wissen genau, was Tarifautonomie heißt. Sie tun hier so, als könne der Bundestag per Gesetz be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schließen, dass alle Ausbildungsvergütungen gekürzt Die jungen Leute brauchen nicht Goodwill, sondern ver- werden. Wir haben uns aber in allen Bereichen für Tarif- bindliche freiwillige Vereinbarungen. Das ist der beste autonomie eingesetzt, selbstverständlich auch in diesem. Weg. Sie scheinen nicht zu wissen, wo welche Kompetenzen liegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie sich diesen Pakt anschauen, dann werden Sie feststellen, dass viele der uns bekannten Probleme Ihr zweiter Vorschlag ist die Novellierung des aufgegriffen wurden. Wir wissen, dass es junge Men- Berufsbildungsgesetzes, die Sie als Alternative darstel- schen gibt, die die Berufsreife noch erlangen müssen. len. Da kann ich Ihnen nur sagen: Herzlich willkommen Deshalb unterstützen wir ausdrücklich den Vorschlag, im Klub! Schon am 9. Februar hat die Bundesbildungs- dass in Zusammenarbeit und unter Mitwirkung der Wirt- ministerin Eckpunkte zur Novellierung des Berufsbil- schaft junge Leute über Praktikumsplätze zur Berufs- dungsgesetzes vorgelegt; denn wir wissen selbstver- reife geführt werden. Wir wissen, dass dies notwendig ständlich, dass es Strukturveränderungen geben muss. ist. Der Staat nimmt seine Verantwortung wahr, indem er Wir haben das bereits in unserem Koalitionsvertrag fest- entsprechende Leistungen erbringt. Das stellen wir uns geschrieben. Wenn Sie auf diesem Weg jetzt langsam unter einer konzertierten Aktion vor. Wir begrüßen die- hinterherhüpfen und behaupten, Ihre Vorschläge seien sen Teil des Paktes ganz ausdrücklich. Auch von Herrn Alternativen, dann können Sie doch nicht ernsthaft glau- Braun gab es einen entsprechenden Vorschlag. ben, dass die Menschen nicht merken, dass Sie mit Ihren Vorschlägen in Wirklichkeit nur hinterherhinken! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir müssen gemeinsam schauen – das begrüßen wir ebenfalls ausdrücklich, weil wir wissen, worauf es an- Lassen Sie mich noch einmal Folgendes deutlich ma- kommt –, wie regionale Unterschiede überbrückt werden chen. Gerade weil es um die Zukunft junger Leute geht, können und wie Angebot und Nachfrage im Bereich der hat Freiwilligkeit für uns in drei wichtigen Punkten Vor- verschiedenen Kammern besser zueinander gebracht rang: werden können. Wir sind bereit, eine entsprechende Un- Erstens hat Freiwilligkeit für uns Vorrang, weil erst terstützung zu leisten; denn es macht natürlich Sinn, dass am 30. September entschieden wird, ob die Instrumente beispielsweise die Kammer in Dresden mit der Kammer der Umlage greifen. Am liebsten wäre uns, wenn wir am in Stuttgart zusammenarbeitet. Die Kammern können 30. September feststellen könnten, dass es genügend gemeinsam überlegen, wie Unternehmen, die verzwei- Ausbildungsplätze gibt, und vom Kabinett beschließen felt junge Leute suchen, Informationen über die jungen lassen könnten, dass wir die Instrumente nicht einsetzen Leute bekommen können, die in den neuen Bundeslän- müssen. dern Ausbildungsplätze suchen. Es macht Sinn, Angebot und Nachfrage näher zusammenzubringen. Wir werden Die zweite Säule der Freiwilligkeit: Die tariflichen im Rahmen des Paktes unseren Teil dazu beitragen. Vereinbarungen sollen ausdrücklich Vorrang erhalten; denn wir wissen natürlich, dass in branchenbezogenen Erst wenn wir erkennen würden – was ich nicht Tarifverträgen einige regionale und branchenspezifi- hoffe –, dass dieser Pakt nicht greift, würden wir zu dem sche Besonderheiten besser aufgegriffen werden können Instrument einer solidarischen Umlagefinanzierung als durch ein Gesetz. Ich kann daher nur an die Tarifpart- zwischen den Unternehmen greifen. Aber auch an dieser ner appellieren: Tut etwas! Ihr könnt es besser als wir! Stelle will ich ausdrücklich sagen: Die solidarische Um- lagefinanzierung, die im Gesetz verankert ist, ist keine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Strafabgabe. Damit soll vielmehr erreicht werden, dass Wenn ihr es allerdings nicht auf freiwilliger Basis hinbe- Unternehmen, die viel und engagiert ausbilden, eine För- kommt, dann greifen die gesetzlichen Instrumente. – Für derung erhalten, die mit dem Geld derjenigen Unterneh- uns sind auch zukünftig freiwillige tarifliche Vereinba- men finanziert wird, die zu wenig oder gar nicht ausbil- rungen besser als die Anwendung dieser Instrumente. den. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 9918 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Nicolette Kressl (A) Dies ist ein solidarisches Prinzip. Das eingenommene Die zweite Bemerkung: Wir befinden uns im sechsten (C) Geld geht also nicht in einen staatlichen Topf und wird Jahr der Regierung der rot-grünen Koalition. In diesem nicht an die Schulen verteilt, sondern mit dem Geld der sechsten Jahr der Regierung ist das Problem der Ausbil- Unternehmen, die sich weniger stark engagieren, werden dung so groß wie noch nie in der Geschichte der Bundes- diejenigen Unternehmen unterstützt, die sich schon seit republik Deutschland. Jahren – viele davon überdurchschnittlich – bei der Aus- bildung engagieren. Deren Leistung wird auf diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weise stärker als bisher honoriert. neten der FDP) 182 000 Fehlplätze hat es in den zurückliegenden Jahren (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu diesem Zeitpunkt im Jahr noch nie gegeben. Seitdem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie regieren, vergrößert sich diese Lücke Jahr für Jahr. Ich will Ihnen einmal sagen, wie die Realität aussieht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Sie die mittelständischen Unternehmen fragen, was deren Problem ist, dann hört man die Antwort – wir Wer ist hier eigentlich Täter und wer ist Opfer? Diese haben das oft erlebt –, dass sie es nicht akzeptabel fin- Frage wurde ja zu Anfang gestellt, Herr Kollege Brase. den, dass sie seit vielen Jahren mit viel Engagement aus- Opfer sind – bedauerlicherweise und ganz eindeutig – bilden, dass aber hinterher die Unternehmen, die nicht die Jugendlichen. Opfer sind die mittelständischen Un- ausbilden, ihnen die Arbeitskräfte wegschnappen, weil ternehmen, deren wirtschaftliche Basis so gefährdet ist, sie etwas mehr zahlen. Dies zu verhindern ist Kern der dass ihnen das Ausbilden täglich schwerer fällt. Täter Umlagefinanzierung, die in diesem Gesetz enthalten ist. sind diese Bundesregierung und die Regierungsfrak- Deshalb ist es wirtschaftsnah organisiert und orientiert tionen. Sie sind nach sechs Jahren Regierung für das ver- sich an den Interessen der Unternehmen. antwortlich, was sich hier abbildet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neten der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Schauerlich!) Ich kann nur an die Wirtschaftsverbände appellieren: Sie haben uns das Angebot eines Paktes mit der Wirt- Damit klar wird, wer hier Opfer und Täter ist, nur schaft gemacht. Wir nehmen es gerne an. Lassen Sie uns eine Zahl ins Verhältnis gesetzt: Wir haben in diesem gemeinsam zum Ziel kommen; denn das wäre die beste Moment 25 000 weniger Angebote an Ausbildungsplät- Lösung! Aber eines ist für uns als politisch Verantwort- zen als im Vorjahr. Wir hatten aber in diesem Jahr liche auch klar: Wenn wir diese Lösung nicht hinbekom- 40 000 Pleiten mehr als im Vorjahr. (B) men, dann wissen wir, worin unsere Verantwortung be- (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und steht. Dann nehmen wir im Zweifel unsere staatliche und der FDP) politische Verantwortung wahr. Die jungen Leute haben genau dies verdient. Wenn nur die Hälfte derer, die Pleite gegangen sind, nicht mehr ausbilden kann – was ja wohl wahrscheinlich Vielen Dank. ist, Herr Kollege Brase –, dann ist die Verschlechterung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ausbildungssituation allein an der Zahl der wirt- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftlich und politisch bedingten Pleiten im Mittelstand festzumachen. Das ist Ihre Täterschaft. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem neten der FDP) Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion, das Damit Sie erkennen, wie richtig das ist, was wir hier Wort. vortragen, ein Beispiel, das Ihnen weh tut: In zwei Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) desländern der Bundesrepublik Deutschland, in denen die CSU bzw. die CDU seit Jahren eine unzweifelhaft gute Wirtschaftspolitik macht, in Bayern und in Baden- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Württemberg, gibt es keine Ausbildungsplatzlücke, son- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vor- dern einen Ausbildungsplatzüberschuss. bemerkung: Niemand sollte hier wechselseitig unterstel- len, dass wir das Thema, über das wir heute beraten, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht wirklich ernst nehmen und nicht nach einer Lösung neten der FDP) suchen. In allen anderen Ländern der Bundesrepublik Deutsch- (Franz Müntefering [SPD]: Pauschale Aus- land ist, je länger sie rot regiert worden sind, die Ausbil- rede!) dungsplatzlücke ständig größer geworden. Je länger Rot, desto größer die Ausbildungsplatzlücke! Wirtschaft kön- Wir von der Union lassen uns in der Ernsthaftigkeit bei nen Sie nicht und deshalb können Sie auch keine Ausbil- der Suche nach einer vernünftigen Lösung von nieman- dung! dem übertreffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9919

Hartmut Schauerte (A) Dann wird hier die These verkündet, dass die Sache in Ausbildung wird in Deutschland deutlich teurer werden. (C) Dänemark, Herr Bertl, so hervorragend laufe. Die hätten Sie ist eine Fehlsteuerung. eine Ausbildungsplatzabgabe und dort laufe es tadellos. Wissen Sie eigentlich nicht, wovon Sie reden? (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) (Hans-Werner Bertl [SPD]: Doch!) Für diese Fehlsteuerung will ich Ihnen ein Beispiel Dänemark hat – mit Abgabe – eine Ausbildungsquote nennen, über das bisher noch nicht diskutiert worden ist. von 3 Prozent; Deutschland hat – ohne Abgabe – eine Ich bin gestern – das soll mein letzter Punkt sein – mit Ausbildungsquote von 6,5 Prozent. Herzlichen Glück- einem Unternehmenschef aus der Finanz- und Versiche- wunsch zu diesem Beispiel, das in der Tat in die Irre rungsbranche zusammengekommen. Er hat mir erklärt, führt! er zahle gegenwärtig pro Jahr für die Ausbildung in sei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nem Unternehmen 17 Millionen Euro und seine Be- neten der FDP) triebswirte hätten ausgerechnet, welche Auswirkungen die Ausbildungsplatzabgabe für sein Unternehmen ha- Ich kann nur hoffen, dass die Wirtschaft wegen dieses ben würde. Sie sind zu folgendem überraschenden Er- Gesetzes, das Sie heute aus parteipolitischen und macht- gebnis gekommen: Wenn er diese 17 Millionen Euro politischen Gründen durchpeitschen, den angebotenen nicht mehr in die Ausbildung stecken und stattdessen die Pakt nicht verweigert. Ich habe große Sorge; denn unter Ausbildungsplatzabgabe in vollem Umfang zahlen Druck kommen freiwillige Lösungen verdammt schlecht würde, müsste er dafür 7 Millionen Euro aufbringen. Er zustande. Herr Brase, das wissen Sie als alter Gewerk- würde 10 Millionen Euro an der von Ihnen organisierten schaftler. – Da Sie mich so kritisch anblicken, möchte Ausbildungsplatzabgabe „verdienen“. ich eine interessante Bemerkung an Sie richten, Herr Brase: Je kleiner die Betriebe in Deutschland und je ge- Es ist eine katastrophale Fehlsteuerung zu erwarten, ringer der gewerkschaftliche Einfluss sind, desto höher eigentlich gibt es sie jetzt schon. Kluge Leute sagen, die ist die Ausbildungsleistung. Größe der Ausbildungslücke, die wir jetzt zu Recht be- klagen, sei zum Teil aus der wirtschaftlichen Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung gespeist – darüber habe ich schon gesprochen – und Je größer die Betriebe und der gewerkschaftliche Ein- sei zu einem großen Teil schon die Frühreaktion auf das fluss in Deutschland sind, desto schlechter ist die Aus- Kommende. Sie verteuern die Ausbildung in Deutsch- bildungsquote. Darüber sollten Sie hauptberuflich nach- land und erweisen den jungen Menschen keinen guten, denken und sich darum kümmern. sondern einen schlechten Dienst. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage Dies ist kein guter Tag für die Ausbildung in Deutsch- des Kollegen Niebel? land, leider! (Zurufe von der SPD: Nein! – Das ist hier eine Herzlichen Dank. Schmierenkomödie!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ja, natürlich. Ich schließe die Aussprache.

Dirk Niebel (FDP): Wir kommen zur Abstimmung über den von den Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Schauerte. Sie Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen haben zu Recht die hervorragende Wirtschaftspolitik in eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung und För- Baden-Württemberg gelobt. Würden Sie mir bitte bestä- derung des Fachkräftenachwuchses und der Berufsaus- tigen, dass der Wirtschaftsminister in Baden-Württem- bildungschancen der jungen Generation, Drucksache berg, Dr. Walter Döring, von der FDP ist? Sie haben lei- 15/2820. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und der vergessen, zu erwähnen, dass wir dort zusammen Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner regieren. Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3064, den Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor, über den wir zu- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): erst abstimmen. Herr Kollege Niebel, Sie haben Recht. Durch gute Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache CDU-Wahlergebnisse haben wir es Ihnen ermöglicht, 15/3113? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än- den Wirtschaftsminister zu stellen. derungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – gen die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordne- Beifall bei der CDU/CSU) ten abgelehnt. Was bringt die Ausbildungsplatzabgabe? Sie bringt Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der mehr Bürokratie und verteuert die Ausbildung. Die Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- 9920 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offenkundig (C) entwurf ist in zweiter Beratung angenommen. nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen dritten Beratung auf Drucksache 15/3055 mit dem Titel „Ausbil- und Schlussabstimmung. Dazu liegt eine größere Zahl dungschancen für alle jungen Frauen und Männer si- von persönlichen Erklärungen nach § 31 der Geschäfts- chern – durch einen konzertierten Ausbildungspakt“. ordnung vor. Ich will die Namen nicht im Einzelnen vor- Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – tragen. Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Es wurde namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte tionsfraktionen angenommen. die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze ein- zunehmen. – Sind alle Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b so- Dann eröffne ich die Abstimmung. wie Zusatzpunkt 8 auf: Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge- 22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter geben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstim- Paziorek, Cajus Julius Caesar, Dr. Maria mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, Flachsbarth, weiterer Abgeordneter und der Frak- mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab- tion der CDU/CSU stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Naturschutz im Miteinander von Mensch, Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen, damit wir mit Tier, Umwelt und wirtschaftlicher Entwick- den Abstimmungen weitermachen können. lung Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent- – Drucksache 15/2467 – schließungsanträge. Wer für den Entschließungsantrag Überweisungsvorschlag: der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Sportausschuss nen auf Drucksache 15/3066 stimmt, den bitte ich um Rechtsausschuss das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koa- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und litionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions- Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus fraktionen bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Ab- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union geordneten angenommen. (B) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta (D) Wer für den Entschließungsantrag der Fraktion der Connemann, Peter H. Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU auf Drucksache 15/3067 stimmt, den bitte ich Dr. Peter Jahr, weiterer Abgeordneter und der um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Fraktion der CDU/CSU gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der CDU/ Vertrauensvolle und konstruktive Zusammen- CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion abge- arbeit zwischen Landwirtschaft und Umwelt- lehnt. schutz stärken Tagesordnungspunkt 21 b: Beschlussempfehlung des – Drucksache 15/2969 – Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Überweisungsvorschlag: abschätzung auf Drucksache 15/3064 zu dem Antrag der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Fraktion der FDP mit dem Titel „Ausbildungsplatzab- Rechtsausschuss gabe verhindern – Wirtschaft nicht weiter belasten – Be- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit rufsausbildung stärken“. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der Ausschuss empfiehlt unter Ziffer 2 seiner Be- ZP 8Beratung des Antrags der Abgeordneten schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/2833 Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Goldmann, Dr. Volker Wissing, weiterer Abge- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die ordneter und der Fraktion der FDP Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Projekt des Umweltbundesamtes zur so ge- tionsfraktionen und den Stimmen der beiden fraktions- nannten verdeckten Feldbeobachtung stoppen losen Abgeordneten gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. – Drucksache 15/2668 – Überweisungsvorschlag: Zusatzpunkt 6: Beratung des Gesetzentwurfs der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Fraktion der FDP zur Änderung des Berufsbildungsge- Landwirtschaft (f) setzes. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wurfs auf Drucksache 15/3042 an die in der Tagesord- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so 1) Ergebnis Seite 9922 D beschlossen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9921

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- der, die bereitgestellt wurden, werden schon nach kur- (C) ner dem Kollegen Cajus Julius Caesar von der CDU/ zem, nach vorübergehenden Lockangeboten, wieder ge- CSU-Fraktion das Wort. kürzt oder sogar gänzlich gestrichen. Das schafft kein Vertrauen, das führt nicht dazu, dass der Umwelt- und (Beifall bei der CDU/CSU) Naturschutz vor Ort tatsächlich erfolgreich ist und vo- rankommt, wie wir als Union es wollen. Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bewahrung der Schöpfung und der Schutz der na- Wir fordern die Bundesregierung auch auf, in Berei- türlichen Lebensgrundlagen stellen für unsere Gesell- chen der nationalen Bedeutung von Umwelt- und Natur- schaft die zentrale Herausforderung dar. Wir als Union, schutz, etwa beim Grünen Band – der ehemaligen als CDU und CSU, wollen der zukünftigen Generation, Zonengrenze mit immerhin 1 400 Kilometern Länge –, wollen unseren Kindern eine intakte Umwelt übergeben. wo es möglich wäre, den Biotopverbund exzellent auf Dies ist aus unserer Sicht nur gemeinsam möglich: in- den Weg zu bringen, endlich tätig zu werden und ihrer dem alle politischen Kräfte gebündelt werden und wir Verantwortung gerecht zu werden. Hier kann man tat- gemeinsam den Weg in die richtige Richtung beschrei- sächlich beweisen, dass man etwas für die Natur, dass ten. Lassen Sie uns dies im Miteinander angehen; das man etwas für den praktischen Naturschutz vor Ort und bedeutet auch, Ökologie, Ökonomie und die soziale die Biotopvernetzung umsetzen will. Komponente, also drei Säulen, gleichermaßen zu be- rücksichtigen. Das bedeutet zugleich: weniger Staat, we- Wir fordern auch, dass dort, wo die Waldbesitzer, wo niger Bürokratie und die vor Ort betroffenen Menschen die Landwirte im Rahmen der ordnungsgemäßen Land- einzubeziehen. und Forstwirtschaft Ausgezeichnetes leisten, dieses mehr als bisher anerkannt und nicht durch zusätzliche Dies wollen wir unter der Überschrift „Vertragsnatur- gesetzliche Regelungen infrage gestellt wird. schutz“ und nicht, wie dies oft bei SPD und Grünen der Fall ist, durch die Voranstellung hoheitlicher Maßnah- Wir als Union wollen auch, dass den nachwachsen- men auf den Weg bringen. Deshalb bedauern wir es sehr, den Rohstoffen, insbesondere der Biomasse, mehr Be- dass unser Antrag, 3 Millionen Euro mehr für freiwillige deutung beigemessen wird, als das derzeit der Fall ist. vertragliche Vereinbarungen zur Verfügung zu stellen, Dann braucht man nicht mehr auf jeden kleinen Hügel abgelehnt wurde. Dies bedeutet, Geld statt für Projekte eine Windkraftanlage zu stellen und bestimmten Investo- für Personal und Prospekte bereitzustellen. Das können ren Renditen von über 10 Prozent zu versprechen, die (B) wir nicht hinnehmen. zulasten der Biomasse, zulasten effektiver regenerativer (D) Energien gehen. Wir wollen der Biomasse eine Chance (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geben – im Sinne von CO2-Neutralität und weniger CO2, neten der FDP) im Sinne von Klimaschutz, von Umweltfreundlichkeit Wir wollen den Weg der Kooperation, nicht den der und insbesondere auch im Sinne von Nachhaltigkeit. Konfrontation. Wir wollen die vor Ort wirtschaftenden (Beifall bei der CDU/CSU) und arbeitenden Menschen einbeziehen. Die vielen ge- setzlichen Regelungen, auch die der vergangenen Mo- Die nachwachsenden Rohstoffe haben diese Chance ver- nate, führten zu einem Bürokratiedschungel, den kaum dient. noch jemand durchschauen kann: weder die Bürger und die Betriebe noch all diejenigen, die die Dinge vor Ort Wir fordern von der Regierung, im Sinne der Bio- voranbringen sollen. masse und der Chance für die nachwachsenden Roh- stoffe insbesondere auch die „Charta für Holz“ endlich Deshalb ist es auch nicht hinnehmbar, dass neben die vorzulegen. Wir fordern die Bundesregierung auch auf, Fachgesetze – etwa durch die „gute fachliche Praxis“ bei sich dafür einzusetzen, dass in unterdurchschnittlich be- der Landwirtschaft oder bei der vorgesehenen Novellie- waldeten Gebieten die Möglichkeit der Waldvermeh- rung des Bundeswaldgesetzes – weitere, wahllos heraus- rung besteht. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich gegriffene Formulierungen gestellt werden. Dies führt zu endlich im Marketing und auch in der Forschung für die mehr Bürokratie und Undurchschaubarkeit und behin- nachwachsenden Rohstoffe mehr als bisher einzusetzen. dert damit den praktischen Naturschutz vor Ort. Das ist Dies ist wichtig, auch im Sinne der Chancen des Klima- nicht die Politik der Union, das ist nicht die Politik, die schutzes und des Umweltschutzes. Wenn man dies zu- wir wollen. dem mit einem sinnvollen Miteinander verbindet, dann werden wir auch erfolgreich sein. Das gilt im Übrigen (Beifall bei der CDU/CSU) auch für den Bereich des Tourismus und des Sports, der Meine sehr geehrten Damen und Herren, zudem muss nicht nur der Gesunderhaltung unserer Menschen dient, es so sein, dass das Vertrauen zwischen der Politik und sondern auch dafür sehr gut geeignet ist, die erwähnten denen, die vor Ort Verantwortung tragen – den Bürgern, Säulen – hier die wirtschaftliche Entwicklung und damit aber auch den Vereinen –, weiterhin aufgebaut wird, auch den Tourismus sowie die Ökologie und den Um- nicht abgebaut wird. Gelder, die die Regierung für Ein- welt- und Naturschutz vor Ort – zu vereinbaren und griffe etwa im Zusammenhang mit der FFH-Regelung unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Entwicklung versprochen hat, werden eben nicht gezahlt. Oder Gel- im Sinne der ländlichen Räume zu handeln. Das ist die 9922 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Cajus Julius Caesar (A) Politik der Union, das ist die Politik, die wir voranbrin- die aus Biomasse, die Förderung der Windenergie durch (C) gen wollen. die Einspeisevergütung der jetzigen Bundesregierung aber etwa zehnmal so hoch. Das sehen wir als ungerecht (Beifall bei der CDU/CSU) an und würden andere Prioritäten setzen. Bei der Nut- Wir wollen aber auch die Leistungen anerkennen, die zung der Biomasse werden zum Beispiel keine Parallel- beispielsweise Jäger oder Waldbesitzer erbringen. Es kapazitäten bei Kraftwerken benötigt wie bei der Nut- macht doch keinen Sinn, gerade jetzt etwa das Jagd- zung von Wind. Wenn der Wind zu schwach ist oder zu recht zu novellieren, wo man gerade – im Rahmen der stark weht und Anlagen abgeschaltet werden müssen, Föderalismusdiskussion – darüber diskutiert, welche müssen andere Kraftwerkskapazitäten vorgehalten wer- Kompetenzen der Bund, welche Kompetenzen die Län- den. Die Nutzung der Biomasse dagegen steht nachhaltig der künftig haben sollen; das geht nach dem Motto „Rein zur Verfügung und ist umweltfreundlich. in die Kartoffeln – raus aus den Kartoffeln“. Wir wollen auch die positiven Leistungen der Jäger anerkennen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) etwa im Bereich Bildung – ich nenne das Stichwort Wir sind der Meinung, dass hier andere Prioritäten ge- „Lernort Natur“ – und im Bereich der Biotopgestaltung setzt werden müssen. Dies wollen wir für den ländlichen und -pflege. Das sollten wir anerkennen. Raum, für die Land- und Forstwirte, aber auch für den Klima- und Umweltschutz tun. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jörg Tauss [SPD]: Dann machen Sie das Herr Kollege Caesar, erlauben Sie eine Zwischen- doch! Wer hindert Sie daran?) frage der Kollegin Wolff? Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss auf die Leistung der Vereine, der Verbände, Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): der Institutionen und des Ehrenamtes zu sprechen. Es Ja, gerne. ist für uns unverständlich, dass die Regierung im Haus- halt gerade die Mittel für den Bund für Heimat und Umwelt, der 500 000 Mitglieder der Heimatvereine ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tritt, drastisch gekürzt hat und damit die ehrenamtlich Bitte schön, Frau Wolff. Tätigen bei der Arbeit, die sie leisten, trifft. Dabei findet man in den Erläuterungen zum Haushalt die Aussage Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): von Regierungsseite, dass der Bund für Heimat und Um- (B) welt – sinngemäß – Hervorragendes und Außerordentli- (D) Herr Caesar, ich muss noch einmal auf das EEG zu- ches leiste. Die Mittel sind, wenn man die Haushaltsan- rückkommen; der amtierende Präsident hatte meine Mel- sätze vergleicht, von rund 250 000 Euro im Jahr 2000 dung nicht gleich gesehen. Können Sie mir, wenn Sie auf rund 50 000 Euro im vergangenen Jahr zurückgegan- sich zum EEG hier so äußern, bitte sagen, weshalb die gen. Das können wir nicht hinnehmen. Wir wollen das CDU/CSU in der letzten Sitzungswoche die Novellie- Ehrenamt unterstützen, weil die ehrenamtlich Tätigen rung des EEG abgelehnt hat? Dann würde ich gern wis- Herausragendes leisten. sen, wie Sie abgestimmt haben, wenn Sie hier die nach- wachsenden Rohstoffe derartig favorisieren. Und sind Mit unserem Antrag „Naturschutz im Miteinander Sie bereit, sich im Bundesrat dafür stark zu machen, dass von Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftlicher Ent- die Beratung des EEGs dort einen guten Verlauf nimmt? wicklung“ haben wir ganz konkrete Vorschläge einge- bracht, die zu einer Umweltpolitik im Miteinander und mit Perspektive führen. Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): Verehrte Kollegin, Sie wissen sicherlich, dass sich ge- Herzlichen Dank. rade die Union in den Beratungen der Ausschüsse und anderer Gremien immer wieder für die nachwachsenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rohstoffe eingesetzt hat. (Ute Kumpf [SPD]: Den Worten müssen Taten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: folgen!) Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung Den nachwachsenden Rohstoffen und der Biomasse zum Berufsausbildungssicherungsgesetz bekannt. Abge- kommt mehr Bedeutung zu, als sie derzeit haben. gebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 300 Abge- ordnete, mit Nein haben gestimmt 284, keine Enthal- Ich möchte einen Vergleich zwischen Energiegewin- tung. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. nung aus Biomasse und aus Wind ziehen: Die Leistung, die man aus Wind gewinnt, ist etwa viermal so hoch wie (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9923

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Endgültiges Ergebnis Dieter Grasedieck Gabriele Lösekrug-Möller Gerhard Schröder (C) Abgegebene Stimmen: 584; Erika Lotz Reinhard Schultz davon Dr. (Everswinkel) Gabriele Groneberg Dirk Manzewski (Spandau) ja: 300 Achim Großmann Tobias Marhold Dr. Angelica Schwall-Düren nein: 284 Wolfgang Grotthaus Lothar Mark Dr. Martin Schwanholz Karl-Hermann Haack Ja (Extertal) Erika Simm Hans-Joachim Hacker Hilde Mattheis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD Dr. Cornelie Sonntag- Alfred Hartenbach Ulrike Mehl Wolgast Dr. Lale Akgün Michael Hartmann Petra-Evelyne Merkel Wolfgang Spanier (Wackernheim) Ulrike Merten Dr. Margrit Spielmann Ingrid Arndt-Brauer Nina Hauer Jörg-Otto Spiller Ursula Mogg Dr. Ditmar Staffelt Hermann Bachmaier Reinhold Hemker (Neuruppin) Michael Müller (Düsseldorf) Rolf Hempelmann Rolf Stöckel Christian Müller (Zittau) Dr. Barbara Hendricks Gesine Multhaupt Christoph Strässer Dr. Hans-Peter Bartels Rita Streb-Hesse Eckhardt Barthel (Berlin) Gustav Herzog Franz Müntefering Petra Heß Dr. Rolf Mützenich Dr. Peter Struck (Starnberg) Joachim Stünker Sören Bartol Monika Heubaum Volker Neumann (Bramsche) Jörg Tauss Sabine Bätzing Gisela Hilbrecht Jella Teuchner Gabriele Hiller-Ohm Dr. Erika Ober Dr. Gerald Thalheim Stephan Hilsberg Holger Ortel Wolfgang Thierse Dr. Gerd Höfer Heinz Paula Franz Thönnes Jelena Hoffmann (Chemnitz) Johannes Pflug Hans-Jürgen Uhl Hans-Werner Bertl Walter Hoffmann Joachim Poß Rüdiger Veit Petra Bierwirth (Darmstadt) Dr. Wilhelm Priesmeier Simone Violka Iris Hoffmann (Wismar) Jörg Vogelsänger (Heidelberg) Frank Hofmann (Volkach) Dr. (Pforzheim) Eike Hovermann Karin Rehbock-Zureich Dr. Marlies Volkmer Gerd Friedrich Bollmann Klaas Hübner Gerold Reichenbach Hans Georg Wagner Klaus Brandner Christel Humme Dr. Carola Reimann Hedi Wegener Willi Brase Lothar Ibrügger Christel Riemann- Andreas Weigel Brunhilde Irber Hanewinckel (B) Reinhard Weis (Stendal) (D) (Hildesheim) Renate Jäger Petra Weis Hans-Günter Bruckmann Jann-Peter Janssen Reinhold Robbe Gunter Weißgerber Edelgard Bulmahn Klaus-Werner Jonas René Röspel Matthias Weisheit Ulla Burchardt Johannes Kahrs Dr. Dr. Michael Bürsch Ulrich Kasparick Karin Roth (Esslingen) (Wiesloch) Hans Martin Bury Dr. h.c. Susanne Kastner Michael Roth (Heringen) Dr. Ernst Ulrich von Hans Büttner (Ingolstadt) Gerhard Rübenkönig Weizsäcker Marion Caspers-Merk Hans-Peter Kemper Jochen Welt Dr. Peter Danckert Klaus Kirschner Marlene Rupprecht Dr. Dr. Herta Däubler-Gmelin Astrid Klug (Tuchenbach) Lydia Westrich Dr. Heinz Köhler (Coburg) Thomas Sauer Inge Wettig-Danielmeier Martin Dörmann Anton Schaaf Dr. Peter Dreßen Fritz Rudolf Körper Axel Schäfer (Bochum) Andrea Wicklein Detlef Dzembritzki Karin Kortmann Gudrun Schaich-Walch Jürgen Wieczorek (Böhlen) Rolf Kramer Bernd Scheelen Heidemarie Wieczorek-Zeul Siegmund Ehrmann Dr. Dr. Dieter Wiefelspütz Ernst Kranz Siegfried Scheffler Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Marga Elser Nicolette Kressl Horst Schild Engelbert Wistuba Volker Kröning Barbara Wittig Petra Ernstberger Angelika Krüger-Leißner Horst Schmidbauer Dr. Wolfgang Wodarg Karin Evers-Meyer Dr. Hans-Ulrich Krüger (Nürnberg) Verena Wohlleben Annette Faße Horst Kubatschka (Aachen) Waltraud Wolff Elke Ferner Ernst Küchler Silvia Schmidt (Eisleben) (Wolmirstedt) Helga Kühn-Mengel (Meschede) Heidi Wright Rainer Fornahl Ute Kumpf Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Gabriele Frechen Dr. Uwe Küster Heinz Schmitt (Landau) Manfred Helmut Zöllmer Dagmar Freitag Carsten Schneider Dr. Christoph Zöpel Lilo Friedrich (Mettmann) Christian Lange (Backnang) Walter Schöler Iris Gleicke Christine Lehder BÜNDNIS 90/DIE Günter Gloser Waltraud Lehn Karsten Schönfeld GRÜNEN Uwe Göllner Dr. Elke Leonhard Fritz Schösser Renate Gradistanac Eckhart Lewering Wilfried Schreck Kerstin Andreae Angelika Graf (Rosenheim) Götz-Peter Lohmann (Bremen) 9924 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Volker Beck (Köln) Ernst-Reinhard Beck Peter Götz Dorothee Mantel (C) (Reutlingen) Dr. Wolfgang Götzer Birgitt Bender Veronika Bellmann Ute Granold (Recklinghausen) Matthias Berninger Dr. Kurt-Dieter Grill (Altötting) Grietje Bettin Dr. Conny Mayer Alexander Bonde Dr. Hermann Gröhe (Baiersbronn) Ekin Deligöz Michael Grosse-Brömer Dr. Martin Mayer Dr. Thea Dückert Markus Grübel (Siegertsbrunn) Jutta Dümpe-Krüger Peter Bleser Wolfgang Meckelburg Franziska Eichstädt-Bohlig Karl-Theodor Freiherr von Dr. Dr. Uschi Eid Dr. Maria Böhmer und zu Guttenberg Dr. Hans-Josef Fell Joseph Fischer (Frankfurt) Wolfgang Börnsen Holger-Heinrich Haibach (Hamm) Katrin Göring-Eckardt (Bönstrup) Doris Meyer (Tapfheim) Anja Hajduk Klaus-Jürgen Hedrich Dr. Wolfgang Bötsch Hans Michelbach Antje Hermenau Klaus Brähmig Ursula Heinen Klaus Minkel Peter Hettlich Dr. Siegfried Helias Marlene Mortler Ulrike Höfken Uda Carmen Freia Heller Stefan Müller (Erlangen) Thilo Hoppe Monika Brüning Bernward Müller (Gera) Michaele Hustedt Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller Verena Butalikakis Hildegard Müller Renate Künast Hartmut Büttner Ernst Hinsken (Bremen) Undine Kurth (Quedlinburg) (Schönebeck) Henry Nitzsche Markus Kurth Cajus Julius Caesar Robert Hochbaum Dr. Reinhard Loske (Emstek) Klaus Hofbauer Anna Lührmann Peter H. Carstensen Joachim Hörster Günter Nooke Jerzy Montag (Nordstrand) Hubert Hüppe Dr. Georg Nüßlein Gitta Connemann Susanne Jaffke Franz Obermeier Friedrich Ostendorff Dr. Peter Jahr Simone Probst Dr. Egon Jüttner Melanie Oßwald (Augsburg) Albert Deß Bartholomäus Kalb Rita Pawelski Alexander Dobrindt Steffen Kampeter Dr. Peter Paziorek Christine Scheel Vera Dominke Bernhard Kaster Ulrich Petzold (B) Irmingard Schewe-Gerigk Thomas Dörflinger Siegfried Kauder (Bad Dr. (D) Rezzo Schlauch Marie-Luise Dött Dürrheim) Sibylle Pfeiffer Albert Schmidt (Ingolstadt) Maria Eichhorn Volker Kauder Dr. Friedbert Pflüger (Berlin) Gerlinde Kaupa Beatrix Philipp Petra Selg (Lübeck) Eckart von Klaeden Ursula Sowa Jürgen Klimke Daniela Raab Rainder Steenblock Julia Klöckner Dr. Hans Georg Faust Kristina Köhler (Wiesbaden) Albrecht Feibel Hans Raidel Hans-Christian Ströbele Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Jürgen Trittin Ingrid Fischbach Hartmut Koschyk Helmut Rauber Marianne Tritz Hartwig Fischer (Göttingen) Thomas Kossendey Peter Rauen Hubert Ulrich Dirk Fischer (Hamburg) Rudolf Kraus Christa Reichard (Dresden) Dr. Antje Vogel-Sperl Axel E. Fischer (Karlsruhe- Michael Kretschmer Dr. Land) Günther Krichbaum Hans-Peter Repnik Dr. Ludger Volmer Dr. Günter Krings Klaus Riegert Josef Philip Winkler Klaus-Peter Flosbach Dr. Martina Krogmann Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Hermann Kues Franz-Xaver Romer Dr. Hans-Peter Friedrich (Zingst) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Fraktionslose Abgeordnete (Hof) Dr. Karl A. Lamers Dr. Klaus Rose Dr. Gesine Lötzsch Erich G. Fritz (Heidelberg) Kurt J. Rossmanith Petra Pau Jochen-Konrad Fromme Dr. Dr. Norbert Röttgen Dr. Michael Fuchs Dr. Christian Ruck Nein Hans-Joachim Fuchtel Barbara Lanzinger Volker Rühe Dr. Jürgen Gehb Karl-Josef Laumann (Weiden) CDU/CSU Peter Rzepka Werner Lensing Anita Schäfer (Saalstadt) Peter Letzgus Dr. Wolfgang Schäuble Georg Girisch Ursula Lietz Hartmut Schauerte Eduard Lintner Ralf Göbel Dr. Klaus W. Lippold Georg Schirmbeck Dr. Reinhard Göhner (Offenbach) Dr. Tanja Gönner Andreas Schmidt (Mülheim) Günter Baumann Josef Göppel Dr. Michael Luther Dr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9925

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Ole Schröder Dr. Hans-Peter Uhl Angelika Brunkhorst (C) Bernhard Schulte-Drüggelte Harald Leibrecht Volkmar Uwe Vogel Helga Daub Ina Lenke Wilhelm Josef Sebastian Andrea Astrid Voßhoff Jörg van Essen Markus Löning Gerhard Wächter Ulrike Flach Dirk Niebel Kurt Segner Marko Wanderwitz Günther Friedrich Nolting Matthias Sehling Peter Weiß (Emmendingen) (Bayreuth) Eberhard Otto (Godern) Marion Seib Gerald Weiß (Groß-Gerau) Detlef Parr Cornelia Pieper Heinz Seiffert Dr. Wolfgang Gerhardt Gisela Piltz Bernd Siebert Annette Widmann-Mauz Hans-Michael Goldmann Joachim Günther (Plauen) Dr. Andreas Pinkwart Klaus-Peter Willsch Dr. Günter Rexrodt Willy Wimmer (Neuss) Dr. Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Hermann Otto Solms Werner Wittlich Dr. Rainer Stinner Christoph Hartmann Dagmar Wöhrl Carl-Ludwig Thiele (Homburg) Elke Wülfing Dr. Dieter Thomae Klaus Haupt Wolfgang Zeitlmann Jürgen Türk Andreas Storm Ulrich Heinrich Wolfgang Zöller Dr. Guido Westerwelle Birgit Homburger Willi Zylajew Dr. Claudia Winterstein Matthäus Strebl Dr. Dr. Volker Wissing Lena Strothmann FDP Michael Stübgen Dr. Heinrich L. Kolb Fraktionslose Abgeordnete Daniel Bahr (Münster) Gudrun Kopp Edeltraut Töpfer Rainer Brüderle Jürgen Koppelin

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle- Beginnen wir mit der Überschrift: „Naturschutz im Mit- gin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion. einander von Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftlicher Entwicklung“. Hier finden wir in trauter Runde nebenei- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): nander und irgendwie auf gleicher Augenhöhe Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftliche Entwicklung. Das ver- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! heißt nichts Gutes und so ist es auch. Meine Damen und Herren! Im Rahmen der Beratungen zu diesem Tagesordnungspunkt befassen wir uns mit Sie beschreiben in diesem Antrag – ich gebe es mit (B) (D) drei Anträgen. Ich möchte deren Titel kurz nennen. Die meinen Worten wieder – blühende Landschaften des Na- beiden Anträge der CDU/CSU lauten „Naturschutz im turschutzes bis 1998. Danach sei diese wunderbare Ent- Miteinander von Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftli- wicklung ins Stocken geraten. Es ist klar, an wem es aus cher Entwicklung“ sowie „Vertrauensvolle und kon- Sicht der CDU/CSU liegt. Seither versuchen Sie mit Ih- struktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und rer Politik, den Naturschutz dennoch voranzutreiben. Es Umweltschutz stärken“, der Antrag der FDP lautet „Pro- wäre in der Tat unfair, zu sagen, dass sich das ebenso wie jekt des Umweltbundesamtes zur so genannten verdeck- mit den blühenden Landschaften verhält. Nein, in der ten Feldbeobachtung stoppen“. Naturschutzpolitik der CDU/CSU geht das so: Sie sind Was ist der gemeinsame Nenner dieser drei Anträge? immer besonders für Ihre eigenen Anträge; das ist ver- Zwei von ihnen empören sich darüber, dass das Pflan- ständlich. Genauso regelmäßig und konsequent verwei- zenschutzgesetz und insbesondere dessen § 38 angewen- gern Sie aber Ihre Zustimmung, wenn es darum geht, für det wird, der – so heißt es in dem Antrag – das Tun der den Naturschutz Farbe zu bekennen. Wir sagen: Das Landwirte „mit gesetzgeberischem Misstrauen“ begleite, Verbandsklagerecht im Naturschutz muss bestehen obwohl doch so gar keine Kontrolle vonnöten sei, weil bleiben. Sie sagen: Weg damit! eine weitere Verbesserung bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln im ureigenen Interesse der (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Richtig!) Landwirte liege. Wir sagen: Das EEG in der jetzigen Fassung ist gut für Was heißt das im Klartext? Nur rechtzeitig angemel- den Naturschutz. Sie suchen nach Haaren in der Suppe, dete und im Anliegen präzise angekündigte Eingriffs- um Nein sagen zu können. Wir sagen: Der Hochwasser- maßnahmen sollen möglich sein. Ich sehe die Schilder in schutz muss konsequent verwirklicht werden. Ihre Ab- der Landschaft schon vor mir, auf denen stehen wird: setzbewegung hat Fluchtcharakter. „Bodenproben und Ähnliches für staatliche Aufsicht zum Wohle der Bürger nur nach rechtzeitiger schriftli- Müssen wir uns so streiten? Haben wir nicht viele ge- cher Anmeldung und Termingewährung. Ihr Landwirt.“ meinsame Anliegen? Die haben wir. Unter den Zu diesem Thema wird der Kollege Herzog noch aus- 22 Punkten Ihres Forderungskataloges, den Sie mit Fleiß führlich Stellung nehmen. aufgestellt haben, gibt es einige, die wir gerne mitzeich- nen. Im Lichte solcher konkreten Forderungen wie der Än- derung des Pflanzenschutzgesetzes ist der ausführliche (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na siehst Antrag der CDU/CSU zum Naturschutz zu betrachten. Du!) 9926 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Ich nenne zum Beispiel Ihre Forderung, dass eine euro- ren Taten messen. Wenn ich das weiter ausführen würde, (C) päische und internationale Naturschutzpolitik betrieben würde ich mich wiederholen. wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na also!) DIE GRÜNEN) Auch das Grüne Band und die Biotopverbünde sind gute Als weiteres Beispiel nenne ich die Biomasse. Auch Sachen. Ebenso gibt es Übereinstimmung darin, frei- hier sind wir erklärtermaßen auf dem richtigen Weg. Sie willige Kooperationen zwischen der Landschaftspflege, müssen sich beeilen, um uns einholen zu können. dem Tourismus und dem Sport zu unterstützen. (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Oje!) Herr Goldmann, vielleicht haben Sie sich aber zu früh gefreut. Es klingt ein Rezept an, das auch die beiden an- Auch beim Thema Bodenschutz herrscht weitestge- deren eingangs erwähnten Anträge prägt. Es setzt sich hend Übereinstimmung. Über die 10 Prozent Kostenbe- aus drei politischen Wirkstoffen zusammen. Wirkstoff teiligung für die Kalkung müssen wir an dieser Stelle Nr. 1: Weniger Regelung ist immer besser. Wirkstoff nicht reden. Hier wünscht man sich aber den Staat her- Nr. 2: Staatliches Handeln ist um jeden Preis einzu- bei, den man an anderer Stelle überhaupt nicht haben schränken. Wirkstoff Nr. 3: Mehr Ökonomie im Natur- möchte. schutz bewirkt zwangsläufig gute Entwicklungen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die nationale Nachhal- (Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber eine böse tigkeitsstrategie. Wir freuen uns auf eine konstruktive Giftmischung der Opposition!) Zusammenarbeit. Darauf müssen wir alle Wert legen. Dabei werden wir Sie an Ihren Taten messen. Ich bin Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich schon sehr gespannt, ob es wieder so läuft wie bei den fürchte, Sie glauben tatsächlich an die heilende Wirkung vorgenannten Gesetzgebungsverfahren: Erst sind Sie dieses Breitbandpräparates. Führt dies wirklich zu einer voll dafür, aber wenn es darum geht, Farbe zu bekennen, höheren Akzeptanz des Naturschutzes insgesamt, einem sind Sie nicht mehr da. Ziel, das wir wohl alle erreichen wollen und müssen? Ich habe starke Zweifel daran. Am Ende mögen wir einen (Gustav Herzog [SPD]: Dann schlagen sie sich Naturschutz im Politikformat eines Bierdeckels haben. in die Büsche!) Wie viel Naturschutz haben wir dann verloren? Wir geben nicht auf, Gemeinsamkeiten zu suchen, Die Idee von Verträgen nimmt in Ihrem Antrag viel Übereinstimmungen herauszuarbeiten und Zusammenar- Raum ein. Sie sprechen von einem ökologischen Gene- beit anzubieten. Aber – das werden Sie verstehen – die- rationenvertrag und von vielen vertraglichen Vereinba- sen Anträgen können wir nicht zustimmen. (B) (D) rungen zwischen den dort – ich nehme an, Sie beziehen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich damit auf naturschutzrelevante Gebiete – lebenden DIE GRÜNEN) und wirtschaftenden Menschen. Was stünde am Ende Ih- rer Naturschutzstrategie? Wäre das eine unübersehbare Zahl von Verträgen? Wer mit wem, worüber, wie lange, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu welchen Bedingungen und mit welchen Rechten und Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach- Pflichten? Fragen über Fragen! Wir sagen: Auch vertrag- Kasan von der FDP-Fraktion. liche Vereinbarungen im Naturschutz brauchen vorgege- (Beifall bei der FDP) bene, staatlich definierte Rahmen.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dafür Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): braucht ihr keine Verträge!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es obliegt nun einmal dem Staat, den Schutz des öffent- Frau Lösekrug-Möller, ich verstehe bei all dem Lob für liches Gutes Natur zu verantworten. Vertragsnatur- den ersten CDU/CSU-Antrag nicht, dass Sie doch sagen: schutz ist dabei ein Instrument. Das entwickeln wir Zustimmen können wir nicht. pfleglich weiter. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Wo war des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Lob?) Es bleiben weitere Fragen offen. Wie wollen Sie es – Das Lob war deutlich. Übereinstimmung war in vielen zum Beispiel mit jenem notwendigen Naturschutz halten Punkten da. – ich bitte Sie wirklich um Aufmerksamkeit –, mit dem Ich kann nur sagen: Wer im Mai durch Deutschland keinerlei Profit zu erzielen ist und der ökonomischen In- fährt, erlebt eine schöne, eine reizvolle Landschaft, eine teressen eindeutig zuwiderläuft? Aber vielleicht gibt es Kulturlandschaft, die sich in Generationen entwickelt den dann ja gar nicht mehr. hat. Wir als FDP wollen unseren Kindern und Enkeln Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten bin ich den- eine solche Landschaft übergeben, die zu erleben sich noch fündig geworden. Ich stelle das Positive nach vorne lohnt. Gerade in einer globalisierten Welt brauchen Men- und nenne zum Beispiel NAWAROS, also nachwach- schen Regionen, die sie als ihre Heimat empfinden. Wir sende Rohstoffe. Ich kann nur sagen: Wir haben das wollen sie ihnen nicht nehmen, sondern wir müssen sie erstklassig ins EEG aufgenommen. Man muss Sie an Ih- für sie erhalten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9927

Dr. Christel Happach-Kasan (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Projekt des UBA ist vom Misstrauen gegen die (C) der CDU/CSU) Landwirtschaft geprägt. Egal wie oft solches Misstrauen in Tageszeitungen der großen Städte dokumentiert wird: Der Schutz von Natur und Landschaft und die im In der Berichterstattung der Regionalzeitungen der Sinne der Nachhaltigkeit betriebene Weiterentwicklung Landkreise fehlt dieses völlig, weil man dort das Leben kann nur im vertrauensvollen Miteinander gestaltet wer- auf dem Lande kennt. den. Dabei müssen alle vor Ort tätigen Akteure beteiligt werden: die Landeigentümer, die Land- und Forstwirte, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Tourismusbetriebe und die im Naturschutz tätigen der CDU/CSU – Manfred Helmut Zöllmer Verbände. Es gilt: Die existenziellen Interessen müssen [SPD]: Eine kuriose Begründung!) berücksichtigt und Nutzungseinschränkungen im Inter- esse der Gesellschaft auch von der Gesellschaft finanzi- –Herr Zöllmer, das ist Unsinn. Schauen Sie sich einmal ell ausgeglichen werden. in einem Landkreis um. – Die Behörden unseres Landes haben eine dienende Funktion und dürfen dieses pau- Ein gutes Beispiele dafür ist das Konzept der Land- schale und völlig ungerechtfertigte Misstrauen nicht be- schaftspflegeverbände. Der kooperative Ansatz der dienen. In einem Rechtsstaat haben verdeckte Ermitt- Deutschen Umwelthilfe – Frau Lösekrug-Möller, da- lungen auf dem Grund und Boden eines Landwirts mit rüber haben wir uns gerade unterhalten – ist richtig. dem Ziel, sein mögliches, noch nicht einmal wahrschein- Über vertragliche Regelungen wurden einvernehmliche liches Fehlverhalten nachzuweisen, absolut keinen Platz. Lösungen erzielt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wir wollen keine Kolonialisierung der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ländlichen Räume durch die Städte. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich will ganz deutlich sagen: Ich bin sehr dankbar der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Wer – Sie alle waren dabei –, dass sich in der Diskussion im will das denn?) Ausschuss die Sprecher aller Fraktionen – Kollege Weisheit, Kollege Carstensen genauso wie Kollege Die Menschen haben zurzeit oft das Empfinden, dass Ostendorff – gegen das Projekt ausgesprochen haben. ihre Freiräume durch politische Entscheidungen immer Ich bin entsetzt, dass das Vorhaben inzwischen dennoch mehr eingeschränkt werden. Die Proteste vor Ort künden vergeben worden ist. Der Einfluss der Abgeordneten der davon. Das gilt auch für das Vorhaben der Bundesregie- Koalitionsfraktionen – das müssen Sie doch sehen – ist rung, das Bundeswald- und Bundesjagdgesetz zu novel- offensichtlich sehr gering. Wir als FDP fordern deshalb lieren und im Fazit die Regelungsdichte zu erhöhen. die zuständigen Minister Trittin und Künast sowie den (B) UBA-Präsidenten Troge nochmals auf, dieses unsägliche (D) (Holger Ortel [SPD]: Abwarten!) Projekt zu stoppen und sich bei den Landwirten zu ent- Die Regulierungswut von Rot-Grün ist vom Miss- schuldigen. trauen gegen die Bürgerinnen und Bürger getragen. Über die Bauernspione wird in jeder Agrarzeitung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten diskutiert, die zuständige Ministerin aber äußert sich mit der CDU/CSU) keinem Wort. Das ist unglaublich. Frau Künast, Sie als Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Ein solches Projekt des Misstrauens ist der vom UBA wirtschaft haben die Pflicht, die Landwirte vor unge- vergebene Auftrag zur Erfassung des Fehlverhaltens bei rechtfertigten und unhaltbaren Angriffen zu schützen der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Laut Pro- und zu verteidigen. Natürlich ist die Ministerin bei einer jektbeschreibung soll mittels verdeckter Feldbeobach- solchen Debatte nicht da; das ist wieder einmal typisch. tungen ein realistischer Überblick gewonnen werden. (Zurufe von der SPD: Oh! – Waltraud Wolff (Zurufe von der SPD: Oh!) [Wolmirstedt] [SPD]: Aber das war jetzt da- Das Projekt wird sehr zutreffend unter dem Stichwort neben!) „Bauernspione“ diskutiert. Wir lehnen es ab. Offensichtlich steht die Ministerin hinter diesem Projekt; Ich will herausstellen: Der sachgerechte Umgang mit anders ist ihr Schweigen nicht zu erklären. Pflanzenschutzmitteln ist im Interesse der Vermeidung (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo ist denn von Beeinträchtigung der Natur und im Interesse des unsere Ausschussvorsitzende?) Verbraucherschutzes unverzichtbar. Noch eines will ich erwähnen: In der Vorbereitung des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten UBA-Projektes wurde als einziger Verband der der CDU/CSU) Naturschutzbund Deutschland eingebunden, nicht der Aufgrund des Lebensmittelmonitorings wissen wir: Die Bauernverband, nicht einmal der Bauernbund. So war Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln die Antwort der Bundesregierung auf die Frage von sind minimal. Unsere Lebensmittel sind sicher. Daher Volker Wissing. Seit wann lehnt Rot-Grün die Beteili- gibt es keinen Bedarf für ein solches Projekt. gung von Betroffenen ab? Wohl nur dann, wenn es sich um Landwirte handelt. Sie können sich wohl nicht vor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stellen, dass auch Landwirte Betroffene von Ihrer Politik der CDU/CSU) sind. 9928 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Christel Happach-Kasan (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann NEN): [FDP]: Da fehlt es bei euch!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Der liberale Umweltminister Sander in Niedersachsen ren! Wir behandeln heute zwei Anträge der CDU/CSU. hat mit seinem Höflichkeitserlass einen richtigen Weg Aber vergleichen Sie bitte einmal diese beiden Anträge. beschritten. Jeder wird sich fragen: Ist das dieselbe Fraktion? Was Frau Connemann und Herr Carstensen hier zusammen- (Beifall bei der FDP) geschrieben haben, fällt doch deutlich hinter den Antrag von Herrn Paziorek, Caesar und anderen von der CDU/ Ich würde mir wünschen, dass dieser Weg der Weg ist, CSU zurück. den auch die Bundesregierung geht. Ich bedanke mich, dass die CDU/CSU-Fraktion dieses in ihrem Antrag auf- (Gustav Herzog [SPD]: Aber meilenweit! – gegriffen hat. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nicht so despektierlich!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für uns ist dieser Antrag allerdings typisch für das Ge- Frau Kollegin Happach-Kasan, erlauben Sie eine spann Connemann/Carstensen, der Berliner Zweigstelle Zwischenfrage des Kollegen Herzog? des Deutschen Bauernverbandes:

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ja, gerne. NEN und bei der SPD) inhaltlich dünn, dafür aber umso aufgeblasener vorge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bracht. Bitte schön. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Äußerlich auch dünn!) Gustav Herzog (SPD): Frau Kollegin Happach-Kasan, sind Sie bereit, zur Sie fangen mit Allgemeinplätzen zur so genannten ver- Kenntnis zu nehmen, dass der Beirat von dem Projekt, deckten Feldbeobachtung an, aber im Forderungsteil über das Sie sprechen, gestern getagt hat und dass nach haben Sie schon vergessen, womit Sie angefangen hat- meiner Kenntnis auch eine Vertreterin des Deutschen ten. Da ist von verdeckter Feldbeobachtung keine Rede Bauernverbandes dabei war? mehr. Stattdessen fordern Sie die Änderung des Pflan- (B) zenschutzgesetzes, das Sie selbst geschrieben und be- (D) schlossen haben. Statt greifbarer Inhalte beschwören Sie Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): in Ihrem Antrag das angeblich durch das Pflanzen- Herr Kollege Herzog, ich bin gerne bereit, dieses zur schutzgesetz und das Umweltbundesamt geschürte ge- Kenntnis zu nehmen. Ich freue mich, dass inzwischen sellschaftliche Misstrauen gegenüber der Landwirt- auch der Bauernverband eingebunden ist. Gleichwohl schaft, um dann zu postulieren: „Dies wird den bleibt bestehen, dass der Bauernverband bei der Vorbe- Leistungen und Verdiensten der Landwirtschaft in reitung des Projektes nicht eingebunden war und es of- Deutschland in keiner Weise gerecht.“ fensichtlich des öffentlichen Druckes bedurfte, um diese Mindestforderung, die gerechtfertigt ist, zu erfüllen. Was wollen Sie uns denn mit solchen Floskeln sagen? Das ist doch nichts weiter als eine billige Anbiederung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten an einen Berufsstand, zu dem Sie, Frau Connemann, als der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann Verfasserin dieses Antrages sehr oft weit entfernt stehen. [FDP]: Das hast du gut gemacht, Christel! Das Unserer Meinung nach ist das inhaltliches Gewäsch. Ich macht der nie wieder! – Gegenruf des Abg. als Bauer fühle mich durch solche Sätze veräppelt und Gustav Herzog: Ich sage später noch etwas für dumm verkauft. Heute spielen Sie sich als Oberan- dazu!) wälte der Landwirtschaft auf, aber wenn es um die Ver- Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Koopera- teidigung der Rechte von Bauern und Bäuerinnen gegen tion mit den Landwirten. Nur so können wir den Natur- US-Importeure von Gensoja und Futtermittelkonzerne und Umweltschutz und die Landwirtschaft in Deutsch- geht, land weiterbringen. Das ist im Interesse der Menschen in den ländlichen Räumen. Ich fordere Sie auf, Ihr Abstim- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) mungsverhalten zu den Anträgen noch einmal zu über- können die Bäuerinnen und Bauern von Ihnen wenig So- denken. lidarität erwarten, Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und bei der SPD) wie Sie diese Woche wieder sehr eindrucksvoll im Agrar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ausschuss gezeigt haben. Dann vertreten Sie von der Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Ostendorff CDU/CSU nur noch die Interessen der Industrie. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen. nennen das scheinheilig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9929

Friedrich Ostendorff (A) Wie Sie wissen, habe ich persönlich eine sehr kriti- Gitta Connemann (CDU/CSU): (C) sche Einstellung zu der so genannten verdeckten Feldbe- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! obachtung, weil ich die Methode für nicht richtig halte. Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan der Denunziant. [FDP]) Diesem Urteil von Hoffmann von Fallersleben wird si- Gegen das Ziel, einen realistischen Überblick über die cherlich niemand von uns widersprechen. Denunzianten Anwendungspraxis im Pflanzenschutz und den Umgang verunglimpfen andere, häufig aus persönlichen, niedri- mit Abstandsregelungen zu gewinnen, ist nichts einzu- gen Beweggründen und im Schutz der Anonymität. Wir wenden, aber bitte nur im offenen Dialog mit den Bauern tun deshalb gut daran, uns von ihnen zu distanzieren. und Bäuerinnen. Insbesondere der Rechtsstaat und seine Behörden müs- sen dem Eindruck vorbeugen, sich ihrer zu bedienen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau dieser Eindruck ist jedoch leider im Fall des Um- sowie bei Abgeordneten der SPD und der weltbundesamtes entstanden, das Anfang dieses Jahres CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel ein Projekt zur verdeckten Feldbeobachtung ausge- Happach-Kasan [FDP]) schrieben hat. Der Bauernverband spielt hierbei im Übrigen ein Was versteckt sich hinter diesem Begriff? Damit ist doppeltes Spiel. Zunächst werden mit populistischem nicht der Naturfreund gemeint, der im Morgengrauen Gebrüll die Stammtische bedient, dann aber ist Herr durch die taunassen Felder streift, um das Paarungsver- Sonnleitner der Erste, der „Hier!“ schreit, wenn es um halten der Schnepfen zu beobachten. die Vergabe eines Postens in einem Beirat zu dem Pro- gramm geht. (Zurufe von der SPD: Oh!) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der Ziel der knapp 200 000 Euro teuren Untersuchung ist es FDP – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist vielmehr, einen realistischen Überblick über – ich zitie- ja peinlich!) re – „die Anwendungspraxis im Pflanzenschutz und im Umgang mit Abstandsregelungen zu gewinnen“. Dieser Entscheidend ist, dass der konstruktive und vertrau- Überblick soll verdeckt gewonnen werden. Das heißt, ensvolle Ansatz des Reduktionsprogramms – jetzt soll- Ackerflächen sollen unangekündigt betreten werden, um ten Sie zuhören! –, Bodenproben ohne vorheriges Wissen des Eigentümers (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das fällt aber zu entnehmen. schwer!) (Gustav Herzog [SPD]: Falsch!) (B) (D) der sehr wichtig und wertvoll ist, nicht gestört wird. Sie Das Umweltbundesamt unterstellt also offensicht- interessieren sich gar nicht für das Reduktionspro- lich, dass die Vorschriften zum Einsatz von Pflanzen- gramm. In Ihren Anträgen ist davon keine Rede. Sie schutzmitteln nicht eingehalten werden. Betroffen von wollen nur den gesellschaftlichen Konflikt schüren. diesem Verdacht sehen sich zum einen die Pflanzen- Es gibt durchaus Probleme mit der Gewässerbelas- schutzdienste der Bundesländer, in deren Zuständigkeit tung durch Pflanzenschutzmittel. Auch gibt es besondere die Düngemittel- und Pflanzenschutzkontrollen fallen. Problembereiche wie das Alte Land und Verstöße gegen Dabei verfügen gerade diese über die notwendige fach- das geltende Recht, die entsprechend bestraft werden liche Qualifikation und Erfahrung, die Richtigkeit von müssen. Denn Wasserverschmutzung ist kein Kavaliers- Bewirtschaftungsmaßnahmen und Maßnahmen im delikt. Das muss man benennen und sachgerecht ange- Pflanzenschutz zu überprüfen. Es bedarf keiner Bundes- hen. Dies tun wir auch. kontrolle ihres Handelns, einer Kontrolle auf Kosten des Steuerzahlers. Wir haben mit dem Reduktionsprogramm, das bereits vorliegt, einen sehr konstruktiven Ansatz gewählt. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU) uns gelungen, die gesamte Breite der Verbände von den An den Pranger gestellt sehen sich insbesondere un- Anwendern über die Umweltverbände bis hin zur Indus- sere Landwirte und Gärtner. Ihnen wird per se ein ge- trie gemeinsam mit Bund und Ländern an einen Tisch zu setzwidriges Verhalten unterstellt. Denn nur wer glaubt, bringen. Es ist gelungen, auf dieser breiten Basis kon- dass Recht und Gesetz unterlaufen werden, hält es für er- struktiv zu arbeiten. forderlich, verdeckt ihre Wirtschaftsweise auszuspionie- Das ist unser Ansatz, der auf Kooperation und Ver- ren. trauen basiert. Diesen Weg werden wir weiter beschrei- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch ten, wie wir es im rot-grünen Koalitionsvertrag gemein- Blödsinn, was Sie erzählen!) sam vereinbart haben. Damit wird ein ganzer Berufsstand kriminalisiert. Mir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fällt dazu nur ein Wort ein: infam. Das sage ich durchaus und bei der SPD) aus eigener persönlicher Betroffenheit, Herr Ostendorff. Ich komme nämlich aus einem landwirtschaftlichen Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trieb, der zurzeit von meinem Bruder bewirtschaftet Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von wird, und ich weiß, wie sehr ihn dieser Vorwurf getrof- der CDU/CSU-Fraktion. fen hat. 9930 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: er sogar selbst in die Betriebe gegangen, um die Ermitt- (C) Frau Kollegin Connemann, erlauben Sie eine Zwi- ler herauszuholen. schenfrage der Kollegin Krogmann? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch Gitta Connemann (CDU/CSU): völliger Unfug, was Sie da erzählen!) Ja, wenn Sie die Zeit anhalten. (Zuruf von der SPD: Die Frage ist bestellt!) Leider blieb eine solche Empörung im vorliegenden Fall aus. Niemand reagierte. Erst als der Druck der Öf- – Sie ist nicht bestellt. fentlichkeit zu groß wurde, ließ man erklären, das Pro- jekt werde eingestellt. Tatsächlich soll es aber weiterge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: führt werden, allerdings in leicht abgewandelter Form. Ich halte die Zeit an. – Bitte, Frau Dr. Krogmann. Wie diese aussehen wird, ist nicht bekannt. Eine Präsen- tation des Projekts ist in nächster Zeit vorgesehen. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Der eben beschriebene Vorgang zeigt, wie verzerrt der Kollegin Connemann, Sie haben eben das Projekt Blick gerade der Bundesregierung auf die deutsche „verdeckte Feldbeobachtung“ angesprochen. In der Ver- Landwirtschaft ist. Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie gangenheit gab es insbesondere im Alten Land eine gute haben mit Ihrer Rede bewiesen, dass bei Ihnen Vorstel- Kooperation zwischen Umweltschutz und Landwirt- lung und Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Es gibt schaft, die aufgrund der dort vorhandenen differenzier- tatsächlich keinen einzigen Grund für eine Diffamierung ten Gräbenstruktur auch notwendig ist. Teilen Sie meine der deutschen Landwirtschaft; denn die in Deutsch- Auffassung, dass gerade durch dieses Projekt die gute land tätigen Landwirte unterliegen strengsten Auflagen. Kooperation im Alten Land kaputtgemacht wird, weil Sie müssen einen Sachkundenachweis erbringen. Ihre man pauschal alle Obstbauern kriminalisiert und unter Pflanzenschutzgeräte werden regelmäßig vom TÜV Generalverdacht stellt? überprüft. Die Ausbringung unterliegt einem dichten Re- gelungswerk mit detaillierten Vorschriften. Das betrifft Gitta Connemann (CDU/CSU): den Zeitraum für die Ausbringung, die Art, die Zusam- Frau Kollegin Krogmann, Ihre Auffassung teile ich mensetzung und die Konzentration der Mittel ebenso uneingeschränkt. Selbst der Kollege Ostendorff hat ein- wie die Wartezeiten, die nach dem Einsatz vor der Ernte geräumt, dass es Probleme gibt. Gerade die Obstbauern und der Vermarktung einzuhalten sind. Es sind Ab- im Alten Land werden hinsichtlich des Einsatzes von standsbestimmungen den Gewässerschutz betreffend (B) Pflanzenschutzmitteln völlig allein gelassen; denn ihnen einzuhalten. Die Zahl der Wirkstoffe ist – anders als im (D) werden gar keine legalen Pflanzenschutzmittel mehr zur europäischen Ausland – auf 200 begrenzt. Angesichts Verfügung stehen. Das ist so. der sehr hohen Kosten gebietet zudem die Wirtschaft- (Gustav Herzog [SPD]: Was für ein Un- lichkeit den sparsamen Einsatz von Pflanzenschutzmit- fug! Haben Sie den Kollegen Carstensen teln. Landwirte arbeiten verantwortungsbewusst. Sie ha- gefragt?) ben damit deutliche Erfolge im Bereich des Gewässerschutzes erzielt. Die Daten des UBA belegen – Ich habe den Kollegen Carstensen gefragt. Ich habe so- das. gar Anfragen an die Bundesregierung gestellt, in denen ich deutlich gemacht habe, dass keine legalen Pflanzen- Um eines klar zu sagen: Eine kritische Betrachtungs- schutzmittel mehr zur Verfügung stehen und dass man weise beim Umgang mit Pflanzenschutzmitteln ist eine mit diesem Problem die Obstbauern alleine lässt. Selbstverständlichkeit. Niemand will denjenigen schüt- zen, der wissentlich gegen Gesetze verstößt. Aber gerade Die Erfahrungen zeigen jedenfalls, dass das Miteinan- die Landwirte tun dies nicht und haben deshalb unser der von Umweltschutz und Landwirtschaft im Alten Vertrauen verdient. Land hervorragend ist. Dieses Miteinander wird gefähr- det. Deswegen muss dieses Projekt gestoppt werden. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist ein infames Projekt. Die Kontrolle der betroffenen Landwirte sollte deshalb (Beifall bei der CDU/CSU) in einem Dialog, in einem Miteinander geschehen. Wir, Stellen Sie sich vor, welch einen öffentlichen Auf- die Union, wollen gemeinsam mit der FDP ein deutli- schrei es gegeben hätte, wenn andere Wirtschaftsberei- ches Signal an unsere Landwirte, aber auch an die Öf- che von diesem Projekt betroffen wären! Stellen Sie sich fentlichkeit richten. Es muss Schluss mit pauschalen vor, es wären Pläne bekannt geworden, wonach ver- Verdächtigungen und Diffamierungen sein. Deswegen deckte Ermittler in Automobilbetriebe geschickt werden wollen wir eine Änderung des Pflanzenschutzgesetzes sollten, um die Einhaltung von Umweltschutzbestim- erreichen. Wir haben entsprechende Anträge einge- mungen zu überprüfen! bracht, die nicht nur den Landwirten, sondern auch der Landschaft, der Natur dienen. Denn eines sollten Sie zur (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Oder bei der Kenntnis nehmen: Es gibt keinen Naturschutz ohne Gewerkschaft!) Landwirtschaft. Die Pflege einer Kulturlandschaft wie Der Bundeskanzler wäre sicherlich der Erste gewesen, der unsrigen und der darin lebenden Tiere ist nur mit der der sich empört zu Wort gemeldet hätte. Vielleicht wäre Landwirtschaft möglich. Wenn Sie diesen Dialog, dieses Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9931

Gitta Connemann (A) Miteinander infrage stellen, dann schaden Sie dem Na- das sind die Mittel des Unrechtsstaates: Menschen be- (C) turschutz und dem Tierschutz am meisten. spitzeln, bedrohen, in ihrer Existenz vernichten. Im Zu- sammenhang mit dem UBA-Projekt von „Stasi-Metho- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den“ zu reden, das ist infam, liebe Frau Kollegin Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wir haben Connemann. unsere Vorschläge gemacht. Wir sind sicherlich auch ge- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ sprächsbereit, wenn Sie andere Vorschläge haben. Wir CSU]: Können Sie sagen, wo sie das gesagt werden zu allem, was geeignet ist, das Ansehen der hat?) Landwirte zu stärken und einen Beitrag zu einem ver- trauensvollen Miteinander von Umweltschutz und Land- Für die SPD-Fraktion stelle ich fest: Chemischer wirtschaft zu leisten, unsere Zustimmung geben. Pflanzenschutz ist für unsere Landwirtschaft, für die Produktion von guten Lebensmitteln unverzichtbar. So Vielen Dank. wie er bei uns in Deutschland gestaltet ist, ist er auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchaus verantwortbar. (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [FDP]) Das Wort hat jetzt der Kollege Gustav Herzog von der Auch wenn es um 35 000 Tonnen Wirkstoff geht, etwa SPD-Fraktion. 2 Kilogramm pro Hektar: In der Vergangenheit ist viel erreicht worden. Die allermeisten Landwirte halten sich Gustav Herzog (SPD): an die gute fachliche Praxis. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute drei Anträge der Opposition zum Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Komplex Naturschutz und Landwirtschaft. In zwei An- Herr Kollege Herzog, erlauben Sie eine Zwischen- trägen geben Sie, die Damen und Herren der Opposition, frage der Kollegin Connemann? vor, die Landwirtschaft vor bösen Angriffen schützen zu müssen. Gustav Herzog (SPD): (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: So ist es!) Gerne. Ich stelle fest, dass zwei Anträge der CDU/CSU und der FDP zum UBA-Projekt der Landwirtschaft bereits Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Schaden zugefügt haben und dem Image der deutschen Bitte schön, Frau Connemann. (D) Landwirtschaft auch weiterhin Schaden zufügen wer- den. Dass wir hier zur besten Sendezeit über dieses Gitta Connemann (CDU/CSU): Thema reden, wird auch noch den letzten Zuhörer in die- ser Republik darauf aufmerksam machen, dass es in der Herr Kollege Herzog, ich frage Sie, in welchem Zu- Landwirtschaft durchaus Verfehlungen gibt. Genauso sammenhang ich das Wort „Stasi-Methoden“ gebraucht wie der Bauernverband tun Sie der deutschen Landwirt- haben soll. Ich bitte um Belegung dieser Stelle, unabhän- schaft mit dieser Debatte keinen Gefallen. gig davon, ob ich es hier in meiner Rede oder in anderen öffentlichen Äußerungen gebraucht habe. Falls Sie die- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ sen – wie ich finde: unhaltbaren – Vorwurf nicht belegen CSU]: Was ist denn das für eine Logik? – können, fordere ich Sie auf, sich zu entschuldigen. Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Sie machen die Opfer zu Tätern!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Mehl [SPD]: Warum fühlen Sie sich an- Sie haben aufgebauscht und aufgehetzt; Sie haben das gesprochen?) auch heute wieder hier am Mikrofon getan. Sie sollten einmal überdenken, ob Sie Ihren Beißreflex richtig ein- Gustav Herzog (SPD): setzen, wenn es um das Umweltbundesamt oder das Frau Kollegin Connemann, Sie können im Protokoll Bundesamt für Naturschutz geht. In Ihrem Antrag for- nachlesen, dass ich Sie nicht persönlich angesprochen dern Sie sogar eine Gesetzesänderung mit einem Frei- habe. brief für illegale Anwender. (Lachen bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist doch Quatsch! Ich habe gesagt: in der Diskussion zu diesem Thema. Das ist absoluter Unsinn!) Lesen Sie „Agra-Europe“ vom 8. März! Der agrarpoliti- sche Sprecher Ihrer Fraktion spricht dort von „Stasi-Me- Bevor ich zum Projekt und zur Ausgangssituation thoden“. komme und die Anträge kommentiere, will ich eine wei- tere Vorbemerkung machen. In der Diskussion ist des (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe Öfteren das Wort „Stasi-Methode“ gefallen. Ich von der CDU/CSU: Aber sie doch nicht! – komme aus der Pfalz; ich war also weit weg von der Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber Sie haben Stasi. Vor 1990 habe ich aber einige Male die DDR be- sie angesprochen! – Ulrike Mehl [SPD]: Ge- sucht – mit sehr gemischten Gefühlen. Stasi-Methoden, troffene Hunde bellen!) 9932 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Gustav Herzog (A) Ich füge hinzu: Davon war schon in der Diskussion über strument, in diesem Fall in doppelter Bedeutung anzu- (C) dieses Thema, zum Beispiel im Ausschuss und in öffent- wenden. Eine verdeckte Radarkontrolle kriminalisiert lichen Zusammenkünften, die Rede. Ihr Kollege nicht alle Autofahrer. Im Unterschied aber zu dem Pro- Carstensen benutzt in der „Agra-Europe“ vom 8. März jekt hier wird ein Autofahrer mit Sanktionen belegt, das Wort „Stasi-Methoden“. Ich kann es Ihnen vorlegen. wenn er gegen die Regeln verstoßen hat. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wie Zu dem CDU/CSU-Antrag „Vertrauensvolle und unsouverän!) konstruktive Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz stärken“: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine Reihe von Erfolgen erzielt. Wir haben in Deutschland (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist die sehr viele gute Mittel, sehr neue Mittel und können da- Überschrift!) mit auch auf den Märkten in Europa und in der Welt be- stehen. Wir haben gut ausgebildete Anwender. Mo- Überschrift und Inhalt haben überhaupt nichts miteinan- dernste Technik ist im Einsatz. Trotzdem gibt es noch der zu tun. Ich bin mir auch nicht im Klaren darüber, ob immer viele schwarze Schafe. Frau Kollegin Sie überhaupt wissen, was Sie mit diesem Antrag errei- Connemann, Sie haben das Alte Land erwähnt. Dazu chen könnten, kann ich sagen: Schwarze Schafe sind dort schon des Öf- (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Mehr als teren angetroffen worden. Sie!) Wir hatten Diskussionen im Ausschuss. Sie sollten sich bei Ihren Kollegen, die in der vorherigen Wahl- sofern wir so unvernünftig wären, ihn umzusetzen, und periode im Ausschuss waren, einmal danach erkundigen, der Bundesrat dieser Unvernunft folgen würde, sodass was wir gemeinsam getan haben, um den Obstbau im die gewünschten Änderungen tatsächlich ins Gesetzblatt Alten Land zu erhalten. Dort wurde wirklich in großem kämen. Umfang – das war dokumentiert durch die Anwender Sie wollen das Pflanzenschutzgesetz ändern und die selbst – gegen die gute fachliche Praxis verstoßen. von mir vorhin mehrfach erwähnten Pflanzenschutzäm- (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Sie hauen ter, die die Kontrollen zu machen und Sanktionen zu ver- nur drauf!) hängen haben, ihrer Möglichkeiten berauben. Einem Ti- ger, bei dem der Zahn wackelt, wollen Sie nicht nur den Wir haben durchaus Schwierigkeiten, praktikable Zahn ziehen, sondern auch noch die Krallen ausreißen. Anwendungsbestimmungen zu finden, und das macht Da frage ich mich wirklich: Haben Sie die von Ihnen re- es für die Landwirte in Deutschland schwer. Ich nenne gierten Länder vorher gefragt, was sie zu diesem Antrag (B) Ihnen ein Beispiel: Ein Acker wird begrenzt durch einen meinen? Sie hätten dann nämlich bestimmte Möglich- (D) Weg, durch einen Wasserlauf, durch eine Wiese und keiten nicht mehr. Meine Fraktionskollegin hat schon ein durch einen anderen Acker. Verwendet der Landwirt ein Beispiel gebracht. bestimmtes Getreideherbizid, muss er vier verschiedene Abstände einhalten. Wenn er verschiedene Düsen be- Ich will das vertiefen. Sie wollen mit Ihrem Antrag nutzt, um das Mittel auszubringen, wird die Sache noch Folgendes erreichen: Das zuständige Pflanzenschutzamt komplizierter. Wenn der Acker dann auch noch in einem muss einen Brief an den Landwirt schreiben. – Jetzt Gebiet liegt, das kleinteilig strukturiert ist, wird es noch hätte ich gern einen aktiven Bauern aus der Union na- schwieriger. mentlich erwähnt, aber nun muss ich den Kollegen Ostendorff ansprechen, da er wohl der einzige aktive Das sehen wir auch ein. Wir sind da, denke ich, auf ei- Bauer hier im Plenum ist. – Das Pflanzenschutzamt nem guten Weg, bessere Technik verbindlich zu machen schreibt also einen Brief, in dem es einen Besuch am und auch die Auflagen für die Landwirte zu vereinfa- Dienstag, von 14 bis 16 Uhr, ankündigt. – Für den Fall, chen. dass der Kollegin Connemann die Frist noch nicht ange- Das Projekt des UBA hat sicherlich nicht den beson- messen erscheint: Der Besuch findet übernächste Woche deren Glanz, den ich für ein solches Projekt gern hätte. statt. – Es muss außerdem schreiben: Herr Ostendorff, Auch da sind gewiss noch einige Dinge nachzubessern. ich will bei Ihnen auf dem Hof einmal nachschauen, ob Aber Ihre permanente Unterstellung, Frau Kollegin im Giftschrank nur das ist, was darin sein darf. Connemann, (Ute Kumpf [SPD]: Bis dahin hat er Zeit zu (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt räumen!) wieder das mit der Stasi!) Es muss noch dazusagen: Ich will auch Ihre Feldspritze die Ergebnisse dieser Untersuchung, die Einzelergeb- kontrollieren. nisse und die Gesamtergebnisse, würden genutzt, um Verfahren gegen einen Landwirt einzuleiten, ist einfach Zu dem angekündigten Termin kommt der Mann oder falsch. Die Ergebnisse werden in anonymer Form ausge- die Frau vom Pflanzenschutzamt und steht vor dem wertet und weitergegeben. Haus. Herr Ostendorff sagt dann aber: Nein, nein; mit mir aber nicht. – Dann darf die Kontrolle nicht stattfin- Nun konkret zu den Anträgen, zunächst zu dem FDP- den. Der gute Beamte oder die gute Beamtin vom Pflan- Antrag. Frau Kollegin Happach-Kasan, verdeckte Feld- zenschutzamt dackelt wieder nach Hause und versucht, beobachtung ist ein anerkanntes wissenschaftliches In- einen neuen Termin zu bekommen. – Das alles, weil Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9933

Gustav Herzog (A) die Einschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung an der Präsenz hier im Saal erkennen können, nicht un- (C) bei den Kontrollen streichen wollen! bedingt sehr hoch. Aus dem Grunde möchte ich Sie bit- ten und auch aufrufen, in Zukunft zu versuchen, zu ge- (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist auch meinsamen Konzepten zu kommen. richtig so!) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Noch einmal: Die Regelung, die Sie vorsehen, hat gar NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- nichts mit dem vom UBA kritisierten Projekt zu tun. ten der SPD und der FDP) Überhaupt beinhaltet Ihr Antrag eine irre Logik nach dem Motto: Weil wir die strengsten Bestimmungen ha- Mir sind aber darüber hinaus, meine verehrten Kolle- ben, ist Misstrauen nicht angebracht und deswegen müs- ginnen und Kollegen von der Koalition, noch zwei sen wir die Kontrollen abschaffen. So etwas können Sie Punkte besonders wichtig: Erstens. In dem Koalitions- doch wirklich niemandem klar machen. vertrag, den Sie im Jahr 2002 geschlossen haben, steht: (Beifall bei der SPD) Wir werden den Naturschutz weiter stärken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kehren wir zurück Diesbezüglich sind natürlich Umsetzungsdefizite zu be- zu einer sachlichen Diskussion. Folgen Sie den Wegen, klagen. Ich nenne nur das Stichwort Grünes Band. Es die die rot-grüne Koalition vorgegeben hat. Damit brin- wäre sehr schön, wenn die Naturschutz- und Landwirt- gen Sie Landwirtschaft und Naturschutz unter einen Hut. schaftspolitiker in den Koalitionsfraktionen ihren Fi- Im Ergebnis ist das gut für Bauer, Bach, Busch und nanzminister so weit brächten, dass eine Lösung dafür Biene. gefunden wird, wie dieses nationale Kultur- und Natur- erbe auf Dauer bewahrt und gleichzeitig unter Einbezie- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. hung der Landwirtschaft eine Nutzung der Flächen er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möglicht werden kann. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Ganz richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Göppel von der Ein zweiter Punkt ist mir im Zusammenhang mit der CDU/CSU-Fraktion. Agrarreform besonders wichtig – ich wäre Ihnen dankbar, Herr Kollege Herzog, wenn Sie etwas leiser telefonieren könnten –: Bei der Einführung von Cross Compliance Josef Göppel (CDU/CSU): dürfen die Naturschutzauflagen, die die Landwirtschaft Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich laut Gesetz einzuhalten hat, nicht so hoch geschraubt wer- (B) (D) möchte in den kommenden vier Minuten zu unserem Na- den, dass für den Vertragsnaturschutz kein Spielraum turschutzantrag sprechen. Der Bedeutungsinhalt des Na- mehr bleibt. Damit würden wir nämlich viele Landwirte, turschutzes ist in den letzten zehn bis 15 Jahren gegen- die sich frühzeitig dem Naturschutz zugewandt haben, über den 80er-Jahren deutlich erweitert worden: vom enttäuschen. Über diesen Punkt wird im Rahmen der Um- ursprünglichen Arten- und Biotopschutz hin zum Schutz setzung der Agrarreform in Deutschland derzeit am meis- der Lebensräume, in den auch die Lebensräume des ten diskutiert. Menschen einbezogen sind. Dieser Gedanke kam mir, Frau Lösekrug-Möller, als Sie von der gleichen Augen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- höhe gesprochen haben. Im von Herrn Caesar ausge- neten der FDP) arbeiteten Antrag stehen Natur, Mitgeschöpfe sowie der Hier haben wir einen Prüfstein, ob dieses Miteinander Mensch und seine wirtschaftliche Entwicklung auf und das Einbeziehen der Landwirtschaft in den Natur- gleicher Augenhöhe. Ich finde, das ist der richtige An- schutz funktioniert. satz. Ich bedanke mich – zwei Sekunden vor Schluss der Wir alle haben in dieser Woche ja die Studie des Ber- Redezeit. lin-Instituts „Deutschland 2020“ auf unseren Schreib- tischen vorgefunden. Aus dieser Studie geht ganz deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hei- lich hervor, dass Voraussetzung für eine gute terkeit im ganzen Hause) wirtschaftliche Entwicklung eine intakte Landschaft ist, aber umgekehrt eine intakte Landschaft allein nicht aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: reicht, um junge Menschen zu veranlassen, in einem Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Raum zu bleiben. Aus diesem Grund geht der Antrag des hat die Kollegin Undine Kurth von Bündnis 90/Die Grü- Kollegen Caesar in die richtige Richtung. Wir müssen nen das Wort. eine solche Zusammenschau vornehmen. Ich hätte es mir sehr gewünscht, wenn es bezüglich Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE des SPD-Antrages zum Naturschutz, den wir vor einigen GRÜNEN): Wochen behandelt haben, Gespräche mit der Union ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geben hätte. Nach meiner Meinung hätte es durchaus die Sehr geehrte Gäste dieses Hauses! Als letzte Rednerin in Möglichkeit gegeben, einen gemeinsamen Antrag zu- der Debatte über Naturschutzfragen möchte ich mit dem stande zu bringen, denn die Zahl der Abgeordneten, die beginnen, was mir an dem vorliegenden Antrag gefällt. sich um das Thema Naturschutz kümmern, ist ja, wie wir Die Antragsteller haben Recht, wenn sie feststellen, dass 9934 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Undine Kurth (Quedlinburg) (A) Naturschutzfragen immer wieder ins Zentrum politischer die international definierten Kategorien Nationalpark (C) Entscheidungen rücken müssen. Naturschutz geht alle und Biosphärenreservat? Meinen Sie das europaweit ge- an; das ist richtig und völlig unumstritten. regelte Schutzgebietsnetz Natura 2000? Das Natur- schutzgesetz der Bundesrepublik kennt gerade einmal Ich bin auch nicht so vermessen zu meinen, wir wür- sieben Schutzgebietskategorien; das dürfte eigentlich den alles richtig machen und es gäbe keine Punkte, über nicht zu viel sein. In der Straßenverkehrs-Ordnung zum die wir gemeinsam reden sollten. Das hat auch der soe- Beispiel haben wir 35 Regelungsbereiche und trotzdem ben vorgelegte Bericht des Sachverständigenrates Um- haben 49 Millionen Menschen in diesem Land einen welt deutlich gemacht, der uns vor Augen führt, dass Führerschein. Handlungsbedarf besteht. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten im Wesentli- (Gustav Herzog [SPD]: Und die fahren auch chen auch schon auf. Das tut mir eigentlich Leid; denn noch Auto!) ich finde, Herr Göppel hat Recht: Wir brauchen bei die- Also stellen Sie entweder Ihr Licht unter den Scheffel sem Thema sehr viele Gemeinsamkeiten. Aber Ihr An- oder – seien Sie ehrlich – Sie wollen Standards absen- trag macht leider ziemlich deutlich, dass Sie sich mit ken. Das sollten Sie dann aber auch aussprechen. Darü- Fragen des Naturschutzes als Teil der Daseinsvorsorge ber müsste man diskutieren. offenbar nicht wirklich und nicht ernsthaft auseinander setzen wollen. Wenn hier davon geredet wird, dass die Sie fordern, dass in Nationalparken Sport und Tou- Aufgaben des Naturschutzes in gleicher Augenhöhe mit rismus möglich sein müsse. Warum um alles in der Welt anderen Politikbereichen angegangen werden sollten, ist haben Sie Ihren Experten im Tourismusbereich, Herrn das richtig. Aber dann müssen Sie sich auch ernsthaft Brähmig, nicht gefragt? Leider ist er nicht hier. Er hätte damit auseinander setzen, wie die gleiche Augenhöhe Ihnen sagen können, dass das längst gängige Praxis ist. hergestellt werden kann. In Ihrem Antrag finde ich ein Er hätte darüber aufklären können, dass alle National- Sammelsurium von Forderungen, ziemlich kunterbunt parke im Rahmen ihres Schutzzweckes touristisch und und ohne jede Stringenz. Ein Antrag ist aber dazu da, natursportlich genutzt werden. Glauben Sie wirklich, konkret aufzuzeigen, wo welche Veränderungen erreicht dass Sie dem Naturschutzgedanken einen Dienst erwei- werden sollen. Es sollte nicht nach dem Motto gehen, sen, wenn Sie die immer wieder gebrauchten Vorurteile, dass über das geredet wird, über das jeder einmal reden dass Naturschutz und ökonomischer Nutzen einander ge- wollte. genüberständen, bedienen? Ich glaube nicht, dass wir da- mit die notwendige Debatte voranbringen können. Frau Happach-Kasan, was ist eigentlich „die Kolonia- lisierung des ländlichen Raums durch die Städte“? Was (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) ist denn das für ein Begriff? Was soll man damit anfan- (D) gen? Ich glaube auch nicht, dass es richtig ist, darauf zu verweisen, dass die Föderalismusdebatte alle anderen (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist notwendigen Debatten überlagern könnte. das, was jetzt vorgeht! – Jürgen Koppelin [FDP]: Ich habe das verstanden!) Noch ein letztes Wort zum Bundesjagdgesetz. Wenn Sie sagen, wir würden die Novellierung dieses Gesetzes Andere Beispiele: Was sollen wir davon halten, wenn mit dem Ziel betreiben, die freiwilligen Leistungen der Sie fordern, „zu verständlichen, übersichtlichen und pra- Jäger nicht anerkennen zu müssen, dann muss ich Ihnen xisnahen Formulierungen und Lösungen zurückzukeh- sagen, dass das blanker Unsinn ist. Allein ein Blick in ren“? Werden Sie doch, bitte schön, etwas konkreter. unseren Koalitionsvertrag würde Ihnen zeigen, dass wir Was verstehen Sie denn nicht? Was wollen Sie wie än- das Gesetz unter dem Gesichtspunkt des Natur- und Ar- dern? Was Sie in Ihrem Antrag formulieren, ist sehr all- tenschutzes reformieren müssen. gemein. Was dürfen wir denn davon halten, wenn Sie, Herr (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Papier ist Caesar, fordern, dass der Bund Flächen im Grünen geduldig!) Band für den Biotopverbund zur Verfügung stellen soll? Nur wer nicht anerkennt, dass sich der Raum, in dem Wir wissen doch, dass es das Angebot des Bundesfi- sich wild lebende Tiere heute bewegen, in den letzten nanzministers gibt, dass die Länder kostenlos die Flä- 70 Jahren gravierend verändert hat – auch durch chen übernehmen können. Es liegt jetzt an den Ländern, menschlichen Einfluss –, kann leugnen, dass ein das auch zu tun. Wir sind einer Meinung, dass mit dem 70 Jahre altes Gesetz in einigen Punkten novelliert wer- Grünen Band etwas geschehen muss. Aber der Bund hat den muss. Es ist einfach Unsinn, so zu tun, als ob es in sein Mögliches getan. diesem Bereich keinen Handlungsbedarf gäbe. (Cajus Julius Caesar [CDU/CSU]: Aber Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben unseren Antrag abgelehnt!) Dass Veränderungsbedarf besteht, betonen wir beide, Machen Sie Ihren Einfluss auf die Landeschefs geltend, Koalition und Opposition. Sie predigen aber das neolibe- damit die Übernahme jetzt erfolgen kann. rale Vaterunser „weniger Staat, weniger Bürokratie und Was meinen Sie, wenn Sie – ohne konkret zu werden – mehr marktwirtschaftliche Instrumente“. Das alleine das „nicht mehr durchschaubare Bündel an unterschied- macht es aber nicht. Denn ohne Regeln ist Naturschutz lichen Schutzgebietskategorien“ beklagen? Meinen Sie nicht möglich, wie wir alle wissen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9935

Undine Kurth (Quedlinburg) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) und bei der SPD) der CDU/CSU Unser Credo dagegen ist, den Naturschutz in die na- Früherkennung, Behandlung und Pflege bei tionale Nachhaltigkeitsstrategie und somit in alle Politik- Demenz verbessern felder zu integrieren. Wenn das Wort von der Nachhal- tigkeit fällt, darf nicht ein jeder meinen – ich bitte Sie da – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, um Ihre Unterstützung –, es sei nur das Umweltministe- Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, wei- rium gemeint. terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Haben Sie Verständnis, dass wir Ihren Anträgen nicht Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung zustimmen können. Trotzdem äußere ich die Hoffnung, der Früherkennung und Behandlung von dass wir auf diesem so wichtigen Weg gemeinsam vor- Demenz ankommen. – Drucksachen 15/2372, 15/2336, 15/228, Danke schön. 15/3075 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: und bei der SPD) Abgeordnete Hilde Mattheis Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Es gibt Ich schließe die Aussprache. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- den Drucksachen 15/2467, 15/2969 und 15/2668 an die nerin der Kollegin Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- das Wort. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Hilde Mattheis (SPD): Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Tagen hat der Staatssekretär im Bundesministe- a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein- rium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Herr Klaus gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur Theo Schröder, anlässlich eines Festaktes des Bundes- von Leistungsverschiebungen bei häuslicher Kran- verbandes privater Anbieter sozialer Dienste für eine kenpflege zwischen gesetzlicher Krankenversi- (B) breite gesellschaftliche Debatte zum Thema „Was ist uns (D) cherung und sozialer Pflegeversicherung (Pflege- die Pflege wert?“ plädiert. Korrekturgesetz – PKG) (Detlef Parr [FDP]: Das ist gut!) – Drucksache 15/1493 – Damit hat er das aufgegriffen, was Anliegen vieler ist. (Erste Beratung 72. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Allen, die sich mit dem Thema Pflege befassen, ist ses für Gesundheit und Soziale Sicherung klar: Eine solche breite Debatte ist nicht einfach. Die (13. Ausschuss) Vorstellungen über die gesamtgesellschaftliche Verant- wortung gehen stark auseinander. Generelle Ziele, zum – Drucksache 15/3075 – Beispiel die Ermöglichung selbstbestimmten Lebens, auch im hohen Alter, sind leicht formuliert. Die notwen- Berichterstattung: dige Finanzierung wird uns in den nächsten Monaten in- Abgeordnete Hilde Mattheis tensiv beschäftigen. Das beinhaltet auch eine genaue b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kom- richts des Ausschusses für Gesundheit und So- munen. Darauf wird insbesondere in dem von uns, SPD ziale Sicherung (13. Ausschuss) und Bündnis 90/Die Grünen, vorgelegten Antrag hinge- wiesen. Auf der Tagesordnung stehen neben diesem um- – zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde fassenden Koalitionsantrag zum Themenbereich De- Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, Helga Kühn- menz die Anträge der Opposition und das Pflege- Mengel, weiterer Abgeordneter und der Frak- Korrekturgesetz. tion der SPD sowie der Abgeordneten Petra Selg, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck Im Pflege-Korrekturgesetz fordert der Bundesrat die (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verlagerung der Finanzierung von behandlungspflege- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN rischen Maßnahmen von der Pflegeversicherung in die Krankenversicherung. Urteile des Bundessozialgerichts Demenz früh erkennen und behandeln – für hatten in der Praxis dazu geführt, dass Pflegebedürftige, eine Vernetzung von Strukturen, die Intensi- die für bestimmte behandlungspflegerische Hilfeleistun- vierung von Forschung und Unterstützung gen ambulante Dienste in Anspruch nehmen, finanziell von Projekten zusätzlich belastet wurden. Zum Teil wurden 80 Pro- – zu dem Antrag der Abgeordneten Verena zent der zugestandenen Leistungen allein für das tägli- Butalikakis, Annette Widmann-Mauz, Andreas che An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen 9936 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Hilde Mattheis (A) aufgebraucht. Damit reduzierte sich für die Betroffenen (Detlef Parr [FDP]: Neuroleptika viel mehr!) (C) ganz erheblich die Möglichkeit, sich andere Leistungen dazuzukaufen. Auf dem Beipackzettel von Acetylcholinesterasehem- mern werden beispielsweise Nebenwirkungen wie Ver- Bundesregierung und Parlament haben bereits gehan- wirrtheitszustände und verstärkter Bewegungsdrang delt. Seit dem 1. Januar 2004 regelt das Gesundheitsmo- aufgelistet. Schwerpunktmäßig also auf eine medika- dernisierungsgesetz in § 37 Abs. 2 SGB V, dass diese mentöse Behandlung zu setzen findet – das wird Sie von medizinische Behandlungspflege von der Krankenkasse der FDP nicht erstaunen – nicht unsere Unterstützung. zu finanzieren ist. (Detlef Parr [FDP]: Wir reden nur von (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber nur be- kombinierter Behandlung!) züglich der Kompressionsstrümpfe!) – Herr Parr, bevor Sie sich aufregen: Obwohl damit der weitaus größte Teil an medizinischer Behandlungspflege erfasst wird, muss festgestellt wer- (Detlef Parr [FDP]: Ich rege mich gar nicht den, dass krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen wie auf!) zum Beispiel das Wechseln von Sprechkanülen oder die Eine medikamentöse Behandlung von Demenzkranken Sekretabsaugung bei der Nahrungsaufnahme damit nicht schließt niemand aus. Wir wissen aber: Bei diesem berücksichtigt werden. Krankheitsbild bringt soziale Betreuung mehr Lebens- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) qualität für die betroffenen Menschen. Hier besteht weiterer Regelungsbedarf. Diese Forderung der FDP war dann auch für die CDU/CSU zu viel. Sie will – ich nehme an, als Brücken- Warum lehnen wir also trotzdem den Bundesratsent- schlag zur kleineren Oppositionspartei, der sie inhaltlich wurf, der auf einen Antrag Bayerns zurückgeht, ab? Der nicht ganz in den Rücken fallen will – die Entwicklung Umsetzungsvorschlag aus Bayern ist zu verwaltungsauf- optimierter medikamentöser Behandlungsmaßnahmen – wendig; denn die Berücksichtigung des behandlungs- mehr nicht. pflegerischen Hilfebedarfs bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit wird von der häuslichen Versor- Die CDU/CSU hat in ihrem Antrag zur Demenz we- gungsstruktur abhängig gemacht. Wenn also die häusli- sentliche Teilbereiche unseres Antrags aufgegriffen: die che Pflegeperson aus irgendeinem Grund ausfällt, muss bessere Unterstützung pflegender Angehöriger, die Aus- eine Neubeurteilung der Einstufung erfolgen. Das ist für weitung der Beratung, die Erweiterung des Pflegebe- alle Beteiligten unzumutbar. griffs, Fort- und Weiterbildungsangebote für Hausärzte, Therapeuten und Pflegekräfte. (B) In dem Entwurf eines Pflege-Korrekturgesetzes wird (D) also ein berechtigtes Anliegen formuliert, welches größ- Warum also debattieren wir heute drei in Teilen fast tenteils durch das GMG erfüllt ist. Der hier vorgeschla- inhaltsgleiche Anträge? Bei aller Ernsthaftigkeit dieses gene Lösungsweg ist zu verwaltungsaufwendig. Zum Themas könnten sich unbeteiligte Beobachter fragen, ob Vorschlag aus Bayern kann also nur festgestellt werden: wir mit dieser Vorgehensweise wirklich der Sache die- Problem erkannt, Lösungsvorschlag schlecht! nen und der Herausforderung gerecht werden. Die Einla- dung, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, hatte (Beifall bei der SPD) die Opposition erhalten. Zwischen den Berichterstattern Wir lehnen das Pflege-Korrekturgesetz ab. aller Parteien wurde verabredet, einen ersten Entwurf vorzulegen. Das haben wir von SPD und Bündnis 90/Die Zur Debatte stehen heute auch drei Anträge zur Ver- Grünen getan. Die Begründung, mit der die CDU/CSU besserung der Lebensbedingungen von Demenz- aus dem interfraktionell geplanten Projekt zur Situation kranken. In allen Anträgen wird zu Recht die Verbesse- von Demenzkranken in unserem Land ausgestiegen ist, rung von Forschung, Prävention und Früherkennung kann ich nur als fadenscheinig bezeichnen. gefordert. Die Begründungen der Forderungen sind al- lerdings unterschiedlich aussagekräftig. Zum FDP-An- 1,2 Millionen Menschen leiden heute schon an De- trag ist lediglich zu sagen, dass in der letzten Forderung menz. Sofern wir bei Therapie- und Präventionsmaßnah- ein Coming-out steckt. Sie fordern: men keine entscheidenden Fortschritte machen, wird sich diese Zahl in den nächsten Jahrzehnten verdoppeln. Finanzierung der ärztlichen Leistungen außerhalb Deshalb ist es notwendig, rechtzeitig die richtigen Wei- der gedeckelten Gesamtvergütung und Heraus- chen zu stellen. So können wir ein Netz von abgestuften, nahme der für Vorsorge und Therapie von Demenz- bedürfnisorientierten und gemeindenahen Hilfe- und erkrankungen benötigten Arzneimittel aus den Versorgungsstrukturen und -angeboten für hilfebedürf- Richtgrößenvereinbarungen. tige Menschen und ihre Angehörigen schaffen. Dies Das heißt: keine Deckelung bei der Behandlung von De- steht im Mittelpunkt unseres Antrags. menzerkrankten. Wir wollen, dass auf der Grundlage eines qualitätsge- Wir alle wissen, dass es Medikamente gibt, die den sicherten Assessments ein individuell zugeschnittener Ausbruch von Alzheimer möglicherweise bis zu einem Hilfe- und Maßnahmenplan aufgestellt wird. Wir wollen Jahr verzögern können. Wir wissen aber auch, dass diese ambulante Strukturen und verstärkt alternative Wohnfor- Medikamente schwere Nebenwirkungen hervorrufen men, die ein Leben in Selbstbestimmung ermöglichen. können. Wir wollen kostenträgerübergreifende Anreizstrukturen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9937

Hilde Mattheis (A) für Prävention und Rehabilitation. Wir wollen flexible, Das sagte Bundespräsident Rau im Dezember letzten (C) auf die Situation der jeweiligen Einrichtungen und ihre Jahres anlässlich eines Gesprächs mit der Deutschen Bewohner bezogene Instrumente der Personalbemes- Alzheimer-Gesellschaft. Diese Erkenntnis ist sicherlich sung. nicht neu, aber es ist wichtig und richtig, dass der Bun- despräsident wieder auf die politische Verantwortung Neben der Weiterentwicklung dieser Strukturen ist es hinweist; denn politische Verantwortung heißt: Wer re- notwendig, in der pflegerischen Versorgung selbst An- giert, muss auch handeln. sätze und Konzepte zu unterstützen, die auf die Wieder- herstellung von Kompetenzen und Fähigkeiten pflege- Nach konservativen Schätzungen leiden heute über bedürftiger Menschen abzielen. Hierbei ist eine 950 000 Menschen in Deutschland an einer mittelschwe- grundsätzliche Lösung der Schnittstellenproblematik der ren oder schweren Demenz. Bezieht man leichtere De- einzelnen Kostenträger nötig. Der Begriff der Pflege- menzformen in die Berechnung ein, so kommt man auf bedürftigkeit soll erweitert werden. Hierfür muss nicht die gerade schon von der Kollegin Mattheis genannte nur die Pflegebedürftigkeit neu definiert werden, son- Zahl von 1,2 Millionen Menschen. Da demenzielle Er- dern wir müssen auch die Verfahren zur Feststellung der krankungen – die Alzheimerkrankheit ist dabei die mit Pflegebedürftigkeit verbessern. Abstand verbreitetste – vor allem bei Menschen in höhe- rem und hohem Lebensalter auftreten, ist laut Experten- Demenz ist heute immer noch ein Tabuthema. Wir meinung – und da sind sich alle einig – für die folgenden müssen also Netze zwischen professionellen und ehren- Jahre und Jahrzehnte mit einem dramatischen Anstieg amtlichen Einrichtungen knüpfen, die nicht nur demenz- dieser Krankheit zu rechnen. Die von der Krankheit be- kranke Menschen betreuen, sondern auch den pflegen- troffenen Menschen und ihre Familien erwarten daher zu den Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wer Recht Hilfe und sie warten schon lange – zu lange. einmal einen Demenzkranken gepflegt hat, weiß, welche physische und vor allen Dingen psychische Belastung es Wir beraten heute drei Anträge, die zur Verbesserung bedeutet, einen geliebten Menschen nicht nur beim kör- der Situation Demenzerkrankter, ihrer pflegenden Ange- perlichen, sondern auch beim geistigen Zerfall zu beglei- hörigen, ihrer Familien und auch der behandelnden und ten. betreuenden Fachkräfte führen sollen. Wir beraten wie- der einmal und die Beratungszeit von der ersten Lesung Der Wunsch, einen gemeinsamen Beitrag für eine ge- des FDP-Antrags im Februar 2003 bis heute, also von samtgesellschaftliche Debatte zu leisten, konnte wegen über einem Jahr, war lang; Zeit, die die Betroffenen ei- des Verhaltens der Opposition nicht realisiert werden. In gentlich nicht haben. der nächsten Zeit werden wir nicht nur über die Umset- zung des Bundesverfassungsgerichtsurteils, Und Kollegin Mattheis, Sie können die Abläufe und (B) Absprachen zu diesen Anträgen im Plenum und im Aus- (D) (Detlef Parr [FDP]: Das wäre auch zu wenig!) schuss noch zehnmal falsch darstellen – es stimmt nicht. sondern zumindest auch über den Fahrplan für eine um- Ich habe mich bereits in meiner letzten Rede hier dazu fassende Reform der Pflege zu diskutieren haben. Wenn ausführlich geäußert und heute sollten wir uns dem die Opposition ihr Verhalten, das sie bei diesem Antrag Grundsätzlichen zuwenden. an den Tag gelegt hat, fortsetzt, hilft sie der gesamtge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hilde sellschaftlichen Debatte nicht. Mattheis [SPD]: Das ist ja unglaublich!) (Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ Worüber beraten wir? Die Anregungen und Forderun- CSU]: Aber der Kanzler hat doch die Reform gen von Experten verschiedener Disziplinen und von zurückgenommen!) Betroffenenvertretern sind zum großen Teil seit mehre- So wird sie zu keiner Lösung kommen und erst recht ren Jahren bekannt. Wir wissen, dass wohnortnahe Be- nicht den hilfebedürftigen Menschen dienen. treuungs- und Beratungsstrukturen, individuelle Hilfe- planung und qualitätsgesicherte Pflege und Betreuung, Herzlichen Dank. vielschichtige Behandlungskonzepte und frühzeitiges (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erkennen durch kompetente Ärzte und Unterstützungs- DIE GRÜNEN) angebote für Angehörige ebenso wichtig sind wie die Qualifizierung der Fachkräfte, verstärkte und vernetzte Forschungsanstrengungen und die Aufklärung über die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Krankheit in der Öffentlichkeit. Das Wort hat jetzt die Kollegin Verena Butalikakis von der CDU/CSU-Fraktion. All diese Forderungen, ergänzt um die Umsetzungser- fordernisse aus aktuellen wissenschaftlichen Forschun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen, sind vor über zwei Jahren in einem umfassenden Bericht zusammengefasst worden. Und damit liegen seit Verena Butalikakis (CDU/CSU): Januar 2002 77 konkrete Handlungsempfehlungen zur Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verbesserung der Lage und der Versorgung Demenz- erkrankter vor, denn mit 77 Handlungsempfehlungen Demenzielle Erkrankungen sind eine sozial- und endete der Vierte Altenbericht zum Thema „Risiken, Le- gesundheitspolitische Herausforderung erster Ord- bensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter beson- nung. derer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“. 9938 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Verena Butalikakis (A) Die Sachverständigenkommission, die diesen Bericht er- Die bereits ergriffenen Initiativen zur Verbesserung (C) stellt hat, war von der rot-grünen Bundesregierung beru- der Früherkennung und Therapie von Demenzer- fen worden und die Empfehlungen richteten sich an krankungen sind zügig weiterzuführen. ebendiese Bundesregierung. Das war für die zuständige Ministerin eigentlich eine Aufforderung zum konkreten So lautet die Forderung von Rot-Grün. Das ist alles, was Handeln. in Ihrem Antrag steht. Im Vierten Altenbericht werden gerade diese Initiativen als „bei weitem nicht ausrei- Passiert ist seit Januar 2002, also seit über zwei Jah- chend“ gerügt. ren, aber nichts. Seit über zwei Jahren gibt es keine kon- Da Demenz derzeit leider noch nicht heilbar ist, be- krete Initiative aus dem Haus der Gesundheits- und So- steht nach Angaben von Wissenschaftlern nur am An- zialministerin, um auch nur eine dieser Forderungen fang der Erkrankung ein „therapeutisches Fenster“. Die umzusetzen. Experten fordern deshalb deutlich verstärkte For- (Detlef Parr [FDP]: Sehr traurig!) schungsbemühungen und internationale Zusammenar- beit, um die Früherkennung und Diagnostik zu verbes- – Richtig, Herr Kollege Parr. – Das sind zwei verlorene sern. Darüber hinaus sind sich alle Sachverständigen Jahre für die Betroffenen und ihre Familienangehörigen. einig, dass gerade eine im Frühstadium der Erkrankung Sie haben vergeblich auf Hilfe gewartet. einsetzende kombinierte Therapie den größten Erfolg Weil dies so ist, beraten wir heute abschließend die bietet. drei vorliegenden Anträge. Alle Anträge – auch der An- (Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!) trag der rot-grünen Regierungskoalition – fordern die Bundesregierung zum Handeln auf – endlich. Das heißt, die Gabe von Medikamenten und alle Formen psychosozialer Förderung sollen gemeinsam angewen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – det werden. Karsten Schönfeld [SPD]: Ich finde es schon unglaublich, was Sie hier sagen!) Obwohl Studien, die übrigens nach europäischem Standard durchgeführt wurden, einen Verzögerungseffekt Entsprechend meiner einleitenden Ausführungen greifen von sechs bis neun Monaten belegen, besteht bei der me- die Anträge zwangsläufig gleiche Themenpunkte auf. dikamentösen Behandlung mit Antidementiva noch er- Sie unterscheiden sich aber in der Gewichtung und se- hebliche Unterversorgung. Dies stellte in der zweiten An- lektiven Beschreibung dieser Punkte und ganz deutlich, hörung im März dieses Jahres neben vielen anderen auch wenn es um die konkreten Forderungen geht. der Sachverständige des MDK, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, fest. Der Medizinische Der Antrag der FDP greift mit dem Thema „Früh- (B) Dienst der Krankenkassen ist sicherlich unverdächtig, (D) erkennung und Behandlung von Demenz“ einen wichti- unnötigerweise höhere Ausgaben im Arzneimittelbereich gen Teilaspekt auf, den wir von der Intention her teilen. zu fordern. Einige Forderungen im Antragstext teilen wir aber so nicht – insoweit stimme ich der Kollegin Mattheis zu – (Detlef Parr [FDP]: Sehr guter Hinweis!) und andere fehlen uns. Aber auch er stellte die Unterversorgung fest und for- derte ihre Behebung. Das zeigt: Gerade bei der Frühbe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: handlung besteht derzeit ein Versorgungsproblem. Frau Kollegin Butalikakis, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Dreßen würde gerne eine Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellen. Erlauben Sie das? Meine Damen und Herren, wir möchten, dass die Menschen, die an dieser unheilbaren Krankheit erkran- Verena Butalikakis (CDU/CSU): ken, alle Hilfen erhalten, die derzeit möglich sind; außer- Ich würde dies gern zu Ende ausführen. Ich empfehle dem wollen wir weitere Verbesserungen, und das so dem Kollegen Dreßen, sich zu einer Kurzintervention zu schnell wie möglich. Deshalb haben wir in unseren An- melden. trag, im Gegensatz zum Antrag von Rot-Grün, die For- derungen der Sachverständigen aufgenommen. Wir er- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sehr gut!) warten ihre unverzügliche Umsetzung. Da der Antrag heute ohne Berücksichtigung unserer Bei der Pflege von Demenzkranken ist die Erweite- umfangreichen Änderungswünsche zur Abstimmung an- rung des Pflegebegriffs eine seit Jahren bestehende steht, werden wir als CDU/CSU-Fraktion den FDP-An- Forderung; trag ablehnen. (Detlef Parr [FDP]: So ist es!) Der Antrag der rot-grünen Regierungskoalition und der Antrag der CDU/CSU-Fraktion, unser Antrag also, denn demente Menschen brauchen nicht nur eine Grund- stimmen zunächst im Benennen mehrerer Themen- pflege bei allgemeinen täglichen Verrichtungen, sondern schwerpunkte überein. darüber hinaus Beaufsichtigung und Betreuung. Daher fordern wir in unserem Antrag, den verrichtungsbezoge- Die deutlichen Unterschiede will ich an zwei zentra- nen Pflegebegriff für diese Betreuung noch in diesem len Punkten aufzeigen: bei der Früherkennung und Jahr um täglich 30 Minuten zu erweitern. Wenn der -behandlung und beim erweiterten Pflegebegriff. Grundsatz „ambulant vor stationär“ in die Realität um- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9939

Verena Butalikakis (A) gesetzt werden soll, dann muss hier dringend und schnell Stelle dem rot-grünen Zwang folgen. Ich beantrage aber (C) eine Änderung erfolgen. auch gerne für Sie eine Einzelpunktabstimmung, wenn Ihnen das helfen sollte. Auch diese Forderung ist nicht neu; sie ist schon im Dritten Altenbericht erhoben worden, im Jahre 2001 hat (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die CDU/CSU-Fraktion dazu einen Gesetzentwurf ein- Um Gottes willen! Ich will Ihnen keine Mühe gebracht, auch im Vierten Altenbericht finden wir diese machen!) Forderung. Die Rürup-Kommission, die von der Bun- desregierung eingesetzt worden war, hat diese Forderung Wir können so über die einzelnen Punkte unseres Antra- erhoben. Ebenso hat Bundesministerin Schmidt bei der ges abstimmen. Dann können Sie uns zustimmen. Vorstellung der Eckpunkte ihrer Reform der Pflegever- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin si- sicherung im Oktober 2003 gesagt, sie wolle diesen cher, dass ich mit den beiden Themenpunkten, die ich Punkt umsetzen. gerade aufgeführt habe, überdeutlich gemacht habe, dass Wenn Sie jetzt mit einer schnellen Umsetzung rech- Themen benennen das eine ist, die Forderung nach nen, müssen Sie wissen, dass das nicht passieren wird; Umsetzung das andere. Damit ist auch begründet, wa- rum wir den Antrag der Regierungskoalition ablehnen. (Detlef Parr [FDP]: Herr Dreßen hat ja festge- Denn nur unser Antrag greift die zentralen Problemfel- stellt: Das kostet Geld!) der auf und fordert die Regierung – das ist das Wichtige – zu schnellem und unverzüglichem Handeln auf. denn im Januar dieses Jahres hat der Kanzler die Reform der Pflegeversicherung mit einem Machtwort Ich möchte ganz kurz noch zwei wichtige Punkte an- gestoppt. Mittlerweile kann man der Presse entnehmen, sprechen, die auch in unserem Antrag enthalten sind. dass das Sozialministerium in diesem Jahr keine Verbes- Das eine, was mir ein besonderes Anliegen ist, ist die serungen für Demenzerkrankte auf den Weg bringen Situation der Angehörigen. Hier haben wir – das sage wird. Sie sind auf die folgenden Jahre verschoben wor- ich sehr deutlich – von der Grundeinstellung her, wie den. Durch die Aussagen der Kollegin Mattheis wurde hier Hilfen zu erbringen sind, keinen Dissens; da sind dies ja gerade bestätigt. wir uns in diesem Haus einig. Wir wissen, dass wir flä- chendeckende Angebote für Beratung, Betreuung und (Hilde Mattheis [SPD]: Ich habe gesagt: zu- Tagespflege brauchen. Wir sind uns aber nicht ganz so mindest! Zuhören bitte!) einig, wenn es darum geht, wie das umzusetzen ist. Es geht nur noch um die Planung einer Änderung der Pflegeversicherung – mehr nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) Das passt auch zu dem Antrag von Rot-Grün; denn Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. dort heißt es: „... bedarf der Pflegebegriff in der Pflege- versicherung mittelfristig einer Überarbeitung“. Verena Butalikakis (CDU/CSU): Aus unserer Sicht müssen die Kommunen hier unter- (Erika Lotz [SPD]: Änderungen müssen doch stützt werden; sie dürfen nicht an den Pranger gestellt geplant werden, Frau Kollegin!) werden. Eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Bund, Län- „Mittelfristig“ heißt nichts anderes, als dass der Beginn dern und Kommunen hätte die Bundesregierung, wenn der Planungen auf einen unabsehbaren Zeitpunkt ver- sie vernünftig gehandelt hätte, schon längst einrichten schoben wird. können; dafür braucht man eigentlich keinen Antrag. Damit bin ich bei dem Zitat, mit dem ich enden möchte, (Hilde Mattheis [SPD]: Ich bin gespannt, was Herr Präsident. Bundeskanzler Schröder hat sich im Sie zur Umsetzung sagen!) „Focus“ am 26. April dieses Jahres folgendermaßen ge- Hier muss ich natürlich das Wort an die Frau Kollegin äußert: Selg richten: Frau Selg, wenn Sie Ihre Aussagen, die Wenn wir außerdem etwas für Demenzkranke tun man seit Ende April in der Presse lesen kann, können, ohne in ein finanzielles Risiko zu geraten – (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wer hätte etwas dagegen? Schön, dass Sie lesen!) So darf man mit dem Thema Demenz nicht umgehen. tatsächlich ernst meinen und wenn Sie glaubwürdig blei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben wollen – gerade auch im Hinblick auf die letzten Artikel –, dann dürften Sie dem Antrag der Regierungs- koalition zumindest in diesem Punkt nicht zustimmen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Petra Selg vom Bünd- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In nis 90/Die Grünen. welchem Antrag?) In Ihrem eigenen Antrag steht „mittelfristig“. In der Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Presse verbreiten Sie, dass Sie sich dafür einsetzen, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wir noch in diesem Jahr im Bereich der Pflegeversiche- ren! Die Reform der Pflegeversicherung hat mit den hier rung Verbesserungen für an Demenz Erkrankte bekom- vorliegenden Anträgen nichts zu tun. Sie können sicher men. Also: entweder Glaubwürdigkeit oder an dieser sein: Wir werden auch das regeln. 9940 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Petra Selg (A) Wie Sie schon richtig bemerkten: Wir beraten wieder Der letzte Spiegelstrich Ihres Antrags, verehrte Kolle- (C) einmal über diesen Bereich; so wiederhole auch ich mich ginnen und Kollegen von der FDP, mutet allerdings gerne. schon etwas seltsam an. Ich frage mich, welches Motiv Sie dafür haben, die Aufhebung der Kostendeckelung Zunächst zum Pflege-Korrekturgesetz. Wir alle sind und der Richtgrößenvereinbarung zu fordern. Sie sind uns der Schnittstellenproblematik zwischen Kranken- doch sonst so sparsam und auf Selbstbeteiligung und versicherung und Pflegeversicherung bewusst. Das Pro- Kostenerstattung versessen. Nur wenn es um diese sehr blem besteht kurz gefasst darin, dass die Krankenkassen teuren Medikamente geht, über deren Wirkung wir viel bestimmte Behandlungsleistungen der Pflegeversiche- zu wenig wissen, ist das auf einmal nicht der Fall. Diese rung zugeschoben haben, zum Beispiel das An- und Forderung ist völlig unbegründet, inakzeptabel und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen. Die Betonung schlicht und ergreifend populistisch. liegt aber auf „haben“; denn weil wir in der Koalition uns der Problematik dieses Verschiebebahnhofes be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wusst waren, haben wir im Rahmen der Gesundheitsre- und bei der SPD – Hilde Mattheis [SPD]: Und form gemeinsam mit Ihnen von der Union den entspre- persönlich motiviert!) chenden Paragraphen im Fünften Sozialgesetzbuch neu gefasst. Außerdem ist es viel zu einseitig, vor allem auf die Me- dikalisierung von Dementen zu setzen, wie es die Oppo- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber nur für sition tut. Glauben Sie vielleicht, wir erfinden so einfach die Strümpfe!) eine Superpille gegen Demenz, womit alle Probleme ge- löst sind? Damit ist das An- und Ausziehen von Kompressions- strümpfen eindeutig als Leistung der Krankenversiche- (Detlef Parr [FDP]: Sie dürfen nicht verteu- rung definiert; der wichtigste und teuerste Teil ist damit feln, was am Markt ist!) erledigt. Insgesamt haben wir von der Regierung viel getan. Im Herr Zöller, wenn Sie so laut rufen, dann frage ich Vierten Altenbericht der Bundesregierung von 2002 mich: Hätten Sie mehr gewollt? Warum haben Sie es steht all das, was Sie heute als Ihre Erkenntnis verkau- dann bei den Verhandlungen zum GMG nicht gesagt fen. Darüber hinaus nenne ich nur das „Kompetenznetz oder gefordert? Von so etwas habe ich nichts gehört! Demenzen“, das vom BMGS gefördert wird, die Neure- gelung der Altenpflegeausbildung aus dem Jahr 2002 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz, ebenfalls aus und bei der SPD) dem Jahr 2002. Ich könnte noch weitere Beispiele nen- (B) Ich sage Ihnen auch, warum: weil es Geld kostet. nen. Meine Redezeit würde nicht ausreichen, alles auf- (D) zuzählen. Aber ich rate Ihnen: Lesen Sie; denn Lesen (Erika Lotz [SPD]: Wo Sie Recht hat, hat Sie bildet! Recht!) (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Lesen Sie Es ist durchaus richtig, dass mit der Regelung zu den den Vierten Altenbericht!) Kompressionsstrümpfen nicht das ganze Problem gelöst ist. Wenn wir jetzt den Rest des Verschiebebahnhofes, Es ist also viel passiert; das können auch Sie von der Einreibungen usw. auch noch regeln wollen, bin ich gern Opposition nicht leugnen. Aber ich bin ehrlich: Das dabei. Aber dann benennen Sie bitte schön ehrlich die fi- reicht nicht aus. nanziellen Auswirkungen und sagen Sie, wo das Geld (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha!) herkommen soll. Darin sind wir uns völlig einig. Aus diesem Grund hat (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie fordern die Koalition selbst einen Antrag zu diesem Thema ein- und wir sollen es bezahlen? Was ist das denn gebracht. für eine Aufgabenteilung?) (Detlef Parr [FDP]: Über ein Jahr haben Sie Was mit diesem Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, ist gebraucht! – Verena Butalikakis [CDU/CSU]: – Frau Kollegin Mattheis hat es schon gesagt – schlicht Seit zwei Jahren ist nichts passiert!) und einfach bürokratisch und zu umständlich, um das vernünftig zu regeln; das kann es nun wirklich nicht Liebe Frau Butalikakis, wir ruhen uns auf dem Erreich- sein. Sie fordern doch immer Bürokratieabbau. Mit ten keinesfalls aus. diesem Gesetz würden Sie Bürokratiemonster schaffen. Deshalb werden wir dieses Gesetz ablehnen. Wir fordern, in diesem Bereich vor allem Prävention und Rehabilitation von Pflegebedürftigen zu fördern. Kommen wir jetzt zu den Anträgen zum Thema Bezogen auf Demenz heißt das: Die Krankheit muss Demenz. Es lässt sich feststellen, dass sich offensicht- möglichst früh erkannt und behandelt werden. Wir wol- lich alle Fraktionen darüber einig sind, dass auf diesem len gute Modelle und Ansätze für neue Wohnformen Gebiet Handlungsbedarf besteht. Es freut mich insbeson- verwirklichen und ambulante Netzwerke fördern und dere, erkennen zu können, dass die FDP offenbar doch weiterentwickeln. Dabei muss vor allem der ambulante ein soziales Gewissen besitzt, entgegen ihren jüngsten Bereich gestärkt werden. Die Betroffenen müssen ihre Forderungen, die gesetzlichen Krankenkassen abschaf- verbliebenen Potenziale voll ausschöpfen können und fen zu wollen. sollen nicht nur Pillen schlucken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9941

Petra Selg (A) Ich betone immer wieder, dass wir auch die Angehö- Ich hoffe sehr auf Ihre Mitarbeit und dafür, dass Sie (C) rigen der an Demenz Erkrankten nicht vergessen dürfen, nicht nur populistische Forderungen aufstellen. die oft bis an die Grenzen ihrer psychischen und physi- schen Belastbarkeit gefordert sind. Deshalb brauchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir entlastende Versorgungsangebote wie Tages-, Nacht- und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ und Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Wir brauchen mehr CSU]: Seit zwei Jahren haben Sie das blo- Informations- und Beratungsangebote. Hier sind aber ckiert!) auch die Länder und die Kommunen gefordert. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP- Au! – Gegenruf der Abg. Hilde Mattheis Fraktion. [SPD]: Wir sagen: auch!)

Ich komme zu einem weiteren ganz wichtigen Punkt. Detlef Parr (FDP): Dass wir den Pflegebegriff in der Pflegeversicherung er- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deswegen weitern müssen, ist allgemein bekannt. Der gegenwär- nichts zu tun, weil etwas Geld kostet, bedeutet, Hundert- tige Begriff konzentriert sich einseitig auf die somati- tausende von Menschen weiterhin im Stich zu lassen. schen Aspekte von Pflege. Das wollen und das werden Das machen wir nicht mit. wir ändern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Noch in die- sem Jahr? – Andreas Storm [CDU/CSU]: Mein Vater ist 91 Jahre alt und leidet seit acht Jahren Wann?) an einer schweren Demenz. Dank meiner 84-jährigen Mutter, die noch die Kraft zur häuslichen Pflege hat, lebt Das muss schnell geschehen, da große Lücken bei der er zu Hause in den eigenen vertrauten vier Wänden. Absicherung bestehen. Diese familiären Verhältnisse haben zu unserem Antrag Lassen Sie mich meine Rede mit einem Appell been- geführt; deswegen haben wir ihn gestellt. den. Wir alle sehen im Bereich der Demenz die gleichen (Hilde Mattheis [SPD]: Sie müssen aber be- Probleme und wollen etwas unternehmen. Wir können züglich Ihrer letzten Forderung ganz vorsichtig Verbesserungen für bedürftige Menschen aber nur dann sein!) erreichen, wenn wir ein solch sensibles Thema nicht für alberne politische Spielchen missbrauchen. Er wurde also mitten aus dem Leben heraus geschrieben und ist nicht von theoretischen Erwägungen geprägt. (B) (Detlef Parr [FDP]: Na, na, na! Jetzt ist aber (D) gut!) (Beifall bei der FDP) Deshalb sage ich Ihnen: Sie müssen an all Ihre Forderun- Wir scheuen uns immer noch zu sehr, das Thema Al- gen ein Preisschild hängen; denn, Herr Parr, all diese tersverwirrtheit öffentlich zu machen. Das zeigt auch die Forderungen kosten Geld. Darum brauchen wir gar nicht Tatsache, dass Rot-Grün über ein Jahr benötigt hat, unse- herumzureden. rem Antrag einen eigenen Antrag gegenüberzustellen. Immerhin gibt es jetzt eine öffentliche Debatte. Sie ist (Detlef Parr [FDP]: Ein Unding ist das! Das auch dringend erforderlich, weil sich die Zahl der De- entbindet uns doch nicht davon, Maßnahmen menz- und Alzheimer-Erkrankten aufgrund der demo- zu ergreifen! – Verena Butalikakis [CDU/ graphischen Entwicklung in Zukunft dramatisch erhöhen CSU]: Sie haben auch Forderungen! Auch da- wird. ran müssen Sie ein Preisschild hängen!) (Peter Dreßen [SPD]: Dann müssen Sie auch – Frau Butalikakis, Sie wissen doch um den Zustand al- bereit sein, mehr Geld dafür zu geben!) ler sozialen Sicherungssysteme, auch den der Pflegever- sicherung. Deshalb brauchen wir schnellstens ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherkennung und Behandlung (Detlef Parr [FDP]: Also lassen Sie die Leute dieser Krankheiten, das wir im Antrag fordern. weiter im Stich!) (Beifall bei der FDP) Wir wollen nicht nur Hoffnungen wecken, wie Sie es tun. Sie hängen an Ihre Forderungen nur einen unge- Nach meiner Beobachtung würde mein Vater heute deckten Blankoscheck. Das finde ich unseriös. nicht mehr in seiner vertrauten Umgebung leben, wenn ihm der medizinische Fortschritt nicht geholfen hätte. Er (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Das fordern gehört zu der Minderheit der Bevölkerung, die ein Anti- Sie doch selber!) dementivum erhält. Dadurch wurde der Krankheitsver- Wir werden die Reform der Pflegeversicherung umset- lauf deutlich hinausgezögert. Meine Damen und Herren zen und damit auch eine Verbesserung für die Demenz- insbesondere von Rot-Grün, ich frage mich, warum wir kranken erreichen. es zulassen, dass die Mehrheit der Demenzkranken – insbesondere in den Altenheimen – stattdessen billi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann aber gere Neuroleptika erhält, die zwar ruhig stellend wirken, auch mit Preisschild!) aber erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen. 9942 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Detlef Parr (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten macht hat. Sogar ein Feiertag wurde dafür geopfert. Ich (C) der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Sagen gebe durchaus zu – jeder, der einmal in einem Pflege- Sie mal etwas zur Finanzierung!) heim war, sieht das –, dass wir in diesem Bereich einiges tun müssen. Wir alle wissen aber auch, dass das Geld – Herr Dreßen, ich komme noch auf den Finanzierungs- kostet. Sind Sie bereit, uns hier zu erklären, woher diese aspekt. Mehreinnahmen kommen sollen? Machen Sie uns einen Die Kosten für eine rechtzeitige kombinierte Behand- Vorschlag, auf den wir uns dann vielleicht einigen kön- lung mit Antidementiva auf der einen und aktivierenden nen! Behandlungsmaßnahmen im Hinblick auf die Hirnleis- tung auf der anderen Seite liegen nach meiner Überzeu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gung auf keinen Fall höher als die einer vorzeitigen Herr Parr, bevor Sie antworten, darf ich die Kollegin- Heimunterbringung. Rechnen Sie das einmal gegen! nen und Kollegen darauf hinweisen, dass in § 27 Abs. 2 (Beifall bei der FDP) unserer Geschäftsordnung von Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen die Rede ist. Es muss sich also Wenn wir uns Gedanken über die Humanität im Alter nicht um eine Frage handeln. – Bitte schön. machen, dann muss klar werden, dass wir als Gesetzge- ber vor allem dafür Sorge tragen müssen, dass Demenz- Detlef Parr (FDP): kranke möglichst lange ein eigenständiges Leben führen können und dass die häusliche Lebensqualität so lange Herr Kollege Dreßen, erstens. Die Entscheidung zur wie möglich hochgehalten werden kann. Pflegeversicherung im Jahre 1994 war eine der größten Fehlentscheidungen dieses Hauses. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Alles (Beifall bei der FDP) richtig!) Es war ein Granatenfehler, eine umlagefinanzierte Säule Herr Dreßen, es mag sein, dass wir die Finanzierung daneben zu stellen. ein wenig zu optimistisch gesehen haben. Rechtfertigt (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk das aber ein Verteufeln innovativer Medikamente? [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP) Wir als FDP haben damals als einzige dafür gekämpft, Wir dürfen keine Chance leichtfertig über Bord werfen, sie als eine kapitalgedeckte Säule aufzubauen, sie also die Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszu- nicht zum Bestandteil des Sozialsystems zu machen. Wir zögern und dadurch zu einer Kostenersparnis im Pflege- alle wissen mittlerweile, dass wir mit unserer damaligen (B) (D) bereich zu kommen. Dazu gehört natürlich auch die Forderung richtig lagen. Chance, Demenzveranlagungen und -erscheinungen Zweitens zu den Kosten. Ich haben Ihnen erläutert, durch die rechtzeitige Teilnahme an Tests früh zu erken- dass man die Investitionen, die man zum Beispiel im nen. Die Testverfahren sind ausgereift und versprechen Medikamentenbereich tätigt, und die eingesparten Kos- eine Erfolgsquote von 90 Prozent. ten aufgrund einer späteren Heimeinweisung gegenrech- nen muss. Wenn Sie diese Rechnung aufmachen, dann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden Sie erkennen, dass es nicht zu Mehrausgaben Herr Kollege Parr, erlauben Sie eine Zwischenfrage kommt, sondern dass sich das rechnet. Wir sind von der des Kollegen Dreßen? These, die wir aufgestellt haben, überzeugt; Sie bezwei- feln sie. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das muss doch jetzt nicht sein!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Detlef Parr (FDP): Wir alle hoffen auf ein hohes Alter bei guter Gesund- Natürlich tue ich das. heit. Dafür müssen wir das Bewusstsein schaffen, uns rechtzeitig Aufschluss über gewisse Lebensrisiken zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verschaffen und uns gegebenenfalls darauf einzustellen. Bitte schön, Herr Dreßen. Die bisherigen Erkenntnisse aus der Versorgungs- und Ursachenforschung auf diesem Gebiet müssen erweitert werden; darin sind wir uns einig. Es darf aber nicht wie Peter Dreßen (SPD): bei dem Antrag von Rot-Grün bei einer plakativen Er- Herr Kollege Parr, an dieser ganzen Debatte ärgert wähnung der Forschung in der Überschrift des Antrags mich Folgendes: Wir alle liegen bei der Analyse zwar ir- bleiben. Hier müssen wir unsere Anstrengungen konkret, gendwie richtig, da wir fordern, mehr gegen die Demenz deutlich und erkennbar verstärken. zu tun usw. Gleichzeitig ist aber keiner von uns bereit, zu sagen, woher die Mehreinnahmen dafür kommen sollen. Wir müssen die Ausbildung im gerontopsychiatri- schen Bereich verbessern. Wir brauchen eine entspre- (Zurufe von der FDP: Frage!) chende Fort- und Weiterbildung für Hausärzte und auf Ich war bei der Entstehung der Pflegeversicherung Demenzdiagnose und Demenzbehandlung spezialisierte dabei und erinnere mich noch sehr gut daran, wie Ihre Fachärzte. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von Frau Babel damals die 1,7 Prozent zur heiligen Kuh ge- Rot-Grün: Ist ein Konsens über einen evidenzbasierten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9943

Detlef Parr (A) Behandlungskorridor wirklich nicht zu erreichen? Kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) nen wir uns vor dem Hintergrund der zu erwartenden DIE GRÜNEN) Verdoppelung der Zahl der Demenzerkrankungen in den nächsten Jahrzehnten nicht doch einvernehmlich auf Wenn Sie parteiübergreifend vorgehen wollen, dann eine Diagnose- und Therapiekette zur Sicherung einer müssen wir uns bezüglich der Details einigen. qualitätsgesicherten Demenzfrüherkennung und -be- Was fordern Sie? handlung verständigen? Wir dürfen Hunderttausende an dieser schrecklichen, schleichend den Verstand nehmen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Krankheit Leidenden wie meinen Vater nicht im Herr Kollege Wodarg, erlauben Sie eine Zwischen- Stich lassen. Wir dürfen die vielen Hunderttausende auf- frage des Kollegen Bahr? opferungsvoll Pflegenden wie meine Mutter nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen die erforderlichen Erleichte- rungen verschaffen, aus denen sie wieder Kraft für ihren Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Dienst am Nächsten schöpfen können. Natürlich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Bahr. Der FDP-Antrag wird gleich routinemäßig abgelehnt – das entspricht den Gepflogenheiten dieses Hauses – Daniel Bahr (Münster) (FDP): und dem rot-grünen Antrag wird zugestimmt. Es wäre Herr Kollege Wodarg, können Sie dem Hohen Hause dieser Debatte nicht angemessen, wenn wir danach zum Zahlen mitteilen, wie sich die Beiträge zur gesetzlichen politischen Alltag übergehen würden. Ich fordere Sie, Pflegeversicherung im Umlageverfahren entwickeln liebe Kolleginnen und Kollegen, auf, eine parteiüber- würden, wenn wir nicht in eine Kapitaldeckung einstei- greifende Mehrheit zu organisieren, die sich dem gen und damit die demographische Entwicklung ein we- Schicksal der Kranken und Pflegenden dauerhaft zuwen- nig herausnehmen? det. Die pflegerische Zeitbombe tickt. Wir alle müssen unseren Beitrag dazu leisten, sie zu entschärfen. Demenz (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie darf zu keiner vernachlässigten Krankheit werden. verdreifachen sich!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Wenn der Bedarf für Pflege und damit die Kosten steigen – wir sind uns einig, dass es immer mehr De- (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D) menzkranke geben wird –, dann müssen wir für das Sys- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wodarg von der tem mehr Geld zur Verfügung stellen. Wir müssen sagen, SPD-Fraktion. woher es kommt. Das hängt auch davon ab, was wir den Menschen zuerkennen. Beispiele für Marginalien sind Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Stützstrümpfe oder andere Versorgungsformen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine ge- meinsame und parteiübergreifende Lösung hat Herr Parr (Jürgen Koppelin [FDP]: Was kostet das?) von der FDP eingefordert. Vorher hat er davon gespro- Wir müssen aber eine grundsätzliche Debatte darüber chen, dass die FDP etwas anderes im Sinn hatte als das, führen, welche Leistungen wir von wem erbringen las- was in diesem Haus vor einigen Jahren mit Mehrheit für sen wollen. Auf der einen Seite stehen die Leistungen die Pflegebedürftigen beschlossen wurde, nämlich eine von Profis, auf der anderen Seite steht die Unterstützung solidarische, beitragsfinanzierte Lösung. Hier leistet je- in Form von Nachbarschaftshilfe und Selbsthilfe, von der nach seinen Kräften einen Beitrag und erhält je nach Gemeinden und Familien. Diese Aktivitäten können wir Bedarf Hilfe. Herr Parr hat von einer kapitalgedeckten unterstützen. Da bestehen sehr viele Kapazitäten und Lösung gesprochen; denn die FDP möchte eine Versi- Ressourcen, deren Wert nicht in Geld ausgedrückt wer- cherung für die Pflege. Aber jeder weiß, dass eine Versi- den kann. Wenn Sie nun einen neuen Markt für die Ver- cherung etwas kostet. sicherungswirtschaft eröffnen wollen, dann nutzen Sie (Detlef Parr [FDP]: Jeder weiß, wo die Pflege- damit die Hilfsbedürftigkeit vieler Pflegebedürftiger aus. versicherung heute steht! Auch Sie wissen Das nützt denen, die kein Geld haben und hilfsbedürftig das!) sind, überhaupt nichts. Das sind aber diejenigen, an de- nen sich die Qualität unserer politischen Lösungen mes- Die Versicherungen werden das Risiko abwägen. Sie sen lassen muss. werden hohe Beiträge von denen fordern, die ein hohes Risiko bedeuten, und niedrige Beiträge von denen ver- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus langen, die von der Pflegebedürftigkeit noch weit ent- Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – fernt sind. Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das war keine saubere Antwort!) (Detlef Parr [FDP]: Das ist ein Totschlag- argument!) Die CDU/CSU unterstützt die Initiative des Bundes- rates. Der Bundesrat möchte strittige Leistungen bzw. Das werden wir nicht mitmachen. solche, die zum Teil von der Pflegeversicherung nicht 9944 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Dr. Wolfgang Wodarg (A) mehr erbracht werden können, auf die Krankenversiche- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Demenzprojekte in (C) rungen verlagern; meine Vorrednerin hat das angespro- Baden-Württemberg sind sehr gut!) chen. Man kann darüber reden, wie man das Problem löst. Was die CDU/CSU jetzt aber vorschlägt, machen Das sind gute, an den Problemen orientierte Ansätze, die wir nicht mit, weil es einen wahnsinnigen Aufwand be- dafür sorgen, dass die Pflege besser und problemgerech- deuten würde. Jedes Mal, wenn sich die familiären Ver- ter wird. Es gibt auch Initiativen in den Bundesländern, hältnisse ändern, ändert sich die Grundlage für die Be- die von den Betroffenen selbst kommen. In Bielefeld gutachtung. Dann kann man mit Recht behaupten, es und Umgebung gibt es den Alt und Jung e. V., der dort müsse wieder ein Gutachter kommen. Familien in Not, Selbsthilfe organisiert und neue Nachbarschaften bildet. die schon einmal auf einen Gutachter gewartet haben, In Berlin gibt es den Freunde alter Menschen e. V. Es wissen, was das bedeutet, und kennen die Unsicherheit sind, wenn ich richtig gezählt habe, über 60 verschie- und den Papierkrieg, der damit verbunden ist. Das kön- dene Selbsthilfeorganisationen, die die Pflege organisie- nen wir nicht mitmachen. Diese Lösung ist unpraktika- ren. Durch die Menschen, die sich gegenseitig helfen bel. Schon deshalb sollten wir sie ablehnen. wollen und die stolz sind, helfen zu können, kann eine Menge an Erleichterung geschaffen werden. Es muss Als die CDU/CSU in der Regierung war, hat sie Vor- nicht immer eine neue Ware oder eine neue Pille sein, schläge zur häuslichen Pflege gemacht. Bei dieser Gele- mit der jemand Geld verdient. Wer sich darauf verlässt, genheit muss ich daran erinnern, dass Herr Seehofer als der muss auch wissen, dass das bezahlt werden muss. verantwortlicher Minister damals die gesamte häusliche Das fällt einigen vielleicht leicht. Pflege zur Disposition stellen wollte, indem er es den Krankenkassen überlassen wollte, diese nicht zu über- (Detlef Parr [FDP]: Dann stellen wir alle For- nehmen, wenn sie mit ihrem Geld nicht auskommen. Er schung ein! Dann gibt es keine Stammzellen- hat die so genannten Gestaltungsleistungen in seinen Ge- forschung!) setzentwurf geschrieben. – Nein, überhaupt nicht. Aber wenn wir ein Viertel des (Erika Lotz [SPD]: Richtig!) Geldes, das für die Erforschung neuer Pillen ausgegeben wird, dafür ausgeben würden, dass wir herausfinden, wie Bei den Gestaltungsleistungen konnten die Krankenkas- wir die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu sen den chronisch Kranken die Taxifahrten, die häusli- helfen, che Pflege, die Rehabilitation und die physikalische The- rapie streichen, wie es ihnen beliebte. Sie wissen ganz (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann gängeln genau, dass das sehr hinterhältig war. Das war nämlich Sie sie weniger! Lassen Sie sie sich selbst hel- ein Verschieben der Verantwortung auf die Krankenkas- fen!) (B) sen, die im Wettbewerb natürlich kein Interesse daran und wenn wir soziale Forschung auf diesem Gebiet (D) haben, sich um die zu kümmern, die Hilfe am nötigsten finanzieren würden, dann hätten wir einen viel größeren haben. Das wusste Herr Seehofer ganz genau. So handelt Gewinn als den, den die Pharmaindustrie aufgrund der die CDU/CSU. Interessen ihrer Aktionäre erzielt. Das waren Ihre Vorschläge. Konkrete Vorschläge, wie Den Unternehmen geht es darum, ihre Produkte zu ver- diese Probleme zu lösen sind, hätten Sie im Rahmen der kaufen und Gewinne zu erzielen. Welche Folgen sich Verhandlungen über das SGB V machen können. langfristig daraus ergeben, ist häufig zweitrangig. Des- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie nehmen halb sind wir als Politiker aufgefordert, unsere Zielset- das Krankengeld und den Zahnersatz heraus! zung an den Menschen zu orientieren. Das ist jetzt in Ordnung! Widerspruch hoch Ich fordere Sie auf, gemeinsam auf allen Ebenen – in drei!) den Kommunen, den Ländern und auf Bundesebene – Da ist von Ihnen aber nichts gekommen. Daher denke eine nachhaltige Politik zu gestalten, die die Ressourcen ich, wir können gemeinsam diese Regelung des Bundes- unserer Gesellschaft nutzt und der Tatsache Rechnung rates ablehnen. Wir sollten keine falsche Loyalität ge- trägt, dass Geld nicht alles ist. genüber einer schlechten Politik zeigen. Wir sollten bei Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. der Sache bleiben und uns gemeinsam der Verantwor- tung stellen. Diese Verantwortung ist in der Tat drü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ckend. Wir brauchen in Zukunft Strukturen, die alle Res- DIE GRÜNEN) sourcen mobilisieren, um den Menschen zu helfen, die Hilfe nötig haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dazu brauchen wir nicht nur Geld. Es handelt sich um Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von eine Aufgabe, die nahe an den Betroffenen gestaltet wer- der CDU/CSU-Fraktion. den muss. Das sehen wir in Skandinavien. Wir müssen dafür sorgen, dass es denjenigen, die in der Nachbar- Matthias Sehling (CDU/CSU): schaft und in den Gemeinden leben, leichter gemacht Herr Präsident! Meine Damen und Herrn Kolleginnen wird, Selbsthilfe zu organisieren. Da gibt es Methoden. und Kollegen! Das vom Bundesrat auf Initiative Bayerns Es gibt in Deutschland schon eine Menge Ansätze. Es vorgelegte Pflege-Korrekturgesetz soll bei der häus- gibt Pflegeinitiativen in Rheinland-Pfalz. Es gibt die lichen Krankenpflege die Leistungspflicht der gesetz- Qualitätsoffensive in Schleswig-Holstein. lichen Krankenversicherung für die Behandlungspflege Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9945

Matthias Sehling (A) klarer regeln. Aufgrund eines Urteils des Bundessozial- Wir (C) gerichts aus dem Jahr 2001 fallen die Leistungen der Be- – damit sind die rot-grünen Koalitionsfraktionen und die handlungspflege nicht mehr in den Leistungskatalog der Regierung gemeint – gesetzlichen Krankenversicherung. Stattdessen muss nun die Pflegeversicherung für diese Leistungen auf- stimmen die Leistungen der Kranken- und Pflege- kommen. Das führt für den Einzelnen häufig zu einer versicherung … besser aufeinander ab. unzumutbaren Aushöhlung der Pflegesachleistungen. Was ist daraus geworden? (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nichts!) Ich möchte das an einem konkreten Beispiel deutlich machen. Wenn bei einem Pflegebedürftigen zu Hause Dass Sie unter der Mitwirkung der CDU/CSU im Ge- durch die Pflegekraft häufig der Katheter gewechselt sundheitsmodernisierungsgesetz immerhin das An- und werden muss, wird diese Leistung nach geltender Ausziehen von Kompressionsstrümpfen wieder in den Rechtslage nicht mehr wie früher von der Krankenkasse Leistungskatalog der Krankenkassen übertragen haben, bezahlt. Stattdessen fällt diese Behandlungspflege jetzt ist anerkennenswert. Jedoch wird damit nur ein Teil des nach dem genannten Gerichtsurteil in die Grundpflege- Problems gelöst. verrichtung „Nahrungsaufnahme und Ausscheidung“ (Beifall bei der CDU/CSU) und muss somit von der Pflegeversicherung gezahlt wer- den. Gleiches gilt auch für die anderen Maßnahmen der Frau Kollegin Mattheis hat den Gesetzentwurf des Behandlungspflege wie die Schmerzmedikation oder das Bundesrates folgendermaßen qualifiziert: Problem er- Wechseln von Sprechkanülen gegen eine Dauerkanüle. kannt, aber schlecht gelöst. Da Rot-Grün überhaupt nicht handelt, halte ich Ihnen entgegen: Problem – hoffentlich – Vor dem Urteil des Bundessozialgerichts wurden übli- erkannt, aber Problem überhaupt nicht gelöst! cherweise nur Maßnahmen der Grundpflege im Leis- tungskatalog der Pflegeversicherung berücksichtigt. Ich möchte noch auf Frau Kollegin Selg eingehen, die Die seitdem erfolgte faktische Verschiebung zulasten der die Kostenfrage angesprochen hat. Durch den Gesetzent- Pflegeversicherung muss unterbunden und zurückge- wurf des Bundesrates werden keine zusätzlichen Kosten nommen werden, vor allem deshalb, weil der Pflege- ausgelöst. Vielmehr wird nur der richtige Kostenträger sachleistungsanspruch in der Höhe begrenzt ist. Einem wieder ins Spiel gebracht: Pflegebedürftigen der Pflegestufe III stehen monatlich circa 1 500 Euro für die Pflegesachleistungen zu. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU) nun – zum Beispiel wegen des genannten häufigen Ka- Nicht die Pflegeversicherung, sondern die gesetzliche (B) theterwechsels, der monatliche Kosten von bis zu Krankenversicherung ist dafür zuständig. Im Übrigen (D) 700 Euro verursachen kann – hohe Kosten für die Be- sind mittlerweile die Leistungen bei der Behandlungs- handlungspflege anfallen, dann bleibt für die Grund- pflege durch die Rechtsprechung konkretisiert worden, pflege nur noch ein entsprechend verminderter Rest- sodass eine Kostenexplosion nicht zu erwarten ist. betrag übrig. Die Bundesregierung muss endlich handeln und die Aus diesen Gründen hat der Bundesrat schon Mitte vom Gesetzgeber eigentlich nicht erwünschten Folgen des vergangenen Jahres in seinem Gesetzentwurf vorge- des Urteils des Bundessozialgerichts beseitigen. Leider sehen, dass diese Leistungen wieder von der Kranken- haben der Herr Bundeskanzler und Sie von den Mehr- kasse gezahlt werden sollen. Die Pflegeversicherung heitsfraktionen eine umfassende Reform der Pflegever- dagegen soll nach dem Gesetzentwurf die Behandlungs- sicherung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. pflegekosten nur dann übernehmen, wenn der Pflege- Sie sind noch nicht einmal bereit, die jetzt vorgeschlage- bedürftige von einem Angehörigen gepflegt wird, da in nen Abgrenzungsmöglichkeiten in ihre Überlegungen solchen Fällen kein Rechtsanspruch auf häusliche Kran- einzubeziehen. Das halte ich für unverantwortlich ge- kenpflege durch die gesetzliche Krankenversicherung genüber den vielen Pflegebedürftigen, die sich täglich besteht. mit Problemen konfrontiert sehen. Bei der Anhörung zum Pflege-Korrekturgesetz haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fast alle anwesenden Institutionen und Sachverständigen dringenden Handlungsbedarf festgestellt und deshalb Wir rufen Sie deshalb auf: Unterstützen Sie den Ge- das Pflege-Korrekturgesetz begrüßt. Dass die Regie- setzentwurf des Bundesrates oder machen Sie zumindest rungskoalition ein solches Gesetz ablehnt, ist unver- einen Gegenvorschlag, der dazu geeignet ist, die Pro- ständlich. Ich hoffe, das liegt nicht nur daran, dass die bleme zu lösen, anstatt auf bessere Zeiten zu warten! Initiative aus einem Bundesland kommt, das nicht von Ihnen regiert wird. Danke schön. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und nie regiert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden wird!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben das Problem längst erkannt – das ging aus Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. der heutigen Debatte hervor – und den Verschiebebahn- hof in Ihrem Koalitionsvertrag eindeutig ausgemacht. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes- Darin heißt es vollmundig: rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Korrektur 9946 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) von Leistungsverschiebungen bei häuslicher Kranken- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) pflege zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre sozialer Pflegeversicherung, Drucksache 15/1493. Der keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung emp- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, Das Wort hat als Erster der Parlamentarische Staatsse- den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die kretär Alfred Hartenbach. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der desministerin der Justiz: Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Verehrte Kol- und FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- leginnen und Kollegen! Wenn man diesem etwas unver- schäftsordnung die weitere Beratung. ständlichen Tagesordnungspunkt eine andere Bezeich- Wir kommen zu weiteren Abstimmungen über die nung gibt, dann werden alle sofort elektrisiert: Es Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit handelt sich hier um das Thema Menschenhandel. und Soziale Sicherung, Drucksache 15/3075. Der Aus- Menschenhandel ist eine bedrückende und widerwärtige schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- Straftat und es ist in besonderem Maße ein grenzüber- empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen schreitendes Phänomen. der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- Mit der Neufassung und Erweiterung der §§ 180 b sache 15/2372 mit dem Titel „Demenz früh erkennen und 181 StGB setzen wir internationale Übereinkommen und behandeln – für eine Vernetzung von Strukturen, um, vor allem den Rahmenbeschluss des Rates der EU die Intensivierung von Forschung und Unterstützung vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhan- von Projekten“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- dels. Unser geltendes Recht erfüllt zwar schon heute im fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Wesentlichen die rechtlichen Standards, die der Rah- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- menbeschluss setzt; es hat jedoch im Hinblick auf den tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Ar- nommen. beitskraft noch Umsetzungsbedarf gegeben. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Die für die Ausbeutung der Arbeitskraft einschlägi- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der gen nebenstrafrechtlichen Vorschriften erreichen näm- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2336 mit lich nicht die nach dem Rahmenbeschluss erforderlichen dem Titel „Früherkennung, Behandlung und Pflege bei Mindesthöchststrafen. Unser Gesetzentwurf stellt des- Demenz verbessern“. Wer stimmt für diese Beschluss- (B) halb den Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung (D) empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die der Arbeitskraft noch stärker unter Strafe. In diesem Zu- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- sammenhang überarbeiten und vereinfachen wir auch tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei die Strafvorschriften über den Menschenhandel zum Enthaltung der FDP angenommen. Zweck der sexuellen Ausbeutung. Wir überführen die Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner bisherigen Vorschriften in neuer Fassung in den Acht- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der zehnten Abschnitt „Straftaten gegen die persönliche Fraktion der FDP auf Drucksache 15/228 mit dem Titel Freiheit“ des Besonderen Teils des Strafrechts. Der Men- „Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früh- schenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeits- erkennung und Behandlung von Demenz“. Wer stimmt kraft wird dabei in § 233 erstmals umfassend im Strafge- für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- setzbuch geregelt. Bislang finden wir dort nur in § 234 haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- den Menschenraub zum Zwecke der Sklaverei und men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der der Leibeigenschaft. FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Die neuen Strafvorschriften gegen den Menschenhan- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: del zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft sind den Straftatbeständen gegen den Menschenhandel zum Erste Beratung des von den Abgeordneten Zweck der sexuellen Ausbeutung nachgebildet. Sie er- Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine fassen die Fälle, in denen das Opfer nicht nur in Sklave- Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion rei oder Leibeigenschaft, sondern auch in Schuldknecht- der SPD sowie den Abgeordneten Irmingard schaft oder ungünstige Arbeitsbedingungen gebracht Schewe-Gerigk, Jerzy Montag, Hans-Christian werden soll oder gebracht wird. Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- Wir vereinfachen und vereinheitlichen aber auch die gebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsände- bisherigen Vorschriften gegen den Menschenhandel zum rungsgesetzes – §§ 180 b, 181 StGB Zweck der sexuellen Ausbeutung. Danach macht sich einheitlich strafbar, wer sein Opfer zu Prostitution oder – Drucksache 15/3045 – zu sexuellen Handlungen bringt. Wir unterscheiden im Überweisungsvorschlag: Interesse einer klaren Strafbarkeit also nicht mehr zwi- Rechtsausschuss (f) schen der „Bestimmung zur Prostitution“ und dem Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Bringen zu sexuellen Handlungen“. Aus dem gleichen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Grund ersetzen wir das subjektive Merkmal der Kennt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9947

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) nis einer Zwangslage oder der auslandsspezifischen Deutschland ist vom Menschenhandel im Besonderen (C) Hilflosigkeit durch das objektive Merkmal der Ausnut- betroffen. Es ist als ein westlicher Industriestaat Zielland zung. von Menschenhandel und aufgrund seiner geographi- Der Entwurf bezieht außerdem die Vornahme sexuel- schen Lage an der Schnittstelle zwischen Ost und West ler Handlungen mit dem Täter oder einem Dritten in den auch ein Land für den Transit in andere westeuropäische Tatbestand ein. Das zielt darauf ab, neben der Prostitu- Länder und in die USA. tion andere Erscheinungsformen des Menschenhandels Der Markt für die Ware Frau ist mittlerweile von inter- wirksamer als bisher verfolgbar zu machen. Wir denken nationalen Händlern in mafiosen Strukturen perfekt orga- dabei insbesondere an die menschenverachtende „Ver- nisiert. Längst hat der Menschenhandel den Drogenhan- marktung“ und Ausbeutung des Opfers in so genannten del weltweit als das profitabelste Geschäft abgelöst. Er Peepshows oder im Heiratshandel und an den Miss- hat ein Volumen von 60 Milliarden Euro jährlich. Im brauch zur Herstellung pornografischer Darstellungen. Vergleich dazu sind es in Deutschland 60 Millionen Euro Daneben wollen wir zu differenzierten Strafandro- und in der Republik Moldau 200 Millionen Euro. hungen kommen. Unser Entwurf unterscheidet deshalb zwischen dem „Einwirken“ auf das Opfer und dem Die Opfer des Menschenhandels sind in der Regel „Bringen“ des Opfers zur Prostitution oder sonstigen junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, nicht selten sexuellen Handlungen. Beide Tathandlungen werden auch jünger, und werden im Durchschnitt für 888 Euro nicht mehr, wie bisher, mit denselben, sondern mit abge- angeboten. Dieser Preis ist geradezu ein Schnäppchen. stuften Strafen bedroht, vergleichbar dem Versuch und Man muss wissen, dass eine Frau ihrem Besitzer in der der Vollendung eines Delikts. Woche etwa 20 000 Euro einbringen kann. Die Gefahr, entdeckt und verurteilt zu werden, ist dabei relativ ge- Eine weitere Abstufung gibt es zwischen dem Men- ring. Die Aufklärungsquoten sinken. schenhandel und dem schweren Menschenhandel, der als Verbrechen ausgestaltet ist. Dies enthält zusätzlich zum Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Das heißt: geltenden Recht neue Tatbestände. Sie orientieren sich Die Polizei erhält von Straftaten in diesem Bereich nur an den Umständen, für die der oben erwähnte Rahmen- durch Kontrollen im Milieu Kenntnis. Dabei ist sie auf beschluss eine Höchststrafe von mindestens acht Jahren die Aussagen der Opfer angewiesen und das ist das Pro- Freiheitsentzug fordert. Zusätzlich erweitern wir blem. Die Frauen werden von ihren Peinigern in der Re- § 240 StGB um das Regelbeispiel der Zwangsverheira- gel massiv bedroht und häufig auch physisch attackiert, tung als besonders schweren Fall der Nötigung. sodass sie verschüchtert und verängstigt sind und des- Im Bereich der Strafprozessordnung enthält der Ent- halb nicht aussagen. (B) (D) wurf eine Erweiterung von § 154 c StGB. Diese Vor- schrift wird es den Opfern von Menschenhändlern er- Regierungen und Nichtregierungsorganisationen ha- leichtern, die Täter anzuzeigen. Die Opfer machen sich ben seit vielen Jahren dem Menschenhandel weltweit den in vielen Fällen selbst wegen unerlaubten Aufenthalts Kampf angesagt – mehr oder weniger wirksam. Der ame- strafbar. Die Staatsanwaltschaft soll hier die Möglichkeit rikanische Präsident hat im September 2003 in seiner haben, von einer Strafverfolgung der Opfer abzusehen. Rede vor der UN-Vollversammlung den internationalen Damit hat die Koalition einen Entwurf vorgelegt, mit Frauenhandel als Sklaverei, einen Multimilliarden-Dol- dem unser Strafrecht den berechtigten internationalen lar-Sumpf von Brutalität und einsamen Schrecken ge- Standards Genüge tut. brandmarkt und dessen Bekämpfung als eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhun- Vielen Dank. derts bezeichnet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auch für die Europäische Union war und ist der Frauen- bzw. Menschenhandel ein Thema. Es wurde be- reits eine Vielzahl von Programmen, Entschließungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und Mitteilungen auf den Weg gebracht, die allerdings in Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Granold. der Regel keine rechtliche Bindungswirkung hatten. Im Gegensatz dazu ist der von Herrn Hartenbach zitierte Ute Granold (CDU/CSU): Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung des Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Menschenhandels vom Juli 2002 rechtlich bindend. In Kollegen! Weltweit werden jährlich mindestens dem Beschluss wird die UN-Definition zum Menschen- 700 000 Menschen, vornehmlich Frauen, zum Zweck handel übernommen und den Mitgliedstaaten aufgege- der sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung ihrer Ar- ben, bis 2004 durch eine interne Gesetzgebung Men- beitskraft gehandelt. Lange Zeit waren es Frauen aus Afri- schenhandel unter Strafe zu stellen und insbesondere den ka, dann aus Südostasien und seit dem Zusammenbruch Strafrahmen in abschreckendem Maße heraufzusetzen. des Kommunismus sind es hauptsächlich Frauen aus Osteuropa, die zur Prostitution gezwungen werden. Die So befassen wir uns heute mit den hier einschlägigen Kunden, das heißt die Freier, kommen von überall her Vorschriften, nämlich §§ 180 b und 181 des Strafgesetz- und sind leider auch in Deutschland. Keiner der Beteilig- buches. Derzeit ist bei uns lediglich der Menschenhandel ten, ob Schlepper, Zuhälter oder Freier, hat ein Unrechts- zum Zwecke der Prostitution strafrechtlich geregelt. Ent- bewusstsein. sprechend den Vorgaben der Vereinten Nationen und der 9948 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Ute Granold (A) Europäischen Union wird der Tatbestand erweitert und Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) wird auch der Menschenhandel zum Zweck der sexuel- GRÜNEN): len Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft un- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter Strafe gestellt. Insgesamt wird die systematische Mitten in Europa finden Tag für Tag Menschenrechtsver- Neuordnung unter der Überschrift „Straftaten gegen die letzungen elementarster Form statt. Frauen werden ge- persönliche Freiheit“, die gleichzeitig vorgenommen handelt, misshandelt, verkauft. Eine moderne Form der werden soll, grundsätzlich begrüßt. Sklaverei im 21. Jahrhundert; und Deutschland ist eines der „Hauptabnehmerländer“ dieses menschenverachten- Lassen Sie mich an dieser Stelle neben den Schlep- den Geschäfts. Das Verbrechen ist für die Händler nicht pern und Zuhältern einen weiteren Personenkreis anspre- nur lukrativ, sondern auch risikoarm. Die Gewinne wer- chen, der bislang nur wenig Beachtung fand: die Freier. den in Europa auf ungefähr 10 Milliarden Euro ge- Ohne die ungehemmte Nachfrage, die hiesige Freier, schätzt. Die Verurteilung der Täter ist eher eine Selten- Heiratsinteressenten und Zuhälter an den Tag legen, heit, da die Opfer in den meisten Fällen wegen illegalen gäbe es weder die eingangs geschilderten Milliarden- Aufenthalts abgeschoben werden. Nur wenige Opfer geschäfte noch das unsägliche Leid der Frauen. Leider bleiben hier und sagen aus. Braucht der Staatsanwalt ihre hat sich die gesellschaftliche Ächtung – möglicherweise Aussage nicht mehr, müssen die meisten unser Land ver- nicht zuletzt durch die soziale und rechtliche Verbes- lassen, während die Täter ihr Geschäft ungestört weiter serung der Situation von Prostituierten, die ja notwen- betreiben können. dig war – in den letzten Jahren eher rückläufig ent- wickelt. Nach Angaben der EU werden jährlich circa 500 000 Frauen aus Osteuropa nach Westeuropa ver- Es existiert bei uns eine Strafbarkeitslücke genau in bracht. Die Perspektivlosigkeit in ihren Herkunftslän- dem Bereich, wo Freier die Not- und Zwangslage von dern treibt die Frauen oft in die Arme der Menschen- Frauen, die Opfer von Menschenhandel wurden, obwohl händler. Größtenteils werden sie über den tatsächlichen sie sie kennen bzw. kennen müssten, trotzdem ausnutzen Grund ihrer Einreise getäuscht, der am Ende meist und sexuelle Leistungen in Anspruch nehmen. Das Un- Zwangsprostitution heißt. Der Übergang zur Kinder- ter-Strafe-Stellen dieses Sachverhaltes würde mit Sicher- prostitution ist dabei fließend. Frauenhandel umfasst heit eine hohe Abschreckungswirkung entfalten und die aber auch andere Formen der Ausbeutung wie Zwangs- Nachfrage bei dem Täterkreis, der weit in das gutbürger- arbeit, Heiratshandel oder Pornographie. Viele dieser liche Milieu hineinreicht, deutlich einschränken. Wir Verbrechen werden mit dem deutschen Strafrecht bisher sind uns der Beweisproblematik durchaus bewusst, las- nicht richtig erfasst. Um sie wirksam bekämpfen zu kön- sen uns hiervon jedoch nicht abschrecken. Schließlich nen, erweitern wir die strafrechtliche Definition des (B) geht es hier um einen Bereich, in dem fast ausschließlich Menschenhandels und setzen zugleich – Frau Granold (D) Frauen unter Missachtung ihrer Menschenwürde zum hat es gesagt – einen Rahmenbeschluss der EU um. Ich Objekt degradiert und auf übelste Weise ausgebeutet möchte hier nur auf einige Punkte eingehen. werden. Die bisherigen Menschenhandelstatbestände, die die sexuelle Ausbeutung betreffen, werden erweitert; denn Ich war am Montag zusammen mit meinem Kollegen neben der Prostitution werden die Frauen auch zur Teil- Siegfried Kauder an der deutsch-tschechischen Grenze, nahme in Peepshows oder zur Herstellung pornographi- wo sich auf tschechischem Gebiet quasi das größte Bor- scher Darstellungen gezwungen. Diese Erscheinungsfor- dell Europas befindet: In einem kleinen Landkreis gibt men der sexuellen Ausbeutung werden durch die es nahezu 40 Bordelle mit mehr als 800 Prostituierten, Gesetzesänderung systematisch erfasst. vornehmlich aus Tschechien, der Ukraine, Russland, Ru- mänien, der Slowakei und Moldawien. Die jungen Außerdem werden neue Tatbestände hinzugefügt, die Frauen werden dort im Durchschnitt drei Monate einge- die Ausbeutung der Arbeitskraft unter Strafe stellen. arbeitet und angeboten, bevor sie entweder wegen Auch der Heiratshandel kann künftig in dreifacher Krankheit zurückgeschickt oder quer durch Europa wei- Hinsicht besser bekämpft werden: erstens als besonders terverkauft werden. schwerer Fall der Nötigung, wenn das Opfer zur Einge- Eine wirksame Bekämpfung des Menschenhandels ist hung der Ehe genötigt wurde, was ja insbesondere bei nur grenzüberschreitend in internationaler Zusammenar- der Zwangsverheiratung der Fall ist, zweitens durch die beit aller Beteiligten möglich. Für Deutschland können umfassendere Einbeziehung sexueller Handlungen in die wir hier und heute die richtigen Weichen stellen. Tatbestände des Menschenhandels zur sexuellen Aus- beutung. Drittens geht es darum, durch die Verhinderung Vielen Dank. der Ausbeutung der Arbeitskraft einen Beitrag zur Be- kämpfung des Heiratshandels zu leisten. Nicht selten ist (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ es ja so, dass die gehandelten Frauen unter unwürdigen DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abge- Bedingungen als billige Arbeitskraft im Haushalt miss- ordneten der SPD) braucht werden. Künftig wird auch eine erhöhte Mindeststrafe greifen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenn das Opfer in Todesgefahr gebracht oder einer Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt wird. Da- Schewe-Gerigk. neben sind Kinder durch die erhöhte Mindeststrafandro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9949

Irmingard Schewe-Gerigk (A) hung unter besonderen Schutz gestellt. Mit diesen Ver- Jörg van Essen (FDP): (C) änderungen verbessern wir die effektive Bekämpfung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Menschenhandels. Ich bin sehr froh, dass wir quer durch dieses Haus der Auffassung sind, dass der Menschenhandel, der eine mo- Wir wollen aber nicht nur die Täter bestrafen, sondern derne Form der Sklaverei ist, in besonderer Weise be- auch den Opfern helfen, den Weg zurück in ein normales kämpft werden muss. Leben zu finden. Dies gilt umso mehr, wenn sie dem Staat mit ihrer Aussage vor Gericht bei der Ermittlung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Täter helfen. In diesem Zusammenhang haben wir des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE durchgesetzt, dass die Staatsanwaltschaft unter erleich- GRÜNEN]) terten Voraussetzungen von der Verfolgung einer Straf- tat, zum Beispiel des illegalen Aufenthalts, absehen Von daher ist es richtig, dass auch internationale Organi- kann, wenn die Opfer des Menschenhandels Anzeige ge- sationen sich mit dieser Problematik befasst haben und gen die Täter erstatten. Das ist so etwas wie eine kleine dass versucht wird, international zu gleichartigen Rege- Kronzeugenregelung. Wir werden nachher, Herr Kauder, lungen zu kommen. Zu den Besonderheiten des Ge- sicher noch einmal darüber reden. schäftes gehört eben, dass die Problematik nicht nur bei uns in Deutschland besteht, sondern dass Menschenhan- Damit ist aber noch nicht alles getan. Die Opfer von del zwischen verschiedenen Ländern stattfindet. Deshalb Menschenhandel benötigen professionelle Beratung und müssen in allen betroffenen Ländern ähnliche Verfol- Betreuung. Dazu muss die rechtliche und finanzielle Si- gungsbedingungen vorhanden sein. cherheit der Opferberatungsstellen gewährleistet wer- den. Wir brauchen die Einrichtung eines Opferfonds, der Ich denke aber, dass neben den strafrechtlichen Din- zum Beispiel durch abgeschöpfte Gewinne gespeist wer- gen, die heute in der ersten Lesung eine Rolle spielen den könnte, aber auch ein Zeugnisverweigerungsrecht müssen, auch andere Gesichtspunkte erwähnt werden für die Beraterinnen in den Beratungsstellen. Daneben müssen. Schwerste Kriminalität lebt insbesondere da- wäre eine generelle Aufenthaltserlaubnis mindestens von, dass diejenigen, die sie begehen, ganz erhebliche fi- über die Dauer des Prozesses nötig. Wie schwierig die nanzielle Vorteile haben. Deshalb fand ich den Vorwurf, Durchsetzung einer solchen humanitären ausländerrecht- den der Bundesrechnungshof in diesen Tagen gegenüber lichen Regelung aufgrund der Zustimmungspflicht des der Bundesregierung erhoben hat, dass nämlich Ge- Bundesrates ist, können wir derzeit bei der Zuwande- winne, die im Rotlichtmilieu erwirtschaftet worden sind, rungsdebatte bestens beobachten. nicht abgeschöpft werden, dass die Dinge einfach laufen gelassen werden, außerordentlich hilfreich. Denn hohe Dabei sollten alle wissen, die darüber entscheiden: Strafen sind notwendig. Sie können und müssen ab- (B) (D) Die Rechtlosigkeit der Opfer ist der beste Täterschutz. schrecken. Wer wie ich als Oberstaatsanwalt in der Straf- Das wollen wir doch wohl alle nicht. verfolgung tätig war, der weiß, dass man die Täter am besten abschrecken kann, indem man an die Gewinne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht. Dazu gehört, dass die Gewinne im Rotlichtmilieu und bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Wa- genauso versteuert werden müssen wie die Gewinne in rum haben sich die Grünen dann aus den Ver- jedem anderen Bereich. handlungen verabschiedet?) Eine zweite Bemerkung kritischer Art möchte ich ma- Vor dem Phänomen des Frauenhandels darf niemand chen. Frau Schewe-Gerigk hat gesagt, dass viele der jun- die Augen verschließen. Gerade durch die erweiterte Eu- gen Frauen nicht wissen, auf was sie sich einlassen. ropäische Union ist mit einer Verlagerung und auch mit Nach den Erfahrungen meiner Kollegen sind es nicht so einer Zunahme zu rechnen. Jeder, der Kenntnis von viele, die nicht wissen, auf was sie sich einlassen. Ich misshandelten Opfern hat, muss helfen. Hier spreche ich glaube, man sollte da ehrlich sein. Wenn sich aber die insbesondere die deutschen Freier an. Man weiß, dass jungen Frauen darauf einlassen, sind sie nicht weniger Männer quer durch die Gesellschaft – ich muss hier nicht schutzwürdig. Wer sich freiwillig auf Sklaverei einlässt, die Namen nennen, die vor kurzem in Prozessen aufge- weil beispielsweise die wirtschaftlichen Bedingungen taucht sind – diese Dienste in Anspruch nehmen. Ohne außerordentlich schlecht sind und weil es keine Alterna- deren Nachfrage nach billigem Sex und schutzlosen Op- tiven gibt, der ist nicht weniger schutzwürdig als je- fern würde diesem Geschäft der Boden entzogen. mand, der möglicherweise mit falschen Versprechungen Ich glaube, wir haben hier eine große Verantwortung. ins Ausland gelockt worden ist. Wir stehen erst am Anfang der Debatte. Ich freue mich (Beifall im ganzen Hause) auf die Beratungen im Ausschuss und wünsche, dass wir diesen Gesetzentwurf gemeinsam beschließen. Auch das sollten wir feststellen; denn es gehört nach Vielen Dank. meiner Auffassung mit zur Wahrheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine dritte kritische Bemerkung. Ich habe mich ge- und bei der SPD) wundert, warum dieser Gesetzentwurf von den Koali- tionsfraktionen und nicht von der Bundesregierung – was ich gut gefunden hätte – eingebracht worden ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Einbringung des Gesetzentwurfs durch die Bundes- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen. regierung wäre ein klares politisches Signal gewesen, 9950 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Jörg van Essen (A) Herr Staatssekretär, dass die Bundesregierung hinter die- Die Bundesregierung wird im weiteren Verfahren, das (C) sen Überlegungen steht. in Ihrer Hand liegt, mit ihrer Fachebene, mit ihrem Know-how und mit ihrem Wissen beratend zur Seite ste- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weshalb hen. haben wir wohl den Staatssekretär als Ersten reden lassen?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich darf auch meine Überzeugung äußern, dass es gut gewesen wäre, wenn dieser Gesetzentwurf von der Mi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nisterin vertreten worden wäre. Ich schätze den Kollegen Herr Kollege van Essen. Hartenbach. Ich muss aber sagen: Wenn die Ministerin persönlich den Gesetzentwurf bei der Einbringung be- gründen würde, dann würde dies zeigen – auch das ist Jörg van Essen (FDP): ein politisches Signal –, welche Bedeutung dieses Geset- Herr Kollege Hartenbach, ich habe der Bundesregie- zesvorhaben hat. rung nicht unterstellt, sie stehe nicht hinter diesem Ge- setzentwurf. Ich habe in meiner Rede mehrfach deutlich Wir werden sicherlich eine Anhörung durchführen gemacht, dass eine breite Mehrheit dieses Hauses die müssen. Die Koalitionsfraktionen haben das schon ge- Notwendigkeit für die gesetzgeberischen Maßnahmen tan. Wir werden sorgfältig prüfen müssen, ob es nicht sieht. möglicherweise zu Überschneidungen mit anderen Vor- schriften kommt. Das interessiert uns als Liberale. Aber ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrer Rede darauf hingewiesen hätten, warum der Gesetzentwurf Das Ergebnis – ich hoffe, wir sind uns in diesem nicht von der Bundesregierung eingebracht worden ist. Hause darüber einig – muss sein: Menschenhandel muss Das Argument von der Notwendigkeit einer Beschleuni- seine angemessene Berücksichtigung im Strafgesetz- gung des Verfahrens ist stichhaltig. Ich freue mich über buch finden. Das unterstreicht, dass diese Gesellschaft die Klarstellung, die Sie hier vorgenommen haben. Menschenhandel nicht akzeptiert und ihn mit höchsten Ich wiederhole das, was ich in meiner Rede gesagt Strafen belegt. Ich denke, das ist ein wichtiges Signal. habe: Wir sollten alle an einem Strang ziehen. Wenn wir alle daran mitwirken, dann habe ich die Hoff- nung, dass wir bei der Bekämpfung des Menschenhan- Vielen Dank. dels ein Stück vorankommen. Schön wäre es. (Beifall bei der FDP – Alfred Hartenbach Vielen Dank. [SPD]: Gerne bereit!) (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Simm. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Erika Simm (SPD): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Ich erteile dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort und Kollegen! Bis zur Öffnung der Ostgrenzen war in zu einer Kurzintervention. unserem Verständnis, auch in meinem Verständnis als Juristin, der Menschenhandel ein eher exotisches Delikt, Alfred Hartenbach (SPD): das wir – wenn überhaupt – vorwiegend als ein Problem Verehrter Herr Kollege van Essen, Sie haben behaup- der Dritte-Welt-Länder wahrgenommen haben. Allen- tet, die Bundesregierung stehe nicht hinter diesem Ge- falls die Tatsache, dass sich deutsche Männer Frauen aus setzentwurf. Ostasien holten, und die Umstände, unter denen diese Frauen zum Teil bei uns lebten, waren Anlass für Dis- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ kussionen in der Öffentlichkeit. CSU]: Das hat er nicht behauptet! – Jerzy Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Mit Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Öffnung der Ostgrenzen hat der Menschenhandel Durchscheinen lassen!) ein Ausmaß und Formen angenommen, die es nicht – Aber gedacht hat er es. mehr zuließen, dieses Problem zu verdrängen. Dabei mussten wir auch zur Kenntnis nehmen, dass wir keines- (Lachen bei der CDU/CSU) falls nur Transitland, sondern durchaus auch Zielland des Menschenhandels sind, dass sowohl Täter als auch Ich darf klarstellen: Die Umsetzungsfrist bis zum Opfer mitten unter uns leben. 1. August ist unglaublich kurz. Es hat bei den Vorberei- tungen Verzögerungen gegeben, die nicht die Bundesre- Der Deutsche Bundestag hat sich denn auch in den gierung, sondern andere zu vertreten haben. Deswegen letzten Jahren wiederholt mit diesen Themen beschäftigt. haben sich die Koalitionsfraktionen entschlossen, einen Entsprechend dem bislang vorherrschenden Verständnis, eigenen Gesetzentwurf einzubringen, der aber selbstver- dass Menschenhandel vorwiegend Frauenhandel sei mit ständlich – ich glaube, das hat die Beteiligung der Bun- dem Ziel, die Frauen zur Prostitution zu bringen, haben desregierung an dieser Debatte heute gezeigt – die volle wir durch mehrfache Änderungen des Strafgesetzbuches Unterstützung der Bundesregierung findet. für Frauen und Kinder den Schutz vor sexuellen Über- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9951

Erika Simm (A) griffen verbessert. Wir müssen aber zur Kenntnis neh- land eine Ermittlungsgruppe „Rotlicht“ eingerichtet hat (C) men, dass nach wie vor Strafbarkeitslücken bestehen, und es durch die verstärkte polizeiliche Kontrolle ver- etwa bei der Erfassung des Heiratshandels, und dass mehrt zur Aufklärung gekommen ist, was in der Statistik neue Formen des Menschenhandels wie sklavereiähnli- als ein Anwachsen der Zahl der Delikte ausgewiesen che Arbeitsverhältnisse mit den bestehenden Strafrechts- wird. In Wahrheit hat sich an der Häufigkeit der Delikte normen nur sehr unzureichend zu erfassen sind. nichts geändert. Mit dem vorliegenden Strafrechtsänderungsgesetz (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE zum Menschenhandel ziehen wir hieraus die notwendi- GRÜNEN]: Wir brauchen Videoüberwa- gen Konsequenzen. Gleichzeitig erfüllen wir, SPD und chung!) Bündnis 90/Die Grünen, eine Verpflichtung aus dem Wir haben deswegen – das ist schon gesagt worden, Koalitionsvertrag. Des Weiteren setzen wir damit – das ich will nur noch einmal darauf hinweisen – in § 154 c ist schon gesagt worden – internationale Übereinkom- Strafprozessordnung die Möglichkeit für die Staatsan- men zur Bekämpfung des Menschenhandels um, denen waltschaft eröffnet, bei Opfern, die sich offenbaren und sich die Bundesrepublik angeschlossen hat und die Stan- Anzeige erstatten und dadurch eine eigene Straftat offen dards für Strafbarkeitsbestimmungen enthalten. Unser legen, von der Strafverfolgung abzusehen. Gesetzentwurf orientiert sich demgemäß bei der Neufas- sung der Strafvorschriften am Zusatzprotokoll zum Ich freue mich, dass ich auf der Basis der bisherigen Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die Redebeiträge feststellen kann, dass wir uns über die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und am Fraktionsgrenzen hinweg in dem Anliegen, wirksame Rahmenbeschluss der Europäischen Union, der schon strafrechtliche Vorschriften zu schaffen, weitestgehend genannt wurde. einig sind. Ich fände es schön, wenn es gelänge, zu ge- meinsamen Regelungen zu kommen, die letztlich auch Die bisher geltenden Straftatbestände der §§ 180 b vom gesamten Haus getragen würden. und 181 StGB werden verständlicher gefasst, vereinheit- licht und übersichtlicher gestaltet, aber auch hinsichtlich Herzlichen Dank. des Begriffes des Menschenhandels wesentlich erwei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tert, insbesondere um den neuen Tatbestand des Men- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schenhandels zum Zwecke der Ausbeutung der Arbeits- CDU/CSU und der FDP) kraft. Systematisch werden die neuen Vorschriften aus dem Sexualstrafrecht herausgenommen und bei den „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ eingefügt, wo Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sie nach meiner Einschätzung hingehören, weil es sich Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder. (B) (D) nur vordergründig um Sexualstraftaten handelt, dieser Aspekt nicht den gesamten Bereich dieser kriminellen Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Taten abdeckt und die Straftaten sich in Wahrheit gegen Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! die freie Willensbetätigung richten, indem zur Tataus- Wer meint, Menschenhandel habe etwas mit der EU-Ost- führung typischerweise Zwang, Täuschung, Drohung, erweiterung zu tun, ist auf dem Holzweg! Im Jahr 2001 aber auch die Ausnutzung von Notlagen gehören. Nach gab es 273 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhan- der Neuregelung wird künftig zwischen dem Menschen- dels, im Jahr 2002 waren es 289. Ein Verfahren bedeutet handel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und dem nicht ein Opfer, sondern zahlreiche. Menschenhandel ist Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung der Ar- ein menschenunwürdiges Vorgehen von Tätern gegen- beitskraft unterschieden. Heiratshandel und sklaverei- über Frauen, die wie Vieh gehandelt und gehalten wer- ähnliche Arbeitsverhältnisse werden künftig strafrecht- den. Deswegen sind wir aufgerufen, dagegen grenzüber- lich erfasst. schreitend vorzugehen. Wir tragen aber auch einem Umstand Rechnung, der Einen Aspekt hat bisher noch niemand angesprochen. die Verfolgung einschlägiger Straftaten erheblich er- Es ist nicht nur so, dass die Frauen über die Grenze nach schwert. Wir wissen, dass die relativ geringen Zahlen, Deutschland verbracht werden, um dort der Prostitution welche die Kriminalstatistik in diesem Bereich ausweist zugeführt zu werden, sondern es gibt auch einen ausge- – über die Jahre gesehen sind im Bereich des Menschen- prägten Sextourismus von Deutschland in die EU-Bei- handels pro Jahr im Durchschnitt um die 800 Taten zur trittsländer. Ich kann jedem nur empfehlen, sich das ein- Anzeige gekommen –, eine schmale Spitze des Eisber- mal an der tschechischen Grenze anzuschauen. ges sind. Die Dunkelziffer, das heißt der Zahl der Taten, Was machen wir gegen diesen Sextourismus? Men- die nicht zur Anzeige gebracht werden, ist extrem hoch. schenhandel funktioniert nur in mafiosen Strukturen. Da Das hat auch damit zu tun, dass es sich beim Menschen- gibt es einen, der die Frauen aufkauft, einen anderen, der handel in seinen verschiedenen Ausformungen um ein so die Frauen schleust, einen Dritten, der die Frauen ab- genanntes Kontrolldelikt handelt, das meist nur bei Poli- nimmt, und einen Vierten, der die Dienste dieser Frauen zeirazzien, also bei polizeilichen Kontrollen, sichtbar in Anspruch nimmt. Wir werden also nur dann Ermitt- wird, selten aber von den Opfern oder gar von Dritten lungserfolge haben, wenn wir die mafiosen Strukturen angezeigt wird. Ich habe dafür ein schönes Beispiel ge- aufbrechen. funden. In der Kriminalstatistik von 1995 wird das ex- treme Anwachsen der Zahl der Menschenhandelsdelikte Ein Menschenhändler erzielt einen deutlich höheren im Saarland dadurch erklärt, dass man damals im Saar- Profit als ein Drogendealer. Wie gelingt es uns beim 9952 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Drogenhandel, mafiose Strukturen aufzubrechen? Der (Beifall bei der CDU/CSU) (C) Gesetzgeber hat aus gutem Grund § 31 ins Betäubungs- mittelgesetz eingeführt. Danach kann sich jemand, der in Sie haben auch – entweder fahrlässig oder bewusst – den mafiosen Strukturen verfangen ist, Straffreiheit er- Folgendes getan: Es gibt zwei Fallvarianten des Men- kaufen, wenn er Anzeige gegen andere erstattet und da- schenhandels, nämlich das Zur-Prostitution-Bringen und mit Ermittlungsansätze ermöglicht. Diese Möglichkeit das Auf-das-Opfer-Einwirken. Das war früher mit einer gibt es bezeichnenderweise auch bei der Geldwäsche, Mindeststrafe von sechs Monaten und einer Höchststrafe weil man erkannt hat, dass auch Geldwäschedelikte nur von zehn Jahren bedroht. Das Einwirken haben Sie jetzt ermittelt werden können, wenn man einem Täter den herausgenommen; hier beträgt die Mindeststrafe auf ein- Ausstieg durch Straffreiheit ermöglicht. mal drei Jahre. Warum? Warum gibt es für den Menschenhandel keine gleich Dann haben Sie auch noch die Versuchsstrafbarkeit lautende Vorschrift wie die des § 31 BtMG? Wir werden gestrichen. Hinsichtlich des Einwirkens ist das konse- dazu im Ausschuss einen Vorschlag unterbreiten. quent, weil es sich um ein weit vorausgelagertes Delikt handelt. Aber beim Zur-Prostitution-Bringen ist die (Jörg van Essen [FDP]: Sehr nachdenkens- Streichung der Versuchsstrafbarkeit nicht gerechtfertigt! wert!) Es gibt also noch einen erheblichen Diskussionsbe- Es gibt denjenigen – ich sagte das schon –, der das darf darüber, wie man die Strafvorschriften so gestalten menschenunwürdige Verhalten von Menschenhändlern kann, dass man den Schutz von Opfern verbessert und zu seinen Zwecken ausnutzt. Das ist der Freier! Nun nicht verschlechtert. kann man nicht von jedem Freier erwarten, dass er die Hintergründe des Menschenhandels durchleuchten und Bei einem Punkt aber bin ich Ihnen zum Dank ver- erkennen kann. Derjenige, der davon weiß oder grob pflichtet. Dies ist das erste Gesetz, das ich aus Ihren Rei- fahrlässig nicht erkennt, dass eine Frau wie ein Tier ge- hen sehe, in dem Sie – das geschieht im zweiten Absatz halten wird, sie nicht einmal einen Personalausweis be- des Grundtatbestandes – das Opfer als Opfer bezeich- sitzt, nicht ausgehen kann, wann sie will, die Sprache nen. Denn aus Ihren Reihen höre ich sonst immer den nicht beherrscht und zu fünft in einem Zimmer leben Einwand: Wer Opfer ist, kann erst der Richter beim Ur- muss, muss unseres Erachtens bestraft werden. Das teil feststellen. Ich sehe also: Sie sind hinsichtlich der heißt, derjenige, der den Menschenhandel ausnutzt, muss Vertretung der Opferinteressen auf dem richtigen Weg! ebenso bestraft werden wie derjenige, der den Frauen- Vielen Dank. handel betreibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Straftatbestand des Menschenhandels und des Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. Menschenraubs ist nicht neu. In den Straftatbestand des Menschenraubes wollen Sie einführen, dass derjenige, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- der finanziell ausgebeutet wird, Schutz genießt. Dem wurfs auf Drucksache 15/3045 an die in der Tagesord- stimmen wir zu. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall; dann ist die Aber dort, wo es um sexuelle Ausbeutung geht, muss Überweisung so beschlossen. man Ihren Entwurf genau durchsehen. Es stimmt näm- lich nicht, Frau Schewe-Gerigk, dass Sie das Schutzalter Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: anheben. Wenn Sie sich die Vorschriften ansehen, stellen Sie fest, dass Sie beim Grundtatbestand das Schutzalter Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD von 21 Jahren auf 18 Jahre senken. Erklären Sie mir und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- bitte, warum Sie das jetzt wollen! Denn man hat schon brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur bei der Einführung des § 180 b StGB gewusst, dass es Änderung des Betriebsprämiendurchführungs- systemwidrig ist, die Altersgrenze bei 21 Jahren festzu- gesetzes legen, weil diese sonst im Strafgesetzbuch nicht auf- – Drucksache 15/3046 – taucht. Es bestand und besteht aber ein Schutzbedürfnis. Überweisungsvorschlag: Auf eines weise ich Sie schon jetzt hin: Wenn Sie sa- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gen: „Wer 18 Jahre alt ist, ist erwachsen und braucht kei- Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nen besonderen Schutz mehr“, entfachen Sie, Herr Kol- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit lege Ströbele, eine Diskussion darüber, ob man gegen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union heranwachsende Straftäter Erwachsenenstrafrecht und nicht mehr das Jugendstrafrecht anwenden soll. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. GRÜNEN]: Das wollen Sie immer!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Der Diskussion werden Sie sich stellen müssen. der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9953

(A) Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der sion ursprünglich vorgeschlagen hatte – ist es uns gelun- (C) Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und gen, ein wichtiges Signal dafür zu setzen, dass sich bei Landwirtschaft: der Baumwolle etwas in Richtung fairerer Handel verän- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- dern muss. Damit steht die Europäische Union in dieser ben es geschafft, in Brüssel einen sehr wichtigen Kom- Diskussion auf der richtigen Seite. Sie macht sich weit promiss in der Reform der Agrarpolitik durchzusetzen. weniger angreifbar, als das noch in den vergangenen Jah- Deutschland war an der Mehrheitsfindung sehr kon- ren der Fall gewesen ist. struktiv beteiligt. Dieser Kompromiss besagt eines ganz (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: In Deutsch- klar: Die in Deutschland auch kontrovers diskutierten land wird viel Baumwolle angebaut! Das ist Reformen aufgrund der Luxemburger Beschlüsse, der richtig! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ Weg der Entkoppelung, der Weg zu mehr Markt und DIE GRÜNEN]: Aber auch viel Hopfen! – Umweltgerechtigkeit in der Landwirtschaft, sind unum- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Um uns kehrbar. Das wird nun auf die Marktordnungen übertra- das mitzuteilen, haben Sie sich gemeldet, Herr gen, die besonders die Landwirtschaft im Süden Europas Rossmanith?) betreffen. Zu nennen sind hier Baumwolle, Tabak und Olivenöl. – Herr Rossmanith, in Deutschland wird viel Hopfen an- gebaut. Auf das Thema – „Hopfen und Malz – Gott er- Ich persönlich freue mich sehr, dass es uns gelungen halt’s!“ – wollte ich nun zu sprechen kommen. Die gute ist, dafür eine Mehrheit zu bekommen. Das war lange Nachricht, Herr Kollege, ist, dass bei uns keine Baum- Zeit sehr umstritten, weil es gerade für die Landwirt- wolle angebaut wird. Die schlechte Nachricht aber ist, schaft in Südeuropa um erhebliche Summen geht, die dass wir die Subventionen für den Baumwollanbau trotz- nun anders und zum Teil gar nicht mehr ausgezahlt wer- dem zahlen müssen. den. Nun komme ich zu dem Thema, das Sie, wie ich ja Ich freue mich ebenfalls, dass wir für den deutschen seit vielen Jahren weiß, mehr interessiert: zum Hopfen. Steuerzahler auf kurze Sicht – und längerfristig noch mehr – Geld sparen konnten. Über 25 Prozent des EU- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Haushalts werden aus deutschen Steuermitteln bestritten, GRÜNEN]: Das ist ganz wichtig! Da kennt er aber kaum etwas davon fließt in die Bundesrepublik zu- sich aus!) rück. Nehmen wir das Beispiel Tabak. Die Tabakmarkt- Auch beim Hopfen ist uns Wesentliches gelungen. Wir ordnung umfasste bisher über 1 Milliarde Euro. Nach haben es geschafft, dass die anerkannten Erzeugerge- Deutschland fließt davon nur ein Bruchteil, nämlich meinschaften im Hopfenbereich weiterhin unterstützt (B) 20 Millionen Euro, zurück. Wir zahlen aber 250 Millio- werden. Ich halte das für eine richtige und gute Entschei- (D) nen Euro. Das macht deutlich, wie wichtig es ist, gerade dung, weil wir unserer Landwirtschaft und den Hopfen- in diesen Bereichen zu reformieren, wenn man für den produzenten – für einige von uns ist Hopfen ja ein ganz deutschen Steuerzahler sparen will, wenn man Gelder besonders wichtiges Produkt – auf Dauer Produktionssi- für andere wichtige Entscheidungen und Bereiche in cherheit geben können, ohne aber den Fehler gemacht zu Brüssel mobilisieren möchte. haben, dies durch Zugeständnisse in anderen Bereichen (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Dann wird zu erkaufen. die Tabaksteuer erhöht!) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben mit der Entkoppelung durchsetzen können, NEN]: Das hat sogar Herr Miller gelobt!) dass Marktmechanismen verstärkt greifen. Wir haben Ich bin sehr froh, dass wir beim Tabak die völlige aber auch Cross Compliance durchsetzen können. Jeder, Entkoppelung bis zum Jahre 2010 durchgesetzt haben. der sich einmal näher mit den Umweltbegleitumständen Denn es ist weder den Steuerzahlerinnen und Steuerzah- der Baumwollproduktion beschäftigt hat, weiß, dass die lern noch sonst jemandem zu erklären, strikte Bindung künftiger Zahlungen an die Einhaltung der einschlägigen Umweltstandards gerade bei der (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Baumwolle zu einer erheblichen Entlastung der Umwelt GRÜNEN]: Mir auch nicht! Ich bin auch ei- führen wird. ner!) Darüber hinaus haben wir bei der Baumwolle ein dass wir einerseits den Tabakanbau subventionieren, an- wichtiges Signal zum Gelingen der nächsten WTO-Han- dererseits aber Programme in einer Größenordnung von delsrunde gesetzt, weil gerade dieses Thema hoch um- Millionen bzw. Milliarden Euro zur Aufklärung über Ta- stritten ist. Sie wissen, dass sich in den Staaten Westafri- bakkonsum finanzieren. Ich denke, dieser Kompromiss kas Bauern beklagen, dass wir, die Staaten des Nordens, ist gut. unsere Märkte abschotten. Wegen 25 000 Baumwollfar- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE mern in den Vereinigten Staaten, die durch die U.S. GRÜNEN]: Für die Süchtigen!) Farm Bill besonders abgesichert werden, drohen 2,5 Millionen Bauern in den Westsaharastaaten ihre Es wird für die Tabakbauern lange Übergangszeiten ge- Existenz zu verlieren. ben. Aber es wurde auch die klare Entscheidung getrof- fen, dass die zum Teil sehr hohen Flächenprämien, die Mit der klaren Entscheidung zur Entkoppelung – hier die Tabakbauern bisher bekommen haben, nicht bis zum sind wir sogar noch weiter gegangen, als es die Kommis- Sankt-Nimmerleins-Tag gezahlt werden. 9954 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) Kurzum: Wir setzen die grundlegende Reform der Deshalb hätte ich von der deutschen Delegation mehr (C) Agrarpolitik fort. Deutschland ist mit seiner Verhand- Einsatz erwartet. lungslinie in Brüssel mehrheitsfähig. Selbst die Franzo- sen konnten wir überzeugen, diesen Weg mitzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, Die Einbeziehung der Rodungsflächen in die Prämi- warum uns bei diesem Kurs der Entkoppelung eine enberechnung ist zwar positiv, aber sie ist nur ein Trop- Mehrheit im Bundestag und auch eine Mehrheit der Län- fen auf den heißen Stein. der – also auch unionsregierte Länder – unterstützen. Das ist ein moderater Weg, der uns aber langfristig mehr (Friedrich Ostendorff [BÜNDNISS 80/DIE Markt, mehr Wettbewerb in der Landwirtschaft und eine GRÜNEN]: Aber es hilft schon weiter!) stärkere ökologische Orientierung bringt und der den Nach dem Beschluss der EU-Agrarminister tritt die Hop- Bundeshaushalt insgesamt – zwar nicht so sehr, wie sich fenreform ja bereits 2005 in Kraft. Die Eckpunkte sehen das manche wünschen – spürbar entlasten wird. die vollständige Entkoppelung vor. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Zuruf von der SPD: Das ist ja auch vernünf- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tig!) SES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD) Wer den Hopfen- und Tabakanbau in der Praxis kennt, der kennt auch die hohen Investitionen in diesem Bereich. So Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wäre eine möglichst weitgehende Teilkoppelung aus be- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marlene Mortler. triebswirtschaftlicher Sicht die sinnvollere Alternative (Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich gewesen. Die Gleichmacherei in Richtung Einheitsprä- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mie – egal, ob es einen hoch spezialisierten Hopfen- oder Die will uns jetzt für den Hopfen loben!) Tabakanbaubetrieb betrifft oder einen so genannten Hobby-Landwirt – ist für mich nicht nachvollziehbar. Marlene Mortler (CDU/CSU): Lassen Sie mich folgende Rechnung aufmachen: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Wird die EU-Agrarreform beim Hopfen nach der Fischler- Damen und Herren! Die Entscheidungen der EU-Agrar- Betriebsprämie umgesetzt, dann werden im Planungs- minister über das Reformpaket für Hopfen und Tabak zeitraum der EU-Agrarpolitik von 2005 bis 2012 mit ei- sind für unsere deutschen Landwirte bestimmt kein nem Schlag ab 2005 – also ohne Abschmelzungsprozess, Grund zum Jubeln. ohne „Gleitflug“ – 75 Prozent der Direktzahlungen im Hopfenbereich entkoppelt von der Produktion be- (B) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE triebsindividuell zugeteilt. (D) GRÜNEN]: Das sieht Herr Miller aber ganz anders! Da müssen Sie zu Hause aber noch Noch erhalten die Hopfenbetriebe – zum Beispiel in mal nachfragen!) Bayern – Direktzahlungen von zumindest 360 Euro je Hektar, auf die unsere Betriebe aufgrund des zum Teil Die harten Einschnitte, die die Bundesregierung unseren starken Preisverfalls der letzten Jahre für ihr Einkommen Bäuerinnen und Bauern bei der Umsetzung des ersten angewiesen sind. Bei einer Zuordnung der entkoppelten Pakets der GAP-Reform zumutet, finden in diesem zwei- Direktzahlungen zu allen Ackerflächen, wie es nach dem ten Paket ihre Fortsetzung. Es zeigt sich wieder einmal, deutschen Gesetzentwurf vorgesehen ist, könnten diese dass unsere Landwirte in Rot-Grün keine verlässlichen Betriebe – zum Beispiel in Bayern – 2005 nur noch mit Fürsprecher auf europäischer Ebene haben. rund 300 Euro je Hektar rechnen, also mit 60 Euro weni- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Überhaupt ger. Käme diese regionalisierte statt der betriebsindivi- keine! Vor allem beim Hopfen!) duellen Zuteilung, würde das im Falle eines Hopfenan- baubetriebs mit 40 Hektar bedeuten, dass fast 2500 Euro Denn wie man hörte, ist der Vorschlag der EU-Kom- vom Einkommen der Anbauer abgezogen würden, einem mission zum Hopfen von deutscher Seite ohne größere Einkommen, das zum einen reichen muss, um die Fami- Diskussionen angenommen worden, lie zu versorgen, zum anderen aber auch, um Nettoinves- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE titionen zu tätigen. Deshalb ist der Gesetzentwurf an die- GRÜNEN]: Weil er gut ist! Gute Vorschläge ser Stelle zu korrigieren. nehmen wir immer an!) (Beifall bei der CDU/CSU) und das, obwohl Deutschland über das größte zusam- Die vorgesehene Unterstützung der Erzeugergemein- menhängende Hopfenanbaugebiet der Welt verfügt. schaften allerdings begrüße ich. Die gefundene haushalts- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: So ist es! – neutrale Regelung war unter anderem auch ein Vorschlag Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Bayerns gegenüber dem amtierenden Agrarratsvorsitzen- GRÜNEN]: Zu was wird das benutzt?) den Joe Walsh. Die Erzeugergemeinschaften nehmen wichtige Aufgaben im Bereich der Zertifizierung, der Auf diesen 17 500 Hektar werden rund 80 Prozent des Forschung und Vermarktung wahr. Sie steigern aber auch EU- und rund 40 Prozent des weltweiten Hopfenanbaus – das möchte ich hier am Rande durchaus erwähnen – das durchgeführt. Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Kollegen und Kolle- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Hört! Hört!) ginnen. Ich kann das jedes Jahr bei der so genannten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9955

Marlene Mortler (A) Hopfenbegehung im August miterleben, durchaus nach Marlene Mortler (CDU/CSU): (C) dem Motto: „Hopfen und Malz – Gott erhalt’s!“. Es muss Ich weiß, Frau Präsidentin. Ich bin am Schluss meiner aber in den weiteren parlamentarischen Beratungen dis- Rede. – Stattdessen reist die Ministerin nach Brasilien kutiert werden, ob die Hopfenbeihilfe nicht als Top-up in und spricht in dem Zusammenhang von wichtigen und voller Höhe betriebsindividuell gewährt werden kann. vertrauensbildenden kommunikativen Maßnahmen. Für die Hopfenbauern wäre das Modell der CDU/CSU Auch die deutschen Bauern haben dieses Vertrauen ver- wesentlich gerechter, würden doch zumindest 65 Prozent dient. der Prämien betriebsindividuell zugewiesen werden. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr wohl!) Noch kurz zum Tabak: In meinem Wahlkreis wird Wir brauchen keine deutschen Sonderwege. nicht nur Hopfen angebaut, sondern liegen auch 25 Prozent der bayerischen Tabakanbauflächen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: sie soll- Frau Kollegin, das waren doch schon Schlusssätze. ten überprüfen, ob die nicht auch Hanf an- bauen können! Alle Suchtmittel sind jetzt hier versammelt!) Marlene Mortler (CDU/CSU): Künast und nationale Alleingänge – das ist inzwi- Viele Gespräche, die ich in den vergangenen Wochen schen schon zu einem Synonym geworden. Deutsche und Monaten mit den Bauern geführt habe, haben mich Sonderwege sind Gift. Sie schwächen unser Land. Des- zu der Überzeugung geführt, dass sie in Zukunft eine halb werden wir den Gesetzentwurf in der jetzt vorlie- schwere Last zu tragen haben. Denn wenn es nach dem genden Fassung ablehnen. Willen Ihrer Politik geht, sollen sie 2010, dem Zeitpunkt der vollständigen Entkopplung, ihre Betriebe schließen. Vielen Dank. Obwohl die Bundesministerin die schwerwiegenden (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Auswirkungen für die deutschen Tabakbauern kennt, Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ex- wertet sie dieses Ergebnis als gesundheitspolitischen Er- trem gesundheitsgefährlich!) folg – wir haben es von Herrn Berninger gehört – und lässt ihre Bauern damit im Stich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf Weisheit. man denn alles Gift anbauen?) (B) Kein einziger Raucher wird mit dem Rauchen aufhö- Matthias Weisheit (SPD): (D) ren, wenn in Deutschland kein Tabak mehr angebaut Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird. Ich stelle fest: Wir sind wieder einmal unter uns. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!) GRÜNEN]: Nein, ich bin diesmal dabei! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Von mir Ich hatte die Ministerin in einem Brief gebeten, Alterna- ganz zu schweigen!) tiven aufzuzeigen. – Ja, Sie trifft man gewöhnlich nicht in unseren Aus- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schusssitzungen. Es ist also eine Ausschusssitzung mit GRÜNEN]: Hanf zum Beispiel ist gesünder!) etwas erweitertem Zuhörerkreis. Darauf habe ich keine Antwort erhalten. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und im Grundsatz darstellen – und es gutheißen –, was bei der europäi- An dieser Stelle möchte ich bemerken, dass gerade schen Agrarpolitik verändert wurde. Die Agrarpolitik der Landkreis Roth der Landkreis in Bayern ist, der die insgesamt und diejenigen, die sich für die Agrarwirt- vielfältigste Produktpalette vorzuweisen hat. Die Land- schaft einsetzen, standen in der Öffentlichkeit immer un- wirte dort haben also immer schon ihre Hausaufgaben ter massiver Kritik. Es wurde kritisiert, dass jede Menge gemacht. Steuergelder ausgegeben werden, die eigentlich sinnvol- Ich komme zum Schluss. Was wir brauchen – das ler verwendet werden könnten, dass diese Gelder für möchte ich nun allgemein formulieren –, sind tragfähige Überschussprodukte, Exporterstattung usw. ausgegeben und verlässliche Zukunftsperspektiven für unsere Jung- werden, wodurch in anderen Ländern Märkte zerstört landwirte und unsere Jungbäuerinnen. Ich frage mich werden. immer wieder: Wo bleibt Ihr Einsatz für den Erhalt von Diese Kritik war bisher zum Teil berechtigt. Durch Arbeitsplätzen? Stattdessen agieren Sie gegen den Erhalt die neue Agrarpolitik ist ihr aber weitestgehend die von Arbeitsplätzen. Landwirtschaft ist schließlich ein Grundlage entzogen. Denn nunmehr werden durch die Teil der Gesamtwirtschaft. europäische Agrarpolitik nicht mehr Produkte – und da- mit Überschüsse – gefördert, sondern es wird endlich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: honoriert, was die Landwirtschaft leistet, nämlich die Frau Kollegin, ich habe Ihre Redezeit nun wirklich Pflege der Kulturlandschaft, der Erhalt und die Weiter- reichlich bemessen. entwicklung dieser tollen Landschaft. 9956 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Matthias Weisheit (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Man kann auf jeden Fall eines nicht mehr vertreten; (C) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das müssen auch diejenigen, die Tabak anbauen, einse- CDU/CSU und der FDP) hen: Wir können nicht auf der einen Seite den Tabakan- bau in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Es ist richtig, dass diese Leistung auf Dauer bezahlt Ländern mit bis zu 8 000 Euro pro Hektar fördern und wird. Es ist ein riesengroßer Erfolg, dass man diese Ver- auf der anderen Seite die Werbung für Tabak verbieten, änderung hinbekommen hat. Diese gilt außer für die da Tabak gesundheitsschädlich ist. Das lässt sich nicht Kulturen, für die man schon beim Treffen in Luxemburg mehr rechtfertigen. Damit ist es vorbei und ich bin ganz einen Beschluss gefasst hat, jetzt auch für die Kulturen, froh, dass es nun zu dieser Regelung gekommen ist und die man bisher außer Acht gelassen hatte, nämlich Ta- dass sie Teil dieses Gesetzes wird. bak, Hopfen, Baumwolle und Olivenöl. Baumwolle und Olivenöl spielen bei uns keine so furchtbar wichtige (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber du Rolle. Vor dem Hintergrund der WTO-Verhandlungen ist gibst das Rauchen nicht auf, oder? – Wilhelm die Regelung bei Baumwolle aber natürlich ganz wich- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Immer diese Ge- tig; denn es kam immer wieder der große Vorwurf, dass wissensfragen!) wir den Baumwollanbau in anderen Ländern durch un- – Es ist die Sache jedes Einzelnen, ob er weiterhin raucht sere Subventionen kaputtmachen. Es wäre sehr wün- oder nicht. schenswert, wenn die Amerikaner bei dem, was ihnen die Europäer vorgemacht haben, endlich nachziehen Es stellt sich in der Tat die Frage, ob wir den Tabak- würden. anbau bei uns und in Europa weiterhin mit riesigen Sum- men unterstützen oder nicht. Ich finde es richtig, dass Zum Hopfen. Hierzu habe ich andere Rückmeldun- wir das nicht tun und dass es einen langen Übergangs- gen als Sie, Frau Mortler. Auch ich komme aus einem zeitraum gibt. Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, Hopfenanbaugebiet. Die Hopfenanbauer, mit denen ich dass sie das so ausgehandelt hat. mich unterhalten habe, waren zufrieden. Sie haben ge- sagt, das Wichtigste sei für sie zunächst einmal die Er- Herzlichen Dank. haltung ihrer Erzeugergemeinschaften und die finan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zielle Sicherung derselben gewesen. Das ist durchgesetzt DIE GRÜNEN) worden. Ob die Prämie je Hektar am Ende des Tages ein bisschen niedriger oder höher ist, sei für sie nicht ent- scheidend, das könnten sie aufgrund ihrer guten Ausbil- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dung mit der hohen Qualität und den damit verbundenen Jetzt hat der Abgeordnete Goldmann das Wort. höheren Preisen durchaus wettmachen. (B) (D) Hans-Michael Goldmann (FDP): (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hört!) Bevor wir gleich alle nach Hause fahren und ich zum Das ist ein Unterschied zu denjenigen, die sich immer Beispiel heute Abend ein Gespräch mit Landwirten in nur auf den Staat verlassen und das eigentlich gar nicht Ostfriesland habe, die mich sicherlich fragen werden, ob so sehr wollen. ein Milchboykott denn Sinn macht – was Ausdruck der dramatischen Situation in weiten Teilen der Landwirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaft wäre; wir alle wissen, dass die Einkommenssitua- DIE GRÜNEN) tion außerordentlich schwierig ist –, will ich es im Ich gestehe zu, dass es für die Tabakanbauer ein rie- Grundsatz gutheißen, dass wir uns alle sehr engagiert da- siges Problem gibt. Diese müssen – das ist überhaupt rum bemühen, Lösungen zu finden. keine Frage – ihre Produktion innerhalb der nächsten Sicher gibt es unterschiedliche Wege. Aber als Erstes, zehn Jahre im Prinzip aufgeben und sich um Alternati- so meine ich, sollte man einmal betonen, dass wir alle ven kümmern. hier für eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutsch- (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) land arbeiten, in einer Kulturlandschaft, die den Men- schen Gott sei Dank sehr gut gefällt. Aufgrund der Koppelung der Prämien wird ihnen aber ein anständig finanzierter Übergangszeitraum gewährt. (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- gitter] [SPD]: Sehr gut!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Solange sie produzieren!) Zweiter Punkt. Der Irrsinn, dass eine Produktion schon deshalb gut ist, weil man etwas produziert und da- – Ein Teil ist doch entkoppelt. – Darüber, was entkoppelt durch Prämien erhält – auch wenn man am Markt vorbei wird und was gekoppelt bleibt, werden wir mit den Län- produziert –, muss durchbrochen werden; denn das ist dern noch reden müssen. Ich war wirklich nicht glück- niemandem klar zu machen. lich, als ich gehört habe, dass die Tabak anbauenden (Beifall bei der FDP und der SPD) Länder dafür eintraten, dass 60 Prozent gekoppelt blei- ben und nur 40 Prozent entkoppelt werden. Mir wäre es Ich finde es auch gut, dass hier die Problematik der schon aus verwaltungstechnischen Gründen lieber, man Baumwolle angesprochen wurde. Ich war mit der Kolle- würde am Anfang fifty-fifty machen. Hier scheiden sich gin Gudrun Kopp in Cancun und muss sagen: Wir hatten aber die Geister. überhaupt keine Chance, in Gespräche einzusteigen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9957

Hans-Michael Goldmann (A) weil aufgrund der Förderung der Baumwolle durch die wir das auch beim Thema Tabak erreichen, sind wir auf (C) Amerikaner, zum Teil aber auch durch die Europäer, einem guten Weg. überhaupt keine Gesprächsgrundlage mehr dafür vor- handen war, um für die ärmsten Länder in Afrika Lösun- Dies wird mehr Vertrauen in das Instrument der Ent- gen zu entwickeln. Deswegen ist auch dieses Signal aus kopplung mit sich bringen. Die Bürgerinnen und Bürger meiner Sicht genau richtig. – ich hoffe, sie hören uns zu – müssen verstehen, dass wir zwar Landwirtschaft wollen, aber Wert auf eine zu- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem kunftsfähige Landwirtschaft legen. Darüber sind wir uns BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einig, auch wenn der eine oder andere Ausgestaltungs- weg noch diskutiert werden muss. Liebe Kollegin Mortler, ich denke, die Lösung in Sa- chen Hopfen ist nicht einfach, sondern anspruchsvoll. Herzlichen Dank und schönes Wochenende! Die Betroffenen können mit ihr insgesamt sicher leben, wenn wir uns weiterhin dafür verantwortlich fühlen (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ – das wurde von Ihnen und vom Kollegen Weisheit zum CSU) Ausdruck gebracht –, dass die Zukunftsfähigkeit geför- dert wird. Deshalb müssen wir klipp und klar sagen, dass Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wir bereit sind, für solche Zukunftsentwicklungen Ge- Danke schön. Ihren Wunsch geben wir zurück, aber sellschaftsmittel – sprich: Steuergelder – zur Verfügung ein paar Reden kommen noch. zu stellen. Jetzt hat die Kollegin Waltraud Wolff das Wort. Tabak – ein Bereich, der mir als Nordniedersachse, wie ich ehrlicherweise zugeben muss, nicht besonders Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): nah ist; aber ich höre das bei Gesprächen und bei Besu- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und chen vor Ort – ist ein interessantes Beispiel dafür, wie Kollegen! Lieber Kollege Goldmann, auch ich dachte, sich im ländlichen Raum eine gesamte Kultur auf der Sie wollten mich schon ins Wochenende entlassen, aber Basis einer Produktion entwickeln kann. Das geht hin ich wollte doch noch hier vom Pult aus meine Rede hal- bis zum Bau des Hauses, das so ausgestaltet wurde, dass ten. die Tabakbauern den Tabak unter ihren Dächern trock- nen können. Wir müssen also immer wieder im Auge ha- Liebe Frau Mortler, Bayern stand bei den Verhandlun- ben, dass wir es mit einer sehr langfristig angelegten, be- gen zum ersten Teil der EU-Agrarreform ziemlich allein liebten und geschätzten Kulturentwicklung zu tun haben. auf weiter Flur. Deswegen müssen wir zu guten Lösungen ohne Brüche (B) kommen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Mit ihren Wahl- (D) ergebnissen in Bayern ist die SPD auch allein (Beifall bei der FDP) auf weiter Flur!) Das ist auch unter gesundheitlichen Aspekten, Herr Nach Ihrer heutigen Rede habe ich leider den Eindruck, Ströbele, zu beurteilen – überhaupt keine Frage! Aber in dass die CDU/CSU-Fraktion an dieser Stelle noch nichts Trier arbeiten mehr als 1 000 Menschen in diesem Be- dazugelernt hat. Herr Goldmann hat eben gesagt, wir alle reich. Sie stellen auch nicht nur „böse“ Tabakprodukte wollten eine gute Zukunft für die deutsche Landwirt- her, sondern machen wirklich exzellente Zigarren, die schaft. Diese Aussage muss ich ein bisschen einschrän- eine Genusswelt darstellen. Zu Zeiten von Herrn Erhard ken: noch nicht alle! Vielleicht wird das im Laufe der zum Beispiel waren sie gewissermaßen Symbol von Zu- Ausgestaltung des zweiten Teils etwas anders. friedenheit und Wohlergehen. Sie haben auch die geringeren Prämien für den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Hopfen angesprochen. Wenn ich aus Bayern käme, GRÜNEN]: Das ist bei einem Cannabis-Joint würde ich das möglicherweise auch tun. aber genauso!) (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Ganz Deswegen müssen wir sehr genau hinschauen, wie wir bestimmt!) hier vorgehen. Aber ich finde – auch das muss man einmal ganz deut- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich sagen –, dass man nicht immer nur mit Scheuklap- der CDU/CSU) pen diskutieren kann, sondern man muss die europäische Agrarpolitik und – das hat der Herr Staatssekretär ange- Herr Berninger, ich war ein bisschen irritiert und in sprochen – die WTO im Blick haben. Man darf nicht im- Sorge, als uns im Ausschuss mitgeteilt wurde, dass in mer in seinem Klein-Klein verbleiben. der Tabakproduktion wohl eine ganze Reihe kleinerer Betriebe vom Markt gehen werde. Ich sage ganz klar Sie haben darüber hinaus beklagt, dass die Subventio- – das hat auch Matthias Weisheit betont –: Wir müssen nen deutlich geringer ausfallen, und darauf hingewiesen, alles dafür tun, damit das Geld, das zur Verfügung steht dass auch die Hopfenbauern schließlich Familien zu er- – trotz aller Einsparmöglichkeiten gegenüber der Euro- nähren haben. Ich habe immer gedacht, sie können von päischen Union –, wirklich für marktgerechte Lösungen ihren Erträgen leben. Wenn sie allein von staatlichen genutzt wird, damit diese Betriebe mit ihren Mitarbeite- Subventionen abhängig wären, fände ich das nicht so rinnen und Mitarbeitern eine Perspektive haben. Wenn gut. 9958 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zum Hopfen brauche ich nichts zu sagen. Darüber ist (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter schon zu viel geredet worden. Ich möchte auf ein Pro- Bleser [CDU/CSU]: Man merkt, Sie haben blem aufmerksam machen, das wir in der letzten Aus- keine Ahnung!) schusssitzung besonders beraten haben. Die Diskussion drehte sich zum großen Teil um die nationale Reserve. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung in so kur- Weil wir nicht wissen, wie viele Härtefälle auf uns zu- zer Zeit, nämlich in nur zwei Wochen, einen Gesetzent- kommen, hat der Bund eine nationale Reserve von wurf vorgelegt hat, um die Forderungen des EU- 1,5 Prozent des Prämienvolumens vorgeschlagen. In Ab- Agrarrates zu erfüllen. Im Großen und Ganzen sind sprache mit dem Bundesrat heißt es nun, es solle eine diese Vorgaben mit den Ländern – auch mit den von Reserve von nur 1 Prozent gebildet werden. Im Aus- CDU und FDP geführten Bundesländern – abgestimmt. schuss wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Ich finde es sehr positiv, dass wir über einen Bereich das Geld ausreichen wird. Man sollte vorausschauender sprechen, der Deutschland nicht betrifft, nämlich die denken und planen. Warum können wir nicht eine natio- Baumwolle. Man muss hervorheben, dass die WTO in nale Reserve von 1,5 Prozent installieren? diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt und un- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Weil das sere Entscheidung in Europa auch für die Entwicklungs- nicht für euer Gesetz sprechen würde!) länder einen sehr hohen Stellenwert hat. Daher begrüße ich diese Entscheidung sehr. Wenn es nicht so viele Härtefälle gibt, dann hätte man immer noch die Möglichkeit, die übrig gebliebenen Mit- Zu Hopfen und Tabak ist vieles gesagt worden. Bei tel zu verteilen. Dieser Weg ist immer noch besser, als Tabak entkoppeln wir nur 40 Prozent, sodass 60 Prozent wenn man hinterher die Betriebsprämien in ganz als Betriebsprämie übrig bleiben werden. Das hat den Deutschland kürzt, wenn die Mittel nicht ausreichen. Ich Hintergrund, dass die meist sehr kleinflächigen Anbau- glaube, dass dieser Weg nicht so günstig wäre. betriebe nicht überfordert werden sollen. Brüssel fordert Ich habe zum Schluss die Bitte an die Oppositionspar- aber, dass im Jahr 2010 50 Prozent des entkoppelten Prä- teien, dass sie diese zwei Fragen noch einmal beraten mienvolumens in einen Umstrukturierungsfonds fließen und auf die Bundesländer zugehen. Ich kann mir vorstel- müssen. Daher stellt sich die Frage, was wir wollen. len, dass es zu Unmut unter den Bauern kommt, wenn Wenn wir es beim Verhältnis 40 : 60 beließen, was Herr die nationale Reserve nicht ausreichen sollte. Ich hoffe Bleser gleich gefordert hat, als Herr Weisheit gesagt hat, nicht, dass das die politische Intention der Opposition dass wir mit einem Verhältnis von 50 : 50 schon allein ist. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam einen guten wegen der Bürokratie viel besser führen – Herr Bleser, Weg finden und gemeinsam unsere Kraft für die Land- Sie können ruhig zuhören; wenn ich Sie schon direkt an- (B) wirtschaft in Europa einsetzen. (D) spreche, wäre es nett, wenn Sie mir folgen würden –, Herzlichen Dank. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie haben meine volle Aufmerksamkeit!) (Beifall bei der SPD) dann müssen im Jahre 2009 sämtliche Berechnungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: neu erfolgen. Das ist ein riesiger bürokratischer Auf- wand. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Bleser.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die Länder Peter Bleser (CDU/CSU): sind damit einverstanden! Lassen Sie es mal Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- laufen!) legen! Nach der allgemeinen EU-Agrarmarktreform Ich hoffe, dass dahinter kein politisches Kalkül steht. vom vergangenen Jahr haben wir es nun mit der GAP II Sehr viel besser wäre es nämlich im Sinne der EU, eine zu tun, die die Änderung der verbliebenen Marktordnun- Betriebsprämie von 50 Prozent und eine entkoppelte gen für Oliven, Baumwolle, Hopfen und Tabak mit sich Prämie von 50 Prozent zu haben. Der Abschmelzungs- gebracht hat. Wir haben nun die nationale Umsetzung prozess – das ist auch noch nicht gesagt worden – wird der auf EU-Ebene gefassten Beschlüsse vorzubereiten auch in diesen Bereichen in jedem Fall im Jahr 2013 ab- und kommen dieser Aufgabe mit der ersten Beratung des geschlossen sein. vorliegenden Gesetzentwurfs nach. Ich möchte zunächst einmal deutlich machen, worum Nicht zu verhehlen ist auch, dass die Prämien für Ta- es bei diesem Thema geht; denn einige scheinen zu glau- bak ein Vielfaches der gezahlten Getreide- und Hopfen- ben, dass es in dieser Debatte um ein Randthema geht. prämien betragen haben. Gesellschaftspolitisch ist das Über 1 000 Betriebe in Deutschland bauen Tabak an. auf lange Sicht nicht zu vertreten. Bund und Länder ha- Von diesen Betrieben sind mehr als 3 500 Beschäftigte, ben sich dieser Tatsache angenommen und wissen, dass etwa 10 000 Saisonarbeitskräfte sowie die Beschäftig- der Umlenkungsprozess sehr schwierig sein wird. Des- ten im vor- und nachgelagerten Bereich abhängig. halb haben Sie einen gemeinsamen Weg gefunden. Der Umstrukturierungsfonds, von dem schon die Rede gewe- Es geht also um eine Vielzahl von Schicksalen, über sen ist, gibt den Ländern die Möglichkeit, neue Erwerbs- die zu entscheiden ist. Bereits jetzt ist festzustellen – das chancen in den betroffenen Regionen zu erschließen. hat die Bundesregierung auch nicht bestritten –, dass Das ist ein wichtiger Punkt. dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zufolge die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9959

Peter Bleser (A) wirtschaftliche Existenz dieser Menschen spätestens im Wir lehnen deshalb den vorliegenden Gesetzentwurf (C) Jahr 2013 beendet wird. Spätestens 2013 soll der Tabak- ab und werden im Bundesrat dafür sorgen – ich bin mir anbau, der in Deutschland seit 300 Jahren Bestand hat, sicher, dass die Tabakbauern nicht vergeblich auf die eingestellt werden. Darum geht es in dieser Debatte. CDU/CSU gesetzt haben –, dass eine Gleichbehandlung mit den übrigen Agrarreformen erfolgt, um eine einsei- Wir müssen darüber diskutieren, wie die nationale tige Belastung dieses Sektors zu verhindern. Umsetzung der EU-Agrarpolitik zu gestalten ist. Denn es besteht durchaus die Möglichkeit, für die betroffenen (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Betriebe und Familien Übergangsregelungen zu schaf- – Das Nicken der Kollegen von der SPD zeigt mir, dass fen, um ihnen die Chance einzuräumen, ihre wirtschaftli- Sie durchaus Verständnis dafür haben. Aber warum ver- che Existenz zumindest zu einem großen Teil zu sichern. folgen Sie dann ein solches Gesetzesvorhaben? Warum (Beifall bei der CDU/CSU) müssen Sie immer wieder zu Ihrem Glück gezwungen werden? Was die Bundesregierung wie auch die Fraktionen der SPD und der Grünen vorgetragen haben, ist im Grunde Wir wollen den Tabakbauern helfen, damit sie mög- schizophren. lichst lange Fristen nutzen können, um sich auf die neue Situation einzustellen. Deswegen können sie sich darauf (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na, na, verlassen, dass sie aufseiten der CDU/CSU Unterstüt- na! Nun bringen Sie nicht noch eine solche zung finden. Das versichert ihnen ein leidenschaftlicher Schärfe hinein!) Nichtraucher. Man sagt, man könne nicht auf der einen Seite den ge- Vielen Dank. sundheitsschädlichen Genuss von Tabak geißeln, aber (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt auf der anderen Seite den Tabakanbau fördern. Das hört [Salzgitter] [SPD]: Und was sagen Sie zu der sich zwar gut an, aber glauben Sie wirklich, dass sich die eigentlichen Agrardebatte?) deutschen Raucher nur deshalb das Rauchen abgewöh- nen, weil der Tabak nicht mehr aus Deutschland kommt? Das ist doch eine Illusion, die Sie verbreiten. Sie schädi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen damit nur weiter den Wirtschaftsstandort Deutsch- Ich schließe damit die Aussprache. land. Das ist die einzige Konsequenz Ihres Vorhabens. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/3046 an die in der Tagesord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die (B) GRÜNEN]: Warum bauen Sie hier keinen (D) Überweisung so beschlossen. Mohn an?) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: Das ist die Realität. Deshalb müssen wir uns mit Ihren Vorschlägen befassen. Wir haben durchaus Verständnis a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun dafür, dass diese Reform angegangen wurde. Natürlich Kopp, Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, war die Tabakmarktordnung in den vergangenen Jahr- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zehnten immer wieder auch Vehikel für andere Be- Nationales Energieprogramm vorlegen – Pla- schlüsse in der Europäischen Union, um eine Bevortei- nungssicherheit für Wirtschaft und Verbrau- lung südlicher Länder, die dafür besonders prädestiniert cher herstellen sind, zu erreichen. Insofern will ich gar nicht in Abrede stellen, dass eine Änderung der Tabakmarktordnung not- – Drucksache 15/2760 – wendig war. Die gefassten Beschlüsse sollten aber so Überweisungsvorschlag: umgesetzt werden, dass in Deutschland die sich im Rah- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) men der Anpassung ergebenden Möglichkeiten genutzt Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und werden. Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der übrigens erst am Haushaltsausschuss Mittwoch das Licht erblickt hat. Die Tabakverbände ha- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike ben sich wegen der komplizierten Darstellung zunächst Flach, Cornelia Pieper, Angelika Brunkhorst, einmal nicht in der Lage gesehen, den Gesetzentwurf zu weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP beurteilen. Forschung und Entwicklung für zukunfts- Sie haben die sich aus den EU-Beschlüssen ergeben- fähige Energietechnologien – 5. Energiefor- den Möglichkeiten, die Prämien bis 2010 in voller Höhe schungsprogramm umgehend vorlegen zu gewähren, nicht ausgeschöpft, sondern sehen in Ih- – Drucksache 15/2194 – rem Gesetzentwurf vor, die Prämien ab 2007 um jährlich 10 Prozent zu reduzieren. Das schmälert die Chancen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) der Tabakanbaubetriebe, sich auf diesen Subventionsab- Ausschuss für Bildung, Forschung und bau einzustellen. Technikfolgenabschätzung 9960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Denn es macht absolut keinen Sinn, eines Tages unseren (C) Landwirtschaft Strom aus französischen Kernkraftwerken zu beziehen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und so zu tun, als ob wir damit überhaupt nichts zu tun Entwicklung hätten.

Die Abgeordneten Kasparick, Fischer (Karlsruhe- Wir müssen in Wissenschaft und Forschung im Be- 1) Land), Hustedt, Girisch und Schreck haben gebeten, reich der erneuerbaren Energien investieren. Ein be- ihre Reden zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einver- sonderes Anliegen sind uns dabei Investitionen in Inno- standen? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. vationen wie den Ausbau der Speicherfähigkeit im Es redet nur noch die Abgeordnete Gudrun Kopp. Bereich der Windkraft. Wir als Liberale sind aber dage- Frau Kopp, Sie haben das Wort. Bitte. gen, Dauersubventionen festzuschreiben. Ich betone sehr klar, wie wichtig es für uns ist, vom Jahr 2005 an aus der (Beifall bei der FDP) Subventionierung der Steinkohle auszusteigen und in den nächsten Jahren nicht weitere 15 Milliarden Euro in Gudrun Kopp (FDP): den Steinkohlebergbau in Deutschland zu investieren; Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und denn solche Investitionen sind nicht zielführend. Damen! Ganz so leer ist das Haus ja noch nicht. Ich läute das bevorstehende Wochenende mit einem, wie ich (Beifall bei der FDP) finde, äußerst wichtigen Thema ein. Die FDP-Bundes- tagsfraktion hat über vier Monate ein sehr umfassendes Sorgen bereitet uns ebenfalls der Aufbau einer Regu- Gesamtkonzept zur Energiepolitik in Deutschland erar- lierungsbehörde für den Strom- und Gasmarkt unter beitet, das Ihnen heute als Antrag vorliegt. Die FDP- dem Dach der RegTP. Im Zusammenhang mit der De- Bundestagsfraktion eröffnet damit eine wichtige Ener- regulierung dieses Marktes ist geplant, dort weitere giedebatte. Es gilt, eine weitere Schwächung des Wirt- 300 Planstellen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund schaftsstandortes Deutschland zu verhindern. Denn die wird derzeit – leider – Fachpersonal aus dem Bundeskar- rot-grüne Bundesregierung macht, wie man einmal de- tellamt abgezogen, worin wir eine weitere Schwächung tailliert herausstellen muss, leider keine konsistente der Wettbewerbshüter sehen. Wir befürchten eine starke Energiepolitik. Regulierung der Energieversorgung in Deutschland. Das wollen wir nicht. Wir werden sehr genau darauf achten, Wir legen Ihnen auf 15 Seiten unseres Antrags dar, wie das noch zu diskutierende neue Energiewirtschafts- dass sich der weltweite Energiebedarf bis zum Jahr gesetz ausgestaltet wird. Die Regierung plant 20 weitere 2050 im Vergleich zu heute – einige Fachleute gehen so- (B) Verordnungen zu diesem Gesetz. (D) gar davon aus, dass das möglicherweise schon bis zum Jahr 2030 geschehen wird – verdoppeln wird. Da der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Furchtbar!) Kraftwerkspark in Deutschland überaltert ist, sind Inves- titionen in neueste Technologien notwendig. Außerdem Wir wissen derzeit noch überhaupt nicht, in welcher müssen wir uns dringend um die Regulierung des Strom- Weise hier agiert werden soll. Aber eines ist uns klar: und Gasmarktes kümmern. Das darf nicht in bürokrati- Man wird in einem sehr bürokratischen Miteinander ver- scher, sondern sollte auf effiziente, den Wettbewerb stär- fahren und die Kosten der Regulierung sollen ausgerech- kende Weise geschehen. net auf die zu regulierenden Unternehmen umgelegt (Beifall bei der FDP) werden. Das heißt, dass aufgrund der Kosten für mehr Personal die Verbraucher am Ende die Zeche zahlen. Das Ich bin, wie meine Fraktion, davon überzeugt, dass gibt es in keinem anderen Bereich. Die Regulierung ist die Bundesregierung weit davon entfernt ist, auf Dauer in diesem Fall eine staatliche Aufgabe und man sollte die eine wettbewerbsfähige Energiepolitik zu machen. Uns Kostenstrukturen und damit die Wettbewerbsfähigkeit liegt daran, dass der Energiemix aus fossilen – diese sind unseres Strom- und Energiemarktes nicht durch eine natürlich endlich – und erneuerbaren Energieträgern so- weitere Umlage belasten. wie aus der Kernenergie erhalten bleibt. Um es gleich zu sagen: Der beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist ein Irrweg. der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein! Das finden wir daneben!) Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, legen auf unsere energiepolitischen Ziele Wert: Gleichrangigkeit, Versor- Gerade wer den Klimaschutz – er ist absolut notwen- gungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Sozial- dig – in den Mittelpunkt stellt sowie eine bezahlbare und verträglichkeit. Das alles steht im Einklang mit unserem sichere Energieversorgung haben will, der kommt auf Programm, dessen intensives Studium ich Ihnen sehr Dauer an dem von mir geschilderten Dreiklang in der empfehle. Ich freue mich auf eine muntere energiepoliti- Energiepolitik nicht vorbei. sche Debatte, die wir im Rahmen der Beratungen in den Ausschüssen und dann auch hier, im Plenum, führen (Beifall bei der FDP) werden.

1) Anlage 7 Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Wochenende. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9961

Gudrun Kopp (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der (C) der CDU/CSU) Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ordnung. Ich schließe die Aussprache. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf tages auf Mittwoch, den 26. Mai 2004, 13 Uhr, ein. Das den Drucksachen 15/2760 und 15/2194 an die in der Ta- ist dann nach der Bundespräsidentenwahl. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, Die Sitzung ist geschlossen. wobei die Vorlage auf Drucksache 15/2194 federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit überwiesen (Schluss: 14.32 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9963

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten chen der vielfältigen Probleme von zu geringer Ausbil- dung ansetzen kann.

entschuldigt bis Wir haben dem Gesetz heute im Bundestag dennoch Abgeordnete(r) einschließlich zugestimmt – zum einen, weil im Gesetzgebungsverfah- ren entscheidende Verbesserungen durchgesetzt werden Bülow, Marco SPD 07.05.2004 konnten, etwa bei der Schonung von Kleinbetrieben oder beim Vorrang tariflicher Lösungen. Auch die Verbesse- Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 07.05.2004 rungen bei den Kommunen erkennen wir ausdrücklich an. Entscheidend ist, dass mit dem so genannten Ausbil- Hagemann, Klaus SPD 07.05.2004 dungspakt nun doch noch ein Mechanismus ins Gesetz aufgenommen wurde, der dazu führen kann, dass die Hoffmann (Chemnitz), SPD 07.05.2004 Umlage doch nicht ausgelöst wird. Jelena Mit unserer Zustimmung zum Gesetz verbinden wir Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 07.05.2004 die Hoffnung und die Erwartung, dass alle Beteiligten nunmehr sich konkret an den Abschluss eines verbind- Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 07.05.2004 lichen Ausbildungspaktes machen, der geeignet ist, für DIE GRÜNEN alle Jugendlichen eine Ausbildung anzubieten. In einer sozialen Marktwirtschaft sollten wir dies eigentlich Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 07.05.2004 schaffen können. DIE GRÜNEN

Otto (Frankfurt), Hans- FDP 07.05.2004 Anlage 3 Joachim Erklärung nach § 31 GO Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 07.05.2004 der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Angelika Schindler, Norbert CDU/CSU 07.05.2004 Krüger-Leißner, Petra Bierwirth, Jörg Vogelsänger und Dr. Margit Spielmann (alle (B) (D) Schmidt (Fürth), CDU/CSU 07.05.2004 SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Christian Gesetzes zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenachwuchses und der Berufsbil- Wissmann, Matthias CDU/CSU 07.05.2004 dungschancen der jungen Generation (Berufs- ausbildungssicherungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 21 a) Anlage 2 Die Unterzeichnenden unterstützen das Ziel der Re- gierungskoalition, ab dem Ausbildungsjahr 2004/2005 Erklärung nach § 31 GO allen ausbildungsfähigen und -willigen Jugendlichen der Abgeordneten Kerstin Andreae, Birgitt einen Ausbildungsplatz anzubieten. Sie anerkennen die Bender, Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Anja Bemühungen der Regierungskoalition, diese Aufgabe zu Hajduk, Fritz Kuhn, Undine Kurth (Quedlin- lösen. Sie halten den vorliegenden Gesetzentwurf jedoch burg), Jerzy Montag, Christine Scheel, Rezzo nicht für den richtigen Weg. Er enthält zwar substan- Schlauch, Petra Selg, Rainder Steenblock, zielle Verbesserungen gegenüber dem eingebrachten Marianne Tritz, Hubert Ulrich, Dr. Antje Vogel- Gesetzentwurf vom 30. März 2004; dazu gehört insbe- Sperl, Josef Philip Winkler und Dr. Ludger sondere der Vorrang eines Ausbildungspaktes 2004 ge- Volmer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur genüber der Auslösung der Finanzierung und Förderung Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes nach dem BerASichG. Die Unterzeichnenden halten aber zur Sicherung und Förderung des Fachkräf- aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen tenachwuchses und der Berufsbildungschancen grundsätzlich Ansätze für vorzugswürdig, deren Kern der jungen Generation (Berufsausbildungs- das Element der Freiwilligkeit ohne gesetzlichen Zwang sicherungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 21 a) bildet. Darüber hinaus sehen sie folgende kritischen Ein- zelpunkte in vorliegendem Gesetzentwurf: keine Diffe- Wir haben grundsätzliche Bedenken gegen das „Be- renzierung der notwendigen Ausbildungsquote nach rufsausbildungssicherungsgesetz“. Wir sind nicht über- Branchen und Unternehmensgrößen, kein Datenabgleich zeugt, dass die darin vorgesehene Umlage ein geeignetes mit der Zahl der bei den Kammern neu abgeschlossenen Mittel darstellt, um das gewünschte Ziel der Errichtung Ausbildungsverträge zur Bestimmung der erforderlichen von Ausbildungsplätzen für alle wirklich erreichen zu Anzahl zusätzlicher Ausbildungsplätze, keine Berech- können. So sehen wir die Gefahr, dass der Aufbau einer nung der notwendigen Ausbildungsquote und der erfor- entsprechenden Bürokratie nicht zielgenau an den Ursa- derlichen Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze aus dem 9964 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

(A) Fachkräftebedarf der Wirtschaft, keine Bezifferung des rufsausbildungssicherungsgesetz zustimmen, obwohl der (C) Vollzugsaufwandes. Entwurf unserer Meinung nach ungeeignet ist, den Aus- gleich zwischen Ausbildungsangebot und Ausbildungs- nachfrage langfristig zu gewährleisten. Anlage 4 Die Mehrheit der SPD-Fraktion hat sich für die An- Erklärung nach § 31 GO nahme des oben genannten Gesetzesentwurfs ausgespro- chen. Wir akzeptieren diese Mehrheitsentscheidung, ob- der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Dagmar wohl nach unserer Auffassung gewichtige Gründe gegen Freitag, Gerd Andres, Bernd Scheelen und das Gesetz sprechen. Horst Schild (alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenachwuchses und der Anlage 6 Berufsbildungschancen der jungen Generation (Berufsausbildungssicherungsgesetz) (Tages- Erklärung nach § 31 GO ordnungspunkt 21 a) zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- Die Unterzeichnenden unterstützen das Ziel der Re- zes zur Sicherung und Förderung des Fachkräf- gierungskoalition, ab dem Ausbildungsjahr 2004/2005 tenachwuchses und der Berufsbildungschancen allen ausbildungsfähigen und -willigen Jugendlichen ei- der jungen Generation (Berufsausbildungs- nen Ausbildungsplatz anzubieten. Sie anerkennen die sicherungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 21 a) Bemühungen der Regierungskoalition, diese Aufgabe zu lösen. Sie halten den vorliegenden Gesetzentwurf jedoch Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Aus überge- nicht für den richtigen Weg. Er enthält zwar substan- ordneten politischen Überlegungen stimme ich dem Be- zielle Verbesserungen gegenüber dem eingebrachten rufsausbildungssicherungsgesetz zu, obwohl ich große Gesetzentwurf vom 30. März 2004; dazu gehört insbe- Bedenken bezüglich des Gesetzes habe. sondere der Vorrang eines Ausbildungspaktes 2004 ge- genüber der Auslösung der Finanzierung und Förderung Dr. Elke Leonhard (SPD): Ich rege an, innerhalb nach dem BerASichG. Die Unterzeichnenden halten aber eines Jahres zu gewährleisten, dass die erhobenen Aus- aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen bildungsplatzabgaben aus einer bestimmten Branche, grundsätzlich Ansätze für vorzugswürdig, deren Kern beispielsweise Gastronomie, auch für die Schaffung von das Element der Freiwilligkeit ohne gesetzlichen Zwang Ausbildungsplätzen in derselben Branche verwandt wer- bildet. (B) den. (D) Darüber hinaus sehen sie folgende kritischen Einzel- Maßgeblich sind die Industrie- und Handelskammern punkte in vorliegendem Gesetzentwurf: keine Differen- zur Vermeidung zusätzlicher Bürokratie in effizienter zierung der notwendigen Ausbildungsquote nach Bran- Weise bei der Umsetzung einzubeziehen. Neue Behör- chen und Unternehmensgrößen, kein Datenabgleich mit denstukturen sind insbesondere auf Bundesebene zu ver- der Zahl der bei den Kammern neu abgeschlossenen meiden. Ausbildungsverträge zur Bestimmung der erforderlichen Anzahl zusätzlicher Ausbildungsplätze, keine Berech- Ich rege an, zu gewährleisten, dass die Erhebung nung der notwendigen Ausbildungsquote und der erfor- einer Ausbildungsplatzabgabe, die bisher nach meiner derlichen Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze aus dem Einschätzung im Großen und Ganzen bedarfsgerecht in Fachkräftebedarf der Wirtschaft, keine Bezifferung des den Unternehmen erfolgte, nicht gefährdet wird und ins- Vollzugsaufwandes. besondere sichergestellt wird, dass Ausbildungsträger nicht am Bedarf vorbei ausbilden. Die Unterzeichnenden beugen sich mit der Zustim- mung zu vorliegendem Gesetzentwurf der Mehrheitsent- Darüber hinaus soll sichergestellt werden, dass insbe- scheidung ihrer Fraktion. sondere die Kommunen über die Erhebung einer Ausbil- dungsplatzabgabe nicht weiter in die Schuldenfalle ge- trieben bzw. gezwungen werden, über eine Ausbildung Anlage 5 im öffentlichen Bereich berufliche Qualifikationen zu schaffen, die am Markt bei der angestrebten Verschlan- Erklärung nach § 31 GO kung des öffentlichen Bereichs nicht benötigt werden. der Abgeordneten Iris Hoffmann (Wismar), Ich rege an, innerhalb eines Jahres insbesondere re- Dirk Manzewski, Lothar Mark und Verena gionale Ungerechtigkeiten bei der Erhebung der Ausbil- Wohlleben (alle SPD) zur Abstimmung über dungsplatzabgabe, auf die die Betriebe keinerlei Einfluss den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung und haben, zu beseitigen. Förderung des Fachkräftenachwuchses und der Berufsbildungschancen der jungen Generation (Berufsausbildungssicherungsgesetz) (Tages- Veronika Bellmann (CDU/CSU): Hiermit erkläre ordnungspunkt 21 a) ich meine Ablehnung des vorliegenden Gesetzentwurfs. Er schadet der Wirtschaft in Deutschland. Betriebe, die Da immer weniger Jugendliche eine Chance auf eine keine geeigneten Auszubildenden finden, wegen schwie- betriebliche Ausbildung erhalten, werden wir dem Be- riger Geschäftslage nicht ausbilden können oder in Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9965

(A) reichen tätig sind, in denen kaum Ausbildungsberufe BerASichG ausschließlich „Auszubildende“ und nicht (C) vorhanden sind, werden mit der Ausbildungsplatzabgabe „Studierende“ definiert. Selbst bei weiter Auslegung des unverschuldet zusätzlich belastet. Begriffes „Auszubildende“, welche im Kontext einer bundesrechtlichen Ausbildungsordnung bzw. Ausbil- Unklar bleibt, wie mit der Anrechnung bzw. Belas- dungsregelung geschult werden, sind die Studierenden tung durch die Ausbildungsplatzabgabe im Falle der Be- der Berufsakademien nicht erfasst, da diese Einrichtun- rufsakademien umzugehen ist. Ausbildungsverhältnisse, gen auf Länderrecht basieren. welche Betriebe gemeinsam mit den Berufsakademien abschließen, werden sowohl im vorliegenden Gesetzent- Nach vorliegendem Wortlaut des BerASichG dürfte wurf als in den eingebrachten Änderungsanträgen – Aus- demnach bei Vollzug das Bundesverwaltungsamt die schussdrucksache 15(9)1182 – nicht berücksichtigt. Studenten an den Berufsakademien, wie auch die be- trieblich finanzierten Stipendiaten in dualen Studiengän- Die Berufsakademien, BA, verbinden seit ihrer Ein- gen, bei der Berechnung der betriebsspezifischen Aus- führung im Jahre 1974 eine fachwissenschaftliche Be- bildungsquote nicht einbeziehen. So würde die jeweilige rufsausbildung an einer Studienakademie mit einer prak- Ausbildungsquote künstlich kleingerechnet. Bei circa tischen Ausbildung in einem Betrieb. Sie bestehen heute 30 000 BA-Studenten mit Ausbildungskosten pro Stu- als staatliche Einrichtungen in Baden-Württemberg, dienplatz in Höhe von circa 25 000 Euro würden die be- Berlin, Sachsen und Thüringen, als staatlich anerkannte troffenen Unternehmen – trotz ihres gesellschaftlichen Einrichtungen privater Träger in Hessen, Schleswig- und wirtschaftlich wichtigen Engagements – mehrfach Holstein, Niedersachsen und im Saarland. Mit dem er- belastet. Für das überaus erfolgreiche Modell der Be- folgreichen Abschluss der Diplomprüfung wird ein be- rufsakademien wären nachteilige Konsequenzen vorpro- rufsqualifizierender Abschluss erreicht, zum Beispiel als grammiert. Diplom-Ingenieur, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom- Betriebswirt mit dem Zusatz Berufsakademie. Durch den Bundesrat oder durch das Vermittlungsver- fahren müsste demnach in § 2 Abs. 3 BerASichG die Zugangsvoraussetzung für die Berufsakademien ist je klare Aussage „Studierende der staatlichen Studien- und nach Landesrecht die Allgemeine Hochschulreife oder Berufsakademien sowie betrieblich finanzierte Stipen- Fachgebundene Hochschulreife bzw. Fachhochschul- diaten in dualen Studiengängen aufgenommen werden reife sowie ein Ausbildungsvertrag mit einer geeigneten sowie der § 10 um den Terminus „staatliche Studien- Ausbildungsstätte. Für beruflich qualifizierte Bewerber und Berufsakademien“ ergänzt werden. ohne Hochschulreife besteht je nach Landesrecht die Möglichkeit einer Zulassungsprüfung. Schon jetzt aber sollte zumindest eine diesbezügliche Portokollerklärung für die Sitzung des Bundestagsaus- (B) Die Kultusministerkonferenz hat in ihrem Beschluss (D) vom 28. September 1995 festgestellt, dass die Ab- schusses für Arbeit und Wirtschaft vom 5. Mai 2004 die schlüsse der Berufsakademien nach dem Modell der Be- Auslegung des Gesetzes im vorgenannten Sinne be- rufsakademien in Baden-Württemberg Abschlüsse im schreiben. tertiären Bereich sind, die unter die Richtlinie des Euro- päischen Rates über die Allgemeine Regelung zur Aner- kennung der Hochschuldiplome vom 21. Dezember Anlage 7 1988 – 89/48/EWG – fallen. Das Studium an diesen Be- Zu Protokoll gegebene Reden rufsakademien ist nach § 2 Abs. 1 BAföG-förderungsfä- hig und daher eine förderfähige Erstausbildung im Sinne zur Beratung der Anträge: des BAföG. – Nationales Energieprogramm vorlegen – All diese Fakten belegen die Zugehörigkeit der Be- Planungssicherheit für Wirtschaft und Ver- rufsakademien zum tertiären Bildungsbereich in enger braucher herstellen Verwandtschaft zu Studiengängen an Fachhochschulen und Universitäten. Sie fallen damit nicht unter § 10 – Forschung und Entwicklung für zukunftsfä- Abs. 3 e BerASichG mit der dort enthaltenen Formulie- hige Energietechnologien – 5. Energiefor- rung der „allgemeinbildenden, berufsbildenden, Jugend- schungsprogramm umgehend vorlegen musik-, Kunst- und Sonderschulen“. Dies sind Einrich- (Tagesordnungspunkt 26 a und 26 b) tungen des sekundären Bildungssektors.

Im § 2 Abs. 3 BerASichG heißt es: „Auszubildende Ulrich Kasparick (SPD): Meine Damen und Herren im Sinne dieses Gesetzes sind sozialversicherungspflich- von der FDP, sie fordern in Ihrem Antrag die Bundes- tig Beschäftigte, mit denen der betreffende Arbeitgeber regierung auf, zügig ein nationales Energieforschungs- einen Berufsausbildungsvertrag zur betrieblichen Aus- programm vorzulegen. – Das begrüße ich ausdrücklich. bildung auf der Grundlage einer nach dem Berufs- bildungsgesetz, der Handwerksordnung oder einer Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, sonstigen bundesrechtlichen Rechtsvorschrift erlasse- noch einmal die aktuelle Beschlusslage zum Thema in nen Ausbildungsordnung oder Ausbildungsregelung ab- Erinnerung zu rufen: Bereits im Koalitionsvertrag haben geschlossen hat.“ Dieser Paragraph ist ebenso wie oben sich SPD und Grüne festgelegt, ein Energieforschungs- genannter § 10 Abs. 3 e auslegungsbedürftig im Sinne programm zu erarbeiten, in dem erneuerbare Energien der staatlichen Berufs-/Studienakademien, da das und Energieeinsparung Priorität haben. Zusätzlich 9966 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

(A) wollen wir die institutionelle Struktur der Bioenergiefor- hohen Preisen. So funktioniert der Markt – das sollten (C) schung stärken. doch gerade Sie von der FDP wissen. Wir sehen doch jetzt schon an den Zapfsäulen der Tankstellen, zu wel- Der Deutsche Bundestag hat am 12. September 2002 chen Preissteigerungen knapper werdendes Rohöl führt. im Rahmen des Antrages zur EU-Verfassung beschlos- sen, dass der EURATOM-Vertrag nicht mehr zeitgemäß Die Kernfusion ist eine Technik, die noch weit, weit ist und die Förderung der Atomkraft durch den entfernt von der Anwendung ist und riesige Versuchsein- EURATOM-Vertrag auslaufen soll. Die SPD-Bundes- richtungen erfordert. In Anbetracht der angespannten tagsfraktion – und übrigens auch der Bochumer SPD- Haushaltslage sollte die Fusionsforschung daher konse- Parteitag – haben mit dem Beschluss der „Energiepoliti- quent auf der Ebene der EU stattfinden. Ich schließe schen Agenda 2010“ im vergangenen Herbst die Bun- mich daher der Meinung von Dr. Harald Bradke vom desregierung in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie durch den Karlsruher Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und zügigen Ausbau erneuerbarer Energien bestärkt. Im sel- Innovationsforschung an, der bei der Energieforschungs- ben Beschluss haben wir uns festgelegt, dass wir bei der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Energieforschung die Projektförderung deutlich erhö- Technikfolgenabschätzung am 11. Februar empfahl, dass hen und verstetigen wollen. Auf europäischer Ebene sich eine nationale Energieforschungsstrategie auf die streben wir ein Konversionsprogramm zur Umwidmung deutschen Kernkompetenzen im Energiebereich konzen- nuklearer Mittel zugunsten der Forschung für Effizienz- trieren solle. Dieses sind die marktfähigen und markt- technologien und erneuerbare Energien an. nahen Techniken und Technologien der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Das entspricht nicht Und da sind wir bei einem Punkt, meine Damen und nur unserer Forschungsförderungsstrategie „Die Stärken Herren von der FDP, der uns von Ihnen grundlegend un- stärken“, sondern unterstützt auch die boomende „Er- terscheidet. Bei der Energieforschung setzen Sie nach neuerbare Industrie“ in Deutschland. wie vor auf die Kernenergie. Sie halten den Abschied aus der Kernenergie für den falschen Weg, wie es in Ih- Ich erwarte, dass die Bundesregierung ein Energiefor- rem Antrag heißt. Wir haben aber den Atomausstieg be- schungsprogramm vorlegt, das diese Punkte berücksich- schlossen, weil wir es für unverantwortlich gegenüber tigt. Ich rechne damit, dass uns das Bundesministerium den nachfolgenden Generationen halten, ihnen die Last für Wirtschaft und Arbeit noch vor der Sommerpause ei- des ungelösten Endlagerproblems der strahlenden Ab- nen ersten Entwurf dieses Programms vorlegt. fälle dieser gefährlichen Technik aufzubürden. Nebenbei bemerkt, außer von Ihnen höre ich in diesem Land keine ernst zu nehmenden Stimmen, die den Wiedereinstieg in Wilfried Schreck (SPD): Es wird Sie vielleicht über- raschen, wenn ich die FDP zu Beginn meiner Ausfüh- (B) die Atomkraft wollen. (D) rungen lobe. Ich möchte Sie loben, weil im FDP-Antrag Sie fordern, die Option Kernenergie für die künftige auch eine Reihe vernünftiger Punkte stehen und weil ich Energieversorgung aufrechtzuerhalten, ja darüber hinaus es für wichtig halte, dass wir in langfristig und strate- die Mittel für die Kernfusionsforschung sogar noch zu gisch wirtschaftspolitisch wichtigen Fragen nicht immer erhöhen. Meine Damen und Herren, die Kernfusionsfor- nur das Trennende betonen, sondern auch nach Gemein- schung hat seit den 1950er-Jahren Milliarden über Milli- samkeiten suchen. Die Forderung nach einem Ener- arden öffentliche Gelder – Steuergelder – verschluckt, gieprogramm gehört grundsätzlich zu den Gemeinsam- ohne zu nennenswerten Ergebnissen zu kommen. Wir keiten. wissen auch heute noch nicht, nach fast 50 Jahren, ob ein künftiges Fusions-Großkraftwerk überhaupt funktionie- Das einzige Energieprogramm, das diesen Namen ren kann. Der weltweit führende Fusionsforscher, Profes- auch verdient, stammt aus dem Jahre 1973, aus der Re- sor Bradshaw vom Max-Planck-Institut für Plasmaphy- gierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt, im sik in Garching, hat selbst in der Bundestagsanhörung Zeichen der Ölkrise. Die letzten Versuche, ein solches zur Kernfusion gesagt, dass wir erst Mitte des Jahrhun- Programm zu erarbeiten, datieren zurück bis ins Jahr derts überhaupt wissen werden, ob Kernfusionskraft- 1991 und bieten kaum noch taugliche Antworten auf die werke eine Alternative für die Stromversorgung sein ökonomischen, aber auch die ökologischen Fragen unse- können. rer Zeit. Natürlich arbeitet die Bundesregierung daher auch an einer neuen konzeptionellen Fundierung, die Diese Zeit haben wir aber nicht. Dieses Ergebnis wird dem wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen zu spät kommen. Wir müssen die Energie- und die Kli- Wandel Rechnung trägt. maprobleme vorher in den Griff bekommen. Noch im- mer beruht der Großteil der Energieversorgung auf den Meine Fraktion hat im Oktober des letzten Jahres ihre endlichen Rohstoffen. Nach Berechnungen der Bundes- energiepolitische Agenda 2010 vorgelegt. Wir verstehen anstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe liegt die dies als einen Beitrag für eine energiepolitische Diskus- statistische Reichweite für konventionelles Erdöl nur sion auch über Parteigrenzen hinweg; denn wir wollen noch bei etwa 40 Jahren. Das Uran wird schon einige eine Energiepolitik, die sich an den vier zentralen Zielen Jahre früher zur Neige gehen. Wir müssen schneller Lö- – Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit sungen der Substitution finden. Statistische Reichweite und Innovationsfähigkeit – orientiert. Eine qualitativ bedeutet, dass die Rohstoffe zwar über diese Daten hin- hochwertige und umweltverträgliche Energieversor- weg noch verfügbar sein werden, aber eben nur noch in gung ist ein Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres sehr geringen Mengen. Und das bedeutet: nur zu sehr Landes, auch für die künftige wirtschaftliche und tech- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9967

(A) nologische Leistungskraft auf den internationalen Märk- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): (C) ten. Erstens. Die deutsche Energieforschung war in der Ver- gangenheit ein tragender Grundpfeiler für eine zukunfts- Nur indem wir die technologische Leistungsfähigkeit gerichtete und zukunftsverträgliche Energiepolitik in aktivieren und die Versorgungsstrukturen modernisieren Deutschland. Sie hat wichtige Beiträge zum Aufbau, Be- werden wir den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts trieb und der Fortentwicklung eines sicheren und kosten- gewachsen sein. Mit effizienten Kraftwerken, modernen günstigen Systems der Energieversorgung geleistet. Das Technologien mit hoher Energieproduktivität und der betrifft insbesondere die Entwicklung und Anwendung Nutzung der erneuerbaren Energien können wir eine der Kerntechnik, die heute ihre Fortsetzung in internatio- Pionierrolle einnehmen und wichtige Zukunftsmärkte nalen Projekten der Kernfusion (ITER) und der Trans- für Produkte und Dienstleistungen erschließen. mutation findet. Hervorzuheben sind darüber hinaus for- schungsgetriebene Fortschritte im Maschinen- und Gerade als Abgeordneter eines Braunkohlelandes Anlagenbau und in der Materialforschung, die heute eine sage ich: Vor allem in der Verbesserung der Energieeffi- weltweit hervorragende Energieeffizienz deutscher An- zienz über die gesamte Wertschöpfungskette liegt in lagen und deren erfolgreiche Vermarktung auf den Welt- meinen Augen der Schlüssel zu einer vernünftigen Ener- märkten erst möglich gemacht haben. gieversorgung. Ohne Effizienz bleiben auch die erneuer- baren Energien nur Beiwerk. Zweitens. Wir müssen an diese Erfolge vergangener Energieforschung anknüpfen. Wir müssen unsere Spit- Deshalb – ich sage das auch mit Blick auf den zwei- zenplätze im Rahmen der Grundlagenforschung insbe- ten Antrag der FDP zur Energieforschung – wünsche ich sondere bei den heute bekannten Schlüsseltechnologien, mir und ich wünsche uns allen, dass es uns gelingt, in das heißt der Kerntechnik und einigen erneuerbaren Deutschland das erste CO2-freie fossile Kraftwerk zur Energien, erhalten oder wiedererlangen. Marktreife zu führen. Drittens. Damit nicht vereinbar ist der partielle Aus- Das wäre dann nicht nur eine technologische Großtat, schluss einzelner Technologien – wie der Kernenergie – das wäre ein geradezu lebenswichtiger Beitrag für die aus der Forschungsförderung. Eine Reduktion der For- Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, für globalen schung auf Sicherheitsforschung an bestehenden Kraft- kosteneffizienten Klimaschutz. Allerdings müssen wir werkskonzepten kann Nachwuchsforscher nicht für die- sen Forschungsbereich interessieren und ist nicht mit auch ein Stück Realismus in die Diskussion einbringen. dem Anspruch der Spitzenforschung in Deutschland ver- Die im Antragstitel geforderte „Planungssicherheit“ ist träglich. ganz sicherlich ein wichtiges Ziel. Es wäre jedoch eine (B) völlige Überforderung des Gesetzgebers und der Politik Viertens. Seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhun- (D) insgesamt, allein von einem Energieprogramm Pla- derts sind in Deutschland die Ausgaben für Energiefor- nungssicherheit zu erwarten. Das mag zu früheren Zei- schung stark rückläufig: Der Staat hat sein Engagement ten, in gesetzlich geschützten Gebietsmonopolen der al- auf etwa ein Drittel des damaligen Niveaus abgesenkt. In ten Bundesrepublik anders und leichter gewesen sein. den Unternehmen liegen die Mittel für Energieforschung Von den staatsplanwirtschaftlichen Irrungen der DDR heute mit 140 Millionen Euro bei weniger als einem will ich an dieser Stelle lieber schweigen. Drittel der Ausgaben von 1991. Im Vergleich der OECD-Staaten rangiert Deutschland hinsichtlich der Aber es kann ja doch kein Zweifel daran bestehen, Ausgaben für Energieforschung nur im unteren Mittel- dass wir heute durch Europäisierung und Internationali- feld. Angesichts dieser im internationalen Vergleich ge- sierung, durch Globalisierung insbesondere der Finanz- ringen Aufwendungen hat der Wissenschaftsrat bereits märkte sowie durch die neuen Erkenntnisse im Umwelt- Ende der 90er-Jahre einen Anstieg der Energiefor- und Klimaschutz vor viel anspruchsvolleren Aufgaben schungsaufwendungen gefordert. Nichtsdestotrotz wur- stehen, zugleich aber unübersichtlichere Gemengelagen den die öffentlichen Mittel für Energieforschung in den aus normativen gesetzlichen Vorgaben, politischen Wün- vergangenen Jahren weiter gekürzt und liegen heute bei schen und Machtgefügen auf den Märkten haben. nur noch 395,1 Millionen Euro. Gemessen am Anteil des Bruttoinlandsprodukts sind die Ausgaben für Ener- Vor übertriebenen Erwartungen sollte man sich hüten. gieforschung in den USA, Frankreich oder Japan doppelt Auch ein Energieprogramm ist keine Vollkaskoversiche- bis fünfmal so hoch wie in Deutschland. rung für eine gedeihliche Energieversorgung oder lang- fristig rentierliche Investitionen. Es kann und wird um Fünftens. Stattdessen sind die Förderungen für den „Leitplanken“ für Wettbewerb, für Forschung und Ent- ansonsten unrentablen Betrieb von Anlagen zur Nutzung wicklung, für Investitionen, Innovationen und Beschäfti- erneuerbarer Energien aus dem Bundeshaushalt, nach gung in und für Deutschland gehen sowie um das Zusam- dem EEG und aus anderen öffentlichen Quellen auf mitt- menbinden von Ressourcenschonung, Klimaschutz und lerweile mehr als 5 000 Millionen Euro im Jahr 2003 an- Wirtschaftswachstum. Dafür ist ein Energieprogramm si- gestiegen und liegen damit mehr als zehnmal höher als die Zukunftsinvestitionen in die Energieforschung – mit cherlich hilfreich, wenn wir in diesem Programm, vor steigender Tendenz. allem aber im gesetzgeberischen, im politischen, und im unternehmerischen Handeln die notwendige Flexibi- Sechstens. Alle technologischen Optionen in den lität zeigen. Hier stehen wir alle – auch Sie in der Bereichen Energieerzeugung, Energiespeicherung und Opposition – gemeinsam in der Verantwortung. -transport sowie Energieverbrauch sind offen zu halten, 9968 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

(A) da heute die relativen Vor- und Nachteile der Technolo- tung für diesen Bereich wird dem Stellenwert für den (C) gien in der Zukunft weder der Politik noch der Wirt- Wirtschaftsstandort nicht gerecht. Das Gerangel zwi- schaft bekannt sein können. Dazu gehören auch Techno- schen den Ministern Clement und Trittin bei der Ausge- logien, mit denen sich vermutete Risiken verringern staltung des Emissionshandels hat der Planungs- und In- lassen, zum Beispiel Sequestrierung – schon allein um vestitionssicherheit in unserem Land nur geschadet. im internationalen Forschungswettlauf mithalten zu kön- Jeder Energieträger hat seine spezifischen Stärken und nen. Die zentrale Aufgabe der Energieforschung besteht Potenziale, aber auch seine Schwächen. Nur ein breiter darin, die Realisierung des Wachstumsziels unserer Energiemix aus allen verfügbaren Energieträgern kann Volkswirtschaft langfristig zu unterstützen. Entspre- eine optimale Energieversorgung leisten. Das, was uns chend der infrastrukturellen Bedeutung des Faktors diese Bundesregierung seit 1998 präsentiert, ist aber Energie für sämtliche konsumtiven und produktiven Pro- kein Energiemix, sondern allenfalls ein Energiemurks. zesse soll sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Sie betreiben zwar Energiepolitik als Standortpolitik – dass in unserem Lande wieder ein dauerhafter Wachs- aber für andere Länder, nicht für Deutschland. Denn tumskurs eingeschlagen und darüber hinaus auch eine Standortpolitik für Deutschland heißt auch, politische Lösung der Probleme der Unterbeschäftigung sowie der Rahmenbedingungen für niedrige Energiepreise zu Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme erzielt schaffen. wird. Nach der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte im Jahre 1998 sind die deutschen Strompreise zunächst Georg Girisch (CDU/CSU): Unsere Gesellschaft um fast ein Drittel gesunken und lagen damit im europäi- braucht Energie genauso wie wir Menschen die Luft schen Mittelfeld. Industrielle und gewerbliche Kunden zum Atmen brauchen. Energie ist somit zum Lebensnerv wurden so um 5,6 Milliarden Euro entlastet. Heute liegen unserer Volkswirtschaft geworden. die Strompreise für größere Abnahmen von 24 bis Weil dies eine unbestrittene Tatsache ist, hat sich der 70 Millionen Kilowattstunden höher als vor dem Regie- Deutsche Bundestag im vergangenen Herbst schon ein- rungswechsel im Jahre 1998. Die Industriestrompreise in mal mit dem Thema Energiepolitik befasst. Damals war Deutschland zählen nämlich inzwischen wieder zu den Gegenstand der Debatte unser Antrag „Energiepolitik ist höchsten in Europa. Und dafür trägt kein anderer die Standortpolitik“. Das war vor sieben Monaten. Ich muss Verantwortung als die rot-grüne Bundesregierung. Poli- leider feststellen: Die Bundesregierung war bis zum heu- tische Sonderlasten wie das Erneuerbare-Energien- tigen Tage nicht in der Lage, ein auf die Zukunft ausge- Gesetz – EEG –, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, richtetes Energiekonzept vorzulegen. Deshalb begrüße Stromsteuer und Konzessionsabgaben haben unsere ich die Anträge der FDP-Fraktion mit der Forderung an Strompreise in astronomische Höhen steigen lassen. Die (B) die Bundesregierung, dieses Versäumnis endlich nachzu- staatlichen Belastungen aller deutschen Stromkunden (D) holen. sind von 2,2 Milliarden Euro 1998 um das Fünffache auf 12,6 Milliarden Euro im vergangenen Jahr angestiegen. Der Standort Deutschland braucht eine sichere, preis- günstige, wirtschaftliche und umweltverträgliche Ener- Aber das ist nicht das einzige Problem, vor dem die gieversorgung. Sie ist die Grundvoraussetzung für die Bundesregierung steht. Gerade in der jüngsten Vergan- Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Schaffung genheit ist aufgrund der großflächigen Zusammenbrüche neuer Arbeitsplätze am Standort Deutschland. Die Bun- der Stromnetze in den USA, England und Italien das desregierung betont oft, mit dem Atomausstieg und der Thema „Sicherstellung der Stromversorgung“ wieder in ausgeweiteten Förderung der erneuerbaren Energien den Fokus gerückt. Bis zu 50 Prozent der heutigen eine Energiewende eingeleitet zu haben. Den Atomaus- Stromerzeugungskapazität in Deutschland sind in den stieg zu beschließen ist das eine, aber ein Konzept für kommenden 20 bis 30 Jahren zu ersetzen. Bis 2020 sind den Einstieg in etwas Neues vorzulegen das andere. Und das rund 40 000 Megawatt aufgrund der Altersstruktur hier ist diese Bundesregierung bislang gescheitert. Ihre der fossilen Kraftwerke. Hinzu kommt ein Leistungs- Energiewende besteht lediglich darin, sich von dem wegfall von 22 000 Megawatt durch den von der Bun- energiepolitischen Zieldreieck abzuwenden. Das ökolo- desregierung beschlossenen Atomausstieg. Dieser Er- gisch Notwendige muss auch ökonomisch effizient und satzbedarf kann nicht allein durch Stromeinsparung, den sozial verträglich erreicht werden. Dass die Bundesre- Import von Strom und die erneuerbaren Energien aufge- gierung diesen Grundsatz über Bord geworfen hat, ist fangen werden. Erneuerbare Energien sind in diesem standortfeindlich und vernichtet Arbeitsplätze. Kontext nicht alternative, sondern additive Energieträ- Die Bundesregierung verheddert sich zwischen ger. Marktliberalisierung und Interventionismus. Sie miss- Der Atomausstieg führt Deutschland darüber hinaus braucht Energie als fiskalischen Packesel und missachtet in eine dramatische Abhängigkeit von Importen fossiler dabei das Gebot einer sicheren Energieversorgung. Sie Energieträger wie Erdöl und Erdgas. Und jeder weiß, sehen die Energieversorgung weniger in ihrer Funktion für Wirtschaft, Produktion und Arbeitsplätze, sondern dass diese nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Auch mehr als ökologischen Störfaktor. wenn man keine genauen Zeiträume für die Reserven an- geben kann, reichen die Erdölreserven bei gleich blei- Unser Land braucht eine Energie- und Klimapolitik bendem Energiebedarf und gleich bleibender Nutzung aus einem Guss. Die zwischen dem Bundeswirtschafts- nur noch wenige Jahrzehnte. Besorgniserregend in die- und dem Bundesumweltministerium geteilte Verantwor- sem Zusammenhang sind die Berechnungen der Interna- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9969

(A) tionalen Energieagentur. Danach nimmt der weltweite nicht nur die großen Atomkatastrophen von Majak, Har- (C) Energiebedarf bis 2030 um 65 Prozent zu. risburg und Tschernobyl, sondern auch viele atomar ver- strahlte Regionen. Dabei gilt das Umweltrisiko nicht nur Ein standortverträgliches Energiekonzept, das uns die für den Betrieb von Reaktoren, sondern für den gesam- Bundesregierung bislang schuldig geblieben ist, muss auf ten Brennstoffzyklus. Schon die Uranerzgewinnung ver- folgende fünf Fragen Antworten finden: Erstens. Wie soll seucht ganze Landstriche. Der Transport und die Lage- die durch den Kernenergieausstieg entstandene Lücke im rung radioaktiver Materialien bergen unvertretbare Grundlastbereich geschlossen werden? Zweitens. Wie Risiken. Vor allem aber gibt es kein sicheres Konzept für soll der Ersatzbedarf der altersbedingt vom Netz gehen- die Entsorgung von Atommüll. Die Hinterlassenschaften den fossilen Kraftwerke gedeckt werden? Drittens. Wie der Atomkraft bilden über Jahrtausende eine strahlende soll eine wirtschaftlich praktikable Alternative aussehen, Erblast für die zukünftigen Generationen. Weltweit exis- die gleichzeitig die klimapolitischen Ziele erreicht? Vier- tiert für die stetig wachsenden radioaktiven Rückstände tens Wie soll es mit den Regelungen der Ökosteuer, des ausgebrannter Elemente bislang nicht einmal ein Endla- KWK-Gesetzes, des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und ger. Die weltweit gewachsene Terrorgefahr bestärkt uns der Einführung des Emissionshandels gelingen, die pro- in unserem Abschied von dieser Technologie. Nicht nur, duzierende Industrie in Deutschland zu halten, wenn die dass Atomkraftwerke zu bevorzugten Zielen des interna- Energiepreise im internationalen Vergleich nicht mehr tionalen Terrors werden können, auch der Handel mit wettbewerbsfähig sind? Fünftens. Wie geht es mit der Li- waffenfähigem Plutonium oder mit anderem strahlenden beralisierung der Strom-und Gasmärkte weiter? Material für so genannte dirty bombs stellt eine potenzi- Entscheidend für eine gesicherte Energieversorgung elle Gefahr dar. Auch das Argument des angeblich so sind mehr Offenheit und Fortschritt in der Energiepoli- billigen Atomstroms gehört in das Reich der Sagen. So- gar unabhängig von den externen Kosten können schon tik: Fortschritt in der Entwicklung neuer Technologien, heute effiziente konventionelle Kraftwerke auf der Basis in der Erschließung neuer Energiequellen, in der techni- von Erdgas wesentlich günstiger Strom erzeugen als schen und wirtschaftlichen Effizienz. Darin liegt nicht Atomkraftwerke. Wenn die Reaktoren gegen alle Schä- nur der Schlüssel zur Sicherung einer leistungsfähigen den adäquat versichert werden müssten, wäre die Preis- und umweltgerechten Energiebasis im eigenen Land. differenz noch wesentlich größer. Darin besteht vielmehr auch der entscheidende Beitrag, den wir als hoch entwickeltes Industrieland zur Lösung Rot-Grün hat den Umbau der Energieversorgung in der globalen, ökonomischen und ökologischen Energie- Richtung einer nachhaltigen Entwicklung in den letzten problematik leisten können und müssen. Jahren eingeleitet und wird daran auch in Zukunft fest- halten. Das Konzept der Nachhaltigkeit bietet den über- Ein erster Schritt ist getan: Bayern hat vor zwei Tagen (B) geordneten Rahmen und damit das grobe Fundament der (D) sein Gesamtkonzept zur Energiepolitik vorsgestellt. Ich rot-grünen Energiewende. Auch wenn es in Detailfragen kann der Bundesregierung die Lektüre dieses mehr als auch mal zu unterschiedlichen Auffassungen zwischen 100 Seiten umfassenden Papiers nur empfehlen. Es lohnt den Koalitionspartnern kommen kann, so gibt es diesen sich. roten Faden. Die Herausforderung besteht also darin, eine Energieversorgung aufzubauen, die sowohl umwelt- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verträglich ist, als auch die endlichen Ressourcen schont, Das wir diesen Antrag hier diskutieren müssen, zeigt damit zukünftigen Generationen Lebensperspektiven er- deutlich: die FDP ist energiepolitisch nicht nur auf einem halten bleiben. Gleichzeitig müssen diese Ziele mit den Auge blind! Es wäre ja noch verzeihlich, wenn Sie von Ansprüchen von Versorgungssicherheit und Wirtschaft- uns ein Energieprogramm verlangen würden, ohne ein ei- lichkeit übereingebracht werden. Wenn diese Herausfor- genes liefern zu können. Das kennen wir von Ihnen aus derungen richtig angepackt werden, eröffnen sich mei- anderen Politikfeldern! Ich hätte Ihnen jedoch zugetraut, nes Erachtens sehr große Chancen für Innovationen und zu erkennen, dass wir uns mitten in der Umsetzung eines damit Weltmarktvorteile im Bereich innovativer Ener- Energieprogramms befinden. Wir haben innerhalb der gietechnologien. Für diesen Weg haben wir sichere Rah- vergangenen sechs Jahre wichtige Grundzüge einer ge- menbedingungen geschaffen. Das betrifft den Ausbau meinsamen rot-grünen Energiepolitik verwirklicht. Seit der erneuerbaren Energien – hier haben wir gerade die 1998 findet hier in Deutschland ein Umbau hin zu einer Novelle des EEG im Bundestag beschlossen, das Markt- modernen, sicheren und umweltverträglichen Energie- anreizprogramm verbessert und die Biotreibstoffe steu- versorgung statt. Wenn Sie das nicht sehen, sind Sie erlich begünstigt. Das betrifft aber auch die vielen Ein- blind. zelmaßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz, ob über das KWK-Modernisierungsgesetz, den Emissions- Der Atomausstieg, der Ausbau der erneuerbaren handel, die ökologische Steuerreform oder die verschie- Energien sowie die Ausgestaltung eines fairen Wettbe- denen Programme für Gebäudesanierung, um nur einige werbs auf dem Energiemarkt sind drei wichtige Themen- zu nennen. Übrigens alles Maßnahmen, die von der Op- felder, die gleich ins Auge springen. Beim Atomausstieg position weitgehend abgelehnt wurden. mögen Sie anderer Meinung sein, die zentralen Fragen über die Gefahren dieser Energieform können Sie aber Viele Maßnahmen und Projekte stehen allerdings bis heute nicht ausreichend beantworten. Das Risiko die- auch noch aus bzw. sind gerade in Bearbeitung – ich will ser Energieform ist aber einfach zu hoch, als dass man es hier einige Schlaglichter nennen: – Wir brauchen neue ignorieren könnte. Sie verzeiht keine Fehler, weder Klimaschutzziele: Der Klimaschutz gibt einen unaus- menschliches noch technisches Versagen. Dies zeigen weichlichen Rahmen für die Energiepolitik vor. Die 9970 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004

(A) Treibhausgasemissionen sind bis zum Jahre 2020 um wesentlichen Leitplanken. All diese Maßnahmen orien- (C) 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Bis 2050 tieren sich an dem Ziel, auf die wesentlichen Herausfor- müssen die Emissionen sogar um 80 Prozent gesenkt derungen unserer Zeit rechtzeitig Antworten zu geben werden. Diese Ziele müssen dringend verbindlich fest- und damit die nationale Energieversorgung zukunftssi- geschrieben werden, damit die Wirtschaftsakteure sich cher zu machen. Ich glaube, dass sich niemand diesen frühzeitig darauf einstellen können. – Die Energieein- Zielen langfristig entziehen kann und bitte Sie diesen sparung ist ein immer noch vernachlässigtes Potenzial Weg zu unterstützen. der Energiepolitik, auch wenn unter Rot-Grün hier neue Maßstäbe gesetzt wurden. Nur wenn es gelingt eine neue Qualität in der Stromeinsparung zu erreichen, sind Kli- Anlage 8 maschutz und Versorgungssicherheit dauerhaft zu ver- einbaren. Hier warten wir unter anderem hoffnungsvoll Amtliche Mitteilungen auf neue, ambitionierte Vorgaben aus der EU, die derzeit Die Fraktion der CDU/CSU hat mit Schreiben vom in der Beratung sind. Nationale Alleingänge über zum 6. Mai 2004 mitgeteilt, das sie folgende Anträge zurück- Beispiel Energiestandards sind solange die EU-Verfah- zieht: ren laufen, leider nicht möglich. – Der Ausbau der er- neuerbaren Energien muss verstärkt und diversifiziert – Zentrale Gedenkveranstaltung des Volksbundes werden. Auch im Bereich Wärmeerzeugung und Bio- Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. zum Volks- treibstoffe brauchen wir Instrumente, die ähnlich erfolg- trauertag jährlich im Plenarsaal des Deutschen reich wie das EEG im Strombereich sind. Durch gezielte Bundestages begehen auf Drucksache 15/2749 Maßnahmen zur Markteinführung können uns zum Bei- – Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturge- spiel die Bioenergien Schritt für Schritt vom Öl und da- schichte in Deutschland – Gesamtkonzept für ein mit von Krisenregionen wie dem Nahen Osten unabhän- würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deut- gig machen. Alle Maßnahmen für den Ausbau der schen Diktaturen auf Drucksache 15/1874 erneuerbaren Energien müssen dann durch eine wirk- same Exportstrategie für die Technologien flankiert wer- – Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in den. Die von uns eingeführte Exportinitiative Erneuer- Moldau unterstützen auf Drucksache 15/1987 bare Energien gilt es hierfür weiter zu stärken. – Nur wer Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben heute in die Forschung investiert, kann sich morgen auf mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 dem Markt etablieren. Gerade für Deutschland als Ex- der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den portnation ist dies ein offenes Geheimnis. Deshalb ist nachstehenden Vorlagen absieht: eine Aufstockung und Konzentration der Energiefor- (B) schungsgelder auf Energieeinsparung und erneuerbare (D) Energien nötig. Wir wollen hier in den nächsten Mona- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ten noch deutlichere Akzente setzen. – Weltweit brau- – Unterrichtung durch die Bundesregierung chen wir eine Wende zu mehr Energieeffizienz und er- Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2003 neuerbaren Energien. Die internationale Konferenz für Erneuerbare Energien 2004 in Bonn soll Impulse für den – Drucksache 15/2323 – stockenden Klimaschutzprozess geben. Mit einer Inter- – Unterrichtung durch die Bundesregierung nationalen Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) Straßenbaubericht 2003 soll die Verbreitung erneuerbarer Energien unterstützt – Drucksache 15/2456 – werden. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Zu guter Letzt möchte ich noch ein energiepolitisches mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Thema ansprechen, dass wir aktuell vor uns haben: die Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Ausgestaltung des Wettbewerbs auf dem Strom- und Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Gasmarkt. Hier vollziehen wir gerade einen System- tung abgesehen hat. wechsel. Durch die Einrichtung einer Wettbewerbsbe- hörde soll die Wettbewerbsintensität auf den Energie- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und märkten verstärkt werden und ein ausgewogener und Landwirtschaft fairer Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt eta- Drucksache 15/2793 Nr. 2.32 bliert werden. Sowohl auf Produktionsseite als auch bei Drucksache 15/2793 Nr. 2.34 der Instandhaltung der Netzinfrastruktur muss ein hohes Drucksache 15/2793 Nr. 2.35 Maß an Versorgungssicherheit und gleichzeitig Akteurs- Drucksache 15/2793 Nr. 2.36 vielfalt für Innovationen garantiert werden. Wir haben jedoch in gleichem Maße die Rechte der Verbraucher im Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Auge. Durch eine Intensivierung des Wettbewerbs kön- Drucksache 15/2636 Nr. 2.3 nen die Preise für Industrie und Verbraucher deutlich ge- Drucksache 15/2636 Nr. 2.7 senkt werden, das Mitspracherecht und die Information der Verbaucher muss verstärkt werden. Natürlich wird Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dieses Gesetz nicht im Widerspruch zu den anderen Drucksache 15/2793 Nr. 2.2 energiepolitischen Kernpunkten stehen. Auch in der Drucksache 15/2793 Nr. 2.3 Energiewirtschaft gehört die Nachhaltigkeit zu einer der Drucksache 15/2793 Nr. 2.4 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Mai 2004 9971

(A) Drucksache 15/2793 Nr. 2.26 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen (C) Drucksache 15/2793 Nr. 2.28 Union Drucksache 15/2447 Nr. 1.11 Drucksache 15/2447 Nr. 2.8 Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 15/2519 Nr. 2.1 Technikfolgenabschätzung Drucksache 15/2636 Nr. 2.6 Drucksache 15/2793 Nr. 2.38 Drucksache 15/2793 Nr. 2.12

(B) (D)

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