Philipp Rösler · (Hrsg.)

Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt Philipp Rösler Christian Lindner (Hrsg.)

Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt

Liberale Beiträge zu einer Wertediskussion Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16387-1 Inhalt

Philipp Rösler und Christian Lindner Vorwort 9

1. Teil: Liberale Grundsätze Christian Lindner Freiheit und Fairness 17 Philipp Rösler Freiheit und Solidarität 29 Freiheit und Nachhaltigkeit 34 Stefan Kapferer Freiheit und Teilhabe 43 Freiheit und Menschenrechte 54

2. Teil: Liberale Politik Johannes Vogel Freiheit als Kern liberaler Außenpolitik 69 Christoph Hartmann Welchen Einfluss nimmt eigentlich… 75 Die Bedeutung des Bürgersektors für das liberale Projekt 84 Gisela Piltz Datenschutz – Liberale Antworten auf die Herausforderung des 21. Jahrhunderts 91 Silvana Koch-Mehrin Mein Europäischer Traum 99

5 Miriam Gruß Ein liberales Familienbild für Morgen 106 Finanzpolitik als Schlüssel zu mehr sozialer Gerechtigkeit 116 Philipp Rösler Welchen Wert hat heute noch die Soziale Marktwirtschaft? 127 Eine Reform mit Langzeitwirkung. Plädoyer für das Prinzip Eigenverantwortung im Gesundheitswesen 136 Globalisierung 148 Patrick Döring Freiheit und Heimat – Heimat geben, bewahren, gestalten 157 Marco Buschmann Innere Sicherheit 169 Innovation gestaltet Zukunft 176 Angela Freimuth Kultur und Kunst 185 Patrick Kurth Mentalitäten und Einstellungen der Jugend in den Neuen Bundesländern 191 Öffentliche Haushalte 204 Alexander Alvaro Sicherheit in der Informationsgesellschaft 214 Florian Rentsch Der Sozialstaat 228

6 Jan Mücke Technologie, Talent und Toleranz. Liberale Werte ziehen kreative Köpfe an 237 Frank Schäffler Anmerkungen zur Steuergerechtigkeit in Deutschland 247 Horst Meierhofer Liberale Umweltpolitik – am Gemeinwohl orientiert, nicht an Partikularinteressen 255 Jörg Bode Demokratie sichert die Grundrechte 264 Achim Doerfer Die politische Ansprache von „Migranten“ – Integration durch politische Teilhabe 276

3. Teil: Liberale ohne Parteibrille Richard Herzinger Die Erste Welt ist nicht genug: Für eine offensivere liberale Außenpolitik 283 Patrick Adenauer Die Werte der Familienunternehmer 293 Volker Stein Humankapital: Drei wohlverstandene Freiheiten 300 Ulf Poschardt Freiheit und Kultur 309 Olaf Kühne Wissenschaft und Politik – Überlegungen zu einem Verhältnis gegenseitiger Verantwortung 322 Roland Kirstein Freiheit und Sicherheit 332 Claus Dierksmeier Freiheit und Globalisierung 342

7 Autorenverzeichnis 352

8 Philipp Rösler und Christian Lindner

Vorwort

Wir treffen sie oft. In Berlin und Köln, in Chemnitz und Hannover, in Frankfurt und Bremerhaven. Sie sind Handwerksmeister, die gerade mit einem eigenen Betrieb den Schritt in die Selbständigkeit wagen. Die junge allein erziehende Mutter, die neben der Erziehung ihrer Kinder mit großen Mühen eine Berufsaus- bildung abschließen will, gehört dazu. Der Künstler Ende 60, der sich seine Kreativität täglich neu erarbeitet, ist einer von ihnen. Sie sind Lehrer, die ihre Berufung darin gefunden haben, jeden Morgen Kindern und Jugendlichen das Wichtigste unserer Gesellschaft zu vermitteln: Wissen und Werte. Der Arbeiter ohne Arbeit, der trotzdem unverdrossen Bewerbungen schreibt und Neues lernt, zählt zu ihnen. Als Consultants pendeln sie zwischen London, Peking und Mün- chen – engagieren sich aber in den Sommerferien als Gruppenleiter in der kirch- lichen Jugendarbeit. Sie sind Menschen mit Behinderung, die trotz eines Handi- caps auch mit ihren Stärken gesehen und ernst genommen werden wollen. Trotz aller Unterschiede ist diesen Persönlichkeiten eines gemeinsam: Sie pflegen einen individuellen Lebensstil, übernehmen Verantwortung für sich und andere und haben Freude an der eigenen Leistung. Mit anderen Worten: Sie teilen ge- fühlte und gelebte Freiheit. Wir sprechen bei vielen Gelegenheiten mit diesen Menschen. Dienstlich als Parlamentarier und privat im Freundes- und Bekanntenkreis. Wir stellen dann gemeinsame Werte und Lebensperspektiven fest, ärgern uns über die gleichen politischen Versäumnisse und stimmen schnell darin überein, was jetzt von der Regierung getan werden sollte. Und doch werden wir zu oft Zeugen ungläubigen Staunens: „Dafür steht die FDP? Das war mir nie klar.“ Wer sich für die Freien Demokraten engagiert, der kennt diese Reaktion nur zu gut. Viele unserer Ge- sprächspartner hatten ein Bild des Freiheitsbegriffs der FDP, das nicht viel mehr als eine böse Karikatur war. Fraglos, wenn es danach an das Eingemachte geht, dann dauert es, bis wir Liberale unsere eigene politischen Überzeugungen erklärt und Vorurteile abgebaut haben. Im Gespräch müssen regelmäßig viele Einzel- fallbeispiele und Missbrauchsmöglichkeiten der Freiheit durchgespielt werden. Denn auch mancher derjenigen, die selbst Freiheit fühlen und leben, misstraut

9 dem persönlichen Leitwert, wenn mit ihm auch das soziale Leben gestaltet wer- den soll. Wenn der Wert der Freiheit aber in seiner faszinierenden Vielfalt ge- dacht und geprüft wird, dann findet er rasch neue Freunde. Solche Gespräche haben uns eines gelehrt: Der FDP fehlen nicht kluge Konzepte in den verschiedenen Politikfeldern. Daran herrscht kein Mangel. Wir glauben aber nicht daran, dass eine Partei nur wegen sinnvoller Maßnahmevor- schläge gewählt wird. Sie erhält vielmehr Zustimmung, wenn sie mit einer posi- tiven politischen Erzählung verbunden wird, die das Lebensgefühl der Menschen trifft und ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht. Eine solche Tonalität wollen wir für unsere Partei, um den politisch-konzeptionellen Führungsans- pruch der FDP mit Empathie zu untermauern! Deshalb haben wir vor einiger Zeit vorgeschlagen, über ein neues Grundsatzprogramm für die Freien Demokra- ten zu diskutieren. Das ist kein Beleg für gegenwärtige Schwäche, sondern Aus- druck des festen Willens, sich neuen gesellschaftlichen Realitäten stellen und immer mehr Menschen für sich begeistern zu wollen. Was die FDP indes nicht braucht, wäre eine Totalrevision unserer Überzeugungen: Der Wert der Freiheit ist nicht abhängig von Zeitgeist und Umfragewerten. Allerdings muss sich jede politische Generation ihren konkreten Begriff von Freiheit neu erarbeiten. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehören zur jüngeren Genera- tion von Mandats- und Funktionsträgern der FDP. Sie arbeiten auf unterschiedli- chen politischen Ebenen und sie haben eigene Positionen, die oft übereinstim- men – aber nicht immer. Es ist also keine organisierte Gruppe innerhalb der FDP, die beispielsweise mit den „Netzwerkern“ aus der SPD vergleichbar wäre. Anders als der viel zitierte „Anden-Pakt“ aus der Union bilden wir als jüngere Führungskräfte in der FDP auch kein Karrierenetzwerk. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit: Für nahezu alle waren die Krisenjahre 1993 bis 1995 politisch prägend. Seinerzeit fuhr die FDP in schwerem Fahrwasser. Bei den Landtags- wahlen wurden wir nicht selten unter „Sonstige“ eingeordnet, die Presse sprach von der „Dame ohne Unterleib“ und allenthalben wurde in den Feuilletons die Frage diskutiert, ob und wofür man eigentlich den organisierten Liberalismus noch brauche. In einer Wochenzeitung wurde gar eine Karikatur veröffentlicht, in der die Punkte der damaligen „F.D.P.“ durch Totenköpfe ersetzt worden war- en. Insbesondere die Kampagne zur Bundestagswahl 1994 war beschämend. „Diesmal geht’s um alles“ wurde plakatiert. Im Werbemittelkatalog wurde eine Kleinanzeige mit dem Text angeboten: „FDP wählen, damit Kohl Kanzler bleibt.“ Wir haben diese Kampagne als Offenbarungseid empfunden, weil nur

10 noch die dienende Funktion für eine andere Partei und nicht mehr das liberale Programm im Vordergrund stand – eine Situation, die sich nie mehr wiederholen soll. Wer also damals – wie wir – bei den Liberalen aktiv wurde, der kann es kaum aus Karrieregründen getan haben. Wir spürten, dass der deutschen Politik eine weltanschauliche Grundrichtung verloren gehen könnte, wenn wir diese Partei jetzt nicht stärken. Deshalb haben wir als ’94er Generation der FDP Partei für die Freiheit ergriffen. Bald kamen noch jüngere Liberale mit derselben Über- zeugung hinzu. Ohne Zweifel ist es vor allem das Verdienst von , dass die FDP diese Krise überwinden konnte. Auf seine Initiative hin und maßgeblich von ihm formuliert hat sich unsere Partei neue Perspektiven im Programm und eine neue Positionierung im gewandelten Parteiensystem erarbeitet. Die 1997 verabschiedeten „Wiesbadener Grundsätze“ haben der FDP ein neues, klares Profil gegeben. Sie waren der Ausgangspunkt für unsere neue Vitalität, die bis heute anhält. Viele von uns Jüngeren haben bereits an der Diskussion um die „Wiesbadener Grundsätze“ teilgenommen. In den Gremien der Jungen Liberalen, als Delegierte von Parteitagen oder auch schon als Mitglieder der damaligen Programmkommission. Dieses Grundsatzprogramm ist also auch unser Grund- satzprogramm, das wir mit erarbeitet haben und vertreten. Als Deutschland in der Endphase der Regierung Kohl für die Zukunftsfä- higkeit unseres Landes wichtige Anpassungen versäumt hat, musste sich die FDP als Motor für Veränderungen positionieren – im ökonomischen Bereich der Poli- tik genauso wie in der Gesellschaftspolitik. Weil vom Staat alles und von sich selbst so gut wie nichts mehr erwartet wurde, plädierten wir als Freie Demokra- ten für die gelebte Eigenverantwortung in der Bürgergesellschaft. Wir wollten mit den „Wiesbadener Grundsätzen“ den Zugriff des Staates auf das private Leben begrenzen. Aus der historischen Situation heraus betonen die „Wiesbade- ner Grundsätze“ also vor allem die quantitative Dimension der Freiheit – die Ausdehnung individueller Handlungsoptionen. Auch heute noch, mehr als ein Jahrzehnt später, ist dieser Tenor unseres gültigen Grundsatzprogramms offen- sichtlich aktuell. Und dennoch hat sich die Welt seit 1997 verändert: Mit den wiederholten Krisen der Weltfinanzmärkte, dem Klimawandel, den inzwischen spürbaren Veränderungen in der Demographie, den Anschlägen des 11. Septem- ber 2001, der Globalität unseres wirtschaftlichen und kulturellen Lebens und nach einem politischen Reformjahrzehnt seit 1998, das Probleme allerdings viel- fach nicht gelöst sondern verstärkt hat, stellen sich heute Fragen, auf die die

11 „Wiesbadener Grundsätze“ natürlich nicht antworten können. Die JuLis als Ju- gendorganisation der FDP haben vor diesem Hintergrund bereits eine Debatte über ein neues Grundsatzprogramm begonnen. Eine neuerliche Grundsatzdiskus- sion ist auch in der FDP erforderlich, damit wir uns unserer Werte vergewissern und neue Metaphern für unsere Prinzipien finden können. Vor der Bundestagswahl dieses Jahres ist die Arbeit an einem Grundsatz- programm, das die Gegenwart politisch interpretieren muss und die Zukunft positiv gestalten soll, natürlich nicht zu leisten. Gerade wenn nicht nur kleine Zirkel formulieren, sondern der Diskurs öffentlich und unter Einbeziehung von externer Expertise geführt werden soll, dann braucht ein Beratungsprozess Zeit. Wir verstehen diesen Sammelband also als erste Ideen- und Materialsammlung. Alle Autorinnen und Autoren hatten bei der Themenwahl und -bearbeitung weit- gehende Freiheit. Wir haben die Beiträge lediglich grob nach Grundsatzpositio- nen (Teil 1) und stärker an Politikfeldern orientierten Argumentationen (Teil 2) geordnet. Darüber hinaus hatten wir uns entschieden, in dieser Publikation aus- drücklich auch „Liberale ohne Parteibrille“ zu Wort kommen zu lassen (Teil 3), für deren Bereitschaft zu Stellungnahme und Dialog wir uns herzlich bedanken. Durch diesen Ansatz der Herausgeber kann der Band natürlich nicht einem geschlossenen Konzept folgen. Er ist auch keine Blaupause für ein neues Grund- satzprogramm. Dann würde sich eine Debatte erübrigen. Durch die sich ergeben- den Schwerpunktsetzungen zeigt sich allerdings in ersten Konturen, welche As- pekte neue Prominenz in der Grundsatzprogrammatik erhalten könnten: Mit den hier unter anderem diskutierten Werten Fairness, Solidarität, Teilhabe, Nachhal- tigkeit, Familie, Heimat, Kultur und Gesundheit wird die qualitative Dimension unseres Freiheitsbegriffs hervorgehoben, die den vor allem quantitativ-liberalen Fokus der „Wiesbadener Grundsätze“ ergänzt. Mit anderen Worten: Wir verdeut- lichen, dass Freie Demokraten nicht abstrakt die nackte Zahl der Optionen für individuelle Lebensentwürfe maximieren wollen. Denn dann wäre Freiheit nur ein leerer Raum, der vergrößert wird. Freie Demokraten bemühen sich stattdes- sen, wertvolle und sinnstiftende Optionen für Lebenswege zu eröffnen. Dadurch erst wird Freiheit lebendig und fühlbar. Schon in den „Freiburger Thesen“ haben die Freien Demokraten seinerzeit geschrieben: „Freiheit und Glück des Men- schen sind (...) nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte.“ Ein neuer Gedanke ist dies somit nicht. Aber einer, der wert ist, neu durchdacht und von der FDP in Anspruch genommen zu werden.

12 Wenn dieser Band Debatten anstößt und zu Zuspruch oder Widerspruch an- regt, dann hat er sein Ziel erreicht. Wir suchen den Dialog und wollen ihn fort- setzen. Dazu haben wir im Internet unter www.freiheit-gefühlt-gedacht-gelebt.de eine Plattform eingerichtet, auf der das Buch und seine Beiträge diskutiert wer- den können. Auch weitergehende Informationen über die einzelnen Autoren und ihre Arbeit finden sich dort. Zu danken ist unseren Mitarbeitern Dr. Florian Keisinger, Mareike Gold- mann und Nina Schultes, die dieses Buch durch Rat und Tat möglich gemacht haben.

Hannover und Düsseldorf (Januar 2009)

13 1. Teil Liberale Grundsätze

Christian Lindner

Freiheit und Fairness

Ungerechtigkeit wird zuerst gefühlt. Ich habe in den letzten Monaten viele Ge- spräche geführt, in denen meine Gegenüber dieses Gefühl ausgedrückt haben: Darunter war beispielsweise der Besitzer eines kleinen Geschäfts, der jeden Monat knapp mit jedem Euro kalkulieren muss, während der Staat den Banken doch mit Milliarden Euro Schutzschirme spannt. Die junge Frau, die alles getan hat, um im Beruf Fuß zu fassen – aber nun keinen KiTa-Platz findet. Der Rent- ner, der sein Einkommen mit den Bezügen eines DAX-Vorstands verglichen hat. Ein Herzchirurg, der nach jahrzehntelanger Arbeit jetzt zu den Kapazitäten in seiner Disziplin gehört und sich durch die „Reichensteuer“ bestraft fühlt. Der Mitarbeiter eines Konzerns, der ausgerechnet hatte, dass der Gewinn seines Ar- beitgebers schneller steigt als sein Gehalt. Ein Unternehmer, der sein Leben in den Dienst seines Betriebs gestellt hat und nun sein Lebenswerk vor einem als unmoralisch empfundenen Fiskus schützen will, indem er vor der Erbschafts- steuer ins Ausland flieht. Jeder kennt andere Beispiele. Die subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeit erregt starke Emotionen, die Menschen zu allen Zeiten bewegt und veranlasst haben, für eigene Interessen und höhere Ideale zu streiten. Allerdings sind diese Gefühle auch an die eigene Lebensperspektive gebunden. Und das dabei jeweils zu Grunde gelegte Para- digma der Gerechtigkeit ist situationsabhängig: Einem Verhungernden werden wir zu geben und nicht zuerst Fragen stellen: Bedürfnisgerechtigkeit will konkret die soziale Lage Einzelner verbessern. Es gibt beim Kindergeburtstag schnell Tränen, wenn nicht jedes Kind ein gleich großes Tortenstück erhält: Gleichheit als Gerechtigkeitsmodell will soziale Beziehungen verbessern. Der Bäcker, der günstiger und besser backen kann, wird mehr Brötchen verkaufen als seine Wettbewerber und deshalb mehr verdienen: Gerechtigkeit der Leistung will Effizienz, indem sie Einzelne entsprechend ihres Anteils am Zustandekommen eines Gemeinschaftsergebnisses belohnt. Keine dieser drei Modellvorstellungen ist aber allein tauglich, menschliches Zusammenleben zu gestalten. Gerechtigkeit ergibt sich nicht aus der Summe der Einzelforderungen und Einzelperspektiven. Vielmehr ist die Frage nach einer gerechten Gesellschaft

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