Plenarprotokoll 15/83

Deutscher

Stenografischer Bericht

83. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Inhalt:

Benennung des Abgeordneten Dr. Guido Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 7289 C Westerwelle als ordentliches Mitglied des Vermittlungsausschusses ...... 7283 A Erika Lotz SPD ...... 7290 D Benennung des Abgeordneten Franz Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 7292 C Müntefering als stellvertretendes Mitglied Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin des Vermittlungsausschusses ...... 7283 B BMF ...... 7293 D Gratulation zum heutigen 60. Geburtstag der Dr. FDP ...... 7295 B Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ...... 7287 C Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7296 A Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 7296 D Tagesordnungspunkt 14: Horst Schild SPD ...... 7298 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen Klaus-Peter Flosbach CDU/CSU ...... 7299 D der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Sicherung Tagesordnungspunkt 15: der nachhaltigen Finanzierungs- grundlagen der gesetzlichen Renten- a) Beratung der Großen Anfrage der Ab- versicherung (RV-Nachhaltigkeits- geordneten Dr. Peter Paziorek, gesetz) Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/2149) ...... 7283 B und der Fraktion der CDU/CSU: Zu- kunftsorientierte und effiziente Ge- b) Erste Beratung des von den Fraktionen staltung der Novelle des Erneuer- der SPD und des BÜNDNISSES 90/ bare-Energien-Gesetzes DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- (Drucksache 15/818) ...... 7302 A wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen b) Bericht des Ausschusses für Bildung, Behandlung von Altersvorsorgeauf- Forschung und Technikfolgenabschät- wendungen und Altersbezügen (Al- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- terseinkünftegesetz – AltEinkG) nung: Technikfolgenabschätzung; (Drucksache 15/2150) ...... 7283 B hier: Monitoring – „Möglichkeiten geothermischer Stromerzeugung in , Bundesministerin BMGS . . . . 7283 D Deutschland“ (Drucksache 15/1835) ...... 7302 A Andreas Storm CDU/CSU ...... 7285 C Dr. CDU/CSU ...... 7302 B Peter Dreßen SPD ...... 7286 B Dr. SPD ...... 7304 B BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7287 C FDP ...... 7306 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Margareta Wolf, Parl. Staatssekretärin Tagesordnungspunkt 18: BMU ...... 7308 A Beschlussempfehlung und Bericht des Franz Obermeier CDU/CSU ...... 7309 A Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes Marco Bülow SPD ...... 7310 D Kahrs, Eckhardt Barthel (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) sowie der Abgeordneten CDU/CSU ...... 7312 D (Köln), (Augsburg), weiterer Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Abgeordneter und der Fraktion des DIE GRÜNEN ...... 7313 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Denk- mal für die im Nationalsozialismus ver- folgten Homosexuellen (Drucksachen 15/1320, 15/2101) ...... Tagesordnungspunkt 16: 7334 B Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 7334 C Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs CDU/CSU ...... 7335 C eines Gesetzes zur Reform des Ge- schmacksmusterrechts (Geschmacks- Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 7336 C musterreformgesetz) Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/1075, 15/2191) ...... 7315 B DIE GRÜNEN ...... 7338 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 7339 C BMJ ...... 7315 B Johannes Kahrs SPD ...... 7340 C Dr. Günter Krings CDU/CSU ...... 7316 C Vera Lengsfeld CDU/CSU ...... 7341 C BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7319 A Günter Nooke CDU/CSU ...... 7342 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ FDP ...... 7319 D DIE GRÜNEN ...... 7343 B Dirk Manzewski SPD ...... 7320 C

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Beschlussempfehlung und Bericht des Otto (Frankfurt), Rainer Funke, weiterer Ausschusses für Bildung, Forschung und Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Technikfolgenabschätzung zu dem An- Schutz vor illegalen und jugendgefähr- trag der Abgeordneten , denden Internetinhalten – Filtern statt , weiterer Abgeordneter Sperren und der Fraktion der CDU/CSU: Stär- (Drucksache 15/1009) ...... 7344 D kung der dualen Berufsausbildung in Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 7345 A Deutschland durch Novellierung des Berufsbildungsrechts Nächste Sitzung ...... 7346 C (Drucksachen 15/1348, 15/1957) ...... 7322 B , Parl. Staatssekretär Anlage 1 BMBF ...... 7322 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7347 A Werner Lensing CDU/CSU ...... 7324 A Grietje Bettin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7325 B Anlage 2 (Homburg) FDP ...... 7326 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über den Antrag: Schutz vor illegalen und ju- (Starnberg) SPD ...... 7327 C gendgefährdenden Internetinhalten – Fil- tern statt Sperren (Tagesordnungspunkt 19) 7347 D CDU/CSU ...... 7329 B Sabine Bätzing SPD ...... 7347 D SPD ...... 7330 D CDU/CSU ...... 7350 A fraktionslos ...... 7332 A Grietje Bettin BÜNDNIS 90/ Marion Seib CDU/CSU ...... 7332 D DIE GRÜNEN ...... 7352 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 III

Anlage 3 SPD ...... 7353 D Neuabdruck der zu Protokoll gegebenen Re- Ingrid Fischbach CDU/CSU ...... 7355 C den zur Beratung des Antrags: Tagespflege als Baustein zum bedarfsgerechten Kinder- Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 7357 B betreuungsangebot – Bessere Rahmenbe- dingungen für Tagesmütter und -väter, Eltern und Kinder (82. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 13) ...... 7353 A Anlage 4 Ina Lenke FDP ...... 7353 A Amtliche Mitteilungen ...... 7358 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7283

(A) (C) Redetext

83. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen Die Sitzung ist eröffnet. (Alterseinkünftegesetz – AltEinkG) – Drucksache 15/2150 – Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen folgende Mitteilungen bekannt geben: Die Fraktion der Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) FDP hat mitgeteilt, dass der Kollege Jörg van als Rechtsausschuss ordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Guido Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Westerwelle vorgeschlagen. Die Fraktion der SPD hat Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für mitgeteilt, dass die Kollegin Dr. Angelica Schwall- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Düren als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermitt- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. lungsausschuss ausscheidet. Nachfolger soll der Kollege (B) Franz Müntefering werden. Sind Sie damit einverstan- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- (D) den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der Kol- ministerin Ulla Schmidt. lege Dr. als ordentliches Mitglied (Beifall bei der SPD) und der Kollege Franz Müntefering als stellvertreten- des Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt. Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: Soziale Sicherung: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD „Bewahren durch Ergänzen“, so lautete unser Motto bei und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- der Erarbeitung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, das wir brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung heute hier in erster Lesung beraten. Um die gesetzliche der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen Rentenversicherung als verlässliche Säule der Alterssi- der gesetzlichen Rentenversicherung (RV- cherung für die Menschen bewahren zu können, muss Nachhaltigkeitsgesetz) sie um zwei wichtige Faktoren ergänzt werden: um den Nachhaltigkeitsfaktor und um eine verbesserte kapital- – Drucksache 15/2149 – gestützte Säule. Nur so kann der Grundsatz „Jung für Überweisungsvorschlag: Alt“, der in Deutschland schon seit über 100 Jahren ver- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) folgt wird, auch in Zukunft gelten. Innenausschuss Rechtsausschuss Die demographische Entwicklung zwingt uns zu Finanzausschuss handeln. Wir alle wissen, dass die gesetzliche Renten- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit versicherung alleine den heute 20-, 30- oder 35-Jährigen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und zukünftig kein ausreichendes Maß an finanzieller Si- Landwirtschaft cherheit bieten wird. Die Menschen werden in 30 Jahren Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Schnitt drei oder mehr Jahre älter werden. Das ist er- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung freulich, bedeutet aber, dass die Rentenversicherung, Haushaltsausschuss wenn wir nicht handeln, für diesen längeren Zeitraum Rente zahlen muss. Hinzu kommt, dass es zu wenige b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD junge Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geben und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- wird, weil die Menschen in unserer Gesellschaft zu we- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung nige Kinder bekommen. Aus diesen Gründen ist eine Er- der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von gänzung notwendig. 7284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) Folgt der Gesetzgeber unseren Vorschlägen, die wir (Detlef Parr [FDP]: Ja? – Dr. Heinrich L. Kolb (C) heute einbringen, dann werden wir mit dieser Reform [FDP]: Dann sind wir doch an der Macht!) eine moderne, tragfähige und verlässliche Alterssiche- rung aufbauen können. – wir! –, in dem wir darauf eingehen werden, wie sich die Arbeitsmarktlage insbesondere für die älteren Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen und die Frauen entwickelt hat. Damit wollen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Grundlage dafür schaffen, 2010 zu entscheiden, ob langfristig, also bis 2035, ein höheres Renteneintrittsal- Dazu gehört als ein ganz wesentlicher Punkt, dass wir in ter nötig ist oder nicht. Wir werden in diesem Bericht diesem Jahrzehnt erreichen müssen, dass auch ältere auch darauf eingehen, wie sich die entsprechenden Be- Menschen wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt dingungen verändert haben. haben. Wir können es uns nicht erlauben, dass 50- oder 55-Jährige heute von der Erwerbstätigkeit ausgeschlos- Wir sind der Meinung, dass es in einer Zeit, in der sen werden, weil man der Meinung ist, sie seien zu alt. über 50-Jährige keine Chance auf dem Arbeitsmarkt ha- ben, nicht richtig ist, über ein höheres Renteneintrittsal- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ter zu reden. Erst wenn wir die entsprechenden Bedin- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des gungen verbessert haben, können wir auch über diese Abg. [CDU/CSU]) Maßnahme entscheiden. Das verstehen die Menschen – Hierzu wollen wir eine Initiative starten. Ich muss an vor allem die jüngere Generation. Da wir künftig die dieser Stelle aber deutlich sagen: Die Politik kann nur Rente dann durchschnittlich drei Jahre länger zu zahlen die Rahmenbedingungen setzen; denn hier sind die Ta- haben und wir weiterhin ein hohes Rentenniveau errei- rifvertragsparteien gefragt. Es muss ein gemeinsames chen wollen, werden wir auch diese Frage beantworten Anliegen dieses Hauses sein, dieses Jahrzehnt dazu zu müssen. So viele Stellschrauben gibt es in der Renten- nutzen, initiativ zu werden und über Qualifizierungs- versicherung nämlich nicht. und Fortbildungsangebote sowie über neue Möglichkei- Meine Damen und Herren, die Alterssicherung der ten im Beschäftigungsrecht dafür zu sorgen, dass jeder, Zukunft wird sich nicht mehr allein auf die umlagefinan- der es möchte, bis zum 65. Lebensjahr erwerbstätig sein zierte Rente als lebensstandardsichernde Säule stützen kann. Wir müssen das reale Renteneintrittsalter dem ge- können. Sie wird durch die betriebliche Rente – hier ha- setzlichen annähern. Dazu machen wir mit diesem Ge- ben wir mit der betrieblichen Riester-Rente neue Mög- setzentwurf Vorschläge. Unter Beachtung des notwendi- lichkeiten geschaffen – und durch die private Säule gen Vertrauensschutzes ist das eine richtige Maßnahme; – hier sei zum Beispiel die private Riester-Rente ge- denn wir brauchen Beitragszahlerinnen und Beitragszah- nannt – ergänzt werden müssen. Deshalb werden wir die (B) ler, wenn wir die Ansprüche auch der älteren Generation Rahmenbedingungen für die kapitalgestützte Säule ver- (D) erfüllen und verlässliche Einkünfte sicherstellen wollen. bessern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bei der Rentenversicherung im umlagefinanzierten DIE GRÜNEN) System werden wir den Nachhaltigkeitsfaktor ein- Wir müssen auch die Beschäftigungschancen von führen. Denn eines ist klar: Wir wissen, dass die heute Frauen erhöhen. Wir müssen dafür sorgen, dass die jun- 30- bis 35-Jährigen allein mit der umlagefinanzierten gen Menschen die Möglichkeit haben, sich für Beruf und Rente ihren ursprünglichen Lebensstandard im Alter Familie zu entscheiden. Mangelnde Kinderbetreuung nicht mehr absichern können, während dies großen Tei- darf kein Hindernis für eine solche Entscheidung sein. len der älteren Generation heute möglich ist. Deshalb Deswegen nutzt der Bund dieses Jahrzehnt dazu, aktiv müssen wir dafür sorgen, dass die junge Generation zu werden. Insgesamt werden wir bis 2007 rund Spielräume erhält, um die zweite und vielleicht auch die 8,5 Milliarden Euro investieren, um die Betreuung der dritte Säule aufbauen zu können. Es gehört zur Regelung Kinder unter drei Jahren und die Ganztagsschulen zu einer verlässlichen Alterssicherung, dass wir uns auch fördern. Das ist der richtige Weg, um die Bildungschan- Gedanken darüber machen, wie die Beiträge in Zukunft cen für die Kinder zu erhöhen. bezahlbar bleiben. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor, den wir einführen wollen, berücksichtigen wir bei der Ren- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tenanpassung, wie sich das Verhältnis von Beitragszah- DIE GRÜNEN) lern und Beitragszahlerinnen zu Rentenempfängern und Rentenempfängerinnen verändert. Seit PISA wissen wir, dass wir viel mehr Angebote ma- chen müssen. Es ist aber auch deshalb der richtige Weg, (Birgit Homburger [FDP]: Sie wollen besser weil wir damit Chancen für Frauen schaffen, eine eigen- sein als wir vor fünf Jahren!) ständige Alterssicherung aufzubauen. Frauen wollen selbst in die Rentenversicherung einzahlen und die Dadurch wird in einer wirtschaftlich schwierigen Lage Chance haben, über die betriebliche und die private die Rente langsam ansteigen. Weil sie langsam ansteigt, Säule für ein eigenes auskömmliches Einkommen im Al- können wir die Beiträge stabil halten und schaffen somit ter zu sorgen. die Voraussetzungen dafür, die Arbeitslosigkeit zu über- winden und Beschäftigung zu schaffen. Wenn mehr Be- Im Jahre 2008 – so ist es in diesem Gesetzentwurf schäftigung geschaffen wird, werden die Rentnerinnen festgelegt – werden wir als Bundesregierung dem Parla- und Rentner auch stärker am wirtschaftlichen Wohlstand ment einen Bericht vorlegen teilhaben können. Das heißt, je besser uns die Beschäfti- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7285

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) gungsförderung und die Bekämpfung der Arbeitslosig- anzuheben. Insofern stehen wir alle in der gemeinsamen (C) keit gelingt, desto besser wird sich der Wohlstand der äl- Verantwortung. teren Generation entwickeln. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir heute ent- scheiden werden, ist der Ausbau der zweiten und dritten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Säule. Wir haben mit der betrieblichen Säule dafür ge- Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm, sorgt, dass die betriebliche Altersvorsorge eine Renais- CDU/CSU-Fraktion. sance erlebt. (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) Andreas Storm (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum Im Moment bauen rund 57 Prozent aller sozialversiche- führen wir heute diese Rentendebatte? Sie müsste ei- rungspflichtig beschäftigten Frauen und Männer eine be- gentlich überflüssig sein; denn vor zwei Jahren ist doch triebliche Altersvorsorge auf. Flächendeckung in der ka- die so genannte Jahrhundertreform von in pitalgestützten Säule ist am besten über die betriebliche Kraft getreten, mit der angeblich alle Probleme bei der Altersvorsorge zu erreichen, weil den Arbeitnehmern Rente bis zum Jahre 2030 gelöst sein sollten. Auch Sie, und Arbeitnehmerinnen über Tarifverträge hier sehr gute Frau Ministerin Schmidt, waren damals an dieser Re- Möglichkeiten geboten werden. Deshalb werden wir die form maßgeblich beteiligt. Als Walter Riester im De- Bedingungen für den Ausbau der kapitalgestützten Säule zember 2000 im Ausland weilte, haben Sie persönlich in der betrieblichen Altersvorsorge dadurch verbessern, die jetzige Rentenformel für die SPD-Fraktion ausge- dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beim Ar- handelt. Heute erleben wir nun das endgültige Einge- beitsplatzwechsel bessere Möglichkeiten haben, ihre ständnis, dass die Riester-Reform gescheitert ist, und Ansprüche mitzunehmen. zwar gründlich. Mit der Vereinfachung des Verfahrens und der Redu- (Widerspruch bei der SPD) zierung der Kriterien für die Riester-Rente wollen wir auch die private Säule stärken. Mit der nachgelagerten Sie haben seit 1998 noch jedes Jahr in die Rentenfinan- Besteuerung werden wir dafür sorgen, dass die Renten- zen eingegriffen. Die Bilanz: Die Renten werden ge- beiträge in der aktiven Phase, während der Erwerbstätig- kürzt, die Rücklagen sind ausgeplündert und die Riester- Rente hat sich als kraftloser Rohrkrepierer entpuppt. Das (B) keit, von Steuern freigestellt sind. Wir täten gut daran, (D) gemeinsam dafür zu sorgen und zu werben, dass die ist die traurige Bilanz von fünf Jahren rot-grüner Renten- Menschen die neuen finanziellen Spielräume für den politik. Aufbau der kapitalgestützten privaten Altersvorsorge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verwenden. neten der FDP) Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir im In- Mit dieser rentenpolitischen Flickschusterei muss teresse der Menschen in diesem Land – wir wollen Si- Schluss sein. Wir brauchen eine langfristig tragfähige cherheit für die junge Generation, aber auch Sicherheit Rentenreform, die solide und verlässlich ist. für die ältere Generation schaffen – im Verfahren und in den Beratungen dieses Gesetzentwurfes zu gemeinsa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) men Lösungen kommen werden. Wir müssen zeigen, Alterssicherung ist Vertrauenssache. Die Menschen dass wir als Parlament in der Lage sind, gemeinsam für müssen sich auf die Rentenpolitik wieder verlassen kön- eine verlässliche Alterssicherung zu sorgen. nen. Deswegen sind für die Union fünf grundlegende Insofern möchte ich noch einmal an die Seite der Op- Anforderungen an eine Rentenreform zu stellen: position appellieren. Mit Blick auf den Beitragssatz im Erstens. Die Reform muss einen fairen Ausgleich kommenden Jahr halte ich es nicht für ein großes Zei- zwischen den Generationen schaffen. chen von Verantwortung, wenn wir im Vermittlungsaus- schuss bzw. im Bundesrat nicht zu einer Zustimmung (Peter Dreßen [SPD]: Hat sie!) darüber kommen können, dass man die Auszahlung der Wir wissen, dass sich in den nächsten drei Jahrzehnten Rente für Neurentner an das Ende eines Monats legt. das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern in etwa Im gemeinsamen Interesse der Stabilisierung der Ren- verdoppeln wird. Die finanziellen Lasten dieser Ent- tenversicherungsbeiträge bitte ich Sie, dieser Maßnahme wicklung müssen fair auf Jung und Alt aufgeteilt wer- zuzustimmen. Den Menschen, die zum Ende des Monats den. Auf keinen Fall dürfen wir einseitig nur die Bei- ihr Gehalt bekommen, tut es nicht weh, wenn sie auch tragszahler belasten; denn dann würde sich die die Rente erst zum Ende des Monats bekommen. verhängnisvolle Spirale aus steigenden Sozialabgaben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und wegbrechenden Arbeitsplätzen immer weiter in DIE GRÜNEN) Schwindel erregende Höhen schrauben. Wir dürfen aber ebenso wenig die Lasten einseitig den Rentnern aufbür- Ich bitte Sie, diese Maßnahme mitzutragen. Das ist ein den, indem wir den Beitragssatz auf dem heutigen Ni- Weg, der besser ist, als die Beitragssätze um 0,1 Prozent veau einfrieren; denn dann wären Nullrunden und sogar 7286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Andreas Storm (A) Rentenkürzungen die Regel und das Rentenniveau be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) fände sich im freien Fall. Deshalb darf in Zukunft keine Damit nicht genug. Der Nachhaltigkeitsfaktor verfolgt Generation die Lasten alleine tragen. Wir brauchen eine einzig und allein das Ziel, im Jahr 2030 einen fixen Bei- neue Rentenformel, mit der die Finanzierungslasten der tragssatz zu erreichen. Die Höhe des Rentenniveaus wird Alterssicherung fair auf Rentner und Beitragszahler auf- freigegeben. Die Politik erhält einen Freibrief, jedes Jahr geteilt werden. nach Belieben in die Rentenanpassung einzugreifen. Ich (Zuruf von der SPD: Machen Sie einmal einen zitiere erneut den Präsidenten der BfA: „Der Nachhaltig- Vo r s c h l a g ! ) keitsfaktor führt somit zu einem nach unten offenen Rentenniveau.“ Frau Ministerin, eine solche Rentenformel hätten wir be- reits seit fünf Jahren haben können, wenn Sie nach dem Ich frage die Sozialpolitiker der SPD: Sie haben vor Regierungswechsel 1998 nicht als Erstes den demogra- zwei Jahren auf Druck der Gewerkschaften noch eine Si- phischen Faktor außer Kraft gesetzt hätten. Wir haben cherungsklausel durchgesetzt. Damals sollte sicherge- fünf wertvolle Jahre verloren. stellt werden, dass das Rentenniveau niemals unter 67 Prozent sinkt. Diese Klausel wird jetzt ersatzlos ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) strichen. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Nun sieht Ihr Gesetzentwurf einen so genannten Nach- Wie soll hier noch Verlässlichkeit in die Rentenpolitik haltigkeitsfaktor vor. Wie der Faktor heißt – ob „Nachhal- kommen? tigkeitsfaktor“ oder „demographischer Faktor“ –, ist zweit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rangig. Es kommt nicht auf den Titel, sondern auf den Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Inhalt an. Deswegen ist für die Union eine Rentenformel, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zur Manipulation geradezu einlädt, nicht akzeptabel. Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage Deshalb wiederhole ich unsere Forderung: Wir brauchen des Abgeordneten Dreßen? einen nachvollziehbaren und verlässlichen Regelmecha- nismus für die Rentenanpassung. Dafür taugt der Nach- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann nur haltigkeitsfaktor in der Form, in der Sie ihn bisher vor- in die Hose gehen!) gelegt haben, noch nicht. Unsere zweite essenzielle Anforderung an eine Renten- Andreas Storm (CDU/CSU): reform lautet: Wir brauchen nicht nur zwischen Alt und Ja, gerne, Kollege Dreßen. Jung, sondern auch innerhalb einer Generation eine faire (B) Lastenverteilung zugunsten derer, die Kinder erziehen. (D) Peter Dreßen (SPD): Wir müssen die offene Flanke des Generationenvertrages Herr Storm, Sie haben gerade wieder erzählt, dass al- von 1957 schließen, indem die dritte Generation einbe- les in Ordnung wäre, wenn wir den demographischen zogen wird. Wir brauchen einen Dreigenerationenver- Faktor nicht ausgesetzt hätten. Würden Sie mir dann trag zwischen Rentnern, heutigen Beitragszahlern und auch konzedieren, dass die Rentner ansonsten 3 Prozent den Beitragszahlern von morgen. weniger Rente als heute bekommen würden? Würden Deshalb führt für die Union kein Weg daran vorbei, Sie auch dies der Öffentlichkeit mitteilen? dass Familien bei der Rente gestärkt werden müssen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Kindererziehung muss Andreas Storm (CDU/CSU): sich längerfristig bei der Rentenhöhe mehr als bisher Nein, Kollege Dreßen, diese Zahl ist eindeutig falsch. auszahlen. Frauen und Männer müssen gleichermaßen in Wenn Sie den Faktor nicht ausgesetzt hätten, hätten wir die Lage versetzt werden, eine vollständige eigene Ren- jetzt ein wesentlich geringeres Loch in der Rentenkasse. tenbiografie aus Zeiten der Erwerbsarbeit und der Fami- Dass der demographische Faktor eine richtige Überle- lienarbeit aufzubauen. Wir müssen aber gleichzeitig die gung war, zeigt sich darin, dass sich der deutsche Bun- Familien auch bei den Beiträgen entlasten. Das Bundes- deskanzler vor wenigen Wochen in diesem Haus dafür verfassungsgericht hat in einem Urteil vor über zwei entschuldigt hat, ihn 1998 gestrichen zu haben. Jahren den Anstoß dazu gegeben. Bei SPD und Grünen ist davon leider nichts angekommen. In ihrem Gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) entwurf ist kein Sterbenswörtchen zur Stärkung der fa- Wir brauchen in der Rentenformel einen nachvoll- milienpolitischen Elemente bei der Rente enthalten. ziehbaren und verlässlichen Regelmechanismus. Genau Damit komme ich zur dritten Anforderung. Rentenpoli- dies ist der heute von Ihnen vorgelegte Nachhaltigkeits- tik ist Vertrauenssache. Wir brauchen mehr Verlässlichkeit. faktor nicht. So hat der Präsident der Bundesversiche- Die Leute haben das rot-grüne Novemberfieber satt, bei rungsanstalt für Angestellte, Dr. Rische, zu Beginn die- dem jedes Jahr am Jahresende entschieden wird, welcher ser Woche nachdrücklich festgestellt: Mit dem Eingriff in die Rentenfinanzen dieses Mal dran ist. Die Nachhaltigkeitsfaktor wird die Rentenformel „derart in- Rentenversicherung muss auch für konjunkturell transparent, dass sie der Öffentlichkeit kaum mehr zu schlechte Zeiten, wie wir sie unter Rot-Grün nun schon vermitteln sein dürfte“. im dritten Jahr erleben, wetterfest gemacht werden. Des- Das ist ein Totalverriss der rot-grünen Rentenformel, halb müssen die Rücklagen der Rentenkassen wieder wie er schlimmer nicht hätte kommen können. aufgefüllt werden. Wir brauchen mittel- bis langfristig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7287

Andreas Storm (A) einen Korridor von ein bis zwei Monatsausgaben bei der Konsensrunden im Eilverfahren am Parlament vorbei (C) Rente. Es ist nicht glaubwürdig, wenn Sie erst drei Jahre wird es mit der Union nicht geben. lang die Rücklage plündern, das letzte Tafelsilber ver- (Beifall bei der CDU/CSU) scherbeln und nun behaupten, Sie wollten die Rücklage wieder auffüllen. Das nimmt Ihnen niemand mehr ab. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der vierte Punkt. Wir brauchen eine Nachfolgeregelung Bevor ich der Kollegin Bender das Wort gebe, gratu- für die Riester-Rente. Es ist richtig, Frau Ministerin liere ich unserer Ministerin für Familie, Senioren, Schmidt, dass neben die umlagefinanzierte Rente eine Frauen und Jugend, Renate Schmidt, recht herzlich zu kapitalgedeckte Förderrente treten muss. Sie haben sich ihrem heutigen 60. Geburtstag. Herzlichen Glück- lange gesträubt und die Abschlusszahlen der Riester- wunsch! Verträge schöngeredet. Jetzt wollen Sie das Verfahren vereinfachen und streichen sechs der elf Förderkriterien (Beifall) der Riester-Rente. Das ist erfreulich, aber ich frage Sie Das Wort hat nun die Kollegin Birgitt Bender, Bünd- auch: Warum bringen Sie nicht den Mut auf und über- nis 90/Die Grünen. nehmen die weiter gehenden Vorschläge der Herzog- Kommission und der Rürup-Kommission? Ich denke an die Anhebung der förderfähigen Höchstbeträge und die Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erweiterung des Kreises der Förderberechtigten auch auf Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der die Selbstständigen und die anderen, die bisher nicht för- Reform der Alterssicherung geht es zum einen um derberechtigt sind. Wir wissen aus dem Jahr 2002, dass soziale Sicherheit im Alter; denn wir wollen Altersarmut bis zu 2,7 Milliarden Euro Fördergelder nicht abgerufen verhindern. Zum anderen geht es um Generationenge- worden sind. Deswegen haben wir finanzielle Spiel- rechtigkeit. Das heißt, dass wir auch an die Beitragsbe- räume, die genutzt werden müssen. Wir brauchen eine lastung der jüngeren Generation denken und sie be- deutliche Ausweitung dieser ergänzenden kapitalge- grenzen müssen. deckten Vorsorge. In der letzten Legislaturperiode hat Rot-Grün eine Fünftens. Wir brauchen eine Neuregelung der Renten- Rentenreform gemacht, mit der sie erstmals dafür gesorgt besteuerung. Sie sprechen sich nun für den Übergang hat, dass die Menschen auch kapitalgedeckte Vorsorge zur nachgelagerten Besteuerung aus. Damit rennen Sie aufbauen können. Das ist übrigens ein Schritt, den die vom Grundsatz her bei uns offene Türen ein. Es war ein Union ihrerseits nie fertig gebracht hat. Dieses innova- grundlegender Webfehler der riesterschen Rentenreform, tive Konzept haben Sie uns zu verdanken. Es ist schön, dass damals das Thema der Rentenbesteuerung ausge- dass Sie sich jetzt darauf beziehen, auch wenn Sie mei- (B) (D) klammert worden ist. Denn Klarheit über das langfris- nen, es sei gescheitert. tige Leistungsniveau bei der Rente hat man nur, wenn Die Entwicklung der wirtschaftliche Lage und die Be- man weiß, wie die steuerlichen Regelungen sind, wie die völkerungsentwicklung sind anders verlaufen, als es die ergänzende Vorsorge organisiert wird und wie das Ni- Experten im Jahre 2001 prognostiziert haben. veau bei der gesetzlichen Rente ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist genau so Die Riester-Reform ist gescheitert. Wir sollten alles gekommen!) daran setzen, dass es bei der nächsten Rentenreform nicht genauso passiert. Das Hauptkriterium muss sein, Deswegen machen wir jetzt neue Reformschritte. Es dass eine grundlegende Rentenreform kurz- und lang- geht darum, in der gesetzlichen Rentenversicherung für fristig solide und verlässlich ist. Die Statik des Gesamt- einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu gebäudes einer reformierten Alterssicherung muss stim- sorgen. Daher muss einerseits an die Beitragshöhe und men. Schönwetterprognosen wie bei der Riester-Reform andererseits an ein angemessenes Rentenniveau und eine vor zwei Jahren helfen nicht weiter. Deswegen werden angemessene Rentensteigerung gedacht werden. Es geht wir im Frühjahr 2004 keiner Reform zustimmen, bei der auf der anderen Seite um Erleichterungen bei der kapi- klar ist, dass sie bereits im Herbst 2004 wieder nachge- talgedeckten Vorsorge, sowohl bei den Betriebsrenten bessert werden muss. als auch bei der privaten Vorsorge. Zum Dritten sorgen wir für Steuergerechtigkeit in der Alterssicherung, in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem wir erstmals zur so genannten nachgelagerten Be- Herzstück der Reform muss eine gerechte Lastenver- steuerung übergehen. teilung zwischen Jung und Alt sowie eine starke Famil- Wir werden die Rentenformel verändern. In der ienkomponente sein. Aus Sicht der Union ist das unver- gesetzlichen Rentenversicherung wird es einen Nachhal- zichtbar. Diesbezüglich ist die Koalition bislang jede tigkeitsfaktor geben. Herr Kollege Storm, ich kann ver- Antwort schuldig geblieben. stehen, dass Sie Ihrem demographischen Faktor nach- trauern. Wenn Sie aber genauer hinschauen, werden Sie Wir sollten uns das gesamte erste Halbjahr 2004 Zeit feststellen, dass der von uns vorgesehene Nachhaltig- nehmen für eine umfassende Beratung innerhalb der par- keitsfaktor Ihrem alten Demographiefaktor überlegen lamentarischen Gremien. Es gilt der Grundsatz: Sorgfalt ist, weil er das Verhältnis zwischen der Anzahl der Bei- vor Schnelligkeit. tragszahlenden und der Anzahl derjenigen, die Renten- Die Reform – auch das ist klar – muss in einem nor- leistungen empfangen, ins Verhältnis setzt und auf diese malen parlamentarischen Verfahren behandelt werden. Weise für einen Ausgleich zwischen den Generationen 7288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Birgitt Bender (A) sorgt. Anders, als Sie es dargestellt haben, macht diese Regierung allerlei Fehler vor. Dem ist entgegenzuhalten: (C) Rentenformel jährliche politische Eingriffe überflüssig, Der Verweis auf das angebliche Besserwissen in der Ver- weil diese Struktur auf einer vorhersehbaren Entwick- gangenheit ist noch kein politisches Konzept für die Ge- lung basiert. Ich denke, Sie sollten sich dieser Struktur genwart. Zu solch einem Konzept habe ich von Ihnen so annähern, statt sozusagen aus Prinzip auf die Vergangen- gut wie nichts gehört. heit zu verweisen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie haben die Hinterbliebenenversorgung und die Im Übrigen müssen wir auch noch Lasten aus der Kinderförderung bei der Rente angesprochen, Herr Vergangenheit abbauen. Wir sind diejenigen, die jetzt Storm. Darüber können wir reden. Wir setzen zurzeit – mit angemessenen Übergangsfristen – die Frühver- Steuermittel in Höhe von 12 Milliarden Euro dafür ein, rentung zurückfahren. Hierbei handelt es sich um ein Rentensteigerungen aufgrund von Kindererziehungs- Konzept von Norbert Blüm, mit dem er den Großbetrie- zeiten zu finanzieren. Das führt übrigens dazu, dass eine ben ermöglicht hat, die Rationalisierungswellen über die Frau mit zwei oder drei Kindern, die wegen der Kinder- Sozialversicherungen zu finanzieren. erziehung zeitweise auf Erwerbstätigkeit verzichtet oder (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit euren Teilzeitarbeit leistet, später eine höhere Rente hat als Stimmen!) eine Frau, die durchgängig in Vollzeit erwerbstätig war. Sie müssten erklären, warum Sie das nicht für ausrei- Damit wird jetzt Schluss gemacht. Es geht nicht an, dass chend halten und wie Sie eine weitere Förderung der Er- die Betriebe ständig ältere Leute entlassen und dies auch ziehungszeiten finanzieren wollen. Aber darüber sind noch durch die Beitragszahler finanzieren lassen. Sie Sie sich in der Union wohl selber noch nicht einig. werden in Zukunft auch die Erfahrung der Älteren nut- zen können und müssen. Dafür werden wir die entspre- Hinsichtlich Ihrer Forderung, dass bei der Hinterblie- chenden Rahmenbedingungen schaffen. benenversorgung die Kinder stärker berücksichtigt werden sollen, können wir zusammenkommen. Was die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Überlegung angeht, die Hinterbliebenenversorgung zu- DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: rückzuführen und im Wesentlichen darauf zu konzen- Jetzt reden Sie aber anders als vor drei Jahren!) trieren, dass diejenigen Witwen- oder Witwerrente be- Wir sollten auch die Frage des Renteneintrittsalters kommen, die aufgrund von Kindererziehung keine berücksichtigen; das tun wir bei unserer Reform. Die ausreichende Alterssicherung aufgebaut haben, sind wir Regierung wird dazu im Jahre 2008 einen Bericht vorle- gesprächsbereit. (B) (D) gen. Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung bei In diesem Zusammenhang ist es uns wichtig, die einem immer besseren Gesundheitszustand immer älter Gleichstellung von Ehepaaren und eingetragenen gleich- wird, spricht vieles dafür, dass das gesetzliche Renten- geschlechtlichen Partnerschaften zu erreichen. Denn es eintrittsalter auf längere Sicht angehoben werden muss. gibt keinen Grund, nur bei den Pflichten eine Gleichstel- Wir werden, wie gesagt, die Grundlagen schaffen, um lung zu schaffen und die Rechte davon auszunehmen. nach 2008 über diese Frage zu entscheiden. Das wollen wir ändern. Was ist bisher von der Opposition zu hören? Im We- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sentlichen verweigert sie sich. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben Detlef Parr [FDP]) eher ein Konzept vorgelegt als Sie und da Wir werden auch die Riester-Rente vereinfachen. sprechen Sie von Verweigerung! Unlogisch!) Bisher haben die Bürgerinnen und Bürger etwa 5 Mil- Herr Kollege Storm, Sie haben von einem parlamen- lionen geförderte Altersvorsorgeverträge abgeschlossen. tarischen Verfahren gesprochen. Wie sieht es denn damit Bei mehr als 30 Millionen Anspruchsberechtigten zeigt aus? Im Bundesrat wurde die Verschiebung der Renten- das deutlich, dass die Riester-Rente einfacher und flexi- auszahlungen auf das Monatsende abgelehnt. Das ist bler werden muss, damit sie angenommen wird. wahrlich kein Riesenschritt. Sie werden niemandem er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben wir klären können, warum es unbedingt dabei bleiben soll, Ihnen damals schon alles gesagt!) dass Menschen, die in Rente gehen, gleichzeitig ihr Ge- halt und die Rente ausgezahlt bekommen. Sie könnten – Das haben Sie damals also schon alles gesagt. Wenn sich deshalb leicht zu diesem Schritt, der Einsparungen Sie meinen, dass das so ist, dann machen Sie jetzt doch in Höhe von einigen 100 Millionen Euro bringt, ent- einfach mit und stimmen zu. Das wäre doch wunderbar. schließen. Was aber tun Sie? Sie blockieren. So stelle ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mir eine konstruktive Oppositionsarbeit nicht vor. und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ [FDP]: Wir werden Ihnen gern Hilfestellung DIE GRÜNEN]: Sonst schreien sie immer leisten! Sie werden aber nicht darauf einge- nach Schuldenabbau!) hen!) Was haben Sie sonst anzubieten? Im Wesentlichen re- Mit dem Gesetz wird das Antragsverfahren einfacher. den Sie immer über die Vergangenheit und halten der Die Ein- und Auszahlungsbedingungen werden flexibler Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7289

Birgitt Bender (A) und die Produkte werden für die Verbraucher und Ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) braucherinnen besser vergleichbar. Das sind wichtige Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb, Elemente, die wir im parlamentarischen Verfahren noch FDP-Fraktion. ausbauen wollen. Wir denken ebenfalls an mehr Flexibi- lität in der Auszahlungsphase. Wichtig sind uns der Er- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): halt und der Ausbau des Verbraucherschutzniveaus. Uns liegt dabei besonders am Herzen, dass über die Berück- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Bender, Sie müssen sich schon entschei- sichtigung von ökologischen, ethischen und sozialen den, warum Sie nur zwei Jahre nach der mit dem Namen Kriterien regelmäßig und vor Vertragsabschluss infor- des Kollegen Riester verbundenen Reform der Alters- miert wird. vorsorge, die damals von Ihnen gerne als „Jahrhundert- Nicht zuletzt werden wir die Besteuerung ändern. reform“ bezeichnet worden ist, einen neuen Versuch un- Den Übergang zur nachgelagerten Besteuerung ternehmen. Sie haben gesagt, die wirtschaftlichen Pro- schreibt uns das Bundesverfassungsgericht vor. Aber es gnosen der Experten hätten nicht gestimmt. Ich kann handelt sich – auch das möchte ich einmal sagen – um dazu nur sagen: Es ist alles so gekommen, wie die Ex- eine langjährige Forderung der Grünen. Wir werden die perten das vorausgesagt haben. Altersvorsorgebeiträge von der Steuer freistellen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten erst die entsprechenden Altersbezüge besteuern. Das ist der CDU/CSU) systematisch richtig und bedeutet – das möchte ich ge- rade angesichts der aktuellen Diskussion sagen – vor al- In Ihrem Gesetzentwurf heißt es, dass die damaligen lem ein Steuersenkungsprogramm zugunsten der Arbeit- „Grundannahmen im Lichte neuer wissenschaftlicher nehmer und Arbeitnehmerinnen. Die komplette Erkenntnisse teilweise revidiert werden müssen“. Ich Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge würde habe mich gefragt, was sich hinter dieser schamhaften 20 Milliarden Euro im Jahr kosten. Das können die öf- Floskel eigentlich verbirgt, welche neuen wissenschaftli- fentlichen Haushalte nicht in einem Schritt verkraften. chen Erkenntnisse das sein sollen. Sie hätten einfach Deswegen werden wir für einen schrittweisen Übergang schreiben sollen: Wir haben uns geirrt. sorgen, der aber schon zwischenzeitlich mit Entlastun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen im zweistelligen Milliardenbereich verbunden sein wird. Die Entlastung wird bei etwa 6 bis 8 Milliar- Sie hätten schon damals auf die Warnungen der Oppo- den Euro im Jahr liegen. Die Beitragszahler werden also sition zum Beispiel vor der überbürokratischen Gestal- Schritt für Schritt weniger Beiträge versteuern und die tung der Riester-Rente hören sollen. Dann wären nicht (B) Rentner werden Schritt für Schritt einen höheren Anteil unnötig Zeit und Geld verloren worden. (D) ihrer Rente versteuern. Wir werden diesen Übergang so- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) zialverträglich ausgestalten. Herr Dreßen, wenn Sie damals richtig gehandelt und Was bedeutet das für die Rentner und Rentnerinnen? den demographischen Faktor nicht abgeschafft hätten, Bisher zahlen die meisten Rentner gar keine Steuern. dann würde die Rentenkasse heute um 3 Milliarden Durch die Umstellung im Jahre 2005 werden zusätzlich Euro besser dastehen. Das wäre zwar nicht die Lösung 1,3 Millionen Rentner steuerlich belastet. Das bedeutet, aller Probleme, aber auch keine zu vernachlässigende dass insgesamt nur jeder zehnte Rentner – es werden Größe. meistens Männer sein –, der heute noch keine Steuern (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zahlt, zukünftig an das Finanzamt zahlen wird. Es wird der CDU/CSU) sich in der Regel um Rentenempfänger handeln, die ne- ben dem Rentenbezug noch andere Einkünfte haben. Vor Richtig ist: Sie hatten damals nicht den Mut zur vol- diesem Hintergrund sind wir der Meinung, dass der len Wahrheit und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Übergang sozialverträglich ist. kneifen Sie aus unserer Sicht heute erneut: Sie weichen der Beantwortung der Frage nach einem notwendigen Es ist des Weiteren festzuhalten, dass im Jahr 2005 Paradigmenwechsel, also nach einem neuen Grundan- reine Renten bis zu 1 574 Euro im Monat steuerfrei blei- satz in der Altersvorsorge, weiterhin aus. Deswegen ben. Das ist weit mehr als die Durchschnittsrente und muss man sagen: Die vorgeschlagenen Maßnahmen rei- auch deutlich mehr als die Standardrente. Das heißt, die chen nicht aus, um die Altersvorsorge der Menschen in Rentner werden nicht unangemessen belastet. Gleichzei- unserem Lande sicherzustellen. tig werden die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Hier geht es eben um mehr als nur um die gesetzliche entlastet. Es entsteht damit mehr Spielraum für private Rentenversicherung: Die Altersvorsorge muss gründ- Vorsorge. Eigenverantwortung kann mit mehr Entschei- lich und zügig weiterentwickelt werden, damit sie auch dungsfreiheit gelebt werden. Dies ist das Rentenkonzept im Jahr 2030 trägt und damit eine flächendeckende Al- der rot-grünen Koalition. tersarmut verhindert werden kann. Das gilt insbesondere Danke schön. für den konsequenten Ausbau der privaten und der be- trieblichen Altersvorsorge. Die hektische Betriebsam- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit, mit der Sie, Frau Ministerin, an dem jetzt vorliegen- und bei der SPD) den Gesetzentwurf praktisch bis zur letzten Minute 7290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dr. Heinrich L. Kolb (A) herumgebastelt haben, lässt im Übrigen weitere Zweifel Zur Wahrheit gehört auch, dass die Menschen in un- (C) an der Ausgereiftheit dessen aufkommen, was Sie uns serem Lande mit dem Aufbau einer privaten oder be- hier vorlegen. trieblichen kapitalgedeckten Altersvorsorge, flankiert von einer deutlich erweiterten staatlichen Förderung, (Beifall bei der FDP) schnellstmöglich beginnen sollen. Das muss uns auch zusätzliches Geld wert sein. Bei einigen Punkten, die wir schon in den zurücklie- genden Debatten und im Ausschuss kritisiert hatten, ha- (Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]) ben Sie sich im Vorfeld dieser Beratungen in die rich- Deswegen schlagen wir vor, Herr Kollege Dreßen, dieje- tige Richtung bewegt: Das gilt für den Vertrauensschutz nigen Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Förderung der bei der Frühverrentung, der in seiner ursprünglichen privaten kapitalgedeckten Alterssicherung, die bisher Ausgestaltung rechtsstaatlichen Prinzipien nicht genügt nicht abgeflossen sind, dafür einzusetzen, die Riester- hätte; das gilt für die Unisextarife, die, wie nun feststeht, Rente durch das Vorziehen der nächsten Förderstufen doch nicht kommen werden, obwohl Sie, Frau Ministe- noch attraktiver zu machen. rin, zuvor regelrecht einen Popanz aufgebaut haben; das gilt auch für die – mittlerweile fallen gelassene – Wie- (Beifall bei der FDP) derankopplung der Hinterbliebenen- oder Invaliditäts- rente an die Riester-Rente. Wir werden mit Ihnen im Ausschuss auch über die Schwankungsreserve sprechen. Die von Ihnen im Ge- Sie haben einsehen müssen – der Bundeskanzler per- setzentwurf vorgesehene Anhebung des oberen Zielwer- sönlich hat es eingeräumt –, dass die Abschaffung des tes für die Schwankungsreserve auf anderthalb Monats- demographischen Faktors kurz nach der Wahl 1998 ein ausgaben genügt nicht. Hierbei geht es um immerhin Fehler war. Aus heutiger Sicht war das – ich habe es rund 24 Millionen Euro. Wenn Sie es ernst meinen, dann schon gesagt – ein Fehler, der uns teuer zu stehen müssen Sie auch sagen, wie Sie Ihr Ziel erreichen wol- kommt. Aber wir begrüßen vor diesem Hintergrund die len. Ansonsten liegt die Vermutung nahe, dass es sich Einführung des von der Rürup-Kommission empfohle- um eine reine Absichtserklärung handelt. nen Nachhaltigkeitsfaktors, der die Begrenzung des Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bei der Al- Beitragssatzes auf maximal 22 Prozent im Jahre 2030 si- tersversorgung im Allgemeinen und bei der gesetzlichen cherstellen soll. Eigentlich ist das eine Wiedereinfüh- Rente im Speziellen handelt es sich um Vertrauensthe- rung. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, men. Da kann man nicht nach dem Prinzip von Trial and kommt die demographiebezogene Dämpfung des Ren- Error – Versuch und Irrtum – so lange herumprobieren, tenanstiegs jetzt in einem neuen Gewand daher; das soll bis es irgendwann passt; vielmehr muss das, was wir in (B) uns recht sein. Wie auch immer: Hauptsache, es wird den nächsten Monaten leisten, ein wirklich großer Wurf (D) eine Wirkung erzielt. Sie knüpfen jetzt an das an, was werden, da bei der Altersvorsorge sonst ein dauerhafter dank unserer Politik schon 1998 Gesetz war. Vertrauensschaden einzutreten droht. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Man muss aber auch sehen: Mit dem Nachhaltigkeits- Herr Kollege Kolb, Sie müssen zum Ende kommen. faktor wird das Beitragssatzziel von 22 Prozent im Jahre 2030 zur bestimmenden Größe des in der gesetzli- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): chen Rentenversicherung noch erreichbaren Versor- Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin; der letzte gungsniveaus gemacht. Das könnte die FDP mittragen, Satz. wenn den Bürgern die faktische Reduzierung der gesetz- lichen Rente auf eine beitragsfinanzierte Grundsiche- Sie werden bei der Arbeit an dem vorliegenden Ge- rung offensiv und unmissverständlich nahe gebracht und setzentwurf dringend auf die Mithilfe der Opposition an- ihnen darüber hinaus ein klarer Weg aufgezeigt würde, gewiesen sein. Wir sind zur Mithilfe gern bereit. Sie wie der Lebensstandard durch eine weitere, die gesetz- werden sich allerdings ein Stück weit auch auf unsere liche Rente ergänzende Altersvorsorge zukünftig gesi- Vorschläge einlassen müssen. chert werden kann und soll. Vielen Dank. (Horst Schild [SPD]: Machen Sie doch mal ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten paar Vorschläge, Herr Kolb!) der CDU/CSU) Bei der Begründung der im Alterseinkünftegesetz vorgesehenen Streichung des bisherigen leistungsorien- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tierten Sicherungszieles – § 154 Abs. 3 SGB VI – ver- Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Lotz, SPD- stecken Sie sich leider hinter Berechnungsproblemen. Fraktion. Diese Probleme gibt es zwar; aber lassen Sie uns ge- (Beifall bei der SPD) meinsam die Dinge so benennen, wie sie nun einmal sind: Der Beitrag der gesetzlichen Rente zur Gesamtal- tersvorsorge wird zukünftig geringer sein, als wir es in Erika Lotz (SPD): der Vergangenheit gewohnt waren. So einfach ist das. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Bevor ich auf den vorliegenden Gesetzentwurf zu (Beifall bei der FDP) sprechen komme, will ich an die letzte rentenpolitische Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7291

Erika Lotz (A) Debatte erinnern. Meine Vorredner und Vorrednerinnen Dann noch etwas zu dem anderen Teil Ihrer Forderun- (C) haben schon angesprochen, dass die Gesetze, die wir gen, nämlich Kindererziehungszeiten und Familienas- eingebracht hatten und die verhindern sollten, dass der pekte bei der Rente stärker zu berücksichtigen. Da will Beitragssatz aufgrund konjunktureller Entwicklungen ich Sie an Folgendes erinnern: Wir haben heute in der steigt, von Ihnen im Bundesrat blockiert worden sind. Rente neben Kindererziehungszeiten auch Kinderbe- Sie sind an der Blockade von CDU/CSU gescheitert. Ich rücksichtigungszeiten, die Aufwertung niedriger Ren- muss noch einmal feststellen, dass die Blockadepolitik tenanwartschaften bei schlecht bezahlter Erwerbstätig- kein verantwortungsvolles Handeln ist. keit während der Kinderberücksichtigungszeit. Wir haben Kinderzuschläge zur Hinterbliebenenrente einge- Sie sind meiner Meinung nach auch nicht glaubwür- führt. Der VDR hat ausgerechnet, dass sich allein aus dig. Sie fordern in der Öffentlichkeit die Entlastung der den drei Kindererziehungsjahren, der Aufwertung von Wirtschaft, nehmen aber in Kauf, dass der Beitragssatz Pflichtbeiträgen während der Kinderberücksichtigungs- zur Rentenversicherung steigt; Sie haben sich nämlich zeit und dem Kinderzuschlag zur Witwenrente für das dem Vorschlag verweigert, Neurentnern die Rente erst erste Kind nach heutigen Werten ein zusätzlicher Ren- am Monatsende zu zahlen. So kann keine Stabilisierung tenanspruch von 192 Euro pro Monat ergibt. Das ent- erreicht werden. Damit ist Ihr Handeln unglaubwürdig. spricht einem Beitragswert von 41 800 Euro. (Beifall bei der SPD) Die Eltern schon in der aktiven Phase von Beiträgen Ich will noch etwas zu dem sagen, was Herr Storm zu entlasten ist ganz bestimmt nicht die Aufgabe der zum demographischen Faktor ausgeführt hat. Es ist rich- Rentenversicherung. Damit würden nur kinderlose Ren- tig: Der Bundeskanzler hat gesagt, es sei ein Fehler ge- tenversicherte belastet; kinderlose Beamte, Richter, wesen, den demographischen Faktor zurückzunehmen. Selbstständige und auch wir Abgeordneten blieben ver- schont. Solange Sie, meine Damen und Herren von der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gesagt ist Opposition, sich im Vermittlungsausschuss verweigern, gesagt! – Andreas Storm [CDU/CSU]: Da hat aber auch nicht das nötige Geld aus dem Hut zaubern, er mal Recht gehabt!) können wir Eltern nicht aus Steuermitteln entlasten. Der Bundeskanzler hat aber nicht gesagt, dass der demo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten graphische Faktor zur Bewältigung der Situation ausge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) reicht hätte. Da liegt der Unterschied zu dem, was wir mit dem Nachhaltigkeitsfaktor auf den Weg bringen Es ist wichtig, denke ich, gemeinsam dafür zu sorgen, werden. dass es zu einer Akzeptanz der Rentenversicherung (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: kommt, und keine Horrorszenarien an die Wand zu ma- (D) Das warten wir mal ab!) len. Deshalb werden wir mit dem Nachhaltigkeitsfaktor auch eine so genannte Sicherungsklausel einführen. Es Der Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt die Lebens- wird nämlich nicht so sein, dass die Anwendung des erwartung, aber auch die Zahl der Rentnerinnen und Nachhaltigkeitsfaktors bei niedriger Lohnentwicklung Rentner sowie die Zahl der Beitragszahler. Die Zahl der und einer rückläufigen Zahl der Erwerbstätigen oder bei Beitragszahler hatten Sie in Ihrem Kalkül überhaupt anderen ungünstigen Faktoren zu einem Minus bei der nicht drin. Rente führen wird. Wir sorgen mit einer Bestimmung in § 68 dafür – ich denke, das ist ganz wichtig –, dass es (Zuruf von der FDP: Dann hätten Sie es doch durch Anwendung des Nachhaltigkeitsfaktors zu keiner vor fünf Jahren machen können!) Kürzung der Renten kommen kann. Von daher würde der demographische Faktor heute über- Lassen Sie mich auch noch etwas zur Diskussion um haupt nicht ausreichen. Erzählen Sie also nicht immer die Anhebung der Altersgrenzen sagen. Die Diskussion solche Märchen! um die Anhebung des Renteneintrittsalters findet ja (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht erst seit Bekanntwerden der Vorschläge der Rürup- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bzw. der Herzog-Kommission statt, sondern sie ist schon länger virulent. Sie alle wissen, der Anteil der Personen Herr Storm, Sie waren Mitglied der Herzog-Kommis- im erwerbsfähigen Alter an der Bevölkerung wird gerin- sion. Was hat denn die Herzog-Kommission gefordert? ger. Es muss deshalb in erster Linie darum gehen, das Die Herzog-Kommission hat doch im Grunde auch einen Potenzial der erwerbsfähigen Personen besser auszu- Nachhaltigkeitsfaktor gefordert, allerdings ohne Begren- schöpfen. Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote auf ein zung nach unten. Was Sie hier aufführen, ist, gelinde ge- Niveau, wie es bereits heute in den skandinavischen sagt, ebenfalls nicht glaubwürdig. Ländern vorherrscht, ist notwendig; das wird aber mei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner Meinung nach alleine nicht ausreichen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vor dem Hintergrund der jetzigen Arbeitsmarktsitua- Man könnte auch etwas ganz anderes dazu sagen. Es ist tion insbesondere für ältere Arbeitnehmerinnen und Ar- doch Verlogenheit, was hier zum Ausdruck kommt. beitnehmer macht es auch keinen Sinn, über eine Anhe- bung des allgemeinen Renteneintrittsalters zu diskutieren. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist unparla- mentarisch, Frau Kollegin!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 7292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Erika Lotz (A) Das würde niemand verstehen. Wir wissen ja auch nicht, Wolfgang Zöller (CDU/CSU): (C) ab wann sich die Arbeitsmarktsituation für Ältere bes- Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sert. Wir haben zwar die Rahmenbedingungen für die Kollegen! Frau Kollegin Lotz, sie werden verstehen, Erwerbsarbeit von älteren Arbeitnehmern verbessert, dass ich Ihren Vorwurf der Blockade nicht im Raum ste- aber die Unternehmen müssen dies jetzt annehmen. Da hen lassen kann. Wenn im Bereich der Rentensystematik dies ein gemeinsames Anliegen von uns ist, müssen wir jemand blockiert hat, dann war es Rot-Grün. dies auch gemeinsam den Unternehmen nachdrücklich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nahe bringen. Wir hatten mit Mehrheit im Deutschen Bundestag ein (Beifall bei der SPD) Rentenreformgesetz beschlossen. Sie haben dieses Ge- Wir sind uns, wie ich denke, ebenso einig, dass die setz damals zwei Jahre lang mit Ihrer Mehrheit im Bun- Möglichkeiten, vorzeitig in Rente zu gehen, abgebaut desrat verhindert und anschließend haben Sie dieses Re- werden müssen. Indem wir das frühestmögliche Eintritts- formgesetz aufgehoben. alter aufgrund von Arbeitslosigkeit oder im Rahmen von (Erika Lotz [SPD]: Nur Teile, Herr Zöller!) Altersteilzeit schrittweise von 60 auf 63 Lebensjahre an- heben, erschweren wir den Betrieben, über Vorruhe- Wenn Sie nur einmal kurz in die entsprechenden Proto- standsregelungen die Zahl der älteren Arbeitnehmer kolle sehen, dann werden Sie feststellen, wer blockiert ganz einfach abzubauen und die Belegschaften zulasten hat. der Rentenversicherungskassen zu verjüngen. Das kann Rente ist in großem Maße Vertrauenssache. Es ist nun nämlich nicht so weitergehen. leider eine Tatsache, dass dieses Vertrauen besonders Da man diesen Übergang nicht abrupt gestalten kann, durch Rot-Grün in den letzten zwei Jahren mehr als er- haben wir vernünftige Vertrauensschutzregelungen schüttert wurde. Das lag auch daran, dass man mit Zah- vorgesehen. Der ursprüngliche Referentenentwurf hatte len nicht ehrlich umgegangen ist und den Bürgern vor in diesem Bereich ja für einige Unruhe gesorgt. Wahlen nicht die tatsächlichen finanziellen Verhältnisse dargelegt hat. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der war schlicht- weg nicht rechtsstaatlich, Frau Kollegin!) Heute legen Sie einen Gesetzentwurf vor, in dem von nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der Renten- – Ach, Herr Kolb, sagen Sie doch so etwas nicht. versicherung die Rede ist. Die Überschrift des Gesetz- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man muss doch entwurfes suggeriert, dass dieses Gesetz, wie es jetzt auch einmal die Wahrheit sagen!) vorgelegt wird, nachhaltig sei. Nach der gängigen Defi- (B) nition dieses inflationär gebrauchten Begriffes der (D) Denken Sie einmal zurück, wie häufig Sie zu Ihrer Zeit Nachhaltigkeit muss das Gesetz nicht nur den Bedürf- rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln mit nissen der heutigen Generation entsprechen, sondern es blitzartigen Neuregelungen gegangen sind! darf auch die Möglichkeiten künftiger Generationen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich blicke nach nicht schmälern. vorne! Wer immer zurückblickt, läuft vor die Ich habe Zweifel, ob Ihr Gesetzentwurf dem gerecht Wand!) wird. Ich möchte dies an einigen Aspekten darstellen. Wir werden jetzt die Möglichkeit schaffen, damit die Durch die beabsichtigte Modifizierung der Rentenan- Leute disponieren können, dass diejenigen aus den Ge- passungsformel wollen Sie die Rentendynamik an der burtsjahrgängen 1951 oder früher, die bis zum Jahres- beitragspflichtigen Gehaltssumme ausrichten. Das Ver- ende zu Verträgen mit ihren Arbeitgebern kommen, zu hältnis von Rentnern und versicherungspflichtig Be- den alten Bedingungen mit den entsprechenden Abschlä- schäftigten soll rentendämpfend wirken. Das alles sind gen ausscheiden können. drastische Maßnahmen, die Sie den Rentnern aufbür- den. Dabei hätte – das können Sie nicht abstreiten – der demographische Faktor seine Wirkung entfalten kön- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen, sodass das Problem heute nicht in diesem Umfang Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten. bestehen würde. Jetzt muss Versäumtes umso schmerz- licher nachgeholt werden. Erika Lotz (SPD): Eine Rentendrosselung bei gleichzeitiger Deckelung Vor uns liegen Beratungen. Ich hoffe, dass wir ge- des Beitragssatzes bei zum Beispiel 22 Prozent wirft et- meinsam zu einer guten Regelung für die Rente sowie liche Fragen und Probleme auf, die in Ihrem Gesetzent- für die Rentnerinnen und Rentner kommen. wurf leider nicht gelöst werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Ein Beitragssatz von 22 Prozent mutet der DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: kommenden Generation von Beitragszahlern zunächst Wenn Sie sich helfen lassen, dann ja!) einmal mehr zu, als wir, die wir heute in das Rentensys- tem einzahlen, bereit sind zu zahlen. Ist das nachhaltig? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zweitens. Eine Rentendrosselung, die aus mehreren Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller, Faktoren resultiert – angefangen bei der Entwicklung des CDU/CSU-Fraktion. Arbeitsmarktes bis zur Entwicklung der Lebenserwartung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7293

Wolfgang Zöller (A) und des Altersvorsorgefaktors –, birgt das große Risiko notwendig sind. Weiterhin wird die Doppelbelastung, (C) eines freien Falls des Rentenniveaus. Ist das nachhaltig? die durch gleichzeitige Investitionen in Kinder und Al- terssicherungssysteme entsteht, in Kauf genommen. Drittens. Ihr Nachhaltigkeitsfaktor wird die Rentne- rinnen und Rentner für jede Form schlechter Arbeits- Diese Zusammenhänge haben schon längst dazu ge- markt- oder Wirtschaftspolitik faktisch in Mithaftung führt, dass unsere Gesellschaft gespalten wurde, dass Fa- nehmen. Ist das nachhaltig? milien und Frauen zu den Verlierern dieses Systems wur- den. Eine moderne Rentenpolitik muss deshalb auch Viertens. Durch das sinkende Rentenniveau entsteht hierauf eine Antwort geben und die bestehenden Be- eine gewisse Verunsicherung und umso weniger wird die nachteiligungen ausgleichen. private Altersvorsorge in Anspruch genommen. Wer schon heute von einem Beitragssatz in Höhe von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 22 Prozent spricht, muss natürlich auch berücksichtigen, dass sich viele junge Menschen die Frage stellen: Wie Unseres Erachtens muss deshalb die gesamte Sozial- kann ich meine zusätzliche Alterssicherung bei diesen politik mehr als bisher dem Umstand Rechnung tragen, hohen Beitragssätzen überhaupt finanzieren? dass Kinderlose weit größere Möglichkeiten zu Konsum und zusätzlicher Vorsorge haben als vergleichbare Ein- Meines Erachtens ist den Menschen nicht gedient, kommensbezieher mit Kindern. Eine Rentenreform, die wenn es nur in der Überschrift des Gesetzes eine nach- diesem unbestreitbaren Faktum mit keinem Wort Tribut haltige Sicherung gibt. Wir müssen mehr Aufrichtigkeit zollt, verdient eigentlich nicht das Urteil „nachhaltig“. beweisen. Ich bin froh, dass die Ministerin heute endlich einmal zugegeben hat, dass die gesetzliche Rente künftig Wer wieder Vertrauen in dieses System, in die Rente nicht mehr den Lebensstandard sichern kann. Entspre- aufbauen will, muss der Nachhaltigkeit mehr Gewicht chende Äußerungen von uns sind immer als unsozial ab- verleihen. Wir sind bereit, daran mitzuarbeiten. gestempelt worden. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Problem müssen wir alle gemeinsam sehen: Eine Rente, die einen Beitragssatz von über 20 Prozent hat Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und die bei über 40 Jahren Beitragsleistung eine Renten- Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin höhe zur Folge hat, die sich nicht signifikant von der So- Dr. Barbara Hendricks. zialhilfe unterscheidet, wird dazu führen, dass die Men- schen die Legitimationsfrage unseres Rentensystems in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den Vordergrund stellen. Deshalb ist dieses Problem mit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schönen Überschriften nicht zu lösen. (B) Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Bundesminister der Finanzen: Abgeordneten der FDP) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Wir haben völlig außer Acht gelassen, dass die demo- legen! Deutschland braucht ein zukunftsfähiges Alterssi- graphische Zeitbombe erst noch zündet. Wir tun so, als cherungssystem. Dazu gehört eine nachhaltige Regelung sei das demographische Problem schon jetzt das Pro- zur steuerlichen Behandlung der Altersvorsorge und der blem Nummer eins. Aber dies wird es, wie alle Wissen- Alterseinkünfte. Hierzu dient der vorliegende Koalitions- schaftler sagen, erst in einigen Jahren sein. Deshalb ver- entwurf eines Alterseinkünftegesetzes, der dem Regie- wundert es, dass in Ihrem Reformvorschlag nicht auf rungsentwurf entspricht. Familienkomponenten eingegangen wird. Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind Angesichts einer Umfrage in der letzten Woche, wo- zwar seit jeher steuerpflichtig – auch wenn viele Men- nach sich 79 Prozent der kinderlosen jungen Leute Kin- schen das nicht immer so wahrgenommen haben –, aber der wünschen, muss man sich die Frage stellen, warum sie werden nur teilweise, und zwar mit dem so genann- dieser Kinderwunsch nicht umgesetzt wird. Es kann ten Ertragsanteil, zur Einkommensteuer herangezogen. wohl mit den Rahmenbedingungen in unserem Land Demgegenüber müssen Beamten- und Werkspensionen nicht so richtig stimmen. in voller Höhe versteuert werden. (Erika Lotz [SPD]: Weil es keine Betreuungs- Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil möglichkeiten in Bayern gibt!) vom März des vergangenen Jahres entschieden, dass diese unterschiedliche steuerliche Behandlung nicht mit Wir müssen das Spannungsfeld „Kind-Kosten-Lohnaus- dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist, fall“ entschärfen. und hat daher den Gesetzgeber verpflichtet, spätestens (Erika Lotz [SPD]: Betreuung!) mit Wirkung zum 1. Januar 2005 eine verfassungskon- forme Neuregelung zu treffen. Dem dient der vorlie- Aber wir können nicht bei der Verbesserung der Rah- gende Gesetzentwurf. menbedingungen stehen bleiben. Die Familie muss ein Maßstab für gerechte Sozialreformen sein. Wer die fami- Die Bundesregierung hat daraufhin eine Sachverstän- lienpolitische Dimension der Rentenreform übersieht, digenkommission eingesetzt, deren Vorschläge in dem greift massiv in die Familienplanung ein. Denn er er- Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes aufgegangen sind, weckt die falsche Vorstellung, dass Kinder zur Finanzie- worüber wir heute in erster Lesung beraten. Im Ergebnis rung der eigenen Alterssicherung eigentlich gar nicht soll eine systematisch schlüssige und folgerichtige 7294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Al- Pensionären. Erst nach einem sehr langen Übergang (C) tersbezügen erreicht werden. Das wird auf jeden Fall ge- wird es zu einer Gleichbehandlung kommen, wie sie das samtwirtschaftlich vorteilhaft sein. Es ist gewiss auch so- Bundesverfassungsgericht uns vorgeschrieben hat. zial tragfähig. Das Besteuerungssystem soll dadurch auch transparenter und einfacher werden. Es entspricht Durchschnittsrenten bleiben auch künftig steuerunbe- übrigens vom Prinzip her den Vorschlägen, die Ihr stell- lastet. Das gilt auch dann, wenn eine normale Betriebs- vertretender Fraktionsvorsitzender zu rente hinzukommt. diesem Themenkreis gemacht hat. Eine steuerliche Mehrbelastung wird überwiegend Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist der schrittweise nur in den Fällen entstehen, in denen neben der Rente Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Alters- noch andere nennenswerte Einkünfte aus Werkspensio- einkünften mit dem Kernelement des steuerlichen Ab- nen, aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalver- zugs von Altersvorsorgebeiträgen bei den aktiv Erwerbs- mögen oder von noch erwerbstätigen Ehepartnern hinzu- tätigen. Für die im Erwerbsleben stehenden Bürgerinnen kommen. In diesen Fällen ist die Rente übrigens oft als und Bürger bietet die Überleitung auf das nachgelagerte Nebeneinkommen anzusehen. Verfahren die Chance, das Altersvorsorgeniveau länger- Die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten zuguns- fristig noch zu verbessern. ten der Rentenempfänger sind aus verfassungsrechtli- Durch die schrittweise ansteigende steuerliche Be- cher Sicht durch den vorgelegten Gesetzentwurf ausge- rücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen – also schöpft. Deshalb ist der Übergang so langfristig durch positive Berücksichtigung – erweitert sich der angelegt. Es bleibt – ich sagte es eben schon – bei einer Spielraum für die Zukunftsvorsorge. Da die Steuersätze Ungleichbehandlung, die erst langfristig aufgehoben in der aktiven Lebensphase typischerweise höher als im wird. Eine weiter gehende und länger fortgesetzte Privi- Alter sind, führt der Übergang auf das nachgelagerte legierung von Rentenempfängern gegenüber den noch Verfahren unter dem Strich zu einer Entlastung für die aktiv Erwerbstätigen wäre verfassungsrechtlich kaum Steuerzahler. noch vertretbar. Es besteht aber auch für die Rentner keinerlei Grund Ich möchte Ihnen nun kurz die wichtigsten Elemente zu Befürchtungen. Die große Masse der Rentner muss des Gesetzentwurfes darstellen. auch in Zukunft keine Steuern auf die Rente zahlen. Erstens: schrittweiser Übergang zur nachgelagerten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Besteuerung von Leibrenten. Die Altersvorsorgebeiträge des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Erika in der aktiven Zeit werden also steuerentlastet und die (B) Lotz [SPD]: Das ist doch ein Wort!) darauf beruhenden Renten in der nicht mehr aktiven Zeit (D) werden besteuert. Insgesamt gibt es 14,2 Millionen Steuerpflichtige mit Rentenbezügen. Die Zahl von 14,2 Millionen ergibt Und zweitens: beschränkte Abziehbarkeit der Beiträge sich, weil Rentnerehepaare als ein Steuerpflichtiger ge- zur Leibrentenversicherung. Sie wird folgendermaßen zählt werden; es gibt in der Bundesrepublik, wie Sie ausgestaltet sein: Beiträge zu Leibrentenversicherungen wissen, circa 19 Millionen Rentner. Drei Viertel der sind als Sonderausgaben beschränkt abziehbar. Dafür steuerpflichtigen Rentenbezieher werden auch nach müssen die erworbenen Anwartschaften nicht beleihbar, neuem Recht nicht steuerbelastet. Rund 3,3 Millionen nicht vererbbar, nicht veräußerbar, nicht übertragbar und steuerpflichtige Rentenempfänger – das sind 23 Prozent nicht kapitalisierbar sein. Diese Regelung haben nicht aller derzeitigen Rentenempfänger – werden nach dem wir erfunden, sondern sie gilt schon für die gesetzliche neuen Steuerrecht steuerbelastet sein. Nach geltendem Rentenversicherung und die berufsständischen Versor- Recht sind bereits 2 Millionen Rentner steuerbelastet. gungen, so wie sie heute ausgestaltet sind, und für neu Es stimmt, was Frau Kollegin Bender eben gesagt hat: zu entwickelnde private kapitalgedeckte Leibrentenver- 1,3 Millionen Rentner werden zusätzlich steuerbelastet sicherungen. sein. Beim Sonderausgabenabzug gilt für alle Steuerpflich- Nach dem Gesetzentwurf werden die Rentenbezüge tigen ein einheitlicher Höchstbetrag, der im Jahre 2025, bei den Alleinstehenden unter den so genannten Be- in der Endstufe, 20 000 Euro beträgt. Das ermöglicht standsrentnern – das sind diejenigen, die schon heute eine angemessene steuerlich geförderte Altersvorsorge Rentenbezieher sind – und den so genannten Neufällen auch außerhalb der gesetzlichen Pflichtversicherungs- des Jahres 2005 bis zu einer Höhe von rund 18 900 Euro systeme. pro Jahr – das sind 1 575 Euro pro Monat – weiterhin Die geleisteten Altersvorsorgebeiträge, also die Ar- steuerlich nicht belastet, wenn neben der Rente keine an- beitnehmer- und die Arbeitgeberbeiträge, werden ab deren Einkünfte vorliegen. Dies bezieht sich auf Allein- dem Jahr 2005, beginnend mit einem Prozentsatz von stehende; für Verheiratete gelten natürlich entsprechend 60 Prozent, jährlich um 2 Punkte ansteigend, abziehbar höhere Beträge. sein. Zur Vermeidung von Schlechterstellungen bleibt Bei alleinstehenden Beamtenpensionären beginnt die der Abzug von Vorsorgeaufwendungen nach bisherigem Steuerbelastung übrigens bei jährlichen Versorgungsbe- Recht jedenfalls für einen Übergangszeitraum gewähr- zügen von rund 12 900 Euro. Es gibt also zu Beginn im- leistet. Er wird durch eine automatische Günstigerprü- mer noch eine Ungleichbehandlung von Rentnern und fung im Besteuerungsverfahren sichergestellt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7295

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Im Jahr 2025 werden Altersvorsorgebeiträge in vollem Ich möchte jedenfalls bereits hier Zweifel anmelden, ob (C) Umfang, also dann zu 100 Prozent, von der Steuer ab- die vorgesehene Gleichbehandlung von Alterseinkünften ziehbar sein. aus unselbstständiger Tätigkeit mit jenen aus selbst- ständiger Tätigkeit tatsächlich der geeignete Weg ist. Leibrenten, die auf abziehbaren Altersvorsorgebeiträ- Es ist ja fraglich, ob es fair ist, wenn Ungleiches gleich gen beruhen, werden ab dem Jahre 2005 einheitlich besteuert wird. Wir jedenfalls halten schon einmal fest, – auch bei Selbstständigen – zu 50 Prozent der Besteue- dass es gelingen muss, dass keine verfassungsrechtli- rung unterliegen. Dies gilt für alle Bestandsrenten und chen Bedenken an diesem Entwurf angemeldet werden die in diesem Jahr erstmals gezahlten Renten. Der steu- können, weil es zu einer Doppelbesteuerung kommen erbare Anteil der Rente wird für jeden neu hinzukom- könnte. menden Rentnerjahrgang bis zum Jahr 2040 in Schritten angehoben. Erst bei Personen, die im Jahre 2040 in Zum anderen wird mit dem Übergang zur nachgela- Rente gehen, wird die Rente zu 100 Prozent besteuert. gerten Besteuerung eine Weichenstellung zur langfristi- Der steuerbare Anteil der Rente wird für jeden neu gen Stabilisierung der Anzahl der Steuerzahler bei der direkten Besteuerung erreicht, selbst wenn das Aufkom- hinzukommenden Rentnerjahrgang bis zum Jahre 2020 mensniveau dadurch abgesenkt werden könnte. Aber es in Schritten von 2 Prozent auf 80 Prozent und anschlie- ßend in Schritten von 1 Prozent bis zum Jahre 2040 auf ist natürlich wichtig, dass sich möglichst viele Bürgerin- nen und Bürger an dieser Besteuerung beteiligen. Denn 100 Prozent angehoben. dann haben alle Wählerinnen und Wähler auch ein Inte- Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist nicht die resse daran, dass es zu einer insgesamt erträglichen Be- Gelegenheit, auf alle Einzelheiten des Gesetzentwurfes steuerung kommt, einzugehen. Dazu wird es sicherlich in den Ausschüssen vertiefte Gelegenheit geben. Die Bürgerinnen und Bür- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig!) ger können sich jedenfalls darauf verlassen: Das Gesetz und damit wird die Bereitschaft der Menschen insgesamt führt zu deutlichen Mindereinnahmen für den Gesamt- groß, zu niedrigen und, wie ich hoffe, dann auch einfa- haushalt. Anders ausgedrückt: Es verbleibt Geld bei den chen Steuern zu kommen. Bürgerinnen und Bürgern. Das Gesetz entspricht den Anforderungen des Bun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten desverfassungsgerichts. Es sorgt für Gleichbehandlung der CDU/CSU) von Rentnern und Pensionären und es sorgt für Gleich- Indem mit diesem Entwurf schließlich der Versuch behandlung der Aktiven und der nicht mehr Aktiven. unternommen wird, bei der so genannten Riester-Rente (B) Ganz wichtig ist: Die aktiv Beschäftigten erhalten mehr zu der für eine breitere Akzeptanz notwendigen Verein- (D) Spielraum zu weiterer privater Vorsorge. fachung zu gelangen, versucht Rot-Grün endlich, einen Ich hoffe, wir können dieses Gesetz in diesem Hause weiteren gravierenden Fehler der bisherigen Regierungs- mit großem Einvernehmen verabschieden, weil es der arbeit zu korrigieren. In Wahrheit, meine Damen und steuerpolitischen Linie von uns allen entspricht. Ich Herren, sind Sie bei der Riester-Rente bisher zu kurz ge- denke, dies wird möglich sein. Ich glaube, dass es sich sprungen und haben sich im Bürokratiedickicht verhed- sehr gut in eine gesamte Nachhaltigkeitsstrategie ein- dert. Dies muss jetzt grundlegend in Ordnung gebracht passt. Die Hauptaufgabe, die vor uns liegt, ist es, die Ak- werden. tiven in den Stand zu versetzen, auch selbst für ihren Le- Hierzu ist es erstens notwendig, eine grundlegende bensabend vorzusorgen und gleichzeitig auch für ihre Vereinfachung und Entbürokratisierung des Förderver- Familien zu sorgen. fahrens sicherzustellen und zweitens ein schnelles Vor- Herzlichen Dank. ziehen und eine Dynamisierung des förderfähigen Höchstbetrages sowie die Öffnung der privaten Alters- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorsorge für alle einkommensteuerpflichtigen Bevölke- DIE GRÜNEN) rungsgruppen vorzusehen. Schließlich muss die Herstel- lung des Vertrauensschutzes im Bereich der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Altersvorsorge dadurch sichergestellt werden, dass man Das Wort hat der Kollege Professor Andreas mit dieser Reform – gerade bei der Riester-Rente, also Pinkwart, FDP-Fraktion. der Kapitaldeckung – nicht erneut zu kurz springt, wie es der Entwurf zunächst vermuten lässt. Vielmehr müs- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): sen wir an dieser Stelle durch eine echte kapitalgedeckte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Vorsorgesäule zu einer grundlegenden Verbesserung Herren! Mit dem Übergang zur nachgelagerten Besteue- kommen. rung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezü- (Beifall bei der FDP) gen wird zum einen die steuerliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Altersvorsorgewege angestrebt. Schließlich möchte ich für meine Fraktion anmerken, Ob dies mit dem vorliegenden Entwurf in hinreichendem dass die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte Maße gelingt, wird sich in den weiteren Beratungen, eigentlich das Einfallstor sein sollte, um im kommenden auch in der Anhörung des Finanzausschusses, noch er- Jahr nicht nur an dieser Stelle, sondern beim gesamten weisen müssen. Steuerrecht zu einer grundlegenden Vereinfachung und 7296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dr. Andreas Pinkwart (A) Steuersenkung zu kommen. Die FDP-Fraktion hat hierzu Modelle müssen erstens der Tatsache Rechnung tragen, (C) einen umfassenden Entwurf vorgelegt. dass besonders belastete Beschäftigte aus gesundheitli- chen Gründen vorzeitig aus dem Berufsleben ausschei- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) den. Zweitens wissen wir doch alle, dass heutige Er- Die Regierung hatte angekündigt, auch sie wolle dem werbslebensläufe nicht mehr so wie früher sind. Diese Parlament noch Vorschläge zur Steuervereinfachung Modelle müssen den heutigen Erwerbslebensläufen also vorlegen. Hier ist sie in der Pflicht, ihren Beitrag zu leis- stärker gerecht werden. ten. Aus unserer Sicht wäre es dabei insbesondere wich- Die Einführung eines Mindestsockels in der gesetzli- tig, dass in Deutschland endlich Kinder mit Erwachse- chen Rentenversicherung kann zur Verhinderung von nen steuerrechtlich gleichgestellt würden. Denn das Altersarmut beitragen. Dazu schlagen wir von der PDS wäre eine entscheidende Voraussetzung dafür, auf dem ein Modell vor, das für Geringverdienende eine Rente Gebiet der Familienförderung und damit bei der Siche- mit Grundbetrag vorsieht. Ziel soll sein, dass diese rung unserer Alterssicherungssysteme zu der gebotenen Menschen für eine langjährige Versicherungszeit trotz Nachhaltigkeit zu kommen. niedriger eingezahlter Beiträge einen existenzsichernden Herzlichen Dank. Grundbetrag aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten. Wer mindestens 30 Jahre lang in die gesetzliche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rentenversicherung eingezahlt und sich in dieser Zeit der CDU/CSU) mindestens 15 Entgeltpunkte erarbeitet hat, müsste aus unserer Sicht eine Rente erhalten, die mindestens 30 Entgeltpunkten entspricht. Damit würde man errei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen, dass die Rentner weitgehend unabhängig von der Das Wort hat die Kollegin Gesine Lötzsch. Sozialhilfe werden. Denn es kann doch nicht sein, dass jemand sein Leben lang gearbeitet und eingezahlt hat und im Alter zum Sozialamt gehen muss! Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Es sind in der jüngeren Vergangenheit auf den Gebie- Sie wollen einen Nachhaltigkeitsfaktor in die Renten- ten der Alterssicherung von Frauen und der Familienar- versicherung einführen. Was Sie als Nachhaltigkeitsfak- beit zwar Verbesserungen erreicht worden – das ist in tor bezeichnen, ist aber schlicht ein Rentenkürzungsfak- dieser Debatte schon gesagt worden –, diese halten wir tor. Ich finde, Sie sollten die Dinge beim Namen nennen. aber nicht für ausreichend. Wir als PDS setzen uns für (B) Es geht um Rentenkürzungen für alle: für die, die schon die Anerkennung einer Kindererziehungszeit von drei (D) eine Rente bekommen, und für die, die heute noch arbei- Jahren für jedes Kind ein. Dies muss auch für die vor ten oder arbeitslos sind. Das ist weder sozial noch ge- dem 1. Januar 1992 geborenen Kinder gelten. Die Zeiten recht. für Kindererziehung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit von Frauen – das gilt auch für Männer; denn auch Män- Ich werde Ihnen ganz kurz erläutern, was die PDS auf ner nehmen Erziehungszeiten in Anspruch – müssen dem Gebiet der Rente vorschlägt. Wir wollen eine besser angerechnet werden. Erwerbstätigenversicherung, das heißt eine Rente von allen für alle. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen damit kurz und bündig das Rentenkonzept der PDS dargestellt. Es (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) ist sozial und solidarisch. Wir wollen eine Rente von al- Beamte, Abgeordnete, Freiberufler und Selbstständige len für alle. Wenn Sie unsere Empfehlungen in Ihren Ge- sollen in die Rentenkasse einzahlen. Damit wird die soli- setzentwurf aufnehmen würden, dann wäre das ein darische Basis für die Rentenversicherung erweitert. Schritt zur Verbesserung Ihrer Vorschläge. Wir wollen eine Anhebung der Beitragsbemessungs- Vielen Dank. grenze. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Außerdem schlagen wir als PDS vor, den Arbeitgeber- beitrag zu den Sozialversicherungen von der Lohn- summe auf die Bruttowertschöpfung umzustellen. Da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit könnte man erreichen, dass der Abbau von Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU- Arbeitsplätzen nicht länger belohnt wird. Wir wollen die Fraktion. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Grundlage der Berechnungen machen und dazu beitragen, dass Arbeits- Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): plätze erhalten bleiben. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Die PDS lehnt die Erhöhung des Renteneintrittsalters Herren! Ich möchte in meiner Rede einige Aspekte mei- ab. Die im Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehene Anhebung ner Vorrednerinnen und Vorredner aufnehmen. Das Ge- des frühestmöglichen Renteneintrittsalters auf 63 Jahre setz, das wir heute behandeln, ist ein Fehlerkorrekturge- und die sehr engen Vertrauensschutzregelungen sind setz von Rot-Grün. Nach Jahren der Irrungen und keine akzeptable Lösung. Stattdessen schlagen wir vor, Wirrungen in der Rentenpolitik, in denen wir einer Ka- Modelle für flexible Altersgrenzen zu entwickeln. Diese nonade von Rentengesetzen ausgesetzt waren – diese Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7297

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) haben die Rentnerinnen und Rentner, die Beitragszahler (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: (C) und die Steuerzahler schlechter gestellt –, Das genügt nicht!) (Erika Lotz [SPD]: Lieber Himmel, das war Ihr eigenes Finanzministerium hat zum Ziel, dass mit die- bei euch doch auch so!) sem Gesetz verfolgt wird, mit entwaffnender Offenheit erleben wir nun den Versuch, gravierende Irrtümer zu gesagt: Sachlich zusammenhängende Kriterien werden beseitigen. Ich gestehe Ihnen zu, dass mit dem Gesetz- zusammengefasst; auf Anforderungen, die an anderer entwurf, den Sie vorgelegt haben, die Chance besteht, Stelle hinreichend geregelt sind, wird verzichtet. Das ist dass Sie nach fünf Jahren das eine oder andere richtig keine Entbürokratisierung, das ist doch nur eine Verkür- machen. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass Sie wieder zung des Gesetzestextes. gravierende Fehler machen, ist größer. (Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jedenfalls dann, Das ist auch schon mal was wert!) wenn sie es ohne uns machen!) Es reicht nicht aus, von elf auf fünf Kriterien herun- Ich möchte mit dem Titel Ihres Gesetzentwurfs begin- terzugehen. Bisher haben Sie keine Vereinfachungen er- nen, Frau Schmidt. Sie nennen es Rentenversicherungs- zielt. Frau Schmidt, wenn man Ihnen etwas Positives zu- Nachhaltigkeitsgesetz. Da darin allerdings noch nicht gestehen will, dann kann man sagen, dass vielleicht eine einmal eine Familienkomponente vorgesehen ist, ver- Vereinfachung intendiert ist. dient es diesen Namen nicht. (Peter Dreßen [SPD]: Wollen Sie den Vertrau- (Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz ensschutz ganz abschaffen? – Erika Lotz [SPD]: [SPD]: Sie wollen das wieder zulasten der Bei- Sie müssen sich nicht genieren, wenn Sie et- tragszahler machen! Weitere Irrungen und was Gutes sagen wollen!) Wirrungen setzen sich fort! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr müsst mal Wir halten Ihnen noch einmal entgegen, Frau Lotz: sagen, wie ihr das finanzieren wollt! Wir ha- Wir wollen nur zwei Kriterien, nämlich Langfristigkeit ben hier doch keine Füllhörner!) und Sicherheit; das reicht. Im Übrigen wollen wir Wahl- freiheit, Anlagefreiheit und Entscheidungsfreiheit für Um den Generationenvertrag überhaupt fortsetzen zu den Einzelnen, der für sein Alter vorsorgen will. können, ist es am wichtigsten, dass es auch Folgegenera- tionen gibt. Wenn diese partiell ausbleiben, dann liegt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Freiheit!) das unter anderem an der unzureichenden Familienför- Das ist die freiheitliche Alternative. derung. (B) (D) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Peter Dreßen [SPD]: Die hat er Finanzierungskonzepte, kein Wunschzettel, doch jetzt schon!) auch wenn bald Weihnachten ist!) Sie kommen von diesem Bürokratiemonstrum einfach Es ist zwingend notwendig, dass es für Erziehung mehr nicht weg. Rente gibt und dass Erziehende niedrigere Beiträge zah- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len müssen. Jedes Nachhaltigkeitsgesetz zur Rente, das NEN]: Wer zahlt es euch?) diesem Anspruch nicht genügt, ist nichts wert. Ich komme nun zur veränderten Rentenformel. Ihre (Beifall bei der CDU/CSU) jetzige Konstruktion ist sehr kompliziert. Es gibt zwei Als weiteren Aspekt möchte ich die Riester-Rente Faktoren: den weiter wirkenden Riester-Faktor und ei- ansprechen; wie der Kollege Storm nenne ich sie lieber nen Rentendämpfungsfaktor. Der neue Nachhaltigkeits- kapitalgedeckte Förderrente. Sie wurde von Ihnen über faktor, der ummodellierte blümsche Rentenfaktor, den den grünen Klee gelobt, obwohl Sie wussten, dass Hun- Sie einmal als unanständig bezeichnet und aus der Ren- derttausende von Verträgen gekündigt wurden. Vor dem tenformel herausgeschmissen haben, soll jetzt wieder- Hintergrund des heute eingebrachten Gesetzentwurfs lo- kehren. Welcher normale Mensch in Deutschland soll ben Sie nun die Entbürokratisierung der Riester-Rente, diese komplizierte Mechanik, diese komplizierte Ren- die Sie sich vorgenommen haben. Das haben wir Ihnen tenformel begreifen? doch jahrelang vorgehalten. ( [FDP]: Professoren!) Ich muss sagen: Das Risiko, dass Sie bei dieser wün- schenswerten Entbürokratisierung der Riester-Rente Wir werden uns die Auswirkungen der Dopplung dieser wieder auf halbem Wege stehen bleiben, ist sehr groß. beiden Dämpfungs- und Bremsfaktoren auf die Renten genau anschauen. Ich bekräftige das, was der Kollege (Erika Lotz [SPD]: Ihr hattet euch gar nicht Zöller eben gesagt hat: Nach lebenslangem Beitragszah- auf den Weg begeben!) len darf und kann die Rente im Alter der Sozialhilfe Die Kreditwirtschaft, die Fachwelt, spricht von einer rei- nicht zum Verwechseln ähnlich sein. nen Augenwischerei. Die Reduzierung der Zertifizie- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber es ist doch rungskriterien für die Riester-Rente sei lediglich eine re- nun einmal so, Herr Weiß! Es wird auch nicht daktionelle Neustrukturierung und laufe ins Leere, sagt mehr besser werden!) der Zentrale Kreditausschuss. Das ist inhaltlich keine wirkliche Verbesserung. Das wäre weder leistungs- noch lastengerecht. 7298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) Wir werden an diesem Gesetzeswerk konstruktiv mit- ist doch eine Diskreditierung der von uns allen gemein- (C) arbeiten. Manches hat positive Ansätze, manches führt sam eingeschlagenen Richtung. nicht weiter und manches führt in die Irre. Gehen wir an die Arbeit! Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Riester- Rente ein völlig neues Produkt gewesen ist. Sich für die Danke. Riester-Rente zu entscheiden setzt die Entscheidung vor- aus, sich für viele Jahre zu binden. Viele Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diesem Lande sind aber schon in der Vergangenheit im neten der FDP) Bereich der Vermögensbildung und im Bereich der Im- mobilien Bindungen eingegangen. Man muss also in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kauf nehmen, dass es vielleicht einige Jahre dauert, bis Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPD- die Riester-Rente einen wesentlich höheren Anteil von Fraktion. Menschen in diesem Lande erreicht als bisher. Es hilft den Menschen nicht, wenn Sie diese Form der Horst Schild (SPD): privaten Altersvorsorge weiterhin diskreditieren; Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Herr Kollege Weiß, zumindest das Letzte stimmt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versöhnlich, nämlich die Bereitschaft zur konstruktiven des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zusammenarbeit. denn damit treffen Sie nicht in erster Linie uns, sondern (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir müssen euch Sie verunsichern Millionen von Menschen, die vor der ja helfen! Alleine schafft ihr es ja nicht!) Frage stehen, ob sie private Altersvorsorge betreiben und sich engagieren sollen. – Nein. Eines lassen Sie mich aber auch einmal deutlich sa- (Erika Lotz [SPD]: Verantwortungslos! – gen. Einen Gesetzentwurf zu diskreditieren, weil der Peter Dreßen [SPD]: Das wollen die doch gar Zentrale Kreditausschuss an der Fassung der Zertifizie- nicht!) rungskriterien Kritik übt, ist für uns kein Maßstab. Wir Wir haben Verständnis dafür gehabt, dass Sie damals vor nehmen so etwas durchaus ernst und werden das auch der Bundestagswahl gesagt haben: Wenn wir an die Re- beachten, gierung kommen, werden wir das alles ändern. Nun sind (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann machen Sie Sie nicht an die Regierung gekommen. Ich hoffe, Sie mal so weiter!) sind jetzt bereit, in dieser Frage konstruktiv mit uns zu- (B) sammenzuarbeiten. (D) aber die Kreditwirtschaft hat nun wirklich ein anderes Interesse an der Riester-Rente als diejenigen, die im Al- Lassen Sie mich noch kurz darauf eingehen, was wir ter darauf bauen müssen, dass sie neben der gesetzlichen mit dem Alterseinkünftegesetz erreichen wollen. Wir Rente noch eine zusätzliche kapitalgedeckte Einkom- wollen die Einführung der nachgelagerten Besteue- mensart haben. rung, und zwar für nahezu alle Alterseinkünfte. In die- sem Punkt waren wir uns in der Vergangenheit weitest- (Beifall bei der SPD) gehend einig. Ich hoffe, dass wir im Laufe des Das muss nicht mit den Vorstellungen des Zentralen Gesetzgebungsverfahrens feststellen, dass das auch trag- Kreditausschusses identisch sein; der denkt eher an die fähig ist; denn wir wollen das gerne gemeinsam machen in seinem Bereich organisierten Banken sowie Kredit- und wir müssen das gemeinsam machen. Das ist auch im und Investmentinstitute. Interesse der Menschen, die sich darauf verlassen kön- nen müssen, wenn sie zukünftig privat und betrieblich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vorsorgen. Erlauben Sie mir noch einen zweiten Hinweis. Herr Damit bin ich beim zweiten Punkt. Wir wollen die be- Kollege Storm, Sie haben heute – wie schon häufig in triebliche Altersvorsorge stärken. Die betriebliche Al- der Vergangenheit – Ihren Beitrag wieder damit begon- tersvorsorge ist seit der Verabschiedung des Altersver- nen, die Riester-Rente zu diskreditieren. mögensgesetzes eine Erfolgsstory; das ist unbestritten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Erfolg ist sie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie reden sich da wirklich nicht, dass muss man sagen!) was ein!) Ich gebe zu, Herr Kollege Kolb, auch wir haben biswei- Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist so len Erwartungen gehabt, die über das, was bislang vor- viel für die betriebliche Altersvorsorge getan worden liegt, hinausgehen; das ist völlig unbestritten. Aber zu wie seit der Verabschiedung des Altersvermögensgeset- sagen, es sei kein wesentlicher Schritt nach vorn, wenn zes. vier bis fünf Millionen Verträge im Bereich der privaten Altersvorsorge abgeschlossen worden sind, (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (Erika Lotz [SPD]: Unverschämt! – Andreas – Die betriebliche Altersvorsorge, Herr Kolb, ist doch Storm [CDU/CSU]: Es gibt aber 35 Millionen nun wirklich nachvollziehbar und auch relativ einfach. Berechtigte!) Wir haben im Übrigen nur zusätzliche Vereinfachungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7299

Horst Schild (A) in die betriebliche Altersvorsorge hineingebracht, keine darauf achten müssen. Bei der Frage der steuerlichen (C) Erschwernisse. Behandlung von Alterseinkünften haben wir eine Rege- lung gefunden, die dem Einkommensteuerrecht folgt. Je- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das will ja schon der Euro, der dafür zusätzlich ausgegeben werden muss, etwas heißen bei Ihnen!) muss von den Ländern und Kommunen mitgetragen – Das will nichts heißen, das ist so. Sie sollten das ein- werden. mal zur Kenntnis nehmen. Ich will eines deutlich machen: Die damalige Präsi- Über die Vereinfachung der Förderung der privaten dentin des Bundesverfassungsgerichts, Frau Limbach, Altersvorsorge haben wir gesprochen. Wir gehen im hat seinerzeit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für Übrigen – lassen Sie mich das deutlich sagen – weit über Rentner kein Anlass zu Angst oder Aufruhr bestehe. das hinaus, was uns das Bundesverfassungsgericht am Niedrige und mittlere Renten würden auch zukünftig 6. März letzten Jahres auferlegt hat. nicht belastet. Das gilt auch für unseren Gesetzentwurf. Wir alle haben uns – das darf man zugestehen – in der Bestandsrenten und Neufälle im Jahr 2005 – Frau Staats- Vergangenheit schwer getan. Wir wussten seit dem ers- sekretärin hat dies vorhin schon angesprochen – sind bis ten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu diesem zu einer Größenordnung von 19 000 Euro bei Alleinste- Thema im Jahre 1980, dass der Gesetzgeber handeln henden und von 38 000 Euro bei Verheirateten steuer- muss. frei. Das heißt, Durchschnittsrenten, zu denen noch durchschnittliche Betriebsrenten hinzukommen, bleiben (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) auch zukünftig steuerfrei. Wir alle haben uns davor gedrückt. Ich hoffe, dass wir uns im Laufe des Verfahrens – aus (Erika Lotz [SPD]: 16 Jahre! – Gegenruf des Ihren Reihen gibt es einige positive Signale; das verken- Abg. Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: nen wir nicht – darauf einigen, zum 1. Januar 2005 eine Fünf Jahre!) den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht- werdende Lösung zu finden. Man darf der Fairness halber sagen: Auch die CDU/CSU hat in ihren Petersberger Beschlüssen einen Versuch ge- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. startet, in die 50-prozentige Besteuerung einzusteigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das mag vielleicht – das sage ich in aller Deutlichkeit – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vor Jahren noch gereicht haben, um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen. (B) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber das war Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) doch der richtige Weg!) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. Heute aber würde das nicht mehr ausreichen, um dem Buchstaben des Urteils Rechnung zu tragen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir gehen also deutlich weiter. Wir wollen im Zuge des Verfahrens – wir gehen davon aus, dass dieser Ge- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): setzentwurf das hergibt – den Anforderungen des Bun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und desverfassungsgerichts Rechnung tragen. Herr Kollege Kollegen! Über die andauernde Rentendiskussion sind Pinkwart, Sie haben vorhin gesagt, man dürfe Gleiches die Menschen zutiefst beunruhigt. Sie fragen sich nicht nicht mit Ungleichem vergleichen. Ich rate Ihnen: nur: Wie sicher ist meine Rente? Sie wollen auch wis- Schauen Sie sich das Urteil noch einmal an! Da Sie Ju- sen: Was bleibt in Zukunft nach Abzug der Steuern noch rist sind und davon mehr verstehen als ich, werden Sie übrig? Diese Rentendiskussion verfolgen viele Men- erkennen: Das Bundesverfassungsgericht hat auf die schen – nicht nur Rentner –, auch sehr viele junge Leute. Einkünfte im Alter und das Prinzip der Leistungsfähig- Sie fragen sich: Was kann ich heute für meine zukünftige keit abgehoben. Natürlich müssen wir berücksichtigen, Rente zurücklegen, und zwar steuerfrei? Auf der ande- dass die Doppelbesteuerung, die uns das Bundesverfas- ren Seite will natürlich jeder wissen: Was bleibt mir sungsgericht mit Recht untersagt, vermieden wird. Das netto von der Altersrente übrig? greifen wir gerne auf. Im Zuge des weiteren Verfahrens werden wir dieses Ziel im Auge behalten. Ich gehe da- Das Interesse ist deshalb so hoch, weil nach dem von aus, dass dies ein zentraler Gegenstand der öffent- vorliegenden Gesetzentwurf – Frau Bender hat darauf lichen Anhörung sein wird. hingewiesen – in Zukunft immerhin zusätzlich 1,3 Mil- Hier sind Forderungen erhoben worden, man möge lionen Menschen Steuern zahlen müssen. Sie haben dieses und jenes noch einbeziehen. Dafür haben wir Ver- allerdings nicht erwähnt, Frau Bender, dass danach ständnis. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns 2 Millionen Rentner mehr Steuern als bisher zahlen auch vor dem Hintergrund der finanziellen Auswirkun- müssen. Das sollten Sie den Bürgern deutlich machen. gen auf den Haushalt ausdrücklich zugestanden, die (Beifall bei der CDU/CSU) Übergangsregelung langfristig über mindestens eine Ge- neration Schritt für Schritt umzusetzen. Jeder, der hier in Sie haben heute ein neues Besteuerungskonzept für Berlin oder in einem Land Verantwortung trägt, wird die Rente vorgelegt. Allerdings ist Ihr Entwurf nicht 7300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Klaus-Peter Flosbach (A) geeignet, um den Bürgern klar, transparent und verständ- Die nachgelagerte Besteuerung von Renten ist sys- (C) lich aufzuzeigen, was auf sie zukommt. tematisch und richtig. Es ist ein vernünftiger Grundsatz, dass alle Einkünfte nur einmal versteuert werden müs- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das wäre ja mal sen. Diese nachgelagerte Besteuerung wird also auch etwas Neues!) von uns unterstützt, vorausgesetzt, dass auf der Gegen- Gerade für die Rentner ist die Rentenhöhe und die steu- seite die Beiträge für die Altersversorgung nicht aus be- erliche Verlässlichkeit besonders wichtig. Aus Gründen reits versteuertem Einkommen bezahlt werden müssen. des Vertrauensschutzes können im Bereich der Alterver- Herr Professor Pinkwart, Sie haben bereits darauf hinge- sorgung nicht ständig beliebig neue Änderungen einge- wiesen. führt werden, wie Sie es bei der Riester-Rente gemacht Da ist das erste Problem. Ab 2005 sollen alle Be- haben. stands- und Neurenten zu 50 Prozent der Besteuerung (Peter Dreßen [SPD]: Was reden Sie da?) unterworfen werden. Das gilt für alle Rentner, auch für Selbstständige. Wir können uns kein zweites Riester-Modell mehr leisten. Von dem ersten Modell sind die Menschen zu- (Horst Schild [SPD]: Das hatten Sie auch in tiefst enttäuscht. den Petersberger Beschlüssen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Schild Anschließend steigt die Besteuerung, bis sie in 15 Jahren [SPD]: Das Riester-Modell ist ein Förder- 80 Prozent erreicht hat. Die Begründung, dass 50 Pro- modell und kein Steuermodell!) zent der Beiträge durch den steuerfreien Arbeitgeberan- teil finanziert worden seien, mag richtig sein. Das trifft Herr Schild, die jetzt vorliegenden Änderungen der für Angestellte zu. Aber bei den so genannten freiwillig Riester-Rente beweisen doch, dass Ihr Modell restlos Pflichtversicherten oder bei denjenigen, die in einem misslungen ist. Auf der ersten Seite Ihrer Begründung Versorgungswerk sind, trifft dies schon nicht mehr zu. schreiben Sie, Sie wollten das Riester-Modell noch un- Denn die geringen Abzugsmöglichkeiten sind in der Re- bürokratischer machen. gel bereits durch Krankenversicherungsbeiträge, Pflege- versicherungsbeiträge, Unfallversicherungsbeiträge und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja Haftpflichtversicherungsbeiträge aufgezehrt. So sind die Satire!) Altersvorsorgebeiträge aus bereits versteuertem Ein- Das heißt, es wäre vorher unbürokratisch gewesen. Sie kommen bezahlt worden. folgen nicht einmal Ihrer eigenen Rürup-Kommission, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig!) die deutlich gemacht hat, dass alle einbezogen werden (B) müssten, auch die Selbstständigen und die Landwirte, Wenn das zutrifft – wir wollen das noch prüfen –, (D) um die Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden. dann handelt es sich um eine Doppelbesteuerung. Dies verstößt gegen den vom Bundesverfassungsgericht auf- (Horst Schild [SPD]: Sie sind doch Ihrer gestellten Grundsatz des Verbotes einer Zweifachbesteu- Herzog-Kommission auch nicht ge- erung. Wenn das also zutrifft, fangen wir wieder von folgt!) vorne an. Kurios ist zudem, dass man durch die Steige- Nehmen Sie doch diese Vorschläge auf! Wir alle wissen rung der Besteuerung der Renten besser dran ist, je frü- doch, dass die Riester-Rente ein bürokratisches Mons- her man in Rente geht. Bei der Besteuerung des Ertrags- trum ist. anteils war es so, dass man umso weniger Steuern zahlt, je später man in Rente geht. Beim neuen System wird es (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Schild so sein, dass man umso weniger Steuern zahlt, je früher [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Erika Lotz man in Rente geht. [SPD]: Das wird durch Wiederholungen nicht wahrer!) (Zuruf von der CDU/CSU: Welch ein Irrsinn!) Sie wollen allen eine zusätzliche Altersversorgung als Auch auf der Beitragsseite sollten wir einmal genau Ersatz für die zurückgehende Rente anbieten. Von hinsehen, was zukünftig als Vorsorgeaufwendungen 35 Millionen möglichen Fällen sind nur in 5 Millionen abziehbar ist. Hier ist eine Staffelung mit anfangs Fällen Rentenverträge abgeschlossen worden. Das be- 60 Prozent Abzugsbeträgen vorgesehen. Auch wir sind weist doch, dass das Ganze bürokratisch ist. der Meinung – Sie haben das Merz-Konzept angespro- chen –, dass ein laufendes Einkommen im Rentenalter (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Flop!) die Grundlage des steuerlichen Abzugs von Vorsor- geaufwendungen sein muss. Sie ist die Grundlage, aber Warum haben Sie dieses Gesetz vorgelegt? Das Bun- sie ist nicht alles. Das Problem bei Ihrem Konzept ist, desverfassungsgericht hat am 6. März 2002 die Besteue- dass Sie überhaupt nur drei Wahlmöglichkeiten eröffnen. rung von Beamtenpensionen und Renten aus der gesetz- Sie haben erstens die gesetzliche Rentenversicherung, lichen Rentenversicherung für verfassungswidrig zweitens das Versorgungswerk bei den freien Berufen erklärt. Wir wissen auch, dass diese Neuordnung zum und als dritte Säule bieten Sie die neu zu entwickelnde 1. Januar 2005 notwendig ist. Wir bieten Ihnen eine Zu- private Leibrentenversicherung auf Kapitalbasis an. sammenarbeit an, weil der Bundesrat ohnehin zustim- men muss. (Horst Schild [SPD]: Die gibt es schon!) (Horst Schild [SPD]: Das ist auch notwendig!) – Ich komme noch darauf. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7301

Klaus-Peter Flosbach (A) Dieses neue Angebot an die Bürger ist nicht vererb- Ertrag voll steuerpflichtig, während der einzelne Kapi- (C) bar, nicht beleihbar, nicht veräußerbar, nicht übertragbar, talanleger steuerfrei gestellt wird. Wir sollten darüber nicht vorzeitig auszahlbar und nicht kapitalisierbar. nachdenken, ob das der richtige Weg ist. Das ist syste- matisch falsch. (Peter Dreßen [SPD]: Sollen sie die veräußern, oder was? Das ist bei der Rente so!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Anforderungen übertreffen die Bedingungen der Wir werfen Ihnen vor, dass Sie immer wieder unsys- Riester-Rente deutlich hinsichtlich der Strenge und der tematische Einzelfallentscheidungen treffen, anstatt das Regelungsdichte. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie bei den große und wichtige Thema der Altersversorgung in eine Bürgern Begeisterungsstürme ernten werden und dass Neuordnung des gesamten Steuersystems, wie es zum Sie die Menschen ermutigen können, für das Alter vor- Beispiel Friedrich Merz vorsieht, einzubetten. zusorgen, wenn diese sechs Nein demnächst von den Plakatsäulen auf die Menschen einstürzen? Die Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen fühlen sich in ihrem Eigentum bedroht, weil es Zumindest sollten Sie diesen Komplex in die Besteue- eingeengt wird. rung der Zinsgewinne, der Dividenden und der Veräuße- (Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch falsch, was rungsgewinne einbetten. Sie erzählen! – Gegenruf von der CDU/CSU: Ihr Gesetzentwurf hat einen weiteren Mangel, der Hören Sie doch einmal zu! Der versteht doch sich wie ein rot-grüner Faden durch alle Steuergesetze wenigstens etwas davon!) dieses Jahres zieht. Sie peitschen das Gesetz – die Wir sollten uns genau ansehen, was Vorsorgeprodukte Drucksache stammt vom 9. Dezember – mit hohem sind und was der Finanzmarkt bieten kann. Im Finanz- Tempo ohne ausreichende Beratung durch. Der Deut- ausschuss – Herr Schild ist Mitglied – diskutieren wir sche Steuerberaterverband schreibt in seiner ersten derzeit darüber, welche Möglichkeiten der Finanzmarkt Stellungnahme vom 13. November 2003 an das Finanz- hergibt, die bedürfnisgerecht sind und vom Verbraucher ministerium: akzeptiert werden. Ich möchte einige Beispiele nennen: Aufseiten der Verbände kann man sich, bedingt Erstens. Warum dürfen eigentlich Spar- und Fonds- durch die Kürze der eingeräumten Fristen, produkte nicht als Vorsorgeprodukte anerkannt werden – neun Tage – – bei der Riester-Rente ist das der Fall –, wenn die Aus- zahlung frühestens zum 60. Lebensjahr erfolgt und eine nicht immer des Eindrucks erwehren, dass eine laufende Auszahlung bis zum 85. Lebensjahr garantiert Stellungnahme der entsprechenden Verbände in (B) wird. Darüber sollten wir nachdenken. Bei der Riester- Wirklichkeit gar nicht gewollt ist. (D) Rente ist sogar eine 30-prozentige Kapitalauszahlung Der Zentrale Kreditausschuss spricht von einer unge- möglich. Den anderen Privatvorsorgern verwehren wir wöhnlichen Kürze der Konsultationsfrist, die nicht der das. Bedeutung des Gesetzesvorhabens gerecht wird. Zweitens. In der betrieblichen Altersvorsorge folgen (Horst Schild [SPD]: Wir machen doch noch Sie nicht den Vorschlägen von Herrn Rürup. Die Lohn- eine Anhörung!) steuerpauschalierung in der Direktversicherung wurde aufgehoben. Sowohl Herr Rürup als auch die Arbeitsge- – Ja, die Anhörung kommt. Das alles wird aber innerhalb meinschaft für betriebliche Altersversorgung sagt deut- von zwei Monaten nach der Weihnachtspause durchge- lich: Da die betrieblichen Direktversicherungen dem- zogen. nächst versteuert werden, müssen die Beträge angehoben und höhere Vorsorgemöglichkeiten im Be- Die Union bietet Ihnen eine konstruktive Zusammen- reich der betrieblichen Altersversorgung erlaubt werden. arbeit an, damit über dieses Thema im Bundestag ent- schieden wird und wir uns damit nicht erneut lange im Drittens. Es gibt eine Vielzahl von privaten Leibren- Vermittlungsausschuss beschäftigen müssen. tenversicherungen – das bedeutet eine Vielzahl unter- schiedlicher Möglichkeiten –, die eine lebenslange (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rente garantieren, die aber auch vererbbar sein können. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – Horst Schild Tritt der Todesfall kurz nach Beginn der Auszahlung der [SPD]: Das ist ein Wort!) Leibrente ein, kann ein größerer Teil des Kapitals an die Ziel der Steuergesetzgebung ist es unseres Erachtens, Hinterbliebenen ausgeschüttet werden. Warum verbauen die Bürger verstärkt zu eigenen Vorsorgeanstrengungen wir den Menschen die Möglichkeiten? Ein Single hat zu bewegen. Hierfür ist es erforderlich, einfache und ganz andere Interessen als ein Familienverbund. Ein Fa- klare gesetzliche Regelungen zu finden. Diese müssen milienverbund denkt natürlich an die Vererbung. von den Bürgern verstanden und akzeptiert werden, da- Viertens. Rot-Grün will die Erträge aus ab 2005 neu ab- mit es auch zum gewünschten Verhalten, zur Eigenvor- geschlossenen Verträgen über eine Kapitalversicherung sorge, kommt. Ihr Gesetzentwurf erfüllt diesen An- oder eine fondsgebundene Lebensversicherung voll spruch nicht. steuerpflichtig machen. Kursgewinne aus Einzelpapie- Ich danke Ihnen. ren oder Fonds sind hingegen nach einem Jahr steuerfrei. Das heißt, wenn jemand im Rahmen eines Versiche- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rungsvertrages langfristig für das Alter vorsorgt, ist der Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) 7302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zudem wird deutlich, dass die Energiepolitik ein zentra- (C) Ich schließe die Aussprache. ler Baustein unserer Volkswirtschaft ist und dass die Energiewirtschaft in all ihren Facetten zu den deutschen Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- Schlüsselindustrien zählt. Vor diesem Hintergrund er- würfe auf den Drucksachen 15/2149 und 15/2150 an die weist sich das Fehlen eines energiepolitischen Gesamt- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- konzepts als hochschädlich für die weitere Entwicklung schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2150 soll zu- unseres Landes. sätzlich an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- (Beifall bei der CDU/CSU) wirtschaft sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 Die rot-grüne Bundesregierung hat es nicht geschafft, der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da- die Energieversorgung künftiger Generationen durch mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die eine schlüssige Energiepolitik unter gleichzeitiger Be- Überweisungen so beschlossen. rücksichtigung ökologischer Ziele und wirtschaftlichen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf: Wachstums darzustellen. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Peter Paziorek, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef neten der FDP) Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Im Gegenteil: Die Zweiteilung der energiepolitischen tion der CDU/CSU Kompetenzen im Wirtschafts- und Umweltministerium Zukunftsorientierte und effiziente Gestaltung führt nicht zu einer besseren Abstimmung der energiepo- der Novelle des Erneuerbare-Energien-Geset- litischen Notwendigkeiten; vielmehr verfestigt sie die zes scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze in der rot-grü- nen Koalition über die Zukunft des Energiestandortes – Drucksache 15/818 – Deutschland. b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ohne klare Rahmenbedingungen wird die Energiepo- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung litik in Deutschland zum Spielball unterschiedlicher (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Lobbyinteressen. Die Zeche hierfür zahlen die Verbrau- nung cher. Es steht unbestreitbar fest, dass der reine Strompro- Technikfolgenabschätzung duktionspreis für einen Musterhaushalt heute um ein Fünftel unter dem Wert von 1998 liegt. Tatsächlich zahlt hier: Monitoring – „Möglichkeiten geothermi- der Haushalt aber wieder den Strompreis, der vor fünf scher Stromerzeugung in Deutschland“ (B) Jahren gezahlt werden musste, weil die Vorteile von Li- (D) – Drucksache 15/1835 – beralisierung und Wettbewerb in der Stromproduktion Überweisungsvorschlag: durch eine Vielzahl staatlicher Sonderlasten aufgesaugt Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) wurden. So kann es in Deutschland nicht weitergehen! Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wir brauchen eine klare Definition eines ausgewoge- nen Energieträgermixes für die Zukunft. Dabei wissen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wir, dass durch die Ausstiegsvereinbarung in Sachen Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Kernenergie erhebliche Probleme bei der Sicherstellung Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. der Stromversorgung auf uns zukommen werden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wir wissen auch, dass die deutsche Energiewirtschaft Professor Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion. Planungssicherheit für die zwischen 2010 und 2020 an- stehende Erneuerung des Kraftwerkparks benötigt und Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): dass wir im Klimaschutz vor einer großen Aufgabe ste- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und hen. Denn bezogen auf das Jahr 1990 hat sich Deutsch- Herren! Die Energiepolitik und ihre Bedeutung für die land verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis 2010 um Bürgerinnen und Bürger rückt angesichts einer Vielzahl 25 Prozent zu reduzieren. ungelöster Probleme zunehmend in den Blickpunkt der Wir brauchen mithin ein Gesamtkonzept mit einem deutschen Öffentlichkeit. In dieser Woche berichteten gleichgewichtigen Verhältnis von Versorgungssicherheit, die Medien von der lebhaften Kritik der Verbraucher- Ökologie und Ökonomie. Ein unverzichtbarer Bestand- schützer an zu hohen Stromrechnungen. Beklagt wird, teil dieses ausgewogenen Energieträgermixes sind für dass die Privathaushalte in den vergangenen fünf Jahren die CDU/CSU die erneuerbaren Energien. von der Liberalisierung des Marktes kaum profitiert hät- ten. Auch die Wirtschaft beklagt, dass die Wettbewerbs- (Beifall bei der CDU/CSU) fähigkeit der deutschen Unternehmen durch den im Ihnen fällt eine Schlüsselfunktion in der Klimaschutzpo- internationalen Vergleich hohen Energiepreisfaktor ne- litik zu. Die europäische Richtlinie zur Stromerzeugung gativ tangiert wird. aus erneuerbaren Energiequellen sieht eine Verdoppe- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung des Anteils erneuerbarer Energien am EU-Energie- NEN]: Was hat das mit dem EEG zu tun?) verbrauch bis 2010 vor. Für Deutschland wird in der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7303

Dr. Rolf Bietmann (A) Richtlinie eine Steigerung auf 12,5 Prozent angestrebt. wort zitierten Zahlen überhaupt nicht eingestellt sind. (C) Dies entspricht fast einer Verdoppelung im Vergleich Diese Antwort dokumentiert doch nachdrücklich, wie zum Jahr 2000. Ich sage es noch einmal: Die Union be- schlampig das BMU mit einem der wichtigsten energie- kennt sich aus klimapolitischer Verantwortung, aber und klimaschutzpolitischen Themen in diesem Lande auch aus wirtschaftlicher Vernunft – mit Blick auf den umgeht. volkswirtschaftlich notwendigen Energiemix – zu die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sem Ziel der EU-Vorgabe. Der BMU hat im Sommer dieses Jahres einen ersten (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Referentenentwurf zum EEG präsentiert. Nach einem NIS 90/DIE GRÜNEN) halben Jahr Zeitverzug soll der Kabinettsentwurf kom- Trotz der klaren Vorgaben der EU liegt bis heute noch men. Aber auch den kennen wir nicht. Wertvolle Zeit für immer kein Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des die Optimierung des Klimaschutzes in Deutschland wird EEG vor. von Rot-Grün vertan, weil die Bundesregierung weder über Ziele noch über Inhalte ihrer Energiepolitik Einver- (Marco Bülow [SPD]: Mittwoch!) nehmen herstellen kann. Allerdings ist der kurzfristig am Mittwoch eingegange- (Beifall bei der CDU/CSU) nen Antwort der Bundesregierung auf die Große An- frage der CDU/CSU-Fraktion zur Novellierung des EEG Ich denke, die Diskussion über die Photovoltaik hat uns zu entnehmen, dass ein Kabinettsentwurf noch im De- allen gezeigt, wohin das führt. Flickschusterei kann ge- zember beschlossen werden soll. Bekannt ist der Ent- zielte Politik nicht ersetzen; denn hierdurch wird Unsi- wurf aber bis heute nicht. cherheit bei den Unternehmern und insbesondere bei den Investoren im Bereich der erneuerbaren Energien er- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) zeugt. Das ist für diese Gruppen schier unerträglich. Entsprechend zögerlich erfolgte die Antwort auf un- Mit der Zustimmung zur Förderung der Photovoltaik sere Große Anfrage. Nach sage und schreibe acht Mona- haben wir, die CDU/CSU, dokumentiert, dass wir bei ten Bearbeitungszeit ist nun vor zwei Tagen eine Ant- den verschiedenen erneuerbaren Energien keine Präfe- wort vorgelegt worden. Selbst wenn man trotz der Kürze renzen sehen. Alle stehen zu gleichen Bedingungen am der Zeit auf die Antwort eingehen wollte, wäre dies nicht Start. Wichtig ist aber, dass erneuerbare Energien nur möglich, weil Fragen vielfach offen geblieben sind oder dann eine Zukunft haben, wenn sie zumindest mittelfris- mit dem Verweis auf weiterführende Informationen be- tig mit den konventionellen Energien konkurrieren kön- antwortet werden, die sich aus einem Kabinettsentwurf nen. Anderenfalls werden sie sich am Markt nicht durch- (B) ergeben sollen. Erstaunlich für den Leser ist aber, dass es setzen können. Deshalb fordert die Union seit langem, (D) noch gar kein Kabinettsentwurf zum EEG gibt. Freilich dass die bisherige Überförderung der Windkraft vor al- mag die Bundesregierung über einen Entwurf verfügen. lem an windschwachen Standorten, die letztlich nie Aber der Deutsche Bundestag verfügt über keine Vorla- marktwirtschaftlich arbeiten können, aufgegeben wer- gen. So könnte man noch lange über den Status des Ent- den muss. wurfs eines Entwurfs oder der Vorlage eines Entwurfs oder des Entwurfs einer Vorlage philosophieren, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) das Thema nicht so ernst wäre. Die Bundesregierung hat Stattdessen ist eine zielgerichtete Förderung der Wind- die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU durch kraft überall dort zu begrüßen, wo infolge der Windstan- den Verweis auf nicht bekannte und nicht abgestimmte dards und der Ausbausituation Wettbewerbsfähigkeit zu- Kabinettsentwürfe zielgerichtet unvollständig beantwor- mindest annähernd erreicht werden kann. Wir werden tet. den von Ihnen angekündigten Kabinettsentwurf dahin (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) gehend prüfen, ob er diesem Ziel gerecht wird. Dies stellt eine Missachtung der Rechte des deutschen Trotz aller Kritik muss man bei den mit den erneuer- Parlaments dar. baren Energien verbundenen Chancen ansetzen. Hierzu gehört für uns insbesondere die Bioenergie. Sie verfügt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über ein großes, noch ungenutztes Potenzial und zeich- net sich durch Grundlastfähigkeit und Vermeidung von Über die Inhalte unserer Fragen und der unbedingt er- Konflikten mit dem Natur- und Landschaftsschutz aus. forderlichen Antworten muss in diesem Haus gespro- Darum tritt die Union für den weiteren Ausbau der Bio- chen werden. Die Entwicklung ist zu wichtig, als dass energie und der Biomasse entschieden ein. sie zum Spielball von Taktierereien verkommen darf. Wie groß das Chaos innerhalb der Koalition sein muss, do- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- kumentiert beispielhaft die Beantwortung der Frage 6, bei NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) der es um die Abschätzung der finanziellen Auswirkun- Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der gen der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien Novellierung des EEG eine Förderung der Bioenergie, geht. Hingewiesen wird in der Anwort der Bundesregie- insbesondere wenn sie in kleineren Anlagen erzeugt rung auf eine Internetadresse, bei der man – angeblich – wird, angemessen zu berücksichtigen. die entsprechenden Zahlen abrufen kann. Geht man auf die angegebene Internetseite, dann stellt man mit Erstau- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen fest, dass die von uns angefragten und in der Ant- NEN]: Machen wir!) 7304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dr. Rolf Bietmann (A) Eine weitere zentrale Frage der Novellierung ist der- gie geht nichts. Ausreichend Energie ist damit Voraus- (C) zeit ungeklärt: Rot-Grün bleibt die Antwort schuldig, setzung für alles. Auch wenn man es häufig nicht zugibt: wie die durch das EEG verursachten Netzausbau- und Außer der Frage von Krieg und Frieden hat die Energie- Regelenergiekosten verursachungsgemäß zugerechnet frage den höchsten politischen Stellenwert. Sie ver- werden können; denn die durch Windkraft gewonnene mischt sich zunehmend mit der Frage von Krieg und Energie steht weder kontinuierlich noch bedarfsabhän- Frieden – aktuelle Entwicklungen zeigen das –, insbe- gig zur Verfügung. In windstarken Zeiten stößt die sondere angesichts der Erschöpfung der flüssigen Erdöl- Netzinfrastruktur an Grenzen, während in windschwa- vorkommen. chen Zeiten die Regelenergie hinzugefügt werden muss. Ein weiterer Ausbau der Windkraft an windstarken Insofern stehen wir vor einer unglaublichen Heraus- Standorten zieht einen weiteren Ausbau des Netzes forderung: Wir stehen vor der Notwendigkeit einer glo- zwangsläufig nach sich. balen Transformation des gesamten Energiesystems aufgrund von zwei nicht zu leugnenden Grenzen des Die verursachergerechte Klärung des Problems „Netz- heutigen atomar-fossilen Energiesystems, ob in Deutsch- ausbau- und Regelenergiekosten“ muss aus Sicht der land oder woanders. Union in der Novellierung des EEG zum Ausdruck ge- bracht werden. Die im Kabinettsentwurf vorgesehene Eine Grenze liegt darin, dass diese Herkunftspoten- Regelung bleibt abzuwarten, nachdem die Antwort auf ziale, die Primärenergien, erschöpflich sind, wann im- unsere Große Anfrage unergiebig war; gerade mit den mer das der Fall sein wird, wahrscheinlich früher, als die sich aus der Förderung erneuerbarer Energien ergeben- meisten denken, wenn man nicht auch noch die Ozean- den Kosten muss mit sehr viel Sorgfalt umgegangen gründe und andere Vorkommen aufmachen will, Ölsände werden. Auch wer zum Ausbau erneuerbarer Energien Ja und Ölschiefer fördern will, was aber die Umweltbelas- sagt, kann nicht wollen, dass sie dauerhaft an einem Sub- tungen, die ohnehin groß genug sind, dramatisch erhö- ventionstropf der privaten und der öffentlichen Haus- hen würde. Selbst wenn es noch genug Ressourcen gäbe, halte hängen. Der Kohlepfennig darf nicht durch Wind- so würde uns das überhaupt nicht helfen, weil die Be- groschen ergänzt werden. lastbarkeit der Ökosphäre schon längst überschritten ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von Ich komme zum Schluss. Die Union steht für den ver- Weizsäcker [SPD]) antwortbaren Umgang mit erneuerbaren Energien als Bestandteil eines ausgewogenen Energiemix. Wir brin- Wir müssen also vor der Erschöpfung der heute be- gen Klimaschutz und wirtschaftliche Auswirkungen zu kannten atomar-fossilen Energiepotenziale eine Alter- (B) einem vernünftigen Konsens. Rot-Grün schafft dies er- native realisiert haben. Diese Alternative kann nur die (D) kennbar nicht. Auch darum brauchen wir eine andere Umorientierung der gesamten Energieversorgung, natio- Politik für Deutschland. nal wie global, auf erneuerbare Enrgien sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das ist die Schlüsselfrage, vor der wir alle stehen, eine Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer. Frage, die vor 20, 30 Jahren noch fast völlig ignoriert wurde, die aber mehr und mehr in die Diskussion kommt und die noch viel weiter in die Diskussion kommen Dr. Hermann Scheer (SPD): muss. Dazu müssen wir alle unseren Beitrag leisten. Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dazu wird und muss es auch Lernprozesse der unter- Egal wo wir hinschauen, stellen wir fest: Die Energie- schiedlichen Akteure geben, von der Politik bis zur Wis- debatte ist in ganz starkem Maße von den bisherigen senschaft und natürlich auch zur Wirtschaft, zu unter- Strukturen der Energieversorgung geprägt. Sie ist da- schiedlichen Zeiten, zeitverschoben also. mit äußerst vergangenheitsorientiert. Gewollt oder unge- wollt, prallen immer wieder Argumente aufeinander, die Insofern müssen wir gewärtigen, dass wir hier vor – auch wenn es vielen nicht bewusst ist – im Grunde ge- dem größten Strukturwandel in der Wirtschaftsge- nommen in eine Kategorie der Planwirtschaft gehören. schichte seit Beginn des Industriezeitalters stehen. Das Dies ergibt sich aus Begriffen wie „Planungssicherheit“ Industriezeitalter ist in den letzten 200 Jahren über- – man tut so, als könnte in einer Marktwirtschaft irgend- haupt nicht vom Aufbau der fossilen und dann der ato- jemandem für 30 oder 40 Jahre Planungssicherheit ge- maren Energiewirtschaft zu trennen. In allen Ländern geben werden – und „energiepolitisches Gesamtkon- besteht natürlich eine engste Verwobenheit politischer zept“ – nach einem solchen Konzept wird gerufen –, als Institutionen und Akteure mit der herkömmlichen Ener- wäre es möglich, die verschiedenen Energieoptionen im giewirtschaft. Hinblick auf mehrere Jahrzehnte ganz genau zu sortie- ren. Diese herkömmliche Energiewirtschaft wird nicht und kann nicht, jedenfalls nicht allein, Träger der künfti- Dieses – heimlich oder offen praktizierte – planwirt- gen Energieversorgung sein. Vielen ist nicht bewusst, schaftliche Denken findet vor einem Hintergrund statt, dass ein Energiesystem, das wir uns schaffen, technisch der damit im Zusammenhang steht, dass Energie für wie politisch und wirtschaftlich, zwangsläufig dem jede Gesellschaft ein strategisches Gut ist; ohne Ener- Energiefluss, den Energiequellen folgen muss, die wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7305

Dr. Hermann Scheer (A) bereitstellen, von der Förderung bis zum Endverbrauch. Ich nenne Ihnen nur ein Szenario zur Entlastung Ihrer (C) Wenn es bei erneuerbaren Energien völlig andere Ener- Fantasie, das natürlich nicht genauso praktiziert werden gieflüsse gibt, dann brauchen wir andere Techniken, an- könnte oder müsste: Angesichts dessen, dass 40 Prozent dere Unternehmensformen, andere Infrastrukturen, Gott des gesamten Energieverbrauchs in Gebäuden entstehen, sei Dank teilweise gar keine Infrastrukturen; da denke aber es in Deutschland bereits 3 000 Häuser gibt, die ich an die Dimension des solaren Bauens. Damit kom- keinerlei Fremdenergie mehr brauchen – das ist erst der men auch andere wirtschaftliche Träger in Betracht. Das Anfang der Entwicklung solarökologischen Bauens –, zu begreifen heißt, den Strukturwandel zu begreifen, vor wird deutlich, dass 40 Prozent der Energieprobleme dem wir stehen. durch den Ansatz solaren Bauens gelöst werden können. Das ist aber nun keine Thematik der Energiewirtschaft Die erste Schlussfolgerung für die gesamte Energie- mehr, sondern eine technische Thematik, eine Thematik debatte ist: Wir können nicht nur in dem bisherigen en- der Bauwirtschaft, der Stadtplanung und der Kommunal- gen Rahmen der Energiewirtschaft denken, wenn es um politik der Zukunft. die energiepolitischen Akteure der Zukunft geht. Wir brauchen sehr viel mehr Akteure, auch solche, die freier (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ sind von Rücksichtnahmen auf die herkömmlichen Inte- DIE GRÜNEN) ressen, um diesen Strukturwandel tatsächlich realisieren Das zeigt, wie sehr wir unsere Gedanken öffnen müssen, zu können und aus einer strukturkonservativen Selbst- um die tatsächlichen Chancen zu erkennen. 40 Prozent fesselung herauszukommen. der Energieprobleme könnten also durch einen solchen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ansatz gelöst werden, der das herkömmliche Energie- DIE GRÜNEN) system überwindet. Dazu bedarf es der Überwindung einer mentalen Mit 50 000 Windkraftanlagen à 2 Megawatt könnte Sperre. Diese mentale Sperre ist in dem Mythos der Un- man ein Drittel des in Deutschland benötigten Stroms er- verzichtbarkeit der atomar-fossilen Energiepotenziale zeugen. begründet, der wie ein Gespenst die energiepolitische (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Aber nur, Diskussion, auch in großen Teilen der Energiewissen- wenn er bläst!) schaft, durchzieht und die energiepolitischen Debatten natürlich dominiert. Der Mythos der Unverzichtbarkeit – Ich polemisiere doch gar nicht, Herr Kollege. – Es gibt eines begrenzten und damit gleichzeitig erschöpflichen aber nicht nur die Windkraft. Solarzellen auf insgesamt atomar-fossilen Energiepotenzials ist eine Absurdität in 5 000 Quadratkilometern der überbauten Fläche von ins- sich selbst. Das Potenzial der erneuerbaren Energien, gesamt 50 000 Quadratkilometern – das lässt sich doch (B) die uns direkt als Solarstrahlung oder als Derivate dieser ausrechnen – würden nach Stand der Technik heute aus- (D) Solarstrahlung in Form der anderen erneuerbaren Ener- reichen, um die Gesamtstrommenge, die derzeit ver- gien, als natürliche Umgebungsenergie täglich 15 000- braucht wird, per Photovoltaik zu erzeugen. Natürlich mal mehr Energie anbieten, als an atomar-fossilen Ener- setzen wir nicht nur auf Windkraft, Photovoltaik und gien überhaupt konsumiert wird, wird unterschätzt. Dies Biomasse, sondern der Energiemix der Zukunft muss zeigt, dass im Grunde genommen eine Energielüge in auch mithilfe von geothermischer Energie vorbereitet den Köpfen ist, die viele daran hindert, zu erkennen, werden. Hierfür sind drei Instrumente notwendig: dass es tatsächlich möglich ist, die komplette Energie- Ein Instrument haben wir schon realisiert, nämlich versorgung der gesamten Menschheit auf erneuerbare das Erneuerbare-Energien-Gesetz; das findet im Parla- Energien umzustellen, was wegen des Mythos der Un- ment mittlerweile wieder breitere Zustimmung, nach- verzichtbarkeit immer noch bestritten wird. Erst wenn dem es schon einmal sehr breite Zustimmung dafür gab. wir das erkennen, haben wir überhaupt die Chance, alle Ich denke hierbei insbesondere an die Elemente Min- Zukunftsdimensionen offensiv und aufmerksam in den destpreisvergütung und garantierte Stromeinspeisung, Blick zu nehmen und praktisch und kreativ umzusetzen. die wir mit dem Stromeinspeisungsgesetz auf den Weg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gebracht haben. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Auch bezüglich des zweiten Instruments besteht doch CSU) Konsens. Wir müssen nur endlich realisieren, welche – Ich möchte Ihnen einige Zahlen nennen, ehe Sie das Chancen darin liegen. Es handelt sich um die vollstän- wieder bestreiten; ich kenne doch das Lachen darüber, dige Steuerbefreiung für alle Biokraftstoffe, die am das allerdings früher, so vor zehn bis 15 Jahren, lauter 1. Januar in Kraft tritt. Damit werden alle Biokraftstoffe war. billiger als die besteuerten fossilen Kraftstoffe. Hiermit kommen wir weg vom Öl. Wir verfolgen so gleichzeitig (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, Profes- eine ökologische, ökonomische sowie friedens- und ent- sor Grasshoff bezweifelt das!) wicklungspolitische Strategie in einem mit einem ver- – Ich meine doch niemanden persönlich, auch nicht Sie, hältnismäßig einfachen Instrument, das sowohl unbüro- Herr Paziorek. kratisch handhabbar ist wie auch eine völlig neue Chance darstellt. Dieser Herausforderung stellen wir (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber Herr uns. Professor Grasshoff bezweifelt das!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie – Nein, inzwischen bestreitet er das nicht mehr. beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 7306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dr. Hermann Scheer (A) Beim dritten Instrument besteht noch Nachholbedarf. – Genau, aber dann weiß man, dass man ihn früher (C) Wir müssen sehr starke politische Anstrengungen unter- stoppt. nehmen und sehr viel Kreativität entwickeln, um den Ansatz des solaren Bauens voranzutreiben und damit Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika eine neue Architektur- und Städtebaudimension in unse- Brunkhorst. rem Lande zu eröffnen. Voraussetzung dafür ist, die mentale Sperre, dass hiermit ökonomische Belastungen Angelika Brunkhorst (FDP): verbunden seien, zu überwinden. Vielmehr handelt es Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die sich um eine einzigartige Chance für die Ökonomie des Große Anfrage der Union beinhaltete viele berechtigte 21. Jahrhunderts. Es könnte zu einer treibenden Kraft für Fragen. Ich habe versucht, eine Gesamteinschätzung zu die Industrie werden und auch der Landwirtschaft neue treffen, und ich muss sagen – das ist meine Interpre- Chancen eröffnen. tation –: Auch die Unionsparteien wünschen eine zügi- gere Heranführung der Erneuerbare-Energien-Branche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an die Wettbewerbsfähigkeit. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen hier aber auch internationale Aktivitäten entwickeln. Deswegen sind wir als Regierungsfraktio- Mein Appell an Sie lautet: Das können Sie ruhig häufi- nen mit zwei Dingen, die einzelne Ministerien bisher in ger etwas klarer und vielleicht auch etwas lauter nach diese Richtung tun, noch nicht so richtig einverstanden: außen tragen. Wir haben die große Chance, bei der Internationalen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir sind Konferenz zu erneuerbaren Energien, zu der Bundes- nicht so laut!) kanzler Schröder in Johannesburg eingeladen hatte, die Diskussion darüber zu eröffnen. – Seien Sie nicht so schüchtern. (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NEN]: Sie sind natürlich der Meinung, es soll Herr Scheer, achten Sie auf die Redezeit. möglichst lange dauern!) – Wir wollen hier jetzt keinen Dialog führen, Frau Dr. Hermann Scheer (SPD): Hustedt. Ich bin beim letzten Satz. – Die treibenden Kräfte wa- ren, wenn es um die erneuerbaren Energien ging, immer Die FDP hat sich ganz klar positioniert: Auch wir die Parlamente. Das Parlamentarierforum, das wir be- wollen die Klimavereinbarungen des Kioto-Proto- (B) (D) schlossen haben und gemeinsam vorbereiten, wird im al- kolls einhalten. Wir halten das für ein sinnvolles Ziel. ten Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn tagen Auch wir betrachten in diesem Zusammenhang den Aus- und nicht irgendwo anders. bau der erneuerbaren Energien als einen möglichen und sinnvollen Weg. Das möchte ich hier betonen. Um das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu erreichen und um die erneuerbaren Energien in den DIE GRÜNEN) Energiemarkt zu integrieren, halten wir die zügige He- Die Auseinandersetzungen, die es gegenwärtig hierzu ranführung an die Wettbewerbsfähigkeit allerdings für gibt, sind etwas peinlich. Sie sind auch niemandem ver- unumgänglich. mittelbar. Wir haben die Chance, einen großen interna- Wir schlagen dafür einen Systemwechsel vor, den ich tionalen Schritt zu tun, den wir im Bundestag beschlos- noch einmal kurz skizzieren möchte. Wir möchten gern sen haben: die Einrichtung einer internationalen zu einem Mengenziel und Ausschreibungsmodell kom- Agentur für erneuerbare Energien. Hinsichtlich dessen, men, das sich an den Klimazielvorgaben der Zukunft was wir hier mit mehrheitlichem Willen beschlossen ha- orientiert. Entgegen allen Unkenrufen meinen wir, dass ben, wollen wir, dass die Regierung bzw. die zuständi- das neue System – Zertifikate, Emissionshandel usw. –, gen Ministerien es umsetzen und nicht einfach liegen wenn es sorgfältig vorbereitet wird, auch funktionieren lassen. wird. Dann ist es tauglich, den Anteil erneuerbarer Ener- Danke schön. gien zu steigern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Wir müssen dazu aber auch von der Abhängigkeit der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Netzeinspeisung und der Abhängigkeit von Regelener- Sagen Sie doch in Zukunft besser, dass Sie beim letz- gie abweichen. Wir brauchen eine auf Energiespeiche- ten Gedanken sind. rung beruhende Nutzung der erneuerbaren Energien. Dabei bin ich gleich beim nächsten Punkt, den wir for- (Heiterkeit) dern: Wir wollen weitere Anstrengungen für die Ener- Diese letzten Sätze sind manchmal sehr lang. giespeicherforschung. Wenn wir das schaffen, dann kön- nen wir auch den Verkehrssektor in ein gesamtes (Horst Kubatschka [SPD]: Auch der letzte klimapolitisches Konzept einbauen. Denn hier sind Gedanke beim Hermann ist gefährlich!) – auch Sie geben das zu – große CO2-Einsparpotenziale Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7307

Angelika Brunkhorst (A) vorhanden, die bislang überhaupt nicht im Ansatz zu fin- wurde, um uns zu übertölpeln, sodass wir gar nicht mehr (C) den sind und die es in Zukunft stärker zu beachten gilt. wissen konnten, worum es eigentlich geht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – Ulrike Mehl [SPD]: Das der CDU/CSU) ist auch etwas kompliziert!) Wir meinen, dass die Kioto-Instrumente – zum Bei- Bei dem großen Pool der Fragen und Antworten, auf spiel Joint Implementation, CDM und der Zertifika- die meine Vorredner teilweise eingegangen sind, möchte tehandel – endlich vehementer genutzt werden sollten, ich insbesondere einen Blick auf die Arbeitsmarktsitua- sodass wir die Chance haben, mit unserer Spitzentech- tion werfen; denn die Beschäftigungseffekte werden ja nologie im Rahmen der technischen Entwicklungshilfe von Rot-Grün als Hauptargument angeführt. Laut eige- Exportmärkte zu erschließen und gleichzeitig auch den nen Schätzungen der EEG-Branche beruhen 135 000 Ar- Schwellen- und den Entwicklungsländern bei der wirt- beitsplätze auf Aktivitäten in diesem Bereich. Darin ent- schaftlichen Entwicklung der unterschiedlichen Regio- halten sind direkte und indirekte Arbeitsplätze. Es wird nen Hilfestellung zu leisten. zugestanden, dass es sich dabei um keine gesamtwirt- (Beifall bei der FDP) schaftliche Bewertung handelt. In diesem Zusammenhang setze auch ich sehr große Eine solche sollte man aber durchaus vornehmen. Erwartungen in die im nächsten Jahr in Bonn stattfinden- Dazu liegt eine Studie des Bremer Energie-Instituts, er- den Renewable 2004. Ich hoffe – ähnlich wie Herr stellt im Auftrag der Böckler-Stiftung, vor. Diese Studie Scheer, da kann ich ihn zur Abwechslung einmal unter- enthält detaillierte Angaben zur Arbeits- und Beschäfti- stützen –, gungssituation im Bereich der erneuerbaren Energien. Ich will einige Punkte kurz vortragen. So werden durch (Birgit Homburger [FDP]: Das dürfte der ein- die Einrichtung einer Windenergieanlage an Land mit ei- zige Punkt gewesen sein!) ner Leistung von 1,2 Megawatt im ersten Betriebsjahr 17 Arbeitsplätze geschaffen. In den folgenden Jahren dass der Erfahrungsaustausch der Parlamentarier auf die- nimmt dieser Effekt aber rapide ab: Der weitere Betrieb ser Konferenz Wichtigkeit hat und dass er einen beachte- erfordert nur noch 0,7 Personenjahre. Es wird in dieser ten Part spielen wird. Ich möchte hier der Staatssekretä- Studie auch gesagt, dass dadurch, dass der Strom aus er- rin Wolf einen Appell mitgeben: Richten Sie Herrn neuerbaren Energien mit mehr als dem eigentlichen wirt- Trittin aus, dass er bitte dafür sorgen möge! schaftlichen Wert vergütet wird, Mittel für andere Aus- Natürlich habe ich die Beantwortung der Großen An- gaben nicht zur Verfügung stehen, wodurch in anderen frage der Unionsparteien durch die Bundesregierung Branchen Beschäftigungsverluste entstehen. Das darf (B) (D) sorgfältig gelesen. Überraschenderweise habe ich an drei nicht vergessen werden. Die Studie kommt zu dem Er- Stellen ein beachtliches Bekenntnis gefunden – ich zi- gebnis, dass im Saldo, bezogen auf eine 20-jährige Lauf- tiere, Frau Präsidentin –: zeit, acht Arbeitsplätze verloren gehen. Die Bundesregierung hat das Ziel, dass erneuerbare ( [SPD]: Für was alles man doch Energien mittel- bis langfristig ihre Wettbewerbs- Professoren mieten kann!) fähigkeit im Energiebinnenmarkt erreichen. Denn nur dann, wenn sich erneuerbare Energien ohne Auch die Nutzung von Biogas und Geothermie hat finanzielle Förderung auf dem Markt behaupten, negative Beschäftigungseffekte. Ausgeglichen ist die Bi- können sie auf Dauer eine tragende Rolle im Ener- lanz dagegen in der Solarbranche, positiv ist sie bei der giemarkt spielen. Biomassenutzung. Da können Sie ruhig einmal klatschen! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP – Horst Kubatschka Darf ich auch Sie auf die Zeit hinweisen, bitte? [SPD]: Das ist doch nichts Neues! – Das über- rascht Sie?) Angelika Brunkhorst (FDP): – Ja, das überrascht mich. Was ganz interessant ist: Die Offshorewindnutzung ist die einzige Technologie, die auf jeden Fall ein positi- (Horst Kubatschka [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!) ves Beschäftigungspotenzial bietet: ungefähr 20 000 Ar- beitsplätze in den nächsten 20 Jahren. Das hört sich gut an und ist auch richtig. Wir von der FDP fordern es schon seit langem. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Horst Kubatschka [SPD]: Das weiß ich! Die Frau Kollegin, Sie müssen jetzt einfach Schluss ma- FDP fordert alles!) chen. Nur halten wir das EEG dafür immer noch nicht für ein probates Mittel. Im Entwurf der Novelle ist gerade wie- Angelika Brunkhorst (FDP): der vorgesehen, die Fördertatbestände auszuweiten. Wir Ich möchte damit darauf hinweisen, dass man, wenn alle mussten leidvoll erfahren, wie ein Vorschaltgesetz man solche Argumente anführt, den Leuten auch wirk- nach dem anderen im Schnellverfahren eingebracht lich die Wahrheit sagen muss. 7308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Angelika Brunkhorst (A) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Land. Das bedeutet den forcierten Ausbau der erneuer- (C) NEN]: Das tun wir immer!) baren Energien. Ich freue mich, Herr Professor Bietmann, dass die CDU/CSU ihn unterstützt. Sie unter- – Das hoffe ich, Herr Fell. stützt auch, dass bis zum Jahr 2010 mindestens Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 12,5 Prozent des verbrauchten Stroms durch erneuerbare Energien erzeugt werden sollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- Wir werden am nächsten Mittwoch, also am rin Margareta Wolf. 17. Dezember, den Referentenentwurf zur Novellierung des EEG im Kabinett einbringen. Dadurch schaffen wir Margareta Wolf, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Investitionssicherheit, Klarheit und Transparenz für die minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- gesamte Branche der erneuerbaren Energien. Ich glaube, heit: dafür ist uns die Branche dankbar. Mit der Novelle Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen schaffen wir Anreize, die Kosten zu senken und die Wir- und Kollegen! Wer die Debatte bis jetzt verfolgt hat, hat kungsgrade zu erhöhen. festgestellt – und dies auch nicht zum ersten Mal –, dass Herr Kollege Bietmann, es war nicht schön und hat es offensichtlich im Deutschen Bundestag gelegentlich der Kultur dieses Hauses widersprochen, dass Sie es nö- Themen gibt – darüber freue ich mich –, bei denen Re- tig hatten zu sagen, das BMU und die Koalition würden gierung und Opposition übereinstimmen. Erstaunlich schlampig arbeiten und Chaos produzieren. Sie wissen, finde ich aber, dass die Opposition erst in der heutigen dass ich vor drei Wochen die Eckpunkte für die Novel- Debatte realisiert hat, dass mit der Novelle zum Erneuer- lierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgestellt bare-Energien-Gesetz auch die Heranführung der er- habe. Sie wissen auch, dass die Bundesregierung Ihnen neuerbaren Energien an die Wettbewerbsfähigkeit am 28. April, nachdem Sie Ihre Große Anfrage einge- intendiert ist. bracht haben, mitgeteilt hat, dass wir sie zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 31. Oktober beantworten werden; dann haben wir um sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Verlängerung gebeten, weil wir uns in der Abstim- Paziorek [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch mungsphase um die Novellierung des Gesetzes befan- wohl selbst nicht, was Sie da sagen!) den. Sie haben der Verlängerung bis zum 31. Januar nicht widersprochen. In der letzten Sitzungswoche je- (B) Dass Energiepolitik von großer wirtschaftspolitischer doch haben Sie ad hoc die Aufsetzung Ihrer Großen An- (D) Bedeutung ist – darauf hat Herr Bietmann hingewiesen –, frage beantragt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist dieser Koalition schon seit längerem bekannt. Die haben Tag und Nacht Antworten formuliert. Heute ha- Kollegin Hustedt, bei der ich mich ganz herzlich bedan- ben Sie die Beratung der Antworten wieder abgesetzt. ken möchte, hat sich dafür immer wieder eingesetzt. Am 1. April 2000 waren alle Voraussetzungen erfüllt und das Ich möchte Ihnen nicht vorwerfen, Sie argumentierten Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde von diesem Haus oder verhielten sich chaotisch, aber Sie sollten im Inte- – leider gegen die Stimmen der CDU/CSU und der resse der erneuerbaren Energien in unserem Lande die FDP – verabschiedet. Rhetorik etwas zurückfahren. Sie können sie ja in ande- ren Punkten umso mehr ausleben. Selbstverständlich brauchen wir einen Energiemix und klare Rahmenbedingungen. Ich bin Ihnen, Herr Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fessor Bietmann, ausgesprochen dankbar, dass Sie aus- sowie bei Abgeordneten der SPD) sprechen, dass erneuerbare Energien eine zentrale Vor- Frau Brunkhorst, an Ihren Ausführungen hat mir be- aussetzung für die Erfüllung des Klimaschutzes in sonders gut gefallen, dass auch die FDP die Initiative der unserem Lande sind. Bundesregierung, die Erneuerbare-Energien-Kon- Ich möchte Ihnen an dieser Stelle mitteilen, dass ferenz 2004 in Bonn stattfinden zu lassen, begrüßt. Wir Jürgen Trittin zurzeit in Mailand ist; dort treffen sich die werden dort selbstverständlich auch ein Parlamentarier- Vertreter von 180 Staaten, um darüber zu sprechen, mit forum haben. Foren mit Beteiligung von Parlamentariern welchen Instrumenten man das Klimaschutzziel noch finden zurzeit in den verschiedensten Ländern statt, in früher erreichen kann als bisher vorgesehen. Asien, Afrika und Südamerika, und sind für die Arbeit der nationalen Parlamente durchaus produktiv. Ich Herr Paziorek und ich waren vor kurzem auf einer denke, dass wir mit dem novellierten EEG dort ein auch einschlägigen Veranstaltung in der Bremer Landesver- für den internationalen Klimaschutz sehr wichtiges In- tretung. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die strument werden präsentieren können. Ich würde mich Branche das immer stärker werdende Zusammenrücken freuen, wenn wir dies gemeinsam tun könnten. der Parteien in dieser Frage bemerkt. Das hilft der Bran- Meine letzte Bemerkung in Richtung der Gegner der che. erneuerbaren Energien betrifft die Regelenergie. Herr Es geht der Bundesregierung mit der Novelle des Er- Bietmann, Sie wissen, dass wir mit diesem Gesetz die neuerbare-Energien-Gesetzes selbstverständlich um eine Biomasse und die Geothermie stärken wollen. Wir wis- sichere und zukunftsfähige Energiestruktur in diesem sen alle, dass diese beiden Formen der Stromerzeugung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7309

Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf (A) zu jeder Zeit Regelenergie bereitstellen können, sodass Frau Staatssekretärin, Sie beklagen sich darüber, dass (C) dieses Argument im weiteren Verlauf der Debatte nicht der Kollege Professor Bietmann von schlampiger Arbeit mehr angeführt werden kann. redet. Hier können wir Sie aber leider nicht entlassen. Ich wünsche uns allen eine gute Beratung des Gesetz- (Horst Kubatschka [SPD]: Wir wollen sie auch entwurfes nach der Befassung des Kabinetts. nicht entlassen! Sie soll es ja bleiben!) Herzlichen Dank. Sie sind mit dieser Großen Anfrage alles anders als par- lamentarisch umgegangen. Das können wir so unter gar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keinen Umständen hinnehmen. Wir halten es auch für ei- und bei der SPD) nen schlechten Stil, wie Sie die Beratung und die Ausei- nandersetzung mit der Opposition eingeleitet haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nun zur Parlamentarierkonferenz in Bonn: Dass Das Wort hat der Abgeordnete Franz Obermeier. man die Parlamentarierkonferenz nicht im Plenarsaal in Bonn abhalten will, ist in meinen Augen ein Zeugnis da- (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt für, dass diese Veranstaltung als mehr oder weniger min- [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: derwertig angesehen wird. Ich bitte Sie darum, dass Sie Jetzt wird es zünftig! – Dr. Hermann Scheer Ihren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass diese [SPD]: Hau den Lukas!) Parlamentarierkonferenz im Plenarsaal in Bonn stattfin- det, um ihr das richtige Flair zu geben. Franz Obermeier (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wenn NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) man die Debatte verfolgt, meint man, alles wäre in bester Frau Staatssekretärin, heute sollten wir ja eigentlich Ordnung die Antworten auf die Große Anfrage beraten. Das kön- (Horst Kubatschka [SPD]: Ist es auch, nen wir aber nicht tun, weil die Antworten auf diese Herr Obermeier!) Große Anfrage in zentralen Punkten völlig unzureichend bis nichtssagend sind. Aber Ihre Einlassungen zu der und wir hätten keine Probleme in der Energiepolitik, in Wirkung auf den Einsatz der Biomasse sind schon stark der Energiewirtschaft und insbesondere in der Wirtschaft zu relativieren. Man hört ja allenthalben, dass Sie die in Deutschland. Klar ist, dass die CDU/CSU-Bundes- Fördersätze für die Biomasse anheben wollen. Gleich- tagsfraktion zum wiederholten Mal ihr tiefes Bekenntnis zeitig stellt sich aber die Frage, warum Sie dann den För- (B) zu den erneuerbaren Energien im Allgemeinen und zu derzeitraum bei der Biomasse von 20 auf 15 Jahre be- (D) der hier anstehenden Frage im Besonderen abgelegt hat, grenzen wollen. allerdings mit dem Tenor, dass die erneuerbaren Ener- (Zuruf von der CDU/CSU: Degression!) gien möglichst rasch ihre Marktfähigkeit erlangen sol- len. Das widerspricht Ihren Prinzipien. Ich möchte Sie bitten, diese Regelungen noch einmal zu überdenken, bevor der (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzentwurf vom Kabinett beraten wird, damit wir bei In dem Zusammenhang möchte ich, Herr Dr. Scheer, der Biomasse zu einer vernünftigen Regelung kommen. auf die von Ihnen angesprochene angebliche Verbindung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Planwirtschaft eingehen. Diese Regelung für die Biomasse brauchen wir nach (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ meiner Überzeugung dringend, weil es durch den ver- DIE GRÜNEN]: Machen Sie es nicht! Das stärkten Ausbau der Windkraft zu erheblichen Verwer- geht schief!) fungen kommen wird, So kann man nicht argumentieren. Wir wollen keine rein (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] technologiebezogene Energiepolitik; vielmehr wollen [CDU/CSU]: So ist es!) wir die Energiepolitik an drei wesentlichen Orientie- rungspunkten festmachen: der Versorgungssicherheit, die in Hinblick auf die Kostenstruktur unserer Volkswirt- der Umweltverträglichkeit und der Wirtschaftlichkeit. schaft zu erheblichen Problemen führen werden. An diesen Rahmenbedingungen orientieren wir unsere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) legislative Arbeit in der Energiepolitik. Das hat mit Planwirtschaft nichts zu tun, sondern das ist Marktwirt- Das ist leider so. schaft und das schafft Wettbewerb. Zwar haben Sie diese negativen volkswirtschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Effekte jahrelang bestritten. Aber jetzt wird auch bei Ih- nen darüber diskutiert. Leider haben Sie die DEnA-Stu- Frau Staatssekretärin, ich habe Zweifel, ob die Bun- die viel zu spät in Auftrag gegeben. Ich frage mich desregierung der Energiepolitik den richtigen Stellen- schon, was es soll, dass Sie in der nächsten Woche einen wert einräumt; denn Sie sind bis heute außerstande, ein Kabinettsbeschluss fassen wollen, ohne dass die Inhalte Energiekonzept auf den Tisch zu legen. Sie präsentieren der DEnA-Studie vorliegen. Denn für uns in der CDU/ lediglich schlecht aufbereitete Fragmente. CSU-Fraktion ist völlig klar, dass die negativen Effekte 7310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Franz Obermeier (A) insbesondere des verstärkten Ausbaus der Windkraft bei Ausland überholt werden und damit unsere Zukunft aufs (C) der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Spiel setzen. mit berücksichtigt werden müssen, damit es zu einer ge- rechten Verteilung der Kosten kommt und damit nicht Ich bin ferner der Überzeugung, dass wir stärker be- mehr Vorwürfe hinsichtlich der Kosten erhoben werden rücksichtigen müssen, dass der Faktor Energie auch ei- können. nen Kostenfaktor darstellt. Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch die (Marco Bülow [SPD]: Auch bei den anderen!) Äußerung des Bundeswirtschaftsministers vorhalten, der Wir müssen dafür sorgen, dass sich diese Kosten nicht kürzlich gesagt hat, die ganze Erneuerbare-Energien- auf die volkswirtschaftliche Entwicklung unseres Lan- Kiste müsse gedreht werden. des auswirken. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist mehr als eine Kiste!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Das habe ich ein bisschen salopp ausgedrückt. Ich bitte Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. um Entschuldigung, Herr Hempelmann.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Franz Obermeier (CDU/CSU): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michaele Ich bitte Sie, das zu berücksichtigen. Wir werden hof- Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So fentlich auch im neuen Jahr dieses Thema debattieren spricht man in Bayern!) können. Aber, Herr Hempelmann, wir müssen die volkswirt- Herzlichen Dank. schaftliche Relevanz dieses Themas mit bedenken. Ins- besondere in der jetzigen Zeit müssen wir darauf achten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie hoch die CO2-Vermeidungskosten bei den einzel- nen Energiearten wirklich sind. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn das Bundeswirtschaftsministerium zu dem Er- Es tut mir Leid, dass ich so oft mahnen muss. Aber in gebnis kommt, dass die Vermeidung einer Tonne CO 2 dieser Debatte haben alle Redner die Tendenz, ihre Re- bei der Windenergie circa 70 Euro kostet und dass an- dezeit zu überschreiten, weil sie so viele Gedanken un- dere Möglichkeiten bis hin zum Emissionshandel deut- terbringen wollen. lich billiger sind, dann meine ich, dass wir uns damit, (B) insbesondere angesichts der jetzigen wirtschaftlichen (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist das Engagement (D) Lage, noch stärker auseinander setzen sollten. bei dem Thema! – Horst Kubatschka [SPD]: Das liegt in der Wichtigkeit des Themas! Wir Auch wir sind ja dafür, dass der Umfang des Einsat- stehen unter Strom! – Rolf Hempelmann zes der erneuerbaren Energien verdoppelt wird. Profes- [SPD]: Unter erneuerbarem Strom!) sor Bietmann hat das ausgeführt. Hierbei beziehe ich mich auf eine Aussage des Kollegen Hempelmann, der Jetzt hat der Abgeordnete Marco Bülow das Wort. gesagt hat: Verdoppelung der erneuerbaren Energien ja, aber keine Verdoppelung der Kosten für erneuerbare (Beifall bei der SPD) Energien. (Zuruf von der SPD: Ja, Recht hat er!) Marco Bülow (SPD): In diesem Punkt sind wir uns völlig einig. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Obermeier, wir sind froh, dass Sie uns nicht entlassen Der Referentenentwurf, der hinter vorgehaltener wollen. Wir wollen auch gerne weitermachen. Ich denke, Hand diskutiert wird, soll von Gesamtkosten in Höhe das verspricht gute Aussichten. von 7 Milliarden Euro ausgehen. Wenn wir für das Jahr 2003 Kosten in Höhe von 3 Milliarden Euro unterstellen, Bevor ich auf die Anfrage der Union zu sprechen dann wäre dies mehr als eine Verdoppelung. Hier stellt komme, möchte ich einige Ausführungen zur TAB-Stu- sich die Frage, ob wir unserem Auftrag, dazu beizutra- die über Geothermie machen, schließlich steht auch sie gen, dass sich die Volkswirtschaft wieder belebt, noch heute auf der Tagesordnung. Die TAB-Studie bestätigt, gerecht werden. Das bezweifle ich ganz stark. dass die Nutzung von Erdwärme ein großes Potenzial bietet, auch hier in Deutschland. Ein großer Vorteil der Lassen Sie mich zum Abschluss weitere Schwerpunkte Erdwärme ist, dass sie witterungsunabhängig ist. Rein nennen. Wir sind für die beschleunigte Marktreife der er- technisch wäre es schon heute möglich, den Strombedarf neuerbaren Energien. Dafür sollten wir alles Notwendige in Deutschland gleich mehrfach allein durch Erdwärme tun. Deswegen ist es völlig unverständlich, dass die Bun- zu decken. Trotz hoher Erschließungskosten wird Erd- desregierung die Mittel für Forschung und Entwicklung wärme eine immer größere Rolle spielen; das ist eine auf dem Energiesektor, auch auf dem Sektor der erneuer- realistische Einschätzung. Durch gute Forschungsleis- baren Energien, deutlich reduziert. Daher habe ich die tungen und die Förderung durch das EEG, das Erneuer- große Sorge, dass wir auf wichtigen Sektoren von unseren bare-Energien-Gesetz, werden wir auch dieser Technolo- Wettbewerbern im europäischen und außereuropäischen gie erfolgreich den Weg ebnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7311

Marco Bülow (A) Nun zur Anfrage der Union. Sie ist – das kennen wir an anderen Luftschadstoffen ein, die meistens nicht er- (C) schon – geprägt von Skepsis und Mutlosigkeit. wähnt werden. Daran hat das EEG einen großen Anteil. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Drittens. Es handelt sich außerdem auch um ein Wirt- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftsprogramm. Mithilfe der erneuerbaren Energien hat sich eine innovative Technologiebranche an die in- Dabei sollten wir mit positivem Elan zur Tat schreiten ternationale Spitze katapultiert. Davon profitiert auch und sollten die vielfältigen Chancen, die die Nutzung er- der Mittelstand. Er wird immer gerne gelobt, für ihn neuerbarer Energien bietet, erkennen. Ich habe nichts da- wird aber selten etwas gemacht. Hier machen wir etwas gegen, selbst in einer schmackhaften Suppe ein Haar zu für den Mittelstand, auch für das Handwerk. Es ist eine suchen. Aber vor lauter negativem Grimm sollte man bei junge Branche mit Zukunft und mit riesigen Exportchan- der Suche nicht verhungern. cen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Kubatschka [SPD]: Da Viertens. Zudem ist es ein Beschäftigungsförderungs- sind nur Haare in der Suppe!) programm. Über 135 000 Arbeitsplätze werden in die- sem Bereich im Augenblick gesichert. Frau Brunkhorst, Kurz zur Historie. In Ihrer Anfrage loben Sie zu Sie haben das Thema Arbeitsplätze angesprochen und Recht das Stromeinspeisungsgesetz von 1990 als Aus- Vergleiche angeführt. Sie müssen aber schon die Bran- gangspunkt einer sinnvollen Förderung. Ich muss Ihrem chen im Energiebereich vergleichen. Wenn Sie diese Gedächtnis aber auf die Sprünge helfen: Diesem Parla- vergleichen würden, würden Sie sehen, wer die höhere mentsgesetz hat die damalige Opposition, die konstruk- Zahl aufweist. Alle Studien kommen zu dem Ergebnis, tiv war, zugestimmt, weil sie es für sinnvoll hielt. dass die Beschäftigungswirkung im Bereich erneuerba- rer Energien um ein Vielfaches höher ist als in anderen (Zuruf von der SPD: Sie hat es mit erarbeitet!) Energiebereichen, vor allem als in der Atombranche. Der richtige Durchbruch im Bereich erneuerbare Ener- gien ist erst mit unserem Erneuerbare-Energien-Gesetz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und den Maßnahmen der neuen Regierung gelungen. DIE GRÜNEN) Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat aber nicht die Zu- Fünftens. Es ist auch ein positiver Beitrag zur Ent- stimmung der Opposition, die jetzt aus Union und FDP wicklungshilfe. Das kann dazu führen, dass wir viele besteht, gefunden. Bis auf ein paar Unentwegte haben Konflikte und Kriege, die um Energie geführt werden alle aus der Opposition dagegen gestimmt und sich dem – sie werden auch in Zukunft eine große Rolle spielen –, Fortschritt verweigert. vermeiden können. (B) (D) (Beifall bei der SPD – Franz Obermeier Das EEG ist weltweit das erfolgreichste Gesetz zur [CDU/CSU]: Es war zu schlecht!) Förderung der erneuerbaren Energien und es stellt den Sie suchen nun das Haar in der Suppe. Das zeigen die Beginn eines der nachhaltigsten Projekte überhaupt dar, 42 Fragen, die Sie uns gestellt haben. Die entscheidende vor allen Dingen dann, wenn wir den Weg konsequent Frage in Ihrem Fragenkatalog ist die erste Frage, die lau- weitergehen und auch international offensiv dafür wer- tet, ob sich das Erneuerbare-Energien-Gesetz bewährt ben, was wir, so denke ich, auf der Weltkonferenz auch habe. Darüber sprechen wir doch nun schon seit einem tun werden. Jahr! Alle erbrachten Daten und Fakten sprechen eine Zurück zum Haar in der Suppe, das Sie noch immer deutliche Sprache: Ja, es hat sich bewährt. suchen. Zunächst war die angeblich unklare rechtliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Situation das Haar. Wir haben darüber diskutiert. Dann DIE GRÜNEN) wurde die Rechtskonformität vom Europäischen Ge- richtshof bestätigt. Schon wurde ein neues Haar ent- Jede Beurteilung des EEG von internationalen Institu- deckt, nämlich die angeblich utopische Vorstellung, den ten bestätigt das. Das Worldwatch-Institut hat das EEG in Anteil der erneuerbaren Energien in so kurzer Zeit zu diesem Jahr als beispielhaft bewertet. Auch UNEP und verdoppeln. In dem Erfahrungsbericht wird auch das wi- Herr Töpfer äußern sich positiv über das Erneuerbare- derlegt. Wir werden die 12,5 Prozent erreichen. Zwi- Energien-Gesetz. Andere Länder kopieren es. Die Be- schendurch gab es immer wieder Attacken gegen die er- völkerung will mit großer Mehrheit den weiteren Aus- neuerbaren Energien. All das nützte nichts. bau der erneuerbaren Energien. Dann endlich fanden Sie ein Haar, das zumindest dem Ich möchte einen Blick auf die Anforderungen wer- ersten Blick standhält, nämlich die Kosten: Die erneuer- fen, die wir an das EEG gestellt haben. Dieser bestätigt: baren Energien seien ja ganz schön, aber viel zu teuer Erstens. Bei der Verwirklichung des Ziels, den Anteil und die Kosten, die durch das EEG entstünden, seien zu der erneuerbaren Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent zu hoch. Doch auch dieses Haar erweist sich beim zweiten verdoppeln, liegen wir mit einem bis jetzt erreichten Blick als Schwindel: Stand von über 8 Prozent voll im Soll. Erstens. Es findet keine faire Kostendiskussion statt. Zweitens. Das EEG sollte ein Klimaschutzprogramm Die erneuerbaren Energien stehen am Anfang. Sie benö- werden. Schon jetzt sparen wir jährlich über 50 Millio- tigen eine Anschubförderung durch das EEG und wer- nen Tonnen CO2 und fast weitere 50 Millionen Tonnen den immer günstiger. Wir sehen, wie innovativ im 7312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Marco Bülow (A) Bereich der erneuerbaren Energien gearbeitet wird und zumindest verlangsamen soll, wird förmlich herbeige- (C) dass sich die Kostenschere schließen wird. sehnt. Ich habe das Gefühl: Wenn es nicht einmal herbei- geredet werden kann, dann soll uns die Suppe wenigs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tens versalzen werden. DIE GRÜNEN – Franz Obermeier [CDU/ CSU]: Auch die Große Wasserkraft?) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eine haar- Zweitens. Die herkömmlichen Energien sind nur sträubende Rede!) günstig, weil sie gefördert, also subventioniert wurden. Das werden wir aber nicht zulassen. Der Weg wird kon- Dies geschieht zum Teil auch heute noch – teilweise ver- sequent fortgesetzt. Dafür ist das EEG ein wichtiger Be- steckt. Ich will Ihnen ein besonderes Beispiel aus dem standteil. Bereich der Atomkraft nennen. Bei einem Super-GAU würden auf uns in Deutschland Kosten in Höhe von Wir laden Sie herzlich dazu ein, hier mitzugestalten. 5,4 Billionen Dollar zukommen. Das müsste eigentlich Wenn Ihnen an den erneuerbaren Energien und an der durch eine Versicherungssumme abgedeckt sein. Die be- Zukunft wirklich etwas liegt, dann werden Sie mitarbei- stehende Versicherung deckt diese Summe aber bei wei- ten. tem nicht. Die deutschen Atomkraftwerke sind nur mit (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Eine erfolgrei- 2,5 Milliarden Dollar – das sind nur etwa 0,05 Prozent che Wirtschaftspolitik!) der wirklichen Summe – versichert. Das bedeutet: Bei einer angemessenen Versicherung würde sich der Preis Die Suppe ist schmackhaft, sie hat hochwertige Inhalts- für den Atomstrom zumindest verdoppeln. Diese Kos- stoffe, sie sättigt und sie macht groß und stark. Da das tendiskussion müssten wir führen. für Sie anscheinend immer noch nicht reicht, rufe ich Ih- nen das zu, was man bei uns im Ruhrgebiet sagt: Es wird (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegessen, was auf den Tisch kommt. Zum Wohle! DIE GRÜNEN) Selbst wenn nichts passiert – was wir alle natürlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hoffen –, ist zu sagen: Allein die Suche nach einem End- DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/ lagerstandort und die Erkundung von Gorleben kosteten CSU]: Er hat Haare auf den Zähnen! – Franz uns 1,4 Milliarden Euro. Diese Beträge tauchen zwar Obermeier [CDU/CSU]: Es kommt immer we- nicht auf der Stromrechnung auf, sie sind aber von je- niger auf den Tisch!) dem Bürger und jeder Bürgerin zu zahlen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Drittens. Bei der Rechnung wurde auch sonst zu kurz (B) gedacht. Es stimmt: Einen durchschnittlichen Familien- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete . (D) haushalt kosten die erneuerbaren Energien im Augen- (Beifall bei der CDU/CSU) blick 1 Euro zusätzlich pro Monat. Allerdings sparen wir bei den externen Kosten – den Umwelt- und Gesund- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): heitsschäden – jeden Monat 5 Euro ein. Diese Kosten- rechnung muss immer aufgemacht werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Deutschland und auch die überwiegende Mehrzahl der DIE GRÜNEN – Franz Obermeier [CDU/ Unternehmen im Lande brauchen heute und in Zukunft CSU]: Das ist eine PISA-Rechnung!) eine sichere, umweltverträgliche und vor allem auch Es ist also wieder nichts mit dem Haar. Oder? Es gibt kostengünstige Energieversorgung. Weltweit steigt der ja noch die Wetterabhängigkeit der erneuerbaren Energieverbrauch. Nur eine begrenzte Anzahl von Tech- Energien. Auch dies wurde hier wieder angesprochen. niken kann heute eine zuverlässige Energieversorgung in Der Wind wehe doch nicht immer, entwickelten Volkswirtschaften gewährleisten. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ihnen weht (Ulrich Kasparick [SPD]: Herr Fischer, den- er sehr stark entgegen!) ken Sie an Spanien!) was zu Problemen bei der Regelenergie führe. Richtig! Deshalb kommt den Entwicklungsmöglichkeiten vor- Allerdings muss man demgegenüber sehen: Die Progno- handener Techniken sowie der Entwicklung und Bewer- sesysteme und somit die Wettervorhersagen werden im- tung neuer Techniken eine große Bedeutung zu. Im mer besser. Der Kollege Hermann Scheer hat schon an- Brennpunkt stehen insbesondere die Eignung so genann- gesprochen, dass es auf den Mix der erneuerbaren ter erneuerbarer Energien wie Wind, Sonne, Erdwärme Energien ankommt. Natürlich spielen Geothermie und oder Biomasse für eine nachhaltige Energieversorgung Biomasse eine große Rolle – das müssen sie auch –, weil in Deutschland. sie ständig zur Verfügung stehen. In einer aktuellen Studie des Büros für Technikfol- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genabschätzung beim Deutschen Bundestag zum Thema NEN]: So ist es!) Geothermie wird die Unwirtschaftlichkeit geothermi- scher Strom- und Energieerzeugung hervorgehoben. Es sind also erdrückende Vorteile und unglaubliche Chancen. Anstatt sie zu nutzen, wird gemäkelt und sich (Ulrich Kelber [SPD]: Dann haben Sie sie geziert. Das Haar, das den Fortschritt verhindern oder nicht gelesen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7313

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) Die Technik sei derzeit noch im Forschungs- und Ent- Die Bewertung der Förderung der Windenergie liest sich (C) wicklungsstadium, so die Studie. Marktchancen für eine dort wie folgt: Verbreitung bestünden auf absehbare Zeit hinaus in Deutschland nicht. (Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie einen eige- nen Gedanken oder nur Zitate?) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Goldgräberstimmung der Boomjahre insbeson- NEN]: Das war mal am Anfang!) dere ab 1999 hat nicht getragen, Gewinne sind un- Die abschätzbaren Potenziale für die Stromproduktion produktiv in den Taschen der Fondsinitiatoren, und die Niedertemperaturwärme seien, so die Studie, oh- Dienstleister, Vertriebe und auch einiger Hersteller nehin begrenzt. Hier, wie auch im gesamten übrigen gewandert oder für einen unkoordinierten Entwick- Energiebereich, stellt sich die Frage, wie man mit Tech- lungswettlauf verwendet worden. Die Förderung niken umgehen soll, die nach Stand von Forschung und des EEG hat dies nicht verhindert und sich damit Entwicklung auf absehbare Zeit nicht marktfähig sind. für die Zukunft als ineffizient, weil zu unspezifisch Eine forcierte Markteinführung nicht marktreifer Tech- erwiesen. niken mithilfe umfangreicher Subventionen bzw. Förde- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungen erscheint mittel- bis langfristig wenig Erfolg ver- NEN]: Sie sind allein in der Union mit dieser sprechend, wie auch das Beispiel der Windkraft zeigt. Meinung!) In einer aktuellen Studie eines großen deutschen Die Haltung der Bundesregierung zur Novellierung Bankinstitutes heißt es hierzu: des EEG wie auch die Tatsache, dass die Bundesmittel für die langfristig orientierte Energieforschung im In den Medien ist ein Kampf um das „Wie weiter Haushaltsentwurf unverständlich gering sind, mit der Windenergie?“ entbrannt. Kulminations- punkt ist die Veränderung der Höhe der Stromein- (Horst Kubatschka [SPD]: Ist das auch ein Zi- speisepreise, wie sie im Erneuerbare-Energien-Ge- tat? Jetzt kommt ein eigener Gedanke! Gut!) setz ... geregelt sind. Die Politik ist sich einig, dass die bisherigen Vergütungssätze für Onshore-Anla- belegen die kurzfristige und kurzsichtige Orientierung gen gesenkt werden müssen. der Regierungspolitik im Energiebereich. (Beifall bei der CDU/CSU) Weiter unten heißt es in der eben zitierten Studie: Es ist so deutlich wie bestürzend, wie sehr diese Bun- Die Befürworter (man spricht von Windenergie), desregierung trotz der miserablen Haushaltslage und der (B) das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz wirtschaftlichen Misere im Land weiterhin Fragen der (D) und Reaktorsicherheit und eine gut organisierte Wirtschaftlichkeit ignoriert. Statt die Energieforschung Lobby aus dem Interessenverband, Bundesverband voranzutreiben und die Techniken zur Marktreife zu ent- Windenergie e. V. ..., den Betreibern, Herstellern, wickeln, werden dauerhaft unrentable Anlagen in die Dienstleistern, Fondsinitiatoren und Forschungs- Landschaft gesetzt und Volksvermögen, Arbeitsplätze instituten, deren Finanzierung nicht unerheblich und Wohlstand massiv vernichtet. So kann man für von Aufträgen des Bundesumweltministeriums ab- Deutschland keine positive Zukunft gestalten. hängt, propagieren eine Wirtschaftlichkeit der An- lagen in wenigen Jahren, eine „grandiose“ Entwick- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung des Stromangebots aus Windenergie, die NEN]: Deswegen sind Sie für die Fusionsener- Erfüllung der Kioto-Verträge zur Treibhausgasredu- gieforschung, oder?) zierung und die Schaffung vieler neuer Arbeits- So kann man allenfalls die Begehrlichkeiten von Interes- plätze. sengruppen für einen begrenzten Zeitraum befriedigen. (Ulrich Kelber [SPD]: So ist es!) Was wir aber in Deutschland dringend brauchen, sind Im Fazit der Studie heißt es mit Blick auf die Auswir- Entscheidungen für Kraftanlagen und Energietechniken, kungen der EEG-Förderung: die uns allen auch langfristig Vorteile bringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Treibhausgase werden eingespart, aber um den [SPD]: Eine Aneinanderreihung von veralteten Preis hoher, den Strompreis treibender Fördergelder Vorurteilen!) und einer „Verspargelung“ der Landschaft. Profi- tiert haben durchaus Investoren an sehr guten Standorten, einzelne Landwirte, lokale Forschungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: institute, einige Kommunen und vor allem die deut- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell. sche Windindustrie, die, aus kleinsten Verhältnissen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kommend, gestärkt wurde und nun offenbar wie- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der … schrumpft. Der Traum von einer mittelstän- disch geprägten Industrie, die Technologieführung in der Welt beanspruchen und nachhaltig viele neue Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Arbeitsplätze schaffen kann, ist für fast alle Anbie- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen ter bald beendet. und Kollegen! Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist eine 7314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Hans-Josef Fell (A) Erfolgsgeschichte, und zwar für Wirtschaft und Umwelt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Herr Fischer. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Legen Sie mal Wie weitsichtig der Blick der damals federführenden eine neue Platte auf!) Parlamentarier war, lässt sich heute erst annähernd erah- nen. Im Bericht des Büros für Technikfolgenabschät- Das hat die Bundesregierung im Gegensatz zu Ihren zung, den wir heute ebenfalls debattieren, wird das ge- Aussagen in der Antwort auf Ihre Große Anfrage in aller waltige Potenzial der Erdwärme für Strom- und Deutlichkeit dargestellt. Wärmeerzeugung in Deutschland dargestellt. Ich weiß (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ gar nicht, Herr Fischer, welchen Bericht Sie gelesen ha- CSU]: Darüber werden wir noch debattie- ben. ren!) (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Ich weiß nicht, welchen Sie gelesen ha- Jährlich – so können Sie dort lesen – werden in ben!) Deutschland durch erneuerbare Energien zurzeit 50 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Ein Umsatzvolu- Im Ausschuss habe ich schon gemerkt, dass Sie auf win- men von 10 Milliarden Euro wird in unserer Wirtschaft zige Defizite hinweisen und die riesigen Möglichkeiten, erreicht. Aktuell werden hier 135 000 Menschen be- die die Wissenschaftler darstellen, gar nicht zur Kenntnis schäftigt. Damit ist klar: Ökonomie und Ökologie stellen nehmen. keinen Gegensatz dar; vielmehr – entgegen Ihren Aussa- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: So winzig gen – bedingen sie sich. sind sie nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich zitiere aus dem Bericht: Geothermieenergien stel- sowie bei Abgeordneten der SPD) len eine ernst zu nehmende Option für die zukünftige Noch eine Ihrer Aussagen ist falsch. Die von der Energieversorgung dar, wenn auch nur ein Bruchteil der Union und der FDP immer wieder überdramatisierten geschätzten Potenziale tatsächlich genutzt werden. – So Mehrkosten im Strompreis sind überschaubar und gehen schreiben die Wissenschaftler des Deutschen Bundesta- mittelfristig bereits zurück. Damit ist schon heute er- ges. kennbar: Die volkswirtschaftlichen Markteinführungs- Alleine die Erdwärme könnte in Deutschland die ge- kosten für erneuerbare Energien werden wesentlich samte Grundlaststromerzeugung ersetzen. Mehr noch: geringer sein, als es zum Beispiel die der Kernenergie in Das ginge ohne nennenswerte Umweltbelastung oder der Vergangenheit waren und übrigens noch heute sind; CO -Emissionen. Damit ist klar: Das Abschalten der (B) Herr Bülow hat dies sehr gut herausgestellt. 2 (D) Atomkraftwerke muss nicht mit einem höheren CO2- Die deutsche Volkswirtschaft ruft zu Recht nach Inno- Ausstoß verbunden sein, wie Sie, meine Damen und vationen, um Arbeitsplätze und neue unternehmerische Herren von der Union und der FDP, das immer wieder Tätigkeit zu initiieren. Das Erneuerbare-Energien-Ge- darstellen. setz ist in diesem Sinne ein besonders erfolgreiches (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles theo- Innovationsinstrument. Zusammen mit dem alten retisch!) Stromeinspeisungsgesetz hat es die Kosten der Wind- stromproduktion seit 1990 um über 50 Prozent gesenkt. Wir können es auch mit erneuerbaren Energien schaffen. Die Kosten der Photovoltaik sind seit 1999 real um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 25 Prozent gesunken. Auch bei der Bioenergie sind die und bei der SPD) Innovationsfortschritte enorm. Damit ist klar, meine Da- men und Herren von der Union: Der Weg, den wir hier Der Wärmestrom aus der Tiefe der Erde kann gleich- beschritten haben, ist der beste Weg zur Wettbewerbsfä- mäßig, Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, ge- higkeit. nutzt werden. Damit bietet die Erdwärme zusammen mit den Bioenergien und intelligenten Speichertechnologien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die ideale Ergänzung zu den alternierenden Energien sowie bei Abgeordneten der SPD – Franz von Sonne und Wind. Diese Energien können eine hö- Obermeier [CDU/CSU]: Ist er nicht!) here Versorgungssicherheit herstellen als die heutige Kraftwerkserzeugung. Denn wir wissen doch, dass die Besonders beachtlich ist der Innovationseffekt des Kohle- und Kernkraftwerke im Sommer dieses Jahres EEG bei der Nutzung der Erdwärme. Die rot-grüne besondere Probleme durch die Dürre und die Hitze hat- Bundestagsmehrheit hat mit der Aufnahme der Erd- ten, als ihnen fast das Kühlwasser ausgegangen ist. Wir wärme in das Erneuerbare-Energien-Gesetz im wissen, dass wir mit der Nutzung der Erdwärme erst am Jahre 2000 besonderen Weitblick bewiesen. Gab es da- Anfang sind. Es gibt einiges zu tun. Das BMU hat kon- mals noch Stimmen, zum Beispiel aus der bayerischen sequenterweise im Entwurf der EEG-Novelle eine hö- Energiewirtschaft, man könne in Deutschland gar keinen here Vergütung vorgeschlagen. Wir werden dies im Par- Strom aus Tiefenerdwärme erzeugen, so sind heute alle lament aufgreifen. Zweifler eines Besseren belehrt worden. Vor wenigen Wochen ging in Neustadt-Glewe in Mecklenburg-Vor- Herr Fischer, Sie haben die Energieforschung her- pommern die erste Anlage zur Stromerzeugung aus Tie- vorgehoben. Unter Ihrer Regierung wurde damals die fenerdwärme ans Netz. Forschung über die Nutzung der Erdwärme fast beendet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7315

Hans-Josef Fell (A) Wir haben die Forschung wieder auf den Weg gebracht (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (C) und damit große Vorteile erreicht. Wir werden das weiter verfolgen, damit über das Sinken der Kosten der Erd- denn mit dem Geschmacksmusterreformgesetz setzen wärme ein schneller Weg eingeschlagen wird. Wir sind wir die Richtlinie der EU in nationales Recht um. Das uns sicher, dass all dies gelingen wird. Geschmacksmuster wird im Ergebnis zu einem vollwer- tigen gewerblichen Schutzrecht aufgewertet. Das Ge- Zusammen mit anderen Maßnahmen, mit Vorschlä- schmacksmusterrecht schützt insbesondere die Form und gen aus dem Parlament, die die Bundesregierung aufge- die Gestalt eines Gegenstandes, betrifft also das Design. griffen hat, zum Beispiel auch mit der großen Energie- Unser Gesetzentwurf ist deshalb auf breiteste Zustim- konferenz und der damit zeitgleich stattfindenden mung gestoßen – bis auf einen streitigen Punkt, der das Parlamentarierkonferenz, werden wir diese Technolo- Gesetzgebungsverfahren verlängert hat: Sollen Ersatz- gien der Welt bewusster machen. Sie wird insgesamt er- teile, insbesondere Kfz-Ersatzteile, vom Geschmacks- kennen, welche großen Möglichkeiten sich ergeben. Da- musterschutz erfasst sein oder nicht? Dabei muss man mit die Parlamentarier einen entsprechenden Rahmen wissen, dass ohnehin nur die sichtbaren Ersatzteile ge- finden können, erhebt auch unsere Fraktion die Forde- meint sind, wie zum Beispiel Scheinwerfer, Rückleuch- rung, diese Parlamentarierkonferenz im Plenarsaal des ten oder Außenspiegel. ehemaligen Bundestagsgebäudes in Bonn stattfinden zu lassen. Unser Gesetzentwurf sieht eine sowohl für die Auto- mobilindustrie als auch für die Unternehmen im Ersatz- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. teilhandel gute und ausgewogene Lösung vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schön wäre und bei der SPD) es!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir behalten den Status quo, also die bisherige Rechts- Ich schließe die Aussprache. lage, auch für die Zukunft bei, Herr Krings. Damit kön- nen die Marktteilnehmer wie bisher auskömmlich ne- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf beneinander leben. Drucksache 15/1835 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission bis den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- zum Herbst kommenden Jahres einen Vorschlag für eine schlossen. europaweit einheitliche Lösung dieser Detailfrage vorle- gen will. Es wäre nicht sinnvoll, durch neue nationale Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Vorschriften dem Gemeinschaftsrecht vorzugreifen und (B) (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- eine Art Unordnung in Europa zu schaffen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So machen zur Reform des Geschmacksmusterrechts (Ge- es aber sieben andere Länder!) schmacksmusterreformgesetz) – Hören Sie einfach einmal zu! – Drucksache 15/1075 – Wenn unser Gesetzentwurf gerade auch für Ersatz- (Erste Beratung 53. Sitzung) teile Geschmacksmusterschutz ermöglicht, so entspricht Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- dies übrigens vollkommen unserem System der gewerb- schusses (6. Ausschuss) lichen Schutzrechte. In diesem Zusammenhang höre ich häufig den Einwand, der Automobilindustrie solle kein – Drucksache 15/2191 – Designmonopol zufallen. Dem halten wir entgegen, Berichterstattung: dass die gewerblichen Schutzrechte den Lohn für eine Abgeordnete Dirk Manzewski besondere geistige Leistung bilden – beim Geschmacks- Dr. Günter Krings muster für eine gelungene Produktgestaltung. Da ist es Jerzy Montag nur konsequent, wenn wir es mit dem Schutz geistigen Rainer Funke Eigentums ernst meinen. Außerdem hat sich der freie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Teilemarkt – hören Sie gut zu, Herr Krings! – auch unter Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre den bestehenden Vorschriften gut entwickelt. Eine Ver- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. drängung vom Markt hat nicht stattgefunden. Derzeit verfügen der freie Markt und die Konzerne über jeweils Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst 50 Prozent der Marktanteile. der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. Auch die Automobilhersteller wollen am Status quo nichts ändern. Sie haben im Vorfeld dieses Entwurfs aus- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- drücklich erklärt, dem freien Teilemarkt keine Markt- desministerin der Justiz: anteile durch vermehrtes Pochen auf Schutzrechte strei- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und tig zu machen. Das ist die Geschäftsgrundlage unseres Kollegen! Nach der Redeliste von heute halte ich eine Entwurfs. Rede in der Zukunft, nämlich in der Sitzung am 12. Dezember 2004. Ich werde mich aber bemühen, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Die ist schon heute eine zukunftsorientierte Rede zu halten, weg!) 7316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Solange die Automobilindustrie diese Geschäftsgrund- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): (C) lage nicht verlässt – sie hat zugesagt, diese Basis zu Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und beachten –, besteht kein Anlass, das geltende bewährte Herren Kollegen! Zunächst einmal: Den Adventswün- Recht umzuschreiben. schen des Herrn Staatssekretärs kann ich mich voll und ganz anschließen. Als Alternativen zum Entwurf der Bundesregierung wurden von den Ersatzteilehändlern und der CDU/CSU Ansonsten wird diesen Tag wahrscheinlich vor allem immer wieder eine so genannte Reparaturklausel oder die deutsche Automobilindustrie als Erfolg feiern aber eine Vergütungsregelung genannt. Beide Vor- können – zumindest wenn es so ausgeht, wie Sie sich schläge sind aber letztlich zur Lösung der Probleme völ- das vorstellen. Wenn ein Gesetz die Belange dieses lig ungeeignet. Die deutsche Automobilindustrie stünde wichtigen Wirtschaftszweiges berücksichtigt, so ist da- schutzlos da und müsste mit Massenimporten aus Billig- gegen prinzipiell auch gar nichts einzuwenden. Im Ge- lohnländern rechnen. genteil: Es ist in der Regel sogar begrüßenswert. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unsinn!) Wenn aber ein Gesetz einseitig den Interessen der fünf großen Automobilhersteller dient – wie es bei dem Ich habe das übrigens Herrn Stoiber erzählt. Der kommt vorliegenden Gesetzentwurf der Fall ist –, während die noch und zieht Ihnen die Ohren lang; passen Sie einmal Interessen von 47 Millionen Autofahrern und Tausenden auf! von mittelständischen Produktions-, Handwerks- und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Handelsbetrieben in Deutschland ignoriert werden, dann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei ist an diesem Gesetz etwas faul. In diesem Fall ist es die der CDU/CSU) Pflicht der Opposition, den Finger auf die Wunde zu le- gen und auf diese Einseitigkeit hinzuweisen. Nicht die mittelständischen Hersteller würden davon profitieren, sondern allenfalls der Handel. Der Verlust Sie auf der linken Seite des Hauses kümmern sich von Arbeitsplätzen stünde zu befürchten. Nicht einmal wieder einmal nur um die Großen in diesem Land. Wir den Verbrauchern käme man entgegen. Der hohe Quali- werden Ihnen bei der Verabschiedung dieses verbrau- tätsstandard, den wir gewohnt sind, wäre kaum zu hal- cher- und mittelstandsfeindlichen Gesetzes nicht die ten. Die Billigimporte würden sich auf wenige gängige Hand reichen. Marken beschränken, an denen der Importhandel ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dient. Die Automobilindustrie könnte nicht mehr ausge- Rainer Funke [FDP]) wogen kalkulieren und müsste Ersatzteile für weniger gängige Modelle teuer herstellen. Ihr Argument, meine Die Bundesregierung hätte schon in der vorigen (B) (D) Damen und Herren von der Opposition, Sie wollten den Wahlperiode ausreichend Zeit gehabt, um einen Vor- Verbraucherschutz stärken, geht daher völlig fehl. schlag zu einem fairen Interessenausgleich im Design- schutz für Autoteile zu erarbeiten. Sie aber haben sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Luxus erlaubt, schon bei der Einbringung des Ge- DIE GRÜNEN) setzentwurfes alle europarechtlichen Fristen großzügig zu überschreiten. Inzwischen ist der letzte Tag der Um- Auch eine Vergütungsregelung würde das Problem setzungsfrist schon lange – seit zwei Jahren – verstri- nicht befriedigend lösen. Im Gegenteil, es ergäbe sich chen. Das zeigt, wie ich befürchte, dass der Schutz des eine Reihe neuer Probleme, insbesondere ein neuer Bü- geistigen Eigentums innerhalb des Kabinetts leider nicht rokratismus, Herr Funke, der für die Wirtschaft nur den Stellenwert besitzt, den er angesichts seiner wirt- schädlich sein kann. schaftlichen Bedeutung verdient. (Zuruf von der SPD: Genau!) Die geistige und schöpferische Leistung des Desig- Das wollen wir durch moderne Regelungen vermeiden. ners sorgt völlig zu Recht dafür, dass auf dem Unser Lösungsweg ist also ausgewogen und tragfähig. Neuwagenmarkt – hören Sie jetzt genau zu, Herr Er wird sich durchsetzen. Hartenbach! – ein Produktmonopol für Kraftfahrzeuge wie auch für die sichtbaren Außenteile der Kraftfahr- Danke schön. zeuge entsteht. Käme etwa Audi auf die Idee, den Küh- lergrill von BMW nachzubauen, so könnten sich die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Münchner erfolgreich dieses Übergriffs in ihre Rechte DIE GRÜNEN) erwehren. Ein letzter Satz: Ich wünsche allen einen schönen Ad- (Zuruf von der SPD: Richtig!) vent und eine gute Vorweihnachtszeit, damit Sie nächs- ten Freitag guter Stimmung sind! Die Rechte des Designers werden in dem neuen Ge- schmacksmustergesetz sogar noch ausgeweitet. (Beifall) (Dirk Manzewski [SPD]: Damit haben wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kein Problem!) Wir danken für die Adventsgrüße und erwidern sie Künftig wird es in vielen Fällen einfacher werden, von Herzen. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete rechtlichen Schutz für die eigene Designleistung zu er- Günter Krings. langen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7317

Dr. Günter Krings (A) Ein Problem des vorgelegten Gesetzentwurfs besteht Manzewski – die Einschränkung von Eigentumspositio- (C) aber darin, dass die Automobilindustrie – Herr Montag, nen nicht weit genug gehen kann. Sie haben im Ausschuss bereits darauf hingewiesen – von dieser Verbesserung des Designschutzes ausge- (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist doch völliger nommen wird. Der von der Regierung formulierte § 67 Unsinn!) verhindert ausdrücklich, dass insbesondere Autoherstel- Wir als CDU/CSU-Fraktion wissen, dass Eigentum ler in den Genuss der verbesserten Schutzmöglichkeit verpflichtet und dass es beim geistigen Eigentum um ei- kommen. Damit wird das Gegenteil dessen erreicht, was nen angemessenen und fairen Interessenausgleich zwi- Sie angeblich beabsichtigen. schen den Kreativen und ihren Auftraggebern einerseits Die Industrie wird das sicherlich verschmerzen kön- und den Nutzern andererseits geht. Diesem mitunter nen. Der Designschutz, der eigentlich den Hersteller ei- schwierigen Geschäft scheinen sich SPD und Grüne nes gänzlich neuen Produkts gegen Nachahmer und Ko- beim Geschmacksmusterrecht offenbar entziehen zu pierer schützen soll, ist in der langen und erfolgreichen wollen. Geschichte der deutschen Automobilindustrie noch nicht (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) ein einziges Mal von einem Automobilhersteller gegen einen anderen juristisch geltend gemacht worden. Herr Kollege Tauss, wenn wir es uns zum Beispiel beim Urheberrecht genauso einfach gemacht hätten wie Ihre Auf dem Neuwagenmarkt, für den der Designschutz Fraktionskollegen beim Geschmacksmusterrecht, dann – zumindest im Kraftfahrzeugbereich – eingeführt wurde, hätten wir viel Zeit gespart und ein Urheberrecht schaf- wird er offenbar nicht gebraucht. Stattdessen wird dieses fen können, das gerade einmal zwei Paragraphen um- Schutzrecht als Instrument genutzt, um das Monopol auf fasst hätte: § 1 hätte besagt, dass das Urheberrecht für dem Neuwagenmarkt auf einen anderen Markt, nämlich Autoren und andere Kreative gilt. In § 2 wären Strafen den Markt für Ersatzteile, zu übertragen. und Bußgelder definiert worden. Das wäre es gewesen, Ende der Veranstaltung. So einfach können wir es uns Bei allen, die ein wenig von Kartellrecht verstehen aber weder beim Urheberrecht noch beim Geschmacks- (Dirk Manzewski [SPD]: So, wie Sie, Herr musterrecht machen. Dafür möchte ich werben. Krings!) Es ist im Übrigen schon bemerkenswert, wen Sie bei – im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich wenigstens etwas Ihrer Ablehnung einer Reparaturklausel auf Ihrer Gegen- davon; hören Sie besser genau zu, dann werden Sie et- seite haben. Erstens. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten was lernen –, der Europäischen Union, die ihrer Pflicht zur Umsetzung der Geschmacksmusterrichtlinie nachgekommen ist, hat (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Manzewski sich klar für eine Reparaturklausel oder eine vergleich- (D) [SPD]: Aber nicht von Ihnen!) bare Regelung entschieden. Zu diesen Ländern gehören müssen in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht alle Alarm- interessanterweise vor allem solche mit einer bedeuten- glocken läuten, wenn ein Unternehmen sein Monopol den Autoindustrie, wie zum Beispiel Italien, Spanien von einem Markt auf einen anderen übertragen will. und Großbritannien. Dass der Neuwagen- und der Ersatzteilmarkt aus öko- Zweitens. Die EU-Kommission befürwortet ebenfalls nomischer Sicht zwei Märkte sind, kann in wettbewerbs- eine Reparaturklausel; denn sie ist wichtig für den Wett- rechtlicher Hinsicht nicht ernsthaft bestritten werden. bewerb in Europa. Der Kunde, der ein Auto erwirbt, will sich mit dieser Drittens. Sogar das Bundeskartellamt hat sich offen- Entscheidung nicht auf Gedeih und Verderb der Preispo- bar schon im letzten Jahr positiv zu einer solchen Klau- litik seines Autoherstellers ausliefern. Genauso wenig, sel geäußert, übrigens in einer internen Stellungnahme, wie wir als Gesetzgeber den Autokäufer zwingen, bei deren Inhalt mir zwar berichtet wurde, deren Veröffent- Reparaturen nur die Vertragswerkstatt aufzusuchen oder lichung aber das Bundeswirtschaftsministerium offen- gar seinen Kraftstoff nur bei Vertragstankstellen zu tan- sichtlich verweigert. Ich finde auch das ist kein guter ken, sollten wir ihn zwingen, seine Ersatzteile nur vom Stil. Autohersteller zu beziehen. Was macht die deutsche Regierung? Sie geht den um- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gekehrten Weg. Sie votiert gegen den freien Wettbe- Eine Reparaturklausel würde den Musterschutz für werb. Angesichts dessen fragt man sich schon, woran Neuwagen und Neuteile ohne jede Einschränkung ge- das liegt. Herr Kollege Hartenbach, uns ist natürlich klar, währleisten. Sie würde es lediglich erlauben, dass Repa- dass die Entscheidung gegen eine Reparaturklausel, also ratur- und Ersatzteile für Autos nachgebaut werden kön- gegen eine verbraucher- und mittelstandsfreundliche Re- nen. Wir meinen, das wäre ein fairer Kompromiss. gelung nicht primär im Justizministerium getroffen wor- den ist, sondern dass sich der „Autokanzler“ persönlich Wir wollen weniger Gängelung und mehr Wettbe- einschaltet, wenn die Interessen der Autoindustrie be- werb. Nur ein rechtlich abgesicherter Wettbewerb wird troffen sind. Der schöne Titel „Autokanzler“ kann aber zu niedrigen Preisen auf dem Ersatzteilmarkt führen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirtschaftspoli- können. Es ist sehr erstaunlich, dass der Protest hier- tik dieses Regierungschefs auch der deutschen Autoin- gegen von den Kollegen in diesem Hause kommt, de- dustrie deutlich mehr schadet als nutzt. Das zentrale Pro- nen sonst – etwa beim Urheberrecht, Herr Kollege blem rot-grüner Wirtschaftspolitik liegt aber darin, dass 7318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dr. Günter Krings (A) der Kanzler nur ein „Autokanzler“ und nicht zugleich Wenn es nach dem Regierungsentwurf und nach Ihrer (C) ein „Handwerkskanzler“, ein „Einzelhandelskanzler“ Rede, Herr Staatssekretär, geht, dann dürfte es die be- oder ein „Mittelstandskanzler“ ist. schriebenen Verfahren gegen die deutschen Teilehändler eigentlich gar nicht geben. In der Begründung des Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzentwurfs wird ein Brief der deutschen Automobilin- Man muss nur wissen, dass innerhalb der Privatwirt- dustrie an den Bundeskanzler zitiert. Dort heißt es: schaft 70 Prozent der Menschen im deutschen Mittel- Die Automobilindustrie hat insoweit klar und ein- stand Beschäftigung finden. So lässt sich leicht und lo- deutig erklärt, dass es ihr nicht darum geht, den gisch erklären, welche Politik mit ursächlich dafür ist, Wettbewerb und den Ersatzteilmarkt zum Nachteil dass wir inzwischen in Deutschland konstant über der Ersatzteilehersteller und des Handels zu beein- 4 Millionen Arbeitslose beklagen müssen. trächtigen. Zu den fadenscheinigsten Angriffen auf eine Repara- Es wird sich in den nächsten Monaten zeigen, was turklausel zählt im Übrigen das Argument, die Qualität solche Zusagen wirklich wert sind. Entscheidend ist der Ersatzteile sei gefährdet – Sie haben das inzident aber, dass sich dieses Haus dank seiner rot-grünen Mehr- angesprochen –, wenn die deutsche Autoindustrie es heit geradezu der Lächerlichkeit preisgibt, wenn es ein nicht mehr in der Hand habe, welche Hersteller auf den Gesetz unter der Bedingung erlässt, dass die Nutznießer deutschen Markt dürfen und welche nicht. In der Anhö- versprechen müssen, davon keinen Gebrauch zu ma- rung des Rechtsausschusses hat der Sachverständige chen. Ulrich May, der als Vertreter des 14,5 Millionen Mitglie- der starken ADAC eingeladen war, klipp und klar ausge- (Dirk Manzewski [SPD]: Quatsch!) führt – ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus dem Anhörungsprotokoll –: Wie können wir erwarten, dass die Bürger und Unter- nehmer in Deutschland unsere Gesetze noch ernst neh- Nach Rücksprache mit unserer Crashabteilung ha- men, wenn sie unter solchen Umständen zustande kom- ben wir auch festgestellt, dass es keinerlei Erfah- men? Dieses Gesetz und vor allem seine Begründung rungen gibt, die belegen würden, dass Sicherheitsri- stärken nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen ge- siken durch Nachbauteile im Karosseriebereich genüber dem Rechtsstaat. Mit einer solchen Hinterzim- entstehen würden. mergesetzgebung ist kein Staat zu machen. Ebenso scheinheilig ist das Argument, eine Repara- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und turklausel gefährde Arbeitsplätze in Deutschland, weil der FDP) sie den Import von Nachbauteilen nach Deutschland zu- (B) lasse. Fakt ist, dass es nicht in erster Linie die Ersatzteil- Wir von der Unionsfraktion waren und sind zu einem (D) hersteller sind, die im Ausland produzieren oder produ- vernünftigen Kompromiss bereit. Die Reparaturklausel zieren lassen. Vielmehr verlagern die Automobilfirmen stellt schon in sich einen solchen Kompromiss dar: Sie selbst – leider – einen immer größeren Teil ihrer Produk- gibt der Autoindustrie das Produktmonopol für den Neu- tion in das nähere und fernere Ausland und beziehen wagenbereich und überlässt den Ersatzteilemarkt dem auch Teile verstärkt aus dem Ausland. Die freien Ersatz- freien Wettbewerb. Darüber hinaus ist die Erhebung ei- teilproduzenten sind überwiegend mittelständische deut- ner Lizenzgebühr möglich. Autofirmen können damit sche Firmen, deren wirtschaftliche Existenz wir nicht eine angemessene Vergütung für die Nutzung ihres De- vom Gutdünken der großen Automobilfirmen abhängig signs bei Ersatzteilen verlangen. Ebenso ist eine Befris- machen dürfen. tung des Musterschutzes für Ersatzteile denkbar, und zwar in folgendem Sinne: Den Automobilfirmen ver- Übrigens, Herr Hartenbach, und Herr Staffelt, wenn bleibt ein Marktmonopol für die ersten zwei oder drei Sie sich hier über Bremsscheiben unterhalten, dann zeigt Jahre der Lebenszeit eines Modells; danach setzt der das wieder einmal, wie gut Sie Ihren eigenen Gesetzent- freie Wettbewerb ein. wurf kennen; denn Bremsscheiben sind gar nicht betrof- fen. Sie sind nämlich nicht sichtbare Ersatzteile. Wir haben drei konkrete Vorschläge gemacht. Wir sind zu Kompromissen bereit. Sie haben alle Vorschläge Wer glaubt, dass die eben erwähnten Befürchtungen ausgeschlagen und sich für eine verbraucher- und mittel- übertrieben pessimistisch seien, weil bislang alles gut standsfeindliche Lösung entschieden. gegangen sei und weil der deutsche Ersatzteilhandel noch gut im Geschäft sei, der hat offenbar die jüngsten Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite Entwicklungen der Branche nicht zur Kenntnis genom- dieses Hauses, ich fordere Sie ein allerletztes Mal auf: men oder will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Mehrere Werfen Sie in Sachen Reparaturklausel „Ihr Herz über deutsche Automobilfirmen sitzen nicht mehr in den die Hürde“! Beweisen Sie, dass es nicht nur für die Chef- Startlöchern, sondern sind schon losgelaufen, um mit- etagen der deutschen Automobilindustrie, sondern auch hilfe ihrer Designrechte die unliebsame freie Konkur- für 47 Millionen Autobesitzer in Deutschland schlägt. renz vom Markt zu drängen. Erste Prozesse sind bereits Danke schön. anhängig. Obwohl dem Verband der Automobilindustrie das vorzeitige Losschlagen wohl etwas peinlich ist, sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Klagen bislang nicht zurückgenommen worden. Man darf also sehr gespannt sein, welche Prozesse in den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nächsten Monaten und Jahren noch angestrengt werden. Jetzt hat der Abgeordnete Jerzy Montag das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7319

(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!) (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und zugunsten von Schulen sowie für Zwecke der Ausbil- Herren! Lieber Herr Kollege Dr. Krings, trocknen Sie dung und der Forschung Schranken einzufügen. Ihre Krokodilstränen, die Sie wegen des angeblich feh- lenden Verbraucherschutzes vergießen! Das passt nicht (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!) zur Politik Ihrer Partei. Es ist bezeichnend, dass Sie den Auch da war Ihre Argumentation also, das könne man Verbraucherschutz erst dann entdecken und vermeint- nicht machen. Da waren Sie durchaus verbraucher- und lich vehement verteidigen, wenn es um Autobesitzer gemeinwohlfeindlich, lieber Herr Kollege. Deswegen geht. sind die Tränen, die Sie hier beim Thema Autoersatzteile (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vergießen, Krokodilstränen. GRÜNEN]: Genau!) Entgegen Ihren Ausführungen ist der Markt im Be- Wir werden uns das merken. Wenn wir Anfang des Jahres reich der Automobilteile liberalisiert und ausgewogen. 2004 miteinander über die Reform des Gesetzes gegen Ich will Ihnen die Stellungnahme des Gesamtverbandes den unlauteren Wettbewerb diskutieren, dann werden wir Autoteile-Handel e. V. vorhalten. Die Betroffenen selbst Ihnen Ihre Überlegungen zum Verbraucherschutz einmal haben noch im Jahr 2002 erklärt, sie hätten 40 Prozent vorhalten. des Autoteilehandels in ihren Händen. Herr Staatssekre- tär Hartenbach hat von 40 bis 50 Prozent gesprochen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: 50 Prozent!) Wir legen das Gesetz – es ist im wohlverstandenen In- aber die Betroffenen selbst sagen, dass sie 40 Prozent in teresse der Verbraucher und auch der Autobesitzer – ihren Händen haben. Von einer Monopolisierung kann ohne eine Reparaturklausel vor, weil sich die betroffenen also überhaupt keine Rede sein. Ersatzteilhersteller auf den Bereich der Autoteile be- Hochinteressant: Die Beitrittsländer, die Autos produ- schränken – das ist selbstverständlich und das wirft ih- zieren, Tschechien und Polen etwa, haben in den letzten nen niemand vor –, der einen guten Profit abwirft, wäh- Tagen davon Abstand genommen, eine Reparaturklausel rend die Automobilindustrie für alle Modelle und über in ihre neuen Gesetze zur Erreichung des Acquis einzu- viele Jahrzehnte alle Ersatzteile vorrätig hält, damit auch fügen. derjenige, der noch einen alten VW Käfer fährt, ein Er- satzteil bekommen kann. Deswegen ist es wichtig, dass (Rainer Funke [FDP]: Weil VW denen Druck die Automobilindustrie das Recht erhält, am Autoteile- macht!) (B) markt im Grundsatz teilzuhaben. Nach § 67 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bleibt die Gesetzeslage gerade auf dem Gebiet des Auto- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) teilehandels so, wie sie ist. Die rot-grüne Mehrheit und die Bundesregierung werden darauf achten, dass sich im Herr Kollege Dr. Krings, ich will Sie daran erinnern Sinne eines ausgewogenen und liberalen Marktes daran – aus dem von Ihnen genannten Argument wird nur um- auch nichts ändert. Die Situation, die Sie über viele Jahre gekehrt ein Schuh –, wie Sie bei der Reform des Urhe- nicht beklagt haben, wollen Sie jetzt aus durchsichtigen berrechts gegen die Privatkopie gewettert haben. Gründen Ihrer Oppositionshaltung verändert wissen. Da (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das stimmt werden wir Ihnen nicht auf den Leim gehen. Wir werden überhaupt nicht!) uns Ihre Argumente notieren und sie Ihnen zu gegebener Zeit wieder vorhalten. Da ging es um den Verbraucher, Herr Dr. Krings, der eine CD kauft und nur zur privaten Nutzung (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das gestehe ich Ihnen zu!) (Zuruf von der SPD: Richtig!) Danke schön. drei oder vier Kopien herstellen möchte. Da haben Sie den Schutz des geistigen Eigentums hochgehalten und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesagt, das sei unmöglich, das könne nicht sein. und bei der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke. CSU]: Wie viele CDs haben Sie in Ihrem Le- ben schon reparieren lassen? Er vergleicht Äp- fel und Birnen!) Rainer Funke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mo- Genauso war Ihre Argumentation, als wir im Zuge der dernisierung des Geschmacksmusterrechts ist seit lan- Novellierung des Urheberrechts darüber nachgedacht gem überfällig. Der von der Bundesregierung vorgelegte haben – da jedes Eigentum nach dem Grundgesetz dem Entwurf eines Geschmacksmusterreformgesetzes schafft Gemeinwohl verpflichtet ist, in der Tat im Grundsatz ein modernes Designschutzrecht. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!) Dass mit diesem Gesetz die so genannte Muster-Richtli- nie viel zu spät in das deutsche Recht umgesetzt wird, so auch das geistige Eigentum –, spät, dass bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen 7320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Rainer Funke (A) Deutschland eingeleitet worden ist, erwähne ich hier nur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) am Rande. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski. (Jörg van Essen [FDP]: Das Justizministerium ist leider nicht mehr FDP-geführt!) Dirk Manzewski (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- Die FDP wird dem Geschmacksmusterreformgesetz battieren hier über das Geschmacksmusterreformgesetz, heute trotzdem die Zustimmung versagen. Der Entwurf Kollege Krings und Kollege Funke. Ich erwähne das leidet unverändert an einem großen Mangel: Er enthält noch einmal ausdrücklich, da mir nach Ihren beiden Bei- keine so genannte Reparaturklausel. Der Verzicht auf trägen nicht so ganz klar wurde, worum es eigentlich diese dringend gebotene Bestimmung wiegt nach unserer geht. Überzeugung so schwer, dass die FDP dem Gesetz nicht zustimmen kann. Im Übrigen war das bislang auch die (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das geht öf- Meinung des Bundesjustizministeriums. Anders als das ter so!) Bundeswirtschaftsministerium wollte das Bundesjustiz- – Ganz vorsichtig! ministerium diese Reparaturklausel immer. Das Bundes- wirtschaftsministerium hat natürlich immer die Interes- Das Gesetz, über das wir hier reden, umfasst sen der Großkonzerne gegen den Mittelstand vertreten. 70 Seiten und etwa ähnlich viele Vorschriften. Im ge- Insoweit ist das eine Debatte, die schon die frühere Bun- samten Gesetzgebungsverfahren, auch am heutigen desregierung beschäftigt hat. Das Bundesjustizministe- Tage, haben Sie nicht eine einzige Vorschrift dieses Ge- rium ist jetzt gegenüber dem Bundeswirtschaftsministe- setzes kritisiert, Kollege Krings und Kollege Funke. rium, gegenüber dem Bundeskanzleramt und natürlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch gegenüber der Großindustrie, den Großkonzernen der Automobilindustrie, eingeknickt. Aber weil das Gesetz von der Bundesregierung stammt, muss es wohl schon deshalb von der Opposition abge- Die Reparaturklausel würde den Inhabern von lehnt werden. Geschmacksmusterrechten einerseits einen uneinge- schränkten Schutz des Designs von komplexen Erzeug- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Anfangsver- nissen garantieren, einschließlich des Designs der sicht- dacht! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Eine baren Einzelteile solcher Erzeugnisse. Andererseits wäre schwer widerlegbare Vermutung spricht im- aber die Ausdehnung dieses Musterschutzes auf Ersatz- mer dafür!) teile wie zum Beispiel Kotflügel ausgeschlossen. Die So haben Sie verzweifelt nach einem Grund hierfür ge- Reparaturklausel verhindert damit ungerechtfertigte Mo- (B) sucht und diesen dann offensichtlich wohl in der hier (D) nopole auf den nachgeordneten sekundären Ersatzteil- schon andiskutierten Frage der Aufnahme der Reparatur- märkten. klausel gefunden. Die Behauptung, die Reparaturklausel würde den De- (Beifall bei der SPD) signschutz insgesamt einschränken, ist also völlig falsch. Stattdessen setzt die Reparaturklausel dem legiti- Nun könnte man das ja alles nachvollziehen, liebe men Designschutz eine sachgerechte Grenze im Inte- Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es in diesem resse des freien Wettbewerbs. Die Reparaturklausel ist Punkte unterlassen hätten, einer Vorgabe der EU zu fol- aber nicht nur aus wettbewerbs- und ordnungspoliti- gen. Sie aber haben hier verschwiegen, dass das eben schen Gründen geboten, sondern sie dient zugleich auch nicht der Fall ist. Aufgrund der völlig unterschiedli- dem Verbraucherschutz, was ja auch der ADAC in der chen Auffassungen innerhalb der EU zu diesem Thema Anhörung zu Recht deutlich gemacht hat. hat die EU diesen Streitpunkt bewusst nicht gelöst, son- dern die Entscheidung hierüber vertagt. Für die Ableh- Die Bundesregierung verweist auf die Zusage der nung des Gesetzes habe ich deshalb keinerlei Verständ- Automobilhersteller. Ob die etwas wert ist, wage ich zu nis. Für mich stellt das Ihrer Rechtspolitik, meine bezweifeln. Sie haben sich nämlich nicht verbindlich er- Damen und Herren von der Opposition, ein Armuts- klärt, sondern nur einen Brief geschrieben, der ausdrück- zeugnis aus. lich nicht verbindlich sein soll. Insoweit wird die euro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ päische Rechtsentwicklung abzuwarten sein. Wir DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ würden es begrüßen, wenn die Reparaturklausel kom- CSU und der FDP) men würde. Sie würde die europäische Rechtsentwick- lung nicht vorausnehmen. Insoweit wäre die gesetzliche Nun lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen Verankerung der Reparaturklausel auch für Verbraucher hoch gelobten Reparaturklausel sagen. Mir ist schon und für die mittelständische Wirtschaft eine gute Lösung nicht erklärlich, warum wir hier einer Entscheidung der gewesen. EU vorweg greifen sollten, um diese dann möglicher- weise später revidieren zu müssen. Wir werden dem Gesetz nicht zustimmen, weil hier nur der Torso eines Gesetzes vorliegt. (Joachim Stünker [SPD]: Sehr genau!) Danke. Ich vermag weiterhin auch nicht den Nutzen einer sol- chen Reparaturklausel für unser Land zu erkennen. Um (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es noch einmal deutlich zu machen, meine Damen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7321

Dirk Manzewski (A) Herren: Derzeit ist eine solche Reparaturklausel bei uns Eine systemkonforme Begründung, wie Sie ange- (C) nicht gesetzlich verankert. Es gibt momentan einen Ge- sichts dessen für Ersatzteile eine Sonderregelung verlan- schmacksmusterschutz für Ersatzteile. Wer sich im gen können, habe ich bislang noch nicht gehört. Allein Lande umschaut – wir haben das getan und die Zu- das Argument, dass wir für mehr Wettbewerb sorgen schauer können das auch gerne tun –, wird bestätigen müssen, kann nicht alles sein. Abgesehen davon, dass können, dass gleichwohl kaum ein Bereich in Deutsch- Automobilindustrie und Ersatzteilhandel prächtig neben- land so boomt wie der des Ersatzteilhandels. einander existieren, ist es für mich nicht zu beanstanden, wenn jemand aufgrund seines geistigen Eigentums über Wir haben zu diesem Streitpunkt auch eine Sachver- einen kürzeren oder längeren Zeitraum ein Monopol hat ständigenanhörung durchgeführt. Für mich persönlich und dieses selbstverständlich gerichtlich einklagt. Das war dabei maßgebend, Kollege Krings, was Vertreter muss möglich sein. von BDI und Max-Planck-Institut gesagt haben, nämlich dass die Einführung einer Reparaturklausel – das ist Für mich wäre es sehr interessant, zu erfahren, wie wichtig – den Bruch des gewerblichen Rechtsschutzes in Sie sich zukünftig gegenüber Erfindern in Deutschland Deutschland darstellen würde. Innovation und Know- positionieren werden. Gilt dann das Motto „Patente und how, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen die Zu- deren ausschließliche Nutzung gibt es nur, wenn diese kunft Deutschlands dar. Das ist hier im Hause schon oft nicht wirtschaftlich erfolgreich sind“? Darf bei Verstoß genug von den Vertretern aller Fraktionen beschworen gegen das Patent nicht rechtlich dagegen vorgegangen worden. Innovation und Know-how bringen aber nur werden? Ich verstehe das nicht. dann maximale Wertschöpfung, wenn sie rechtlich abge- (Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU] meldet sichert sind. sich zu einer Zwischenfrage) Niemand sollte glauben, dass deutsche Zulieferer – Kollege Krings, Sie haben heute schon lange genug über einen längeren Zeitraum von einer solchen Klau- geredet. Sie bekommen das Wort nicht mehr. sel profitieren würden. Über kurz oder lang wäre die Produktion solcher Ersatzteile nur noch in Billiglohn- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ländern zu finden. Kollege Krings, Ihre Rede war schon ein bisschen daneben. Da hilft dann auch kein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Hinweis auf die Rechtslage in anderen EU-Staaten. Por- tugal, Irland, Holland, Luxemburg oder Belgien kön- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nen es sich mit einer solchen Regelung relativ einfach Krings? machen, weil sie quasi keine Automobilindustrie haben (D) (B) und von einer solchen Reparaturklausel nur profitieren Dirk Manzewski (SPD): würden. Nein, dies habe ich gerade abgelehnt. Ich habe seine (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Was ist mit Wortmeldung gesehen. England?) Wenn die Opposition uns dann vorwirft, hier allein die Interessen der Automobilindustrie zu vertreten, – Großbritannien kann schon deshalb nicht der Maßstab bleibt festzustellen, Kollege Krings, dass wir es sind, die sein, Herr Kollege Krings, weil die Reparaturklausel bestehendes Recht und geistiges Eigentum hoch halten; dort sogar ein Mehr an Rechtsschutz bedeutet. Ersatz- das ist hier gar nicht deutlich geworden. Sie sind es, die teile sind Einzelteile. Sie wissen ganz genau, dass vor eine Gesetzesänderung verlangen und sich damit vor den der Einführung der EU-Richtlinie in Großbritannien auf Karren der Ersatzteilbranche spannen lassen. Lobbyis- diese Einzelteile weitestgehend noch nicht einmal ein mus pur hier im Deutschen Bundestag! Rechtsschutz bestand. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des von der CDU/CSU: Schwachsinn ist das!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Spanien!) Wenn Sie behaupten, eine Reparaturklausel sei ver- braucherfreundlicher, so kann das allenfalls auf den – Man merkt bei Ihren Zwischenrufen, wie Sie jetzt rum- Preis zutreffen. Bei der Qualität hätte ich schon erhebli- eiern. che Probleme. Verbraucher sind auch Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer, die in der deutschen Automobil- Wir im Deutschen Bundestag haben deutsche Interes- industrie Beschäftigung finden. sen zu vertreten und zu bedenken, dass das deutsche Recht des geistigen Eigentums viel ausgeprägter ist als Hinzu kommt noch etwas – Kollege Montag hat es in anderen Ländern. Es ist nicht zu erklären – das hat in schon angedeutet –: Der Ersatzteilhandel sucht sich der ganzen Debatte auch niemand von Ihnen getan –, momentan nur die Produkte aus, die für ihn wirtschaft- wie ein Auto Designschutz genießen soll, wie ein Ein- lich interessant sind. Um den Rest soll sich weiterhin die zelteil Designschutz genießen soll, das entsprechende Automobilindustrie kümmern. Das gilt auch für die Ersatzteil aber nicht. Das Design eines Produktes ist Stoßstangen des zehn oder 15 Jahre alten Fahrzeuges. doch nicht abhängig davon, ob ein Einzelteil heil oder Für den freien Ersatzteilhandel ist dies völlig uninteres- kaputt ist. Das Design eines Produktes schwebt immer sant, weil sich nur noch relativ wenige von diesen Fahr- imaginär im Hintergrund. zeugen im Verkehr befinden. Aber die Automobilbranche 7322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Dirk Manzewski (A) hat diese Ersatzteile vorzuhalten, wodurch erhebliche Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, wei- (C) Kosten verursacht werden. Ich kann Ihre Argumentation terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ nicht verstehen. CSU (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das glaube Stärkung der dualen Berufsausbildung in ich!) Deutschland durch Novellierung des Berufs- bildungsrechts Kollege Krings, ich habe leider nicht mehr so viel Zeit. – Drucksachen 15/1348, 15/1957 – (Zuruf von der CDU/CSU: Zwischenfrage!) Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Ich hätte Ihnen gern noch einiges gesagt; denn das, was Uwe Schummer Sie erzählt haben, war Unsinn pur. Lassen Sie mich Grietje Bettin gleichwohl abschließen. Ich freue mich ebenso wie der Christoph Hartmann (Homburg) Kollege Montag, dass Sie plötzlich Ihr Herz für die Ver- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- braucher entdeckt haben. Ich verspreche Ihnen auch, sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- dass ich Sie hieran bei der im neuen Jahr fortgeführten spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Debatte über das Gesetz gegen den unlauteren Wettbe- werb sehr gern erinnern werde. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie. (Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der Meine letzten Sätze: Sie sehen, es spricht viel für die Bundesministerin für Bildung und Forschung: Beibehaltung des Status quo – mehr wollen wir nicht – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! und nichts für die Aufnahme einer Reparaturklausel. Wir diskutieren heute über einen Antrag der CDU/CSU- Überwinden Sie Ihren Lobbyismus, meine Damen und Fraktion zur Novellierung des Berufsbildungsrechts. Ich Herren von der Opposition, und stimmen Sie diesem glaube, wir sind uns alle darin einig, dass veränderte Be- hervorragenden Gesetzentwurf zu! schäftigungsstrukturen sowie Innovations- und Verände- rungsbedarf in der Wirtschaft natürlich auch Verände- Danke schön. rungen im Berufsbildungsrecht nach sich ziehen müssen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass unser Ausbildungssystem hier vor neue Herausfor- (B) DIE GRÜNEN) derungen gestellt wird. Ich denke, wir sollten heute vor (D) allem über diese notwendigen Strukturanpassungen dis- kutieren. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht aus dem Auge Ich schließe damit die Aussprache. verlieren, dass im Mittelpunkt unserer Überlegungen auch diejenigen stehen sollten, um die es geht, nämlich Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- die Auszubildenden, und dass ihre Interessen in dieser desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform Diskussion ausreichend berücksichtigt werden sollten. des Geschmacksmusterrechts. Der Rechtsausschuss Natürlich fordern Auszubildende zu Recht verlässliche empfiehlt auf Drucksache 15/2191, den Gesetzentwurf gesetzliche Rahmenbedingungen, die auch ihren Bedürf- in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- nissen und Interessen gerecht werden, genauso wie diese gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- Rahmenbedingungen den Interessen der Wirtschaft ge- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- recht werden müssen. men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Genau in der Frage, was eigentlich mit den Rechten nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange- der Auszubildenden ist, sehe ich ein Problem bei den nommen. Anträgen der Opposition. Sie haben zum Beispiel in Ih- rem Antrag geschrieben: Dritte Beratung Jugendarbeitsschutzgesetz und das Betriebsverfas- und Schlussabstimmung: Bitte erheben Sie sich, wenn sungsgesetz müssen um ausbildungshemmende Sie dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Vorschriften bereinigt werden. men wollen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der (Werner Lensing [CDU/CSU]: Ja, das ist die Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen Wahrheit!) worden. Die FDP ist da noch ein bisschen unverblümter. Sie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: sagt direkt, dass die Abschaffung des Übernahmegebotes bei der Jugend- und Auszubildendenvertretung abge- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schafft werden solle. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Geht denn zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina das überhaupt?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7323

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) Das hat erstens natürlich nichts mit dem Berufsbildungs- Nicht zuletzt ist natürlich klar, dass wir eine Öffnung (C) gesetz zu tun; das wissen Sie auch. Zweitens wurde diese des Berufsbildungssystems für internationale Ansätze, Regelung gerade dazu aufgenommen, um Auszubilden- wie beispielsweise die Absolvierung von Ausbildungs- den und Lehrlingen eine angemessene Position bei der teilen im Ausland, brauchen. Auch das steht auf unserer Vertretung ihrer Interessen im Betrieb zu verschaffen. Agenda, wenn wir über eine Novelle des BBiG diskutie- ren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich möchte nun Ihr Augenmerk auf drei Punkte richten, bei denen wir in der Sache auseinander liegen und über Das hat aus meiner Sicht nichts mit Ausbildungshemm- die wir noch diskutieren müssen. Ich möchte Sie fragen: nissen zu tun, sondern mit legitimer Interessenvertre- Was meinen Sie konkret mit Ihrer Forderung, die Verstaat- tung, die auch in Zukunft gesichert sein muss. lichung der beruflichen Bildung zurückzuführen? Richtet sich diese Forderung gegen die starke Berücksichtigung Lassen Sie mich auf einige Kernpunkte bei der No- vollzeitschulischer Ausbildungsgänge im BBiG? Wollen vellierung des Berufsbildungsgesetzes eingehen. Wenn Sie wirklich die Augen davor verschließen, dass viele ich Ihren Antrag richtig verstanden habe, liegen wir in junge Menschen in der vollzeitschulischen Ausbildung vielen Punkten in der Sache nicht sehr weit auseinander. eine echte Alternative zur betrieblichen Ausbildung se- Ich will zunächst etwas zu den Positionen sagen, die wir hen und solche Alternativen auch gern nutzen? Wollen mit Sicherheit gemeinsam vertreten können. Natürlich Sie den Absolventen dieser schulischen Ausbildungs- ist es klar, dass wir eine Erleichterung des Zugangs zum gänge eine stärkere Anerkennung verweigern? Ich weiß Hochschulsektor für beruflich Qualifizierte brauchen; nicht ganz genau, was Sie an diesem Punkt wollen. Wir das sehen wir ganz genauso. Hierfür gibt es in den Län- müssen darüber diskutieren. dern sehr unterschiedliche Regelungen. Es ist notwen- dig, dass wir hier stärker harmonisieren und klare Zu- (Werner Lensing [CDU/CSU]: gangsregelungen schaffen. Wir haben keine Probleme!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir müssen das hohe Ansehen und die Qualität der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dualen Berufsausbildung auch auf diese Ausbildungs- gänge übertragen. So müssen wir zum Beispiel den Ab- Wir brauchen auch eine konsequente Ausrichtung der solventen berufsschulischer Bildungsgänge einen An- Ausbildungsordnungen samt Ausbildungsrahmenplänen spruch auf Zulassung zur Abschlussprüfung bei den am Grundsatz der Vermittlung beruflicher Hand- Kammern verschaffen und somit die Anrechnung voll- lungsfähigkeit. In der Tat ist hier eine Beschreibung der schulischer Qualifikationen verbessern. Qualifikationen notwendig, die von den Ausbildungsbe- (Beifall bei der SPD) (B) trieben umgesetzt werden könnten. Bedenken Sie dabei (D) aber bitte – ich sage das gerade in Richtung der Kolle- Ein anderer Punkt des Berufsbildungsgesetzes: Das ginnen und Kollegen von der FDP –, dass alle neueren Berufsbildungsgesetz sieht zurzeit eine Ausbildungszeit Ausbildungsordnungen schon jetzt die Möglichkeit bie- von zwei bis drei Jahren vor. Ich denke, das ist ein ange- ten, Ausbildungen flexibel an betriebliche Erfordernisse messener Zeitraum, um eine anspruchsvolle Facharbei- anzupassen. Zudem enthalten viele Ausbildungsordnun- ter- oder Fachangestelltentätigkeit zu erlernen. Deshalb gen schon jetzt so genannte Wahl- und Pflichtbausteine. kann ich Ihre Forderung nach einjährigen Ausbildungs- berufen überhaupt nicht nachvollziehen; denn da, wo sie Ich glaube auch, dass es darum gehen muss, die Aus- im Einzelfall Sinn machen, gibt es schon heute die Mög- richtung der Abschlussprüfung an praxisorientierten Ar- lichkeit der Stufenausbildungen, bei denen ein erster be- beitsaufgaben und branchenüblichen Arbeitsprozessen rufsqualifizierender Abschluss schon nach einem Jahr stärker zur Geltung zu bringen. Das wird in den einzel- vorgesehen werden kann. Es besteht also kein weiterer nen Ausbildungsordnungen zu regeln sein. Bedarf an solchen Ausbildungen. Zudem möchte ich da- rauf hinweisen, dass wir erst kürzlich Forderungen der Wie Sie in Ihrem Antrag wollen auch wir die Einfüh- Wirtschaft aufgegriffen und ein Neuordnungsverfahren rung einer gestreckten Abschlussprüfung, deren erster für vier zweijährige Ausbildungsberufe eingeleitet haben. Teil die Zwischenprüfung ersetzen und damit einen wichtigen Beitrag für eine kontinuierliche Lernbeglei- Werte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss tung leisten wird. möchte ich ganz deutlich sagen: Wir unterstützen Ihr Anliegen, das Gesetz über die berufliche Bildung weiter- Die Zukunft der nach dem Berufsbildungsgesetz ge- zuentwickeln. Ich habe deutlich gemacht, dass es in ver- regelten Weiterbildung sehen wir wie Sie in der modu- schiedenen Punkten gemeinsame Ansätze gibt. Lassen laren Strukturierung dieser Bildungsgänge mit einem da- Sie uns diese gemeinsamen Anknüpfungspunkte nutzen, zugehörigen einheitlichen Qualitätssicherungsverfahren. um zu einem gemeinsamen Ergebnis in der Berufsbil- Hier sind jedoch vorrangig – das wissen Sie – die Kam- dung zu kommen. Das wäre für die Ausbildung und die mern gefordert, die die Hauptverantwortung bei der Jugendlichen gut, die sich sicher sein können, dass im Schaffung arbeitsmarktrelevanter Weiterbildungsange- Parlament gemeinsam getragene Vorstellungen die be- bote tragen. Die Neustrukturierung der Gremien ist aus rufliche Ausbildung weiter voranbringen werden. unserer Sicht notwendig und sinnvoll. Wir streben zum Beispiel eine Verringerung der Zahl der Mitglieder des Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an. DIE GRÜNEN) 7324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat uns nicht zuletzt – Sie wollen es nicht hören, aber ich bin (C) jetzt der Abgeordnete Werner Lensing. als Unionsmann der Wahrheit verpflichtet – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Werner Lensing (CDU/CSU): GRÜNEN]: Na ja, da gibt es Zweifel!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, Herr Staatssekretär Matschie, die Bundesregierung durch schuldhaftes Zaudern ge- es liegt an der adventlichen Stimmung oder aber – das bracht hat. wäre mir natürlich lieber und spräche für die Sache – an (Beifall bei der CDU/CSU) der Qualität unseres Antrags, dass Sie uns so loben. Im Gegensatz zu ihr reagieren wir auf die bestehen- Die Qualität unseres Antrags zeigt sich darin, dass er den Notwendigkeiten und setzen konsequent auf die Ent- von der Wirklichkeit ausgeht. Die Wirklichkeit zeigt sich wicklung von drei entscheidenden Handlungsfeldern in für uns in den Fakten, die ich jetzt benennen werde. der beruflichen Bildung. Diese lauten: Transparenz bei Wenn Sie uns mit Ihrer Fraktion darin folgen, kann ich Durchlässigkeit, Flexibilisierung und die Einführung mir in vielen Bereichen eine Annäherung vorstellen. von Bildungsbausteinen, den so genannten Modulen. Erstens. Bildung ist unser eigentlicher Reichtum; will ( [SPD]: Und Freiheit!) heißen: Unsere wirkliche Ressource besteht im Wissen Zur Transparenz: Diese sollte in einem modernen und Können unserer Schülerinnen und Schüler. Staat wie Deutschland eigentlich Normalität sein, ist es (Beifall bei der CDU/CSU) aber nicht. Regelwerke und ein Verordnungsdschungel wie beispielsweise auch bei Ihrem eben schon erwähnten Zweitens. Bildung umfasst immer den ganzen Men- Betriebsverfassungsgesetz und dem Jugendarbeits- schen. Das bedeutet, dass Bildung niemals isoliert be- schutzgesetz trüben die Sicht auf klare Ausbildungs- trachtet werden darf. ziele. Drittens. Der Rohstoff Bildung droht auszugehen. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sind Sie Viertens. In der Berufsausbildung geht dies bedauerli- jetzt auf FDP-Kurs oder was? Das steht in Ih- cherweise mit der fortwährenden Schwächung der dua- rem Antrag gar nicht drin!) len Ausbildung einher. So wollen wir Kompetenzen – das sage ich jetzt extra für Fünftens – auch das ist objektiv –: Schuld daran trägt Sie, Kollege Barthel –, die ein Auszubildender erreichen die verfehlte Politik von Rot-Grün in Bildung und Wirt- soll, anhand eines ganzheitlichen Berufsbildes beschrei- ben. Derzeit hingegen werden Lernziele festgelegt, die (B) schaft mit der höchsten Neuverschuldung seit Gründung (D) der Bundesrepublik Deutschland. nicht einmal mehr die Ausbildungsbetriebe richtig ver- stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- derspruch bei der SPD – Hans-Christian Zur Transparenz in der Ausbildung gehört aber auch Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das – und dies ist mir besonders wichtig –, dass die Berufs- muss ja in jeder Rede vorkommen!) schulleistungen angemessen berücksichtigt werden. Deshalb fordern wir nach erfolgreicher Prüfung die Er- Sechstens – Sie kennen es –: Was die eine Hand mit stellung eines Zertifikats, in das die Ergebnisse der Be- 120 000 Insolvenzen im Mittelstand in drei Jahren ver- rufsschulleistungen sowie das betriebliche Zeugnis nichtet hat, probiert die andere mit Zwangsabgaben gleichberechtigt aufgenommen werden. – Stichwort Ausbildungsplatzabgabe – einzufordern. Das (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Nach ein- kann nicht funktionieren. jähriger Ausbildung?) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dies ist nicht zuletzt für die zusätzliche Motivation der Umlage!) Lehrer- wie der Schülerschaft wichtig. Deswegen benö- Siebtens. Die Blockadehaltung der Gewerkschaften tigen wir eine eigenständige und neutrale Qualitätssiche- bei der Schaffung theorieentlasteter Berufe trägt trauri- rung, über die wir im Einzelnen zu verhandeln haben. gerweise zur Verschärfung der Lehrstellensituation bei. Zur Durchlässigkeit: Ich bin der Meinung – das gilt (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: besonders mit Blick auf die Hochschulen –, dass diese Das ist die Wahrheit!) der Schlüssel für ein dynamisches lebenslanges Lernen ist. Um die Ausbildungsfähigkeit besonders der kleinen Das nenne ich unverantwortlich. und mittleren Betriebe zu fördern, sind wir – es gibt sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute zum Teil bereits – für Ausbildungsverbünde, für die wir Berg [SPD]: Was ist mit den Unternehmen, die allerdings wesentlich konkretere Rahmenbedingungen nicht ausbilden?) schaffen müssen. Achtens und letztens. Bereits heute ist ein Mangel an Zu den Bildungsbausteinen nur so viel: Mit der Ein- qualifizierten Fachkräften in Sicht. führung dieser Module wird die Bildungsfreiheit des Einzelnen im Lernprozess erweitert werden. Diese Mo- Wie ich Ihnen das eben schon versprochen habe, geht dule gelten sowohl für die Berufsvorbereitung als auch unser Antrag konkret auf diese prekäre Lage ein, in die für die Ausbildung und die Weiterbildung. Das Tollste Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7325

Werner Lensing (A) daran ist – deswegen bin ich davon so begeistert –: Die dung angeht. Allerdings ist in Ihrem Antrag ein ganz (C) Lernenden sind bei der Wahl ihrer Module frei. Eine vor- großes Manko festzustellen: Sie äußern sich überhaupt geschriebene Reihenfolge existiert nur dort, wo dies aus nicht zu benachteiligten Jugendlichen und ihrer Förde- Gründen der inneren Logik zwingend ist. – Aufgrund Ih- rung. rer Zwischenrufe weiß ich zwar nicht, ob Sie die Gesetz- mäßigkeiten der inneren Logik beherrschen. Aber das Für uns Grüne ist die Chancengerechtigkeit das zen- möchte ich hier nicht im Einzelnen ausführen. – trale Element für alle Bereiche der Bildungspolitik. Die PISA-Studie hat gezeigt, dass die Bildungsbiographien (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der und die damit verbundenen Aufstiegschancen im Beruf CDU/CSU und der FDP) in Deutschland ganz direkt von der familiären Herkunft abhängig sind. Uns ist es daher wichtig, unser ganz be- Als Nachweis für die erworbenen Module dient dann ein sonderes Augenmerk auf die Jugendlichen, die beispiels- von uns geforderter Berufsbildungspass. weise aus ethnischen, sozialen, physischen oder psychi- Meine Damen und Herren, unser ständiges Leitmotiv schen Gründen benachteiligt sind, zu richten. pädagogischen Handelns lautet: Individualität des Ler- Wir brauchen Modernisierung und Flexibilisierung, nens anstatt rot-grüner Verstaatlichung der Bildung. die den heute veränderten Lebensbedingungen auf viel- Vielen Dank. fältige Weise gerecht werden. Wir haben schon erste Versuche unternommen, den Jugendlichen Schritt für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Schritt den Weg hin zu einer vollwertigen Ausbildung zu Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ermöglichen. So haben wir unter anderem die Berufsaus- GRÜNEN]: Da kann man doch nicht klat- bildungsvorbereitung bereits in das BBiG integriert, um schen!) hier für junge Leute ohne Schulabschluss eine Erleichte- rung vorzunehmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. Wir alle fragen uns, was der Unter- Wir können Jugendliche nicht in Maßnahmen parken, schied zwischen der inneren und der äußeren Logik ist. ohne sie mit ganz konkreten Fähigkeiten auszustatten. Wir können sie nicht, wie das in Deutschland leider (Werner Lensing [CDU/CSU]: Kann ich noch schon seit vielen Jahren der Fall ist, in Ersatzmaßnah- einmal ans Mikrofon? – Heiterkeit und Beifall men parken. Staatliche Gelder müssen für Qualifizierung bei Abgeordneten der CDU/CSU) und dürfen nicht für Beschäftigungstherapie ausgegeben werden. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch halten wir Grüne den Streit um eine Modulari- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- sierung für wenig zukunftsweisend. Klar ist, dass wir legen! Wir alle wissen, dass wir bei der Reform der be- junge Menschen für einen Beruf qualifizieren und nicht ruflichen Bildung zusammenarbeiten müssen, da das für bestimmte Tätigkeiten in einem einzelnen Betrieb BBiG zustimmungspflichtig ist. Von daher finde ich, anlernen wollen. Aber die Modularisierung soll aus un- dass wir hier eine sehr differenzierte Debatte führen soll- serer Sicht endlich die Anerkennung von Teilqualifika- ten. Leider ist das, was die Zusammenarbeit angeht, in tionen regeln, anderen Bildungsbereichen wie Schule oder Hochschule noch nicht in dem Maße der Fall, wie ich mir das wün- (Zuruf von der FDP: Das tut sie aber nicht!) schen würde. Vielleicht ist dieser Antrag der CDU/CSU- um den wechselhaften Biographien und der großen Zahl Fraktion ein Schritt, damit wir uns zumindest bei der Re- von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne form der beruflichen Bildung in wesentlichen Punkten Schulabschluss gerecht zu werden. einigen können. (Zuruf von der FDP: Das ist nicht das Ziel Die rot-grüne Bundesregierung hat bereits viele wich- Ihrer Politik!) tige Impulse für die Reformen im Bereich von Hoch- schule und Schule gesetzt. Darüber hinaus ist die Re- Wir Grüne wollen nicht grundsätzlich zu einer zwei- form der beruflichen Bildung für uns ein ganz zentrales jährigen Ausbildungsdauer zurück. Wir möchten aber politisches Thema. Denn schließlich ist dies der Ausbil- diejenigen in Ausbildung hineinholen, die im derzeit be- dungsweg, den die Mehrheit der jungen Menschen in stehenden Ausbildungssystem nicht zurecht kommen. Deutschland wählt. Leider ist die Zahl der betrieblichen Motivation soll durch die Anrechnung von Teilqualifika- Ausbildungsplätze dramatisch gesunken. Darüber haben tionen sichergestellt werden. Wir müssen die jungen wir uns hier im Plenum schon oft unterhalten. Leider Menschen ernst nehmen. können wir den Wünschen der jungen Menschen nicht in dem Maße gerecht werden, wie wir das gerne tun wür- Ich betone aber, dass wir nicht für eine Stufenausbil- den. dung eintreten. Die Jugendlichen müssen wissen, dass sie in ein drittes Ausbildungsjahr eintreten können, um Viele Details Ihres Antrags, liebe CDU/CSU-Frak- einen besseren Abschluss zu bekommen und einen Beruf tion, teilen wir; beispielsweise was den Zugang zur mit einem vollen Berufsbild zu ergreifen. Die Ausbil- Hochschulbildung, die Einführung gestreckter Prüfun- dungsdauer muss sich deswegen unserer Meinung nach gen und die Internationalisierung der beruflichen Bil- flexibel in einem Zeitraum von zwei und dreieinhalb 7326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Grietje Bettin (A) Jahren bewegen, je nach Leistungsfähigkeit der jungen Die Bürokratie in den Betrieben muss abgebaut werden. (C) Menschen. Von Herrn Matschie wurde bereits angespro- Wir haben nach wie vor – darauf komme ich später noch chen, dass das BBiG eine solch flexible Handhabung in zu sprechen – zu viele starre und veraltete Berufsbilder. manchen Bereichen bereits ermöglicht. Wir wollen aber Trotz dieser Rahmenbedingungen haben Sie eine einen klaren Rechtsanspruch auf verkürzte Ausbildungs- Ausbildungsplatzabgabe in die Diskussion gebracht. zeiten, beispielsweise bei Vorliegen des Abiturs. Es gibt keinen Experten, der bestätigt: Die Ausbildungs- Ganz wichtig ist für uns die Verbesserung der Bil- platzabgabe bringt in Deutschland etwas. – Im Gegen- dungsberatung, in diesem Fall der Ausbildungsbera- teil: Sie wird in diesem Bereich eher zu einer Ver- tung. Es ist festzustellen, dass junge Frauen und Jugend- schlechterung führen. Erkennen Sie das endlich! liche mit Migrationshintergrund noch immer häufig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wenig zukunftsweisende Berufe wählen. Wir sollten das Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das stimmt Jahr 2004, das Jahr der Technik, nutzen, um viele Berufe doch gar nicht! – Werner Lensing [CDU/ vorzustellen und sie bekannter zu machen. Wir müssen CSU]: Das muss die SPD zurückziehen! Da den jungen Menschen, gerade jungen Frauen und Ju- bin ich mir ganz sicher!) gendlichen mit Migrationshintergrund, mehr Anreize ge- ben, damit sie andere Berufe auswählen. Der Antrag der CDU/CSU geht in die richtige Rich- tung. Er geht uns aber noch nicht weit genug. Die Bun- Es wurde schon die Bedeutung der Regionalisierung desregierung muss endlich den Mut finden, die richtigen angesprochen. Sie ist besonders wichtig, weil sie den und entscheidenden Weichenstellungen zu treffen. Ich Bedürfnissen der jungen Menschen besonders gut ge- finde es hervorragend, dass Sie gesagt haben, worin Sie recht werden kann. Beispiele dafür finden sich bei den mit uns d‘accord sind. Die Frage ist aber doch, ob sich regionalen Ausbildungsverbünden und den Ausbil- die Bundesregierung endlich dazu bereit erklärt, uns dungszentren. Das sind für uns wichtige Ansatzpunkte. Vorschläge vorzulegen und die Probleme gemeinsam mit Wir müssen zusehen, dass wir bei diesen Fragen zusam- uns anzugehen. Stattdessen lehnt sie die Vorschläge, die menkommen. ihr von der Opposition vorgelegt werden, nur ab. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zum Abschluss möchte ich einen kurzen Ausblick ge- Wir brauchen die Modularisierung. Wir brauchen ben. Die Statistik zeigt, dass die Mittel von Bund und einzelne Bausteine, die wir zu einer individuell leistba- Ländern für die Berufsausbildung kontinuierlich gestie- ren Ausbildung zusammenfügen. Modularisierung be- gen sind, die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze deutet nämlich, dass jeder Ausbildungsziele, die ihn für (B) dagegen gesunken ist. Das halten wir nicht für eine zu- eine spätere Beschäftigung qualifizieren, nach seinem (D) kunftsweisende Lösung. Wir können die Betriebe nicht Lerntempo erreichen kann. aus der Verantwortung entlassen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir in Deutschland überbetrieblichen (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das sind Ausbildungsformen mehr Chancen geben und wie wir es Redebausteine, sonst gar nichts!) schaffen, die Kooperationsmöglichkeiten auf regionaler Dazu gehören dreieinhalbjährige Berufsausbildungs- Ebene zu verbessern. Daran wollen wir gemeinsam mit gänge für Jugendliche, die einen längeren Zeitraum Ihnen arbeiten. brauchen, um sich das notwendige Wissen anzueignen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dazu gehören aber eben auch zweijährige theoriegemin- und bei der SPD) derte Berufsausbildungsgänge für Jugendliche, die an- sonsten keine komplette Ausbildung absolvieren kön- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen. Das Wort hat nun der Kollege Christoph Hartmann, (René Röspel [SPD]: In punkto Theorie ist die FDP-Fraktion. FDP Expertin!)

Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Sie wollen eine Art Modularisierung, die sich bei Ihnen Qualifizierungsbausteine nennt. Diese Qualifizierungs- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bausteine setzen Sie aber eben nur in der Berufsausbil- Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben betont, was diese dungsvorbereitung und nicht in der Berufsausbildung Bundesregierung schon alles getan hat, um die Berufs- ein. bildung in Deutschland attraktiver zu machen. Das reicht aber noch nicht; denn die Ausbildungsbereitschaft in (Ulrike Flach [FDP]: So ist das!) Deutschland ist nach wie vor zu gering. Das liegt unter Auch das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. anderem an den vielen bestehenden wirtschaftlichen Hemmnissen, an der mangelnden Ausbildungsreife eini- (Beifall bei der FDP) ger Jugendlicher und daran, dass die Berufsbildung in Deutschland noch immer nicht genügend modern, inter- Diese Bundesregierung – auch der Staatssekretär – er- national vergleichbar und zukunftssicher gestaltet ist. klärt uns immer wieder, dass es schon so viele verkürzte Ausbildungsberufe gibt. Nun, es gibt einige. Derzeit gibt (Beifall bei der FDP) es aber nur 30 theoriegeminderte Ausbildungsgänge, die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7327

Christoph Hartmann (Homburg) (A) man in zwei Jahren absolvieren kann. 30 von 350 – das Deswegen müssen jetzt die nächsten Schritte folgen, um (C) sind noch nicht einmal 10 Prozent. Herr Staatssekretär, dieses Land wirklich ausbildungsfähig zu gestalten. das reicht einfach nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es gibt Einzelhandelskaufleute und Verkäufer. Wa- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: rum gibt es aber zum Beispiel nicht Fahrradmonteure? Es gibt Chemielaboranten und Chemielaborjungwerker. Ich erteile dem Kollegen Klaus Barthel für die SPD- Warum gibt es aber zum Beispiel nicht Dienstleistungs- Fraktion das Wort. fachkräfte, die meinetwegen in Sonnenstudios arbeiten? (Werner Lensing [CDU/CSU]: Jetzt sind wir (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das war wohl ein bis- aber einmal gespannt!) schen zu viel Sonne! Sie sollten aus der Sonne gehen!) Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Es ist doch besser, dass es überhaupt eine Ausbildung – Zu Recht, Herr Lensing. – Herr Präsident! Meine für Menschen gibt, die ansonsten nicht in der Lage wä- lieben Kolleginnen und Kollegen! ren, eine Ausbildung zu absolvieren, damit sie wenigs- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Das war schon tens etwas in der Hand haben, als dass gesagt wird: Ihr einmal richtig!) müsst leider draußen bleiben, weil ihr nicht in der Lage seid, die Theorie, die bei der dualen Ausbildung gelehrt Den Antrag der Union, den wir heute beraten, begrüßen wird, zu bewältigen. wir zum Teil durchaus. Für Ihre Verhältnisse ist er sehr (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulrike differenziert und Sie hüten sich darin vor allzu einfachen Flach [FDP]: Dann hätten sie wenigstens einen Antworten. Sie verabschieden sich offensichtlich von Abschluss!) allzu platten Forderungen, die wir schon gehört haben, zum Beispiel von der Forderung nach der Abschaffung Insofern ist es ein Scheinargument, dass die Modulari- des JUMP-Programms, sierung eine Gefahr für die duale Ausbildung in Deutschland bedeutet. (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das JUMP-Programm haben Sie doch fast gänzlich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bei Ihren Theorie- abgeschafft!) kenntnissen würden Sie nicht einmal im Son- (B) (D) nenstudio angenommen!) einer simplen Deregulierung, der Auflösung von Quali- tätsansprüchen und – im Unterschied zur FDP – der Ab- Die Modularisierung ist die einzige Chance für einige senkung der Ausbildungsvergütung sowie dem Abbau theorieschwache Jugendliche, eine Ausbildung zu schaf- der Rechte von Auszubildenden. fen. Herr Hartmann, schauen wir uns einmal die Ausbil- (Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [Starn- dungsvergütungen an. Wenn Ihre Logik stimmen berg] [SPD]: Das ist ein überhebliches Ge- würde, eine einfache Absenkung von Ausbildungsvergü- schwätz!) tungen also genügen würde, um Ausbildungsplätze zu – Herr Kollege, ich bedanke mich für den Zwischenruf. schaffen, dann müsste es in den neuen Bundesländern Ich selbst bin Mitinhaber einer kleinen Firma, die in den und bei den einfachen Berufen von Ausbildungsplätzen letzten Jahren immerhin vier Auszubildende zur Ausbil- doch geradezu wimmeln. dungsreife geführt hat. Wir arbeiten selbst daran, für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen etwas zu tun und sie auszubilden. Das ist der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unterschied zwischen einigen aus der Opposition und dieser Bundesregierung. Sie von der Union betonen andererseits ganz zu Recht die Bedeutung von Bildung im Allgemeinen und von der Zu einer Ausbildungsoffensive gehört aber noch viel beruflichen Bildung im Besonderen. Sie wollen mit uns mehr. Dazu gehören eine radikale Entbürokratisierung, das Berufsbildungsrecht modernisieren. Ich hebe das al- eine Erleichterung für die Schaffung von Ausbildungs- les anerkennend hervor, weil leider im Kreise von Union verbünden, die Flexibilisierung von Beschäftigungszei- und Arbeitgeberverbänden oft ganz andere Töne zu hö- ten und die Aufhebung der Flächentarifverträge; denn ren sind. der eine oder andere ist sicherlich damit einverstanden, dass er 100 Euro pro Monat weniger an Ausbildungsver- Ihr Antrag beinhaltet aus unserer Sicht drei Sorten gütung bekommt, dafür aber auf jeden Fall eine Ausbil- von Forderungen. Die erste Sorte sind solche Forderun- dung erhält. gen, die unstrittig sind, weil sie schon längst erfüllt sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Berufskonzept, ganzheitlicher Anspruch, flexible Aus- der CDU/CSU) gestaltung von Ausbildungsplänen, branchen- und be- triebsspezifische Ausprägungen: All das gibt es schon. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, die Bun- Lassen Sie uns auch immer wieder sagen, dass es das desregierung hat einiges getan. Das reicht aber nicht. schon gibt, damit wir denen entgegentreten können, die 7328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Klaus Barthel (Starnberg) (A) unser derzeitiges System als unflexibles und überholtes Forderung auf Seite 4 in Punkt 4. Gleichzeitig führen Sie (C) Monstrum diskreditieren wollen. im Deregulierungskapitel auf Seite 2 genau diese An- rechnungspflicht als ausbildungshemmende Vorschrift (Beifall des Abg. Dr. an. Wollen Sie also einschränken oder abschaffen, oder [SPD]) was wollen Sie? Das Deregulierungskapitel finden wir Das Schlechtreden dieses Systems führt nämlich zu al- sowieso etwas skurril, weil darin mehr Regulierung lem Möglichen, aber nicht dazu, dass mehr Ausbildungs- – zum Teil durchaus sinnvolle Regulierungen – als De- plätze entstehen oder dass mehr Jugendliche für dieses regulierung gefordert wird. System gewonnen werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Werner Lensing [CDU/ Die Verstaatlichung der beruflichen Bildung, von CSU]: Wir reden das ja gar nicht schlecht!) der Sie reden, ist über das, was Herr Matschie gesagt hat, hinaus auch noch zu hinterfragen. Eine Verstaatlichung Bei der zweiten Sorte von Forderungen in Ihrem An- findet doch bei uns in der Bundesrepublik nicht statt, trag besteht zwischen uns Konsens: Zugang zu Hoch- weil irgendwelche finsteren sozialistischen oder gewerk- schulen regeln – da sind wir einmal gespannt darauf, was schaftlichen Kräfte am Werk sind. Verstaatlichung findet die Länder machen –, Zahl der Gremien reduzieren statt, weil sich die Wirtschaft zu Teilen ihrer Verantwor- – auch hier ist die Frage: Wie sieht es bei den Ländern tung entzieht und sich der Kosten und Mühen einer Aus- aus? Denn es geht hierbei nicht nur um die Bundes- bildung entledigt. ebene, sondern um die ganze Vielfalt von zuständigen Stellen bei Kammern, Berufsständen, Verwaltungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ usw. –, Zusammenfassung von Aus- und Weiterbildung DIE GRÜNEN – [CDU/ – wunderbar –, bessere Lernortkooperation zwischen CSU]: 43 000 haben Sie durch Konkurs entzo- Betrieb und Schule, Internationalisierung usw. gen! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Völlig falsch!) Jetzt, Herr Lensing, kommen wir zur dritten Sorte, nämlich zu Ihren widersprüchlichen Forderungen und Das hochgelobte duale System konzentriert sich mittler- den Forderungen zu strittigen Punkten. Zum Beispiel ist weile auf weniger als ein Drittel aller Unternehmen, die die Ermöglichung von einjährigen Ausbildungen der immer noch zum Vorteil der Gesamtwirtschaft ausbil- Abschied vom Berufskonzept. Das muss man doch ganz den. Verstaatlichung findet also unfreiwillig statt, weil klar sagen. wir es ablehnen und weil die Koalition es ablehnt, die (Beifall bei der SPD) Folgen dieses Rückzugs der Wirtschaft auf dem Rücken (B) der Jugendlichen abzuladen. (D) Da noch von der Befähigung zur Aufnahme einer quali- fizierten Tätigkeit zu sprechen, wie Sie das tun, ist doch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ angesichts der Realität auf dem Arbeitsmarkt absolut DIE GRÜNEN) absurd. Sie selbst schreiben doch im Vorspann Ihres An- Der Staat muss für die Wirtschaft in die Bresche sprin- trages über die wachsenden Anforderungen an die Quali- gen, weil es nicht anders geht. Die öffentliche Hand fikation in der wissensbasierten Informations- und – Bund, Länder und Bundesanstalt für Arbeit – zahlt Dienstleistungsgesellschaft. Einjährige Ausbildungen inzwischen je nach Berechnungsart zwischen einem gehören überall hin, zum Beispiel in die feudale Dienst- Drittel und 40 Prozent aller Ausbildungskosten, fast botengesellschaft, aber nicht in die moderne Gesell- 10 Milliarden Euro in diesem Jahr. Wir brauchen also schaft der Zukunft. Ihre Parolen nicht, sondern wir brauchen passende Lö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sungsvorschläge. DIE GRÜNEN) (Ulrike Flach [FDP]: Wo sind sie denn?) Genauso wenig passt Ihre Vorstellung von Modulari- sierung mit der gleichzeitigen Aufweichung von Ausbil- Diese müssen sich auf Quantität und Qualität von Aus- dungsordnungen zusammen. Das geht nicht. Wie sollen bildung beziehen. denn Module zueinander passen, wenn Sie, wie Sie in Ich kann das nicht mehr im Detail ausführen. Punkt 9 Ihres Antrages beschreiben, Abweichungen von Ausbildungsordnungen in großem Stil, von betrieblichen Ich will noch einen Punkt ansprechen. Unser Problem Notwendigkeiten diktiert, zulassen wollen? Wie soll es ist – ich hätte mir diese Bemerkung gerne erspart, Herr denn möglich sein, Ausbildungspläne von Berufsschule Lensing, weil sie uns nicht weiterführt –, dass die Zahl und Betrieben aufeinander abzustellen, wenn gleichzei- der Ausbildungsplätze nicht nur im konjunkturellen Tal tig alles modularisiert und – auch im Zeitablauf – immer der letzten zwei bis drei Jahre zurückgegangen ist, also unverbindlicher wird? Das geht doch nicht. nicht nur in der Regierungszeit von Rot-Grün, was wir mit staatlichen Maßnahmen aufgefangen haben, sondern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Rückgang der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist seit mehr als zehn Jahren im Gange. Anfang der 90er- Spannend wird es bei der von der Union geforderten Jahre ist die Ausbildungsquote von über 7 Prozent auf Modularisierung auch in Bezug auf den Vorschlag, Teil- mittlerweile gut 5 Prozent besonders schnell zurückge- qualifikationen zu zertifizieren und anzurechnen, siehe gangen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7329

Klaus Barthel (Starnberg) (A) (Werner Lensing [CDU/CSU]: So rasant und Kanzleramt bereits eingerichtet ist – sie beschäftigt sich (C) dramatisch wie jetzt war es noch nie! – Gegen- damit, wie die Modernisierung der beruflichen Bildung ruf des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] aussehen könnte –, einladen. [FDP]: 16 Jahre Kohl sind daran schuld, Herr Lensing!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese langfristigen Probleme können wir nur durch Es ist der beste und direkte Weg, nicht nur von Zusam- eine dauerhafte Qualitätssicherung und durch eine zu- menarbeit zu reden, sondern uns konkret einzuladen. künftige Finanzierung des Ausbildungssystems lösen. Wir werden miteinander darüber verhandeln, was für die Wir laden Sie herzlich ein, gemeinsam mit uns daran zu Menschen der beste Weg ist. arbeiten. Ihr Antrag enthält eine Reihe von vernünftigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorschlägen. Wir müssen aber aus den genannten Grün- neten der FDP – Werner Lensing [CDU/CSU]: den Ihren Antrag ablehnen und die Vorstellungen der Vor allem wäre das ehrlich!) FDP massiv bekämpfen. Wir werden zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesem Ausbildungsjahr zusätzlich 15 000 Schulabgän- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ger im Ausbildungsmarkt zu integrieren haben. Das Defizit an Lehrstellen ist mit 30 000 ähnlich hoch wie im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: letzten Jahr. Es ist nun einmal so: Der Ausbildungsmarkt Das Präsidium ist für jeden Redner dankbar, der die folgt dem Arbeitsmarkt. Im Jahresvergleich gibt es einen Bekämpfung der Anträge der anderen Fraktionen inner- Abbau von 632 291 sozialversicherten Beschäftigungs- halb der gemeldeten Redezeit bewerkstelligt. verhältnissen. Es ist offenkundig, dass Betriebe, die keine Zukunft haben, Menschen keine Zukunft bieten (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Manchmal können. Deshalb müssen wir Betriebe entlasten und geht es eben nicht! – Werner Lensing [CDU/ nicht weiter belasten. CSU]: Er hatte nicht mehr zu sagen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nun erhält der Kollege Uwe Schummer für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. Eine Verunsicherung des größten Ausbilders, des Handwerks, ist durch die kleine Handwerksnovelle ent- (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Lensing standen. Sie haben sich darüber beklagt, Herr Kollege [CDU/CSU]: Guter Mann! Jetzt kommt Quali- Barthel, dass wir Berufsbilder mit einjähriger Ausbil- tät ins Haus!) dung schaffen wollen, die in die Zeit der Leibeigenschaft (B) gehörten. Tatsache ist: Mit der kleinen Handwerksno- (D) Uwe Schummer (CDU/CSU): velle sollen Ich-AGs mit sozialversicherten Arbeitsplät- Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der zen in Konkurrenz zum Handwerk Arbeiten ausführen Auftakt von Herrn Staatssekretär Matschie war gut und dürfen, die in drei Monaten erlernt werden können. Sie kooperativ. betreiben im Handwerk die Atomisierung von Berufsbil- dern. Ziehen Sie diese kleine Handwerksnovelle zurück. (Jörg Tauss [SPD]: Das finde ich auch!) Dann gibt es auch wieder mehr Ausbildungsplätze im Das, was er aufgebaut hat, hat der Kollege Barthel alles Handwerk. wieder niedergerissen. Bei ihm kam die alte Ideologie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Bekämpfung durch. Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sind Sie (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die linke jetzt dafür oder dagegen?) Dampfwalze!) Immerhin werden 540 000 Auszubildende im Hand- Sie müssen sich zwischen Kooperation und Konflikt mit werk beschäftigt. Das ist nicht nur eine starke Wirt- der Opposition entscheiden. schaftsstruktur, sondern auch eine der wichtigsten Aus- bildungskräfte bei uns im Lande. Die Lehrstellenlücke Wir sind dafür, dass wir am Menschen orientiert eine von 30 000 wäre sicherlich kleiner, wenn Sie diese Ver- Modernisierung der beruflichen Bildung entwickeln. unsicherung im Handwerk nicht betrieben hätten. Dazu gehört die gemeinsame Geistesanstrengung: Wie können wir verstärkt betriebliche Ausbildungsplätze Das Berufsbildungsgesetz wurde 1969 geschaffen. schaffen? Im Zusammenhang mit der schleichenden Ver- Es muss mit der Zeit modernisiert werden. Es muss fle- staatlichung müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass xibler werden. Es gibt viele Berufsbilder, die theorie- heute 40 Prozent der Schulabgänger gezwungenermaßen stark sind, aber praktisch Begabte verlieren den An- Ersatzmaßnahmen in Anspruch nehmen, weil sie keine schluss. Warum sind wir das einzige Land, das den betriebliche Ausbildungsperspektive haben. dreijährigen Ausbildungsberuf des Tankwarts kennt? Demnächst gibt es den Tankwart mit betriebswirtschaft- Diesen Zustand wollen wir ändern, indem wir die Be- lichem Studium. triebe verstärkt ermutigen und es ihnen erleichtern, Aus- bildungsplätze zu schaffen. Wenn Sie mit uns kooperie- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Christoph ren wollen, dann zeigen Sie das, indem Sie auch die Hartmann [Homburg] [FDP]: Diplom-Tank- Opposition zur Mitarbeit in der Kommission, die im wart!) 7330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Uwe Schummer (A) Wir müssen Berufsbilder wieder an der Realität ausrich- „Begreifen“ kommt von „greifen“ und hat etwas mit (C) ten und dürfen nicht möglichst viel Theorie verlangen, praktischer Begabung zu tun. Wir müssen Theorie und Praxis stärker miteinander verbinden und noch mehr (Beifall bei der CDU/CSU) Wert auf die Praxis legen. damit der Praktiker und der Hauptschüler nicht unterge- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sie tun so, hen. Wenn ich eine Autopanne habe, dann brauche ich als müssten Sie das duale System neu erfin- jemanden, der abschleppen und reparieren kann. Ich den!) brauche niemanden, der mir Einsteins Relativitätstheorie erläutert. – Schreien Sie nicht nur herum, Herr Barthel, Sie haben schon genug mit Ihrer Rede kaputtgemacht. (Jörg Tauss [SPD]: Aber reparieren reicht nicht! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da- Führen Sie ein Stufensystem ein: vom Baufacharbei- rum geht es aber nicht! Es geht um die Elek- ter zum Maurer, vom Verkäufer zum Einzelhandelskauf- tronik!) mann, vom Änderungsschneider zum Konfektions- schneider. Lassen Sie den Kfz-Mechatroniker in der Für die Ausbildung zum Altenpfleger sehen Sie jetzt ersten Stufe Mechanik und Karosserie lernen und in der 500 Unterrichtsstunden mehr vor. Das heißt noch weni- zweiten Stufe die Elektronik und die Theorie. Wir kön- ger Praxis, noch mehr Theorie an der Pflegefachschule. nen die Stufenausbildung in allen Berufszweigen umset- Die Konsequenz ist, dass der Hauptschüler keine Chance zen. Dann hätten alle Menschen eine Chance, wieder mehr hat, diese Ausbildung zu absolvieren. eine berufliche Perspektive zu finden. Derzeit fehlen 20 000 Pflegekräfte. Einige diskutieren Das Berufsbildungsgesetz muss nicht nur flexibler, darüber, diese aus außereuropäischen Ländern zu impor- sondern auch dynamischer werden. Es gibt 350 Berufs- tieren und dafür eine Greencard zu erteilen. Geben Sie bilder, davon 32 zweijährige Ausbildungen. In den letz- durch eine Stufenausbildung wie im – erste ten drei Jahren wurden 13 neue Berufsbilder zwischen Stufe Altenpflegehelfer, zweite Stufe Altenpfleger – in den Sozialpartnern vereinbart. Es sind über 100 Berufs- allen Berufsbereichen auch den praktisch Begabten eine bilder in der Pipeline, die noch bearbeitet werden müs- Chance, eine Ausbildung aufzunehmen. sen. Wenn es in diesem Schneckentempo weiter geht, sind diese Berufsbilder erst im Jahre 2013 abgearbeitet. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Lassen Sie Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob wir einen neutra- uns das im dualen System regeln! Dann len Schlichter einsetzen, der dann, wenn sich die Sozial- schauen wir, ob die Länder mitmachen!) partner gegenseitig blockieren, entscheidet und Berufs- Das wäre in allen Berufen möglich. bilder freigibt, die dann zu mehr Ausbildungsplätzen (B) führen. (D) (Jörg Tauss [SPD]: Warum machen die von Ih- nen regierten Länder das nicht?) Ich hätte Ihnen gerne noch weitere Vorschläge ge- macht. – Das Saarland macht es ja. (Jörg Tauss [SPD]: Und die anderen?) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das glaube ich sofort. In Nordrhein-Westfalen ist es die Union, die das vor- schlägt. In Brandenburg wird es ebenfalls von der Union (Heiterkeit) vorgeschlagen. Wir sind diejenigen, die bereit sind, ent- sprechende Modelle umzusetzen. Uwe Schummer (CDU/CSU): Unsere Bitte ist: Nehmen Sie unsere Eckpunkte als (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Warum geht konkretes Gesprächsangebot! Wir sind bereit, partei- Bayern bei der Altenpflege vor das Bundes- übergreifend mit Ihnen etwas für die Menschen zu leis- verfassungsgericht?) ten. 40 Prozent der 4,2 Millionen Arbeitslosen sind ohne (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel Berufsabschluss. Derzeit sind 1,3 Millionen Menschen [Starnberg] [SPD]: Schauen wir mal!) bis 29 Jahre ohne Berufsausbildung. (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind alles Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Fakten!) Das Wort hat nun der Kollege Willi Brase, SPD-Frak- tion. Jedes Jahr produziert das Bildungssystem 100 000 aus- bildungslose junge Menschen. Hier müssen wir gegen- steuern und versuchen, Möglichkeiten zum Einstieg in Willi Brase (SPD): einen Beruf zu vermitteln. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, zum Lassen Sie uns darüber reden, wie wir Learning by Tempo der Neuordnung muss ich etwas ausführen, denn Doing, wie ich es als Pfadfinder gelernt habe, in die Be- nach meiner Erinnerung waren die Neuordnungsverfah- rufsausbildung integrieren können. ren Mitte der 90er-Jahre wesentlich länger, als das der- zeit der Fall ist. (Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht an meinem Auto!) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7331

Willi Brase (A) Wir haben die Verfahren stark verkürzt, vor allen Din- (Beifall bei der SPD) (C) gen mit Unterstützung der beteiligten Partner. Angesprochen wurde auch die Frage einer Verstaatli- (Jörg Tauss [SPD]: Sieben Monate!) chung. Der Kollege Barthel hat schon darauf hingewie- sen, dass in den letzten Jahren die Kosten für die Durch- Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat bei Schülern führung der beruflichen Bildung eine beachtliche in den Abschlussklassen der allgemein bildenden Schu- Entwicklung genommen haben. Die Anteile zwischen len 2001 und 2003 nachgefragt, wo ihre Interessen lie- dem öffentlichen Bereich, inklusive der Bundesanstalt gen. Lassen Sie mich einige dieser Zahlen nennen: für Arbeit, auf der einen Seite und den Unternehmen auf 86 Prozent der befragten Hauptschüler – 9. Klasse – in der anderen Seite haben sich zulasten des öffentlichen den alten Ländern gaben an, eine duale Ausbildung ma- Bereichs verschoben. Ich will Ihnen das noch einmal an chen zu wollen; unter den Realschülern – 10. Klasse – Zahlen deutlich machen: 1993 waren 363 000 Schülerin- waren es immerhin noch 73 Prozent. In den neuen Bun- nen und Schüler im Berufsgrundbildungsjahr, im Berufs- desländern lagen die Vergleichszahlen bei 90 Prozent für vorbereitungsjahr oder an einer Berufsfachschule. Im die Hauptschüler und 80 Prozent für die Realschüler. Jahr 2001 stieg diese Zahl auf 541 000. Oder nehmen Allein diese Zahlen zeigen doch eindeutig, wie groß wir nur die Schülerinnen und Schüler an den Berufsfach- das Interesse der jungen Leute an dualer Ausbildung ist. schulen, die außerhalb des Geltungsbereichs des Berufs- Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie und uns gemein- bildungsgesetzes und der Handwerksordnung ausgebil- sam auf, eine sach- und fachgerechte Debatte zur Be- det werden: Diese Zahl hat sich von 141 000 im Jahre rufsbildungsreform zu führen, sie auf den Weg zu brin- 1997 auf 176 000 im Jahre 2001 erhöht. gen und vor allen Dingen zusammen mit den Unternehmen genügend Ausbildungsplätze zu organisie- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) ren. Das sind doch Anzeichen dafür, dass eine Verstaatli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chung der beruflichen Ausbildung in Kombination mit DIE GRÜNEN) einer gewissen Verschulung auf den Weg gebracht wurde. Ich kann nur sagen: Hier müssen wir bei der Re- Sie fordern – das ist schon angesprochen worden – für form sehr aufpassen. Das ist der falsche Weg. Denn die bestimmte Berufszweige eine nur einjährige Ausbil- Beschäftigungsfähigkeit wird vor allem in den voll qua- dungsdauer bzw. eine theoriegeminderte Ausbildung. lifizierenden Berufsausbildungsverhältnissen der Unter- Professor Dieter Euler, Professor für Wirtschaftspädago- nehmen geleistet. gik und Bildungsmanagement an der Universität Sankt Gallen, hat dazu nach meinem Dafürhalten etwas Richti- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje (B) ges ausgeführt, was ich hier gerne vorstellen möchte: Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) Es wird zukünftig sicherlich Einfacharbeitsplätze Ich bin der Kultusministerkonferenz dankbar geben, für die streng genommen eine Anlehre nötig (Ulrike Flach [FDP]: Nein!) ist, wenn man es allein unter qualifikatorischen Ge- sichtspunkten betrachtet. Dennoch sollte gerade in – da können Sie ruhig „Nein!“ rufen –, die vor wenigen diesen Ausbildungsbereichen eine Berufsausbil- Tagen in einem Beschluss wieder mehr Verlässlichkeit dung mehr leisten als ein enges Ausrichten auf ei- der Wirtschaft bei der Bereitstellung von Ausbildungs- nen Arbeitsplatz. Die jungen Leute benötigen häu- plätzen eingefordert hat. In diesem Zusammenhang fig Unterstützung, neuen Mut und Motivation für fordert sie eine verlässliche Bereitstellung einer ausrei- den Einstieg ins Berufsleben. Deshalb halte ich chenden Anzahl von Ausbildungsstellen, um der schlei- Kurzausbildungsgänge für zu eng und kurzsichtig. chenden Verstaatlichung der Berufsausbildung entge- Sie zielen auf einen Qualifikationsbereich, dessen genzuwirken. Falls erforderlich, sollte auch über Bedarf Nachfrage abnimmt, und sie beschneiden den ausgebildet werden, damit die Berufsausbildung auch in Raum für Förderung. konjunkturell schwierigen Zeiten und bei demogra- phisch bedingten Problemen funktionsfähig bleibt und Genau das ist das Problem. die Wirtschaft ihrer gesellschaftspolitischen Verantwor- (Beifall bei der SPD) tung gerecht wird. Genau darum geht es und genau des- halb werden wir handeln. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist es für mich nicht erkennbar, dass die im Antrag der Union formulier- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ten Vorschläge zur Modularisierung und zur ein- bis dreieinhalbjährigen Ausbildungsdauer die Beschäfti- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gungsfähigkeit tatsächlich verbessern werden. Die Län- DIE GRÜNEN – Klaus Barthel [Starnberg] der in Europa, die das Berufskonzept einer dualen Aus- [SPD]: Sie haben nur 13 Sekunden überzo- bildung umfänglich verfolgen, haben wesentlich gen! – Jörg Tauss [SPD]: Dafür hätten Sie ihn weniger jugendliche Arbeitslose bzw. sind viel eher in aber auch loben können, Herr Präsident!) der Lage, die Jugendarbeitslosigkeit schnell abzubauen. Allein aus diesem Grund spreche ich mich gegen eine zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: starke Modularisierung aus. Damit beziehe ich mich ins- Frau Kollegin Pau, bevor ich Ihnen das Wort erteile, besondere auf die Segmente, in denen zukünftig kaum bitte ich Sie, noch einige Sekunden zu warten. Weil mich oder gar keine Einfacharbeitsplätze mehr entstehen. der Kollege Tauss mehrfach insistierend bittet, die 7332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) bescheidene Überschreitung der Redezeit seines Kolle- (Jörg Tauss [SPD]: Das nicht auch noch! Um (C) gen ausdrücklich zu würdigen, will ich das vor Beginn Gottes willen! Es reicht, wenn wir das selber Ihrer Rede erledigen. machen!) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- Beide Seiten – die Regierungskoalition und die Oppo- NIS 90/DIE GRÜNEN) sition – reformieren unaufhörlich, aber besser wird nichts, auch nicht für jene, die nur einen Ausbildungs- Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort. platz suchen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Petra Pau (fraktionslos): GRÜNEN]: Sie sind doch selber in Landesre- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gierungen! Kümmern Sie sich doch erst ein- haben zuletzt vor drei Monaten über die Berufsausbil- mal dort darum!) dung debattiert. Die PDS hat damals zwei Maßnahmen gefordert, nämlich akut eine Ausbildungsumlage und Liebe Kollegen Hartmann und Schummer, die Hilfs- grundsätzlich eine Ausbildungsreform. kraft im Solarium oder der nicht ausgebildete Fahrrad- monteur können doch nicht ernsthaft als Beispiele für Eine Ausbildungsumlage sollte von jenen Unterneh- die Ausbildung light in den von Ihnen wohlgepriesenen men entrichtet werden, die ausbilden können, dies aber Minijobs der Zukunft dienen. nicht tun. Sie sollte denjenigen zugute kommen, die aus- bilden wollen, es aber nicht können. Eine Ausbildungs- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- reform ist seit Jahren überfällig, um den Ansprüchen des onslos]) 21. Jahrhunderts und den Erwartungen der Lernenden Ich denke, Sie verfehlen die Lösung des Grundproblems, gerechter zu werden. nämlich Ausbildungsinhalte für das 21. Jahrhundert zu (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- definieren und Ausbildungs- und auch entsprechende onslos]) Arbeitsplätze zu schaffen. Im „Spiegel“ wurde vor wenigen Wochen eine kühne Seit unserer Debatte im September ist Folgendes pas- These aufgestellt. Kurz gefasst lautet sie: Der Osten wird siert: alt und dumm. Gemeint sind die neuen Bundesländer. Erstens. Die Regierung setzte damals noch auf ihre Noch schlimmer ist: Diese These fußt auf Fakten. Immer Ausbildungsplatzoffensive und wiederholte die Verspre- mehr Menschen wandern gen Westen, und zwar die jun- chen der Unternehmer. Die Hoffnung trog allerdings; es gen, flexiblen und gebildeten. Sie suchen ihr Glück in (B) fehlen noch immer Tausende von Ausbildungsplätzen. der Ferne, weil ihre Chancen daheim immer weiter (D) schwinden. Sie sind dazu gezwungen, weil sie andern- Zweitens. Die SPD hat auf ihrem Parteitag zum x-ten falls auch noch von Staats wegen bestraft werden. Mal mit einer Ausbildungsplatzumlage gedroht. Das ist die Logik, die sowohl Ihrer Agenda 2010 als (Jörg Tauss [SPD]: Warum?) auch Ihren heute zu beratenden Gesetzentwürfen inne- wohnt. Insofern ist doch etwas passiert, seit wir im Sep- Aber auch diese Hoffnung trügt. Noch immer fehlen tember über die Ausbildungsplatzmisere diskutiert ha- konkrete Schritte. Sie sind auch nicht in Sicht. ben. Sie verfolgen – assistiert von der konservativen (Jörg Tauss [SPD]: Ach was! Tag und Nacht! – Opposition – entschlossener denn je Ihren fatalen Kurs Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Nicht alles, der Agenda 2010. was Sie nicht sehen, gibt es nicht!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Genau betrachtet ist also nichts passiert. Das Di- GRÜNEN]: Fatal ist die PDS!) lemma wird verlängert. In gewisser Weise ist aber doch Dabei macht die PDS im Bundestag nicht mit. etwas passiert: Erneut werden zigtausend Jugendliche enttäuscht und um ihre Hoffnung betrogen. Das ist doch (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- das eigentliche Dilemma. Damit wird sich die PDS im onslos]) Bundestag nicht abfinden. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos] – Jörg Tauss [SPD]: Das ist auch okay! Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Aber über das Gesetzgebungsverfahren sind die Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Fraktion. wir uns einig?) Marion Seib (CDU/CSU): Viele Kameras und Mikrofone sind derzeit auf den Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Vermittlungsausschuss gerichtet. Alles wird gedeutet, Kollegen! Lassen Sie mich gleich mit dem Ausbildungs- bewertet und zum Anlass für höchst wichtige Sondersen- hemmnis Nummer eins beginnen: Wer nicht ausbildet, dungen genommen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wird umgelegt. Kommt Ihnen dieser Satz irgendwie be- dass bei dem Geschacher zwischen SPD und CDU/CSU kannt vor? und zwischen Bund und Ländern das Wort Ausbildung gar nicht vorkommt? (Jörg Tauss [SPD]: Nahles!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7333

Marion Seib (A) Ich glaube schon. Mit diesem grobschlächtigen Slogan orientierte Lehrstellen entstehen. Packen Sie die Ausbil- (C) begannen die Jungsozialisten in der SPD Ende der 90er- dungsplatzabgabe Jahre erneut eine Debatte über eine Ausbildungsplatzab- (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) gabe. In den 80er-Jahren hatte das Bundesverfassungs- gericht die Abgabe aufgrund von Verfahrensfehlern wieder in die Schublade, wohin sie gehört, und beginnen schon einmal gekippt. Sie endlich mit der Novellierung des Berufsbildungs- rechts. Ihnen geht es immer nur darum, sich von den Unter- nehmen Geld zu holen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Es gehört auch zur Bildungsfähigkeit, (Beifall bei der CDU/CSU) dass man ab und zu weiß, worüber man Aber durch die falsche Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und spricht!) Finanzpolitik der Bundesregierung ist von Wirtschafts- Wir haben dazu ein detailliertes Eckpunktepapier im wachstum nichts zu merken. Bundestag eingebracht. Der Abbau von Ausbildungs- (Jörg Tauss [SPD]: Dann blockiert nicht län- hemmnissen ließe sich beliebig fortführen. Vor allem ger!) brauchen wir aber strukturelle Veränderungen. Die Be- rufsausbildung muss wieder stärker an betrieblichen Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf dem höchsten Aufgaben und Arbeitsprozessen orientiert und den Be- Nachkriegsniveau. Die Beschäftigtenzahlen brechen trieben mehr Eigenverantwortung bei der Ausbildung dramatisch ein. Logischerweise ist auch die Lehrlings- gegeben werden. Deshalb fordern wir: Die Ausbildungs- ausbildung von dieser Krise negativ betroffen. Noch nie ordnungen müssen modernisiert und insbesondere flexi- war die Ausbildungssituation derart katastrophal wie im bilisiert werden. Berufsausbildungsvorbereitung, Be- Sommer 2003. rufsausbildung und berufliche Weiterbildung müssen im (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Bausteinsystem organisiert werden. Das ist die Wahrheit!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bauklötzchen!) Als Antwort der Bundesregierung wird die Ausbilder- Der Ausbildungsrahmenplan muss regelmäßig angepasst Eignungsverordnung ausgesetzt und die unsägliche Aus- werden. bildungsplatzabgabe Der erste wichtige Schritt wäre, den Grundsatz einer (Jörg Tauss [SPD]: Umlage, Frau Kollegin!) breit angelegten beruflichen Grundbildung mit Kern- wieder aus der untersten Schublade gezerrt. und Fachqualifikation einzuhalten. Betriebsbezogene (B) Spezialisierung hat in allgemeinen Berufsbildern nichts (D) (Beifall bei der CDU/CSU – Katherina Reiche verloren. [CDU/CSU]: Zwangsabgabe!) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel Was einst lustig von den Jusos skandiert wurde, wird mit [Starnberg] [SPD]: Das steht aber in Ihrem dieser Abgabe Antrag anders drin! Da müssen Sie Ihren An- trag umschreiben!) (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) Vor allem vor dem Hintergrund, dass jährlich 15 Prozent für viele Unternehmen bald bitterer Ernst. Mit der Ab- der Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss bleiben, ist gabe es notwendig, auch zweijährige theorieentlastete Ausbil- (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) dungsgänge zu schaffen. Wichtig ist dabei, dass die er- worbene Qualifikation zu einem späteren Zeitpunkt zu werden viele Unternehmen im wahrsten Sinne des Wor- einem umfassenden qualifizierten Berufsabschluss er- tes umgelegt. weitert werden kann. Ich kann es mir nicht verkneifen: (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie halten eine theo- Treten Sie den Gewerkschaften endlich auf die Zehen! riegeminderte Rede!) (Jörg Tauss [SPD]: Vor dem DGB kuscht doch Hat denn niemand im Bundeskanzleramt zur Kenntnis gerade Herr Stoiber!) genommen, dass über 40 000 Unternehmen Insolvenz Lassen Sie es nicht zu, dass die jungen Leute ihre beruf- anmelden mussten und dass viele Unternehmen bereits liche Karriere mit Arbeitslosigkeit beginnen müssen, nur mit dem Rücken zur Wand stehen? Die Ausbildungsnot weil ein unsäglicher Grundsatzstreit von Ecklohnbeton- ist die Kehrseite der wirtschaftlichen Not vieler Betriebe. köpfen dies so will. Lassen Sie sich sagen: Mittelständler, die um ihre Exis- tenz bangen, haben andere Sorgen als die Lehrlingsaus- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei bildung. der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war aber grobschlächti- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ger als bei den Jusos!) Durch Ihr Konzept, mit der Ausbildungsplatzabgabe Man muss auch kein Abitur haben, um ein guter, kre- überbetriebliche Ausbildung zu subventionieren, be- ativer Handwerker zu werden. Wichtig ist, dass wir den steht die Gefahr, dass in staatlichen Ausbildungspro- jungen Leuten realistische Ausbildungsinhalte und Aus- grammen vor allem praxisfremde und nicht am Bedarf bildungsordnungen geben. Mit der Überspezialisierung 7334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Marion Seib (A) in der dualen Berufsausbildung muss Schluss sein. Wir Vera Lengsfeld (C) brauchen mehr tüchtige Handwerker und Facharbeiter Claudia Roth (Augsburg) und weniger Nischenausbildung, die oft schon im ersten Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Lehrjahr beginnt und bei Brancheneinbrüchen zu früher Arbeitslosigkeit führt. Vor allem aber sollten künftig alle Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die beruflich erworbenen Zertifikate, Abschlussprüfungen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu und Weiterbildungsprüfungen in einem einheitlichen Be- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. rufsbildungspass dokumentiert werden, der selbstver- Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort zu- ständlich auf freiwilliger Basis geführt werden sollte. nächst der Staatsministerin für Kultur und Medien, Meine sehr geehrten Damen und Herren von der rot- Christina Weiss. grünen Koalition, dies ist der richtige Weg, um die Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des bildungsbereitschaft und vor allem die Ausbildungskraft BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Betriebe zu stärken. Es gilt, Anreize zu schaffen und nicht abzustrafen. Verspielen Sie bitte nicht länger die Chancen der jungen Generation. Werden Sie endlich tä- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- tig! kanzler: Herr Präsident, Sie erlauben, dass ich dem Kollegen Danke schön. Volker Beck zum Geburtstag gratuliere. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wie sich das trifft heute!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich schließe die Aussprache. ren! Blau unterlegt und unübersehbar weist das Straßen- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- schild den Weg; „Homo-monument“ steht darauf ge- empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung schrieben, ganz einfach und locker, als hätte Volkes und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1957 Hand den Stift geführt. Dieser Richtungsanzeiger führt zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel nicht – leider noch nicht – an den südöstlichen Rand des „Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland Großen Tiergartens, sondern an den Amsterdamer Wes- durch Novellierung des Berufsbildungsrechts“. Der Aus- termarkt. Schon seit 1987 wird dort, an der Keizers- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1348 gracht, der ermordeten Homosexuellen gedacht, übri- abzulehnen. gens mit einer Inschrift, die sehr berührt: „Solch eine maßlose Sehnsucht nach Freundschaft“. Nicht mehr, (B) (D) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Unverständ- aber auch nicht weniger. lich! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe alles verstanden!) Weit sichtbar sind die großen, dreieckigen Marmor- platten, die das Mahnmal bilden. Wie aufgebrochene – Ich gehe einmal davon aus, dass alle für wichtig gehal- Eisschollen ragen Sie hervor, schimmern rosa und zwin- tenen Anmerkungen zur Sache in der Debatte vorgetra- gen zum Innehalten. Es war das erste Denkmal über- gen worden sind und dass wir nun tatsächlich zur Ab- haupt, das an die Demütigung, die Verfolgung und die stimmung über die Beschlussempfehlung kommen Ermordung jener Menschen erinnert, die im Dritten können. – Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Reich mit dem rosa Winkel stigmatisiert wurden. Das Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemand der Stimme „Homo-monument“ erinnert würdig. Es rüttelt aber auch enthalten? – Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr- auf, wachsam zu sein. Es rüttelt auf, Ausgrenzungen zu heit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition an- genommen. ächten und jeglicher Form von Diskriminierung im All- tag zu begegnen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Auch wir in Deutschland brauchen dieses Wachhalten Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und ein gutes Maß an Aufrütteln. Zwar wird in den ehe- richts des Ausschusses für Kultur und Medien maligen Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- oder Sachsenhausen längst auch über die Qualen der ho- ten Johannes Kahrs, Eckhardt Barthel (Berlin), mosexuellen Insassen berichtet; ein sichtbares Zeichen Wilhelm Schmidt (Salzgitter), weiterer Abgeord- der Trauer um diese geschundenen Seelen an prominen- neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ter Stelle fehlt jedoch bislang. Aus diesem Grunde soll- ordneten Volker Beck (Köln), Claudia Roth ten wir uns ein Beispiel an Amsterdam nehmen. Ich ge- (Augsburg), Katrin Göring-Eckardt, stehe allerdings auch, dass ich nicht sicher bin, ob und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE deutsche Behörden wirklich den Mut hätten, „Homo- GRÜNEN monument“ auf ein Straßenschild zu schreiben. Denkmal für die im Nationalsozialismus ver- Ich bin froh, dass sich der Deutsche Bundestag dieses folgten Homosexuellen Denkortes heute erneut annimmt. Wir debattieren darü- – Drucksachen 15/1320, 15/2101 – ber spät. Dieses Thema ist in den Geschichtsdebatten lei- der lange verschämt verschwiegen oder verdrängt wor- Berichterstattung: den. Wir brauchten in Deutschland erst eine Bewegung Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) der Emanzipation und der Selbstbehauptung, die es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7335

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) möglich machte, diese Lebensform zu respektieren, sie Es wäre zu begrüßen, wenn dieses Denkmal ein An- (C) gleichzustellen, sie als das zu behandeln, was sie nach stoß dazu sein könnte, in der Mitte der Gesellschaft nach Klaus Mann ist, nämlich „nicht besser, nicht schlechter, minderheitenfeindlichen Ressentiments zu forschen. Wir mit ebenso viel Möglichkeiten zum Großartigen, Rüh- dürfen nicht zulassen, dass Vorurteile, die lange, sehr renden, Melancholischen, Grotesken, Schönen oder Tri- lange gehegt wurden, immer noch widerspruchslos hin- vialen wie die Liebe zwischen Mann und Frau“. Das war genommen werden. ein jahrelanger Kampf. Diese Bundesregierung hat end- lich Ernst damit gemacht, homosexuelle Bürgerinnen Es ist an der Zeit, dass wir das Denkmal für die im und Bürger als Teil der Gesellschaft zu begreifen und sie Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Homo- zu integrieren – mit Pflichten, aber auch mit lange ver- sexuellen bauen. Ich begrüße sehr, dass das Land Berlin weigerten Rechten. dafür ein Grundstück am Rande des Tiergartens bereit- stellt. Wir werden einen künstlerischen Wettbewerb ini- Wenn wir von Aufrichtigkeit im Umgang sprechen, tiieren und kommen somit der Initiative „Der homosexu- dann gilt das in besonderer Weise auch für die Vergan- ellen NS-Opfer gedenken“ entgegen. Die Errichtung des genheit. Wer die Tagebücher homosexueller Häftlinge Denkmals wird aus meinem Etat mit 500 000 Euro un- liest, wer Schicksale kennt, der ahnt, welches Grauen sie terstützt. Ich hoffe sehr, dass wir zügig mit dem Wettbe- in den Konzentrationslagern erlebten, welche Sonder- werb beginnen können. Es ist höchste Zeit, dass wir ei- stellung sie einnehmen mussten und wie tief unten in der nen Ort der Selbstvergewisserung schaffen. Unterstützen Häftlingshierarchie sie rangierten. Werner Koch, ein po- Sie uns dabei! litischer Häftling im KZ Sachsenhausen, schreibt: Vielen Dank. Noch verachteter und isolierter als die Asozialen freilich sind die Homosexuellen, die einen rosa (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Winkel tragen. GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Petra Die so genannten 175er erlebten Erniedrigungen, Pau [fraktionslos]) schlimme Folter, schauerlichste Torturen und waren der sadistischen Willkür des Lagerpersonals besonders Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schutzlos ausgeliefert. Von der Vernichtung durch Arbeit Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Lengsfeld, will ich gar nicht reden. Es schien einigen Häftlingen er- CDU/CSU-Fraktion. strebenswerter – so habe ich gelesen –, lebenslang in ei- nem Gefängnis zu sitzen, als im Konzentrationslager entwürdigt zu werden. Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (B) (D) Es ist überfällig, dass in der Mitte der deutschen Haupt- gen! Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den vorliegenden stadt auch der ermordeten Homosexuellen gedacht wird. Antrag der SPD und der Grünen, ein Denkmal für die im (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen zu er- GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Petra richten, ab. Es gibt dafür mehrere Gründe. Pau [fraktionslos]) Der für mich persönlich gewichtigste Grund ist, dass Hier, wo die Täter ihr Handwerk versahen, ließ Heinrich es in und um Berlin herum zahlreiche Gedenkstätten für Himmler 1936 eine Reichszentrale zur Bekämpfung der die Opfer der NS-Diktatur gibt. Alle diese Gedenkstätten Homosexualität und der Abtreibung einrichten, hier gab leiden unter einem nicht gerade kleiner werdenden Man- es Razzien und Verhaftungen, nicht zu vergessen Denun- gel an finanziellen Mitteln. Wer zum Beispiel, beein- ziationen in großem Stil. Wer kritisiert, in der deutschen druckt durch den Film „Rosenstraße“, heute den Ort des Hauptstadt entstehe mit dem Denkmal für die ermorde- damaligen Geschehens aufsucht, sieht sich einem reich- ten Juden Europas und dem Denkmal für die ermordeten lich vergammelten und vernachlässigten Ort gegenüber. Sinti und Roma eine Gedenkmeile, der verkennt, in wel- Das ist nun wahrlich nicht der einzige Ort, der aus Man- chem Ausmaß gerade die Minderheiten von den syste- gel an Mitteln nicht entsprechend seiner Bedeutung ge- matischen Verbrechen der Nationalsozialisten betroffen pflegt wird. Es ist schon deshalb nicht einsehbar, dass waren. man, statt die vorhandenen authentischen Stätten zu pflegen, sich ein weiteres Denkmal auf die grüne Wiese (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE setzt. Unsere politische Aufgabe sollte es sein, die au- GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Petra thentischen Stätten, die an das Grauen der Nazizeit erin- Pau [fraktionslos]) nern, zu erhalten. Es soll nicht verschwiegen sein, dass der Terror ge- genüber den Homosexuellen auch ein Terror gegenüber (Beifall bei der CDU/CSU) unserer Kultur war. Wir wollen und wir werden dieser Wir müssen auch die Institutionen der Dokumentation Opfergruppe gedenken, weil nicht verschwiegen werden und der Forschung, deren es zahlreiche in Deutschland darf, welchen Preis zu zahlen hatte, wer seine sexuelle gibt, fördern. Wir haben die ehemaligen Konzentrations- Orientierung offenbarte. Trotz aller Aufklärungsarbeit in lager, wir haben die Stiftung „Topographie des Terrors“ unseren Gedenkstätten ist der Platz, den die verfolgten mit einem teuren Neubau auf einem großen Gelände. und ermordeten Homosexuellen im kollektiven Gedächt- nis einnehmen, noch nicht sehr gefestigt. Da bleibt noch (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: viel zu tun. Das ist der Ort der Täter!) 7336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Vera Lengsfeld (A) Wir haben das Deutsche Historische Museum. Bevor wir Vera Lengsfeld (CDU/CSU): (C) über weitere einzelne, zentrale Denkmale reden, brau- Bitte. chen wir eine Gesamtkonzeption, die zeigt, wohin wir am Ende wollen. Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): (Jörg Tauss [SPD]: Klarer Beschluss!) Frau Kollegin, nachdem Sie den Beschluss zum Holo- caust-Mahnmal eben erwähnt haben, möchte ich Sie fragen, Statt dieser Gesamtkonzeption gibt es jetzt lauter Einzel- ob Ihnen bekannt ist, dass in diesem Beschluss steht, dass anträge. wir uns auch verpflichten, „der anderen Opfer … würdig zu Es geht doch um Begreifen der und Nachdenken über gedenken“, und wir das trotz des Wissens, dass es am die Geschichte, es geht auch um Bildung von demokrati- Nollendorfplatz das von Ihnen erwähnte Schild und auch schen Grundhaltungen und es geht um nicht mehr und anderswo Hinweise gibt, hineingeschrieben haben. Füh- nicht weniger als das geschichtspolitische Selbstver- len Sie sich diesem Beschluss des Deutschen Bundesta- ständnis Deutschlands. Ein neues zentrales Mahn- oder ges weiterhin verpflichtet oder nicht? Denkmal für eine einzige ausgewählte Opfergruppe scheint uns dieser komplizierten Aufgabe nicht gerecht Vera Lengsfeld (CDU/CSU): zu werden. Aber sicher fühle ich mich diesem Beschluss ver- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE pflichtet. Deshalb habe ich ja auch diese Gesamtkonzep- GRÜNEN]: Sie wurden aber als Opfer auch tion angemahnt und gemeint, dass es gerade nicht im ausgewählt!) Sinne dieses Beschlusses ist, wenn jetzt, ohne über eine Gesamtkonzeption debattiert zu haben, die Errichtung Wir halten ein Denkmal für homosexuelle NS-Opfer einzelner Denkmale beschlossen wird. auch deshalb für verzichtbar, weil bereits in der Neuen Wache ihrer gedacht wird und es im Tiergarten, wo ja (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein das neue Denkmal platziert werden soll, das Magnus- Widerspruch in sich!) Hirschfeld-Denkmal gibt. Es gibt eine Gedenktafel am – Nein. Berliner U-Bahnhof Nollendorfplatz und es gibt – Frau Staatsministerin hat ja dankenswerterweise darauf hin- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine gewiesen – in zahlreichen KZ-Gedenkstätten Hinweise theoriearme Leistung!) und Ehrungen für die homosexuellen Opfer des Natio- In Anbetracht dessen, was schon vorhanden ist, frage nalsozialismus. ich, welchen Sinn ein weiteres, zusätzliches Mahnmal nur für die homosexuellen Opfer haben soll. (B) Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an die (D) Debatte in der letzten Legislaturperiode: Da hätte sich (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE uns die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen des zentralen GRÜNEN]: Hätten Sie der Frau Ministerin Mahnmals für die jüdischen Opfer des Holocaust aller doch einmal zugehört!) Opfer zu gedenken. Wir haben in der damaligen Denk- maldebatte darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, die Angenommen, wir würden uns einem Kollektiv Täter- einzelnen Opfergruppen zu separieren, volk – Singular! – zugehörig fühlen, dann hätten wir kein moralisches Recht, ein Denkmal für die Opfer zu (Jörg Tauss [SPD]: Wir wollten es setzen. Ich erinnere daran, dass dieser Punkt Gegenstand ausdrücklich nicht!) heftiger Auseinandersetzungen im Rahmen der Mahn- und mögliche Ansprüche anderer Opfergruppen auf ein maldebatte in der letzten Legislaturperiode war. Diese zentrales Denkmal zurückgewiesen. Es gibt keinen Diskussion ist keineswegs obsolet. Grund, heute von dieser Entscheidung abzurücken. Auch wenn – wie jüngst bekundet wurde – niemals (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir damals jemand den Vorwurf des Tätervolkes erhoben haben nicht zurückgewiesen, sondern zugesagt! Das will, ist ein Unterschied!) ( [BÜNDNIS 90/DIE – Ach, Herr Tauss, wenigstens bei solch einer Debatte GRÜNEN]: Der Begriff Tätervolk ist Unsinn!) sollten Sie diese Zwischenrufe unterlassen. als hätte es die ganze Goldhagen-Debatte nicht gegeben, (Jörg Tauss [SPD]: Aber es stimmt! – Dr. Uwe ist dieser Punkt nach wie vor zu berücksichtigen. Wenn Küster [SPD]: Nehmen Sie es einfach zur aber eine Mahnung an die nachgeborenen Deutschen be- Kenntnis, Frau Lengsfeld!) absichtigt ist, die keine Täter sind, so kann das nur – da sind wir uns hoffentlich einig – eine Mahnung vor den Es geht um Erinnerung in einer offenen demokrati- Folgen totalitärer Ideologie und Politik und eine Mah- schen Gesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen, nung vor der sittlichen Verwahrlosung sein, die immer nicht vom Zeitgeist, nicht vom Parlament und auch nicht mit totalitären Ideologien einhergeht. von Bürgerinitiativen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Aber gerade dann ist eine Separierung und Hierar- Frau Kollegin Lengsfeld, der Kollege Barthel würde chisierung der Opfer entsprechend der NS-Diskrimi- Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. nierung überhaupt nicht zielführend, sondern eher Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7337

Vera Lengsfeld (A) kontraproduktiv. Ich verstehe die singuläre Stellung, die Aber angenommen; in der Mitte der Gesellschaft klarer (C) die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in unserem als an manchen Rändern. nationalen Erinnern einnehmen. Aber eine weitere Ein- teilung nach Opfergruppen verstehe ich nicht. Frau (Jörg Tauss [SPD]: Da habe ich andere Erfah- Staatsministerin Weiss, was Sie über die Leiden der rungen!) Homosexuellen in den Konzentrationslagern gerade Doch die Verbrechen des Dritten Reiches machen richtig ausgeführt haben, traf ganz genauso auf alle an- nicht die ganze Geschichte des deutschen Nationalstaa- deren Opfergruppen, die sich in den Konzentrationsla- tes aus. Das einzigartige historische Skandalon war der gern befanden, zu. braune Zivilisationsbruch, der totalitäre Abschied von (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE unserer Tradition als große abendländische Kulturnation. GRÜNEN]: Das ist falsch!) Die braune Vergangenheit ist längst akzeptierte Gegen- identität zu der gelungenen deutschen Demokratie ak- Gerade wenn wir bei unserer Entscheidung auch an zeptiert worden. die Wirkung denken wollen, dann wünsche ich mir, dass in diesem Hohen Hause mehr darüber nachgedacht wird, Aber warum soll unsere Geschichte allein im Schatten dass gut gemeint sehr oft das Gegenteil von gut ist. Wir der nationalsozialistischen Vernichtungslager gesehen als Parlamentarier können ein Vorbild demokratischer werden? Wenn wir über Denkmale für weitere Opfer- Haltung geben. Wir müssen das sogar tun, wenn wir un- gruppen im Gefolge des Nationalsozialismus sprechen, seren Auftrag ernst nehmen. Wir sollten das aber mit al- ist zu fragen: Wann wird ein zentrales Mahnmal für die ler Vorsicht tun. Wir sollten uns immer der Wirkung des- Opfer des terroristischen Bombenkrieges errichtet? sen, was wir tun, bewusst sein. Wir können freiheitliche Wann erhalten wir eine Gedenkstätte für die Millionen Gesetze erlassen. Wir sollten ein persönliches Bekennt- Opfer der Vertreibung? Wann gibt es eine Ehrenpension nis als Demokraten ablegen. Wir können aber kein Ok- für die Opfer des SED-Staates? troi über die Deutung der Geschichte beschließen und in der Mitte Berlins ein Mahnmal neben das andere setzen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte Ihnen in allem Ernst zu bedenken geben, Frau Kollegin, Sie denken bitte an Ihre Zeit. dass in der Jugendszene das Wort Opfer heute das Wort ist, das denjenigen, den es treffen soll, am meisten belei- digt. Das sollte uns wirklich zum Nachdenken anregen. Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Ich sage noch einmal: Geschichte ist unteilbar. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ver- (B) stehe ich nicht!) Wir glauben an das freie und verantwortliche Indivi- (D) duum. Wir wissen um den Unterschied zwischen indivi- – Das verstehen Sie nicht? dueller und unabweisbarer politischer Schuld sowie der (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist zu intellektu- daraus erwachsenden Verantwortung. Aber wir werden ell! Sagen Sie das einmal klarer!) uns das Vertrauen in die freiheitlichen Traditionen Deutschlands nicht nehmen lassen. Erinnerungskultur ist – Dann fragen Sie einmal die Jugendlichen bzw. Ihre ein heikles Unterfangen. Stabile und freiheitliche For- Söhne und Töchter – Sie haben wahrscheinlich keine –, men politischer Ordnung lassen sich nicht auf ein kollek- warum das so ist. tives Schuld- oder Schandebewusstsein begründen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind so was von klug, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kommen Sie zu ei- Frau Lengsfeld! Erst lesen, dann reden!) nem guten Ende! Tun Sie uns und sich diesen Gefallen!) Das ist nicht zu philosophisch; bei den Jugendlichen schon gar nicht. Es ist eine elementare Reaktion auf eine Wir brauchen deshalb, wie ich eingangs sagte, eine verfehlte Volkspädagogik oder Sozialpädagogik. Das Debatte über eine Gesamtkonzeption, eine Debatte darü- sollte man wirklich ernst nehmen. ber, wohin wir mit unserer Erinnerungskultur kommen wollen. Wir brauchen aber keine weitere Separierung Ich erinnere nur an die kürzlich entdeckten, bisher des Problems. verschwiegenen NSDAP-Mitgliedschaften einiger pro- minenter Kulturikonen dieses Landes, die ihren mahnen- (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von den Zeigefinger immer ganz besonders weit oben hatten. Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gerade das sollte doch klar gemacht haben, wie dünn war ein peinlicher Beitrag!) das moralische Eis ist, auf dem die Nationalpädagogik daherkommt. Glauben Sie nicht, dass das besonders von unseren Jugendlichen durchschaut wird? Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck, Es ist nichts so falsch wie die gern gebrauchte These, Bündnis 90/Die Grünen, dem ich im Namen des Hohen die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft habe sich Hauses zu seinem Geburtstag ähnlich herzlich gratulie- mit ihrer Vergangenheit nicht genügend auseinander ge- ren möchte, wie das bereits die Frau Staatsministerin im setzt. Die Verantwortung für die NS-Geschichte wurde Namen der Bundesregierung getan hat. in dieser Gesellschaft – ich präzisiere ausdrücklich: ge- rade in der Mitte dieser Gesellschaft – ohne Wenn und (Beifall) 7338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): per“, wie man damals formuliert hat, und die Homosexu- (C) Das freut mich sehr. Vielen Dank, Herr Präsident! alität zu vernichten. Meine Damen und Herren! Leider ist heute aber ange- Das Leben mancher Homosexueller in der Kriegs- sichts der Worte meiner Vorrednerin nicht nur ein erfreu- phase wurde vielleicht dadurch gerettet, dass man einer- licher Tag. Die Würde der Debatte verbietet es, mit der seits Männer für den Kriegseinsatz brauchte und dass es Schärfe, die diese Rede durchaus verdient hätte, zu rea- andererseits unter den Gelehrten der nationalsozialisti- gieren. Ich will erläutern, warum wir es für dringend nö- schen Rassenideologie einen Streit darüber gab, ob man tig halten, dass ein solches Denkmal gebaut wird. die Homosexuellen durch Operation, Kastration, Hor- monbehandlung oder durch Wegsperren von ihrer Ho- Nach der gestrigen sehr würdigen und angemessenen mosexualität befreien könne oder ob das nur durch die Debatte zum Thema Antisemitismus hatte ich gedacht, Vernichtung allen homosexuellen Lebens ginge. 10 000 dass heute vielleicht die Chance bestehen würde, das, bis 15 000 Homosexuelle wurden in Konzentrationsla- was gestern über die Bedeutung von Erinnern und Ge- ger gebracht und es gab 50 000 Verurteilungen nach denken für die Bekämpfung von Minderheitenfeindlich- § 175 in der Zeit des Dritten Reiches. keit und Antisemitismus gesagt wurde, gemeinsam in Taten umzusetzen. Aber ich glaube, unser Umgang mit Dass die Homosexuellenverfolgung zum Kernbestand dem Thema heute ist letztendlich ehrlicher; denn die Ge- nationalsozialistischer Ideologie und Vernichtungspoli- schichte der Aufarbeitung der Verfolgung der Homo- tik gehörte, kann man daran erkennen, dass im Dritten sexuellen im Nationalsozialismus war immer sehr kon- Reich im Jahr 1936 eine eigene Reichszentrale zur Be- trovers. kämpfung der Homosexualität und der Abtreibung im Reichssicherheitshauptamt aufgebaut wurde, nach- Lange Zeit ist von bundesdeutschen Organen wie dem dem Jahre zuvor durch Runderlass von Himmler befoh- Bundesverfassungsgericht bestritten worden, dass es len war, alle sich homosexuell Betätigende in Zentral- überhaupt eine Verfolgung der Homosexuellen durch die karteien zu erfassen, damit man sie jederzeit einsammeln Nationalsozialisten gab. Infolgedessen wurden die ho- und der Verhaftung oder Vernichtung zuführen konnte. mosexuellen Opfer des Nationalsozialismus von der Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz Dies in Erinnerung zu rufen ist nicht nur deshalb ausgeschlossen. Es dauerte bis zum Jahr 2000 – man will wichtig, damit unser Geschichtsbild komplett ist – auch es kaum glauben –, bis sich der Deutsche Bundestag zu dafür ist es natürlich wichtig –, sondern auch für die Zu- der Schuld, die deutsche Staatsorgane vor und auch nach kunft. Es gibt viele Länder auf dieser Welt, in denen das dem Krieg – durch die Kontinuität der Strafverfolgung Leben und die Freiheit von Homosexuellen heute noch bis nach 1969 in der Bundesrepublik – mit ihrem Um- gefährdet ist, in denen das Leben homosexueller Men- (B) gang mit den Homosexuellen auf sich geladen haben, schen nichts gilt. Dazu zählen die Länder im islamischen (D) bekannt und sich bei den homosexuellen Opfern ent- Raum wie Iran und Saudi-Arabien. Dort stehen die To- schuldigt hat. Es dauerte bis 2002, bis schließlich auch desstrafe oder schwere Körperstrafen auf homosexu- die während des Dritten Reiches unter den Nationalsozi- elle Betätigung. Auch in vielen Ländern Lateinamerikas alisten erfolgten Verurteilungen aufgrund § 175 aufge- wird die Homosexualität unter Erwachsenen strafrecht- hoben wurden. Es war die Unionsfraktion, die verhindert lich verfolgt; damit werden die Existenzen dieser Men- hat, dass dieser Beschluss zusammen mit dem NS-Un- schen vernichtet. rechtsaufhebungsgesetz getroffen worden ist. Es war ein schwieriger Prozess für uns, zu unserem Insofern ist der Befund der heutigen Kontroverse ehr- heutigen Erkenntnisstand in der Homosexuellenfrage zu licher; denn die Rehabilitierung, die Entschädigung und kommen. Gleichwohl sind wir heute noch weit von der die Erinnerung an das Unrecht, das der deutsche Staat in Gleichberechtigung entfernt. Diesbezüglich sollte man der Zeit des Dritten Reiches den Homosexuellen zuge- fragen, ob es nicht eine Konsequenz aus der Geschichte fügt hat, wurde mühsam erkämpft. wäre, diese endlich zu vollenden. Wir verlangen von an- deren Ländern die Einhaltung der Menschenrechte auch Gerade deshalb kommt diesem Denkmal eine beson- bei homosexuellen Bürgerinnen und Bürger. Wir können dere Bedeutung zu, gerade deshalb haben sich die Initia- nur glaubwürdig bleiben, wenn wir uns unserer eigenen tive für das Denkmal und der Lesben- und Schwulenver- Geschichte erinnern und diese vergegenständlichen. band (LSVD) seit Jahren engagiert, eine Mehrheit im Ich halte es für eine gelungene Lösung, gegenüber Parlament für die Errichtung zu bekommen. Es geht da- dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein rum, die spezifische Verfolgung der Homosexuellen, die kleineres und sicherlich bescheideneres, aber angemes- so lange ignoriert wurde, dem Vergessen zu entreißen senes Denkmal zu errichten, über das man stolpert. Wir und mit einem Denkmal zu vergegenständlichen und so- erinnern damit an die Gräuelphase, die einen Teil unse- mit Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. rer Geschichte ausmacht. Ihre Verfolgung ist oftmals in Vergessenheit geraten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ein Grund dafür ist vielleicht, dass die Zahl der Opfer un- bei der SPD und der FDP sowie der Abg. Petra ter den Homosexuellen in keiner Weise mit der Zahl der Pau [fraktionslos]) verfolgten Juden und Sinti und Roma zu vergleichen ist. Trotzdem darf man nicht verkennen: Ziel nationalsozia- Wir sollten berücksichtigen – ich fand Ihre geschicht- listischer Homosexuellenpolitik war, die Homosexualität liche Analyse, Frau Kollegin Lengsfeld, einfach neben gleichsam auszureißen aus dem „deutschen Volkskör- der Sache –, dass die Homosexuellenfeindlichkeit wie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7339

Volker Beck (Köln) (A) der Antisemitismus keine Frage der Diskontinuität ist, Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (C) sie ist eine Frage der Kontinuitäten in der deutschen Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Geistesgeschichte vor 1933 und nach 1945. Ich möchte in der gebotenen Kürze zunächst einmal sa- gen: Selbstverständlich gibt es aufgrund des Beschlusses (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Und aus dem Jahre 1999, den ich damals wie heute aus vol- leider nicht nur in der deutschen!) lem Herzen unterstütze, eine gewisse Selbstverpflich- – Leider nicht nur in der deutschen. Deshalb habe ich ge- tung des gesamten Hauses. Wir haben damals gesagt: rade die internationale Bedeutung eines solchen Denk- Die Bundesrepublik Deutschland bleibt verpflichtet, der mals angesprochen. anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu ge- denken. Sie können doch nicht wirklich ernsthaft behaupten, dass es reicht, am U-Bahnhof Nollendorfplatz eine Pla- Es ist aber nicht nur diese Selbstverpflichtung, die uns kette von einem Quadratmeter zu haben, die an das freie Demokraten veranlasst, für diesen Antrag zu stim- Schicksal der Homosexuellen erinnert. Es war eine tolle men, sondern es ist auch die Überzeugung von der Not- Initiative einer Bürgerinitiative, dort einen Ort der Erin- wendigkeit und der Überfälligkeit dieses Denkmals. nerung in Berlin einzurichten, wo damals viele Homo- sexuelle gelebt haben und heute viele Einrichtungen für (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Homosexuelle zu finden sind. Das ist aber doch kein Er- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) satz für ein nationales Denkmal, mit dem wir uns zur Dabei denken wir nicht nur an das, was der Kollege Schuld bekennen, mit dem wir Nein zur Verfolgung und Beck eben anschaulich geschildert hat, also an die Ver- Ja zu den Menschenrechten der Homosexuellen sagen. gangenheit, an das, was den Homosexuellen im Dritten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Reich angetan wurde. Wir haben immer auch ein wach- bei der SPD und der FDP) sames Auge auf die Gegenwart und die Zukunft. An Ihrer Rede hat man gemerkt, dass Sie sich mit Ih- Es lässt sich nicht bestreiten, dass es auch heute noch rem Nein zu diesem Denkmal bloß hinter der Idee einer latent und manchmal sogar offen Vorurteile, Behinde- Gesamtkonzeption verstecken wollen. Wir haben bei rungen und Nachteile für Homosexuelle gibt. Gerade vor dem Beschluss für das Denkmal für die ermordeten diesem Hintergrund ist das Denkmal eine Selbstverge- Juden Europas gesagt: Wir wollen nicht aller Opfer des wisserung dessen, was in der Vergangenheit passiert ist, Nationalsozialismus gleichzeitig gedenken, weil hinter und weist insoweit in die Vergangenheit. Aber wie jede dem Begriff „alle Opfer des Nationalsozialismus“ das je- Gedenkstätte hat es natürlich – das ist mir besonders (B) weilige Verfolgungsschicksal und auch der jeweilige wichtig – auch eine Stoßrichtung in die Gegenwart und (D) ideologische Hintergrund, der zu der Verfolgung geführt in die Zukunft. Wir wollen, dass jegliche Form der hat, verdeckt werden. Deshalb war ich damals sehr da- Benachteiligung und Diffamierung von sexuell anders für, erst einmal ein Denkmal für die ermordeten Juden Orientierten, von anderen Rassen oder anderen Religio- Europas zu errichten; denn der Antisemitismus war das nen unterbleibt. Ein sehr wichtiger Mosaikstein ist in treibende Element der nationalsozialistischen Ideologie. diesem Zusammenhang, dass wir der homosexuellen Er hat alle vielgestaltigen Anhänger dieses Regimes zu- Opfer des Dritten Reiches in dieser Form würdig geden- sammengehalten. Er hat den Vernichtungswillen ge- ken. prägt, dem dann auch andere Gruppen zum Opfer gefal- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem len sind. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gehört sich aber, dass wir jeder Opfergruppe in ih- Liebe Frau Kollegin Lengsfeld, es liegt mir sehr da- rer eigenen Art gedenken. Ich glaube, es hat Gründe, ran, mich auch mit Ihren Argumenten auseinander zu dass sich hier gerade die Sinti und Roma sowie die Ho- setzen, denn ich finde, dass auch ein Austausch der Ar- mosexuellen dafür engagiert haben, dass neben dem gumente zur Selbstvergewisserung beiträgt. Ich be- Denkmal für die ermordeten Juden Europas ihrer Opfer- komme in der Auseinandersetzung mit Ihrem Vortrag gruppen gedacht wird; denn ihre Situation ist in dieser durchaus zusätzliche Argumente für das, was wir for- Gesellschaft und in vielen anderen Ländern immer noch dern. Zu Ihrer Warnung vor einer Separierung und Hie- prekär. Deshalb ist dieses Denkmal hochaktuell und hat rarchisierung der Opfergruppen sage ich: Wir haben in keine museale Aufgabe. Es setzt vielmehr ein großes dem Beschluss aus dem Jahre 1999 sehr bewusst – ich Ausrufezeichen hinter die Forderung nach Menschen- erinnere mich, dass auch Sie damals dabei waren – ge- rechten und gleichen Rechten auch für diese gesell- sagt: Man hätte das auch anders entscheiden können. schaftliche Gruppe. Salomon Korn hat beispielsweise gesagt: Wir wollen ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, einheitliches Mahnmal für alle Opfergruppen. Kollege bei der SPD und der FDP sowie der Abg. Petra Beck hat darauf hingewiesen, dass wir mit Mehrheit un- Pau [fraktionslos]) sere Überzeugung kundgetan haben, die individuellen Schicksale auch individuell zu behandeln. Die Worte Se- parierung und Hierarchisierung sehe ich als diffamierend Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: an. Wir gedenken den einzelnen Opfergruppen in der ih- Ich erteile dem Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP- nen jeweils würdigen Weise und wollen keine Gleich- Fraktion, das Wort. setzung der Opfergruppen. Das war die Entscheidung, 7340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) die wir 1999 getroffen haben. Ich finde, sie ist auch Frau Weiss und Herrn Flierl gewährleistet wird, dass der (C) heute noch richtig. Bundestag oder hilfsweise das Kuratorium der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas an diesem (Beifall bei der FDP, der SPD und dem wichtigen Projekt in geeigneter Weise beteiligt wird. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Summa summarum sage ich: Wir stimmen dem An- Zu Ihrem Argument hinsichtlich des Gesamtkonzepts, trag zu und hoffen, dass der Bau dieses Denkmals in liebe Frau Kollegin Lengsfeld, sage ich: Wir als Kurato- würdiger Weise und rasch vollendet wird. riumsmitglieder haben einen Beirat beauftragt, für das Holocaust-Mahnmal ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Danke schön. Im Grunde wurde auch ein Gesamtkonzept entwickelt. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Ein Bestandteil gerade dieses Gesamtkonzeptes ist es, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Homosexuellen ein Denkmal zu errichten. Wir befinden uns in voller Übereinstimmung mit den Wis- senschaftlern, denen wir diesen Auftrag erteilt haben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs, (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: SPD-Fraktion. Sehr richtig!) Meine Damen und Herren, ich möchte Folgendes sa- Johannes Kahrs (SPD): gen: Nachdem 58 Jahre ins Land gegangen sind, ist es Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und allerhöchste Zeit und überfällig, dass wir einer Opfer- Kollegen! Eigentlich hatte ich eine Rede vorbereitet, die gruppe wie dieser, die wirklich schweres Leid erlitten mir dem Anlass angemessen schien. Nachdem ich aber hat, in würdiger Weise gedenken. Ich denke, es ist eher Ihren Beitrag, Frau Kollegin Lengsfeld, gehört habe, zu spät als zu früh, dies zu tun. An dieser Stelle möchte muss ich sagen, dass ich etwas verwundert darüber bin, ich ganz klar sagen: Es gibt noch eine weitere Opfer- wie Sie diese Debatte gestaltet haben. Man kann sagen, gruppe, nämlich die der Sinti und Roma, der wir in dass man hier den Unterschied zwischen Regierung und würdiger Weise gedenken müssen. Auch das muss jetzt Opposition ganz deutlich gespürt hat. langsam einmal auf den Weg gebracht werden. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders den Bei- Abschließend möchte ich an die Adresse der Kolle- trag von Frau Weiss loben. ginnen und Kollegen von Rot-Grün, obwohl wir ihrem Antrag zustimmen, noch einige Bemerkungen machen: (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Ich hätte es für überzeugender gehalten und als kraftvol- Ausgezeichnet!) (B) ler empfunden, wenn Sie diesen Antrag nicht als einen Sie hat in aller Kürze das Wesentliche gesagt. Kollege (D) Antrag von Rot-Grün eingebracht hätten, sondern wenn Beck hat das ergänzt. Sie uns von vornherein, auch bei der Formulierung des Antrags, einbezogen hätten. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Herr Otto auch!) (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]) Es hätte eine wunderbare Debatte sein können, in der wir Wenn Sie dies getan hätten, hätten Sie meines Erachtens uns hätten austauschen können und, wie ich glaube, auch einen Fehler bzw. eine Schwäche, über die wir schon im im Konsens zu einem Ergebnis gekommen wären. Ausschuss diskutiert haben, vermieden. In Ihrem Antrag ist nämlich unter Ziffer 4 vorgesehen, dass die Verwirkli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chung dieses Denkmals allein dem Senat und der DIE GRÜNEN) Bundesregierung überlassen bleibt. Aus unserer Erfah- Ihr Beitrag allerdings, Frau Kollegin, führt vom Thema rung mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Euro- weg. pas wissen wir, dass es sehr sinnvoll ist, wenn auch der Bundestag an diesem Prozess in geeigneter Weise betei- (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Darf man als ligt wird. Opposition nicht einmal mehr anderer Mei- nung sein?) (Beifall bei der FDP) – Natürlich dürfen Sie anderer Meinung sein. Trotz allen Vertrauens, das ich Frau Dr. Weiss, dem Se- nat – ihm gegenüber habe ich weniger Vertrauen, aber (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das hörte sich dazu sage ich jetzt nichts – aber nicht so an!) (Heiterkeit bei der FDP sowie bei Aber diese Meinung muss man dann auch begründen Abgeordneten der SPD) können. Wenn man sich aber Ihre Begründung anhört, auf die ich jetzt eingehen werde, dann stellt man fest, und der Bundesregierung entgegenbringe, halte ich es dass sie in sich überhaupt nicht schlüssig ist. aus grundsätzlichen Erwägungen für wichtig, den Bun- destag in geeigneter Weise zu beteiligen. Auch ich glaube – übrigens wie Sie –, dass man das Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus durch- Deswegen bitte ich darum, dass – ungeachtet der Formu- aus in einem Denkmal hätte zum Ausdruck bringen kön- lierung von Ziffer 4, der wir auch die Zustimmung erteilen, nen. Deswegen habe ich damals, im Gegensatz zu Ihnen, um keine Schwächung des Anliegens zu erzielen – von gegen die Errichtung dieses Denkmals gestimmt. Aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7341

Johannes Kahrs (A) jetzt haben wir uns anders entschieden. Die Mehrheit in (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C) diesem Hohen Hause ist – unter anderem auch durch GRÜNEN]: Das Geld muss verteilt werden, Ihre Stimme – hat sie gesagt!) (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das ist über- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: haupt nicht wahr! Wer hat Ihnen denn das auf- geschrieben?) Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld? zu einem anderen Ergebnis gekommen und hat festge- stellt, dass – abgesehen von dem einen Denkmal – wei- Johannes Kahrs (SPD): tere Denkmäler für die verschiedenen Opfergruppen Gerne, Frau Kollegin. errichtet werden. Die logische Konsequenz dieses Be- schlusses ist, dass wir auch über die Errichtung eines Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Denkmals für die verfolgten Homosexuellen diskutieren Herr Kollege, es wäre der Würde dieser Debatte ange- müssen. messener, wenn wir uns gegenseitig zuhören würden und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem anderen nicht böswillig etwas unterstellen würden. DIE GRÜNEN) Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich nicht von irgendwelchen kleinen Denkmälern gespro- Mit der damaligen Entscheidung ist sozusagen verbun- chen habe. den, dass jeder einzelnen Opfergruppe mit einem Denk- Ich will auf das Beispiel zu sprechen kommen, das mal gedacht werden muss. Indirekt wurde das damals der Kollege Beck genannt hat. Man sollte solche Initiati- durch die breite Mehrheit in diesem Hause so beschlos- ven wie die am Nollendorfplatz hier in Berlin nicht sen. kleinreden. Die Begründung, die Sie hier angeführt haben, ist am (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Thema vorbeigegangen. Sie war in meinen Augen eher GRÜNEN]: Das hat auch keiner getan!) traurig. Durch diese Ausführungen dürften diejenigen, die betroffen sind, zumindest peinlich berührt sein. In Das wäre eine Beleidigung gegenüber denjenigen, die einer Debatte über ein solches Thema muss man denjeni- solche Gedenkstätten initiiert haben. Ich habe nicht von gen, die davon besonders betroffen sind, das Gefühl ge- kleinen Denkmälern gesprochen, sondern habe in meiner ben, dass ihr Anliegen bei uns gut aufgehoben ist. Bei Rede auf die authentischen Stätten nationalsozialisti- Ihrer Rede, verehrte Frau Kollegin, konnte man diesen schen Grauens hingewiesen, die nicht in angemessener (B) Eindruck leider nicht bekommen. und würdiger Weise gepflegt werden können, weil nicht (D) genügend Geld vorhanden ist. Das ist ein Unterschied. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Johannes Kahrs (SPD): Ich habe gestern hier die Rede von Frau Kollegin, ich vermisse Ihre Frage. Trotzdem gehört. Er hat gesagt: Was wir von Generation zu Gene- möchte ich dies kommentieren. ration weitergeben, sind unvermeidlich Erinnerungen und vernünftigerweise Verantwortung. Das gilt auch Das, was Sie gesagt haben, zeigt auf, wo das Problem liegt: Die Denkmäler, um die es Ihnen geht, erfüllen auf für dieses Thema. Er hat kurz und prägnant dargestellt, lokaler Ebene ihren Sinn und Zweck. In Berlin wird mit worum es geht. ihrer Hilfe auf hervorragende Weise der Grund darge- Ich bin von Hause aus Haushaltspolitiker und Vertei- stellt, warum sie existieren. digungspolitiker, und das aus vollem Herzen. Trotzdem In dieser Debatte aber haben wir über ein Mahnmal habe ich mich entschlossen, zu diesem Thema zu spre- zu diskutieren, das bundesweite Bedeutung haben und chen. Das liegt daran, dass ich als Schwuler betroffen das zum Gedenken an die jeweilige Opfergruppe seine bin. Ich habe mich lange mit vielen meiner Freunde un- Wirkung in die ganze Republik ausstrahlen soll. Das ist terhalten, wie man an dieses Thema herangehen könne. der wesentliche Punkt. Darum geht es und nicht darum, Ich bin der Meinung, dass man dieses Thema auf eine dass man einzelne Initiativen schlecht macht. Im Gegen- Art und Weise aufarbeiten muss, dass man es vermitteln teil: Einzelne Denkmäler sind gut und würdig. Es muss kann und in der Gesellschaft Akzeptanz dafür findet. sie geben. Dass es sie in Berlin und an anderen Orten gibt, zeigt, dass vor Ort weiter gedacht wird, als wir in Frau Kollegin, Sie dürfen nicht glauben, dass man Ihrem Beitrag erkennen konnten. sich davonstehlen könne, indem man solche kleinen Ge- schichten erzählt. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist kein Ersatz!) (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Welche kleinen Ich glaube, dass man die kleinen Denkmäler vor Ort Geschichten meinen Sie?) nicht als Ersatz nehmen darf – vielen Dank, Herr Kol- lege –, sondern dass man diese Debatte auch auf bundes- Sie müssen ganz klar sagen, was Sie wollen. Sie haben weiter Ebene führen sollte. Das ist unsere Aufgabe, die von kleinen Denkmälern gesprochen. wir auch wahrnehmen. 7342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Johannes Kahrs (A) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) GRÜNEN und der FDP) Nun hat der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. Ich habe mit vielen meiner Freunde über dieses Thema diskutiert und gemerkt, dass viele Schwule der (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Meinung sind, dass sie nicht irgendwelche Denkmäler GRÜNEN]: Stellen Sie das, was Frau Lengsfeld haben wollen. Es gibt viele, die das strittig sehen. Im gesagt hat, mal richtig! – Vera Lengsfeld [CDU/ Rahmen dieser Diskussionen, in denen man auch seine CSU] zu Abg. Josef Philip Winkler [BÜND- eigene Meinung schärft, kommt man irgendwann zu der NIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Sie können Erkenntnis, dass solche Denkmäler die Orte sind, an de- das gern mal nachlesen! Warum hören Sie nicht nen eine Diskussion stattfinden kann und an denen man zu? Das ist furchtbar!) sich selber überlegen kann, welche Position man hat. Günter Nooke (CDU/CSU): (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- So ist es!) gen! Ich fange vielleicht doch so an, wie ich es mir vor- Wolfgang Thierse – ich habe ihn eben zitiert – hat das genommen hatte. Ich möchte nicht, dass wir uns miss- ganz klar gesagt. Er hat ausgeführt, dass das etwas mit verstehen, woran Sie von der Koalition ja offensichtlich Erinnerung und Verantwortung zu tun hat. Dieser ein großes Interesse haben. Verantwortung müssen wir uns doch bewusst sein. Na- Ich möchte noch einmal klarstellen: Es ist unbestrit- türlich kann man darüber diskutieren, ob man dreiseitige ten, dass das Anliegen, das im Antrag formuliert wird, Erklärungen für ein Denkmal und darüber, wie es auszu- gerechtfertigt ist. Ich unterstütze das auch. Es ist Tatsa- sehen hat und ob es an dieser oder jener Stelle errichtet che, dass die homosexuellen Opfer des Nationalsozialis- werden soll oder nicht, braucht. Man muss diese Debatte mus im nationalen Gedenken bislang durchaus eine eher aber führen. Wir brauchen dieses Denkmal, weil es untergeordnete Rolle gespielt haben – zumal wir jetzt ein wichtig ist, dass ein beständiges Zeichen gegen Intole- Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichten ranz und Feindseligkeit sowie gegen die Ausgrenzung werden –; das ist sicher nicht in Ordnung und historisch von Schwulen gesetzt wird. Dieses Denkmal dient die- offensichtlich auch nicht gerechtfertigt. Insofern sollten sem Zweck. wir das ändern. – Das war meine Vorbemerkung. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nun komme ich zum konkreten Antrag. Herr Beck, GRÜNEN und der FDP) wir verteilen hier keine Geburtstagsgeschenke und las- sen uns moralisch auch nicht einbinden. Wir diskutieren (B) (D) Man muss es ehrlich sagen: Wenn man ein solches einen Antrag und das konkrete Prozedere; das ist unsere Denkmal und das, was dazugehört, will, dann stimmt Aufgabe. In diesen Punkten sind wir halt anderer Mei- man dem Antrag, den die Koalition gestellt hat, zu. nung als Sie. Herr Kahrs, das fängt schon damit an, dass Wenn man es nicht will, dann muss man offen sagen: wir noch gar nicht wissen, wie das Denkmal aussehen Nein, wir wollen es nicht. wird. Ich habe mir den Entwurf des vom Berliner Senat in Auftrag gegebenen Denkmals für die Sinti und Roma (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das habe ich angesehen und bin mir überhaupt nicht sicher, ob das, doch nun wirklich gemacht! – Hans-Joachim was Sie zum Schluss beschrieben haben, wirklich so Otto [Frankfurt] [FDP]: Das hat sie ja eben ge- überzeugend wird. Darüber werden wir uns vielleicht sagt! Den Vorwurf bekommt sie nicht!) noch genauer unterhalten müssen. Dann muss man aber auch sagen, warum man es nicht Ich möchte jetzt aber noch ganz kurz darauf eingehen, will. Ich persönlich glaube, dass diese Debatte entspre- warum wir dem Anliegen, nicht aber diesem Antrag zu- chend geführt werden muss. Man darf nicht herumeiern, stimmen können. Das hat Frau Lengsfeld ja auch schon sondern man muss dazu stehen. In Ihrer Fraktion gibt es dargestellt. ja auch einige, die das tun. Ich glaube, die Debatte heute war allein schon deshalb wichtig. Ich hoffe, dass dieses Der Deutsche Bundestag hat am 25. Juni 1999 die Denkmal möglichst schnell gebaut wird. Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschlossen. Hier wurde gesagt, dass wir zu Ich möchte mich ganz herzlich bei all den Gruppen, dem Antrag nicht mehr stehen und dass wir das würdige Initiativen und Einzelpersonen bedanken, die es möglich Gedenken an die anderen Opfergruppen nicht ernst neh- gemacht haben, dass wir so weit gekommen sind, und men. Das will ich ganz deutlich zurückweisen. Zu den die uns mit motiviert haben, diese Debatte zu führen. Im Aufgaben bei der Umsetzung dieses Beschlusses gehört, Ergebnis wird dieses gemeinsame Tun zu einem Symbol dass die gegründete Stiftung auch der anderen Opfer- führen, das dem Zweck, nämlich der Erinnerung und der gruppen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ge- heutigen Verantwortung, gerecht wird. denkt, dass also – so heißt es – das würdige Gedenken in geeigneter Weise sicherzustellen ist. Das ist bis heute Vielen Dank. nicht geschehen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE „In geeigneter Weise sicherstellen“ heißt nicht unbe- GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Petra dingt und automatisch, dies in Form neuer Gedenkstätten Pau [fraktionslos]) zu tun. Das ist das erste Missverständnis. Es gibt zum Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7343

Günter Nooke (A) Beispiel eine Gruppe – die Vertreter der Euthanasie- tischen Gegebenheiten, wie wir Denkmäler errichten (C) opfer –, die keinen Wert darauf legt, ein gesondertes und wie wir darüber zu diskutieren haben, völlig wider- Denkmal zu erhalten. Aber auch das wurde noch nicht spricht. Ich will Ihnen als Antwort ein Beispiel nennen. abschließend diskutiert. Dass so etwas nur in Form von Die Staatsministerin für Kultur und Medien hat sich nationalen Denkmälern geht, ist also, glaube ich, das dazu geäußert und hat angekündigt, dass die Bundes- erste große Missverständnis der Antragsteller. regierung auch die Finanzierung eines Mahnmals zum Gedenken an die Sinti und Roma, die Opfer des Natio- Wenn Sie diesen Beschluss wirklich ernst nähmen, nalsozialismus geworden sind, in unmittelbarer Nähe wüßten Sie – Herr Kahrs kann das nicht wissen; Herr des Bundestages übernehmen wird. Für die Gestaltung Barthel ist etwas besser informiert –, dass der Beirats- ist immer noch der Berliner Senat zuständig; er hat be- vorsitzende für die anderen Opfergruppen, Professor reits eine Entscheidung getroffen. Wenn Sie so wollen, Benz, in den Kuratoriumssitzungen bei der Stiftung ist das eine Berliner Initiative, die Sie bei dem Homose- „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ immer be- xuellendenkmal ja als unzureichend ansehen. Wir unter- richtet und dass wir, was diesen Antrag angeht, keine stützen beide Initiativen. Bei der einen Initiative – davon Beziehung zu dem haben, was im Kuratorium berichtet haben Sie gesprochen – geht es um nationales Geden- wird und was dort zu tun ist. ken. Bei der Initiative bezüglich der Sinti und Roma gibt (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das stimmt es sogar schon einen Entwurf. Geht es dabei um Berliner nicht!) Gedenken oder wird es durch die Finanzierung ebenfalls ein nationales Gedenken? Herr Otto, auch Sie wissen das: Ich habe den Kurato- riumsvorsitzenden mehrfach darauf hingewiesen, dass (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Natürlich!) Herr Thierse einmal klären muss, was diese Berichte ei- gentlich bedeuten. Ich würde das gerne geklärt haben. (Zuruf des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- [SPD]) NIS 90/DIE GRÜNEN] – Weitere Zurufe von der SPD) – Herr Benz hat bisher genau das, was wir gefordert haben und was auch seine Aufgabe wäre, nämlich das – Sie müssen jetzt ruhig sein, jetzt rede ich. würdige Gedenken aller anderen Opfergruppen sicherzu- stellen, nicht geleistet. Damit wäre ich bei der Gesamt- Wenn Sie also wirklich meinen, Gesamtkonzeption konzeption, hinter der wir uns nicht verstecken. sei ein Begriff, hinter dem wir uns verstecken, dann rate ich Ihnen, nur einmal die beiden Denkmalkonzeptionen (B) zu betrachten, die jetzt in der Debatte sind. Sie werden (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: merken: Schon bei den Trägerschaften passt das nicht Herr Kollege Beck möchte eine Zwischenfrage stel- zusammen und auch bei der Bedeutung passt es nicht zu- len. sammen. Ich will gar nicht von einer Hierarchisierung der Opfer reden. Mich ärgert aber zum Beispiel, wenn in Günter Nooke (CDU/CSU): der Begründung der SPD in der Beschlussempfehlung Bitte. einfach gesagt wird, es koste ja nur 500 000 Euro. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was?) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass Wenn es wirklich darum geht, dass wir würdiges Geden- uns – Sie sind ja, wie ich, Mitglied des Kuratoriums – im ken sicherzustellen haben, dann ist das für mich eine Kuratorium der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Aussage, die ich so nicht gerne wiederholen würde; denn Juden Europas“ berichtet wurde, dass der Beirat emp- ich glaube, dass die Aussage allein, dass sich damit die fohlen hat, sowohl ein Denkmal für die ermordeten Sinti Kosten in einem überschaubaren Rahmen halten – so und Roma als auch ein Denkmal für die verfolgten Ho- steht es in der Beschlussempfehlung, Herr Barthel –, zu mosexuellen zu errichten. Darüber wurde also diskutiert. wenig ist. In der Tat hat sich der Beirat bislang nicht zu der Frage einer Gesamtkonzeption geäußert. Wir haben ihm diese (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Wo steht Gesamtkonzeption übrigens auch nicht abverlangt, son- denn etwas von 500 000 Euro?) dern haben gesagt, er solle darüber beraten, in welcher Bei dem Denkmal, das wir für den Berliner Senat mitfi- Form jeweils geeignet gedacht werden sollte. Diese De- nanzieren, mögen die Kosten noch überschaubarer sein, batte findet im Beirat auch statt. Könnten Sie es für mög- aber die Betriebskosten sind mit 300 000 Euro jährlich lich halten, dass die Idee einer Gesamtkonzeption ange- veranschlagt. Vielleicht ist das schon nicht mehr so ganz sichts dessen, dass Erinnerungsarbeit immer im Werden der überschaubare Rahmen, den wir wollen. Können wir begriffen und nie ganz abgeschlossen ist, ähnlich abwe- über so etwas nicht sachlich und ohne moralische Über- gig ist wie die Vorstellung von einem Ende der Ge- höhungen reden? Können Sie nicht einfach zugeben, schichte? dass von einem würdigen Gedenken nicht die Rede sein kann, wenn man hier – Herr Otto hat das kritisiert – als Günter Nooke (CDU/CSU): Koalition einen solchen Antrag einbringt, ihn durchzieht Nein, das kann ich überhaupt nicht verstehen. Das, und meint, man müsse dann die Zustimmung der ande- was Sie jetzt sagen, ist eine Unterstellung, die den prak- ren Fraktionen in diesem Haus bekommen? 7344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Günter Nooke (A) Herr Beck, erinnern Sie sich nur an die Diskussion in (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das hätten (C) Ihrer eigenen Fraktion. Erinnern Sie sich nur, wie wenig Sie doch einbringen können!) Zustimmung Sie selbst in der eigenen Fraktion für die- – Wenn wir den Antrag gemeinsam erarbeitet hätten, sen Antrag hatten. Herr Barthel, hätten wir all das vielleicht einbringen (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von können. Ich habe so viele Beispiele genannt, dass klar Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird: Wenn es hier um würdiges Gedenken geht, wenn ist ja wohl der absolute Unsinn! Das war ein- es darum geht, hier zu gemeinsamen Positionen zu kom- stimmig!) men, dann hätten wir all das diskutieren müssen. Dieser Schnellschussantrag wird uns noch viele Probleme be- – Manchmal bin auch ich ganz gut informiert. reiten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Nennen Sie mal Namen, Herr NEN]: Das ist doch kein Schnellschuss!) Nooke! – Silke Stokar von Neuforn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab nicht eine Ge- Wir werden uns mit der baulichen Errichtung dieses genstimme!) Denkmals und anderer Denkmale noch öfter befassen müssen. Verstehen Sie also bitte: Wir teilen das Anlie- – Die Gegenstimmen waren nicht anwesend. gen, aber wir lehnen den Antrag ab. Bei der Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes müssen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. wir uns bewusst sein, was wir als Deutscher Bundestag und als Bundesrepublik Deutschland in dieser Sache (Beifall bei der CDU/CSU – Eckhardt Barthel überhaupt vorhaben. [Berlin] [SPD]: Ein Geeiere! – Dr. Uwe Küster (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein [SPD]: Herr Nooke macht den Eiermann!) schwaches Argument folgt dem anderen!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Vorlage einzelner Anträge für einzelne Mahnmale Ich schließe die Aussprache. halten wir aus diesem Grunde eben nicht für den rich- tigen Weg. Auch das Verfahren ist aus unserer Sicht Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- problematisch. Ich hatte auf die unterschiedlichen Trä- empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf gerschaften hingewiesen. Gleiches gilt für die Opfer- Drucksache 15/2101 zu dem Antrag der Fraktionen von gruppen, an die noch gedacht werden muss und die SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Denk- noch nicht genannt worden sind. Ich möchte sie nicht mal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homo- (B) alle aufzählen, aber es gibt auf jeden Fall mehr als die sexuellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf (D) drei Opfergruppen, die wir in der Diskussion bisher ge- Drucksache 15/1320 anzunehmen. Wer stimmt für diese nannt haben. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Bevor wir anfangen zu bauen, müssen wir wissen, wie, in welcher Form und welcher Opfergruppen über- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: haupt gedacht werden soll. Ich glaube, das wäre für je- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- den, der Entwürfe für ein Denkmal erarbeiten soll, eine Joachim Otto (Frankfurt), Rainer Funke, Ernst Herausforderung. Im Tiergarten wäre durchaus Platz für Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Frak- ein Denkmal, das auf mehrere Opfergruppen – zwar ein- tion der FDP zeln, aber in einer Gesamtkonzeption – auch baulich Be- zug nimmt. All das bleibt ungeklärt, wenn wir nach und Schutz vor illegalen und jugendgefährdenden nach versuchen, die Forderungen der Opfergruppen ab- Internetinhalten – filtern statt sperren zuarbeiten, deren Druck am stärksten ist. Auch wir ha- ben mit dem Schwulen- und Lesbenverband gesprochen – Drucksache 15/1009 – und den Sachstand erörtert. Wir haben deutlich gemacht, Überweisungsvorschlag: dass wir nicht die Verantwortung für eine Debatte mit Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss der Überschrift übernehmen wollen: Welche Opfer sind Rechtsausschuss euch wie viel wert? Diesen Vorwurf wollen wir hier Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nicht stehen lassen. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft In diesem Zusammenhang ist noch ein anderer Punkt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bemerkenswert, nämlich die Idee – sie ist hier schon Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für zum Ausdruck gebracht worden –, ein Denkmal für alle diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei homosexuellen Opfer in unserem Land zu errichten und die Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. – Dazu damit auch die Nachkriegszeit in der Bundesrepublik höre ich keinen Widerspruch, sodass wir das Zeitkontin- Deutschland und in der zweiten Diktatur zu berücksich- gent damit beschlossen haben. Wir werden es vermutlich tigen. Herr Beck sprach davon, wie aktuell die Probleme nicht ganz benötigen, weil einige der vorgesehenen Re- in anderen Ländern dieser Welt sind. Wir wissen, dass den zu Protokoll gegeben worden sind. mit den schrecklichen Dingen, die Homosexuellen ange- tan worden sind, nach 1945 nicht Schluss war. Auch da- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen rüber können wir eine Debatte führen. Hans-Joachim Otto für die FDP-Fraktion das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7345

(A) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Um einem Missverständnis vorzubeugen: Auch wir (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke Liberale halten das Internet nicht für einen rechtsfreien den verbliebenen Kolleginnen und Kollegen, dass sie Raum. Vielmehr müssen illegale, insbesondere auch sich am Ende dieses langen Tages noch wenige Minuten volksverhetzende und menschenverachtende Internet- mit Internetpolitik beschäftigen. Da sich dieses Haus re- inhalte konsequent verfolgt werden, aber an der Quelle. lativ wenig mit dieser doch sehr wichtigen Materie be- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das geht aber fasst und wir nie eine bessere Sendezeit bekommen, nicht so einfach!) (Heiterkeit) Wogegen wir uns wehren, ist, dass im Wege eines na- bitte ich um Verständnis, dass wir jetzt darüber sprechen. tionalen Alleingangs mit der Schrotflinte auf alles ge- schossen wird, was sich bewegt. Die Sperrungsverfü- (Jörg Tauss [SPD]: Haben wir donnerstags gungen von Herrn Büssow richten sich nicht etwa gegen auch schon gemacht!) die jeweiligen Anbieter der – wie auch ich meine – ver- In diesen Minuten geht in Genf der UN-Weltgipfel werflichen Webseiten, also die Urheber, auch nicht ge- zur Informations- und Wissensgesellschaft zu Ende. gen Host-Provider, die Speicherplatz für fremde Inhalte Dort sind auch von der deutschen Delegation hehre Ziele vorhalten, sondern gezielt gegen Access-Provider, die formuliert worden, insbesondere die Forderung nach nur den Zugang zum Internet vermitteln, also sich auf globalen Regeln für das Internet. Die Realität hierzu- die Durchleitung fremder Inhalte beschränken. lande deckt sich gelegentlich nicht mit solchen Sonn- Dieses Vorgehen wirft rechtliche, aber auch wirt- tagsreden. Jedenfalls besteht eine wachsende Gefahr, schaftspolitische Probleme auf. Die Stoßrichtung gegen dass wir wieder einmal, jetzt beim Internet, einen deut- Access-Provider, also gegen drittbetroffene Nicht-Störer, schen Sonderweg beschreiten, statt global zu handeln. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE So hat etwa der Düsseldorfer Regierungspräsident GRÜNEN]: Das ist Polizeirecht!) Jürgen Büssow Sperrungsverfügungen gegen eine Viel- zahl von Providern erwirkt, wonach diese ihren Kunden verstößt gegen das im deutschen wie im europäischen den Zugang zu bestimmten Internetseiten zu verwehren Recht sinnvollerweise bestehende Prinzip der gestuften haben. Verantwortlichkeit. Hiernach ist zunächst gegen den Ur- heber des inkriminierten Inhalts vorzugehen. Bloße tech- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Überzeugungs- nische Dienstleister dürfen nur dann in Anspruch ge- täter!) nommen werden, wenn die Maßnahme verhältnismäßig – Zu Ihnen komme ich noch. – und geeignet ist. Ich aber habe bereits an der Wirksam- (B) keit der büssowschen Sperrungen erhebliche Zweifel. (D) (Heiterkeit) Noch wichtiger als diese rechtliche Komponente ist Bisher sind zwar nur zwei Angebote betroffen, jedoch mir die politische. Sperrungsverfügungen schädigen den haben der Regierungspräsident, aber leider auch Frau Internetstandort Deutschland. Denn die damit verbun- Staatsministerin Weiss vorgestern bei einer Veranstal- denen Kosten – sie sind erheblich – führen dazu, dass tung angedeutet, dass eine Vielzahl weiterer Sperrun- Service-Provider Deutschland meiden, jedenfalls sich gen geplant sind. Gesperrt werden sollen künftig offen- mit weiteren Investitionen zurückhalten. Der Kreuzzug bar Seiten nicht nur zur Bekämpfung von politischem gegen die Service-Provider könnte im Übrigen dazu ver- Extremismus, sondern auch zum Jugendschutz, ob- leiten, sich auf die Bekämpfung von Symptomen zu kon- wohl zumindest hierfür nutzerautonome Filtersysteme zentrieren, statt den Schwerpunkt der Bemühungen auf wie zum Beispiel das von ICRA zur Verfügung stehen. Selbstkontrolleinrichtungen wie etwa INHOPE und auf Es droht ein Flächenbrand. Deswegen müssen wir darü- eine Stärkung der internationalen Zusammenarbeit zur ber sprechen. Bekämpfung illegaler Inhalte im Internet zu legen, wie Kritik an diesen Sperrungsverfügungen gibt es nicht zum Beispiel im Rahmen der Cybercrime-Convention nur von der Internetwirtschaft und von der FDP-Fraktion. des Europarates. Jetzt, Herr Kollege Tauss, komme ich zu Ihnen. In Ihrer (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE unnachahmlichen Weise haben Sie kürzlich gewettert: GRÜNEN]: Da haben Sie Recht!) „Die Sperrungsverfügung … ist rechtlich eine Zumutung und politisch fehlgeleitet. Der Globalität des Internet darf nicht mit nationalen Sonderwegen begegnet werden. Auch bei der Bekämp- (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!) fung illegaler Inhalte darf es nicht zu einer digitalen Herr Büssow führt als selbst ernannter Internetsauber- Spaltung einzelner Nationen und ihres Vorgehens im mann einen privaten Kreuzzug gegen das Böse in der Netz kommen. Im Gegenteil ist ein abgestimmtes Vorge- Welt.“ hen aller Nationen notwendig. (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!) Ich freue mich auf die weitere Beratung dieses Antra- ges in den Ausschüssen und hoffe sehr – wir haben eben Wo er Recht hat, hat er Recht. Ich applaudiere Herrn schon einmal informell darüber gesprochen –, dass man Tauss. mit einem gemeinsamen Antrag ein Zeichen setzt, um (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den Internetstandort Deutschland zu stärken und dazu der SPD) beizutragen, dass der Eindruck vermieden wird, als ob es 7346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) einen deutschen Sonderweg gäbe. Ich freue mich auf die Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- (C) Debatte; auf Wiedersehen in den Ausschüssen. nung. Eigentlich hätte dies die letzte Plenarsitzung vor Weihnachten sein sollen. Nun weiß ich, wie sehr Sie sich (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Alles alle darauf freuen, dass wir in der nächsten Woche noch Gute!) einmal zusammenkommen dürfen, (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: GRÜNEN]: Sonst würde ich doch echt was Die Kolleginnen Sabine Bätzing, SPD-Fraktion, vermissen!) Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion, und Grietje um über hoffentlich eindrucksvolle Vermittlungsergeb- Bettin, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre vorbereiteten nisse zu befinden. Bis dahin wünsche ich Ihnen einige Reden zu Protokoll gegeben und tragen damit zu einem besinnliche Adventstage und den Kolleginnen und Kol- frühzeitigen Schluss unserer heutigen Plenarsitzung legen, die um das Wochenende gebracht werden, weil sie bei. – Der Kollege Tauss regelt sein Klärungsbedürfnis unmittelbar im Vermittlungsausschuss beschäftigt sind, regelmäßig durch gezielte Zwischenrufe. umso mehr, dass sie gemeinsam zur Besinnung kommen – was auch immer das im Einzelnen bedeuten Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird mag. Überweisung der soeben noch einmal erläuterten Vor- lage auf Drucksache 15/1009 an die in der Tagesordnung (Heiterkeit und Beifall) aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich stelle Die Sitzung ist geschlossen. fest, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Schluss der Sitzung: 14.46 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7347

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Berg, Axel SPD 12.12.2003 Dr. Stadler, Max FDP 12.12.2003

Bollmann, Gerd SPD 12.12.2003 Steinbach, Erika CDU/CSU 12.12.2003 Friedrich Thierse, Wolfgang SPD 12.12.2003 Dautzenberg, Leo CDU/CSU 12.12.2003 Dr. Thomae, Dieter FDP 12.12.2003 Eichel, Hans SPD 12.12.2003 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 12.12.2003 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 12.12.2003 DIE GRÜNEN Joseph DIE GRÜNEN Türk, Jürgen FDP 12.12.2003 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 12.12.2003 Weiß (Emmendingen), CDU/CSU 12.12.2003 Glos, Michael CDU/CSU 12.12.2003 Peter

Göppel, Josef CDU/CSU 12.12.2003 Weisskirchen SPD 12.12.2003 (Wiesloch), Gert Hartnagel, Anke SPD 12.12.2003 Widmann-Mauz, CDU/CSU 12.12.2003 Heiderich, Helmut CDU/CSU 12.12.2003 Annette

Heller, Uda Carmen CDU/CSU 12.12.2003 Freia * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates (B) Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 12.12.2003 (D) DIE GRÜNEN Anlage 2 Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/ 12.12.2003 DIE GRÜNEN Zu Protokoll gegebene Reden

Koschyk, Hartmut CDU/CSU 12.12.2003 zur Beratung über den Antrag: Schutz vor ille- galen und jugendgefährdenden Internetinhal- Michelbach, Hans CDU/CSU 12.12.2003 ten – Filtern statt Sperren (Tagesordnungs- punkt 19) Dr. Mützenich, Rolf SPD 12.12.2003

Nitzsche, Henry CDU/CSU 12.12.2003 Sabine Bätzing (SPD): Mit der zunehmenden Verbrei- tung und Nutzung neuer digitaler IuK-Dienste und -Ange- Oßwald, Melanie CDU/CSU 12.12.2003 bote wie Internet, Mehrwert-Erotikdiensten oder Video- und Computerspielen entstehen auch neue Fragen zu den Otto (Godern), FDP 12.12.2003 Rahmenbedingungen und Instrumenten eines einheitli- Eberhard chen und effektiven Jugendschutzes in den elektroni- schen Medien. Eine erste Antwort auf diese doppelte di- Rauber, Helmut CDU/CSU 12.12.2003* gitale Herausforderung haben Bund und Länder mit der Reform des Jugendschutzrechts 2002/03 und der Neu- Rupprecht (Tuchen- SPD 12.12.2003* schaffung einer gemeinsamen Kommission für den Ju- bach), Marlene gendmedienschutz gegeben. Der Anfang ist also ge- macht. Sauer, Thomas SPD 12.12.2003 Jetzt liegt uns ein FDP-Antrag zur Beratung vor, den Schösser, Fritz SPD 12.12.2003 – so ist meine Einschätzung – in den Grundzügen alle Fraktionen hier im Hohen Hause unterstützenswert fän- Schröder, Gerhard SPD 12.12.2003 den. Von daher ist es wirklich schade, dass es uns nicht gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag zu entwer- Schultz (Everswinkel), SPD 12.12.2003 fen, obwohl unser Angebot stand, gemeinsam dieses Reinhard wichtige Thema einzubringen. Aber Sie haben sich für 7348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) den Alleingang entschieden. Sei’s drum – wir haben ja zen, ohne sie dabei vom Internet abzuschotten. Filtern ist (C) noch Zeit, um Überzeugungsarbeit zu leisten. auch für uns die bessere Alternative zum Sperren. Von daher können wir die im FDP-Antrag enthaltene Kritik Im Rahmen der Formulierung Ihres Antrages haben zu den Sperrungsverfügungen der Düsseldorfer Bezirks- Sie sich intensiv mit dem Thema „Surfen“ beschäftigt. regierung sicherlich in Teilen nachvollziehen. Von daher würde ich Ihnen gerne vorschlagen, doch ein- mal in den eigenen Gewässern zu surfen. Denn auf der Es ist auch kein Geheimnis, dass die Koalitionsfrak- Internetseite des Deutschen Bundestages könnten Sie tionen im Deutschen Bundestag wiederholt in mehreren dann zum Beispiel unseren Antrag zum UN-Weltgipfel Anträgen – zum Beispiel zur Medienordnung oder zur zur Informationsgesellschaft finden. Leider haben Sie digitalen Spaltung (DNS) – Sperrungsverfügungen ge- diesen vollkommen ignoriert. Wesentliche Punkte daraus gen Zugangsvermittler als ineffektiven nationalen Son- bleiben in Ihrem Antrag unerwähnt; freundlicherweise derweg kritisiert haben. Dazu stehen wir auch nach wie haben Sie unserem Antrag aber im Ausschuss wenigs- vor. Denn die Sperrungsverfügungen belasten die Unter- tens zugestimmt. nehmen in einem erheblichen Maße. Sie sind weder zweckmäßig noch durch ihre Effektivität gerechtfertigt. Auch unser eingangs erwähntes Jugendschutzgesetz scheint von Ihnen noch nicht zur Kenntnis genommen Wir stehen den Sperrungsverfügungen aber auch worden zu sein. Die in Ihrem Antrag enthaltenen Forde- skeptisch wegen ihrer technischen Ineffektivität gegen- rungen sind zwar im Großen und Ganzen unterstützens- über, vor allem aber auch aufgrund ihrer politischen wert, allerdings vergessen Sie völlig und Sie erwähnen Fehlleitung. Aber wir sind ja Optimisten. Somit könnte es nicht mit einem Satz, dass die neue Rechtslage im Ju- man bei aller Kritik vielleicht noch ein Auge zu drücken, gendschutz bereits zu Verbesserungen geführt hat. Statt- wenn sich die Sperrfügungen in der Praxis problemlos dessen erfolgt Ihrerseits hartnäckige Kritik an den neuen umsetzen ließen und zum Ziel führen würden. Aber auch Instrumenten und Sie erklären diese in der Anfangsphase hier: Fehlanzeige! bereits als „gescheitert“. Eine empirische Untersuchung der Universität Bonn Vergessen Sie bitte nicht, dass das Jugendschutzge- hat ergeben, dass die praktische Umsetzung der Verfü- setz, der damit verbundene Jugendmedienschutzstaats- gungen extrem uneinheitlich, fehlerhaft, datenschutz- vertrag und auch die KJM erst seit April 2003 in Kraft rechtlich bedenklich und für den Nutzer irreführend er- sind. Bereits jetzt in diesem frühen Stadium die großen folgt. Die Unternehmen waren ganz einfach unsicher, Erfolge zu vermelden zu wollen ist sicherlich verfrüht. wie sie die Verfügung tatsächlich umzusetzen hatten. Nichtsdestoweniger bleibt festzustellen, dass sich die an- Dies zeigt das Beispiel, dass 100 Prozent der betroffenen fänglich sehr in die Kritik geratene KJM in den ersten Provider zwar mehr Inhalte als verlangt filterten, aber (B) Monaten ihres Wirkens fast ausschließlich auf das Inter- 43 Prozent die verlangten Inhalte nicht vollständig er- (D) net konzentriert und sich auch trotz der Anfangsschwie- fassten. Das heißt, hier wurden aus Vorsicht, aber auch rigkeiten gut freigeschwommen hat. Von daher ist der aus Unkenntnis und Unsicherheit Seiten gesperrt, bei de- eingeschlagene Weg mit unserem Jugendschutzgesetz nen es laut Verfügung nicht erforderlich gewesen wäre. und auch mit dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag der Im Gegenzug ist es aber nicht gelungen, die Seiten, de- richtige Weg. ren Sperrung verfügt wurde, vollständig unzugänglich zu gestalten. Von daher war es möglich, dass auf immer- Mit dem Jugendschutzgesetz haben wir unter ande- hin noch 43 Prozent der sperrverfügten und betroffenen rem die jugendschutzrechtliche Zusammenfassung von Inhalte nach wie vor zugegriffen werden konnte. Ein Telediensten und Mediendiensten unter dem Begriff klassisches Beispiel für die Überschrift „Thema ver- „Telemedien“, eine Alterskennzeichnungspflicht für fehlt“. Computerspiele und eine erneuerte, nun differenzierte Liste jugendgefährdender Medien eingeführt. Damit aber kein falscher Zungenschlag in die Diskus- sion kommt, lassen Sie mich klarstellen: Wir wehren uns Der Jugendmedienschutzstaatsvertrag sah zusätzlich ausdrücklich gegen Gewalt oder illegale und jugendge- zur KJM die Einbindung und Stärkung der Selbstkon- fährdende Inhalte im World Wide Web. Wir wollen und trolleinrichtungen sowie die Möglichkeiten technischer müssen diese Inhalte und die unerlaubten Zugriffe ver- Zugangskontrollen vor. Natürlich weiß ich, dass diese hindern oder, wenn uns dieses nicht gelingt, versuchen, Einschätzung nicht von allen Fraktionen hier im Hohen sie zu erschweren. Aber wir haben unsere, wie ich Haus geteilt wird. Aber wir haben auch mit der Neuver- meine, berechtigten Zweifel, ob dieses Ziel durch Sper- teilung der Bund-Länder-Kompetenzen im Jugend- rungsverfügungen effektiv und verhältnismäßig erreicht schutzgesetz und der zentralen Kommission für den Ju- werden kann. gendmedienschutz Neuland betreten und werden nach fünf Jahren evaluieren, wie praxistauglich das neue Sys- Sich nun aber im Gegenzug ausschließlich auf „Fil- tem ist. Aber bis dahin sollten wir diesem eine Chance tern statt Sperren“ zu konzentrieren, würde uns in der geben, seine Funktionstüchtigkeit unter Beweis zu stel- Diskussion über den Schutz der Jugendlichen vor illega- len. len und jugendgefährdenden Internetinhalten nicht wei- terbringen. Denn Sie wissen doch genauso gut wie wir, Dass das Jugendmedienschutzgesetz in Ihrem Antrag dass es zum jetzigen Zeitpunkt keine technische Lösung fehlt, ist doppelt schade, weil wir uns ja durchaus einig gibt, die so funktioniert, dass wir laut „Hurra“ schreien darüber sind, dass es eine überaus wichtige Aufgabe ist, würden. Wenn Sie uns eine präsentieren, sind wir die Jugendliche vor gefährdenden Internetinhalten zu schüt- Ersten, die Ihren Antrag unterstützen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7349

(A) Von daher empfinden wir es schon als etwas befremd- Denn schon europaweit stellen uns die Rechtsunter- (C) lich, dass die Internet Content Rating Association in Ih- schiede, etwa hinsichtlich der Kriterien für jugendge- rem Antrag in den Himmel gelobt wird, ohne auch nur fährdende Inhalte bzw. hinsichtlich der Beurteilung im Geringsten auf die – Sie können diese doch wirklich rechtsextremistischer Inhalte, vor scheinbar unlösbare nicht verschweigen – Schwächen von ICRA hinzuwei- Aufgaben. sen. Es gehört zu einem realistischen und ernst zu neh- menden Antrag dazu, dass man das Pro und Kontra dar- Beim Internet haben wir es mit einem globalen und stellt. Dies haben Sie leider versäumt. Oder glauben Sie dezentralen Medium zu tun. Eine internationale Perspek- tatsächlich: Wir führen ICRA ein und alles wird gut? Ist tive ist von daher erforderlich, in deren Rahmen ein- es nicht eher realistischer, wenn wir uns eingestehen, heitliche Mindeststandards vereinbart und effektive dass wir nach wie vor einerseits mit einer sehr geringen Durchsetzungsinstrumente zum Zwecke eines Jugend- Verbreitung der Programme zu kämpfen haben und an- medienschutzes geschaffen werden. Hier sind internatio- dererseits auf das Self-Rating, also auf die Kooperation nale Lösungen nötig. Internationale Verpflichtungen der Anbieter zur Kennzeichnung der eigenen Angebote müssen dazu beitragen, einen wirksamen Kinder- und angewiesen sind? Jugendmedienschutz rechtlich und technisch auch bei Anbietern von Netzinhalten zu verwirklichen. Wenn Sie nun an dieser Stelle das Fremdrating als Al- ternative aus dem Hut zaubern, erscheint uns dies auf- Nur wenn wir gemeinsam auf internationaler Ebene grund des enormen Angebotswachstums im Internet nach Lösungen suchen, damit Rassismus und Gewalt- kaum erfolgversprechend. Das Einzige, was in diesem verherrlichung im Internet verhindert werden können, Bereich einen Fortschritt darstellen würde, wäre eine werden wir erfolgreich damit sein. Wir könnten uns international durchsetzbare Anbieterkennzeichnungs- vorstellen, dass zumindest ein Aspekt bei solchen inter- pflicht. Aber auch diese ist, aufgrund der unterschiedli- nationalen Vereinbarungen die bereits erwähnte Pflicht chen Wertvorstellungen und Rechtsordnungen, noch in zur automatisiert verarbeitbaren Kennzeichnung aller In- weiter Ferne. Von daher ist es sicher richtig – auch die halte und Dienste durch die jeweiligen Anbieter sein KJM bezieht diese Position –, ICRA zunächst weiterzu- könnte. Weitergehende Überlegungen dazu haben wir in entwickeln und weiter zu fördern. Aber es ist auch rich- unserem Antrag zum UN-Weltgipfel zur Informations- tig und wichtig, die rosarote Brille abzusetzen und sich gesellschaft formuliert. von dem Motto „Alles wird gut“ zu verabschieden. Denn Wir laden Sie von der Opposition gerne ein, sich in ICRA stellt alleine noch keine hinreichende Lösung für den weiteren Antragsberatungen mit diesen zukunfts- die neuen Herausforderungen des Jugendschutzes dar. weisenden Forderungen aus dem Antrag der Koalitions- fraktionen zu beschäftigen. (B) Es tut mir ja sehr leid, aber ich muss noch ein biss- (D) chen Wasser in den Wein gießen, denn auch bei Ihren Eines möchte ich – gerade als Familien- und Jugend- Ausführungen zur effektiven Selbstkontrolle blenden Sie politikerin – festhalten und betonen: Unabhängig von zwei wichtige Aspekte aus. Zum einen erwähnen Sie an Filtern oder Sperren, ICRA oder Sperrverfügungen und keiner Stelle die Stärkung und vor allem die konzeptio- Selbstkontrollen müssen wir unser Augenmerk auf einen nelle Einbindung von Selbstkontrolleinrichtungen im Ju- Bereich lenken, dem insbesondere im neuen Jugend- gendmedienschutzstaatsvertrag. Schade, denn dort sind schutzgesetz eine herausragende Bedeutung zukommt: bereits erste Fortschritte zu verzeichnen. Zum anderen der Medienkompetenz der Jugendlichen, aber auch der setzt die Einbindung privater Einrichtungen zur Erfül- Medienkompetenz der Erwachsenen. Miteinander spre- lung hoheitlicher Aufgaben – Jugendschutz ist eine ho- chen ist besser als Filtern oder Sperren. Aber leider heitliche Aufgabe – die Gewährleistung eines hinrei- funktioniert das nicht immer so, wie wir uns das wün- chenden Leistungs- oder Schutzniveaus voraus. schen. Selbstkontrolle wird von daher in neueren Ansätzen Oftmals ist es ja so, dass der Nachwuchs den Rechner zumeist zweistufig organisiert, indem die private Selbst- beherrscht und die Eltern das Nutzerverhalten ihrer Kin- regulierung auf staatliche Rahmenvorgaben aufsetzt. der nicht kennen und auch gar keine Möglichkeit haben, Das Was wird als Mindestmaßstab staatlich gesetzt und dieses zu kontrollieren. Auch bei der Anwendung von über das Wie entscheiden die Selbstkontrolleinrichtun- Filterprogrammen sollten sich die Eltern nicht in Sicher- gen autonom. Diese „regulierte Selbstregulierung“ heit wiegen. Dieses Gefühl könnte trügerisch sein. Von diente bereits für das Jugendschutzgesetz und den Ju- daher gilt es, Eltern zu sensibilisieren, zu informieren, zu gendmedienschutzstaatsvertrag als konzeptionelles Vor- schulen und ihnen die Realität im World Wide Web zu bild. Eine frei schwebende Selbstkontrolle ohne flankie- erklären. rende gesetzliche Maßnahmen würde hingegen keinerlei Druck gegenüber ihren Mitgliedern erzeugen. Von daher Eine Studie in Norwegen, Schweden, Dänemark, Is- ist die „regulierte Selbstregulierung“ die richtige Ent- land und Irland zeigt, dass Eltern ein sehr ungenaues scheidung und gehört unseres Erachtens auch in den An- Bild davon haben, was ihre Kinder im Netz anstellen. trag aufgenommen. 22 Prozent der befragten 3 200 Eltern gingen davon aus, dass ihre Kinder nie im Netz sind. Weit gefehlt. Denn Gerade im Zusammenhang mit einem Antrag, der nur 3 Prozent der 4 700 Kinder bestätigten dies. 8 Pro- sich mit dem World Wide Web auseinander setzt, hätten zent, also immerhin 376 Kinder, gaben an, sich auch por- wir uns noch einige Aussagen zur Notwendigkeit einer nographische Seiten anzusehen. Ihre Eltern haben dieses gemeinsamen internationalen Perspektive versprochen. nicht für möglich gehalten. Niemand von den Müttern 7350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) oder Vätern hat an diese Nutzungsvariante durch ihr nahmen, wie zum Beispiel neue Gesetze, vermeidbar (C) Kind auch nur einen Gedanken verschwendet. machen. Hier klafft eine riesige Lücke zwischen Realität und Das Problem liegt also auf der Hand: Die vermehrte Annahme. Warum? Es fehlt am Dialog zwischen den El- Nutzung des Internet durch Jugendliche und der dadurch tern und Kindern. Deshalb gilt: Wir müssen mit unseren erleichterte Zugang zu jugendgefährdenden und auch Kindern sprechen, sie sensibilisieren für die Möglichkei- illegalen Inhalten stehen im Kontrast zum positiven und ten, die der Umgang im Internet – sowohl im positiven erwünschten Potenzial des Internet. Diese Situation for- als auch im negativen Sinne – für sie bietet. dert neue Konzepte vom Jugendschutz und keinen Auf- guss alter rot-grüner Maßnahmen, die vielleicht bei her- Kinder und Jugendliche wollen und sie sollen online kömmlichen Medien greifen, aber angesichts der sein. Daher muss unser Ansatz die Aufklärung, die Befä- Besonderheiten des Netzes völlig fehl am Platze sind. higung zum Selbstschutz, kurz: die Medienkompetenz sein. Deshalb haben wir die Stärkung der Medienkompe- Aus internationaler Perspektive führen kulturelle Dif- tenz bereits zum Schwerpunkt unserer medien- und ju- ferenzen, unterschiedliche Rechtssysteme und -auffas- gendpolitischen Arbeit gemacht. So unterstützt und initi- sungen sowie divergierende Verständnisse von Jugend- iert die Bundesregierung zahlreiche Projekte in diesem schutz zu massiven Unterschieden in der Einschätzung Bereich – von Schulen ans Netz über Internet für alle, bestimmter Inhalte. So können deutsche Jugendliche auf Jugendarbeit ans Netz bis hin zu Mediageneration. Da- Webseiten aus dem Ausland zugreifen, die hierzulande mit geben wir allen Jugendlichen eine Chance, den ver- nicht nur als jugendgefährdend, sondern womöglich antwortlichen Umgang mit neuen Medien zu lernen. Al- auch als illegal eingestuft werden – beispielsweise mit les andere, ob Filter oder Sperrverfügung, ICRA oder volksverhetzendem Inhalt –, hingegen im Ursprungsland regulierte Selbstregulierung, sind ergänzende Maßnah- völlig legal sind. men. Diese Konstellation birgt natürlich Interessenkon- flikte vor allem zwischen drei Parteien, nämlich dem Antje Blumenthal (CDU/CSU): Das Internet bietet Staat, der durch den Jugendschutzauftrag verpflichtet ist, Kindern und Jugendlichen eine Fülle von Anregungen, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Jugend zu tref- Ideen und Informationsangeboten, die ihre geistige und fen; zwischen den Nutzern von Internetangeboten bzw. soziale Entwicklung fördern. Daneben existiert eine deren Erziehungsberechtigten, die den Wunsch nach Ju- ganze Reihe von spannenden Angeboten, die Jugendli- gendschutz äußern, gleichzeitig aber den Zugang für Er- che zur Freizeitgestaltung nutzen. Beispielsweise Spiele, wachsene nicht eingeschränkt sehen wollen, und Chatrooms und Seiten mit interaktiven Angeboten. Und schließlich zwischen den Anbietern, die Internetange- (B) es sind auch genau diese Angebote, die von der überwie- bote den berechtigten Zielgruppen uneingeschränkt zu- (D) genden Mehrheit jugendlicher Internetnutzer in An- gängig machen möchten, aber an einer Klärung der Ver- spruch genommen werden. Darüber hinaus erleichtert antwortlichkeiten sowie an Rechtssicherheit interessiert das Internet den Austausch von Gedanken und Ansich- sind. ten, vermittelt Kontakt unter Gleichgesinnten und er- Um diesen Besonderheiten und der damit verbunde- möglicht den Zugang zu einem weltumspannenden nen Gefahrenlage im Hinblick auf Kinder und Jugendli- Kommunikationsnetzwerk. Auf diese Art dient es dem che gerecht zu werden, wird zwischen den verschiede- interkulturellen Austausch und fördert das Verständnis nen Beteiligten im Internet nach dem System gestufter für fremde Kulturen. Es ist nicht verwunderlich und Verantwortlichkeit unterschieden, wie es im Deutschen auch überaus wünschenswert, dass immer mehr Kinder Teledienstegesetz, im Mehrwertdienste-Staatsvertrag und Jugendliche – nach der ARD/ZDF-Studie aus dem und auch im europäischen Recht festgeschrieben ist. vergangenen Jahr immerhin 77 Prozent – regelmäßig on- Dieses differenzierte Unterscheidungssystem von Ver- line sind. antwortlichkeit zwischen Content Provider, Host Provi- der und Access Provider impliziert auch eine Verant- Aber wie es nun mal so ist, hat auch diese Medaille wortbarkeits-Hierarchie, bei der zuallererst diejenigen zwei Seiten: Neben den positiven Aspekten hat das In- zur Rechenschaft gezogen werden, die jugendgefähr- ternet auch etliche problematische, gefährliche und ille- dende oder illegale Inhalte bereitstellen. Erst danach gale Angebote, die für Kinder und Jugendliche oft ein sind die Anbieter von Speicherplatz für problematische hohes und kaum einzuschätzendes Risiko darstellen und Inhalte sowie Zugangsprovider zum Internet in die Ver- die den Jugendmedienschutz vor völlig neue und bislang antwortung zu nehmen – so sieht es im Übrigen auch der kaum gelöste Herausforderungen stellen. Wo die her- Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vor. kömmlichen Medien als Gegenstände noch greifbar sind, unter Umständen weggesperrt oder notfalls maku- In vielen Fällen sieht die Realität allerdings so aus, liert werden können, da entziehen sich die neuen elektro- dass die Anbieter illegaler oder jugendgefährdender In- nisch verbreiteten Medien weitgehend einem solchen halte – also die Content Provider – nicht im Inland an- Zugriff. Bisher eingesetzte Mittel der nachträglichen sässig sind und deshalb erstens nicht unter die bundes- Prüfung oder Vertriebsbeschränkung erweisen sich bei deutsche Gerichtsbarkeit fallen und strafrechtlich diesen neuen Medien – insbesondere beim Internet – als verfolgt werden können und zweitens nicht zur Aufgabe nahezu wirkungslos. Es sind vor allem die Schnelllebig- ihres Angebots gezwungen werden können. Die Rege- keit und der grenzüberschreitende Charakter des Medi- lungen im Mediendienste- und im Jugendmedienschutz- ums, die die Risiken nur bedingt durch staatliche Maß- Staatsvertrag sehen vor, dass nur dann, wenn Maßnah- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7351

(A) men gegen den Anbieter von Inhalten keinen Erfolg ver- Schließlich bestehen darüber hinaus auch offensichtli- (C) sprechen, die Zugangsvermittler in die Pflicht genom- che technische Probleme, die die Ausfallsicherheit der men werden können. technischen Infrastruktur des Internet gefährden. Angesichts dieser Interessenlage und den nationalen Darüber hinaus hält es das Europäische Parlament für Differenzen in der Rechtssprechung ist es überaus sinn- außerordentlich bedenklich, durch netzseitige Filtertech- voll, über flankierende Schutzmöglichkeiten zu den nologien die technische Möglichkeit zur Unterdrückung rechtlichen Rahmenbedingungen nachzudenken und Al- unerwünschter Meinungen zu schaffen. ternativen zu entwickeln, die auch die Möglichkeit bie- ten, Kinder und Jugendliche vor Inhalten ausländischer Der Fall des französischen Yahoo-Portals im Jahr Anbieter zu schützen. 2000 zeigt die geringen Erfolgsaussichten von Sperrun- gen bestimmter Seiten ganz deutlich. Kategorische Sper- Hier bestehen grundsätzlich mehrere Möglichkeiten: rungen von bestimmten Internetangeboten entsprechen nicht unserer Vorstellung von verantwortungsbewusstem Zum einen sind dies Maßnahmen, die sich auf den Jugendschutz. Solche Maßnahmen führen zu einer nicht nicht technischen Bereich beziehen, wie etwa die Stär- mehr überschaubaren Regulationsdichte und hemmen ei- kung von Medienkompetenz, die Sensibilisierung der genverantwortliches Handeln viel mehr, als dass sie es Eltern und die soziale Ächtung der Benutzung illegaler fördern. Angebote. Wir sind der Ansicht, dass dies keine Entwe- der-oder-Option, sondern ein Bereich ist, der in jedem Der zweite Punkt. Die Möglichkeit, Kinder und Ju- Fall, das heißt völlig unabhängig vom Einsatz techni- gendliche im Internet zu schützen, die bei weitem die scher Mittel, zu erfolgen hat! größte Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Filtertech- nologie, die nach einem festgelegten Kriterienkatalog Zweitens besteht die Möglichkeit, den technischen problematische, jugendgefährdende und illegale Inter- Zugang zu illegalen oder jugendgefährdenden Angebo- netangebote herausfiltern soll. Auch bei der Filtertech- ten zu sperren, indem man die Zugangsprovider ver- nologie existieren Verfahren, die dem Benutzer unter- pflichtet, deutsche Benutzer vom Zugriff auf diese An- schiedliche Freiheitsgrade einräumen, beispielsweise gebote auszuschließen. Filter beim Zugangsanbieter, auf den Servern von Insti- tutionen oder auf dem heimischen Rechner. Unserer An- Die dritte Möglichkeit besteht darin, Kontroll- und sicht nach sind vor allem diejenigen Filter sinnvoll, die Selbstkontrollsysteme ähnlich dem FSK in der Film- auf freiwilliger und eigenverantwortlicher Basis instal- branche einzuführen, sodass die Content Provider ihre liert werden können, und so ein Maximum an Flexibilität Inhalte klassifizieren und Anwender nach Bedarf filtern (B) gewährleisten. (D) können. Flankierend sind außerdem staatliche Maßnah- men für den Aufbau und die Regulierung eines Klassifi- Die Filtertechnologie ist im Gegensatz zur Sperrung kationssystems denkbar. bei weitem die bessere Methode, um Kinder und Jugend- liche von gefährlichen Internetinhalten fernzuhalten. Lassen Sie mich auf die beiden letzten Punkte im De- Aber über eines sollten wir uns auch bei diesem Antrag tail eingehen, da sich genau hier die Geister scheiden, eindeutig im Klaren sein: Auch Filter sind kein Allheil- wie ein geeigneter Jugendschutz im Internet erreicht mittel. Filtersoftware – ganz gleich, ob aufseiten der Zu- werden kann: gangsanbieter oder der Benutzer – ist auch heute noch Der erste Punkt. Eine Sperrung von bestimmten In- keine technisch ausgereifte Lösung. Nach wie vor gilt halten, wie sie in der Vergangenheit beispielsweise von die Einschätzung der vom Bundeswirtschaftsministe- der Düsseldorfer Bezirksregierung verfügt wurde, so- rium 1999 in Auftrag gegebenen Studie „Internet und Ju- dass man die Zugangsanbieter verpflichtet, Benutzer gendschutz“. vom Zugriff auf diese Angebote auszuschließen, ist aus Ich zitiere: unserer Sicht in vielerlei Hinsicht hoch problematisch: „Technische Lösungen zur Filterung bieten bisher Zum einen müsste das weltweite Internet ständig nach keinen adäquaten Schutz und können prinzipiell keinen strafbaren oder jugendgefährdenden Inhalten durchsucht adäquaten Schutz bieten. Verfügbare Filterprogramme werden, um dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht zu zeigen wenig Treffsicherheit und sind leicht zu manipu- werden. Bei weit über 3 Milliarden Seiten kann dieser lieren.“ Anspruch nicht seriös verfolgt werden. Zum anderen müsste jede dieser Seiten nicht nur gefunden, sondern Dazu passt auch, dass der mit vielen Vorschusslorbee- auch noch individuell durch ein Gericht überprüft wer- ren bedachte und von der EU-Kommission unterstützte den, damit keine willkürliche Zensurmaßnahme des Staa- ICRA-Filter – dessen Einsatz im Antrag der FDP emp- tes oder des Netzzugangsanbieters vorliegt. Die Einrich- fohlen wird – in einer Studie von „jugendschutz.net“ als tung und Wartung solcher Sperren verursachen „intransparent“ bewertet wird und ihm „technische erhebliche Kosten bei den Zugangsanbietern und im Hin- Mängel“ attestiert werden. Eine neue ICRA-Version, blick auf jugendgefährdende Inhalte ist eine differen- ICRAplus, verspricht zwar eine bessere Filterwirkung, zierte Sperrung nicht möglich, sodass auch erwachsene verabschiedet sich aber aufgrund von Filterangeboten Nutzer vom Zugriff auf die Inhalte ausgeschlossen wer- Dritter vom Konzept der benutzerautonomen und frei- den – es kommt notwendigerweise zu Freiheitseingriffen. willigen Filterung. 7352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Filter sind trotz aller technischer Mängel sicherlich Die Kommission hat die Aufgabe übertragen bekom- (C) die bessere Alternative zum Sperren von Internetseiten. men, gemeinsam mit den Selbstkontrolleinrichtungen Aber sie genügen bei weitem noch nicht unseren Vorstel- der Wirtschaft den Jugendschutz auch bei Online-Me- lungen eines adäquaten und sicheren Jugendschutzes. dien sicherzustellen. Die KJM hat bereits in einer Pres- Wir fordern daher die Bundesregierung auf, endlich ge- semitteilung vom 14. November angekündigt, gegen un- eignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Einsatz von zulässige Internetangebote vorgehen zu wollen. Filtertechnologie sinnvoll zu flankieren, etwa gemein- Außerdem evaluiert sie Verfahren, mit denen der Ju- sam mit den Ländern die Entwicklung einer Filtersoft- gendschutz im Internet sichergestellt werden soll, darun- ware zu forcieren und sich an den Aktivitäten von ter auch die Entwicklung von Filterprogrammen. „jugendschutz.net“ als länderübergreifender Stelle der Landesjustizbehörden finanziell stärker zu beteiligen. Wir haben immer die Überzeugung vertreten, dass nur so genannte teilnehmerautonome Filterprogramme Dabei sollte stets die Information der Eltern an erster erfolgreich sein können: Wenn Eltern ihre Kinder vor Stelle stehen, denn keine Technologie ist perfekt. So- bestimmten Inhalten schützen wollen, müssen wir ihnen lange Eltern sich nicht mit den Interessen und vor allem die besten Instrumente in die Hand geben, um Kinder den Internetsitzungen ihrer Kinder beschäftigen, nützen bestimmte Seiten nicht anschauen zu lassen. Gleiches Filterprogramme wenig. Gesetze und Filter nützen nur gilt aber beispielsweise für unser Bildungssystem: Wenn dann, wenn wir auch gleichzeitig die Medienkompetenz Unis oder Forschungseinrichtungen zu Rechtsradikalis- von Eltern und Jugendlichen fördern. mus – auch mithilfe des Netzes – recherchieren wollen, brauchen auch sie die besten Suchinstrumente und keine Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gesperrten oder unzugänglichen Seiten. „Schutz vor illegalen und jugendgefährdenden Internet- Mit der zunehmenden Verbreitung und Nutzung neuer inhalten – filtern statt sperren“, das ist grundsätzlich ein digitaler Dienste entstehen permanent neue Fragen zu schöner Titel für einen Antrag; „schön“ sage ich deshalb, den Rahmenbedingungen und Instrumenten eines ein- weil ich grundsätzlich die Intention des Antrages teile, heitlichen und effektiven Jugendschutzes in sämtlichen aber „filtern“ muss nicht unbedingt besser sein als „sper- elektronischen Medien. ren“. Es kommt auf die Methoden an, die man einsetzt, und natürlich kommen wir damit auch ganz schnell zu Beim Jugendmedienschutz haben wir es sogar mit ei- einer Grundsatzfrage: Welche Kontrollmöglichkeiten ner doppelten Herausforderung zu tun: Zum Problem, haben wir im weltumspannenden Internet überhaupt. internationale einheitliche und vergleichbare Mindest- standards zu schaffen und durchzusetzen, kommt noch Sperren und filtern von Internetseiten, das ist ein das nationale wie internationale Problem der Rechts- heikles Thema. Der FDP-Antrag spielt unverhohlen auf (B) durchsetzung hinzu. (D) Versuche der Bezirksregierung Düsseldorf unter ihrem Präsidenten Büssow an, rechtsradikale Internetseiten aus Der europäische Gesetzgeber hat in dieser Frage nach dem Ausland mittels so genannter Sperrverfügungen Abwägung von technischer Machbarkeit und Verhältnis- durch nordrhein-westfälische Provider aus Teilen des mäßigkeit mit der e-Commerce-Richtlinie eine qualitativ Netzes zu verbannen. Ich will mich hier nur kurz zu die- abgestufte Verantwortlichkeit der verschiedenen Inter- sem Fall äußern: So lobenswert auch der Kampf gegen netdienste festgeschrieben. Diese abgestufte Verantwort- Rechtsradikalismus ist, hat gerade der „Fall Büssow“ ge- lichkeit – insbesondere bei der Providerhaftung – haben zeigt, wie leicht man auf die Gesetzmäßigkeiten des Net- wir dann im Teledienstegesetz und Mediendienstestaats- zes hereinfallen kann. Aufwand und Ertrag stehen hier in vertrag auch so umgesetzt. Wir halten diese Vorgehens- keinerlei Verhältnis: Manche Provider haben gesperrt, weise für angemessen und effektiv: Das Netz wird in sei- andere nicht, einige haben geklagt, andere nicht, findige ner Komplexheit verstanden und beurteilt. User tricksen die Sperrmaßnahmen in Sekunden aus, kurzum: Das war nichts, Herr Büssow! Mit simplen „Holzhammerlösungen“ wie „Seiten blockieren“ oder technischen Maßnahmen und fragwürdigen Verfügungen „Eben mal vom Netz nehmen“, funktionieren eben nicht bekommen wir illegale und jugendgefährdende Inhalte so einfach, und die Uhr kann man im Internet auch nicht im Internet nicht in den Griff. Intelligentere Lösungen stellen: Nachmittags Kinderprogramm und ab 23 Uhr In- sind gefragt. Und grundsätzlich gilt ja bereits, dass alles, ternetseiten für Erwachsene, wie es einige gerne hätten, was in der „Offline-Welt“ verboten ist, auch im Netz ge- geht nicht. nauso wenig erlaubt ist. Also noch einmal ganz deutlich: Das Internet kennt Wir Grünen haben uns immer für internationale Ab- keine Uhrzeiten, höchstens rund um die Uhr die gleiche. kommen in Sachen Jugendschutz oder rechtsradikaler Propaganda ausgesprochen, denn ein globales Medium Mit dem von uns favorisierten und umgesetzten Mo- kann letztendlich auch nur global kontrolliert werden. dell einer „regulierten Selbstregulierung“ – also Eigen- Nichtsdestotrotz dürfen wir natürlich nicht die Augen kontrolle als einvernehmliche Maßnahme in Verbindung vor dem verschließen, was im Netz passiert. mit einer staatlichen Aufsicht, die nur dann einschreitet, wenn anders keine Lösung zu finden ist – haben wir die Der Gesetzgeber in Deutschland hat entsprechend Grundlage für eine angemessene und effektive Medien- reagiert: Mit dem neuen Jugendschutzgesetz und dem kontrolle geschaffen. Damit sind wir bestens für die entsprechenden Staatsvertrag wurde die „Kommission Auseinandersetzung mit illegalen und jugendgefährden- für Jugendmedienschutz“ – kurz KJM – eingerichtet. den Internetinhalten gerüstet, ohne die Illusion eines Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7353

(A) „sauberen“ Netzes zu erzeugen. Dafür hätte es keinen heute: Vorsicht, Falle! Undurchschaubare Steuer- und (C) Antrag der FDP gebraucht. sozialversicherungsrechtliche Regelungen schaffen fi- nanzielle Unsicherheit. Aber es handelt sich schließlich um ein wichtiges Thema und ich möchte an dieser Stelle abschließend be- Deshalb legt die FDP-Bundestagsfraktion heute ein tonen: Einen hundertprozentigen Schutz vor dem, was Zukunftskonzept für die Tagespflege vor. Was sind die uns und andere zu Recht stört, werden wir im Internet zentralen Ziele der FDP? Wir wollen die Tagespflege als nicht erreichen können, nicht mal zu einem Preis, der un- zweite Säule neben der institutionellen Kinderbetreuung. ser Informationsangebot so einschränken würde, dass Wir wollen die Tagespflege als qualitativ hochwertiges man nicht mehr von einem freien Netz sprechen könnte. und gleichrangiges Kinderbetreuungsangebot. Wir wol- Wir müssen vielfältige Mittel und Wege zur Bekämp- len einheitliche, einfache und unbürokratische rechtliche fung rechtsradikaler Propaganda und Diskriminierungen Regelungen, für Eltern und Tagesmütter verständlich aller Art entwickeln. Pauschale Filtersysteme jedoch und attraktiv. Wir wollen eine Pflicht zur Altersvorsorge werden die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen kön- für selbstständige Tagesmütter und die Wahlfreiheit zwi- nen. Da müssen wir uns etwas Besseres einfallen lassen. schen staatlicher und privater Rentenversicherung. Wo sind die Defizite? Die Vorschriften im Steuer- und Anlage 3 Sozialversicherungsrecht für eine selbstständige Tages- mutter oder einen selbstständigen Tagesvater, aber auch Neuabdruck der zu Protokoll gegebene Reden bei einer Arbeitnehmertätigkeit sind undurchschaubar. Die finanziellen Folgen sind zum Beispiel hohe Nach- zur Beratung des Antrags: Tagespflege als Bau- forderungen bei Rentenbeiträgen. Rechtliche Unsicher- stein zum bedarfsgerechten Kinderbetreuungs- heit verursacht Schwarzarbeit. Die Nachfrage ist größer angebot – Bessere Rahmenbedingungen für als das Angebot an qualifizierten Tagesmüttern. Es gibt Tagesmütter und -väter, Eltern und Kinder keine umfassende Professionalisierung und bundesweite (82. Sitzung, Tagesordnungspunkt 13) Qualitätssicherung.

Ina Lenke (FDP): Nach den Bundestagswahlen 1998 Wie können Defizite beseitigt werden? Die Tages- und 2002 versprach die rot-grüne Bundesregierung den pflege für Kinder unter drei Jahren wird als gleichran- Wählern und Wählerinnen mehr Kinderbetreuung. Bis gige Betreuungsform in die neue öffentliche Förderung heute hat sie das Versprechen nicht umgesetzt. einbezogen. Die Bundesregierung stellt mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden sicher, dass bei Um die Bundesregierung aufzufordern, die fatale der Umsetzung des Betreuungskonzeptes den Kommu- (B) Kinderbetreuungssituation in Deutschland zu verbes- nen dauerhaft Finanzmittel zur Verfügung gestellt wer- (D) sern, hat die FDP-Bundestagsfraktion schon im Jahr den. Die Bundesregierung lässt von Fachleuten aus Wis- 2001 Antworten zur „Einkommensteuerlichen und ren- senschaft und Praxis gemeinsame Qualitätsstandards tenversicherungsrechtlichen Situation von Müttern und und bundeseinheitliche Mindestvorgaben für die öffent- Vätern in der Tagespflege“ (Drucksache 14/7725) ver- lich geförderte Tagespflege erarbeiten. Die Zahlung des langt und in einer Kleinen Anfrage Ende 2002 Antwor- Jugendamtes oder privater Auftraggeber an Tagesmütter ten gefordert, wie die „Realisierung einer bedarfsgerech- oder -väter sollen steuerlich gleich behandelt werden. ten Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren“ Wiedereinführung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von (Drucksache 15/338) aussehen soll. Die Bundesregie- legalen Beschäftigungsverhältnissen im Privathaushalt. rung hat bisher kein Gesamtkonzept vorgelegt, nur Ab- Erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten absetzbar für sichtserklärungen. Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerinnen als Werbungs- kosten und für Selbstständige als Betriebsausgaben. Die Familienministerin will nun für Kinder unter drei Jahren 121 000 Krippenplätze, für 142 000 Kinder indi- Die Zahl der Tagespflegestellen wird in Deutschland viduelle Tagespflegeplätze schaffen. Das ist bisher ein auf circa 300 000 geschätzt. Wenn wir eine Weiterent- ungedeckter Scheck. Zeithorizont: Erst bis zum Jahr wicklung der Tagespflege politisch wollen, müssen wir 2010. handeln, und zwar jetzt. Junge Frauen und Männer su- chen Familie und Beruf zu vereinbaren. Eltern brauchen Die Ankündigung, qualifizierte Tagesmütter in das eine verlässliche Lebensperspektive von Erwerbstätig- Gesamtkonzept einzubinden, begrüßt die FDP ausdrück- keit und zuverlässiger Tagesbetreuung. lich. Mit einer Tagesmutter können die Eltern flexible Betreuungszeiten aushandeln, zum Beispiel unabhängig Für die Beratungen im Familienausschuss schlage ich von Öffnungszeiten staatlicher Kindergärten. Die Kinder jetzt schon eine öffentliche Anhörung dazu vor. Ich freue leben in familienähnlichen Strukturen und haben eine mich auf eine produktive und konstruktive Beratung. Kontinuität der Bezugsperson. Für viele Eltern und Al- leinerziehende ist eine qualifizierte Tagesmutter oft die einzige Lösung. Die FDP will das auch, aber nicht zu Caren Marks (SPD): Die Balance von Familien- und den heutigen schlechten Rahmenbedingungen. Erwerbsarbeit gehört zu den vorrangigen familienpoliti- schen Zielen der Bundesregierung in dieser Legislaturpe- Meines Erachtens hat der Staat in der Tagespflege riode. Die SPD legt dabei den Schwerpunkt auf den Aus- ordnungspolitisch versagt. Die Rahmenbedingungen bau qualitativ hochwertiger, bedarfsdeckender und sind ein Horror. Für die Tagesmütter und -väter heißt es zeitlich flexibler Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, 7354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) um unserem Ziel einer kinder- und familienfreundlichen geförderten Tätigkeiten im Bereich haushaltsnaher (C) Gesellschaft näher zu kommen. Der bedarfsgerechte Dienstleistungen aufgenommen wurde. Ausbau der Kinderbetreuung spielt eine herausragende Der Antrag vernachlässigt ebenso, dass die Tages- Rolle, da insbesondere in den westlichen Bundesländern pflege in die Zuständigkeit der Kommunen fällt, das noch erhebliche Lücken im Betreuungsangebot beste- heißt die Einflussmöglichkeiten des Bundes begrenzt hen. In den westlichen Bundesländern liegt der Versor- sind. Zur Finanzierung dieser Aufgabe werden den Kom- gungsgrad bei unter Dreijährigen lediglich bei 2,8 Pro- munen Einspargewinne verbleiben, die durch die Zusam- zent, in den östlichen bei 36,3 Prozent. Die Zahl der menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe entste- Kinderbetreuungsplätze für über 6-Jährige verhält sich hen. Ab 2005 sollen davon 1,5 Milliarden Euro jährlich mit 5,9 Prozent (alte Bundesländer) und 47,7 Prozent für den Betreuungsausbau der unter 3-Jährigen verwen- (neue Bundesländer) nur unerheblich besser. det werden. Die rechtlichen Grundlagen der Finanzie- Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist rung werden in Art. 29 und 30 des Vierten Gesetzes für dieSchaffung und Finanzierung von Angeboten der Ta- moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geschaffen. gesbetreuung Aufgabe der kommunalen Gebietskörper- Hier appelliere ich eindringlich an die Opposition, die schaften auf der Grundlage des Achten Buches Sozialge- Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im setzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) – und Vermittlungsausschuss nicht scheitern zu lassen. der Kindertagesstättengesetze der Länder. Die Kreise Hervorzuheben ist, dass eine gute Kinderbetreuung und Städte werden dabei im Rahmen kommunaler wirtschaftliche und finanzielle Vorteile für eine Kom- Selbstverwaltung tätig und unterliegen der Rechtsauf- mune bietet. Gute Bildungs- und Betreuungsangebote sicht der zuständigen Landesbehörden. Der Bund hat nur sind Wettbewerbs- bzw. Standortvorteile. Deutschland begrenzt Möglichkeiten, ihnen Weisungen zu erteilen liegt bei der Betreuung aller Altersgruppen im interna- oder in sonstiger Weise auf ihre Entscheidungen Einfluss tionalen Vergleich deutlich zurück. Darin begründet sich zu nehmen, dies gilt auchinsbesondere für den schuli- auch die international vergleichbar niedrigere Erwerbs- schen Bereich, der den Kultusministerien der Länder ob- tätigkeit von Frauen mit Kindern. Betonen möchte ich, liegt. dass dies im Wesentlichen auf die eklatante Vernachläs- sigung dieses Bereichs durch die damalige CDU/CSU- Aber fehlende Zuständigkeit ist für uns kein Grund für FDP-Regierung zurückzuführen ist. 16 Jahre wurde die Untätigkeit. Die Regierung beteiligt sich daher am Aus- gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitische Bedeu- bau der Tagesbetreuung durch die Weiterentwicklung der tung der qualitativen und quantitativen Kinderbetreuung gesetzlichen Grundlagen im Achten Buch Sozialgesetz- in ihrer Regierungszeit ignoriert, meine Damen und Her- buch durch Finanzhilfen für Länder und Kommunen so- ren von der Opposition. (B) wie durch Modellprojekte. So wurde am 12. Mai 2003 (D) die Bund-Länder-Vereinbarung zum Auf- und Ausbau Der Ausbau der Kinderbetreuung soll ab 2005 schritt- von Ganztagsschulen unterzeichnet (Investitionspro- weise bis 2010 erreicht werden. In Abstimmung mit den gramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“). Den Län- kommunalen Spitzenverbänden wird es keine starre Ver- dern und Kommunen werden bis 2007 insgesamt 4 Milli- sorgungsquote pro Kommune oder Bundesland geben. arden Euro als Finanzhilfe zur Verfügung gestellt. Die Bundesregierung strebt Zielvereinbarungen mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden an, die Wir arbeiten an einem spürbaren Ausbau der Betreu- einen an Kriterien orientierten bedarfsgerechten Ausbau ung im Elementarbereich, in erster Linie bei den Kindern qualifizierter Angebote und die Umwidmung frei- unter drei Jahren. Daher wird die Bundesregierung als werdender Kindergartenplätze für Kinder unter drei Jah- zentrales Projekt in dieser Legislaturperiode das Angebot ren regelt. in der Tagesbetreuung bedarfsgerecht ausbauen und da- Die Vereinbarungen werden die gesetzliche Regelung für eine gesetzliche Regelung schaffen. Ein vielfältiges begleiten, die im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kin- und qualifiziertes Angebot ist neben dem Ausbau von Ta- der- und Jugendhilfe (SGB VIII) – aufgenommen wird. geseinrichtungen aber ohne eine Erweiterung der Tages- Schon heute gibt es dort – neben dem Rechtsanspruch pflege durch Tagesmütter und Tagesväter nicht zu leisten. auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren – Der FDP-Antrag enthält durchaus richtige Ansätze. die Verpflichtung, für Kinder auch anderer Altersgrup- Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Thema Bildung pen ein bedarfsgerechtes Angebot vorzuhalten (§ 24 und Betreuung auch bei der Opposition angekommen ist. Satz 2 SGB VIII). Diese Vorhaltepflicht wird durch die Der Antrag fokussiert sich allerdings zu einseitig auf die Beschreibung von Ausbauschritten konkretisiert. Im Tagespflege und übersieht die zahlreichen Maßnahmen, Zeithorizont bis 2010 sollen für die in Kommunen ermit- die die rot-grüne Koalition auf diesem Gebiet bereits ini- telten Bedarfe Betreuungsangebote vorhanden sein. Da- neben wird die gesetzliche Regelung über die Tages- tiiert hat und gleichwertig neben alternativen Kinderbe- pflege (§ 23 SGB VIII) mit dem Ziel geändert, die treuungsmöglichkeiten auch in der Zukunft unterstützen Fachkräfte der Tagespflege zu qualifizieren und sie zu wird. Eltern brauchen eine Vielfalt an Betreuungsmög- einem gleichwertigen Angebot für Kinder unter drei Jah- lichkeiten; sie wollen keine Einheitslösung, sondern Al- ren auszubauen. ternativen, aus denen sie das für sie passende Angebot aussuchen können. Eine erste Verbesserung für die Ta- Die Tagespflege wird in den nächsten Jahren an Be- gespflege wurde so mit der Umsetzung des Hartz-Kon- deutung deutlich gewinnen. Das heißt aber auch, dass zeptes erreicht, in dem Kinderbetreuung in die Liste der sich manche Länder und Kommunen mehr bewegen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7355

(A) müssen als bisher. Wir erwarten, dass die Tagespflege zur Erstellung von nationalen Qualitäts- und Bildungs- (C) auf eine sichere gesetzliche Grundlage gestellt wird. Sie- standards. ben Bundesländer haben die Tagespflege in ihren Aus- führungsgesetzen zum KJHG berücksichtigt; in neun Der Ausbau qualifizierter Betreuungsangebote bedeu- Länder ist das noch nicht der Fall. Die Tagespflege muss tet zusammengefasst: bessere Balance von Familien- ein selbstverständlicher Teil der Jugendhilfeplanung und Erwerbsarbeit, mehr Bildung, gemeinsame Verant- werden. wortung für Erziehung, eine höhere Frauenerwerbstätig- keit und mehr Wirtschaftskraft. Die SPD-Politik stärkt Internationale Untersuchungen zeigen, dass die Be- die Kooperation und Kommunikation zwischen Bund, treuungsqualität deutlich steigt, wenn Tagesmütter regis- Ländern, Kommunen, Eltern, Kitas, Schulen, Wirtschaft triert sind, einen Austausch mit Kolleginnen haben und und sozialen Verbänden, um ein kinder- und familien- fachlich beraten und betreut werden. freundlicheres Klima in unserem Land zu schaffen. Die von uns erfolgreich initiierte „Allianz für die Familie“ ist Unsere Regierung unterstützt die Qualitätsentwick- gesellschaftlich breit verankert, Familienpolitik ist Zu- lung in der Tagespflege durch wissenschaftliche Unter- kunftspolitik. suchungen und Projekte. Einen großen Schritt hin zu einheitlichen Ausbildungsstandards für Tagesmütter und Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Familienpolitik ist -väter stellt das neue Curriculum „Qualifizierung in der in aller Munde. Parteiübergreifend wird festgestellt, dass Kindertagespflege“ dar, welches vom Deutschen Ju- neben der Familienförderung auch ein entsprechendes gendinstitut im Regierungsauftrag erstellt wurde und Angebot an Kinderbetreuungsplätzen vorhanden sein Erkenntnisse aus vielen Wissenschaftszweigen, wie Ent- muss. Die Notwendigkeit wird von niemandem bestrit- wicklungspsychologie über Kleinkindpädagogik berück- ten, der Ausbau der Betreuungsplätze steht oben auf der sichtigt. Es wird bereits von vielen Fortbildungsträgern Prioritätenliste. erfolgreich eingesetzt. Deutschland gehört im europäischen Vergleich zu den Es verwundert mich jedoch, dass wir gerade von der Ländern, in denen das Betreuungsangebot von Kindern FDP einen Antrag zur Tagespflege für eine bedarfsge- insgesamt, insbesondere jedoch der unter Dreijährigen, rechte Kinderbetreuung zu beraten haben. In Hamburg, nur unzureichend vorhanden und ausgebaut ist. Auch ein wo die FDP Regierungsverantwortung im mittlerweile deutliches Gefälle zwischen dem Versorgungsgrad der gescheiterten Mitte-Rechts-Senat hatte, ist sie im Be- neuen, Versorgungsgrad 36 Prozent, zu den alten Bun- reich Bildung und Betreuung kläglich gescheitert. Der desländern, Versorgungsgrad 2,8 Prozent, macht auf das FDP-Bildungssenator Lange musste auf Grund seiner Problem aufmerksam. (B) mangelnden Kompetenz in der Vermittlung von Kinder- (D) betreuungsplätzen zurücktreten. Senator Lange stand Eine Möglichkeit, zusätzliche Betreuungsplätze zu seit Monaten wegen des von ihm eingeführten Gut- gewinnen, besteht durch den Ausbau der Tagespflege als scheinsystems für Kindertagesstätten und der Defizite qualifiziertes Angebot der Erziehung, Bildung und Be- bei der Finanzierung der Kinderbetreuung in der Kritik. treuung von Kindern. Lange hinterlässt in seinem Hamburger Bildungsressort Die Tagespflege ist in der Bundesrepublik Deutsch- eine Finanzlücke von circa 18 Millionen Euro und Tau- land – besonders in den alten Bundesländern – seit vie- sende geprellter Eltern, die vergeblich auf eine Betreu- len Jahrzehnten eine bewährte und anerkannte Betreu- ung für ihre Kinder gewartet haben. ungsform für Kinder. Sie ist eine familiäre Form der Das von der SPD initiierte Volksbegehren der Initia- Kinderbetreuung, welche die elterliche Erziehung er- tive „mehr Zeit für Kinder“ sammelte innerhalb von gänzt. 14 Tagen knapp 170 000 Unterschriften. Zur Abstim- In den letzten Jahren gewann die Tagespflege immer mung steht ein neues Kita-Gesetz, für das mindestens mehr an Bedeutung. Aufgrund der flexiblen Betreuungs- ein Fünftel der Wahlberechtigten von Hamburg votieren zeiten trägt sie dazu bei, dass Eltern, insbesondere allein müssen, damit der Volksentscheid erfolgreich wird. Ein erziehende Elternteile, Familie und Erwerbstätigkeit Kernpunkt ist die Ausweitung des Rechtsanspruches für besser miteinander vereinbaren können. Beispiele sind den Kindergartenbesuch der Drei- bis Sechsjährigen von die Krankenschwestern oder Busfahrerinnen, die – trotz vier auf fünf Stunden. Krippen-, Kindergarten- oder Hortplatz – aufgrund ihrer besonderen Arbeitszeiten, – nachts, frühmorgens, am Auf kommunaler Ebene bauen wir seit Herbst 2003 Wochenende – eine ergänzende Kinderbetreuung brau- „Lokale Bündnisse für Familien“ auf, die unter Beteili- chen. Hier zeigt sich gerade ein besonderer Vorteil der gung gesellschaftlich wichtiger Partner, insbesondere Tagespflege: die flexible Betreuungszeit. der Wirtschaft, der Gewerkschaften, aber auch sozialer Verbände, die Rahmenbedingungen für Familien verbes- Für die Eltern des Tagespflegekindes ist diese Betreu- sern helfen und unter anderem den Ausbau einer guten ungssituation überschaubar und verbindlich. Es gibt in Kinderbetreuung begleiten werden. Ebenso benötigen der Regel nur eine Betreuungsperson, die für die Eltern wir eine umfassende Weiterentwicklung des Bildungsan- Ansprechpartner ist. Sie ist grundsätzlich in der Lage, gebotes, das heißt eine Steigerung der Bildungsqualität auf die Wünsche der Eltern einzugehen, zum Beispiel in in der frühkindlichen Erziehung. Wir verfolgen eine län- Bezug auf die Erziehung des Kindes und die Betreu- derübergreifende Verständigung über Bildungsstandards ungszeiten. Insbesondere bei unregelmäßigen Betreu- für Kindertageseinrichtungen und fördern Maßnahmen ungszeiten oder einem Betreuungsbedarf außerhalb der 7356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen sowie bei Bezug auf Qualifizierung, Finanzierung, Fachberatung (C) gesundheitlicher Beeinträchtigung des Kindes, wenn und Vermittlung sowohl für die Familien als auch die zum Beispiel eine besondere Diät oder Pflege nötig ist, Tagespflegepersonen unbefriedigend. Deshalb ist es für schätzen Eltern die Tagespflege sehr. die Tagespflege dringend notwendig, einheitliche Rah- menbedingungen zu schaffen, die die Tagespflege als Für die Arbeit der Tagespflegepersonen bildet die fle- gleichwertige, flexible Form neben den institutionellen xiblere Gestaltungsmöglichkeit der zeitlichen Einteilung Betreuungseinrichtungen weiter etabliert und stärkt. Da- und der pädagogischen Arbeit eine wichtige Rahmenbe- rin sind wir uns einig. dingung. Auch die individuellen Ausgestaltungsmög- lichkeiten, wie zum Beispiel das Treffen bestimmter Er- Wir sind uns auch einig, dass die geltende Rechtslage ziehungsabsprachen zwischen der Tagesfamilie und den mehr verwirrt als Aufklärung und Rechtssicherheit ver- Eltern, sind Kennzeichen der Arbeitsbedingungen in der mittelt, im Gegenteil. Ist die Tagesmutter selbstständig Tagespflege. tätig oder liegt ein Arbeitsverhältnis vor? Kann sie eine Ich-AG gründen? Was muss sie beachten: Muss sie eine Tagespflegepersonen haben den Auftrag, Kinder in zusätzliche Krankenversicherung haben oder reicht die ihrer Entwicklung und Bildung zu fördern. Gerade für Familienversicherung? Welche Steuern muss sie worauf Kinder unter drei Jahren ist nach entwicklungspsycholo- zahlen, was ist steuerfrei? Die Liste ließe sich endlos gischen Erkenntnissen die Erziehung durch eine Tages- verlängern. pflegeperson förderlich. Die kontinuierliche Beziehung durch eine/n Tagesmutter/-vater eröffnet dem Kind mehr Praxisberichte zeigen, dass sehr unterschiedliche Aufmerksamkeit und Zuwendung nach individuellen Er- Aussagen zur Sozialversicherungspflicht und zu Steuer- fordernissen. Das Wohl des Kindes sollte immer im Mit- fragen existieren. Es kann nicht sein, dass Tagesmütter, telpunkt stehen. je nach Sichtweise und Interpretation des Sachbearbei- Durch Betreuung, Bildung und Erziehung ist die För- ters der Krankenkasse, Rentenversicherungsanstalt oder derung der Entwicklung der Tageskinder zu eigenständi- auch des Finanzamtes ganz unterschiedliche Bescheide gen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu leis- erhalten. ten. Für die pädagogische Praxis ist es erforderlich, dass Deshalb muss die Regelung des sozial- und steuer- Tagespflegepersonen sich darüber bewusst sind, welches rechtlichen Status von Tagespflegeeltern grundsätzlich Bildungsangebot zeitgemäß und für Kinder wichtig ist neu gefasst werden. Die Ungleichbehandlung derjenigen und wie sie als Tagesmutter/Tagesvater die Kinder in ih- zum Beispiel, die auf privater Basis, und denen, die im ren Bildungsprozessen unterstützen können. Dieser An- Rahmen der öffentlichen Jugendhilfe Tageskinder be- spruch kann nur über die Qualifizierung der Tagespfle- treuen, sollte aufgehoben werden. (B) gepersonen geleistet werden. (D) Alle Tagespflegepersonen leisten im öffentlichen In- Notwendig ist eine Verbesserung der Rahmenbedin- teresse eine Dienstleistung. Sie sollten ein leistungsge- gungen der Tagespflege insgesamt, speziell wünsche ich rechtes Entgelt nach Steuern erhalten. Die Höhe der Ent- mir erst einmal eine einheitliche Bewertung der Beschäf- gelte muss vergleichbar sein. tigungssituation der Tagesmütter. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir heute die Möglichkeit haben, uns in Die im Entgelt enthaltenen Beträge zur Sozialversi- ersten Lesung mit dem Bereich der Tagespflege zu be- cherung müssen in jedem Fall so hoch sein, dass damit schäftigen. eine eigenständige Absicherung gewährleistet ist. Es ist Obgleich die Kindertagespflege in § 23 SGB VIII als zu klären, inwieweit Beiträge in die gesetzliche Renten- gleichrangiges Angebot der Kindertagesbetreuung neben versicherung oder in eine private Versicherung zu zahlen institutioneilen Angeboten verankert ist und diese zum sind. Frau Lenke hat in ihrem Antrag sehr ausführlich Teil auch öffentlich vermittelt und gefördert wird, be- auf die unzureichende Rechtslage hingewiesen, sodass steht ein großer Teil der Tagespflege aus privat organi- ich an dieser Stelle nur darauf verweisen möchte. sierten Betreuungsverhältnissen. Aber ich möchte im Folgenden auf einige andere Vor diesem Hintergrund ist die Situation bezüglich Punkte eingehen, die ebenso einer Regelung bedürfen. der Mindeststandards in der Tagespflege sowie die Bera- Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch deutlich ma- tung über Tagespflege sowohl für Tagesmütter und -vä- chen, dass die Neuregelungen nur in Zusammenarbeit ter als auch für betroffene Familien teilweise unbefriedi- von Bund, Ländern und Kommunen bzw. kommunalen gend. Spitzenverbänden erfolgen können und müssen, denn gerade die desolate finanzielle Situation unserer Kom- Eine Qualifizierung von Tagespflegepersonen ist bis- munen ist uns bewusst. Deshalb sollten wir auch hier an lang nicht obligatorisch, sondern wird lediglich empfoh- dem Konnexitätsprinzip festhalten: Wer bestellt, muss len. Außerdem gelten die Rahmenbedingungen für Ta- auch bezahlen!! gesmütter und -väter beispielsweise in Bezug auf Sozialversicherung und Besteuerung in mancher Hin- Im Folgenden weitere Eckpunkte: sicht als zu kompliziert, uneinheitlich und zu bürokra- tisch. Mindeststandards. Zur Sicherstellung bundeseinheit- licher Mindeststandards bei den Tagespflegepersonen Dies ist leider so: Die Situation der Tagespflege ist wird eine verbindliche Grundqualifizierung empfohlen. durch die bundesweit unterschiedlichen Regelungen in Diese könnte sich beispielsweise an den Empfehlungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7357

(A) des DJI oder des Curriculums des Bundesverbandes Ta- Vorneweg möchte ich jedoch bereits sagen: Die Ta- (C) gesmütter orientieren. gespflege spielt eine wesentliche Rolle bei der Schaf- fung einer besseren Kinderbetreuungsstruktur. Daran ha- Zur Zuverlässigkeit. Um die Zuverlässigkeit des Be- ben wir keinen Zweifel gelassen. Auch und gerade das treuungsangebotes im Sinne einer verbesserten Qualifi- Familienministerium hat diesen Aspekt betont und in zierung, Beratung, Vermittlung und Praxisbegleitung zu seinen Planungen entsprechend berücksichtigt. gewährleisten, sind die strukturellen Rahmenbedingun- gen zu schaffen. Dies könnte zum Beispiel in Form von Völlig klar ist aber auch: Das Kinderbetreuungssys- Tagespflegestützpunkten erfolgen, wie sie in dem in die- tem muss insgesamt ausgeweitet und, wo nötig, verbes- sem Jahr gestarteten bayerischen Modell „Modellprojekt sert werden. Die rot-grüne Koalition ist hier auf dem zur Förderung der qualifizierten Tagespflege“ vorgese- richtigen Weg. Es macht derzeit keinen Sinn, Einzelas- hen sind. Tagespflegestützpunkte, die mit mindestens ei- pekte isoliert herauszugreifen und den Gesamtkomplex ner sozialpädagogischen Fachkraft und Verwaltungs- dabei aus dem Auge zu verlieren. Wir benötigen ein Ge- kräften besetzt sind, können entweder am Jugendamt, samtkonzept, an dem alle politischen Ebenen und alle aber auch an einem Kindergarten, einer Kinderkrippe Akteure gemeinsam arbeiten. Genau daran arbeitet die oder einem Mütterzentrum errichtet werden. Sie sollen Bundesregierung. Münden wird das dann in einen Be- die Gewinnung, Qualifizierung und Beratung der Tages- treuungsgipfel, der eine klare Richtung für den Ausbau pflegekräfte sicherstellen sowie die Vermittlung der Ta- der Kindertagesbetreuung in den kommenden Jahren be- gespflegekräfte übernehmen. Bei Bedarf können sie die siegeln soll. aushilfsweise Mitbetreuung durch eine andere Tages- mutter organisieren, gegebenenfalls die Kinder im Er- Bei der FDP ist von einem solchen Gesamtkonzept je- satzdienst betreuen sowie Verwaltungsaufgaben über- doch nichts zu erkennen. Als Oppositionspartei mag man ihr das noch durchgehen lassen. Verantwortliches nehmen. Regierungshandeln verlangt aber einiges mehr. Ein Zur Begrifflichkeit „Tagespflege“. Gemäß den Emp- Blick nach Hamburg zeigt, wie es um die liberale Kom- fehlungen des Städtetages Nordrhein-Westfalen sollte in petenz bei Betreuung, Erziehung und Bildung bestellt diesem Zusammenhang über eine neue Begrifflichkeit, ist. Die dort zuständige FDP hat das Hamburger Kita- „Tagesbetreuung in Familien“ nachgedacht werden. Der System sehenden Auges an die Wand fahren lassen. Und Begriff „Tagespflege“ beinhaltet mehr die Pflege als die das ist nicht mal soeben über Nacht gekommen. Die Ent- Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern. Lang- wicklung hatte sich schon lange abgezeichnet. FDP und fristiges Ziel sollte die Anerkennung der Kinderbetreu- die gesamte Senatsregierung waren dem fachlich nicht ung in Tagespflege als neues Berufsfeld werden. gewachsen. Ein solches Desaster ist wohl beispiellos in Deutschland. Und das Schlimme daran ist das müssen (B) Als letzten Punkt möchte ich kurz auf das Thema Eu- zahllose Hamburger Kinder und ihre Eltern ausbaden. (D) ropa eingehen. Tagespflege ist europaweit eine alternati- Und dabei brauchten gerade Familien verlässliche Rah- ves und ergänzendes Kinderbetreuungsangebot. Im Rah- menbedingungen. men des Zusammenwachsens der Europäischen Union sollten daher die Qualitätsmerkmale für die strukturelle Dennoch will ich Ihren guten Willen anerkennen, und inhaltlich-fachliche Umsetzung der Kinderbetreu- dass wir in Deutschland ein gutes, ein hochklassiges ung in Tagespflege in einer EU-Richtlinie verankert wer- System der Kindertagesbetreuung etablieren können. den. Unsere Nachbarländer demonstrieren, dass das durchaus zu machen ist. Und wir sehen bei ihnen auch, wie sehr Die Tagesbetreuung von Kindern ist ein entscheiden- sie davon profitieren. Deshalb mein Appell an die FDP der Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. im Bund, besonders aber in den Ländern: Beteiligen Sie Ihre Stärken und Vorzüge sollten weiter ausgebaut und sich an unserem Ausbauprojekt. Selbstverständlich gefördert werden. Nur so haben Eltern die Wahl zwi- werden wir ihre Anregungen prüfen. Im Bereich der Ta- schen verschiedenen Betreuungsangeboten, die in Quali- gespflege gibt es natürlich Raum für Verbesserungen. tät und Kosten vergleichbar sind. Ich denke da beispielsweise an das Qualitätsmanage- ment. Hier gibt es gute Verbesserungsansätze. Die Ta- Die Bundesministerin hat in den vergangenen Tagen gespflege muss mit Nachdruck aus der Grauzone heraus- die große Bedeutung der Tagespflege für den Ausbau der geholt werden. Sie hat besondere Vorzüge, die ihr auch Kinderbetreuung hervorgehoben und für den Aufbau ei- zukünftig einen wichtigen Stellenwert einräumen. nes bedarfsgerechten Betreuungsnetzes und einer besse- ren Infrastruktur für die Tagespflege plädiert. Ziel müsse Hier muss aber ein schlüssiges Gesamtkonzept umge- es sein, die Tagespflege zu einem gleichwertigen Ange- setzt werden. Das ist eine große Herausforderung für uns bot für Kinder unter drei Jahren auszubauen. Dem kann alle. Wenn wir unsere Gesellschaft innovativ umgestal- ich nur zustimmen, und bei dieser großen Übereinstim- ten wollen, müssen wir auch diese Aufgabe lösen. Wir mung freue ich mich auf die anstehenden Beratungen. schaffen damit mehr Chancengerechtigkeit für unsere Kinder. Wir führen sie an Bildung heran, sodass sie ihr Leben im 21. Jahrhundert meistern können. Wir ermög- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die lichen eine Balance zwischen Familie und Beruf, die Schaffung einer hochwertigen und bedarfsgerechten sich schon heute so viele Eltern – vor allem Mütter – Kindertagesbetreuung ist eine zentrale Aufgabe für die- herbeisehnen. Und wir entkommen so vielleicht der ses Jahrzehnt. Daran führt kein Weg vorbei, und zwar demographischen Falle, in der wir fast schon gefangen aus ganz unterschiedlichen Gründen. sind. 7358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003

(A) Anlage 4 – Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgeset- (C) zes Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 794. Sitzung am 28. No- – Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Verkehrs- vember 2003 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen statistik zuzustimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- – Zwölftes Gesetz zur Änderung des Luftverkehrs- mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen: gesetzes – Drittes Gesetz zur Änderung des Saatgutver- – Gesetz zu dem Vertrag vom 5. März 2002 zwichen kehrsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Schwei- zerischen Eidgenossenschaft über den Verlauf der – Gesetz zur Neuordnung der Sicherheit von tech- Staatsgrenze in den Grenzabschnitten Bargen/ nischen Arbeitsmitteln und Verbraucherproduk- Blumberg, Barzheim/Hilzingen, Dörflingen/Bü- ten singen, Hüntwangen/Hohentengen und Waster- – Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Entschädi- kingen/Hohentengen gungsgesetzes und anderer Vorschriften (Entschädi- gungsrechtsänderungsgesetz – EntschRÄndG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Januar 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik – Zweites Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschrif- Deutschland und der Regierung der Sonderver- ten (Steueränderungsgesetz 2003 – StÄndG 2003) waltungsregion Hongkong der Volksrepublik – Gesetz zur Modernisierung des Investmentwesens China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Besteuerung von Investmentvermögen (In- von Schifffahrtsunternehmen auf dem Gebiet der vestmentmodernisierungsgesetz) Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Be- – Gesetz zu dem Protokoll vom 28. November 2002 stimmungen zur Sanierung und Liquidation von zur Änderung des Europol-Übereinkommens und Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten des Protokolls über die Vorrechte und Immunitä- – Gesetz zur Umsetzung familienrechtlicher Ent- ten für Europol, die Mitglieder der Organe, die scheidungen des Bundesverfassungsgerichts stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 17. Oktober 2000 über die Anwendung des Artikel 65 des (B) – Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen (D) Übereinkommens über die Erteilung europäi- der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1999 scher Patente zur Bekämpfung der Finanzierung des Terroris- – Gesetz zur Änderung des Gesetzes über interna- mus tionale Patentübereinkommen – Gesetz zu dem Zusatzprotokoll Nr. 7 vom 27. No- – Siebtes Gesetz zur Änderung des Bundesverfas- vember 2002 zu der Revidierten Rheinschiff- sungsgerichtsgesetzes fahrtsakte vom 17. Oktober 1868

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