Plenarprotokoll 15/37

Deutscher

Stenografischer Bericht

37. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Tagesordnungspunkt 4: des Abgeordneten Detlef Dzembritzki . . . . . 2995 A a) Antrag der Abgeordneten Katherina Erweiterung der Tagesordnung ...... 2995 A Reiche, , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Absetzung der Tagesordnungspunkte 13 und CSU: Reformen in der beruflichen 18 a ...... 2996 A Bildung vorantreiben – Lehrstellen- Begrüßung der neuen Abgeordneten mangel bekämpfen ...... 3001 C (Drucksache 15/653) ...... 3030 D b) Antrag der Abgeordneten , (Hom- Tagesordnungspunkt 3: burg), weiterer Abgeordneter und der Abgabe einer Erklärung durch den Bun- Fraktion der FDP: Für die Stärkung deskanzler zur internationalen Lage und der dualen Berufsausbildung in zu den Ergebnissen des Eur opäischen Deutschland – mehr Chancen durch Rates in Brüssel am 20./21. März 2003 2996 B Flexibilisierung und einen indivi- duellen Ausbildungspass Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 2996 B (Drucksache 15/587) ...... 3031 A Dr. CDU/CSU ...... 3001 C in Verbindung mit SPD ...... 3006 D Dr. FDP ...... 3008 C Zusatztagesordnungspunkt 2: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3011 D Antrag der Abgeordneten Karl-Josef CDU/CSU ...... 3015 B Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: SPD ...... 3018 B Ausbildungsbereitschaft der Betriebe CDU/CSU ...... 3020 A stärken – Verteuerung der Ausbildung verhindern (Augsburg) BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/739) ...... 3031 A DIE GRÜNEN ...... 3022 B Heidemarie Wieczorek-Zeul, in Verbindung mit Bundesministerin BMZ ...... 3024 C Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 3025 B Zusatztagesordnungspunkt 3: fraktionslos ...... 3026 D Antrag der Abgeordneten W illi Brase, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Günter Gloser SPD ...... 3027 D Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jörg Vogelsänger SPD ...... 3029 D Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiterer II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Abgeordneter und der Fraktion des CDU/CSU: Benachteiligung von BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offen- Frauen wirksam bekämpfen – Kon- sive für Ausbildung – Modernisierung sequenzen ziehen aus dem CEDAW- der beruflichen Bildung Bericht der Bundesregierung (Drucksache 15/741) ...... 3031 A (Drucksache 15/740) ...... 3055 A , Bundesministerin b) Antrag der Abgeordneten Lothar BMBF ...... 3031 B Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU ...... 3033 B der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 3034 C Hans-Christian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und CDU/CSU ...... 3035 C der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3037 C DIE GRÜNEN: Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien Cornelia Pieper FDP ...... 3038 C (Drucksache 15/742) ...... 3055 B SPD ...... 3040 B Jörg Tauss SPD ...... 3040 C Tagesordnungspunkt 18: Cornelia Pieper FDP ...... 3041 B b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 3042 D schusses: Übersicht 2 über die dem Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ Deutschen Bundestag zugeleiteten DIE GRÜNEN ...... 3044 D Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht Jörg Tauss SPD ...... 3045 D (Drucksache 15/656) ...... 3055 C Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 3046 A CDU/CSU ...... 3046 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung des Ausschusses DIE GRÜNEN ...... 3048 A nach Art. 77 des Grundgesetzes (V er- Hans-Werner Bertl SPD ...... 3049 A mittlungsausschuss) zu dem Ersten Ge- setz zur Änderung des Gesetzes zur Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 3050 C Neuregelung des Energiewirtschafts- Michael Kretschmer CDU/CSU ...... 3051 B rechts (Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, Dr. SPD ...... 3052 D 15/712) ...... 3055 C Cornelia Pieper FDP ...... 3053 D Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 17: Unterrichtung durch den W ehrbeauftrag- a) Erste Beratung des von der Bundesre- ten: Jahresbericht 2002 (44. Bericht) gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 15/500) ...... 3055 D Gesetzes zu dem Abkommen vom Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter 31. Juli 2001 zwischen der Regie- des Deutschen Bundestages ...... 3056 A rung der Bundesr epublik Deutsch- land und der Regierung des König- Anita Schäfer (Saalstadt) CDU/CSU ...... 3058 A reiches Thailand über den , Parl. Staatssekretär BMVg 3060 C Seeverkehr (Drucksache 15/716) ...... 3055 A Helga Daub FDP ...... 3062 B b) Erste Beratung des von der Bundesre- BÜNDNIS 90/ gierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN ...... 3063 D Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes Petra Pau fraktionslos ...... 3065 B (Drucksache 15/510) ...... 3055 A Karin Evers-Meyer SPD ...... 3066 A Ursula Lietz CDU/CSU ...... 3067 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Rolf Kramer SPD ...... 3068 D a) Antrag der Abgeordneten Maria Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . 3070 A Eichhorn, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ulrike Merten SPD ...... 3071 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 III

Tagesordnungspunkt 6: Tagesordnungspunkt 9: a) Zweite und dritte Beratung des von Unterrichtung durch die Bundesregierung: den Abgeordneten Dr . Michael Sondergutachten des Rates von Sach- Meister, , weiteren Ab- verständigen für Umweltfragen – Für geordneten und der Fraktion der CDU/ eine Stärkung und Neuorientierung des CSU eingebrachten Entwurfs eines Naturschutzes Gesetzes zur Aufhebung des Vermö- (Drucksache 14/9852) ...... 3099 C gensteuergesetzes Astrid Klug SPD ...... 3099 C (Drucksachen 15/196, 15/436) ...... 3072 D Dr. CDU/CSU ...... 3101 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 3103 A zur Aufhebung des Vermögensteuer- Angelika Brunkhorst FDP ...... 3104 C gesetzes (Drucksache 15/408) ...... 3073 A Gabriele Lösekrug-Möller SPD ...... 3105 D SPD ...... 3073 A Josef Göppel CDU/CSU ...... 3107 C Dr. CDU/CSU ...... 3075 B Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3078 B Tagesordnungspunkt 10: Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 3079 D Antrag der Abgeordneten Henry Nitzsche, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Stadtent- Tagesordnungspunkt 7: wicklung Ost – Mehr Effizienz und Fle- xibilität, weniger Regulierung und Bü- Unterrichtung durch die Bundesregierung: rokratie Waldzustandsbericht 2002 – Ergebnisse (Drucksache 15/352) ...... 3108 D des forstlichen Umweltmonitorings – (Drucksache 15/270) ...... 3080 D in Verbindung mit Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BMVEL ...... 3081 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Cajus Caesar CDU/CSU ...... 3081 D Antrag der Abgeordneten Joachim BÜNDNIS 90/ Günther (Plauen), (Bay- DIE GRÜNEN ...... 3083 D reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau Ost – ein Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 3084 D wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 3085 C (Drucksache 15/750) ...... 3109 A Henry Nitzsche CDU/CSU ...... 3109 A Tagesordnungspunkt 8: Ernst Kranz SPD ...... 3111 A Antrag der Abgeordneten , Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 3113 D Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordne- Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion der FDP: Reform des DIE GRÜNEN ...... 3114 D Kündigungsschutzgesetzes zur Schaf- fung von me hr Arbeitsplätzen – V or- CDU/CSU ...... 3116 A schlag des Sachverständigenrates jetzt Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin aufgreifen BMVBW ...... 3117 B (Drucksache 15/430) ...... 3086 D Dirk Niebel FDP ...... 3086 D Tagesordnungspunkt 11: Wilfried Schreck SPD ...... 3088 C Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. CDU/CSU ...... 3091 A Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 3093 A menarbeit und Entwicklung Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 3094 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 3095 A Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gegen Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU ...... 3095 C Terror, Völkermord und Hunger- SPD ...... 3097 A katastrophe in Simbabwe, um IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Destabilisierung des südlichen Af- Thomas Rachel CDU/CSU ...... 3130 C rikas zu vermeiden Jörg Tauss SPD ...... 3131 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Wimmer (Karlsruhe), W alter Riester, weiterer Abgeordneter und der Nächste Sitzung ...... 3132 C Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und Anlage 1 der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3133 A DIE GRÜNEN: Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter bekämpfen – In- ternationalen Druck auf die Regie- rung Simbabwes aufrechterhalten Anlage 2 – zu dem Antrag der Abgeordneten Anwendung des Grundsatzes der Bundes- Markus Löning, Ulrich Heinrich, wei- anstalt für Arbeit für Fort- und W eiterbil- dungsmaßnahmen „Erst platzieren, dann qua- terer Abgeordneter und der Fraktion lifizieren“; Zuordnung der Arbeitssuchenden der FDP: Gemeinsame europäisch- zu Personal-Service-Agenturen, Begleitung afrikanische Initiative zur Lösung der Übernahme durch Fort- und W eiterbil- der Krise in Simbabwe starten dungsmaßnahmen (Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, MdlAnfr 39, 40 (36. Sitzung) 15/613) ...... 3118 D Ulrich Petzold CDU/CSU Siegmund Ehrmann SPD ...... 3119 B Antw PStSekr Rezzo Schlauch BMWA . . . . . 3133 B Rudolf Kraus CDU/CSU ...... 3120 D Markus Löning FDP ...... 3122 A Anlage 3 Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Kritik des BRH an der Stellenbewirtschaftung DIE GRÜNEN ...... 3122 C des BMVEL (Lübeck) CDU/CSU ...... 3123 C MdlAnfr 45 (36. Sitzung) Albert Deß CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL 3134 A Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abge- Anlage 4 ordneter und der Fraktion der FDP: Maßnahmen gegen Preisdumping im Lebens- Die Europäische Spallations-Neutro- mittelhandel; Erlass gesetzlicher Vorschriften nenquelle (ESS) in Deutschland för- dern MdlAnfr 46, 47 (36. Sitzung) (Drucksache 15/472) ...... 3124 D CDU/CSU b) Antrag der Abgeordneten Katherina Antw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL 3134 A Reiche, Thomas Rachel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Sachgerechte Planungsent- Anlage 5 scheidungen zum Bau einer Europäi- schen Spallations-Neutronenquelle Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung ermöglichen über die Anträge (Drucksache 15/654) ...... 3124 D – Die Europäische Spallations-Neutronen- Cornelia Pieper FDP ...... 3125 A quelle (ESS) in Deutschland fördern Ulrich Kasparick SPD ...... 3126 A – Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spallations- Cornelia Pieper FDP ...... 3126 D Neutronenquelle ermöglichen Dr. CDU/CSU ...... 3127 B (Tagesordnungspunkt 12 a und b) ...... 3135 C SPD ...... 3128 D Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3135 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 2995

(A) (C) Redetext

37. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeord- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neter und der Fraktion der CDU/CSU: Benachteiligung Sitzung ist eröffnet. von Frauen wirksam bekämpfen – Konsequenzen zie- hen aus dem CEDA W-Bericht der Bundesr egierung Der Kollege Detlef Dzembritzki feierte am 23. März – Drucksache 15/740 – seinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch nach- Überweisungsvorschlag: träglich im Namen des ganzen Hauses! Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss (Beifall) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Entwicklung (B) 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark, (D) Haltung der Bundesregierung zu einem drohenden zusätz- Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, weiterer lichen Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro durch Ar- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- beitslosigkeit und Steuerausfälle ordneten Hans-Christian Ströbele, Dr. Ludger V olmer, (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wiederbele- Dagmar Wöhrl, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter bung des Friedensprozesses in Kolumbien – Drucksa- und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaft che 15/742 – der Betriebe stärken – V erteuerung der Ausbildung ver- hindern – Drucksache 15/739 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er gän- Technikfolgenabschätzung zung zu T OP 18): Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschuss Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (V ermittlungs- ausschuss) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Geset- 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jör g zes zur Neur egelung des Energiewirtschaftsr echts Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 – der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr . Thea Dückert, , weiterer Abgeordneter und der Berichterstattung: Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offensive Abgeordneter für Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther – Drucksache 15/741 – (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, weite- Überweisungsvorschlag: rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau Ausschuss für Bildung, Forschung und Ost – ein wichti ger Beitrag zum Aufbau Ost– Drucksa- Technikfolgenabschätzung (f) che 15/750 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Finanzausschuss Landwirtschaft Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung 7 Beratung des Antrags der Ab geordneten Thomas Dörflinger, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Hans-Peter Repnik, weite- 4 Weitere Überweisungen im ver einfachten Verfahren (Er- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rechts- gänzung zu TOP 17) verordnung nach der Luftverkehrsordnung umgehend 2996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) erlassen – Rückübertragung der Flugsicherung über süd- und – wo dies unabdingbar ist – auch durch polizeiliche (C) deutschem Gebiet – Drucksache 15/651 – und militärische Mittel. Schließlich setzen wir in den in- Überweisungsvorschlag: ternationalen Konflikten auf das Gewaltmonopol der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Vereinten Nationen. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union DIE GRÜNEN) 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Rehbock- Das ist die Grundlage, auf der Deutschland seine Ver- Zureich, Reinhard Weis (Stendal), Sören Bartol, weiterer Ab- antwortung wahrgenommen hat, und zwar in der Euro- geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten päischen Union und in der internationalen Allianz gegen , Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ den Terror, zum Beispiel in Afghanistan und auch auf DIE GRÜNEN: Entlastung des süddeutschen Raumes vom dem Balkan. Erst zu Beginn dieser Woche hat die Euro- Fluglärm des Flughafens Zürich dur chsetzen– Druck- päische Union mit der Mission „Concordia“ den Frie- sache 15/744 – denseinsatz in Mazedonien von der NA TO übernom- Überweisungsvorschlag: men. Das ist an sich betrachtet gewiss keine große Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Mission. Vielmehr ähnelt sie eher einer Polizeiaktion. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Gleichwohl kommt es darauf an, zu erkennen, dass da- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit ein Weg beschritten worden ist, der wichtig und rich- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union tig ist und der weitergegangen werden muss. 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bir git Homburger, , Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion der FDP: Lärmschutz durch DIE GRÜNEN) Rechtsverordnung über süddeutschem Raum sichern – Flugsicherheit gewährleisten – Drucksache 15/755 – Ich halte es für besonders bemerkenswert, dass die Überweisungsvorschlag: Europäische Union gerade in Mazedonien auch ihre mi- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) litärische Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringt. Auswärtiger Ausschuss Denn wir erinnern uns: Es war in Mazedonien, wo es uns Rechtsausschuss zusammen mit unseren Partnern gelungen ist, einen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schwelenden Konflikt einzudämmen und damit einem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union drohenden Bürgerkrieg entgegenzutreten bzw . ihn gar Darüber hinaus wurde vereinbart, die Tagesordnungs- nicht erst ausbrechen zu lassen. punkte 13 – Terrorismusbekämpfung – und 18 a – Mel- derechtsrahmengesetz – abzusetzen. Sind Sie damit ein- Das Beispiel Mazedonien – deswegen ist es so enorm (B) verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so wichtig – steht für eine europäische Sicherheitspolitik, (D) beschlossen. die auch militärische Mittel vorhält, um Kriege zu ver- hindern. Ich denke, das ist die Orientierung, die für uns Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: alle auch in der Zukunft wichtig ist. Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) zur internationalen Lage und zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Brüssel am 20./21. März Unsere Verantwortung haben wir im Weltsicherheits- 2003 rat nachdrücklich wahrgenommen. Bis zum letzten Au- genblick haben wir gemeinsam mit der Mehrheit der Mit- Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für glieder des Sicherheitsrates, mit Frankreich, Russland die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- und China, aber auch mit Staaten wie Mexiko und Chile rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat alle Anstrengungen unternommen, um den Irakkonflikt der Bundeskanzler, Gerhard Schröder. im Rahmen der Vereinten Nationen, das heißt mit friedli- chen Mitteln, zu lösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Wir waren und sind deshalb überzeugt, dass es eine Al- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ternative zum Krieg gegeben hätte, Herren! In ihrer Verantwortung für Frieden und Sicher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heit hat sich die Bundesregierung stets von folgenden DIE GRÜNEN) Grundsätzen leiten lassen: Wir treten für die Herrschaft und die Durchsetzung des Rechts ein. W ir stehen für eine Alternative, die schlicht heißt: Entwaf fnung des Friedenspolitik durch Krisenprävention und kooperative Iraks mit friedlichen Mitteln unter dauerhafter internati- Konfliktlösung. Wir verfolgen das Ziel umfassender Si- onaler Kontrolle. Dass dieser Weg nicht zu Ende ge- cherheit: durch multilaterale Zusammenarbeit, durch gangen worden ist, halten wir nach wie vor für falsch. Schutz vor Risiken und Bekämpfung der Ursachen von Aber es stimmt: W ir haben diesen Krieg nicht verhin- Gewalt, durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklung dern können. Unabhängig von der inneren Einstellung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 2997

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) dazu, denke ich, kann ich im Namen des ganzen Hauses scher Soldaten aus den A WACS-Flugzeugen zur Folge (C) sagen: Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei haben müsste. den Opfern des Krieges und ihren Angehörigen, und zwar bei den zivilen Opfern ebenso wie bei den Solda- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten. Wir alle hoffen, dass eine möglichst rasche Beendi- DIE GRÜNEN) gung des Krieges die Zahl der Opfer so gering wie mög- Die Türkei hat wiederholt versichert, dass sie gegen- lich hält. Wir wünschen, dass das irakische Volk durch wärtig keine Truppenstationierungen und keine Verände- die Überwindung der Diktatur seine Hof fnung auf ein rungen des Status quo im Nordirak beabsichtigt, die über Leben in Frieden, in Freiheit und in Selbstbestimmung humanitäre Sicherungsaufgaben hinausgehen. Wir haben so rasch wie möglich verwirklichen kann. keine Veranlassung, an dem Wort der türkischen Regie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung zu zweifeln. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort CDU/CSU und der FDP) zu einer Diskussion sagen, die im Kontext mit dem Be- schluss des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden Natürlich ist das, womit wir uns zu beschäftigen ha- hat und weiterhin stattfinden wird; ich meine die Debatte ben, eine internationale Krise, mit der große Schwierig- darüber, ob wir ein Entsendegesetz brauchen oder nicht. keiten verbunden sind. Aber jede Krise bietet auch eine Ich denke – ich habe meine Auf fassung öffentlich geäu- Chance. Wenn wir Entwicklungen, wie sie zu diesem ßert –, wir sollten diese Debatte mit allem Ernst führen. Krieg geführt haben, zukünftig verhindern wollen, dann Die richtige Zeit dafür wird nach der Beendigung des müssen wir die Mechanismen der Durchsetzung unserer Krieges sein. Politik deutlich verbessern. Das ist ein Auftrag, der sich insbesondere an unser gemeinsames Europa richtet. W ir Ich will ganz klar sagen, dass jedenfalls meine Bun- haben in Europa Krieg und Rivalität überwinden kön- desregierung nicht beabsichtigt, aus – ich verweise auf nen. Aus exakt dieser Erfahrung heraus langfristige Per- die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – ei- spektiven für eine W elt der Sicherheit und der Zusam- nem Parlamentsheer eine Regierungsarmee zu machen. menarbeit zu entwickeln, aber auch zu verwirklichen, Ich wiederhole: Das ist nicht unsere Absicht. W ir müss- das begreifen wir als unsere deutsche ebenso wie unsere ten darüber reden – das geht alle Fraktionen in diesem europäische Verpflichtung. Hohen Hause an –, ob wir – bei aller Bestätigung des Letztentscheidungsrechts des Parlamentes, in welcher Die Bundesregierung hat vor diesem Hinter grund Form auch immer – in bestimmten Fällen nicht mehr schon frühzeitig und aus einer Vielzahl von Gründen er- Flexibilität für Regierungshandeln brauchen. Meine klärt: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg. Bitte wäre: Lassen Sie uns prüfen, ob wir miteinander in (B) Dabei bleibt es. (D) diesem Hohen Hause eine Regelung finden können, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Gedanken gerecht wird. Ich jedenfalls bin dazu DIE GRÜNEN) bereit. Eine solche Regelung wäre auch ein Stück W ie- dereinsetzung von Politik in Bereichen, wo sonst gele- Das heißt, dass sich deutsche Soldaten an Kampfhand- gentlich Gerichte tätig werden. Wenn man es verhindern lungen im oder gegen den Irak nicht beteiligen werden. kann, dann muss das nicht immer sein. Klar ist aber auch – das ist deutlich geworden –: Deutschland steht unabhängig von dieser klaren Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE scheidung zu seinen Bündnisverpflichtungen. Wir dür- GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) fen nicht ver gessen – das darf auch in unserem Land Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung mit der nicht vergessen werden –, dass es sich bei jenen Staaten, Staatengemeinschaft in dem Ziel übereinstimmt, dass al- die jetzt Krieg gegen den Irak führen, um Bündnispart- les getan werden muss, um die Zahl der Opfer des Krieges ner und um befreundete Nationen handelt. Deshalb wer- so gering wie möglich zu halten. Ich denke, das ist für alle den wir die ihnen gegebenen Zusagen jenseits unserer in diesem Hohen Hause eine Selbstverständlichkeit. klaren Nichtbeteiligung auch einhalten. Das beinhaltet die Gewährung der Überflug- und Nutzungsrechte sowie Vorrangig geht es also darum, eine drohende humani- den Schutz der Basen in Deutschland ebenso wie jene täre Katastrophe im Irak zu verhindern. Die Bundesre- Maßnahmen, die wir zum Schutz der Türkei im Bündnis gierung unterstützt deshalb die Vereinten Nationen bei ergriffen haben. ihren Vorbereitungen, humanitäre Nothilfe zu leisten, wo immer das derzeit möglich ist. In der ver gangenen Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Be- Woche hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schluss vom 25. März dieses Jahres die Auf fassung der die Wiederaufnahme des Hilfsprogramms „Öl für Le- Bundesregierung bestätigt, dass es für die Beteiligung bensmittel“ einstimmig beschlossen. Das geschah übri- deutscher Soldaten an diesen A WACS-Aufklärungsflü- gens unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung. Ich will gen keines Bundestagsmandates bedarf. Gleichwohl hat sehr deutlich sagen: Die deutschen Diplomaten, allen die Bundesregierung – wie übrigens auch andere NATO- voran Herr Pleuger, die daran gearbeitet haben, verdie- Bündnispartner und die Europäische Union – die Türkei nen wirklich unser aller Respekt; denn sie haben eine vor den Folgen einer militärischen Intervention im Nord- gute Arbeit gemacht. irak gewarnt. Wir haben da rauf hingewiesen – wir be- kräftigen das –, dass, sollte die Türkei Kriegspartei wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den, eine solche Entwicklung jedenfalls den Abzug deut- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 2998 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) FDP und des Abg. Dr. [CDU/ Legitimationsgrundlagen erhalten sollte. Für die Schaf- (C) CSU] und des Abg. W illy Wimmer [Neuss] fung einer gerechten und demokratischen Nachkriegs- [CDU/CSU]) ordnung im Irak und der gesamten Region erscheinen mir dabei ein paar Folgerungen nötig zu sein: Die erzielte Einigung erlaubt es dem Generalsekretär der Vereinten Nationen für zunächst 45 T age, dasErstens. Die territoriale Integrität des Irak muss erhal- Hilfsprogramm in eigener Regie und in enger Abstim- ten bleiben. Seine Unabhängigkeit und seine politische mung mit den Verantwortlichen vor Ort weiterzuführen. Souveränität müssen vollständig wiederher gestellt wer- Die Bundesregierung erwartet, dass damit auch die be- den. reits vom Sanktionsausschuss der V ereinten Nationen Zweitens. Das irakische Volk muss über seine politi- gebilligten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Hilfs- sche Zukunft selbst bestimmen können. Die Rechte der gütern anderer Art die Empfänger auch wirklich errei- dort lebenden Minderheiten müssen gesichert werden. chen; denn das ist die wichtigste Aufgabe. Dies – darü- ber müssen wir uns im Klaren sein – wird jedoch bei Drittens. Entscheidend ist, dass die enormen Ressour- weitem nicht ausreichen, um die humanitäre Notlage, die cen des Landes – die Ölvorkommen und die anderen na- durch den Krieg hervorgerufen wird, zu bewältigen. türlichen Ressourcen – im Besitz und unter der Kontrolle des irakischen Volkes bleiben. Sie müssen ihm zugute Generalsekretär Kofi Annan hat die Mitgliedstaaten kommen und für nichts anderes als den W iederaufbau der Vereinten Nationen zu schneller und vor allen Din- verwendet werden. gen zu großzügiger Hilfe aufgerufen. Deutschland – ich bin froh darüber, dass auch in diesem Punkt prinzipiell (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einigkeit in diesem Hohen Hause besteht – ist bereit, DIE GRÜNEN) sich unter dem Dach der Vereinten Nationen mit zusätz- lichen Mitteln der humanitären Hilfe im Irak zu beteili- Viertens. Im Nahen und Mittleren Osten muss ein po- gen. Wir haben die Mittel für humanitäre Hilfe von litischer Stabilisierungsprozess in Gang kommen, der al- 40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt. len in der Region lebenden Völkern eine Perspektive für Aus den Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaft- ein Leben in Frieden und W ohlstand eröffnet. Dazu ge- liche Zusammenarbeit und Entwicklung werden weitere hört vor allem die Lösung des Nahostkonflikts im Rah- 10 Millionen Euro für die Flüchtlings- und für die Not- men einer stabilen Friedensordnung, die das Existenz- hilfe bereitgestellt. recht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürger ebenso garantiert, wie es den Palästinensern einen unab- Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle hängigen, lebensfähigen und demokratischen Staat er- spielen, wenn es darum geht, die Zukunft des Irak und möglicht. Zentrale Voraussetzung dafür ist die rasche (B) die politische Neuordnung des Landes nach dem Ende Veröffentlichung des vom so genannten Nahostquartett (D) des Krieges zu gestalten. erarbeiteten Friedensfahrplans und dessen Annahme durch alle Konfliktparteien. Ich betone, meine Damen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Herren: durch alle Konfliktparteien. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ So interessant es sein mag, schon jetzt über Einzelhei- DIE GRÜNEN) ten eines notwendigen Wiederaufbaus im Irak zu dis- kutieren und gelegentlich auch zu streiten – ich warne Dies bedeutet unmittelbar, dass die Gewalt wirksam ein- davor, sich bereits jetzt in Details zu verlieren und über gedämmt, Reformschritte in der palästinensischen sie zu spekulieren. W iederaufbau, meine Damen und Selbstverwaltung vorangetrieben und auch der israeli- Herren, ist weit mehr als die Reparatur von Gebäuden, sche Siedlungsbau gestoppt werden müssen. Ölquellen und zerstörter Infrastruktur. Ich habe von unserer V erantwortung gesprochen, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über den augenblicklichen Konflikt hinausweist und hi- DIE GRÜNEN) nausweisen muss. Auf seiner außerordentlichen T agung nach den Terroranschlägen auf New York und Washing- Wir werden nach innen wie nach außen deutlich ma- ton hat der Europäische Rat am 21. September 2001 un- chen müssen, dass ein wirklicher W iederaufbau der Ge- ter anderem beschlossen, die Gemeinsame Außen- und sellschaft nicht allein mit ein paar Unternehmenskonzes- Sicherheitspolitik weiter auszubauen und aus der euro- sionen zu erreichen ist. Schon deshalb wird es wichtig päischen Sicherheits- und V erteidigungspolitik umge- sein, unabhängig von der finanziellen Verantwortung die hend ein einsatzbereites Instrument zu machen. Niemand Unterstützung der gesamten internationalen Gemein- konnte in den letzten Wochen und Monaten die Schwie- schaft zu mobilisieren. Das geht nur im Rahmen und rigkeiten übersehen, die damit verbunden sind; das ist mithilfe der Vereinten Nationen; das muss in die Köpfe keine Frage. Aber darf es angesichts der Schwierigkeiten aller Beteiligten hinein. dazu kommen, dass das Ziel aufgegeben wird, das in die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Entscheidung definiert worden ist? Ich meine: ganz DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine klar nein. Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) Als Ziel haben die europäischen Staats- und Regie- Auch der Wiederaufbauprozess kann und darf nur unter rungschefs „die Integration aller Länder in ein gerechtes dem Dach der V ereinten Nationen or ganisiert werden. weltweites System für Sicherheit, geteilten W ohlstand Ich sehe nicht, wie er auf andere Weise die notwendigen und weitere Entwicklung“ genannt. An diesem Ziel gilt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 2999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) es festzuhalten. Jedenfalls für Deutschland kann ich sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) gen, dass wir uns diesem Ziel in den letzten Wochen und DIE GRÜNEN) Monaten in besonderer Weise verpflichtet gefühlt haben und davon auch nicht abgewichen sind. Würden wir dies in Europa schaffen – daran müssen wir arbeiten –, wäre es ein deutliches Zeichen auch für an- Aber wir müssen erkennen, dass es mit der Prokla- dere Akteure in der W elt, vor allem aber ein deutliches mation von Zielen nicht getan ist. Weltweite und grenz- Zeichen für potenzielle Abnehmer. überschreitende Risiken nehmen eher zu, als dass sie abnehmen. Die Entwicklung und Verbreitung vonMas- Wir wissen, dass wir den Problemen der Proliferation senvernichtungswaffen haben ein höheres Ausmaß an- jedoch nicht allein mit moralischen Ar gumenten bei- genommen als selbst zu den Zeiten des Kalten Krieges. kommen, so wesentlich sie in diesem Zusammenhang Diesen Risiken können wir eben nicht punktuell begeg- auch sind. Vielmehr brauchen wir eine umfassende mul- nen; vielmehr können wir ihnen nur multilateral begeg- tilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerech- nen. tigkeit in der Welt, auch beim Freihandel, beim Klima- schutz oder bei der T errorismusbekämpfung. Ich sage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausdrücklich und unterstreiche dies als unsere, die deut- DIE GRÜNEN) sche Position: Der Multilateralismus ist eben nicht am Ende, meine Damen und Herren, im Gegenteil. Wollte man auf Dauer anders verfahren, würde dies die Legitimationsgrundlagen vieler demokratischen Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaften in schwerster W eise beeinträchtigen, wenn DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr . Gesine nicht sogar auf Dauer zerstören. Dies muss man sehen, Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau wenn man über die internationale Situation diskutiert. [fraktionslos]) Wir können diesen Risiken also nur multilateral be- Wir müssen in geduldigen Debatten mit unseren Part- gegnen, indem wir uns dem Thema Sicherheit umfas- nern im Bündnis und außerh alb klar machen: Die Pro- send nähern, als Sicherheit im politischen, im sozialen, bleme des 21. Jahrhunderts sind so komplex und so um- ebenso im militärischen – keine Frage –, aber eben auch fassend, dass sie nur multilateral gelöst werden können. im kulturellen und ökologischen Sinne. Gleichzeitig müssen wir davon abkommen, auf die Bedrohung etwa Deutschlands Platz bei der Durchsetzung von Frieden durch Massenvernichtungswaffen stets nur punktuell zu und Sicherheit ist in der Staatengemeinschaft, ist in un- reagieren. seren Bündnissen und ist vor allen Dingen in Europa. Die Vereinten Nationen sind nicht, wie man gelegentlich Der Konflikt um den Irak und sein mögliches Waffen- (B) lesen und hören kann, irrelevant geworden. Nein, das (D) potenzial muss der Staatengemeinschaft eine wirkliche Gegenteil ist wahr. Sie werden nach den kriegerischen Lehre sein, neue Ansätze zur Stärkung multilateraler Re- Auseinandersetzungen bei der humanitären Hilfe und gelungen, zur Nichtverbreitung und zur Rüstungskon- beim Wiederaufbau im Irak – wir alle werden das erle- trolle und zu dazugehörenden Verifikationsmechanismen ben – eine wichtige, eine dominierende Rolle spielen zu entwickeln. müssen und spielen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Übrigens mit Bezug auf ein sehr sensibles Thema Deshalb ist es unsere Politik, die Vereinten Nationen sage ich dann genauso klar: Niemand darf sich bei der auch durch weitere und durchgreifende Reformen zu Verbreitung von Material, das zur Herstellung von Mas- stärken und sie dadurch in den Stand zu setzen, in den senvernichtungswaffen taugt, damit herausreden kön- internationalen Konflikten eine noch bedeutendere Rolle nen: Wenn wir nicht liefern, tun es andere. – Das ist zu spielen. keine Logik, die dem abhilft. Wir stehen zu unserem Engagement im transatlanti- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Bündnis und wir haben das deutlich werden lassen. DIE GRÜNEN) Die NATO hat als Bündnis gemeinsamer V erteidigung Wir brauchen umgehend eine weitergehende Vereinheit- und gegenseitigen Beistandes eben nicht ausgedient. Es lichung des Ausfuhrsystems innerhalb der Europäischen gilt aber, dieses Bündnis den neuen Bedrohungen und Union. Konfliktstellungen in der W elt anzupassen, womöglich stärker, als wir das in der Vergangenheit getan haben. In (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des jedem Fall muss die NATO wieder zu einem Ort intensi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verer gegenseitiger Konsultation, gemeinsamer Analyse Sie wissen, dass Deutschland mit diesen Ausfuhren und und gemeinsamer Prävention werden. mit allen, die mit W affen zu tun haben, in besonderer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weise restriktiv umgeht. Das ist gelegentlich, übrigens DIE GRÜNEN) auch intern, kritisiert worden, aber ich halte dies für den richtigen Weg, wenn man wirklich zu einem umfassen- Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich das den Abrüstungsregime kommen will und Zustände wie auch. Das verträgt sich nicht – damit das klar ist – mit die, die uns jetzt beschäftigen, auf Dauer vermeiden will. der Hand an der Hosennaht. 3000 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ment dafür sein, den Beitritt sprozess zu verzögern oder (C) DIE GRÜNEN – [CDU/ gar länger aufzuschieben. CSU]: Das ist billig!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn wir aber wollen, dass auch innerhalb der NATO DIE GRÜNEN) unsere Interessen und V orschläge mehr Gehör finden, dann müssen wir in erster Linie Europa dazu in die Vor diesem Hintergrund habe ich gemeinsam mit Prä- Lage versetzen, und zwar als ein Europa, das mehr und sident Chirac dem Europäischen Konvent vor geschla- mehr mit einer Stimme spricht. Dabei werden wir auf gen, das Amt eines europäischen Außenministers zu Dauer nicht zwischen unserem gemeinsamen Bemühen schaffen und damit konkret die Aufgabenbereiche von um Sicherheit und unseren Anstrengungen für W achs- Javier Solana und Chris Patten zusammenzulegen und tum und für W ohlstand, das heißt für Beschäftigung, einheitlich wahrnehmen zu lassen. Der europäische trennen können. Wir sehen schon heute, wie sehr die Un- Außenminister soll die gemeinsamen europäischen In- sicherheit durch den Krieg überall in Europa die Wachs- teressen herausarbeiten und Initiativen für gemeinsames tumshoffnungen dämpft, wenn nicht sogar zerstört. Na- Handeln ergreifen. Nach unseren Vorstellungen soll in türlich wissen wir, dass Europa in der augenblicklichen den meisten Bereichen über diese so abgestimmt wer- internationalen Krise nicht jene Einigkeit an den Tag ge- den, dass auch mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse legt hat, die für uns alle wünschenswert gewesen wäre. gefasst werden können. Dieser deutsch-französische Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Erfahrung Vorschlag ist im Konvent alles in allem gut aufgenom- dieses Konflikts ist – das ist sicher so –, dass die Regie- men worden. rungen in dieser Frage nicht immer einer Meinung wa- Aus den Aufgaben, die uns aufgrund der Gemeinsa- ren, die europäischen Gesellschaften indes in dieser men Außen- und Sicherheitspolitik zufallen, ergibt sich Frage einer Meinung sind, und zwar in sehr klarer auch, dass wir ernsthaft über unsere gemeinsamen mili- Weise. tärischen Fähigkeiten neu nachdenken müssen. Dabei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geht es nicht darum, auf die gegenwärtige Krise ein- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dimensional, mit einer bloßen Steigerung unserer Rüs- CDU/CSU und der Abg. Dr . Gesine Lötzsch tungshaushalte, zu antworten. Es kann auch nicht darum [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [frak- gehen, nun mit Macht zu dem aufschließen zu wollen, tionslos]) was an Fähigkeiten etwa in den Vereinigten Staaten vor- handen ist. Das würde uns auch gar nicht gelingen. Eu- Die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und ropa muss seine militärischen Fähigkeiten vielmehr so Sicherheitspolitik steht erst am Anfang. Über ein wichti- weiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und un- (B) ges Datum dieses Anfangs unter dem Stichwort Mazedo- serer Verantwortung für Konfliktprävention und Frie- (D) nien habe ich geredet. W enn wir wollen, dass Europas denssicherung entsprechen. Stimme in der Welt vernehmlicher und damit wirkungs- voller wird, müssen wir uns auf einen langwierigen Pro- Der belgische Ministerpräsident hat zu einem Treffen zess der Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und eingeladen, um die Europäische Sicherheits- und Vertei- Sicherheitspolitik einstellen, einen Prozess übrigens, bei digungspolitik weiter voranzubringen. Auch in diesem dem wir auch noch Rückschläge erleben und erleiden wer- Bereich haben Deutschland und Frankreich dem Europäi- den. Das ändert aber nichts daran, dass es zu dieser ge- schen Konvent gemeinsame V orschläge gemacht. W ir meinsamen Politik keine wirklich vernünftige Alternative denken an eine engere Zusammenarbeit bei der Entwick- gibt. lung der militärischen Fähigkeiten, an eine Verzahnung der Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie an eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sehr viel engere Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie. DIE GRÜNEN) In der Perspektive wollen wir die Europäische Sicher- Die europäische Integration war die Antwort auf heits- und Verteidigungspolitik zu einerEuropäischen Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent und es Sicherheits- und V erteidigungsunionfortentwickeln. wäre fatal, wenn dieses integrierte Europa gerade ange- Denkbar ist, als einer der ersten Schritte, dass sich in Zu- sichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verant- kunft etwa an Blauhelmeinsätzen im Rahmen der Verein- wortung durch sein Beispiel nicht gerecht würde. Wir je- ten Nationen europäische statt nationale Truppen beteili- denfalls werden beharrlich daran arbeiten, dass es diese gen. Verantwortung wahrnimmt. Das ist der Grund dafür, dass Mir, meine Damen und Herren, ist in der gesamten wir eine wirklich Gemeinsame Außen- und Sicherheits- Diskussion zweierlei wichtig: politik entwickeln, die Europa auch faktisch in die Lage versetzt, mehr V erantwortung zu übernehmen. Kein Erstens. Von dieser Initiative des belgischen Minister- Zweifel: Das könnte mit bald 25 Mitgliedstaaten noch präsidenten kann und darf niemand ausgeschlossen wer- schwieriger sein, als es heute, da wir 15 sind, schon ist. den. Ich unterstreiche auch hier noch einmal: Die T atsache, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das angesichts unterschiedlicher Wahrnehmung von DIE GRÜNEN) Bedrohung und unterschiedlicher geschichtlicher Erfah- rung mit den jetzigen Beitrittskandidaten, die dann bei- Je mehr Mitgliedstaaten sich in der Konsequenz an der getreten sein werden, schwieriger werden wird – diese gemeinsamen Sicherheits- und V erteidigungspolitik be- Tatsache ist unabweisbar –, darf jedenfalls kein Ar gu- teiligen, desto besser ist es für das Ganze. Dabei – ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3001

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) will das besonders unterstreichen – ist mir wichtig, auch Meine Damen und Herren, hier gibt es einen Zusam- (C) Großbritannien, das in der Vergangenheit immer wieder menhang mit dem, was ich unter dem Begrif f wichtige Impulse für die Europäische Sicherheits- und Agenda 2010 vorgestellt habe. Auch in der jetzigen Verteidigungspolitik gegeben hat, in diesen Prozess ein- schwierigen internationalen Situation brauchen wir diese zubeziehen; und, meine Damen und Herren, das ge- Reform. Wir müssen sie zügig umsetzen, damit wir un- schieht bereits jetzt im Vorfeld des Treffens, zu dem der ser Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtig- belgische Ministerpräsident eingeladen hat. keit beruht, in schwierigen Zeiten als die wirkliche Hoff- nung für die Menschen in Deutschland, in Europa und in Zweitens. Die Stärkung der Europäischen Sicher- der Welt deutlich werden lassen können. heits- und Verteidigungspolitik richtet sich nicht gegen die NATO, wie manche diskutieren, sondern sie dient Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dem Bündnis und damit den transatlantischen Bezie- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem hungen – Beziehungen, die auch künftig für uns Deut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche und die Europäer von zentraler Bedeutung sein werden. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bevor ich der nächsten Rednerin das W ort erteile, DIE GRÜNEN) möchte ich eine neue Kollegin in unserem Hause begrü- So betrachtet liegt ein starkes Europa in beiderseitigem ßen. Es ist Angelika Brunkhorst, Mitglied der FDP-Frak- Interesse, in unserem Interesse und in dem der transat- tion, die ihr Mandat am 21. März in der Nachfolge des lantischen Partner. Es liegt im Interesse der von uns ge- Kollegen Christian Eberl angetreten hat. Herzlich will- meinsam vertretenen Werte, bei uns und weltweit. kommen, liebe Kollegin! Es ist sicher richtig, dass es auch beim Ausbau einer (Beifall) Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbeson- Nun erteile ich Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, dere auf eine enge französisch-deutsche Zusammen- das Wort. arbeit ankommt. Deutschland und Frankreich – das ist hier ja auch immer wieder betont worden – bleiben Mo- (Beifall bei der CDU/CSU) tor der europäischen Integration. Der erreichte Grad der Zusammenarbeit zwischen unseren beiden S taaten ge- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): hört zu den wenigen wirklich erfreulichen Entwicklun- gen in der internationalen Szenerie in der letzten Zeit. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die T a- gesordnung des Europäischen Rates in Brüssel war stark (B) Allerdings ist ebenso klar: Ohne umfassende Zusam- vom Beginn des Irakkrieges überschattet. V ieles von(D) menarbeit mit Großbritannien, auch mit den anderen dem, was sonst die Gemüter der Europäer bewegt hätte, Mitgliedern des gemeinsamen Europa werden wir die in- erschien plötzlich belanglos oder kleinlich. Angesichts ternationale Verantwortung nicht tragen können, die von dieses Krieges stand umso größer das Versagen von Poli- uns allen mit Recht erwartet wird. Ebenso deutlich ist tik und Diplomatie auch vor den Mitgliedstaaten der Eu- gerade in der gegenwärtigen Krise geworden, dass der ropäischen Union. Weg, auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien in Eu- ropa und in den Bündnissen eine enge Zusammenarbeit Krieg ist eine Niederlage von Politik und Diplomatie. mit Russland zu suchen, richtig und auch erfolgreich war Krieg ist deshalb eine Niederlage von Politik und Diplo- und – dessen bin ich sicher – bleiben wird. matie, weil Krieg den Tod von Menschen bedeutet, von Menschen, die mit dieser Politik und der Diplomatie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichts zu tun haben. Es ist eine Niederlage, weil es nicht DIE GRÜNEN) gelungen ist, einen Diktator durch die internationale Staatengemeinschaft friedlich zu entwaffnen, so wie wir Europa muss dafür Sor ge tragen, dass die kriegsbe- es alle wollten, weil wir wussten, dass dieser Diktator dingten Risiken nicht die gesamte W eltwirtschaft ausHunderttausende von Menschen auf dem Gewissen hat. dem Lot bringen; es muss jedenfalls mithelfen, dass das nicht geschieht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Der Europäische Rat hat vor zwei Wochen an diesem Punkt ein wichtiges und richtiges Signal gesetzt. Wir ha- Jetzt ist dieser Krieg traurige Realität. In dieser Situa- ben gemeinsam mit den Beitrittsländern klar gemacht, tion hat mir der französische Ministerpräsident Raffarin, dass die Europäische Union im Rahmen der so genann- der ja aus dem Land von Freiheit, Gleichheit und Brü- ten Lissabon-Strategie ihre Wachstumskapazitäten zur derlichkeit kommt, aus der Seele gesprochen, als er die- Schaffung von W ohlstand und Beschäftigung trotzser Tage zum Irakkrieg gesagt hat: „Ich hof fe auf den – oder sollte ich sagen: gerade wegen? – der schwierigen Sieg der Demokratie über die Diktatur.“ ökonomischen Rahmenbedingungen nicht zurückneh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men darf, sondern weiter erhöhen muss. Dabei geht es neten der FDP) um Fortschritte im Binnenmarkt, vor allem bei For- schung und Entwicklung und bei der Reform der Ar- Ich denke, wir sind uns in diesem Hause alle einig: beitsmärkte, um Bildung und um einen effektiveren Um- Wir hoffen, dass es einen Sieg der Demokratie über die weltschutz. Diktatur gibt. Wir können in dieser Auseinandersetzung 3002 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Angela Merkel (A) der alliierten Streitkräfte mit dem Diktator Saddam (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da ist (C) Hussein nicht neutral sein, sondern wir alle stehen an der er!) Seite derer, die für die Demokratie kämpfen. – Der Bundesaußenminister muss in absehbarer Zeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nach Brüssel, wir unterstützen das selbstverständlich. neten der FDP) Deshalb habe ich zur Regierungsbank geschaut. Herr Bundeskanzler, ich habe mich gefreut, dass Der Herr Bundesaußenminister hat angesichts der Ge- heute in diesem Hause nicht weiter einer Aufteilung zwi- fährdungen immer und immer wieder die richtigen Fra- schen Kriegswilligen und Friedenswilligen das Wort ge- gen gestellt. redet wurde. Denn alle hier wollen und werden, sofern sie dazu beitragen können, doch alles unternehmen – ob (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Regierung oder Opposition –, damit unsere politischen ben ja nicht einmal Fragen gestellt!) Ziele mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden kön- Natürlich sind militärische Auseinandersetzungen mit nen. hohen Risiken verbunden. Natürlich ist dies eine beson- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dere Region, in der man besonders aufpassen muss. Na- neten der FDP) türlich muss man sich mit dem Verhältnis der Religionen befassen. Gerade deshalb war es doch so wichtig, alles Heute ist der Tag, um mit dem Blick in die Zukunft über daranzusetzen, den Druck – militärisch wie auch insge- den eigentlichen Dissens in diesem Hause, der ja nicht samt – mit allen Optionen gemeinsam durchzuhalten. zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen besteht, zu sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU – [SPD]: Mit Ergebenheitsadressen!) Im November des letzten Jahres wurde im UN- Sicherheitsrat eine Resolution beschlossen, die auch die Ich kann mich der Einschätzung, dass alle Anstren- Bundesregierung mitgetragen hat. Diese Resolution ist gungen unternommen wurden, um eine friedliche Lö- eine Art Doppelbeschluss der UNO. Sie hat das klare sung zu erreichen, nicht anschließen. Ziel, eine friedliche Entwaf fnung durch ernst gemeinte Drohung zu erreichen. Die Wirkung dieser Resolution (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist lebte von Beginn an von der Glaubwürdigkeit beider Ele- das für eine Logik? Das ist doch verquer!) mente dieser Resolution. Damit war weder die Position Auch andere können sich dieser Einschätzung nicht an- „auf jeden Fall militärische Gewalt“ vereinbart – wie Sie schließen. Ich kann Ihnen daher ein Zitat aus einem uns manchmal vielleicht unterstellt haben –, noch war „Zeit“-Artikel der vergangenen Woche nicht ersparen, (B) die Position „auf keinen Fall militärische Gewalt“ ver- (D) einbart. Die Mitte zu halten, Geschlossenheit zu wahren, (Zurufe von der SPD: Oh! – Franz das wäre nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe Müntefering [SPD]: W er hat nicht alle An- von Politik gewesen. strengungen unternommen?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wo wiedergegeben wird, was die Inspekteure zum Kurs neten der FDP) der Bundesregierung in der Irakfrage sagen: Niemand von uns weiß, ob die Einigkeit im Druck (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf Saddam Hussein ihn wirklich zu einer friedlichen Welche Inspekteure?) Entwaffnung hätte zwingen können. Aber eines weiß ich sehr wohl: Diese Einigkeit im Druck war die einzige Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Ja, Chance, die dieses Ergebnis hätte erzielen können. sagen einige. Aber mit einer überraschenden Be- gründung: Deutschland, Frankreich und Russland (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe hätten den Kriegsausbruch mit ihrer vermeintlichen Benneter [SPD]: Das hätte weiter geführt wer- Friedenspolitik unausweichlich gemacht. den müssen!) (Widerspruch bei der SPD) Einigkeit im Druck schließt eben auch die damit verbun- denen Konsequenzen ein: militärische Mittel als Ultima Gerhard Schröders kategorisches Nein zu einem Ratio Militäreinsatz sei schlicht „verrückt“ gewesen. „Vielleicht hätten wir unser Mandat erfüllen kön- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen“ ... NEN]: Was war denn Ihre Ultima Ratio? – Weitere Zurufe von der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn! Sie wissen doch ganz und die Bereitschaft, eine Befristung einer solchen letz- genau, dass der Bush sich nicht hätte aufhalten ten Chance zu akzeptieren. lassen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie werden sich auch Nun ein Wort zum Herrn Bundesaußenminister. – Er in der Folgezeit mit diesem Zitat auseinander setzen ist schon weg, aber das ist akzeptiert. müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3003

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Wir haben eine gravierende Spaltung der Europäi- (C) Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage schen Union und der NATO sowie einen Vertrauensver- der Kollegin Eichstädt-Bohlig? lust in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika erlebt. W ir mussten erkennen, dass bewährte Institutionen unserer Sicherheit im Augenblick der Krise Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): ausgesprochen unfähig waren, so zu handeln, wie wir es Ich gestatte keine Zwischenfragen. uns alle gewünscht haben. Deshalb geht es nicht nur all- gemein darum, ob ein Wiederaufbau des Iraks stattfindet (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der – natürlich muss das der Fall sein –, sondern wie dieser SPD: Oh!) Wiederaufbau vonstatten geht. Er muss unter Beteili- Herr Bundeskanzler, Sie werden sich mit diesem Zitat gung der EU, der NATO und der UNO erfolgen. auseinander setzen müssen. Natürlich müssen wir als Bundesrepublik Deutsch- land wieder eine verantwortliche Außen- und Sicher- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie heitspolitik aufbauen. wissen genau, dass Hunderte andere Zitate dem entgegenstehen! – Krista Sager [BÜND- (Gernot Erler [SPD]: Was heißt denn „wie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem stammt das der“?) Zitat denn?) Die Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik aus der Der in diesem Artikel wieder gegebene Gedankengang Vergangenheit gelten weiterhin: europäische und transat- hat mich dazu veranlasst, zu sagen: Sie haben als Bun- lantische Einigung. Diese Pfeiler müssen nach der deut- desregierung mit Ihrem V erhalten den Krieg nicht un- schen Einheit, nach der Erlangung der Souveränität wahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht. Deutschlands von unserer Generation neu begründet, neu formuliert und vor allen Dingen mit den Menschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dieses Landes neu diskutiert und besprochen werden. neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn! Das ist doch unglaub- Lassen Sie mich das in sechs Punkten deutlich ma- lich! Lassen Sie diese Hetzerei! – Günter chen: Gloser [SPD]: Sie haben nichts dazugelernt! – Erstens. Viele Bruchlinien – alte wie neue – durchlau- Weitere Zurufe von der SPD) fen unseren europäischen Kontinent. Um die politische Einigung wirklich zu erreichen, muss Deutschland eine Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass niemand kluge Politik, eine Politik des Ausgleichs diesen Krieg gewollt hat. Aber mit Blick auf die Frage (B) – nicht auf die Vergangenheit bezogen; der Krieg ist Re- (Franz Müntefering [SPD]: Dann ist es ja gut, (D) alität –, was wir aus diesen V orgängen lernen müssen dass Sie nicht regieren! – W ilhelm Schmidt und welche Lehren wir daraus ziehen müssen, [Salzgitter] [SPD]: Das machen wir ja!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ler- zwischen alten und neuen sowie großen und kleinen EU- nen doch nichts dazu! Das ist doch nicht zu Mitgliedstaaten machen. fassen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- will ich auf etwas verweisen, was einmal neten der FDP) gesagt hat. Helmut Kohl hat einmal gesagt – ich stimme Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, es sei dem mit allem Nachdruck und in aller Ruhe zu –, die eu- wahr, dass Europa in dieser Auseinandersetzung an vie- ropäische Einigung sei letztlich eine Frage von Krieg len Stellen nicht einig gewesen sei. Dann haben Sie ge- und Frieden. sagt, bei genauerem Hinseh en müsse man feststellen, dass in der Ablehnung des Krieges zwar nicht die Regie- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was im- rungen, aber die Gesellschaften einig gewesen seien. mer das bedeutet!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gernot Helmut Kohl ist für diesen Satz häufig belächelt worden. Erler [SPD]: Stimmt immer noch!) Wir alle miteinander haben in den letzten W ochen ein- drücklich erfahren müssen, wie schnell die Frage der eu- Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Was bedeutet das für ropäischen Einigung zu einer Frage von Krieg und Frie- die Regierungen, die Ihre Meinung nicht geteilt haben? den werden kann. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wissen die ganz genau!) neten der FDP) Was bedeutet das denn für die Erfahrung, die wir im Rahmen des Kosovo-Konfliktes gemeinsam in diesem Deshalb müssen wir – das haben Sie, Herr Bundes- Hause gemacht haben, als die Gesellschaften Europas kanzler, in Ihrer Regierungserklärung auch deutlich ge- auch die Angriffe auf Belgrad nicht wollten und wir sie macht – die vor uns liegenden Aufgaben, die weit über dennoch aufgrund gemeinsamer Überzeugung für richtig die Frage des Iraks hinausgehen, meistern. Sie haben ge- gehalten haben? Ich halte Ihre Aussage an dieser Stelle sagt, in jeder Krise liege ei ne Chance. Jawohl, in jeder für sehr gefährlich. Krise liegt eine Chance. Aber wir müssen uns sehr nüch- tern die Realität der heutigen Tage anschauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Angela Merkel (A) Ich bin auch verunsichert, meinsame Verpflichtung sein – mich persönlich bewegt (C) das –, mit der Bevölkerung über diese Aufgaben zu spre- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE chen. GRÜNEN]: Das merkt man! – W ilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schon die ganze Zweitens. Das Verhalten der Europäer im Irakkonflikt Zeit!) bringt uns zu einer zentralen Lehre – da stimme ich mit Ihnen überein –: Ohne eine Gemeinsame Außen- und was Ihre Aussage angeht – ich sage es einmal ganz vor- Sicherheitspolitik wird es keine europäische Einigung sichtig –, das Europa der 25 werde komplizierter als das geben. Europa der 15. Was sollen die neuen Mitgliedstaaten ge- rade in Bezug auf den Irakkonflikt – wir sprechen jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) nicht über eine EU-Richtlinie zu Chemikalien – von ei- ner solchen Feststellung halten? Alle neuen Mitglieder Was heißt das? W ir haben uns in den 90er -Jahren der Europäischen Union sind Mitglieder der NA TO. Sie ganz stark auf die Gestaltung des europäischen Binnen- haben mit Sicherheit keinen Beitrag zu den jetzigen marktes konzentriert. Im Übrigen haben wir Europa Schwierigkeiten geleistet. Vielmehr bestanden all diese durch die Einführung des Euro irreversibel, unumkehr- Schwierigkeiten in der EU innerhalb der alten Mit- bar gemacht. Das waren mutige Entscheidungen – von gliedstaaten der Europäischen Union. Auch das gehört Helmut Kohl, von . zur Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joseph (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fischer, Bundesminister: Edmund Stoiber!) neten der FDP) Diese Entscheidung für den Euro, der von Ihnen seiner- Deutschlands Rolle muss aus geographischen und aus zeit übrigens als kränkelnde Frühgeburt disqualifiziert historischen Gründen dergestalt sein, dass Deutschland wurde, ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung ge- zum Ausgleich beiträgt und ein Anwalt der kleinen Län- kommen; vielmehr hat es die Führung als ihre Aufgabe der ist. angesehen, dies der Bevölkerung nahe zu bringen. Heute wird sie von der Bevölkerung mit Überzeugung getra- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- gen. Dies wird bei wichtigen Entscheidungen immer NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie?) wieder notwendig sein. Wenn in diesen Tagen viel von einer Hegemonialmacht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesprochen wird – ich bin gegen jede Form von Hege- neten der FDP) monialmachtstreben –, Es geht auch um den W illen, eine Gemeinsame Au- (B) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nun ßen- und Sicherheitspolitik durchzusetzen. Herr Bundes- (D) wird es endgültig lächerlich! – Weitere Zurufe kanzler, ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es wird da- von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE bei Fortschritte und Rückschläge geben. Ich sage Ihnen GRÜNEN) aber auch: Ein Erlebnis wie das der Auseinandersetzung um den Irak verträgt die Gemeinsame Außen- und Si- dann müssen wir als Deutsche aufpassen, ob die kleinen cherheitspolitik Europas nicht alle Jahre wieder . Wir Staaten Europas nicht auch uns Großmannssucht vor- müssen Lehren ziehen und wir müssen den W illen ha- werfen könnten. Auch das gehört zur Realität des euro- ben, Kompromisse und Gemeinsamkeiten zu finden, päischen Alltags. (Lothar Mark [SPD]: Das müssen Sie auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einmal lernen: Kompromisse eingehen!) neten der FDP) so wie sie auf dem Sonderrat der Europäischen Union im Aus seiner geschichtlichen Erfahrung und aus seiner Februar gefunden wurden. Das war aber leider viel zu geographischen Lage heraus hat Deutschland eine ganz spät, das hätte früher geschehen müssen. Dies müssen besondere Aufgabe in Europa: den Ausgleich zu schaf- wir in Zukunft beachten. fen und die verschiedenen Interessen zu bündeln. W ir alle wissen doch, dass es Länder gibt, die Interesse an ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nem großen Wirtschaftsraum Europa haben, dass es Län- Jörg van [FDP]) der gibt, die ein großes Interesse an der V ertiefung der politischen Union haben, und dass es Länder gibt, die ei- Drittens. Eine weitere Lehre aus der Spaltung Europas nen größeren Schwerpunkt auf die Erhaltung des Struk- muss sein: Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo- turausgleichs legen. Deutschland muss aus der von mir litik in Europa wird es niemals gegen die Vereinigten genannten Verpflichtung heraus die integrative Kraft Staaten von Amerika, sondern nur mit ihnen und auf der sein, die Ausgleich schaf ft. Das hat Deutschland in den Basis eines entsprechenden Vertrauens geben. letzten Wochen nicht ausreichend getan. Die Europäer haben spätestens – das ist eine noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. weit zurückliegende gemeinsame Erfahrung – im Zusam- Jörg van Essen [FDP]) menhang mit dem Kosovo-Konflikt erlebt, dass wir über- haupt nicht in der Lage sind, die militärischen Konflikte Deutschland darf keine Randposition und keine Maxi- unseres Kontinents aus eigener Kraft zu lösen. Ich bin malposition vertreten und keine Sonderwege gehen. froh, dass es im Zusammenhang mit Mazedonien jetzt Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte es eine ge- zum ersten europäischen Mandat gekommen ist. Das ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3005

Dr. Angela Merkel (A) keine Frage. Aber die eigentlichen militärischen Risiken Der Bundeskanzler hat hierzu – das danke ich ihm – Eini- (C) sind in einer Auseinandersetzung getragen worden, bei ges gesagt. Er hat gesagt, er unterstütze die Ansicht, dass der wir ohne die Amerikaner nicht in der Lage gewesen die Bedrohungen der heutigen Zeit zum einen vom Be- wären, das von uns allen gewünschte Ziel zu erreichen. sitz von Massenvernichtungswaffen und zum anderen von nicht staatlichem T errorismusausgehen. Viel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- leicht sei eine der größten Bedrohungen, der wir in Zu- neten der FDP) kunft gegenüberstehen, die V ermischung von beidem, Deshalb, Herr Bundeskanzler, brauchen wir die NA TO. nämlich der Proliferation von Massenvernichtungswaf- Sie haben das auch gesagt. Ich hätte mir aber trotzdem fen an terroristische Gruppen, die wiederum von staatli- gewünscht, Sie wären in der Frage, wie das aussehen chen Strukturen unterstützt werden. soll, etwas konkreter geworden. Wenn Sie sagen, wir brauchen deshalb eine gemein- In diesen Tagen entscheiden auch die Bilder. Wir ha- same europäische Ausfuhrpolitik und müssen bei diesem ben viele Strategietreffen des Bundesaußenministers mit Thema zu internationalen Standards kommen, dann dem französischen Außenminister und seinem russi- stimme ich Ihnen zu; das ist keine Frage. Aber der Si- schen Kollegen erlebt. Aber wenn wir die Zukunft des cherheitsbegriff ist, da er nicht teilbar ist, nicht nur ein Bündnisses NATO wollen, ist es wichtig, klar und deut- politischer, ökologischer oder kultureller , sondern er lich zu sagen, dass es eine Äquidistanz zwischen Europa wird auch ein militärischer Begrif f bleiben. Vor dieser und Amerika und zwischen Europa und Russland auf ab- Erkenntnis können wir uns nicht drücken. Wir werden sehbare Zeit nicht gibt. Die transatlantische Partner- uns nicht damit herausreden, dass Blauhelme eingesetzt schaft beruht auf einem klareren W ertegerüst als unser werden. Die Frage lautet vielmehr: W elche Strategie Verhältnis zu Russland. müssen wir ausarbeiten, um auf die modernen Bedro- hungen zu reagieren, bei der politische Lösungsmöglich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keiten und Abschreckung in adäquater Weise verbunden neten der FDP) werden? Damit spreche ich nicht gegen ein gutes V erhältnis zu Russland. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin aus vol- (Beifall bei der CDU/CSU – Franz lem Herzen für die Kooperation der NA TO mit Russ- Müntefering [SPD]: Das können Sie alles Ihrer land. Aber in der Stunde des Risikos kommt es schon Fraktion erzählen, aber verschonen Sie uns da- darauf an, dass man weiß, wo die gemeinsame Partner- mit! – Gegenruf des Abg. Dr . schaft liegt. [CDU/CSU]: Dann gehen Sie doch!) Fünftens. Wenig ist gewonnen, wenn aus der gemein- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) samen Bedrohungsanalyse, von der ich sagen muss, Wenn man es mit diesem transatlantischen Bündnis, dass wir sie nicht ausreichend durchgeführt haben, keine der NATO, ernst meint und es mal wieder zu einer Situa- Schlüsse gezogen werden. W enn wir alle davon über- tion käme, in der wir mit militärischem Druck eine UN- zeugt gewesen wären, dass keine Massenvernichtungs- Resolution durchsetzen müssen, könnte – das wäre doch waffen, Pockenviren oder Milzbranderreger in der Hand durchaus denkbar – auch ein europäisches Kontingent von Hussein sind, dann, Herr Bundeskanzler, hätten wir aus der NATO an dem Aufbau eines solchen militäri- nicht klammheimlich 80 Millionen Dosen an Impfstof f schen Drucks mitarbeiten, um zum Schluss eine friedli- gekauft. Wir hätten dann gemeinsam che Lösung dieses Konflikts zu erreichen. Ich glaube, den Amerikanern wäre es schwerer gefallen, bei Mitwir- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- kung aller europäischen NA TO-Mitglieder eine solche NIS 90/DIE GRÜNEN) Entscheidung allein zu treffen. und offensiv unserer Bevölkerung gesagt, welche Ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind fährdung in diesem Lande tatsächlich für uns besteht. vielleicht blauäugig! Das glauben Sie doch selbst nicht! Das ist doch naiv! – Franz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Müntefering [SPD]: Der Krieg wäre vermeid- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] bar gewesen!) [SPD]: Das ist doch völlig abstrus!) Wir müssen V erantwortung im Risiko übernehmen, Gemeinsam eine Analyse durchzuführen ist schön und sonst wird die V erantwortungsgemeinschaft nicht zum gut, aber es muss auch der gemeinsame, der wirkliche Leben erweckt werden können. Wille bestehen, die notwendigen politischen und militä- rischen Mittel bereitzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich hätte heute von Ihnen gerne wenigstens ein loben- Viertens. Wenn wir das schaffen wollen, dann müssen des Wort zur NATO-Response-Force gehört. Ich hätte wir zuallererst zu einem gemeinsamen Verständnis kom- auch gerne gehört, dass man eine gemeinsame Politik men, was die Bedrohungen sind, denen wir uns in dieser machen wolle. Deutsch-französische oder deutsch-belgi- Welt gegenübersehen. sche Initiativen sind okay, aber in diesen Tagen muss es, wie ich glaube, vor allen Dingen Initiativen geben, die (Franz Müntefering [SPD]: Frau Sandkasten- Brücken über die Gräben bauen. W ir brauchen deutsch- spielerin!) polnische oder deutsch-britische Initiativen. Das ist es, 3006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Angela Merkel (A) worauf Europa wartet, wenn Deutschland wirklich eine ob es um die Durchsetzung von Resolutionen geht oder (C) ausgleichende Rolle spielen will. ob es überhaupt noch keine gemeinschaftliche internati- onale Bedrohnungsanalyse gibt. Angesichts dessen, was (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- uns nach dem 1 1. September des Jahres 2001 begegnet neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] ist, rate ich uns allen – niemand hier im Hause hat heute [SPD]: Was fand denn gestern statt?) schon die fertigen Antworten –, darüber nachzudenken, Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen, wie die internationalen Institutionen auch auf diese He- dass wir in diesem Lande fähig sind, unseren Willen, Be- rausforderungen vorbereitet werden können. drohungen zu begegnen – so er denn besteht –, auch ma- (Beifall bei der CDU/CSU) teriell durchzusetzen. Der Bundesaußenminister hat in einem bemerkenswerten Interview in der „Frankfurter Meine Damen und Herren, im Grundsatz teile ich all Allgemeinen Zeitung“ gesagt, wir brauchten eine stär- das, was Sie über die Zukunft des Iraks gesagt haben. Ich kere militärische Kraft. Der Bundeskanzler hat sich glaube, wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um dem angeschlossen. Deswegen haben wir schon erwar- dies unter dem Dach der UNO zu erreichen. Es ist selbst- tungsvoll auf einen Nachtragshaushalt gewartet. verständlich, dass dem irakischen V olk, also den Men- (Lachen bei der SPD) schen dieses Landes, mehr als das heute der Fall ist nicht nur seine Territorien, sondern auch seine Bodenschätze Anschließend hat der Bundeskanzler dem staunenden und all das, was ihm gehört, zur Verfügung gestellt wer- Publikum mitgeteilt, für die nächsten drei Jahre gelte das den. In den nächsten Wochen werden wir uns mit dieser nicht. Frage beschäftigen. Ich sage Ihnen aber auch voraus: Vor allen Dingen werden wir uns viel grundsätzlicher und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir weitergehend mit außen- und sicherheitspolitischen Fra- brauchen eine Aktuelle Stunde!) gen beschäftigen müssen. Ich frage Sie: W er glaubt uns denn ernsthaft, dass den Bekenntnissen aus unseren Mündern wirklich Taten fol- Nach dem heutigen T ag sehe ich durchaus Gemein- gen? Darauf wartet doch Europa, auf Taten und nicht nur samkeiten. Herr Bundeskanzler, wenn die Worte, die Sie auf Worte. hier bezüglich der Europäischen Union, der NATO und der Zukunft der UNO gesagt haben, wirklich Gewicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bekommen sollen, dann wird ein großer politischer Füh- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist rungswille notwendig sein. lächerlich!) (Zuruf von der SPD: Hat er doch!) (B) Sechstens. Wir brauchen eine Stärkung der UNO (D) und eine Legitimation ihrer Mechanismen, damit sie sich Dieser politische Führungswille wird auch einschlie- auf die neuen Bedrohungen einrichten kann. Die UNO ßen, dass wir bereit sein müssen, die Umfragewerte nicht soll – ich bin sofort dabei; daran will ich Sie erinnern – immer und sofort auf unserer Seite haben zu wollen. das Gewaltmonopol haben. W ir dürfen aber doch nicht (Lachen bei der SPD) die Augen davor verschließen, dass nicht die gesamte Welt demokratisch ist und es nicht gesichert ist, dass je- Statt dessen müssen wir politisch verantwortlich ent- der unsere Grundeinstellungen teilt. scheiden, weil wir uns auch um den Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit von mor gen und übermor gen küm- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das mern wollen. Das ist das Anliegen der Union. Dafür ste- sollten Sie jetzt noch einmal richtig nachle- hen und arbeiten wir. sen!) Herzlichen Dank. – Herr Schmidt, da Sie dagegen protestieren, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- mahne Sie nur zur Vorsicht!) fall bei der FDP) erinnere ich Sie nur an die Tatsache, dass auch Sie – an- Präsident Wolfgang Thierse: gesichts drohender Vetos von Russland und China – den Einsatz im Kosovo auf der Basis der NA TO für richtig Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, befunden haben. Dabei handelte es sich natürlich auch das Wort. um ein Versagen der UNO. Uns allen wäre es lieber ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wesen, wenn die UNO das getan hätte. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ( [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. [FDP]: Richtig!) Gernot Erler (SPD): Wir haben es aber trotzdem für richtig befunden. V er- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schließen wir die Augen doch nicht vor der Realität. Bilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhal- ten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opfer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und der Anblick ihrer W ehr- und Schutzlosigkeit bren- Deshalb wird es auch in der Zukunft ein Unterschied nen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesen sein, ob Bedrohungen von der UNO festgestellt wurden, Tagen auf Schritt und Tritt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3007

Gernot Erler (A) Die Medien – so empfinde ich es – halten eine kriti- Krieg sehr bald, wie wir hof fen, zu Ende sein wird. Ge- (C) sche Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung, rade deswegen war es wichtig, dass diese Bundesregie- die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger be- rung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letz- obachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fra- ten Minute alles getan und versucht hat, um diesen gen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechte Irrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaf f- oder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es be- nung ohne Krieg, durchzusetzen. steht die Gefahr, dass uns die Massivität und die W ucht des Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen wir widerstehen. DIE GRÜNEN) Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigent- Vor allem dürfen wir nicht ver gessen, an wessenlicher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politik Stelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagen der amerikanischen Regierung von Anfang bis Ende gab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begrif fohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Krieg „friedliche Lösung“ ist dafür eine viel zu schwache For- von vornherein vorbereitet und sich am Ende gegen die mulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen, Mehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat. war das Regime von Saddam Hussein weltweit politisch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ komplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontroll- DIE GRÜNEN) flüge in der Luft und ein Kontrollsystem am Boden mit Durchgriffsrechten ohne Beispiel hundertfach einge- Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Un- schränkt. vermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen, Frau Merkel. Sie schaf fen es nicht einmal, Ihre eigene Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der die Fraktion zu überzeugen. Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllen musste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu sein, bis die Entwaf fnung durch die Inspektoren und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einen faktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Es Angeblich hat sich diese vor gestern, bis auf den wacke- wäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimes ren Kollegen Gauweiler, gewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere im- (Heiterkeit bei der SPD) mer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat. (B) hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf. (D) Was aber ist jetzt? W asaußer unschuldigen Opfern produziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Re- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Da muss er selber gimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen noch schlucken, der Herr Erler!) nach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützung Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem Mitglied für dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellen Ihrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vor konsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Ausland wenigen Tagen folgende Sätze lesen: angesichts des Bombenhagels zu den W affen eilen, um ihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand am Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatz baldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Ende zur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass die nicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschütz- friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden. donner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllen Noch am letzten Samstag war zu lesen: könnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu je- nem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von dem Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktions- er immer geträumt hat. V on den Seitenbühnen dieser chefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zu Szene hören wir immer häufiger das bedrohliche W ort stellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch. Dschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg füh- Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach dem renden Staaten um die Geduld, die sie vorher den V er- Motto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das bei einten Nationen und der Mehrheit der Staaten verwehrt Fragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall, haben. viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kreisen erlebt. Das heißt aber: In W irklichkeit gibt es DIE GRÜNEN) viel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen ei- nige in Berlin anders als zu Hause. Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Krieges hätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnen (Zuruf von der SPD: Mit gespaltener Zunge!) erwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 Tagen Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewir- Krieg kommen weltweit immer mehr Menschen zu der kung, Frau Merkel, endet bereits an den Türen Ihres Erkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der ei- Fraktionssaales. nen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrich- tet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ überlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieser DIE GRÜNEN) 3008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Gernot Erler (A) In Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mit- noch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmü- (C) tel einer informellen Vertrauensfrage greifen, tigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandat nicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immer (Lachen bei der CDU/CSU) noch zu dem, was uns jetzt alle quält. Wir müssen diese um die vielen zum V erstummen zum bringen, die ganz Alternativen benennen und global durchsetzungsfähig anderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie. machen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mit Ihrer dogmatischen Position richten S ie einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktion DIE GRÜNEN) hinausgeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Wolfgang Thierse: DIE GRÜNEN) Ich erteile das W ort Herrn Kollegen Guido Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefähr- Westerwelle, FDP-Fraktion. lich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sie (Beifall bei der FDP) auf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundes- regierung aufzuhören und zu behaupten, Dr. Guido Westerwelle (FDP): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- DIE GRÜNEN) ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungser- dass sie eine Mitverantwortung für den Krieg habe. Sie klärung abgegeben, bei der di ejenigen, die sich für die merken überhaupt nicht den W iderspruch, dass Sie ei- Außenpolitik interessieren – das ist in diesen Zeiten je- nerseits den Bundeskanzler auf fordern, er solle zum der in diesem Hause –, damit gerechnet haben, Sie wür- Ausgleich in Europa beitragen, Sie aber andererseits in den heute auch weiterführend perspektivisch die Vorstel- der Kleinräumigkeit der Bundesrepublik jeden Tag aufs lungen der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg Neue das T ischtuch zerschneiden. Die Leute erwarten vortragen. doch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dass (Barbara Wittig [SPD]: Haben Sie nicht zuge- wir in diesem Augenblick gemeinsam handeln und uns hört?) auf die Prioritäten konzentrieren. Ich glaube, es gibt zwei Fragen, die wir uns alle stel- Diese Prioritäten sind erkennbar. Die erste Priorität len: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen und was (B) heißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendung kommt nach dem Krieg? Zu beiden Fragen haben Sie (D) der humanitären Katastrophe unternommen werden. sich sehr allgemein eingelassen und sich um ihre Beant- (Beifall bei der SPD) wortung herumgedrückt. Sie haben von der Rolle der Vereinten Nationen gesprochen, aber das war im Grunde Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bun- genommen nur eine Floskel bzw. ein rhetorisches Be- desregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutsch- kenntnis dazu. land hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irak ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheits- (Zuruf von der SPD: Das ist eine Unterstel- ratsresolution 1472 vom 28. März zustande gekommen lung!) ist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation bei Denn die Vereinten Nationen als alleinige Inhaber des den Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ih- Gewaltmonopols darzustellen ist zwar in der Sache rich- ren Anteil daran. tig, aber in Anbetracht des Scherbenhaufens, den die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutsche Regierung – übrigens gemeinsam mit der Re- DIE GRÜNEN) gierung in Washington – in den Vereinten Nationen mit angerichtet hat, ist das eindeutig zu wenig. Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: Die Autorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelung (Beifall bei der FDP – Lothar Mark [SPD]: einer Friedensordnung bzw . einer Nachkriegsordnung Unverschämt! – Weiterer Zuruf von der SPD: nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, muss Pubertäres Gerede!) wieder hergestellt werden. Wir freuen uns – das ist ein Diese differenzierte Haltung mag bei Ihnen von der konkreter Erfolg von Politik –, dass Großbritannien und SPD auf Empörung stoßen; wir Freien Demokraten blei- insbesondere Tony Blair uns in dieser Position immer ben trotzdem bei unserer Einschätzung: Dass es zu die- deutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einer sem Krieg gekommen ist, ist auch das Ergebnis des gemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkret Versagens der Außenpolitik auf beiden Seiten des At- erreicht worden und deshalb bedarf es nicht ir gendwel- lantiks. Sowohl die Regierung in W ashington als auch cher Anmahnungen. die in Berlin haben die V ereinten Nationen infrage ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellt und ihre Arbeit erschwert. Das war der schwere DIE GRÜNEN) Fehler in dieser Zeit. Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Verzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auch der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3009

Dr. Guido Westerwelle (A) Jetzt stellen sich folgende Fragen: Wie kann die Rolle leingänge dieser Art können nicht die Billigung der deut- (C) der Vereinten Nationen wieder ausgebaut werden? W as schen Politik finden. müssen wir uns vornehmen? W elche Initiativen in Europa starten Sie? Dabei reicht es nicht aus, sich für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das Amt ein es europäischen Außenministers auszu- der CDU/CSU) sprechen. Über diese Erkenn tnis haben wir schließlich Des Weiteren empfehle ich den, wie ich meine, sehr schon oft genug gesprochen. bemerkenswerten Beitrag von Herrn Genscher im „T a- Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist: W elche gesspiegel“. Ich glaube, dass wir darin vor allem einen Rolle soll künftig Europa in den V ereinten Nationenbemerkenswerten Hinweis auf das finden, was jetzt dis- wahrnehmen? Wir haben festgestellt, dass eine Struktur, kutiert werden muss, nämlich auf das Verhältnis zu den in der die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaaten künftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Euro- infrage gestellt werden, die sie nutzen und benutzen, bis päischen Union. Hier wird der Eindruck erweckt, als sie glauben, sie nicht mehr zu brauchen, auf Dauer nicht würden diese Staaten vielleicht eines Tages der Europäi- positiv ist. Es ist die eigentliche Aufgabe der deutschen schen Union beitreten. Politik – das er gibt sich auch aus der Historie unserer (Günter Gloser [SPD]: Wer erweckt denn den bisherigen Außenpolitik –, die Stärkung Europas in den Eindruck? – Weitere Zurufe von der SPD) Vereinten Nationen voranzubringen, – Nicht Sie! Das ist vielmehr in der öffentlichen Diskus- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt sion mehrfach erwähnt worden, gar keine Frage. [FDP]) damit dort nicht europäische Nationalstaaten handeln, (Günter Gloser [SPD]: Wo leben Sie denn!) sondern damit Europa in den V ereinten Nationen han- – Entschuldigung, darf ich Sie auf etwas aufmerksam delt. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, dass die deut- machen? Wenn es darum geht, das V erhalten der Deut- sche Politik die Initiative für einen Sitz der Europäischen schen gegenüber Osteuropa zu würdigen, dann sage ich Union im Weltsicherheitsrat ergreift. in aller Ruhe – weniger im Hinblick auf das, was heute (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr . gesagt worden ist, sondern mehr im Hinblick auf die Angela Merkel [CDU/CSU] – W ilhelm letzte Regierungserklärung, die der Bundeskanzler abge- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben Ihre geben hat –: Ihr oberlehrerhafter Umgang mit den künf- Ideen immer zur falschen Zeit, Herr tigen osteuropäischen Mitgliedern der Europäischen Westerwelle!) Union (B) Das wäre die richtige Initiative, die wir in dieser Diskus- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (D) sion starten sollten. NIS 90/DIE GRÜNEN) Ein weiterer Punkt betrif ft den europäischen Eini- ist ein dramatischer Fehler und zeugt von der Arroganz gungsgedanken. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusam- eines großen Landes, wie Sie sie in ihren Auswirkungen menhang – das ist wichtig – ein Interview und einen Na- möglicherweise gar nicht verstanden haben. mensbeitrag vom heutigen Tage, und zwar nicht wegen der Spitzen gegen die Regierung, die beispielsweise in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – dem Interview enthalten sind, sondern wegen der Souve- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jawohl, ränität, mit der sich zwei große Staatsmänner zur Außen- Herr Hauptlehrer!) politik äußern. Es handelt sich zum einen um das Inter- Wenn Sie die Osteuropäer – erinnern wir uns nur, wie view des Altbundeskanzlers, Helmut Kohl, Sie auf die Initiativen der osteuropäischen Länder rea- (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ein großer giert haben, die natürlich vor einer ganz anderen Frage Staatsmann!) stehen – vor die Alternative „Europa oder S icherheit in einem Bündnis mit den V ereinigten Staaten“ stellen, in der Zeitung „Die Welt“ und zum anderen um einen vor- dann befürchte ich, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen züglichen Namensbeitrag von Hans-Dietrich Genscher Historie eher für die Sicherheit entscheiden. Das ist auch im „Tagesspiegel“ vom heutigen Tage, den ich ebenfalls der große Fehler der von Ihnen initiierten Achsendis- Ihrer Aufmerksamkeit empfehle. kussion. Muss ich wirklich darauf hinweisen, welche (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Bedeutung diese Diskussion für Prag oder W arschau alles Vergangenheit!) hat? Es ist falsch, zu glauben, dass wir eine neue Achse anstelle der transatlantischen Beziehungen schaffen kön- Wer über Außenpolitik spricht, sollte die Souveränität nen. Europa und Amerika müssen zusammenbleiben. und die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit Das ist der historische Auftrag, den wir in der jetzigen der der Altbundeskanzler, Helmut Kohl, auch auf die un- Phase haben. terschiedlichen Wahrnehmungsweisen sowohl in W a- shington als auch in Berlin hinweist. Für Helmut Kohl (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist es kein Problem, das Handeln der amerikanischen Re- Das sage ich als jemand, der die Haltung der Amerikaner gierung namentlich zu kritisieren. Das sollte für uns alle sehr deutlich kritisiert hat. im Deutschen Bundestag kein Problem sein; denn auch als Freunde der Amerikaner müssen wir feststellen: Al- In dem Beitrag von Herrn Genscher heißt es: 3010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Die Enttäuschung in Paris und Berlin über das Ver- wie sie auf die Menschen wirkt. Sie müssen Außenpoli- (C) halten einiger Beitrittsländer in der Irakfrage sollte tik vielmehr so formulieren, dass sie etwas für die Men- Anlass sein, die Beitrittsländer unverzüglich in die schen bewirkt. Das ist die eigentliche Frage, die Sie zu außenpolitische Meinungsbildung der EU einzube- beantworten haben. Das tun Sie aber nicht. ziehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genau das ist es. Beklagen Sie sich nicht darüber , dass Herr Bundeskanzler, ich möchte in den wenigen Mi- andere demokratisch gewählte Regierungen anders han- nuten, die mir in dieser Debatte verbleiben, noch die deln. Suchen Sie das Gespräch! Frage ansprechen, wie wir uns in Deutschland im Hin- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das blick auf diese Diskussion aufstellen sollten. läuft längst, Herr Westerwelle!) Erstens. Herr Bundeskanzler, kurz nachdem Sie Ihre In Wahrheit sind die Probleme in den Beziehungen zwi- Regierungserklärung beendet hatten, hat die Bundesan- schen Berlin und W ashington dadurch entstanden, dass stalt für Arbeit in Nürnber g ihre aktuelleArbeitslosen- die demokratisch gewählten Führer zweier europäischer statistik veröffentlicht. Während wir debattieren, wird Länder in den Zustand der Sprachlosigkeit – das trifft bekannt, dass die Arbeitslosenzahlen auf dem höchsten in erster Linie auf Sie zu – verfallen sind. Das wird ein- Märzstand seit der Wiedervereinigung sind. mal als das große Versagen der Diplomatie und der Au- (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Es geht im Mo- ßenpolitik in die Geschichtsbücher eingehen. ment um Außenpolitik!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist deshalb so erwähnenswert, weil auch das ge- Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungser- samte außen- und europapolitische Gewicht der Deut- klärung einen bemerkenswerten Satz gesagt, nämlich schen davon abhängt, ob sie als starke Wirtschaftsnation dass die jetzige Diskussion zwar – vielleicht – der Aus- ihre innenpolitischen Hausaufgaben machen. druck von Meinungsunterschieden zwischen Regierun- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gen sei, dass sich aber die europäischen Gesellschaften CDU/CSU) durchaus einig seien. Gemeint haben Sie damit Folgen- des: Ich, Gerhard Schröder, Bundeskanzler der Bundes- Deswegen ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands in republik Deutschland, habe vielleicht nicht die Zustim- Europa von den Möglichkeiten, die wir in der Außenpo- mung aller europäischen Regierungen, aber in W ahrheit litik einnehmen können, schlechterdings nicht zu tren- steht die Bevölkerung ganz Europas hinter mir . Genau nen. Nur wenn Sie den Weg der Erneuerung gehen – das, das ist es, was Sie gemeint haben. Dass das nicht stimmt, was Sie bisher vor gelegt haben, ist zu wenig –, werden (B) werden Sie feststellen, wenn sie sich zum Beispiel die Sie in der Lage sein, international Gehör zu finden. (D) gesellschaftliche Diskussion in Großbritannien an- Zweitens. Es reicht eben nicht aus – Frau Kollegin schauen. Übrigens, dort hat es eine Diskussion im Unter- Merkel hat darauf zu Recht hingewiesen –, in bestimm- haus in einer Qualität gegeben, wie man sie sich hier ten Situationen die Ankündigung, die Bundeswehr bes- manchmal wünschen würde. ser auszustatten, fallen zu lassen; sondern S ie müssen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie dem auch Taten folgen lassen. Sie können der Bundes- bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm Schmidt wehr nicht immer neue internationale Aufgaben übertra- [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt! Selbsterkennt- gen – ich sage Ihnen voraus, dass in der Nachkriegszeit nis ist der Weg zur Besserung!) weitere neue Aufgaben au f uns zukommen, mindestens humanitäre – und gleichzeitig den Etat der Bundeswehr – To whom it may concern. Allein die Reaktion auf diese immer weiter kürzen. Bemerkung zeigt, wie richtig mein letzter Satz ist. (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das ist doch (Beifall bei der FDP) Quatsch!) Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen. W as Wer die Bundeswehr mit neuen Aufträgen ausstattet, der bedeutet das Ganze denn? Das bedeutet in W ahrheit, muss sie auch mit neuen Mitteln ausstatten. dass Sie nicht alle europäischen Regierungen in der Irak- frage hinter sich haben wollen, um gemeinsam voranzu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehen, sondern dass Ihnen – das ist of fensichtlich ein Darüber werden wir gemeinsam, verehrte Kollegin- wesentliches Kriterium Ihrer Außenpolitik – die Zu- nen und Kollegen, auch der Regierungsfraktionen – ich stimmung der eur opäischen Gesellschaften reicht. habe die Worte des Bundeskanzlers, die von seinem Re- Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung belegt, detext abwichen, sehr genau verfolgt; ich begrüße das, dass Sie im Grunde genommen genau das Prinzip in der was er gesagt hat, ausdrücklich –, in diesem Haus im Außenpolitik verfolgen, das Sie in Ihrer Wahlkampfrede Hinblick auf die künftige Rolle der Bundeswehr ent- in Goslar dargelegt haben. scheiden. Wir müssen klären, was wir wollen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Herr Bundeskanzler, ich begrüße nachdrücklich, dass CDU/CSU) Sie sich hier – jedenfalls den Worten nach – zu einem Sie lassen Außenpolitik in weiten T eilen durch Mei-Parlamentsheer, zu einer Parlamentsarmee bekannt ha- nungsumfragen bewerten und richten sich danach. Sie ben. Um dem Rechnung zu tragen, müssen wir gemein- dürfen aber in Ihrer Außenpolitik nicht danach fragen, sam im Deutschen Bundestag nicht irgendwann, sondern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3011

Dr. Guido Westerwelle (A) von nun an zügig beraten, wie wir dem Auftrag des Bun- Herr Kollege Müntefering, am Schluss meiner Rede (C) desverfassungsgerichts nachkommen können. W ir müs- möchte ich Ihnen noch vorhalten, was Sie in einem In- sen klar machen, dass die Kultur der Zurückhaltung bei terview gesagt haben. So werden Sie jedenfalls heute Auslandseinsätzen der Bundeswehr auch dadurch erhal- von den Agenturen zitiert. Ich freue mich, dass Herr ten bleiben soll, dass wir die Schwelle der Einsätze nicht Kollege Erler das, was Sie gesagt haben sollen, nicht senken, indem wir aus der Parlamentsarmee eine Regie- wiedergegeben hat, und hofe, f dass Sie falsch zitiert rungsarmee machen. worden sind. Es heißt dort: (Beifall bei der FDP) Junge Menschen erleben, dass das Recht des Stär- keren die Stärke des Rechts ersetzt. Wir Liberale wollen eine Parlamentsarmee und daher (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Pfui!) treten wir dafür ein, dass wir hier, im Deutschen Bundes- tag, ein Mitwirkungsgesetz beraten und beschließen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dies einen Eine entsprechende Vorlage liegt seit Sommer letzten Augenblick lang zu Ende zu denken. Jahres – das war noch in der alten Legislaturperiode – ( [Wiesloch] [SPD]: Denken vor. Wir haben sie wieder eingebracht. Da Sie, verehrte Sie mal!) Kolleginnen und Kollegen, die Geschäftsordnungsmehr- heit in diesem Hause haben, fordere ich Sie auf: Sor gen Wir alle sind, wie ich glaube, uns darüber einig – dies Sie mit dafür, dass es heute Nachmittag den Beschluss gilt jedenfalls für die Freien Demokraten –, dass natio- zur Durchführung einer Anhörung gibt! Was vergeben nale Alleingänge ohne Mandat der V ereinten Nationen Sie sich denn, wenn Sie gemeinsam mit uns ein Gesetz nicht die Billigung der deutschen Politik finden können. beschließen – am Anfang der Beratungen wird es wie Sie haben dazu unsere Erklärung auch in diesem Hause immer unterschiedliche Vorstellungen geben –, in dem gehört; viele in diesem Hause haben der Erklärung unse- geregelt wird, was Bundesregierung und was Bundestag res Fraktionsvorsitzenden am 21. März Beifall gespen- künftig entscheiden dürfen und müssen? Unser Auftrag det. ist, uns nicht nur in der großen Weltpolitik zu verlieren, sondern auch, das zu entscheiden, was wir entscheiden (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und müssen. Die Erfüllung dieses Auftrags steht an. nun?) Aber jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob wir uns Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, das Bundes- darüber unterhalten und uns gegenseitig die Verantwor- verfassungsgericht habe Ihnen in seiner Eilentschei- tung zuweisen – dazu haben wir unterschiedliche V or- dung Bestätigung gegeben. Herr Bundeskanzler – ich stellungen –, sondern darum, dass allen Ernstes der Ein- (B) empfehle Ihnen wirklich mit großem Nachdruck die Lek- druck erweckt wird, im Irakkrieg kämpfe die Stärke (D) türe der Begründung des Bundesverfassungsgerichts –, gegen das Recht. das können Sie aus dieser Entscheidung wirklich nicht herauslesen. Dort steht etwas ganz anderes. Es heißt in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wört- GRÜNEN]: Aber so ist es doch! – Krista lich: Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die UNO!) In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klä- rung, wie weit der unmittelbar kraft Verfassung gel- Im Irak wird gegen Unrecht gekämpft. Das darf nicht tende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im W ehr- vergessen werden, meine sehr geehrten Damen und Her- verfassungsrecht reicht. ren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist ein Auftrag an die Politik. Seit Jahren diskutieren wir über ein Entsendegesetz; Präsident Wolfgang Thierse: wir nennen es Mitwirkungsgesetz. Dieser Auftrag ent- Ich erteile Kollegin Krista Sager , Fraktion Bündnis hält die Auf forderung, zu handeln. Sie haben hier die 90/Die Grünen, das Wort. Überparteilichkeit betont und zu Recht von jedem Abge- ordneten staatspolitische V erantwortung eingefordert. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Daher sollte Ihr Beitrag zur Überparteilichkeit und zur staatspolitischen Verantwortung darin bestehen, den Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- Weg für ein gemeinsames Gesetz frei zu machen. Stim- lege Westerwelle, Sie hätten sich nicht so oberlehrerhaft men Sie also heute Nachmittag, bitte schön, im Deut- über die UNO äußern sollen, wie Sie es hier getan haben. schen Bundestag dem Beschluss zur Durchführung einer Ihre letzte Bemerkung hat nämlich gezeigt, dass Sie gar Anhörung zu, damit wir die entsprechenden parlamenta- nicht begriffen haben, was in der UNO passiert ist. rischen Schritte gehen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Selbstverständlich wünscht sich niemand den Sieg ei- [SPD]: So ein Unsinn! Was hat denn das damit nes Diktators. Auch wäre selbstverständlich jeder froh zu tun? Schon wieder die falsche Sache zur gewesen, wenn das Regime im Irak schnell zusammen- falschen Zeit!) gebrochen wäre oder aufgegeben hätte; das ist doch gar 3012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Krista Sager (A) keine Frage. W ir alle können nur hof fen, dass dieserJetzt kommen Menschen aus Tschetschenien und Afgha- (C) Krieg bald zu Ende gehen und nicht noch mehr Opfer nistan in den Irak, um dort zu kämpfen. Jetzt verüben fordern wird. Darüber brauchen wir uns hier nicht zu kleine islamistische kurdische Organisationen – Grup- streiten. Ich frage mich aber, ob wir uns eventuell über pen, die bisher in Feindschaft zu Saddam Hussein gelebt das Ziel streiten müssen, dass das irakische Volk – ich haben – Selbstmordattentate gegen amerikanische Sol- sage hier ganz bewusst: das irakische Volk – die Mög- daten. Das ist die Wahrheit. lichkeit bekommt, sein Leben in Frieden, Freiheit und Wir blicken mit großer Sor ge auf die Entwicklung in Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen. Pakistan. Wir beobachten mit großer Sorge, dass Nord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN korea in seinen Formulierungen über das Glück, über und bei der SPD) eine Atombombe zu verfügen, immer unberechenbarer , immer gefährlicher wird. Genau vor diesen Risiken ist Meine Damen und Herren, es ist doch bedrückend, immer gewarnt worden. Uns droht jetzt wirklich eine dass wir jetzt feststellen müssen, dass alle beschriebenen panarabische, panislamische nationalistische Bewe- Risiken, die Basis unserer politischen Entscheidung ge- gung, die die gesamte Region immer weiter destabili- wesen sind, schon jetzt eintreten und dass alle Befürch- siert. Genau davor haben der deutsche Außenminister tungen, die wir gehabt haben, schon jetzt wahr werden. und der Bundeskanzler immer gewarnt. Die Zivilbevölkerung ist real die Leidtragende. Es gibt nicht den modernen Krieg, der sich zielgerichtet gegen ei- Aus diesem Grund hat die deutsche Bundesregierung nen Diktator und sein Regime wendet und die Menschen immer gesagt: Wenn wir die Terrorbekämpfung ernst ungeschoren lässt. Alle Hoffnungen, die USA und ihre nehmen wollen, dann kann Irak nicht die erste Priorität Verbündeten würden als Befreier gefeiert oder es werde sein. in kürzester Zeit große Aufstände der Schiiten geben, sind (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hat doch Täuschungen gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dass die UNO beschlossen!) sich die humanitäre Katastrophe ausweitet, die sich be- reits deutlich zeigt. Diese T ragik belegt, dass alle W ar- Das ist auch die Antwort auf die angeblichen Widersprü- nungen vor diesem Krieg berechtigt gewesen sind. che, die Sie hier aufgedeckt haben wollen, Frau Merkel. Es sind keine Widersprüche. Die Bundesregierung hat zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Recht immer gesagt, der Irak könne bei der T errorbe- und bei der SPD) kämpfung nicht die erste Priorität sein. Dies war eine Frau Merkel, Sie haben hier versucht, ein paar beden- richtige Einschätzung der Lage. kende Worte zu finden, und geäußert, dass alles nun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch recht traurig sei. Sie haben aber gleichzeitig gesagt, (B) und bei der SPD) (D) der Krieg sei nun Realität. Damit machen Sie es sich wirklich zu einfach, weil Sie damit auch eine Betrach- Jetzt tritt das ein, was immer behauptet worden ist, tung der Risiken vom T ischgewischt haben. Sie haben wofür es aber keine Beweise gegeben hat und was es so zwar gesagt, man müsse sich die Risiken anschauen. auch bisher nicht gegeben hat. Jetzt kommt es plötzlich Aber genau dieser Satz ist Ihre W eise, sich die Risiken zu einer Union von islamistischen Terroristen mit Schur- nicht anzuschauen. Dies haben Sie hier schon die ganze kenstaaten. Der Krieg hat im Grunde genommen erst das Zeit über so praktiziert. geschaffen – er schafft es jeden Tag neu –, was die USA nach ihren Behauptungen gerade verhindern wollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist doch das Drama, vor dem wir jetzt tatsächlich und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ stehen. CSU]: Es gibt auch Risiken bei Nichthandeln!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Einkauf von Impfstoffen infolge der Ereignisse des und bei der SPD) 11. September hier so darzustellen, als hätte das ir gend- etwas mit der Irakpolitik zu tun, ist wirklich perfide ge- Dramatisch ist auch Folgendes: W ir wissen genau, wesen. dass wir unsere Aufgaben in Afghanistan noch nicht zu Ende erfüllt haben. Diese Aufgaben werden doch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und einfacher. Dies gilt auch für die Situation unserer Solda- bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: tinnen und Soldaten. Alles das ist ebenfalls eine fatale Natürlich! Frau Sager, die arbeiten daran! Neh- Folge dieses Krieges. men Sie das doch mal zur Kenntnis!) Frau Merkel, ich hatte wirklich gehofft, dass Sie heute Schauen wir doch einmal auf die Risiken: Schon jetzt nicht noch einmal eine solche Geschichtsklitterung steht ein laizistischer Diktator, der von den religiösen Is- versuchen würden. lamisten eigentlich immer nur verachtet worden ist, in großen Teilen der arabischen und der islamischen W elt (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES plötzlich als Identifikationsfigur da. Das ist absurd, das 90/DIE GRÜNEN) ist tragisch; aber sagen Sie doch bitte nicht, dass das Ich hatte es auch deswegen gehofft, weil ich selber eher nicht vorauszusehen gewesen ist. Genau davor ist ge- dafür bin, nach vorne zu diskutieren. Ich bin keine warnt worden. Freundin des Nachtretens, aber Sie haben hier wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Geschichtsklitterung versucht. Deswegen kann ich und bei der SPD) es Ihnen auch nicht ersparen, darauf einzugehen: Ihr Ja Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3013

Krista Sager (A) zum Irakkurs der US-Regierung ist ein Nein zur UNO und Burgfrieden jetzt die Ansage in Ihren Reihen ist, hat (C) gewesen, es ist ein Nein zu Blix gewesen, es ist ein Nein doch nur einen einzigen Grund, nämlich den: Alle wis- daran gewesen, das Arbeitsprogramm fortzusetzen, und sen, dass die Haltung Ihrer V orsitzenden zum Irakkrieg es ist ein Nein zur friedlichen Abrüstung gewesen. Das für die Außenpolitik in Deutschland irrelevant ist. Das ist die Wahrheit! ist der einzige Grund dafür , dass das bei Ihnen funktio- niert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Frau Merkel, Sie konnten von diesem Nein nicht da- durch ablenken, dass Sie jetzt anonyme Zitate von ano- Einige sind auch froh darüber ,dass das so ist. Für Ihre nymen Waffeninspekteuren anführten. Das ist einfach zu Wählerschaft und den Großteil Ihrer Mitglieder wäre es billig, weil zu viele Zitate von Herrn Blix selber und sei- ein Graus, wenn die Haltung von Frau Merkel zum Irak- nen namentlich bekannten Leuten dagegenstehen. krieg in diesem Lande in irgendeiner Weise gestaltungs- relevant wäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ehrlich gesagt, finde ich es perfide, dass Sie auch und bei der SPD – Dr . Friedbert Pflüger heute wieder den V ersuch unternehmen, der Bundesre- [CDU/CSU]: Dann könnt ihr uns aber nicht für gierung die Mitschuld für einen Krieg in die Schuhe zu den Krieg verantwortlich machen! Das passt schieben, bei dem Sie am liebsten vorne mit dabei gewe- irgendwie nicht so ganz!) sen wären. Dies entspricht doch den Tatsachen. Selbst dann, wenn es militärisch noch zu einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und schnellen Sieg der V erbündeten kommen sollte, ist aus bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: meiner Sicht der Alleingang der USA schon heute als Pfui!) Desaster anzusehen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Präsident Wolfgang Thierse: 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Kollegin Sager, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ich will Ihnen eines aber ganz deutlich sagen: Ich habe Kollegen Schäuble? die durchaus begründete Hof fnung, dass die W elt aus diesem Desaster lernen wird. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben nichts (D) Ich bin jetzt gerade so gut in Fahrt; deswegen aus- gelernt!) nahmsweise heute nicht, nächstes Mal gerne. Es zeigt sich schon heute, dass auch die mächtigste Su- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: permacht der Welt nicht in der Lage ist, in unserer immer Unglaublich!) komplexeren Welt, in unserer Welt, in der zahlreiche Ur- Frau Merkel, einige Medien haben es so dar gestellt, sachen und Wirkungen miteinander auf komplizierteste dass Sie in Ihrer eigenen Partei gewissermaßen unter Weise verschränkt sind, einfach im Alleingang eine poli- Friendly Fire geraten sind. Über Geschmack kann man tische Neuordnung herbeizuführen. Es ist doch so, dass streiten. Ich halte diese Wortwahl in dieser Zeit nicht un- selbst in Großbritannien, aber auch in den USA die Men- bedingt für passend. schen geradezu erschreckt reagiert haben, als Powell das Stichwort Syrien und Iran in die Debatte gebracht hat. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber trotz- Niemand glaubt doch mehr daran, dass Abrüstungs- dem gerade benutzt!) kriege heute die Antwort auf Massenvernichtungswaffen sind. Alle fordern umso mehr eine Stärkung der UNO Aber Tatsache ist: Ihr Kurs wird von großen Teilen Ihrer und eine Stärkung von wirksamen Waffenkontrollregi- Partei so nicht mehr für richtig gehalten. Das gilt vor al- men, die die V erbreitungvon Massenvernichtungswaf- lem für Ihre Wählerschaft. Ich finde es gut, dass Sie da- fen auf andere Art unterbinden. rüber streiten. Mein Problem ist nicht, dass Sie in der CDU streiten; mein Problem ist, dass Sie viel zu spät (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und viel zu halbherzig streiten. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin ganz sicher: Die UNO wird ihre Rolle wieder und bei der SPD) finden und sie muss sie auch wieder finden. Ich bin aus- Dass Sie sich jetzt so schnell wieder um Ihre Vorsitzende gesprochen froh darüber, dass auch Tony Blair die UNO scharren – manche scharren, manche scharen; das weiß wieder ins Spiel gebracht hat. Was wir mit der UNO er- man bei Ihnen nicht so recht –, dass Sie sich so schnell leben, erleben wir ganz ähnlich auch mit Europa. W er wieder um Ihre Vorsitzende versammeln mit den Menschen in diesem Land spricht, der merkt: Das Interesse an der UNO ist größer denn je; es ist nicht (Dr. [CDU/CSU]: Das kleiner geworden. Das Gleiche gilt auch für Europa. ist anders als bei euch! Da versammelt sich Die Menschen wollen gerade vor dem Hinter grund der niemand!) Erfahrung mit dem Irakkrieg heute mehr denn je ein star- 3014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Krista Sager (A) kes Europa. Es ist eine Riesenchance, dass die Menschen Herr Westerwelle, Sie haben gesagt: Die Außenpolitik (C) dieses Europa endlich als ihr Europa begreifen. muss daran gemessen werden, wie sie sich auf die Men- schen auswirkt. Hierbei sind aber bitte schön auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auswirkungen auf die Menschen im Nahen Osten zu be- und bei der SPD) rücksichtigen und nicht nur die auf die Menschen in Eu- Wir haben doch lange die Situation gehabt, dass viele ropa. Menschen gesagt haben: Europa ist ein Europa für die Bürokraten und für die Diplomaten. Es ist ein Europa, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das viel kostet und mit den Bür gerinnen und Bür gern und bei der SPD) nicht so viel zu tun hat. – In den Gesprächen, die wir Meine Damen und Herren, auch wir werden dazu bei- heute führen, erleben wir, dass die Menschen jetzt sagen: tragen, dass es im Rahmen einer Europäischen Sicher- Ja, wir brauchen ein starkes Europa, und zwar als starken heits- und Verteidigungspolitik zu einer stärkeren Zu- Partner in multilateralen Zusammenhängen und Struktu- sammenarbeit kommt. Dazu gehören auch gemeinsame ren. – Das wollen die Menschen und deswegen ist es militärische Strukturen, aber nicht nur . Ich sage aus- richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt. drücklich: Dazu gehört auch die Stärkung der Struktu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren, die die friedliche Konfliktbewältigung ertüchtigen. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist keinesfalls so, Herr Westerwelle, dass die Bun- Wir brauchen einen ganzheitlichen, einen erweiterten Si- desregierung hier einseitig operiert. Die Gespräche mit cherheitsbegriff und nicht einen, der nur das Militärische den osteuropäischen Staaten, mit den osteuropäischen umfasst. Außenministern werden doch längst geführt. Natürlich ist es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker , (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Menschen zu sagen: W ir wollen ein starkes Europa und bei der SPD) nicht als Gegengewicht zu den USA, sondern als starken Partner für die USA, denn wir brauchen die USA weiter- Natürlich ist die belgische Initiative, an der sich hin, um auf der Basis der transnationalen Zusammen- Deutschland und Frankreich beteiligen, hänge auf Konflikte in dieser Welt zu reagieren und sie (Zuruf von der CDU/CSU: Luxemburg!) friedlich zu lösen, beispielsweise im Nahen Osten, aber auch zwischen Indien und Pakistan. Das ist überhaupt keine exklusive Veranstaltung; alle europäischen Staaten keine Frage. sind eingeladen. Ich glaube, dass viele europäische Staa- ten sehen werden, dass ihnen eine solche Initiative auch (B) Es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir die osteu- (D) deswegen nützt, weil sie Ressourcen sinnvoll bündelt. ropäischen Länder nicht vor die Wahl zwischen NATO Wenn in Zukunft nicht mehr jeder Nationalstaat für sich und EU stellen wollen. W eil wir ihnen diesen Spagat alleine seine Militärpolitik macht, sondern man die nicht zumuten wollen, sagen wir: Wir wollen ein starkes Kräfte bündelt, können alle europäischen Länder ihre Europa in einem transatlantischen Bündnis. Das ist für Ressourcen vernünftig einsetzen. uns überhaupt keine Frage; dafür werden wir auch ein- treten. Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umstrukturierung der Bundeswehr weiter voranzutrei- und bei der SPD) ben. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass die Verab- redungen, die wir für die nächsten drei Jahre getrof fen Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, haben – Herr Minister Eichel schaut schon ganz erwar- in einer Frage gehen wir Ihnen nicht auf den Leim: Sie, tungsvoll –, selbstverständlich weiter gelten. Wir müssen Frau Merkel – bei Herrn Westerwelle hat das leider auch nämlich diese Umstrukturierung voranbringen. Natürlich ein bisschen angeklungen –, versuchen uns hier einzure- werden wir im Rahmen entsprechender innereuropä- den, dass ein bedingungsloses Ja zur US-Politik, also so- ischer Verständigungen auch in Zukunft einen angemes- zusagen eine stillschweigende Unterstützung des ameri- senen Beitrag für die Stärkung Europas leisten müssen. kanischen Präventivschlags gegen den Irak, der Preis für Dafür werden wir auch um Verständnis bei der Bevölke- europäische Einigkeit und für Einigkeit in der UNO sei. rung werben. Das ist für mich gar keine Frage. W ir Dazu sage ich Ihnen: So kann Einigkeit in Partnerschaf- Grüne werden aber , wennwir in Zukunft über die ten nicht aussehen. Neustrukturierung der Bundeswehr sprechen und disku- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tieren, auf die Agenda auch das Thema der W ehrpflicht und bei der SPD) in diesem Lande setzen. Auch in einer Partnerschaft ist verantwortliches Han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deln, in diesem Fall also eine verantwortbare Politik, sowie bei Abgeordneten der SPD) notwendig. Das bedeutet: Wnn e ein Partner eine ekla- Meine Damen und Herren, natürlich wird die Bundes- tante Fehlentscheidung trifft, muss man zu dieser Fehl- wehr weiter eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür wer- entscheidung Nein sagen können. Ein Europa, das darauf den wir sorgen. basiert, dass man wegen der Einigkeit zu Dingen Ja sa- gen muss, die für alle anderen Menschen in der W elt (Michael Glos [CDU/CSU]: Da sind Sie wie- hochgefährlich sind, wäre kein starkes Europa. der gegen den Kanzler!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3015

Krista Sager (A) Wir werden gleichzeitig dafür sorgen, dass die Bundes- Sie haben großes Glück: Sie haben in den Grünen im (C) republik Deutschland ihre Handlungsfähigkeit auch in Prinzip eine Schoßhundpartei. W enn es um die Unter- multilateralen Zusammenhängen behält. W ir werdenstützung Ihrer Politik geht, sind sie so friedlich und aber, Herr Westerwelle, Ihnen nicht dabei behilflich sein, fromm wie Schoßhündchen. Aber nach außen gehen sie wenn Sie im Schatten des Irakkrieges Ihre innenpoliti- mit verbalen Angriffen gegen die Opposition vor und tun schen Spielchen betreiben. so, als ob wir die Kriegstreiber gewesen wären. Das finde ich unverschämt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dummes Ge- schwätz!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie der Meinung sind, dass, wenn die FDP eine Frau Sager, zu dem, was Sie soeben geboten haben, Watsche vom Bundesverfassungsgericht bekommt, eine kann man nur fragen: Soll das bedeuten, dass man sich solche Watsche zu Rechtssicherheit in diesem Lande bei- – der Bundeskanzler, die Bundesregierung, vielleicht das trägt, dann ist mir um die Rechtssicherheit in diesem ganze deutsche Volk – dafür bedanken muss, dass Sie Lande gar nicht bang; das muss ich Ihnen sagen. ausnahmsweise keinen Sonderp arteitag der Grünen zu- gelassen haben? Im Falle eines Sonderparteitages wüss- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten wir nicht, wie es um die Fähigkeit der Bundesregie- sowie bei Abgeordneten der SPD) rung stünde, das zu tun, was bündnispolitisch notwendig Wir werden auf jeden Fall die Bundesregierung dabei ist. unterstützen, die multilateralen Strukturen auf der Basis Herr Bundeskanzler, wir waren unlängst, einen T ag internationalen Rechts zu stärken und in diesen multila- vor Ausbruch des Krieges, beim Bundespräsidenten teralen Strukturen dafür zu sorgen, dass Europa ein star- eingeladen. Ich fand das sehr gut. Es waren alle Parteien ker und zuverlässiger Partner wird. vertreten. Außer der PDS hat sich niemand direkt gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das gestellt, was notwendig ist. Ich will nur daran erin- und bei der SPD) nern: Die PDS ist in einigen Landesregierungen Bünd- nispartner der SPD. Präsident Wolfgang Thierse: Es bestand dort Konsens darüber , dass die Frage der Ich erteile Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Frak- Überflugrechte und die Frag e der Stützpunktbenutzung tion, das Wort. nicht angezweifelt werden; denn es ist ein Stück Staats- räson, dass wir im Bündnis nicht noch mehr zerstören, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als zerstört worden ist. Dass man sich dennoch in T alk- (B) shows und bei anderer Gelegenheit von führenden Mit- (D) Michael Glos (CDU/CSU): gliedern nicht nur der SPD und der Grünen, sondern auch der Bundesregierung ständig anhören muss, wir Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und seien diejenigen, die einen völkerrechtswidrigen Krieg Herren! Wir stehen natürlich alle unter dem Eindruck unterstützen, das finde ich den Gipfel. Lassen Sie sich des Krieges im Irak und wir hof fen alle, dass der Krieg schnell mit einem Sieg der Amerikaner und ihrer V er- das alles einmal zeigen. Die vorhin neben Ihnen sitzende Staatsministerin im Auswärtigen Amt, die V ertreterin bündeten zu Ende geht. von Herrn Fischer , ist eine der Schlimmsten in dieser Herr Bundeskanzler, ich habe eigentlich erwartet, Hinsicht. dass Sie dies auch bei Ihrer heutigen Regierungserklä- rung so sagen; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort zu schlimmem Verhalten. Frau Sager , vielleicht leihen denn wir können bei diesem Krieg, auch wenn wir ihn in Sie mir einen Moment Ihr Ohr. Ich konnte Ihnen meines der Konsequenz alle nicht gewollt haben – uns wären an- nicht verweigern; denn Ihre Stimme ist ziemlich durch- dere Lösungen lieber gewesen –, nicht neutral sein. Inso- dringend. Frau Sager, wie ich weiß, sind Sie aus Ham- fern begrüße ich das, was der SPD-Generalsekretär burg, Sie waren früher Mitglied des Hambur ger Senats. Scholz gesagt hat, nämlich dass ihm an einem schnellen Wie Sie allerdings mit der führenden Hambur ger Wo- Sieg der Alliierten gelegen sei, nicht zuletzt um die chenzeitung „Die Zeit“ umgegangen sind, das finde ich Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Ich höchst empörend. Die „Zeit“ hat ganz klar gesagt, sie glaube, das sollte Konsens in diesem Hause sein. bürge für die Seriosität der Aussagen der UN-Inspek- teure, weil die sich namentlich nicht äußern dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann in dieser Art und Wise e gegen die „Zeit“, deren Über das Versagen der Politik und das Nicht-halten- Herausgeber immerhin Staatsministerin Ihrer Regierung Können des Friedens ist hier viel diskutiert worden. gewesen ist, vorzugehen, finde ich ein bisschen seltsam Auch heute hat das wieder eine Rolle gespielt. Ich und sehr komisch. möchte nur noch einmal sagen: Der Einfluss der Parla- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mente auf die Außenpolitik der Regierungen ist an sich gering, außer es gibt Parlamentsmehrheiten, die richtig Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich be- aufbegehren, wie es zum Beispiel in Großbritannien und schuldige die Bundesregierung nicht, an diesem Krieg anderen Ländern geschieht. schuld zu sein. Sie ist nicht direkt schuld und trägt schon 3016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Michael Glos (A) überhaupt keine Alleinschuld. Aber eines ist auch sicher: schichte. Insofern ist es richtig: W ir haben nach dem(C) Rot-Grün hat diesen Krieg nicht verhindert und hat ei- Krieg Wiederaufbauarbeiten zu leisten: Wiederaufbauar- gentlich auch nichts Entscheidendes zu seiner Verhinde- beiten an der UNO, Wiederaufbauarbeiten an der NATO rung beigetragen. und auch gewaltige W iederaufbauarbeiten in der Euro- päischen Union. Die Europäische Union wird ja heute Ich meine, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen im Prinzip nur noch durch die Gemeinschaftswährung nicht in Frage stellen sollten, weil wir selbstverständlich Euro zusammengehalten. Frau Merkel hat es zu Recht dieses Bündnis für die Zukunft brauchen. Dazu war in gesagt, ich möchte es hier wiederholen: Wir haben nicht Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler , ja sehr vergessen, dass Sie den Euro als kränkelnde Frühgeburt viel zu hören, obwohl ich mir manches konkreter ge- beklagt haben. Hätten wir diese kränkelnde Frühgeburt wünscht hätte. nicht, wäre die ganze Europäische Union jetzt am Ende. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto (Beifall bei der CDU/CSU) Solms) Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Mangel Die Verstöße von Saddam Hussein gegen internatio- an Einigkeit in Europa beklagt; sie wäre wünschenswert nales Recht sind of fenkundig und vor diesem Hinter- gewesen. Ehrlicherweise hätten Sie auch zugeben müs- grund mutet die Diskussion in den Reihen von Rot-Grün sen, dass Sie zu dieser Uneinigkeit entscheidend beige- über die rechtliche Zulässigkeit der militärischen tragen haben. W enn man einen Sonderweg ankündigt Intervention im Irak schon sehr seltsam an. Der Herr und wenn man sagt: Mit uns niemals!, dann ist man von Bundesaußenminister hat heute ein Interview im „Han- vornherein kein ernst zu nehmender Gesprächspartner delsblatt“ gegeben, das ich zumindest eindrucksvoller mehr. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. und konkreter finde als Ihre Regierungserklärung. Ich möchte ihn aber nicht mit dem „Handelsblatt“, sondern (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser mit dem „Spiegel“ zitieren. Dort hat er im Dezember die [SPD]: Nein!) Resolution 1441 für rechtlich ausreichend erklärt. Nun gibt es große Völkerrechtsabteilungen im Auswärtigen Wir müssen natürlich auch den Hinter grund in den Amt und im Bundeskanzleramt. Es gibt allerdings auch Vereinigten Staaten sehen. Nach dem Selbstverständnis ein Gutachten des W issenschaftlichen Dienstes des der Vereinigten Staaten befindet sich dieses Land seit Deutschen Bundestages, das zu einer anderen Aussage dem 11. September 2001 praktisch im Krieg. Herr Bun- kommt. Ich habe mich gefragt: Wie kannst du als Laie deskanzler, Sie haben sofort nach diesen schrecklichen dir eine Schneise durch dieses Dilemma schlagen? Ich Attentaten die uneingeschränkte Solidarität verspro- habe die Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes chen. Damals sind hohe Erwartungen geweckt worden. (B) gebeten, das von Herrn Thierse vor gelegte GutachtenIch meine, dass das Durchsetzen der 17 Resolutionen(D) des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu be- des Sicherheitsrats schon dann begonnen hatte, als sich werten. Das wurde natürlich abgelehnt. Also bleibt die- die Vereinigten Staaten überlegt haben, von wo Gefahren ser Streit offen und – seien wir ehrlich – er ist ja auch für sie ausgehen. W ir wissen,dass aus diesem T eil der nicht seriös zu Ende zu führen. Welt die Anschläge erfolgt sind, obwohl kein unmittel- barer Zusammenhang zwischen al-Qaida und Saddam Nur sollten wir uns dann keine gegenseitigen Vor-Hussein nachzuweisen ist. würfe machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Oppo- sition, die nicht handelnd ist in diesem Land, sich stän- Wir diskutieren nach vorne. Unser Kontinent, das alte dig den Vorwurf gefallen lassen muss, sie unterstütze und selbstverständlich auch das neue Europa, benötigt einen völkerrechtswidrigen Krieg. Wir haben in der Hin- ein Fundament, wenn es sich nicht im Status einer Zoll- sicht nichts zu unterstützen, die Regierung ist handelnd. und Währungsunion verlieren sollte. Die Europäische Würde dieser Vorwurf, der aus Ihren Reihen immer wie- Union braucht deswegen dringend ein neues Selbstver- der erhoben wird, stimmen, müssten Sie eigentlich da- ständnis. Sie muss ihre kontinentalen und globalen Inte- nach handeln und mit Hilfe von Müntefering und ande- ressen genau definieren. Auch das ist eine der Lehren aus ren, die sich scharf durchz usetzen wissen, verhindern, diesem Krieg. Franz Josef Strauß hat vor mehr als 30 Jah- dass diese Vorwürfe ständig gegen uns erhoben werden. ren einmal gesagt: Ohne eine gemeinsame Stimme ist Eu- ropa auf der Bühne der W eltpolitik kein mitspielendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Subjekt, sondern ein Objekt, mit dem gespielt wird. – neten der FDP) Dieses Gefühl hatten wir in dieser schwierigen Zeit wie- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube der. auch, dass die Politik der einseitigen Vorfestlegung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. amtierenden Bundesregierung den Scherbenhaufen, ins- Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) besondere in den internationalen Beziehungen, schon ein Stück zu verantworten hat. Die UNO hat ungeachtet ih- Deswegen bekennen wir uns dazu, dass Europa eine rer erfolgreichen Bemühungen im humanitären Bereich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Die als System kollektiver Sicherheit jetzt leider jegliche früheren europäischen Großmächte sind zu klein, um Überzeugungskraft verloren. Die NATO – Sie haben das eine globale Rolle übernehmen zu können. Nur durch ebenfalls beklagt – befindet sich trotz der Osterweite- ein abgestimmtes Verhalten vermag Europa im Zeitalter rung und der einmütigen Solidaritätsbekundungen auf der Globalisierung auch globale Verantwortung zu über- dem Gipfel in Prag in der größten Krise ihrer Ge- nehmen und globalpolitisches Gewicht einzubringen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3017

Michael Glos (A) Deswegen muss das Misstrauen überwunden werden. ischen Weg gehen wollen. Das zu sagen gebietet die Ehr- (C) Wenn man einen Gipfel von Franzosen, Deutschen, lichkeit. Es gibt hier nichts zum Nulltarif. Belgiern und vielleicht von Luxembur gern anberaumt, dann weckt das anderswo Misstrauen. Ich hof fe, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht dieses Sondertreffen, sondern ein Treffen der maß- neten der FDP) geblichen Kräfte in Europa stattfinden wird. Dass Deutschland und Frankreich wieder besser har- Die Arbeit des Reformkonvents für einen Verfas- monieren, ist zunächst nicht zu beklagen. Nur darf sich sungsvertrag ist weit fortgeschritten. V orhin ist wieder das nicht gegen das übrige Europa richten. Es hilft die Forderung nach einem europäischen Außenminister nichts, wenn der Motor wieder läuft. Zweitaktmotoren erhoben worden. W ir sind selbstverständlich dafür; so sind nicht mehr in; wir brauchen heute andere Motoren. steht es auch in unserem Wahlprogramm. Wie hätte aber Aber wenn das Auto wieder fährt, da der Motor läuft, dieser Außenminister in der entstandenen Situation ab- muss es in die richtige Richtung gehen. Die richtige stimmen sollen, mit der einen Hand so und mit der ande- Richtung ist natürlich: Gemeinsamkeit. ren Hand so? Es gehört dazu, dass der Wille zur Gemein- Wir haben heute bereits kurz über die Brüskierung samkeit vorher stärker definiert wird. Es gehört dazu, diskutiert, die gegenüber den osteuropäischen Ländern dass wir gemeinsame Sicherheitsstrukturen schaffen. erfolgt ist. Ich habe in der letzten Zeit zwei Besuche in Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von europä- dieser Region gemacht. Ich weiß, wie durcheinander ischen Blauhelmen gesprochen. Sie sind schon jetzt im man dort ist. Man sagt dort: W ir hatten eigentlich das Einsatz. Ich finde es großartig – das hat mich bei meinen Gefühl, einem anderen Europa beizutreten. Jetzt müssen Besuchen im Kosovo am meisten beeindruckt und nicht, wir plötzlich zwischen unserer Freundschaft zu Deutsch- dass mir Ihr früherer V erteidigungsminister den Flieger land und unserer Freundschaft zu Großbritannien sortie- weggenommen hat –, dass man dort sehen konnte, dass ren. Wir müssen auch sortieren, ob wir für oder gegen die europäischen Nationen bis hin zu den Ukrainern in die USA sind. der Praxis zusammenarbeiten, um gemeinsam Frieden zu (Franz Müntefering [SPD]: CDU und CSU schaffen und Frieden zu erhalten. Wenn das jetzt endlich dazu!) unter europäischer Führung möglich ist und wenn wir dazu die Amerikaner nicht mehr brauchen, dann bekla- Ich glaube, das haben sich alle nicht gewünscht und das gen wir das nicht. Aber ohne den Einsatz der Vereinigten wünschen sie sich auch jetzt nicht. Staaten und ohne die NATO wäre es nicht einmal mög- lich gewesen, terroristische Regime in Europa zu be- Vizepräsident Dr. : kämpfen. (B) Herr Kollege Glos, kommen Sie bitte zum Schluss. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (CDU/CSU): Wir benötigen eine abgestimmte Struktur . Wenn Eu- Michael Glos ropa militärisch ernst genommen werden will, benötigen Meine Redezeit ist offen. Herr Parlamentarischer Ge- wir eine Einsatzfähigkeit, die politisch und militärisch schäftsführer, teilen Sie das bitte dem Präsidium mit! Es – quasi unter einem Kommando – sicher gestellt ist. Wir war so ausgemacht. brauchen natürlich entsprechende Fähigkeiten, auf Kri- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE sen zu reagieren. Selbstverständlich bedarf es dazu GRÜNEN]: Sie haben eine of fene Redezeit? Mehrausgaben für die V erteidigungspolitik; anders Wir sind doch nicht in Bayern! – Franz geht es nicht. Ansonsten wäre es eine leere und hohle Müntefering [SPD]: Versuchen Sie nicht, Ihre Forderung. CSU niederzumachen! – Dr . Peter Ramsauer Je stärker und je schneller wir uns von den Vereinig- [CDU/CSU]: Müntefering, wir brauchen von ten Staaten von Amerika entfernen – ich plädiere nicht Ihnen keine Ratschläge!) dafür; das muss klar sein; aber viele von Rot-Grün träu- Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Noch men davon –, desto mehr Mittel werden gebraucht und schwerer als der V erlust an politischem Gewicht wirkt desto rascher werden sie benötigt. natürlich in Europa – auch darauf müssen wir achten – Um die T agungen, die Sie, Herr Bundeskanzler , inunser Verlust an ökonomischem Gewicht. Wir können diesem Zusammenhang jetzt halten müssen, beneide ich unsere Rolle in der Welt nur spielen und wir werden nur Sie nicht. Wir sehen manchmal Fernsehbilder davon, wie ernst genommen, wenn bei uns im Land die Verhältnisse Sie diese emphatisch mit „Liebe Genossinnen! Liebe auch ökonomisch in Ordnung sind. Genossen!“ eröffnen. Sie versuchen, die lieben Genos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass wir von neten der FDP) vielem lieb Gewordenen Abstriche machen müssen, weil unser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist und die öf- Das ist für eine gemeinsame Sicherheitspolitik mindes- fentlichen Haushalte überschuldet sind. tens genauso wichtig wie die Tatsache, dass wir militä- risch stärker werden und auf diesem Gebiet in größerer Wenn Sie ehrlich sein wollen, sollten Sie gleichzeitig Gemeinsamkeit vorgehen. hinzufügen, dass mehr Geld aufgebracht werden muss und wir an anderer Stelle noch stärker sparen müssen, Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die trans- weil wir in der Sicherheit einen gemeinsamen europä- atlantische Partnerschaft wieder pflegen. Herausforde- 3018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Michael Glos (A) rungen lassen sich nur meistern, wenn die USA und Eu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) ropa wieder an einem Strick ziehen. Deswegen sollten DIE GRÜNEN) wir das Verhältnis zu den USA wieder in Ordnung brin- gen. Ich bin tief enttäuscht darüber, dass eine so renommierte Zeitung wie „Die Zeit“ einen solchen Artikel bringt. Ich (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das ist längst in denke, darüber müssen wir noch einmal reden. Ordnung!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Es darf nicht Ob es Rot-Grün wieder gelingt, bei der amerikanischen alles verschwiegen werden, was wahr ist!) Administration Vertrauen zu bekommen, ist für mich eine sehr offene Frage. Aber wir bieten im gemeinsamen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach etwa Interesse gerne unsere Hilfe an. zwei Wochen Krieg und den vielen unerträglichen Bil- dern von verletzten und toten Soldaten, von verletzten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und toten Zivilisten sind wir alle gefühlsmäßig und emo- Lachen der Abg. Dr. Elke Leonhard [SPD] und tional stark belastet. Wenn wir dann von Splitterbomben der Abg. Claudia Roth [Augsbur g] [BÜND- und – wenn es denn wahr ist – von der Anwendung ei- NIS 90/DIE GRÜNEN]) gentlich verbotener Antipersonenminen durch die Ame- rikaner hören, zeigt sich uns die ganze Tragik dieses – Frau Roth, für Sie mag das lächerlich sein. Sie nehmen Krieges. Angesichts dessen darf man mit dem Thema die deutschen nationalen Sicherheitsinteressen sowieso nicht so leichtfertig umgehen, wie es die CDU/CSU hier nicht ernst. Insofern wundert mich Ihr Lachen überhaupt getan hat. nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesaußenminister Fischer ist heute mit schwerem DIE GRÜNEN) Gepäck zu Außenminister Powell geschickt worden. Er hat nämlich unter anderem diese Regierungserklärung Ich finde die ganze Situation zutiefst tragisch. Warum dabei, die man in den USA sicher verfolgt hat. Diese finde ich sie zutiefst tragis ch? Weil sich alle Erwartun- war, was das deutsch-amerikanische V erhältnis anbe-gen, die an diesen Blitzkrieg, an den schnellen, sauberen langt, zu dürftig. Krieg gestellt worden sind, als Illusionen herausgestellt haben, weil dieser Krieg ganz offensichtlich keine Frei- Wir alle wünschen uns, dass nach dem Krieg, der hof- heit und keine Demokratie bringt, weil er sich zu einem fentlich schnell zu Ende ist, nicht nur gemeinsam am Albtraum zu entwickeln scheint. Ich bin von tiefer Sorge Wiederaufbau des Irak gearbeitet wird, sondern dass darüber erfüllt, dass wir es bisher nicht fertig gebracht wir auch gemeinsam an dem Wiederaufbau und an der (B) haben, uns mit der dahinter stehenden Problematik un- (D) Erneuerung unserer uns sehr wichtigen Sicherheitsinsti- terschiedlicher Philosophien und Strategien zu beschäfti- tutionen arbeiten können. Dazu haben Sie ausdrücklich gen. Deshalb will ich das heute hier versuchen. die Unterstützung von CDU und CSU. Dies ist Amerikas erster Präventivkrieg. Danke schön. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Jedoch können wir die Legitimation eines Präventiv- krieges nicht unterstützen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der DIE GRÜNEN) SPD-Fraktion. Ich zitiere jetzt den US-Beauftragten für internationale Sicherheitsangelegenheiten, Peter Rodman. Er hat ge- Uta Zapf (SPD): sagt, dass dieser Krieg ein V ersuchsfeld für Amerikas neue Strategie sei – das sind nicht meine Worte, sondern Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich die Worte des US-Beauftragten –, eine Strategie, die von möchte doch einmal aufgreifen, was Frau Merkel hier zu der Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittel der Schuld der Deutschen am Krieg gesagt hat. Auch der Verhinderung von Proliferation ausgeht und dass sie Herr Pflüger hat das schon einige Male gesagt. Ich finde auf ihre Tauglichkeit als Standard für die zukünftige An- das unerhört. Sie haben gesagt, dass Deutschland sozu- tiproliferationspolitik der USA getestet werde. sagen schuld daran ist, dass dieser Krieg geführt werden musste, weil wir Nein zu dem Krieg gesagt und damit Dies ist eine Entwicklung, der wir uns stellen müssen. den Druck gemindert haben. Was der Bundeskanzler heute hier über die Ansätze un- serer Politik gesagt hat, steht dagegen. Es gibt einen gro- Sie führen dazu die Aussagen der anonymen Inspek- ßen Unterschied. Wir müssen ernsthaft darüber diskutie- toren an. Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungs- ren, wie wir im transatlantischen Verhältnis den Konsens kontrolle haben wir uns gestern danach erkundigt. W ir in der Antiproliferationspolitik, den wir in der V ergan- haben bestätigt gefunden, dass nicht die Aussagen dieser genheit hatten, wieder herstellen. Inspektoren seriös sind, sondern das, was Herr Blix vor ein paar Tagen gesagt hat, als er enttäuscht aufgegeben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat. Ich empfehle, mit so etwas sehr seriös umzugehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3019

Uta Zapf (A) Was hat Rodman in diesem Zusammenhang noch ge- den diese Instrumente abgewertet und zu V erzierungen (C) sagt? Er hat gesagt, dass die künftige Außenpolitik und von Politik erklärt. Sie werden auch in der aktuellen internationale Politik der USA an diesem Irakkrieg ent- amerikanischen Politik nicht gestärkt, sondern ge- schieden werde und dass die herkömmlichen internatio- schwächt. Wir müssen darauf hinwirken, dass diese in- nalen Systeme zur V erhinderung der V erbreitung vonternationalen Instrumente gestärkt werden. Massenvernichtungsmitteln ausgedient hätten. Wir haben in der V ergangenheit durch die Anwen- Ich glaube, dass wir gemeinsam so lange für die Ent- dung solcher Instrumente dazu beigetragen, uns sicherer wicklung solcher gemeinsamer internationaler Systeme gegen die Verbreitung vonMassenvernichtungswaffen gekämpft haben und dass uns eine solche Aussage, dass zu machen. Was jetzt hinzugekommen ist, ist die Furcht uns eine solche Tendenz nicht kalt lassen kann. Wir müs- vor Terrorismus, der auch mit Massenvernichtungswaf- sen uns wirklich dafür einsetzen, dass durch die Diskus- fen arbeiten kann. Es ist wichtig, zu erkennen, dass sich sion mit unseren transatlantischen Partnern der Wert die- Terroristen keine Atombombe von Nordkorea besor gen ser Systeme wieder anerkannt wird. Sonst werden wir werden. Es ist viel wichtiger , Materialien und Agenzien keine Antiproliferationspolitik machen können. W irzu sichern, die aus den Abrüstungsbeständen stammen werden spätestens am Ende dieses Krieges sehen, dass und relativ ungesichert sind. es keine gute Strategie ist, mit Waffengewalt gegen Mas- senvernichtungswaffen vorzugehen. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist richtig!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deshalb ist die G-8-Initiative, die zur Sicherung des nu- klearen und chemischen M aterials aus den Abrüstungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme mit mei- beständen Russlands unternommen worden ist, wesent- ner Kollegin Frau Sager überein, dass das Ziel dieses lich wichtiger, weil meiner Überzeugung nach eine Krieges, von dem zu dessen Beginn gesprochen worden größere Gefahr darin besteht, dass diese Agenzien in die ist und das Bush deklariert hat, nicht erreicht werden Hände von Terroristen gelangen. kann. Wir müssen vielmehr befürchten, dass es noch viel schlimmer wird, als wir es uns im Moment vorstellen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) können. Ich kann verstehen, dass die Politik, nicht zu Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass warten, bis wir in eine T ragödie schlittern – so hat es die Politik der Bundesregierung und der EU – im Ansatz Bush gesagt –, sondern die Gefahr aktiv zu bekämpfen, bestehen keine Unterschiede –, die von Prävention aus- ehe sie akut wird, aus dem T rauma des 11. September geht und nicht von Präemption, das heißt, mit militäri- entstanden ist. Damals wurde den Amerikanern die ei- schen Mitteln zuzuschlagen, um vermutete Gefahren zu gene Verwundbarkeit plötzlich und ziemlich abrupt vor (D) (B) bekämpfen, durchaus erfolgreich war . Das können wir Augen geführt. Dies hat zu einer gewissen Radikalisie- an dem Stabilitätspakt in Europa und vor allem an Maze- rung bei der Frage geführt, wie man sich vor solchen Ge- donien und auch Afghanistan ablesen. fahren schützen muss. Ich glaube, dass wir nicht rein mi- litärisch vorgehen dürfen, sondern dass wir auf Ich befürchte aber, dass der Krieg im Irak all unsere diplomatische Mittel und auf internationale Koalitio- Anstrengungen in Afghanistan – das dortige Gebilde ist nen setzen müssen, um T error und die Verbreitung von bisher ohnehin fragil – konterkarieren könnte. Frau Massenvernichtungsmitteln zu bekämpfen. Das muss die Sager hat darauf hingewiesen, wie destabilisierend das Politik sein, der wir uns in den nächsten Monaten und möglicherweise auch auf Pakistan wirken kann. W enn Jahren noch intensiver widmen müssen. ich daran denke, welche Gefahren aus dieser Region möglicherweise auf uns zukommen können, kann ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur sagen: Gnade uns Gott. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Sager hat ausgeführt, welche antiamerikanischen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista und antiwestlichen Gefühle und Koalitionen entstanden Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sind. Ich füge, um diese Aussage weiter zu verstärken, Ich glaube, die T errorbekämpfung muss ganz woan- hinzu: Der T errorismus wird meiner Meinung nach ders ansetzen, nämlich bei der Armutsbekämpfung, bei durch diesen Krieg eher gestärkt, als dass er eingedämmt der Unterstützung von Bildung und Ausbildung, wird, so wie Bush es erwartet hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn man Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hört, muss man diese Befürchtung haben!) bei der Stärkung der Partizipation – nur dann werden wir Wir müssen die neue Strategie der Amerikaner Demokratisierung erreichen – und bei der Minderung ernsthaft betrachten, weil sich in ihr zwei Gedanken fin- von Fluchtursachen, nämlich, wie gesagt, Armut, aber den. Die Amerikaner gehen in ihrer Strategie einmal da- auch ökologischen Problemen. Wir müssen die Demo- von aus, dass die bisherigen konventionellen Mittel an- kratie und die Rechtsstaatlichkeit stärken und wir brau- gewendet werden können. Dazu zählen Diplomatie, chend dringend einen interkulturellen Dialog. Rüstungskontrolle sowie multilaterale Abkommen wie das Chemiewaffenabkommen, das Biowaf fen-Überein- Wenn wir uns anschauen, was dort an Optionen für ei- kommen, der Nichtverbreitungsvertrag und das Regime nen Dialog der Versöhnung und Verständigung zerstört zur Raketentechnologiekontrolle. Aber gleichzeitig wer- worden ist, dann wissen wir , dass wir für Prävention 3020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Uta Zapf (A) noch sehr viel zu tun haben. Ich hoffe, dass wir uns nicht Wir werfen ihm vor , dass er Europa erst spaltet und (C) auf eine Präemptionsstrategie einlassen. dieses dann auch noch zur politischen Großtat erklärt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Franz Müntefering [SPD]: Schwarze Socke! – DIE GRÜNEN) Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wenn es wenigstens witzig wäre!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Positiv haben wir zur Kenntnis genommen, dass der Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Hintze von der Bundeskanzler die NATO wieder entdeckt hat. Dazu hat CDU/CSU-Fraktion. er Interessantes und Richtiges gesagt. Er hat heute Mor- (Beifall bei der CDU/CSU) gen erklärt, die Zusammenarbeit in der NATO solle ver- tieft und die gemeinsame Analyse gesucht werden. Das klingt gut und ist auch richtig. Es wäre aber noch besser Peter Hintze (CDU/CSU): und noch richtiger gewesen, wenn sich der Bundeskanz- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ler diese Grundsätze über den Geist, den die NATO be- ren! Die Fernsehbilder über den Krieg im Irak von CNN stimmen sollte, am Anfang der Irakkrise klar gemacht und al-Dschasira beschäftigen uns stark. Ich hof fe, dass hätte. Wenn sich die fünf Mitglieder des Weltsicherheits- wir über diese Bilder nicht die Bilder vergessen, die die rates, die der NA TO angehören, zusammengesetzt hät- Opfer des Regimes in Bagdad in ihren Herzen tragen ten, wenn Deutschland, das den V orsitz im Weltsicher- und von denen sie erzählen. Man kann nachlesen, wie heitsrat hatte, diese Aufgabe zu seiner Aufgabe gemacht Menschen in Salzsäurebäder gezwungen, Frauen in Ge- hätte, dann wäre es möglicherweise anders gekommen. fängnissen von den Schergen erniedrigt und vergewaltigt und Männer aus ihren Familien gerissen und nachts auf (Beifall bei der CDU/CSU) die Straße geführt und dort erschossen werden. Das sind In dieser Woche erleben wir mit der Übernahme des schlimme Bilder. Ich finde es wichtig, dass wir auch Mazedonien-Mandates durch die Europäische Union diese Bilder zur Kenntnis nehmen. die eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Sicher- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heits- und Verteidigungspolitik. Es ist ein kleiner Ein- satz, aber immerhin ein guter Anfang. 350 Soldaten und Manche der Opfer ver gleichen das Regime im Irak 80 Zivilkräfte unter Beteiligung von 14 EU-Mitglied- mit einer stalinistischen Hölle. Lassen Sie uns nicht da- staaten sind ein schöner Beleg dafür , dass die Europä- rüber streiten, ob der Begrif f dieses Unrechtsregimeische Union Verantwortung übernehmen und dazu bei- treffsicher beschreibt oder nicht. Eines müssen wir uns tragen kann, vor ihrer eigenen Haustür für Frieden, aber vor Augen führen: Die Amerikaner und Briten ver- (B) Sicherheit und politische Stabilität zu sor gen. Ich hoffe, (D) suchen im Irak, diese Hölle zu überwinden. Gefühls- und dass der schöne Name dieses Einsatzes, Concordia – also gesinnungsmäßig kann es hier keine Neutralität, sondern Einigkeit –, in Zukunft die Leitidee der Gemeinsamen nur unsere Solidarität geben. Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich hoffe und wünsche mir, dass der Verfassungskon- Auch , der Generalsekretär der SPD, hat dies vent hierzu einige Vorkehrungen trifft. Dazu möchte ich so gesagt; das finde ich gut. Demgegenüber finde ich es einige Vorschläge machen. Es sollte eine Regelung in die schlecht – das haben wir vermisst –, dass dem Bundes- Verfassung der Europäischen Union aufgenommen wer- kanzler in dieser Richtung heute kein Wort über die Lip- den, nach der in zentralen außenpolitischen Fragen zu- pen gekommen ist. erst die Union Gelegenheit zu einer Meinungsbildung bekommt, bevor sich einzelne Staaten festlegen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ephraim Kishon verdanken wir die Satire, in der ein Mensch mit einem Presslufthammer mutwillig eine Das Dilemma der Irakkrise geht auf das Konto Deutsch- Straße aufreißt. lands und Großbritanniens, die sich festgelegt hatten, be- vor überhaupt eine Beratung und Konsensfindung im eu- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Blaumilchka- ropäischen Umfeld möglich war. nal!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Stadtverwaltung findet in der Erzählung zwar keinen neten der FDP) Grund für diese Maßnahme, beschließt aber, daraus ei- nen Kanal zu bauen, der zwar sinnlos ist, aber mit Pomp Wie fatal sich diese V orfestlegungen ausgewirkt ha- eingeweiht wird. Der Politik unseres Bundeskanzlers ben, haben wir heute Mor gen bereits diskutiert. Angela verdanken wir, dass diese politische Satire Wirklichkeit Merkel hat auf den Beitrag in der „Zeit“ hingewiesen, wurde. Der kishonsche Blaumilchkanal verläuft mitten der für helle Aufregung gesorgt hat. Ich erlebe zum ers- durch das Regierungsviertel. Der Bundeskanzler hat die ten Mal im Deutschen Bundestag, dass ein sehr nüchter- Grundsätze der deutschen Außen- und Europapolitik be- ner und sachlicher Beitrag in der Wochenzeitung „Die schädigt und versucht im Verbund mit Moskau und Pe- Zeit“ so große Empörung bei Ihnen hervorruft, weil er king nun, dem auch noch einen Sinn zu geben. Sie an einem sehr wunden Punkt trifft. (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben eine blühende Fantasie!) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3021

Peter Hintze (A) Es grenzt schon an Pressezensur, was Sie dazu gesagt Wir brauchen dringend eine Lösung für die integrier- (C) haben. ten Verbände. Wir wollen eine NA TO-Response-Force aufstellen und eine schnelle Eingreiftruppe der Europä- (Beifall bei der CDU/CSU – W iderspruch bei ischen Union. Wenn wir keine klare Regelung haben, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führt das direkt ins Desaster. Denn man kann nicht mit- NEN – Uta Zapf [SPD]: Lächerlich!) ten in einem möglicherweise gefährlichen Einsatz sagen: – Sie sollten das Geld für den Kauf dieser Zeitung inves- Dieser Pilot und jener Bootsmann werden aus der inte- tieren und den Beitrag in Ruhe nachlesen. grierten Einheit zurückgezogen. Dann kracht alles zu- sammen. Insofern, Herr Bundeskanzler – er ist leider , Sie haben offenbar mit Entsetzen den Ausdruck zur wie häufig, im V erlauf der Debatten abwesend; man Kenntnis genommen, es sei geradezu „verrückt“, was kann es ihm vielleicht einmal mitteilen –, brauchen wir der Bundeskanzler gemacht habe. W enn Sie sich aber rasch eine vernünftige Vorlage für ein solches Entsende- überlegen, was der genaue Wortsinn ist – es ist gemein- gesetz. hin nicht nur eine Polemik –, dann wird die Bedeutung klar: dass etwas von einer auf eine andere Stelle gerückt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird. In diesem Fall sind es die Inspektoren, die aus der Situation der Stärke, nämlich mit der Kraft der Völker- Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu gemeinschaft, auf einmal abgerückt wurden. Dadurch Deutschland und Frankreich. Deutschland und Frank- wusste der Diktator , dass er sein Spiel weitertreiben reich sind und bleiben die entscheidende Kraft und kann, weil sich der deutsche Bundeskanzler so früh fest- die entscheidende Bewegung für ein Gelingen der eu- gelegt hat. ropäischen Integration. Die neuen Mitglieder in Mit- telosteuropa schauen sehr genau darauf, wie die T rä- (Uta Zapf [SPD]: Das ist ja lächerlich!) ger der Integration jetzt operieren. Ich schaue auf den Miniverteidigungsgipfel am 29. April. Wer trifft sich Ich finde es gut, dass das in der „Zeit“ dokumentiert da? – Belgien, Luxembur g, Deutschland und Frank- wurde, auch wenn Sie das nicht hören wollen. reich. Es sieht fast so aus – es mag reiner Zufall sein –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als sei das eine V ersammlung der Kritiker der V erei- nigten Staaten oder von Großbritannien. Bei der europäischen Verfassung wird es weitere Me- chanismen und Regeln geben müssen, damit wir auch in- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist das stitutionell sicherstellen, in Zukunft der gemeinsamen Signal an Amerika!) Aufgabe in der Sache gewachsen zu sein. Dazu gehören die Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ich Ausgeschlossen sind die Gründungsmitglieder der (B) bin auch dafür, dass wir eine Solidaritäts- und Beistands- Europäischen Union Italien und die Niederlande. Ich (D) klausel in das europäische Grundgesetz aufnehmen, und hörte, dass die Niederlande sogar angefragt hatten, weil zwar nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, sodass sie sich gerne an den Bemühungen beteiligen wollten. sich jeder, der an diesem Europa mitarbeitet, verpflich- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das tet, solidarisch für das gemeinsame Ziel einzutreten. stimmt!) Nun hat der Bundeskanzler heute angekündigt, er werde dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Ent- Was ist daraus geworden? Dann wird darauf verwiesen, sendegesetzes vorlegen. Wir finden das gut. W ir finden das sei unsere Idee vom Kerneuropa gewesen. Kerneu- das überfällig. W ir brauchen ein solchesEntsendege- ropa war unsere Idee zur Stärkung der Einheit, aber nicht setz. die Idee zur Spaltung Europas, wie das jetzt angelegt ist. Ich möchte aber einen Punkt in der ansonsten brillan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ten Rede des Kollegen Westerwelle aufnehmen. Günter Gloser [SPD]: Sie waren gestern nicht im EU-Ausschuss, Herr Kollege!) (Günter Gloser [SPD]: Was war daran bril- lant?) Es ist richtig, dass die Europäische Union ihre eigene Stärke und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickeln Das Wort vom Parlamentsheer, das Sie gewählt haben, muss. Es ist sicherlich auch richtig, dass wir nach dem kann ein Missverständnis auslösen. Es kann auch bei der hoffentlich glücklichen Ende der Krise und dem Nieder- Regierung das Missverständnis auslösen, sie habe die ringen des Regimes in Bagdad auch mit unseren ameri- Verantwortung für die Bundeswehr , die sie tatsächlich kanischen Freunden sprechen werden. Das ist selbstver- hat, nicht so ganz. W ir müssen immer klarstellen: Es ständlich. Aber ich halte es für eine blanke Illusion, zu muss eine Kontrolle durch das Parlament geben und es glauben, bloß weil der Kalte Krieg vorbei sei, könnten muss eine Unterrichtung des Parlamentes geben. Nach wir jetzt auf die NA TO und auf die W erte-, Interessen- dem Stand der Unterrichtung können wir hier V erant- und die Schicksalsgemeinschaft von Europa und Ame- wortung mittragen und Entscheidungen treffen, aber nur rika verzichten. Das können wir nicht. in diesem Rahmen. Die Hauptverantwortung für das Mi- litär, für eine vernünftige Ausrüstung und für einen ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) antwortlichen Einsatz, liegt bei der Exekutive. Das muss auch in Zukunft so bleiben. Wer die Europäische Sicherheits- und Verteidigungs- politik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) litik so anlegen würde, als sei sie eine Gegenbewegung 3022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Peter Hintze (A) zu den Vereinigten Staaten von Amerika, der handelt tö- viel länger, als uns realitätsfremde Prognosen weisma- (C) richt und fehlerhaft. chen wollten. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wer Ein Zyniker und eine Zynikerin, die daran Gefallen will das?) finden, Recht behalten zu haben. Ich wünsche mir nichts – Ich gebe zu, dass die Regierung nicht so spricht. Das sehnlicher als ein sehr schnelles Ende dieses Krieges, der stimmt. Ich hoffe aber auch, dass sie richtig handelt. Wir zwar militärische Sieger haben wird, der aber kein politi- haben im Moment einen W iderspruch von Worten und scher Erfolg ist und den niemand wirklich gewinnen Taten. wird. Ob er den Menschen in der Region tatsächlich den Frieden garantieren wird, ist keineswegs sicher. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unsere Hauptsorge gilt der humanitären Lage. So Ich halte es für richtig, dass unsere Regierung klar und eindeutig wir diesen ungerechtfertigten Krieg AWACS-Flugzeuge in die Türkei schickt. Ich halte es und eine aktive Beteiligung verneint haben, so engagiert auch für richtig, dass ABC-Panzer in Kuwait und unsere bestehen wir jetzt auf der Einhaltung des humanitären Schiffe am Horn von Afrika stehen. Das finde ich erfreu- Völkerrechts und so schnell und unbürokratisch werden lich. Aber die Gesinnungsneutralität unserer Regierung wir uns für die humanitäre Soforthilfe einsetzen und in dieser Auseinandersetzung finde ich schrecklich. Des- diese Hilfe leisten, die für viele Menschen eine Überle- wegen müssen Worte und Taten wieder miteinander in bensfrage ist. Einklang gebracht werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Bilder und Berichte, die uns aus dem Irak errei- Auch und gerade in Kriegszeiten gelten die Men- chen, lassen uns spüren, was in den Menschen vor geht; schenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet sie machen ihre Ängste und Hoffnungen deutlich. Ich die Angreifer zum Schutz und zur Versorgung der Zivil- wünsche mir, dass der Krieg rasch zu einem guten Ende bevölkerung. Es verlangt einen die Menschenwürde ach- kommt, damit die Menschen – vielleicht zum ersten Mal tenden Umgang mit Gefangenen auf allen Seiten. Es ver- in ihrem Leben – aufatmen können und damit das Öl im bietet den Angrif f ziviler Ziele und deckt aus meiner Lande allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt, nicht Sicht nicht den Einsatz von weltweit geächteten Waffen den Protzpalästen, sondern Schulen, Krankenhäusern, wie Streubomben, die gegenwärtig im Irak abgeworfen Universitäten und vielen Einrichtungen, die das Regime werden. den Menschen so lange vorenthielt. (B) Die Menschen im Irak – viele von ihnen sind Binnen- (D) Man könne nicht gegen jeden Diktator vorgehen, wird flüchtlinge – brauchen Nahrungsmittel, Trinkwasser, oft gesagt. Das stimmt zwar leider . Aber jeder Diktator Medikamente und medizinische Versorgung. Das gilt vor weniger bedeutet mehr Freiheit für die Menschen. Dafür allem und dringend für die Kinder, die die Aller- sollten wir einstehen. schwächsten sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich danke den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den deutschen Hilfsorganisationen, die darauf vorberei- Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth, Bünd- tet sind, in dieser Krise zu helfen, und schon jetzt Hilfe nis 90/Die Grünen. leisten. Sie alle werden bei voller Respektierung ihrer Unabhängigkeit jede Unterstützung bekommen; denn humanitäre Hilfe darf niemals politisch instrumentali- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- siert werden. NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gibt Situationen, in denen es bedrückend ist, wenn sich sowie bei Abgeordneten der SPD) die eigenen Befürchtungen bestätigen. Mit dem Irak- Ich danke auch dem deutschen UNO-Botschafter krieg erleben wir eine solche Situation. W ir sehen fas- Pleuger und seinem T eam – ich hätte mir gewünscht, sungslos die Bilder des Krieges – auch Gernot Erler hat dass sich auch die Union diesem Dank angeschlossen davon gesprochen –, ohne zu wissen, ob sie bereits das hätte –, dass er die einmütige Zustimmung im UNO-Si- ganze Ausmaß des Grauens abbilden. T rotz aller Infor- cherheitsrat zur Wiederaufnahme des Oil-for -Food- mationen über die Ereignisse in Bagdad, Basra, Mossul, Programms unter Federführung von Kofi Annan errei- Kirkuk und in den ländlichen Regionen wissen wir das chen konnte. Ich hof fe, dass dieses Programm sehr nicht genau. schnell in Kraft treten wird; denn schon vor dem Krieg Wir sehen Bilder vom Bombenhagel, von getöteten waren zwei Drittel der irakischen Bevölkerung von Ver- Zivilisten und Soldaten wie auch von Gefangenen, die sorgung abhängig. Die UNO ist heute wichtiger als je- wie Trophäen vorgeführt werden. Nein, dieser Krieg ist mals zuvor. Sie jetzt zu stärken ist unsere Aufgabe und nicht sauber. Die Iraker stehen nicht begeistert auf den wird unsere Priorität sein. Nur die UNO wird die Zu- Straßen, um die britischen und amerikanischen Soldaten kunftsfähigkeit und die friedliche Nachkriegsordnung zu begrüßen. Vor allem dauert der Krieg jetzt schon sehr des Irak garantieren können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3023

Claudia Roth (Augsburg) (A) Ich unterstütze auch die Forderung des Flüchtlings- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) kommissars Lubbers an die Nachbarländer, die Grenzen sowie bei Abgeordneten der SPD) für Flüchtlinge zu öf fnen, damit ihnen dort unmittelbar Hilfe und Zuflucht gewährt werden können. Ich bin sehr Anstatt darauf einzugehen, werden Persönlichkeiten froh, dass der anfängliche W iderstand in einigen Län- der deutschen Politik – für mich sind Rita Süssmuth, dern aufbricht und dass nun Flüchtlingslager in Syrien, Heiner Geißler und solche Persönlichkei- im Iran, in Jordanien und an der türkisch-irakischen ten – vom Parlamentarischen Geschäftsführer V olker Grenze vorbereitet werden können. Kauder als Politrentner abgekanzelt und Kriegsgegner wie wir schon einmal forsch als antiamerikanisch be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schimpft. Volker Kauder hat of fensichtlich nicht ver- und bei der SPD) standen – das scheint ihm entgangen zu sein –, was wir auch Amerika zu verdanken haben, nämlich die Freiheit Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die reichsten Län- des Denkens, die Freiheit der Meinung und die politi- der dieser Region, Saudi-Arabien und Kuwait, die auch sche Kontroverse auch und gerade mit befreundeten den Krieg befürwortet haben, ihre Grenzen für Flücht- Ländern. linge noch nicht geöffnet haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn es heute noch keine Fluchtbewegung gibt, dann und bei der SPD) heißt das aber nicht, dass es keine Fluchtgründe gibt. Die Menschen fliehen nicht, weil sie Angst vor dem Bom- Angela Merkel treibt diesen bitterbösen Sprech auf benhagel haben. Sie können nicht fliehen, weil sie auch die Spitze, wenn sie behauptet, dass diejenigen, die ge- mit Gewalt von irakischer Seite von der Flucht abgehal- gen den Krieg sind, den Krieg erst befördert hätten. ten werden. Auch das ist ein zynisches Beispiel für die- Diese Schamlosigkeit und, liebe Kollegen von der sen ungerechtfertigten Krieg. Union, Ihr begleitendes rhythmisches Klatschen, das mich an einen Klatschmarsch erinnert hat, beleidigen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und verachten im Übrigen Millionen von Menschen auf SES 90/DIE GRÜNEN) den Straßen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, für Verantwortliche und glaubwürdige Menschenrechts- den Frieden beten und deren Nein zum Krieg auch ein politik beginnt immer zu Hause. Das muss und wird Nein zu Saddam Hussein ist. auch der Umgang mit irakischen Flüchtlingen bei uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigen. hat ein klares Zeichen gesetzt, als er und bei der SPD – Dr . Peter Ramsauer [CDU/ die Länder aufgefordert hat, einen Abschiebestopp aus- CSU]: Sie Pseudomoralistin!) zusprechen. (B) Frau Merkel, Sie haben den Bundeskanzler und den (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außenminister in Deutschland und im Ausland wegen sowie bei Abgeordneten der SPD) deren früher Festlegung auf eine friedliche Entwaf fnung Angela Merkel hat das Ultimatum der US-Regierung des Irak dif famiert. Gleichzeitig haben Sie sich selbst begrüßt. Sie hat außerdem explizit gesagt, dass sie alle ganz frühzeitig auf den Krieg festgelegt. Das ist eine Konsequenzen, die damit verbunden sind, unterstützt. schwere Bürde. Mit den Konsequenzen Ihres Vorgehens Frau Merkel hat immer wieder behauptet, der Krieg sei müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können sie nicht unvermeidbar gewesen und das Nichtstun müsse zu einfach totschweigen, so wie Sie es heute wieder ver- Ende gehen. Ich sage: Der Krieg war vermeidbar. Es gab sucht haben. eine Alternative. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Konsequenz, Frau Merkel: tote Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen, weil der Bus nicht schnell genug an- Es gab die Alternative der nicht militärischen Entwaff- gehalten hat. Diese Menschen sind nicht erschossen wor- nung mit einer umfassenden Kontrolle und mit einer kla- den, weil Amerikaner leichtfertig um sich schießen, son- ren Schwächung des Regimes von Saddam Hussein. Hö- dern weil so etwas im Krieg geschehen kann. ren Sie endlich auf, zu behaupten, dass das Nein zum Krieg nicht auch ein klares Nein zum Regime von Konsequenz, Frau Merkel: tote Soldatinnen und Sol- Saddam Hussein sei! daten – etliche von ihnen von Selbstmordattentätern ge- tötet –, weil sich der Krieg nicht an Regeln hält. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Konsequenz, Frau Merkel: die weitere Eskalation des Konflikts. Ich erinnere an die unverhohlene Drohung an Frau Merkel hat mit der falschen Reduzierung jedes Syrien und an den Iran sowie an die harte und scharfe Handelns ausschließlich auf die militärische Option die Reaktion darauf. Erfolge der UNO-W affeninspektoren völlig ignoriert. Hans Blix und Mohammed al-Baradei konnten vorrech- Konsequenz, Frau Merkel: die große Gefahr , dass nen, dass bei 200 Inspektoren die Kosten des Krieges dieser Krieg die W iedergeburt eines aggressiven pan- ausreichen würden, um 1 250 Jahre zu inspizieren und arabischen Nationalismus mit sich bringt, der sich jetzt abzurüsten, ohne M enschenleben zu opfern. Das hat mit einem militanten islamischen Fundamentalismus Frau Merkel nicht zitiert. verbündet. 3024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Claudia Roth (Augsburg) (A) Konsequenz, Frau Merkel: die Schwächung der Anti- Goethe schreibt: (C) terrorkoalition, die zum Bruch führen kann; denn diese Wer sich selbst und andere kennt Koalition beruhte gerade darauf, nicht zwischen Kultu- Wird auch hier erkennen: ren und Religionen zu unterscheiden. Nun droht genau Orient und Okzident das, was wir verhindern wollten: dass es zum Kampf Sind nicht mehr zu trennen. zwischen den Kulturen und zwischen den Religionen kommt. Vielen Dank. Es ist in der T at dem besonnenen und verantwortli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Handeln des Papstes zu verdanken, dass sich dieser und bei der SPD) drohende Clash nicht noch zusätzlich religiös aufgeladen hat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ Wieczorek-Zeul. CSU]: Ihr müsst den Papst loben!) Mit Ihrer Politik haben Sie den Boden der christlichen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für Friedensethik schon sehr lange verlassen. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: möchte an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss. – es ist bereits mehrfach angesprochen worden –: Die deutsche Bevölkerung und die europäische Bevölkerung wissen – die Opposition hat überhaupt keine Chance, Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Einstellung in der Bevölkerung in ir gendeiner NEN): Form zu beeinflussen –, Frau Merkel, nachdem Sie all diese Konsequenzen übersehen haben, könnten Sie heute wenigstens beken- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Unsinn!) nen, dass Sie sich mit Ihrem Ja zum Krieg geirrt haben. dass unser Nein zu dem geplanten Krieg im Irak im letz- Wenn Sie sie aber sehenden Auges in Kauf genommen ten Jahr dazu beigetragen hat, überhaupt erst eine öffent- haben, liebe Frau Merkel, dann sollten Ihnen wenigstens liche Diskussion zu ermöglichen und eine friedliche Lö- 81 Prozent der Deutschen, die sich gegen den Krieg aus- sung überhaupt erst als Alternative sichtbar zu machen. gesprochen haben, zu denken geben. (B) (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Der Krieg (D) Lieber Herr Hintze, Gesinnungsneutralität ist etwas ist doch da! Sie haben den Krieg doch nicht ganz anderes. W as wir seit Monaten versuchen und verhindert!) auch weiterhin versuchen werden, ist, Kriege zu verhin- dern, Ohne dieses Nein hätte es das deutliche Votum der inter- nationalen Gemeinschaft gegen Krieg gar nicht gegeben. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber mit den richtigen Mitteln!) Daher muss man sich fragen, warum von der CDU/ CSU in diesem Zusammenhang immer wieder ein V or- und zwar präventiv , abernicht mit Präventivschlägen. wurf gegen uns erhoben wird, obwohl die Bevölkerung Das ist ein großer und entscheidender Unterschied. so einhellig die Meinung der Bundesregierung teilt. Lassen Sie mich schließen. Nach meiner Einschätzung ist es das einzige Ziel dieser Aktion und Diffamierung, die unrühmliche Rolle, die die CDU/CSU in dieser Frage gespielt hat, hinter einem Vor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hang zu verstecken. Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte wirklich zum Schluss. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schein- heilig!) (Zurufe von der CDU/CSU: Das wird auch Zeit! – Es reicht!) Das wird Ihnen aber nicht gelingen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NEN): DIE GRÜNEN) Ja, ich komme zum Schluss. In der heutigen Diskussion haben wir immer wieder angesprochen, dass dieser Krieg bisher schon T ausende Ich möchte mit einem Zitat aus Goethes „W estöstli- von Opfern forderte: Er hat Tausenden von Zivilisten das chem Diwan“ und mit einem Zitat des persischen Dich- Leben gekostet; sicherlich sind auch Hunderte Solda- ters Nizami aus dem 12. Jahrhundert schließen. Nizami ten gestorben. An dieser Stelle erinnere ich an die Kin- schreibt: der – ich selbst bin 1942 geboren und habe als Kind Mit Worten kannst du einem Heer das Genick bre- Bombardements erlebt –, die diesen Krieg erdulden und chen, mit Schwertern aber kannst du nur ein Dut- erleiden müssen, an ihre Angst und ihre Schmerzen. zend Soldaten besiegen. Diese Kinder sind für ihr Leben gezeichnet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3025

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Und die teresse der Menschenrechte, dass die Koalition diesen (C) Kinder unter Saddam Hussein?) Krieg gewinnt. Unsere Aussage ist sehr klar. Wir müssen alles tun, damit diese Kinder eine Chance haben. Wir wollten diesen Krieg vor allen Dingen des- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für halb verhindern, um ihnen dieses Leid zu ersparen. Das wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: war für uns das Allerwichtigste. Auch dies ist wieder ein Teil Ihres Versuches, die Re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gierungsparteien als Unterstützer von Saddam Hussein DIE GRÜNEN) hinzustellen. Wir treten für ein schnelles Ende dieses Krieges ein, da- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Stel- mit das Leiden der Menschen ein Ende hat. len Sie es doch klar!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Mit wel- Ich habe schon in der Debatte über den Haushalt für chem Ausgang, bitte?) wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ge- sagt, dass wir Hussein bereits einen Gewaltverbrecher Ich fordere alle Beteiligten auf – Frau Kollegin Roth nannten, als manche, die Ihnen durchaus nahe stehen, hat es schon angesprochen –, sich an das humanitäre noch mit ihm Geschäfte gemacht haben. Ich bin dies Völkerrecht zu halten. Insbesondere fordere ich die wirklich leid. Kriegsparteien auf, freien und ungehinderten Zugang der humanitären Hilfe zu den Menschen zu ermöglichen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie es auch Kofi Annan gefordert hat. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte um der Menschen willen ein Ende dieses DIE GRÜNEN) Krieges und ich will, dass die Menschen eine gute Zu- Dies ist, wenn wir den Menschen in dieser Situation hel- kunft haben. fen wollen, die wichtigste V oraussetzung – das haben Herr Präsident, ich möchte nun die Hilfsmaßnahmen auch alle UN-Organisationen gefordert –; wie auch hu- ansprechen, die um der Menschen willen notwendig manitäre Hilfe nicht nach militärischen Gesichtspunkten sind. zu vergeben, sondern humanitäre Hilfe unabhängig hier- von nur daran zu orientieren, den Menschen zu helfen. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Keine Antwort!) (B) (D) DIE GRÜNEN) Ich unterstütze nachdrücklich die Position der deutschen privaten Hilfsorganisationen, die ich unterstütze und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: denen ich für ihr Engagement von dieser Stelle aus aus- Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine drücklich danke. Sie lehnen es ab, sich von US-amerika- Zwischenfrage des Kollegen Schauerte? nischem Militär in entsprechenden Kommunikationszen- tren registrieren und einsetzen zu lassen. Ihre Arbeit ist im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung wichtig, aber sie Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für muss unabhängig erfolgen. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Gerne. Welche unmittelbare Hilfe ist notwendig? Was haben wir bisher getan? Es wurde heute Morgen mehrfach an- gesprochen: Mithilfe der UN-V ertretung haben wir es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geschafft, dass die Mittel des Programms „Öl für Le- Herr Schauerte, bitte schön. bensmittel“ jetzt wieder fließen können und dass aus diesen Mitteln Nothilfe zur V erfügung gestellt werden Hartmut Schauerte (CDU/CSU): kann. Frau Ministerin, Sie haben gerade – sicherlich mit Zu- stimmung des ganzen Hauses – erklärt, wir wollen ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schnelles Ende dieses Krieges. In der Tat, das wollen wir Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine alle. Aber die Menschen interessiert abseits dieser allge- Zwischenfrage des Kollegen Kues? meinen Formulierung, ob Saddam oder die Koalition diesen Krieg gewinnen soll. Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: GRÜNEN]: Ist das primitiv! – Dr . Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ach nein! Also, Herr Ich denke, eine Zwischenfrage war jetzt genug. Schauerte! – W eiterer Zuruf von der SPD: Darauf würde ich gar nicht antworten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Um die Frage zu vertiefen: Wir wollen ganz eindeutig Sie erlaubt keine Zwischenfrage. – Bitte schön, fahren ein schnelles Ende dieses Krieges und wir wollen im In- Sie fort. 3026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle erinnere ich daran, dass gestern der Die zentrale Rolle der Vereinten Nationen und eine Direktor des Welternährungsprogramms zu Gesprächen Entscheidung des UN-Sicherheitsrates sind aber nicht über die Perspektiven dieses Programms bei uns war; nur für die humanitäre Hilfe, sondern auch für die Be- diese Institution führte und führt das Programm „Öl für wältigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensmittel“ im Irak durch. Er hat der Bundesregierung Entwicklungsaufgaben im Irak nach der Beendigung des ausdrücklich Lob und Dank des W elternährungspro-Krieges unabdingbar. Sie sind gleichzeitig eine unab- gramms dafür ausgesprochen, dass sie diese Arbeit aktiv dingbare Voraussetzung für das Engagement der multila- unterstützt, aber vor allen Dingen dafür , dass wir es ge- teralen Einrichtungen. schafft haben, die Mittel des Programms „Öl für Lebens- mittel“ wieder fließen zu lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss etwas wiederholen, was immer wieder an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesprochen werden muss: Ich halte es für obszön, dass in DIE GRÜNEN – Dr . Friedbert Pflüger [CDU/ den USA zur weiteren Finanzierung dieses Krieges ein CSU]: Aber Saddam Hussein macht nicht mit!) Nachtragshaushalt von 75 Milliarden US-Dollar einge- setzt wird. Das ist eineinhalbmal so viel, wie weltweit Zweitens appelliere ich, wie es James Morris und ich alle Geber für of fizielle Entwicklungszusammenarbeit gestern gemeinsam getan haben, an alle irakischen Stel- zur Verfügung stellen. Wir können doch nicht auf Dauer len, um der Menschen willen mit diesem Programm „Öl die Mittel für Militär und für Kriege verschwenden. für Lebensmittel“ zu kooperieren. Herr Morris wies ges- Wenn wir Gewalt und Ursachen von Gewalt wirklich be- tern darauf hin, dass es 44 000 solcher kleinen Einrich- kämpfen wollen, dann müssen wir dazu beitragen, dass tungen gibt, bei denen Mittel für die Nahrungsmittelhilfe die Mittel dieser W elt im Kampf gegen Armut, gegen zur Verfügung stehen. Hunger, gegen Unwissenheit und gegen Hoffnungslosig- Außerdem hat die Bundesregierung 50 Millionenkeit eingesetzt werden, und dafür werbe ich. Euro für humanitäre Soforthilfe, für Flüchtlings- und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nothilfe, zur Verfügung gestellt. Ich nannte eben das DIE GRÜNEN) Welternährungsprogramm, dessen Aufgabe die V ersor- gung mit Nahrungsmitteln ist. Die Nahrungsmittel gehen Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die internationale zur Neige. Wir unterstützen das Internationale Komitee Agenda verschiebt. Eine der Lehren aus diesem Krieg, vom Roten Kreuz. Auch dies ist eine praktische Unter- jedenfalls für mich, ist, dass wir die Mittel für Armuts- (B) stützung. bekämpfung aufstocken müssen, dass wir mehr Mittel (D) brauchen, um die Chancen für eine gerechte W eltord- Ich weiß um das Leid und den Schrecken der Angriffe nung zu verbessern. und der Kämpfe in Basra. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat dazu beigetragen, einen Teil der (Beifall bei der SPD – Dr . Christian Ruck Wasserversorgung in Basra wieder sicherzustellen. Das [CDU/CSU]: Das Gegenteil steht in Ihrem rettet hoffentlich vielen Tausenden von Menschen das Haushalt!) Leben, die ansonsten verdorbenes W asser trinken wür- – Nein, nicht das Gegenteil. W er Ohren hatte, zu hören, den, schreckliche Krankheiten davontrügen und sterben der hat gehört. müssten. Wir, die Bundesrepublik, die Bundesregierung, unterstützen mit unseren Finanzmitteln diese Arbeit des Wichtig ist: Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert Internationalen Roten Kreuzes. Ich danke den Men- sein, in dem wir Schritte zu einer gerechteren Weltord- schen, die diese Arbeit leisten. Sie retten Leben und tra- nung erreichen. Deshalb bleibt die fortdauernde Auf- gen dazu bei, dass mehr Menschen eine Chance haben. gabe, auf die Verpflichtungen des Rechts zu setzen, die Stärke des Rechts zu verankern sowie über diesen T ag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hinaus und über die Schrecken des Krieges hinaus eine DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr . Wolfgang neue, gerechtere Weltordnung zu erreichen. Gerhardt [FDP]) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie reden so und Die EU stellt 100 Millionen Euro für diese humani- handeln anders!) täre und Nothilfe zur V erfügung. Darin ist unser Anteil im Umfang von rund 23 Millionen Euro enthalten. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit. Weil ich diese Hilfe in der jetzigen Phase für das Al- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lerwichtigste halte, liebe Kolleginnen und Kollegen, DIE GRÜNEN) stelle ich jetzt einfach dar, welche Arbeit im Irak geleis- tet wird; denn wenn ich den T eil der Berichterstattung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sehe, in dem es darum geht, wie viele Schritte das Mili- Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. tär da oder dort vorangekommen ist, erscheint es mir wichtiger, wie wir es schaffen, ganz schnell die Lastwa- gen mit den Hilfsgütern zur Zivilbevölkerung zu bekom- Petra Pau (fraktionslos): men, damit diese Menschen eine Chance haben, dass ih- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nen geholfen werden kann. habe die Rede von Frau Merkel von der Unvermeidbar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3027

Petra Pau (A) keit des Krieges mit all seinen Folgen und von ihrer un- Dass ich in den letzten T agen selbst grüne Stimmen (C) verbrüchlichen Gefolgschaft zur Allianz der Kriegswilli- höre, die Europa um- und hochrüsten wollen, wundert gen noch gut im Ohr – übrigens auch den lang mich. Lassen Sie uns gemeinsam nach Auswegen su- anhaltenden rhythmischen Beifall ihrer Kolleginnen und chen! Konfrontation, Kriege, Rüstung sind keine Krisen- Kollegen von CDU/CSU. Frau Merkel, Sie können si- löser. Sie bieten keine Zukunft – für niemanden, nir- cher sein, dass Sie verstanden wurden, als S ie vor vier- gendwo. zehn Tagen hier gesprochen haben. Als am vergangenen Ich will allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sonnabend in Berlin und am Montag in Leipzig erneut noch eines in Erinnerung rufen: Hätten CDU und CSU hunderttausend gegen den Krieg demonstrierten, waren im Bunde mit der FDP die Wahlen gewonnen, dann wäre Sie nämlich in vieler Munde. die Bundesrepublik heute Kriegspartei, dann würden Nun höre ich heute, Sie wollten nach vorn schauen; deutsche Soldaten heute um Bagdad und den Mittleren die Frage nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicher- Osten kämpfen, mit allen Folgen. heitspolitik der EU stelle sich nach den Dif ferenzen in (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein der Irakkrise jetzt sehr viel vehementer; eine gemein- Schmarren!) same Politik sei aber nur denkbar , wenn sie nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet sei. Ge- Auch das muss in einer solchen Debatte gesagt werden. nau zu dieser Passage habe ich drei Anmerkungen: (Michael Glos [CDU/CSU]: W as Kommunis- Zum Ersten erinnert mich das alles an den uralten ten alles sagen dürfen! – Dr . Wolfgang Ehespruch aus weiblicher Sicht: Sind wir uns einig, dann Gerhardt [FDP]: Stimmt so leider nicht!) gilt meine Meinung; haben wir aber eine Differenz, dann – Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Gerhardt. gilt seine Meinung. – So sind die USA mit dem Völker- recht umgesprungen, so haben Sie von der Union sich (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nicht ohne der US-Strategie unterworfen und so sieht Ihr Blick nach Mandat der Vereinten Nationen!) vorn aus. Die PDS im Bundestag hat einen anderen V o- Frau Merkel hat ja nun mehrfach unterstrichen, dass sie rausblick. sich unter Inkaufnahme aller Folgen an die Politik der Zum Zweiten ist eine Politik, die sich Angriffskriegen USA hängen wollte. versagt, noch lange keine Politik gegen die V ereinigten (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Staaten von Amerika, onslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Ich möchte aber zum Schl uss noch zwei Sätze zur (B) onslos]) heutigen Kanzlerrede und seinem Versuch, seine außen- (D) sondern lediglich eine Politik gegen eine auf Krieg set- politischen Vorstellungen von einer friedlichen Welt mit zende US-Führung. Diesen Unterschied sollten auch Sie seinen innenpolitischen V orhaben, der so genannten von der CDU/CSU endlich begreifen. Agenda 2010, zu verknüpfen, sagen: Zum Dritten heißt die Frage nicht: mit den USA oder Erstens. Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Ge- gegen die USA? Europa muss sich vom Kriegskurs der rechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren, USA emanzipieren. Das wäre ein Blick und wäre auch im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermö- ein Schritt nach vorn. genden, belasten die Bedürftigen und entsorgen die Soli- darsysteme. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos]) Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitik taugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die auf Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und Recht und Gerechtigkeit, auf Frieden und Entwicklung den Grünen, ich behaupte ja nicht, dass die Karre mit zielt. einfachen Lösungen oder gar Losungen aus dem Dreck gezogen werden könnte. W enn wir inunserem Nein Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Nein zum Irakkrieg übereinstimmten, dann hieß dass nie, zum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu Ihrem dass unsere Gründe dieselben waren. Rot-Grün hat die- Ja zum Sozialabbau. sen Krieg abgelehnt. Die PDS lehnt Kriege grundsätzlich (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- ab. Das ist der Unterschied. onslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Gloser von der Wir alle wissen: Die Regierung verdrängt alle Fragen, SPD-Fraktion. die auf eine völkerrechtliche Verdammung des Irakkrie- ges hinauslaufen. Sie weicht allen Fragen aus, die mit ei- ner indirekten deutschen Beteiligung zusammenhän- Günter Gloser (SPD): gen. Ich spreche hier über Überflugrechte, über Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AWACS-Flüge, über deutsche Einsatzkräfte in Kuwait Eine Berliner Zeitung, genauer gesagt, die „Berliner Zei- und am Horn von Afrika. Dies lehnt die PDS im Bundes- tung“ überschreibt heute einen Kommentar mit „Die tag seit Monaten und auch heute wieder ab. zweite Ebene der Angela Merkel“ und ver gleicht ihre 3028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Günter Gloser (A) Situation mit der einer Person, die versucht hat, mit ihrer Umfang der Außen- und Sicherheitspolitik in der Euro- (C) Argumentation bei den Parteimitgliedern durchzukom- päischen Union kleiner, als er tatsächlich ist? Wir haben men, wobei sie aber keiner versteht, und legt ihr fol- etwas erreicht und stehen davor, ein ganz großes Projekt gende Worte in den Mund: zu realisieren. Das bedarf sicherlich auch des weiteren Engagements. Wer heute bei einem sicherlich wichtigen Okay, nochmal von vorne. Ich versuch’s nochmal, Thema von einer Spaltung Europas spricht, wird den Di- bis ihr versteht. mensionen der europäischen Außen- und Sicherheitspo- Diesen Versuch haben wir heute wieder erlebt. Es hat sie litik nicht gerecht. wieder niemand verstanden. Der Kommentator hat schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestern, vielleicht auch aufgrund von internen Informati- DIE GRÜNEN) onen, gesagt: Lassen Sie mich auch auf einige zum T eil nicht mehr Man versteht sie und man versteht sie doch nicht. anwesende Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- Denn nichts bietet sie an auf „Ebene zwei“: keine tion eingehen. Ich habe schon in einer früheren Debatte Ideen und keine Prinzipien, vor allem aber keine – es war bereits im Jahr 1999 – gesagt, Sie strickten im- Antworten auf all ihre Fragen. mer an einer Legende, was das Verhältnis dieser Bundes- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solches Fazit kann regierung vor allem zu den Beitrittskandidatenländern man in der Tat aus der heutigen Rede von Frau Merkel angehe. Wir waren von Anfang an, seit Übernahme die- ziehen. ser Bundesregierung, der Anwalt, der Fürsprecher dieser kleinen und großen Beitrittsländer, damit sie so bald wie (Beifall bei der SPD) möglich, sobald die V oraussetzungen vorliegen, in die In ihrer mit sechs Punkten sehr strukturiert aufgebauten Europäische Union aufgenommen werden können. Da- Rede hat sie hier heute keine Antwort gegeben und die rüber gab es überhaupt keinen Dissens. Das haben wir Position der CDU/CSU nicht klar bestimmt. deutlich gemacht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionell Jetzt sagen Sie wieder, wir hätten auf die kleinen Län- sind die Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates in erster der und die Beitrittskandidatenländer keine Rücksicht Linie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen gewid- genommen. Das ist einfach nicht wahr. met. Aber dieses Mal sind die Regierungschefs unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Eindruck eines Krieges und auch mit dem bedrü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ckenden Wissen zusammengekommen, dass es eben nicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Hal- Zum einen gab es einen intensiven Dialog – er hätte si- (B) tung zum Irakkonflikt zu entwickeln. Diese bittere Er- cher an der einen oder anderen Stelle vertieft werden (D) kenntnis prägte den Märzgipfel in der Tat. können – von beiden Seiten, nicht immer nur seitens der Regierung. Zum anderen gab es auf der parlamentari- Das überschattete den erfolgreichsten außenpoliti- schen Ebene eine Vielzahl von Gesprächen. schen Akt, den die Europäische Union jemals vollzogen hat, nämlich die Überwindung der Teilung Europas und Lieber Herr Kollege Hintze, Sie hatten gestern sicher- die Vollendung der europäischen Einigung, die jetzt in lich einen Grund, nicht an der Sitzung des Europaaus- greifbare Nähe gerückt ist. Für zwölf Beitrittsländer ist schusses teilzunehmen. Das kann und will ich Ihnen gar der konkrete Zeitplan für den Weg zur Mitgliedschaft in nicht vorwerfen. Aber ich will Ihnen eine Information der EU vorgezeichnet. Mit acht mittel- und osteuropäi- weitergeben, weil Sie gesagt haben, Sie wollten ein schen Kandidatenländern sowie den Mittelmeerländern Kerneuropa, das nicht spalte. Außenminister Fischer hat Malta und Zypern wird der Beitrittsvertrag noch in die- gestern noch einmal ausdrücklich festgestellt, auch in sem Monat unterzeichnet. Deren Beitritt wird, wenn die Bezug auf die belgische Initiative, dass das Kerneuropa Bevölkerung dieser Länder zustimmt und die Ratifizie- kein exklusiver Klub sei. W ir wollen aber vorangehen. rung in den Mitgliedstaaten und Beitrittsländern erfolg- Wer sich anschließen will, kann mit vorangehen. Ich reich verläuft, zum 1. Mai 2004 erfolgen. Bulgarien und bitte auch hier, nicht wieder an einer Legende zu stri- Rumänien werden, wenn sie ihre Anstrengungen zur cken. Beitrittsvorbereitung forcieren, im Jahre 2007 folgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dies alles wäre ein Grund, nach Kopenhagen im März DIE GRÜNEN) einen nicht minder historischen Gipfel zu feiern, der sich der konkreten wirtschafts-, sozial- und beschäftigungs- Gerade Sie sollten nicht falsch Zeugnis wider Ihren politischen Agenda des nun zusammenwachsenden Eu- Nächsten reden; das hat der Außenminister auch nicht ropas annimmt. verdient. Er hat gestern deutlich dazu Stellung genom- men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aller- dings schon auf einige Diktionen in den Stellungnahmen (Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]) vonseiten der Opposition eingehen, in denen immer so – Herr Kollege Müller , Siemüssten das eigentlich ver- leichtfertig von der Spaltung Europas gesprochen wird. standen haben, denn Sie waren anwesend. Wer verkennt denn das, was in den letzten Jahren, zuge- gebenermaßen auch dank des Engagements christdemo- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, las- kratischer und freidemokratischer Regierungen, zu- sen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der sicher- stande gekommen ist? W er macht denn eigentlich den lich zu Irritationen geführt hat, auch was die Beitrittskan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3029

Günter Gloser (A) didatenländer angeht. Natürlich hat es da verschiedene Ich sage hier ganz bewusst, auch vor dem Hinter- (C) Stimmen gegeben, weniger bei uns als vielleicht in ande- grund der aktuellen Zahlen aus Nürnber g zur Arbeitslo- ren europäischen Ländern. Ich sage noch einmal aus- sigkeit: Wir müssen hier Anstrengungen unternehmen. drücklich: Auch wenn es bei uns möglicherweise Irritatio- Ich glaube, dass die Agenda 2010 ein richtiger Weg ist, nen gegeben hat, dass bei der Unterschrift der Acht oder um die entsprechenden W eichen zu stellen, auch im bei der Vilnius-Erklärung vorher nicht miteinander kom- Kontext eines Lissabon-Prozesses. muniziert, geschweige denn die griechische Ratpräsi- Ich meine, es ist ein Zeichen für die Stärke der Euro- dentschaft konsultiert worden ist, päischen Union, dass sie sich in der W irtschaftspolitik (Zuruf von der CDU/CSU: Oder beim deut- verständigt und gemeinsame Ziele formuliert. Aber auch schen Nein!) auf der nationalen Ebene sind wir gezwungen, Entspre- chendes zu leisten. Ich glaube, die Vorschläge, die in den muss man die Situation dieser Länder verstehen. Sie nächsten Tagen vorgelegt werden, die wir erörtern und, wollen Mitglieder der Europäischen Union werden. wie ich denke, auch beschließen werden, sind ein wichti- ger Beitrag in diesem Bereich. Wir sagen damit: Wir ha- Letzte Woche haben wir eine Reise nach Rumänien ben aus dieser Europäischen Union gelernt. Wir gucken unternommen. Dort besteht Klarheit. Es kann aber keine ab, was in anderen Ländern positiv läuft, und wir versu- Europäische Union à la carte geben. Man kann sich nicht chen, es umzusetzen. Wir, diese rot-grüne Koalition und das herauspicken, was einem gefällt, und sich für das, diese Bundesregierung, werden diese Reformvorhaben was einem nicht gefällt, andere Verbündete suchen. durchbringen, um die Zukunft unseres Landes zu sichern, Wenn diese Länder allerdings aufgrund ihrer Geschichte um die weitere Integration in Europa mit zu gestalten und ein großes Bedürfnis haben, Sicherheit zu erlangen, und um gemeinsam in Europa die neuen Herausforderungen dabei vor der Alternative stehen, die NATO oder die Ver- der globalisierten Welt friedlich zu meistern. Auch die einigten Staaten oder aber ein möglicherweise zerstritte- Opposition sollte sich, wie es gelegentlich in der Außen- nes Europa als Verbündeten zu wählen, dann werden sie und Sicherheitspolitik geschieht, an diesen Vorschlägen in dieser Situation zunächst einmal den einen Adressaten konstruktiv beteiligen. suchen. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam mit den Bei- trittskandidatenländern den Weg zu einer gemeinsamen Vielen Dank. europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu su- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) Ich glaube, dass der Konvent – da sind wir uns in die- Das Wort hat jetzt der Kollege Jör g Vogelsänger von sem Hause, zumindest im Europaausschuss, einig – in der SPD-Fraktion. der Tat entsprechende Instrumente schaf fen muss. Man kann und sollte auch über das diskutieren, was Sie, Kol- lege Hintze, vorgeschlagen haben. Instrumente sind rich- Jörg Vogelsänger (SPD): tig und wir brauchen sie; aber es muss auch der gemein- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen same politische Wille vorhanden sein, eine gemeinsame und Herren! Die heutige Debatte des Deutschen Bundes- Außen- und Sicherheitspolitik in dieser Europäischen tages ist besonders gekennzeichnet von der großen Sorge Union zu gestalten. über die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ich glaube, diese Sorge ist parteiübergreifend. Ich hätte mir Ich möchte noch auf einen Bereich eingehen, auf den aufgrund der dramatischen Lage im Irak allerdings die sicherlich mein Kollege Jörg Vogelsänger noch zu spre- eine oder andere Gemeinsamkeit im Parlament ge- chen kommen wird, nämlich auf das, was wir als Lissa- wünscht. bon-Strategie bezeichnen. Wir brauchen, um ein gewis- ses Gewicht darzustellen, in der Europäischen Union (Peter Hintze [CDU/CSU]: Wir auch!) auch eine ökonomische Leistungsfähigkeit. Dazu kann Ich möchte daran erinnern, dass die Politik der Bundes- das Leitbild Europa Entsprechendes leisten. regierung von der breiten Bevölkerungsmehrheit ge- stützt und unterstützt wird. V ielleicht ist das für den ei- Ich gehöre nicht zu der Gruppe der professionellen nen oder anderen ein Grund zum Nachdenken. Schwarzmaler, die – so höre ich es beispielsweise aus der Opposition – Deutschland nur noch schlecht reden. (Beifall bei der SPD) Dazu ein Zitat: Meine Damen und Herren, Europa ist ein Kontinent Es wäre völlig irreführend, Deutschland als ein des Friedens geworden. Gerade in der aktuellen Situa- Land darzustellen, das schäbig oder erbärmlich tion wird uns so richtig bewusst, welch großes Glück wir oder anfällig für politische Instabilität oder in der Europäer damit haben. Mit der Erweiterung der Europäi- Gefahr des endgültigen wirtschaftlichen Nieder- schen Union wird die Teilung Europas in Blöcke endgül- gangs sei. Im Gegenteil, es ist reich, stabil und für tig überwunden. Dass dies möglich ist, daran haben wir die überwältigende Mehrheit seiner Menschen ist es Deutsche und besonders die Bür ger Ostdeutschlands ei- äußerst angenehm, dort zu leben. nen großen Anteil. Mit der friedlichen Revolution von 1989/1990 wurde der Eiserne Vorhang in Europa, der So der „Economist“ im Dezember letzten Jahres. unser Land trennte, niedergerissen. Ein besonderer Dank 3030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Jörg Vogelsänger (A) dafür gilt den Völkern Ungarns, Tschechiens und Polens. Die Erweiterung der Europäischen Union bedarf auch (C) Der Mut der Menschen und der Politiker in diesen Staa- bestimmter Übergangsvorschriften. Zudem stehen wir ten hat gerade uns diesen friedlichen Umbruch erst er- im Verkehrsbereich vor neuen Herausforderungen. Die möglicht. Deshalb freue mich ganz besonders, dass diese Infrastruktur muss selbstverständlich ausgebaut wer- Staaten die Europäische Union bereichern werden. den. Die EU-Osterweiterung ist im neuen Bundesver- kehrswegeplan besonders zu berücksichtigen. In den Dokumenten des Europäischen Rates anläss- lich der jährlichen Frühjahrstagung vom März 2003 in Neben den Brücken aus Stahl und Beton müssen wir Brüssel spielte die Weiterentwicklung der Europäischen auch an den Brücken zwischen den Menschen weiter- Union im doppelten Sinne eine wichtige Rolle. Es ging bauen. Hier sind wir alle gefordert und jeder kann dazu zum einen um den Erweiterungsprozess und zum ande- seinen Beitrag leisten. ren um die dringendsten Reformen in Europa. W ir brau- (Beifall bei der SPD) chen Mut zur V eränderung in Deutschland und wir brauchen diesen Mut auch in Europa. Beiträge zur Völkerverständigung sind aktive Frie- denspolitik. Ein zentraler Punkt im Papier des Rates ist die Frage von Beschäftigung und Wohlstand in Europa. In ganz Was in den 50er -, 60er- und 70er-Jahren unter ande- Europa gibt es wirtschaftliche Unsicherheitsfaktoren und rem zwischen Deutschland und Frankreich gelang, wer- die aktuelle Situation im Irak wirkt sich negativ auf die den wir auch mit unseren neuen EU-Nachbarn schaf fen. wirtschaftliche Erholung aus. Gerade wegen dieser Wichtig dabei ist, dass die Politik – Frau Sager hat schon schwierigen Rahmenbedingungen sind wir zu entschlos- vor einem bürokratischen Europa gewarnt – die Men- senen Strukturreformen verpflichtet. schen und ganz besonders die Jugend mitnimmt. Ich denke, für unsere Jugend wird die EU-Osterweiterung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtig spannend. In diesen Prozess kann sie sich voll des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einbringen. Das von Bundeskanzler Gerhard Schröder am Der erweiterten Europäischen Union wird nach mei- 14. März vorgelegte mutige Reformprogramm ist ein ner festen Überzeugung in einer veränderten internatio- Gesamtkonzept für Deutschland. Es gilt, die Lohnneben- nalen Situation eine noch größere Bedeutung zukom- kosten zu senken und die Investitionen zu steigern und men. Dies kann und muss für die Sicherung des Friedens damit für mehr Beschäftigung zu sorgen. genutzt werden. Europa steht in einer besonderen V er- antwortung. Wir haben uns dieser V erantwortung zum (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Da bin ich Wohl unserer Völker zu stellen. aber sehr gespannt!) (B) Vielen Dank. (D) Das ist auch der Kernpunkt des Papiers des Europäi- schen Rates. Das Lissaboner Ziel einer Beschäftigungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ quote von 70 Prozent bis 2010 ist und bleibt eines der DIE GRÜNEN) Hauptanliegen der Staats- und Regierungschefs. Länder mit einer hohen Beschäftigungsquote haben eine sehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: leistungsfähige Wirtschaftsstruktur. Eine hohe Beschäf- Herr Kollege Vogelsänger, ich beglückwünsche Sie tigung ist die Grundvoraussetzung für eine funktionie- im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im rende soziale Marktwirtschaft mit guten sozialen Leis- Deutschen Bundestag. tungen für die Bür ger. Deshalb gilt es, in Deutschland für mehr Beschäftigung zu sorgen. (Beifall) (Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs Ich schließe die Aussprache. [CDU/CSU]: Dann macht es doch!) Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b so- – Das machen wir auch. wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes, lieber Kol- Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr . Maria lege, sind wir in Deutschland auf dem richtigen W eg. Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Weiterhin wird der erweiterte europäische Binnenmarkt der CDU/CSU gerade in Deutschland für mehr Arbeit sor gen können. Mit der Erweiterung der Europäischen Union kommen Reformen in der beruflichen Bildung voran- über 70 Millionen Menschen – für mich sind die Men- treiben – Lehrstellenmangel bekämpfen schen der wichtigste Faktor –, aber auch ein riesiger – Drucksache 15/653 – neuer Markt für Güter und Dienstleistungen hinzu. Überweisungsvorschlag: Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang die Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Politik gefragt, Unternehmen durch entsprechende Rah- Rechtsausschuss menbedingungen zu unterstützen. Die Bundesregierung Finanzausschuss plant eine außenwirtschaftliche Offensive mit dem Ziel Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit der Öffnung internationaler Märkte für kleine und mit- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft telständische Unternehmen. Das geht natürlich über das Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gebiet der Beitrittsländer hinaus. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3031

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia weil nur gut ausgebildete Menschen ihre Zukunftschan- (C) Pieper, Christoph Hartmann (Hombur g), Ulrike cen, insbesondere ihre späteren Berufschancen wahr- Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nehmen können. der FDP Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung auch deshalb eine der wichtigsten gesellschaftspoliti- in Deutschland – mehr Chancen durch Flexibili- schen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut aus- sierung und einen individuellen Ausbildungspass gebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb behaupten können. – Drucksache 15/587 – Überweisungsvorschlag: (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Nur in wettbewerbsfähigen Unternehmen wiederum Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit können neue, zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir haben in der ver gangenen Legislaturperiode ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- grundlegende Reformvorhaben begonnen mit dem Ziel, Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Hartmut die berufliche Aus- und W eiterbildung nachhaltig zu Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Frak- modernisieren und vor allem mehr Betriebe für die be- tion der CDU/CSU rufliche Ausbildung zu gewinnen. Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Verteuerung der Ausbildung verhindern DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/739 – Diese Politik hat in den vergangenen Jahren spürbare Er- Überweisungsvorschlag: folge gezeigt. Deshalb werden wir diesen Kurs konse- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) quent fortsetzen. Im Übrigen werden wir in dieser Legis- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend laturperiode das Berufsbildungsgesetz novellieren. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss In diesem Jahr droht jedoch eine sehr schwierige ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten W illiLage. Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abge- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Trotz Ih- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- rer erfolgreichen Politik?) (B) geordneten Grietje Bettin, Dr . Thea Dückert, (D) Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Es gibt erhebliche Rückgänge bei den betrieblichen Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausbildungsplatzangeboten: 58 000 gemeldete be- triebliche Ausbildungsplätze weniger als im Vorjahr, da- Offensive für Ausbildung – Modernisierung von allein 52 000 in den alten Ländern. Das ist wirklich der beruflichen Bildung eine deutlich schwierigere Situation als im vergangenen – Drucksache 15/741 – Jahr. Dies begründet die sehr konkrete Sor ge, dass wir am Ende des Vermittlungsjahres 2002/2003 einer großen Überweisungsvorschlag: Zahl von Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz anbie- A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss ten können. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich will und werde mich damit nicht abfinden; das Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und sage ich ganz klar. Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung DIE GRÜNEN) Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für Es kann und darf auf Dauer nicht sein – das sage ich ge- die Aussprache anderthalb S tunden vorgesehen. – Ich nauso klar –, dass nur ein Drittel der Betriebe ausbildet. höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Bundes- DIE GRÜNEN) ministerin Edelgard Bulmahn das Wort. In einem dualen System der Berufsausbildung trägt die Wirtschaft die Hauptverantwortung für die berufliche Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Ausbildung der Jugendlichen. und Forschung: (Ulrike Flach [FDP]: Das ist richtig!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Eine qualifizierte Ausbildung für Sie trägt damit auch die Hauptverantwortung für ein aus- junge Menschen sicherzustellen ist eine der wichtigsten reichendes Angebot an Ausbildungsplätzen. gesellschaftspolitischen Aufgaben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: W as DIE GRÜNEN) heißt das?) 3032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Die Wirtschaft muss deshalb in ihrem ureigensten Inte- (Jörg Tauss [SPD]: Aber auch Tarifverträge (C) resse alle Anstrengungen unternehmen, die Zahl der wollen die abschaffen!) Ausbildungsplätze zu erhöhen. W er sich als Unterneh- mer heute dieser V erantwortung entzieht, sägt sprich- Wir handeln in den Punkten, in denen wir handeln wörtlich an dem Ast, auf dem er selber sitzt. können. Die Bundesregierung tut alles dafür, die Ausbil- dungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und da- (Beifall des Abg. Hans-Werner Bertl [SPD]) mit unser Ziel zu realisieren, dass kein Jugendlicher nach Es ist ein schwerwiegender Fehler, dass Arbeitgeber ge- der Schule in die Arbeitslosigkeit gerät. Unser Ziel ist es, nau dort sparen, wo es um ihre Zukunft geht: bei der das zu erreichen und sicherzustellen. Ausbildung und der Qualifizierung von Menschen. Dazu gehört eine V ereinfachung des Einstiegs der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausbildungsbereiten Betriebe in die Berufsausbildung, DIE GRÜNEN) wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 14. März angekündigt hat. Bereits zu Beginn des Denn sie brauchen diese Me nschen zwingend, wenn sie neuen Ausbildungsjahres – das heißt im Sommer 2003 – ihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft steuern wol- werden wir die Ausbilder-Eignungsverordnung für len. fünf Jahre aussetzen. Damit soll Betrieben, die bereit Es kann und darf nicht sein, dass Zehntausende von und in der Lage sind, auszubilden, der Zugang zur Aus- Jugendlichen eventuell keinen Ausbildungsplatz finden. bildung erleichtert werden. Die Kammern werden trotz- Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gegen- dem weiterhin die Aufgabe haben, sicherzustellen, dass über den Jugendlichen gerecht werden. die sächlichen und personellen V oraussetzungen erfüllt sind, sodass die Qualität der Ausbildung gewährleistet (Cornelia Pieper [FDP]: Aber auch die Poli- bleibt. tik!) (Beifall der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) Sie muss diese Verantwortung wahrnehmen und sie darf sich nicht davor drücken. Es gibt konkrete Fälle wie zum Beispiel den Fall einer Fachhochschullehrerin, die einen Betrieb gegründet hat (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und an der Fachhochschule Informatik lehrt, die aber DIE GRÜNEN) nach der geltenden Ausbilder-Eignungsverordnung nicht Ausbildungschancen dürfen auch nicht von Konjunk- ausbilden dürfte, die sicherlich nicht im Interesse der Sa- turlagen abhängig sein. Für die Stabilität und auch für che sind. Deshalb setzen wir die Geltung der Ausbilder- den Erfolg des dualen Systems ist es unverzichtbar, dass Eignungsverordnung für fünf Jahre aus. Wir werden kri- (B) Ausbildung auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten tisch beobachten, ob damit das gewünschte Ziel erreicht (D) nicht aufgegeben, sondern fortgeführt wird und dass al- wird. Ich denke, das ist ein richtiges, notwendiges und len Jugendlichen, die ausgebildet werden können und wichtiges Signal an die Betriebe, um ihnen den Einstieg wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten wird, so wie wir in die Ausbildung zu erleichtern. das in der ver gangenen Legislaturperiode imBündnis Wir werden weiterhin die Gründung von zusätzli- für Arbeit vereinbart haben. Diese Vereinbarung muss chen Ausbildungsverbünden massiv unterstützen. Wir auch dieses Jahr und für die Zukunft gelten. haben in den neuen Bundesländern sehr positive Erfah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rungen mit der Schaf fungvon Ausbildungsverbünden DIE GRÜNEN) gemacht. Wir wissen, dass sich immer mehr Betriebe so spezialisiert haben, dass sie nicht mehr das volle Spek- Deshalb werden wir alles daransetzen, dass wieder trum einer Ausbildung in ihrem Betrieb gewährleisten mehr Betriebe ausbilden und Ausbildungsplätze nicht können. Wir brauchen aber auch diese Betriebe für die abgebaut, sondern aufgebaut werden. Das ist die Auf- Ausbildung. Deshalb unterstützen wir die Bildung von gabe in den kommenden Wochen und Monaten. Ausbildungsverbünden auch in den alten Bundesländern, Ich führe bereits seit Januar Gespräche mit den Spit- damit wir auch diese Betriebe für die Ausbildung gewin- zen der W irtschaftsverbände und den Gewerkschaften, nen und wir damit den Jugendlichen weitere Ausbil- die im Übrigen unsere Sorge teilen. Für alle ist klar, dass dungsmöglichkeiten eröffnen können. die Gewinnung von neuen Ausbildungsplätzen nur in ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner gemeinsamen Aktion gelingen kann. Wir müssen ge- DIE GRÜNEN) meinsam dafür kämpfen, ausreichend Ausbildungsplätze zu erhalten. Dazu gehört auch, in Tarifverträgen zusätzli- Ein weiterer Punkt ist die Erweiterung des Pro- che Ausbildungsanstrengungen zu vereinbaren, so wie gramms „Kapital für Arbeit“ der Kreditanstalt für Wie- Sie das in Ihren Anträgen dargelegt haben. deraufbau. Damit können künftig Betriebe und Unter- nehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze bereitstellen, Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der einen zinsgünstigen Investitionskredit beantragen. CDU/CSU, Tarifverträge werden nicht von der Bundes- regierung abgeschlossen. Nicht die Regierung ist die Auf die besonders schwierige Situation in den neuen richtige Adresse, sondern die T arifvertragsparteien.Bundesländern haben wir sofort reagiert. W ir haben die Diese Auffassung teile ich durchaus. Nicht nur ich, son- zwischen Bund und Ländern vereinbarte Absenkung auf dern die gesamte Bundesregierung einschließlich des maximal 12 000 zu fördernd e Ausbildungsplätze für Bundeskanzlers sagen das klipp und klar. 2003 ausgesetzt. Wir werdenalso auch in diesem Jahr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3033

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) 14 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Rahmen dieses Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung (C) Programms finanzieren. und Forschung: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erster Punkt. Es gibt zum Beispiel einen dramati- DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ schen Einbruch bei den Ausbildungsstellen der Banken CSU]: Nach massivem Druck durch uns, Frau und in der Finanzwirtschaft. Ich halte die Entscheidung, Ministerin!) die von den Banken und der Finanzwirtschaft getroffen worden ist, für falsch. – Nein, sorry. Das ist bereits in den Haushaltsverhand- lungen im Februar von mir angekündigt worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir haben im Dezember den Antrag gestellt!) Denn ich erwarte von jedem kleinen Handwerksbetrieb und appelliere auch an ihn, dass er ausbildet, und zwar Ich hoffe, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen damals auch über den Bedarf hinaus. Genau das Gleiche erwarte zugehört haben. Den Ministerpräsidenten habe ich das ich – das sage ich ausdrücklich – von großen Banken. bereits Ende letzten Jahres gesagt. Ich will allerdings eines klarstellen, lieber Kollege: (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das Hand- Wir können nicht auf Dauer vonseiten des Staates und werk minus 7 Prozent! – Hartmut Schauerte der Bundesregierung die Ausbildungsverantwortung der [CDU/CSU]: Das ist doch keine Antwort!) Wirtschaft übernehmen. W ir können nicht ausbilden. Zweiter Punkt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass Wir brauchen die W irtschaft und die Betriebe. Das ist eine duale Berufsausbildung nur dann funktioniert, ihre ureigenste V erantwortung. Daran lasse ich auch wenn man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aus- nicht rütteln. bildet und gerade an Investitionen in die Zukunft nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spart. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Genauso wenig wie wir bei unseren Haushaltsentschei- Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine Zwischen- dungen nicht an Investitionen in die Zukunft sparen dür- frage des Kollegen Kretschmer? fen, dürfen auch Unternehmen nicht daran sparen. Des- halb ist es falsch, wenn Unternehmen dann, wenn es Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung ihnen nicht so gut geht, nicht ausbilden oder wenn Unter- (B) und Forschung: nehmen, denen es wirtschaftlich durchaus gut geht – das (D) Das war ja schon eine Zwischenfrage. gibt es auch –, trotzdem nicht ausbilden, sondern versu- chen, die ausgebildeten F achkräfte woanders herzube- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kommen. Erlauben Sie die Zwischenfrage? (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Den Unter- nehmen geht es schlecht, deshalb! – Hartmut Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Schauerte [CDU/CSU]: Geben Sie den Meis- und Forschung: tern wieder Sicherheit!) Ich erlaube noch eine Zwischenfrage. Das ist eine Haltung, die nicht vertretbar ist. Denn wir haben nur dann ausgebildete Fachkräfte, wenn jedes Un- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ternehmen bereit ist, seinen Beitrag dazu zu leisten. Bitte schön, Herr Kretschmer. Wenn aber nur ein Drittel der Betriebe ausbildet – ich nenne die Zahl noch einmal –, zeigt das sehr deutlich, Michael Kretschmer (CDU/CSU): dass nicht jedes Unternehmen seiner V erantwortung in Frau Ministerin, ich habe Sie schon das letzte Mal ge- dem Umfang gerecht wird, wie es notwendig wäre. fragt und Sie haben nicht geantwortet. Deshalb stelle ich (Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer die Frage noch einmal. [CDU/CSU]: Ich habe nur nach den Gründen (Nicolette Kressl [SPD]: Kann es sein, dass gefragt, Frau Ministerin!) Sie das nicht verstanden haben?) Ich sage ausdrücklich: Ein Unternehmen, das nicht aus- – Das glaube ich nicht. Ich habe die Antwort nicht ver- bildet, denkt nicht an seine Zukunft; denn es kann nicht nommen. darauf bauen, dass andere Unternehmen für dieses Un- ternehmen die Ausbildungsverpflichtung und -verant- Was ist der Grund dafür, dass die Firmen nicht ausbil- wortung übernehmen. den? Sie tun so viel. Es ist so wichtig für die Unterneh- men. Trotzdem – das sagt uns das Arbeitsamt – brechen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in diesem Jahr 16 Prozent der Lehrstellen weg. W as ist DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass die Firmen Das war keine Antwort, sondern eine Be- nicht mehr ausbilden können? schimpfung!) 3034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Deshalb werden wir unsere Anstrengungen fortset- werden wir in der Novelle des Berufsbildungsgesetzes (C) zen. Wir wollen gerade Jugendlichen mit schlechteren entsprechend aufgreifen und gestalten. Startchancen, die zum Beispiel sehr schlechte schulische Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Qualität Voraussetzungen haben, durch spezielle Fördermaßnah- unseres Berufsbildungssystems schneidet im internatio- men wie zum Beispiel unser BQF-Programm einen er- nalen Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so folgreichen Start in das Berufsleben ermöglichen. Auch bleiben. Mehr Attraktivität, höhere Qualität, höhere Aus- diese Jugendlichen brauchen eine Berufsausbildung. Wir wissen, dass wir ihnen jetzt und in Zukunft staatliche bildungsbereitschaft und damit mehr Ausbildungsplätze, das sind die Ziele, die ich bei allen Schritten verfolge. Unterstützung anbieten müssen. Das tun wir auch, zum Beispiel mit Hilfe dieses Programms. (Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Zusätzlich eröffnen wir diesen Jugendlichen durch die Entwicklung von Qualifikationsbausteinen einen wei- – Gibt es eine Wortmeldung? teren Weg. Das ist ein zusätzliches Angebot, um diesen Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und zu Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schäftigung zu erleichtern. Es kommt zu keiner Absen- kung der Ausbildungsqualität in der Breite. Aber über Frau Ministerin, Sie erwarten schon fast eine Zwi- den über Bausteine organisierten Zugang zu einer vollen schenfrage. Der Kollege Fuchs ist so freundlich, Ihnen Berufsausbildung oder im Notfall zu anerkannten T eil- eine Zwischenfrage stellen zu wollen. – Bitte schön, qualifikationen bietet sich die Möglichkeit des Einstiegs Herr Fuchs. in eine Beschäftigung. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, wie viele Unter- nehmen in diesem Jahr in Deutschland Pleite gehen wer- Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit diesen und den und wie viele Ausbildungsplätze dadurch verloren weiteren Initiativen gelingen kann, auch in diesem Jahr gehen? eine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen. Entscheidend ist ein deutlich verstärktes Engagement Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung der Wirtschaft selbst. Etwas anderes werden wir nicht und Forschung: akzeptieren. Das ist mir bekannt. Mir ist aber auch bekannt, wie (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Planungs- viele Unternehmen in Deutschland gegründet werden. sicherheit!) (B) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ist Ihnen der (D) Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir brau- Saldo auch bekannt?) chen natürlich auch Ausbildungsberufe, die dem Bedarf der Wirtschaft und dem Anspruch der Jugendlichen auf Diese Zahl übersteigt die Zahl der Insolvenzen. Damit eine Ausbildung zu qualifizierten Fachkräften entspre- auch die neu gegründeten Unternehmen ausbilden kön- chen. nen, haben wir gerade beschlossen, die Ausbilder -Eig- nungsordnung außer Kraft zu setzen. Ich sage ausdrück- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist denn lich: Es ist schlichtweg zu wenig, wenn nur ein Drittel der Wirtschaftsminister?) der bestehenden Betriebe ausbildet. Wir müssen – daran kommen wir nicht vorbei – die Zahl der Betriebe, die Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren ausbilden, erhöhen, und zwar in allen Bereichen; das gilt 56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neue vor allem für den Dienstleistungsbereich, aber auch für Ausbildungsberufe geschaffen. das Handwerk. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen die Be- DIE GRÜNEN) triebe wieder in die Lage versetzen, dass sie Diesen Modernisierungsprozess werden wir so wie in ausbilden können!) der Vergangenheit auch weiterhin mit Nachdruck voran- Das muss unser gemeinsames Ziel sein und ich hof fe, treiben. Zur Modernisierung der Prüfungen erproben wir lieber Kollege, dass es tatsächlich unser gemeinsames zurzeit zweistufig gestreckte Prüfungen in einer größe- Ziel ist. Jeder von uns muss in seinem V erantwortungs- ren Zahl von Ausbildungsberufen. bereich alles dafür tun, dass das gelingt. Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausbildung internationaler und vor allem europäischer DIE GRÜNEN – Dr . Michael Fuchs [CDU/ werden. Ein wichtiges Ziel ist die Schaffung eines euro- CSU]: Ich hätte gerne die Zahlen von Ihnen!) päischen Bildungsraumes. Dazu gehören die Anerken- nung, die Anrechnung und die Transparenz von Qualifi- Die CDU/CSU-Fraktion hat einen umfangreichen Forde- kationen und Abschlüssen. Dazu gehört es aber auch, zu rungskatalog vorgelegt. Das hat mich etwas erstaunt; mehr Mobilität zu kommen und vor allem, den Auszu- denn offensichtlich hat sie nicht zur Kenntnis genom- bildenden die Möglichkeit zu geben, einen T eil ihrer men, dass die Bundesregierung in allen Bereichen, auf Ausbildung im Ausland absolvieren zu können und die- die die CDU/CSU-Fraktion eingeht – ich habe keinen sen Teil der Ausbildung anerkannt zu bekommen. Das einzigen Bereich gefunden, auf den das nicht zutrif ft –, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3035

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) längst handelt. Damit hat sie einen Katalog vor gelegt, Katherina Reiche (CDU/CSU): (C) der beschreibt, was wir getan haben. Das freut mich. Es Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie erkennen Kollegen! In Deutschland sind 562 000 junge Menschen würden, dass das bereits gewährleistet ist. Mit Ihren For- ohne Arbeit. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr . derungen sagen Sie ja ausdrücklich, dass es richtig war . Hinzu kommen noch einmal 558 000 junge Menschen in Ich denke, gerade die Bildungs- und Forschungspolitiker Ersatzmaßnahmen. sollten sich nicht die Blöße geben, etwas zu fordern, was bereits geleistet worden ist. Frau Ministerin Bulmahn, aufgrund Ihrer Politik er- warten wir in diesem Jahr 42 000 Unternehmenspleiten. Ich halte es wirklich für nicht verantwortbar, dass Sie Das bedeutet noch einmal ein Minus von 40 000 bis völlig falsche Zahlen in den Raum werfen; das geht 50 000 Ausbildungsplätzen. nicht. ( [SPD]: Grober Unfug!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das tun Sie öfter!) Im März standen deutschlandweit rund 541 700 Ausbil- dungssuchenden nur rund 393 000 Ausbildungsplätze Sie wissen so gut wie ich, dass wir die Erhebungen des gegenüber. Es fehlen also rund 148 700 Lehrstellen. Al- BiBB heranziehen müssen, wenn wir ein realistisches lein in den neuen Ländern fehlen 105 000 Lehrstellen. Bild über die Zahl der neu abgeschlossenen Berufsaus- Die Lehrstellensituation ist so dramatisch wie nie zuvor. bildungsverträge gewinnen wollen, da die Zahlen der Die Bundesregierung hätte längst handeln müssen. Kammern nur in diese Erhebungen eingehen. Danach haben bis zum 30. September des ver gangenen Jahres ( [SPD]: Die Wirtschaft hätte handeln 572 227 Jugendliche eine Ausbildung begonnen. Da- müssen! – Gegenruf des Abg. Hartmut mit unterschlagen Sie in Ihren Presseerklärungen Schauerte [CDU/CSU]: Ihr macht sie doch ka- 230 000 Verträge. putt! – W eiterer Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Immer die Wirtschaft!) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht viel!) Wenn ein junger Arbeitsloser auf den Internetseiten Diese lassen Sie einfach unte r den Tisch fallen, um bil- der Bundesregierung surft, dann sieht er , dass die Bun- lige Effekte zu erzielen. Ich sage ausdrücklich: Das ist desregierung mit dem Slogan „Wir sind gut“ wirbt. Dort ein nicht akzeptables Verhalten. steht, dass wieder mehr Lehrstellen als Bewerberinnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Bewerber zur Verfügung stehen. Frau Bulmahn, die DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Schä- heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass das of fenbar (B) men sollten die sich! – Ernst Hinsken [CDU/ gelogen ist. (D) CSU]: Reden Sie doch von den betrieblichen (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Berg [SPD]: Ausbildungsstellen!) Unverschämtheit!) Lassen Sie das einfach sein! Denn damit motivieren Sie Weiterhin steht dort: Alle Jugendlichen, die können und keinen einzigen Betrieb und auch die Jugendlichen nicht. wollen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Das klingt Sie sollten lieber mit Fakten argumentieren. Auch ohne in den Ohren der 1,1 Millionen Jugendlichen ohne Lehr- dass man so vorgeht, wie Sie es getan haben, gibt es ge- stelle bzw. Arbeit wirklich wie Hohn. nug für uns zu tun. An dieser dramatischen La ge trägt die Bundesregie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte es bereits: rung eine Mitverantwortung. Sie hat die Brisanz der Si- Wir werden die Schwerpunkte unserer Reformagenda tuation regelrecht verschlafen. Mit unseren Anträgen zur durch eine entsprechende Novellierung des Berufsbil- Lehrstellenproblematik wollen wir die Bundesregie- dungsrechts flankieren. Bei allen Zielsetzungen und Re- rung aufrütteln und ihr Beine machen, damit sie ihre formen, die wir durchführen, ist es wichtig, immer die Aufgaben angeht und aus der Lethargie herauskommt. doppelte Zielsetzung der Berufsausbildung im Auge zu haben, nämlich erstens, Entwicklungs- und Beschäfti- (Beifall bei der CDU/CSU) gungschancen für alle Menschen zu eröf fnen, und zwei- tens, zugleich eine bedarfsgerechte Qualifizierung für Zu lange hat sich die Bundesregierung mit scheinbar po- die Wirtschaft zu ermöglichen. Das ist die Leitlinie unse- sitiven Statistiken geschmückt und wurden Jubelarien rer Politik. Hierfür werbe ich um Unterstützung. gesungen und dabei dringend notwendige Maßnahmen versäumt. Die Entwicklung war bereits im Frühjahr2002 Vielen Dank. absehbar. Das Lehrstellenproblem ist nicht über Nacht zu uns gekommen. Es hat aber nicht in die T aktik für den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundestagswahlkampf gepasst. Deshalb wurde ein DIE GRÜNEN) Mantel des Schweigens darüber gebreitet. Nun werden die Jugendlichen von den Versäumnissen rot-grüner Poli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tik umso härter eingeholt: minus 6,5 Prozent bei den neu Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im deutschen der CDU/CSU-Fraktion. Handwerk zum 31. Dezember 2002 und minus 7 Prozent bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in die- (Beifall bei der CDU/CSU) sem Jahr. 3036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Katherina Reiche (A) Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in Nehmen Sie zum Beispiel das Berufsbild des Verkäu- (C) Deutschland – das haben Sie ausgeführt, Frau Ministerin – fers in einer Dienstleistungsgesellschaft. Es ist veraltet. ist rapide gesunken, weil die Belastungen für die Unter- Freizeitberufe oder IT -Berufe sind ähnliche Beispiele; nehmen so hoch wie nie zuvor sind. denn die letzte Modernisierung liegt schon fünf Jahre zu- rück. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Moder- (Ulla Burchardt [SPD]: Das ist doch falsch! nisierung der Aufstiegsfortbildung, sondern die erste Sie sind niedriger als unter Ihrer Regierungs- Berufsqualifikation. Die Ausbildungsfähigkeit und -be- zeit! – Hans-Werner Bertl [SPD]: Quatsch!) reitschaft der Unternehmen müssen gefördert werden. Besonders gravierend ist die Situation in den neuen Län- Dazu gehört auch die Modernisierung der Ausbilder - dern. Das Ausbildungsstellenangebot hat sich nochmals Eignungsverordnung. Frau Bulmahn, Sie haben am Mitt- deutlich verringert. Gegenüber dem V orjahr wurde jede woch Ihre Vorschläge bekannt gegeben – unser Antrag zehnte betriebliche Ausbildungsstelle nicht mehr gemel- dazu ist schon ein bisschen länger auf dem Tisch –, die det. Hinter diesen dramatischen Zahlen verber gen sich beim DGB sofort auf W iderstand stießen, wonach all immer Einzelschicksale. diese Regelungen nicht machbar seien. Ich bin gespannt, wie Sie sich in dieser Situation mit dem DGB auseinan- Nicht nur die Schere zwischen den gemeldeten freien der setzen. Ausbildungsplätzen und der Nachfrage der Jugendlichen nach betrieblicher Ausbildung klaf ft dramatisch aus- Gewerblich-technische Berufe, wie sie zum Beispiel einander. Es kommt noch etwas hinzu: V on im den deutschen Handwerk vorhanden sind, müssen für 711 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schaf f- Auszubildende attraktiver gestaltet werden. ten am Ende des letzten Jahres nur 48,2 Prozent den Sprung in eine reguläre Ausbildung. W eit über (Jörg Tauss [SPD]: Durch wen?) 50 Prozent der Jugendlichen bekamen wie schon in den Jahren davor Ersatzmaßnahmen angeboten. Auch der öf- Für diese Berufe muss gerade wegen ihres hohen Be- fentliche Dienst bildet deutlich weniger aus. schäftigungspotenzials verstärkt geworben werden. Ebenso benötigen wir theoriegeminderte Berufe für Ju- Die rot-grüne Politik ist dafür verantwortlich, weil sie gendliche ohne Schulabschluss. Vom Bundesinstitut für die Rahmenbedingungen für den Lehrstellenmarkt setzt. Berufsbildung wird vorgeschlagen, dass ein einheitlicher JUMP hat sich als Irrweg erwiesen. Jährlich 1 Milliarde Berufsbildungspass eingeführt werden soll. Das unter- Euro wurde in das Programm gepumpt. Die Bilanz? stützen wir. Frau Ministerin, Sie sollten auch mit den 11,2 Prozent der Teilnehmer an JUMP sind in eine Voll- Unternehmen über die Präsenztage in den Berufsschulen beschäftigung gekommen, 10,2 Prozent gelangten in sprechen, die viele Unternehmen als Belastung empfin- eine betriebliche Ausbildung – viel Geld und wenig Wir- (B) den. (D) kung. Die Bundesregierung hat die jungen Menschen mit ih- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: ren Sorgen allein gelassen. Das Versprechen im Bündnis Gestern haben Sie es noch gefordert!) für Arbeit, dass jeder Ausbildungswillige einen Ausbil- Unsere Jugendlichen brauchen betriebliche Lehrstellen. dungsplatz erhalten werde, wurde gebrochen. Auch von Nur so haben sie eine wirkliche Chance, auf dem ersten der Ausbildungsplatzgarantie des Jahres 2002 hat sich Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. die Bundesregierung sang- und klanglos verabschiedet. Nur noch auf den Internetseiten der Bundesregierung ist ( [Starnberg] [SPD]: Dann müs- davon die Rede. sen die Betriebe eben ausbilden!) Bislang haben wir von Ihnen kein Konzept gesehen. In Anbetracht dieser schwierigen Situation müssen Eine Lehrstellenabgabe, wie sie nun der Kanzler gefor- zwei Dinge geschehen: Erstens. W ir brauchen eine Mo- dert hat, ist in unseren Augen kontraproduktiv. Betriebe, dernisierung der beruflichen Ausbildung. Hier müssen denen dafür die Voraussetzungen fehlen, würden zusätz- Wege weitergegangen werden. Zweitens. W ir brauchen lich belastet, andere Betriebe könnten sich davon frei- durch eine steuerliche Entlastung der Ausbildungsbe- kaufen. Die Ausbildungsplatzabgabe schwebt wie ein triebe und den Abbau von Bürokratie die Stärkung des Damoklesschwert, wie eine immer währende Drohung ersten Lehrstellenmarktes. von Rot-Grün über den Unternehmen. Ich frage Sie: Wie Zur Modernisierung der betrieblichen Ausbildung. viele Abgaben, Steuern und Drangsalierungen wollen Wenn das System der dualen Ausbildung – Frau Minis- Sie den Unternehmen noch zumuten? terin, ich gebe Ihnen vollkommen Recht, dass dieses System im internationalen Vergleich gut ist – in der mo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft at- neten der FDP) traktiv und wettbewerbsfähig bleiben soll, dann müssen Nicht Bestrafung ist erfolgversprechend, sondern An- weitere strukturelle Veränderungen vorgenommen wer- reize zu setzen. den. Es geht um die Ausbildungsordnungen hinsichtlich der Ausbildungsdauer und Praxisorientierung. Es geht Auch das angekündigte Kreditprogramm ist untaug- um Wahlpflichtmodule und W ahlmodule, um Inhalte, lich. Kredite für Lehrstellen sind ungefähr wie Kopf- Methoden, Ausbildungsformen und Prüfungen. Es geht schmerztabletten gegen Lungenentzündung. um den Ausbildungsrahmen, der regelmäßig an wirt- schaftliche Veränderungen angepasst werden muss. (Zurufe von der SPD: Oh!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3037

Katherina Reiche (A) Wir setzen uns für eine spürbare Entlastung der Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) triebe durch Senkung der Lohnnebenkosten ein. Der Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom erste Ausbildungsstellenmarkt muss gestärkt werden. Bündnis 90/Die Grünen. (Zuruf von der SPD: Welches Konzept haben Sie?) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ausbildung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In analog denen von uns vor geschlagenen betrieblicheneinem sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen je- Bündnissen für Arbeit. Das geht an die Adresse der T a- dem jungen Menschen eine Ausbildung in dem Beruf er- rifpartner. Wir brauchen in den T arifverträgen flexible möglichen, den er oder sie sich wünscht. Regelungen zur Ausbildungsvergütung. Das schließt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch Tariföffnungen ein. Manchmal ist weniger Geld und bei der SPD) besser, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen. Diesem Ziel wollen wir trotz der konjunkturellen Krise (Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt möglichst nahe kommen. Gleichzeitig wollen wir eine [SPD]: Wissen Sie überhaupt, wie hoch die flexible Ausbildungsstruktur schaffen, die auf neue Ge- Ausbildungsvergütung ist?) gebenheiten, zum Beispiel auf die zunehmende Internati- onalisierung oder den technischen Fortschritt, reagiert. – Ja, weil unser Unternehmen selbst ausbildet, Frau Burchardt. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Tun Sie es!) Steuern und Sozialabgaben sind umfassend zu senken und mit dieser Entlastung ist ein größerer wirtschaftli- Dabei müssen wir gerade für benachteiligte junge Men- cher Spielraum für neue Ausbildungsplätze in den Un- schen und solche mit Lernschwierigkeiten die Chance zu ternehmen zu schaffen. einer qualifizierten Ausbildung bewahren, zum Beispiel durch die Schaffung von anr echenbaren Qualifizie- Das erfolglose JUMP-Programm sollte beendet wer- rungsbausteinen. Eine solche Modularisierung, wie sie den. Die frei werdenden Mittel können direkt den Unter- in unserem Antrag, aber auch in den Anträgen der CDU/ nehmen zugute kommen. Sie können sie auch verwen- CSU und der FDP angedeutet wird, ist für uns ein wich- den, um den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu tiger Baustein in der beruflichen Bildung. senken. Auch damit wäre zum Beispiel personalintensi- ven Unternehmen geholfen. Trotz vieler Bemühungen drängt es junge Frauen lei- der immer noch in die klassischen Frauenberufe. Fast (B) Natürlich ist das Angebot betrieblicher Ausbildungs- 80 Prozent eines jeden Ausbildungsjahr gangs wählen(D) plätze von der Zahl der Arbeitsplätze und von der W irt- zwischen nur zehn Berufen. Ganz typisch sind hier Fri- schaftskonjunktur abhängig. Beides ist unter Rot-Grün seurin oder Krankenschwester. Dabei gibt es fast 400 an- auf Talfahrt. Diese Entwicklung darf jedoch nicht auf dere Möglichkeiten. Wir wollen durch eine bessere Be- dem Rücken der Jugendlichen abgeladen werden. Des- ratung gezielt auf andere zukunftsfähige Berufe halb lautet mein dritter, grundsätzlicher Vorschlag: Klin- hinweisen, gerade auch im naturwissenschaftlichen und ken putzen, und zwar für jeden einzelnen zusätzlichen technischen Bereich. Ausbildungsplatz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) und bei der SPD) Die Fachverbände und ihre Präsidenten, der DGB und So viel zur Vision, nun zum Konkreten. Liebe Kolle- seine Einzelgewerkschaften mit ihren V orsitzenden und ginnen und Kollegen von der Union, Ihren Antrag habe Verantwortlichen, die Bundesregierung und die Landes- ich natürlich mit Interesse gelesen. regierungen mit ihren zuständigen Ministern sollten vor (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist Ort bei Betrieben und V erwaltungen um Ausbildungs- doch schon mal was!) plätze werben. Das gilt natürlich auch für jeden einzel- nen Abgeordneten. Sie wollen mit – ich zitiere – „vernünftigen Regelungen zur Ausbildungsvergütung“ mehr Ausbildungsstellen Es ist höchste Zeit zum Handeln. Sie verspielen die schaffen. Wollen Sie wirklich neue Ausbildungsplätze Chancen der jungen Generation im V ergleich mit ande- finanzieren, indem Sie den Jugendlichen das ohnehin ren Volkswirtschaften. Das beginnt mit der Schulbildung schon knappe Geld kürzen? und endet mit dem ersten Arbeitsmarkt. Die Zeit der An- kündigungen muss nun schnellstens durch die Zeit der (Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen verhindern, Taten abgelöst werden. dass noch mehr Ausbildungsplätze wegbrechen!) (Zuruf von der SPD: Wo ist Ihr Konzept, Frau Aber Sie gehen noch weiter. Sie fordern in Ihrem An- Reiche? Tragen Sie doch einmal Ihr Konzept trag ernsthaft, dass die für Jugendliche bestimmten För- vor!) dermittel des JUMP-Pr ogramms zur Senkung der Lohnnebenkosten genutzt werden sollen. Vielen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Abgeschafft werden sol- (Beifall bei der CDU/CSU) len!) 3038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Grietje Bettin (A) So viel zum Thema Generationengerechtigkeit. Eine durchaus überbrückbar zu sein, sodass wir uns im Aus- (C) solche Umverteilung zulasten der jungen Generation schuss letztendlich vielleicht doch auf eine gemeinsame machen wir jedenfalls nicht mit. Linie für die Zukunft der beruflichen Bildung in Deutschland einigen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Dann können Sie ja zustimmen!) Und nun einige W orte zum Antrag der FDP . Es kann nicht unser Ziel sein, dass die jungen Menschen unter Im Interesse der jungen Menschen sollten wir uns in der dem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürf- so wichtigen Frage der Ausbildungsreform nicht gegen- nisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden, wie es seitig blockieren. Ihr Antrag zur Folge hätte. Der Arbeitnehmer, der sein Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Leben lang in einer Firma arbeitet, gehört der V ergan- genheit an. Gerade deshalb wollen wir den Jugendlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine vielseitige Qualifikation an die Hand geben, die ih- und bei der SPD) nen eine vernünftige Perspektive im Job bietet. Eine Ausbildung muss so weit standardisiert und objektiviert Vizepräsidentin Dr. : sein, dass sie auch für andere Arbeitgeber interessant ist. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper. Ein sehr ernst zu nehmendes Problem ist, dass laut IHK derzeit jeder zehnte Betrieb keine qualifizierten Be- Cornelia Pieper (FDP): werberinnen und Bewerber zur Ausbildung findet. Dabei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! spielen die von PISA aufgezeigten Bildungsdefizite eine 20 Prozent der Schulabgänger in Deutschland sind nicht Hauptrolle. ausbildungsfähig. Rund 14 Prozent haben keinen Be- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: In der Tat!) rufsabschluss. Das sind die Sozialfälle von mor gen. Ziel der Politik muss es sein, Rahmenbedingungen dafür zu Bund und Länder müssen Hand in Hand gemeinsame schaffen, dass gerade junge Menschen in diesem Land Bildungsstandards erarbeiten, damit wir das allgemeine einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden. Bildungsniveau mittelfristig wieder auf einen akzepta- blen Stand bringen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Februar 2003 gab es mehr als 54 000 Ausbildungs- plätze weniger als im Februar 2002. Doch was sind In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, meine Da- men und Herren von der Regierungsbank, bescheinigen, (B) wirklich die Ursachen? Nicht für alle trägt die Politik die (D) Hauptverantwortung. So bilden zum Beispiel nur dass Sie das Ausbildungs- und Arbeitsplatzdesaster in 30 Prozent der Betriebe aus. Hier ist aus unserer Sicht diesem Land zu verantworten haben. Sie haben Refor- auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Wir müs- men verschlafen, und zwar nicht nur in der Wirtschafts- sen analysieren, wie sich die Kosten für die Ausbildung und Steuerpolitik, sondern gerade auch in der Bildungs- seit 1969 immer mehr auf die öffentliche Hand verlagert politik. Eine Reform der beruflichen Bildung ist über- haben. fällig. Wir reden schon seit der vorigen Legislatur- periode davon. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) (Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Sie Wir Grünen wollen weitere Anreize dafür schaf fen, reden schon seit 30 Jahren, aber getan haben qualifizierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. W enn Sie nichts! – Dr . Uwe Küster [SPD]: T uten sich die Einsicht nicht durchsetzt, dass die Ausbildung können Sie gut, aber Sie tun nichts!) von qualifiziertem Personal letztendlich der W irtschaft selbst zugute kommt, müssen wir notfalls auch gesetzge- – Wir haben bereits im Mai 2001 einen konkreten Antrag berisch aktiv werden. vorgelegt. Bitte nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Bulmahn, wenn Sie die W irtschaft in diesem sowie bei Abgeordneten der SPD) Land anklagen, dass sie ihrer Verantwortung nicht nach- kommt und keine Ausbildungsplätze schaf ft, dann halte Wir wollen Betrieben aber nicht die Möglichkeit geben, ich das für verantwortungslos von dieser Regierung. sich von ihren Ausbildungspflichten freizukaufen. Ziel muss es bleiben, so viele betriebliche Ausbildungsstellen (Jörg Tauss [SPD]: Für berechtigt!) wie möglich zu schaffen. – Es ist nicht berechtigt, Herr Tauss. Vielmehr sind das die Auswüchse Ihrer verfehlten rot-grünen Finanz- und Aus grüner Sicht ist es darüber hinaus dringend not- Steuerpolitik und Ihres Bürokratiewustes. wendig, den Auszubildenden auch den Weg nach Europa zu öffnen. Dazu brauchen wir unter anderem eine Zerti- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fizierung von Ausbildungsmodulen und die Anerken- der CDU/CSU) nung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. 80 Prozent aller Ausbildungsplätze entstehen im Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab- Handwerk bzw. in kleinen und mittelständischen Unter- schließend noch eine etwas versöhnlichere Bemerkung nehmen. Diese belasten Sie seit Beginn Ihrer Regierung machen: Die Unterschiede in den Anträgen scheinen mir mit immer mehr Bürokratie und Steuern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3039

Cornelia Pieper (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ausland erwerben und mit einem Credit-Point-System (C) der CDU/CSU – Dr . Uwe Küster [SPD]: Sie für die Berufsausbildung anerkennen lassen. können es noch so oft herauspiepen! Es wird (Beifall bei der FDP) nicht richtig! – W illi Brase [SPD]: Sie zahlen jetzt weniger als bei Ihnen!) Handeln ist gefragt. Wir müssen das Berufsbildungs- gesetz endlich reformieren und dürfen nicht länger zö- Zurzeit wird im V ermittlungsausschuss immer noch gern. Auch Sie sind hier gefordert. Wir werden Sie gerne über das Steuerver günstigungsabbaugesetz mit einer dabei unterstützen, wenn es darum geht, diese bildungs- Mehrbelastung der Wirtschaft in Höhe von 15 Milliarden politische Reform auf den Weg zu bringen. Euro verhandelt. Das muss endlich aufhören! Dann er- halten junge Menschen in diesem Land auch eine (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie drohen mit Unter- Chance auf einen Ausbildungsplatz. stützung! Dann wird es gefährlich!) (Beifall bei der FDP – Hans-W erner Bertl Bitte sagen Sie nicht wieder – ich kann mir gut vorstel- [SPD]: Bleiben Sie bei der Wahrheit! – Jör g len, dass auch Ihre Gewerkschaftskollegen diesen V or- Tauss [SPD]: Grober Unfug!) wurf erheben werden –, eine zweijährige Grundausbil- dung sei eine Schmalspurausbildung. W ir diskutieren – Herr T auss, das ist kein grober Unfug, sondern die nun schon seit Jahren mit den Wirtschaftsverbänden und Wahrheit. Aber die wollen Sie ja nicht hören. Zurzeit dem Mittelstand, aber auch mit dem Bundesinstitut für fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. 500 000 Jugendliche Berufsbildung darüber. ofessor Pr Dr. Pütz, General- befinden sich derzeit in Ersatzmaßnahmen, wie gestern sekretär dieses Instituts, hat in einer Anhörung gesagt, Herr Alt vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit im eine Neuordnung müsse dazu führen, dass nach zwei Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Jahren ein erster theoriegeminderter Abschluss möglich abschätzung mitteilte. Da Sie selbst anwesend waren, sei, der einerseits zur Gesellen- oder Facharbeiterprü- sollten Sie sich erinnern. fung befähige und der andererseits den Einstieg in einen Die Chancen der Hauptschulabgänger auf dem Aus- einfacheren Beruf ermögliche, natürlich immer verbun- bildungsmarkt haben sich besonders verschlechtert. Ihr den mit der Aufforderung, sich später voll zu qualifizie- Anteil an den unvermittelten Bewerbern stieg auf nun- ren. Er erklärte unter großer Zustimmung der anwesen- mehr 39,6 Prozent. Das sind rund 2 Prozent mehr als im den Vertreter der Handwerks- und Industrieverbände, Vorjahr. Die Jugendarbeitslosigkeit – Frau Reiche hat dass diese Aufteilung bei der überwiegenden Zahl der bereits darauf hingewiesen – stieg dreimal so stark an Berufe möglich sei. Ich weiß nicht, warum sich die Ge- wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist das Ergebnis werkschaften dagegen sperren. Es ist doch besser, mit ei- ner zweijährigen Grundausbi ldung den Einstieg in den (B) Ihrer Politik. Wenn Sie in Ihrem Antrag, liebe Kollegen (D) von der SPD und den Grünen, für eine finanzielle Betei- Arbeitsmarkt zu erreichen, als ohne Ausbildung den Ab- ligung nicht ausbildender Betriebe werben, also schon stieg in die Sozialhilfe zu erleiden. Das muss das Ziel wieder eine Ausbildungsplatzabgabe von mittelständi- sein. schen Betrieben in Erwägung ziehen, dann halte ich das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für fatal. So kommen wir in diesem Land nicht weiter. Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich kann (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Auch Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und von Großbetrieben!) auch die Vertreter der Gewerkschaften, nur auffordern, – Herr Tauss, begreifen Sie bitte endlich, dass 80 Prozent den Weg, den die FDP vor geschlagen hat, zu beschrei- aller Ausbildungsplätze nicht in Konzernen und Großbe- ten. Es geht uns – das wird dringend benötigt – um mehr trieben, sondern in kleinen und mittelständischen Betrie- Attraktivität der beruflichen Bildung. Wir brauchen auch ben zu finden sind. eine Internationalisierung der Berufsausbildung. Bun- deskanzler Schröder hat im Jahr 2002 allen Jugendlichen Der Anlass unserer heutigen Debatte ist in erster Linie eine Ausbildungsplatzgarantie gegeben. Diese werden ein bildungspolitischer und nicht ein wirtschaftspoliti- wir nicht einhalten können, wenn es in der beruflichen scher. Bildung so weitergeht. Wir brauchen eine größere Diffe- renzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung. (Dr. (FDP): Das hängt aber zusammen!) (Beifall bei der FDP) – Genau, das hängt zusammen . Arbeit und Bildung be- Wir sind mit diesem starren System nicht in der Lage, dingen in einer W issensgesellschaft einander und sind mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss man ein- nicht voneinander zu trennen. fach zur Kenntnis nehmen. Deswegen wollen wir heute über die bildungspoliti- Zum Glück ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Je- schen Ansätze der Anträge diskutieren. W ir haben eine der von ihnen ist glücklicherweise anders. zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbau- (Jörg Tauss [SPD]: Von Ihnen auch!) steinen und einen lebenslang gültigen Ausbildungspass vorgeschlagen. Wir wollen – das haben auch Sie, Frau Es gibt begabte junge Menschen, die in der Theorie stark Bulmahn, vorgeschlagen – die Berufsausbildung interna- sind, und es gibt begabte junge Menschen, die in der Pra- tionalisieren, indem wir bestimmte T eilqualifikationen, xis, zum Beispiel im Handwerk, stark sind – das muss so genannte Ausbildungsmodule bzw . -bausteine, imman anerkennen –, denen man die Chance geben muss, 3040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Cornelia Pieper (A) nach einer zweijährigen Grundausbildung einen Ab- Ich möchte auf das zurü ckkommen, was in dieser(C) schluss zu bekommen. Runde teilweise dar gestellt wurde. W er in Bezug auf JUMP so tut, als hätte dieses Programm nichts gebracht, (Jörg Tauss [SPD]: Wie wollen Sie denn einen der hat vergessen, dass wir mit diesem zunächst steuer - Elektriker ohne Theorie ausbilden?) und dann über die BA in Nürnber g finanzierten Pro- - Herr Tauss, unterstützen Sie unseren Antrag und unter- gramm weit über 500 000 Jugendliche angesprochen ha- stützen Sie endlich die Reform der beruflichen Bildung! ben, die sonst in der Versenkung verschwunden wären. Hören Sie auf mit solchen unsachlichen Zwischenrufen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und hören Sie auf, die nötigen Reformen zu verhindern! DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch das war eine notwendige staatlich Leistung. Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines erwähnen – wir sind Bildungspolitiker –: Natürlich gehört auch die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Qualität der Schulausbildung in Deutschland schon Herr Tauss, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen? längst auf den Prüfstand. Das wissen wir nicht erst seit (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) den jüngsten PISA-Studien. Wir Liberale haben immer gesagt: Die Länder müssen ihre Verantwortung über Än- Ich dachte, Sie wollten stehend klatschen. derungen in den entsprechenden Schulgesetzen wahr- (Heiterkeit) nehmen; sie müssen die Schulgesetze modernisieren. Es muss dabei um eine Konzentration auf traditionelle Kul- Herr Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage von turtechniken – Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaf- Herrn Tauss? – Das ist der Fall. ten – gehen. Auch die Vermittlung von sozialen Kompe- Herr Tauss, Sie haben das W ort zu einer Zwischen- tenzen ist ganz wichtig. frage. Ich will in diesem Zusammenhang noch ein W ort an die Kollegen von der Union richten. Wir haben in die- Jörg Tauss (SPD): sem Haus über bundeseinheitliche Qualitätsstandards für Frau Präsidentin, Standing Ovations kommen in die- Schulen diskutiert. Wir wissen dank der internationalen sem Hause gelegentlich vor. Auch der Kollege Brase hat Bildungsstudien, dass wir bundeseinheitliche Qualitäts- sie verdient. standards dringend brauchen. Ich möchte Sie davor war- nen, den Kurs der unionsgeführten Länder , der einen Herr Kollege Brase, Sie haben gerade auf das JUMP- (B) Ausstieg aus der Bund-Länder -Vereinbarung über Bil- Programm hingewiesen. Ich möchte Sie gerne fragen (D) dungsplanung vorsieht, zu unterstützen. W enn wir die- – ich teile Ihre Einschätzung dieses Programms –, wie sem Kurs folgen, fallen wir international wieder zurück. Sie den Widerspruch beurteilen, der dadurch zum Aus- druck kommt, dass die Union in ihrem Antrag die Ab- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und schaffung des JUMP-Programms verlangt, gleichzeitig des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aber gestern im Gespräch mit dem V izepräsidenten der Wir brauchen die Bund-Länder -Vereinbarung über Bil- Bundesanstalt für Arbeit kritisiert hat, dass das JUMP- dungsplanung. Jedenfalls wir Liberale werden dafür ein- Programm nicht hinreichend ausgefüllt werde. Wie beur- treten. teilen Sie diesen W iderspruch im Zusammenhang mit dem hier Ausgeführten? Vielen Dank. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Eine Willi Brase (SPD): einzige richtige Aussage, Frau Pieper, und die Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, zu klären, wel- war zitiert!) che Widersprüche die Union mit sich und in sich trägt. Es fällt natürlich auf, dass Unionspolitiker fordern, JUMP abzuschaffen, in ihren W ahlkreisen aber gleich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zeitig feststellen müssen, dass man aufgrund einer man- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase. gelnden Ausbildungsbereitschaft bestimmter Betriebe und Branchen doch zusätzliches öf fentliches Geld Willi Brase (SPD): braucht, damit man einen Erfolg verkaufen kann. W er eine solche Politik formuliert, der macht es sich, wie ich Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- finde, ein bisschen einfach. legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle Ausbildungssituation (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Katastrophal!) Ich will in dieser Diskussion darauf eingehen, wo die und das, was die Bundesregierung tun kann, hat Frau Unterschiede liegen und wo ein Systemwechsel in der Ministerin Bulmahn eindeutig dar gestellt. Es wird Sie beruflichen Bildung vorbereitet werden soll. Frau Pieper, nicht verwundern, dass wir ihre Aktivitäten bezüglich Sie haben gesagt, Reformbedarf sei gegeben. Dem kann der Ausbildungsoffensive sicherlich unterstützen wer- ich durchaus zustimmen. Ich möchte aber darauf verwei- den. sen, dass dieser Reformbedarf nicht erst seit den letzten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3041

Willi Brase (A) fünf Jahren, sondern schon seit zehn oder 15 Jahren be- 16 Abschlüssen auf der zweiten Stufe nach drei Jahren (C) steht. Die Einheit wäre eine gute Chance gewesen, auf haben. Ich nenne Ihnen als ein Beispiel den Ausbaufach- diesem Gebiet einige V erbesserungen auf den W eg zu arbeiter mit den Ausbildungsstufen Trockenbaumonteur, bringen. Wärme-, Kälte- und Schallschutzisolierer , Estrichleger, Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Stuckateur, Zimmer- (Beifall bei der SPD) mann/Zimmerin, Textilmaschinenführer usw. Nur bin Ich möchte nun etwas deutlicher auf die Kernaussa- ich der Auffassung – ob sie auch von anderen Verbänden gen Ihres Antrages eingehen. Die erste Aussage lautet: getragen wird, interessiert mich an dieser Stelle nicht –, dass wir für die jungen Leute heute eine vernünftige und Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederung qualifizierende Berufsausbildung brauchen, die auch das der Ausbildung in flexible Grund- und Qualifizie- Berufskonzept beinhaltet. Sie selber schreiben in Ihrem rungsbausteine. Antrag, dass für lernschwächere Jugendliche die Mög- (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) lichkeit gegeben sein müsse, über eine dreieinhalbjäh- rige Ausbildungsphase das zu erreichen, was andere Dabei sollen – ich zitiere erneut – „die Ausbildungsord- vielleicht in drei Jahren schaffen. Diesen W iderspruch nungen auf Grundanforderungen“ beschränkt werden. müssen Sie also schon aufklären. Ihre zweite Aussage macht dies noch deutlicher: Mit (Beifall bei der SPD) dieser Neugliederung der Ausbildung werden den Unter- nehmen „Möglichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildun- Ich sage ganz deutlich, dass ich glaube – das ist mir gen ... zu entwickeln“. Diese Aussage, aber auch die bei Ihrem Antrag klar geworden –, dass die FDP die Be- Diktion des Antrages im Übrigen zeigen, dass die Ge- teiligung von Gewerkschaften ein Stück weit beseitigen werkschaften als Partner bei der Neuor ganisation außen will. Sie will das alleinige Unternehmerrecht. Dabei fällt vor bleiben. mir natürlich das ein, was Ihr Parteivorsitzender und an- dere seit Wochen und Monaten behaupten: Die Gewerk- Die Fraktion der FDP will uns hier zwei Forderungen schaften seien eine Plage für unserer Land. Der Kurs, der präsentieren: Erstens soll das auf dem Berufskonzept ba- auch in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, belegt, sierende duale System zerlegt und durch ein System von dass nicht die Gewerkschaften, sondern Sie die T oten- Grund- und Qualifizierungsbausteinen ersetzt werden. gräber unseres Systems der beruflichen Bildung sind. Zweitens soll diese Zerlegung und Ersetzung allein von den Unternehmen auf den W eg gebracht werden. Dafür (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steht die Formulierung, die Neugliederung solle „in DIE GRÜNEN) möglichst großer Eigenverantwortung der Unternehmen Sie haben Qualifizierungsbausteine und -module und (B) und der Sozialpartner“ stattfinden. (D) im Zusammenhang damit den Streitpunkt der V erkür- zung der Ausbildungsdauer angesprochen. Darauf bin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ich eben eingegangen. Ohne Zweifel brauchen wir die Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Flexibilisierung der Ausbildungswege und die Er gän- Kollegin Pieper? zung der Ausbildungsordnung durch mehr Bausteine ge- rade für lernschwache und arbeitsmarktferne Jugend- Willi Brase (SPD): liche. Selbstverständlich. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie lange regieren Sie?) Cornelia Pieper (FDP): Ich glaube aber, dass die Opposition dies nicht richtig Herr Kollege, Sie erinnern sich sicherlich, dass ich wertet. Die Bundesregierung tut auf diesem Feld ihre hier Herrn Professor Pütz, den Generalsekretär des Bun- Pflicht. Sie will die Möglichkeiten gestufter Ausbildung desinstituts für Berufsbildung, zitiert und mich auf eine ausbauen, wie sie heute schon nach § 26 BBiG existie- Anhörung bezogen habe, die mit dem Zentralverband ren; Beispiele dazu habe ich eben dargelegt. des Handwerks und anderen Wirtschaftsverbänden statt- Allerdings hat dies aus unserer Sicht innerhalb des gefunden hat. Wenn also all diese Sachverständigen eine Systems des Berufskonzeptes stattzufinden. Diese Ab- Grundausbildung und Qualifizierungsbausteine – Sie stufungen und Qualifizierungsbausteine müssen genau selbst haben in Ihrem Antrag formuliert, dass Sie eine zu dem Ziel führen, dass am Ende die Beruflichkeit und Reform in diese Richtung anstreben – für richtig halten, das Berufskonzept stehen, damit gerade jüngere Leute warum stellen Sie es dann infrage? Dies ist keine reine mit Schwächen ebenfalls eine Chance haben, ihre Be- FDP-Position, sondern eine Position von Bildungs- und schäftigungsfähigkeit langfristig auch durch lebensbe- Wirtschaftsexperten, die international vertreten wird und gleitendes Lernen zu behalten bzw. immer wieder zu er- die jungen Menschen mehr Chancen auf dem Ausbil- langen. dungsmarkt geben wird. (Beifall bei der SPD) Willi Brase (SPD): Meine Damen und Herren, die CDU/CSU singt in ih- Frau Pieper, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass rem Antrag unter anderem das Lied der Erprobungsver- wir mittlerweile 28 Ausbildungsberufe mit zwölf Ab- ordnungen nach § 28 BBiG; sie zielt auf die Möglichkeit, schlüssen auf der ersten Stufe nach zwei Jahren und Ausbildungsordnungen ohne Konsens der Sozialpartner 3042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Willi Brase (A) zu erlassen. Dies sollten wir nur in Ausnahmefällen zu- werden kann und wie wir es schaffen, den Menschen zu- (C) lassen; denn wir sind der Auffassung, dass dadurch die sätzliche Formen und Möglichkeiten anzubieten. Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt nicht rele- vant verändert wird. Möglicherweise haben Sie aber et- Meine Damen und Herren, die aktuelle Ausbildungs- was anderes im Hinterkopf und wollen auch hier ein krise ist nach unserer Auf fassung im Wesentlichen kon- Stück weit einen Systemwechsel auf den W eg bringen. junkturbedingt. Sie kann mitnichten der Bundesregie- Ich bleibe dabei: Ein Sammelsurium von Bausteinen und rung angelastet werden, wie es die Opposition gern tut. Modulen können wir nicht gebrauchen; vielmehr sollten Diese Krise sollte ein Anlass dafür sein, eine Of fensive und müssen wir dies gemeinsam mit den Sozialpartnern in der beruflichen Bildung zu führen. W ir haben den – dazu gehören natürlich die Gewerkschaften – vernünf- Eindruck, dass seit längerer Zeit, seit Mitte der 90er - tig auf den W eg bringen. Dies ist notwendig und wird Jahre, das duale System of fensichtlich an Attraktivität auch geschehen. eingebüßt hat. Ein wesentliches Ziel bei der Debatte sollte sein – das werden wir auf den Weg zu bringen ha- Ich glaube, dass die Diskussion über die Finanzie- ben –, die Attraktivität des dualen Systems für die jun- rungsfrage in den nächsten W ochen und Monaten span- gen Leute zu verbessern. Wir brauchen eine Renaissance nend werden wird. Wenn wir uns die vorläufigen Berech- des Facharbeiters, der im dualen Ausbildungssystem nungen des BIBB und des Bundesministeriums für fachlich ausgebildeten Jugendlichen. Es muss klar sein, Bildung und Forschung zu Gemüte führen, dann stellen dass das duale Ausbildungssystem mit seiner Dif feren- wir fest, dass die Unternehmen, die derzeitig ausbilden, ziertheit, mit dem Berufskonzept, mit der Übertragbar- dafür netto circa 14 Milliarden Euro aufwenden. Die öf- keit, auch hinsichtlich der europäischen Komponente, fentliche Hand – Bund, Länder, Kommunen und die euro- eine echte Alternative zum Studium und zu einer rein päische Ebene – ergänzt dies mit fast 6 Milliarden Euro. schulischen Laufbahn für junge Leute ist. W enn uns ge- Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass dieses V er- lingt, das umzusetzen, dann – da bin ich mir sicher – hältnis sehr ungesund ist und dass Unternehmen – vor werden wir auch wieder me hr Ausbildungsplätze erhal- allem die, die ausbildungsfähig sind – endlich einen wei- ten. teren zusätzlichen Beitrag zur Schaf fung vonAusbil- dungsplätzen leisten müssen. (Abg. Cornelia Pieper [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Man muss darüber nachdenken, ob es hierbei nicht DIE GRÜNEN) Sinn macht, auch eine Bonus-Malus-Regelung auf den (B) Weg zu bringen. Dies bedeutete, dass diejenigen Unter- (D) nehmen, die Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: unterstützt würden und sozusagen einen Bonus hätten, Frau Pieper, es tut mir Leid. Es hat schon heftig ge- während diejenigen, die dies ebenfalls könnten und es blinkt. Möchten Sie eine Kurzintervention machen? – aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ma- Nein. chen, ein Stück weit die finanziellen Lasten mit zu tra- gen hätten. Dann hat der Kollege Hinsken das Wort. ( [CDU/CSU]: „Aus welchen Grün- Ernst Hinsken (CDU/CSU): den auch immer“ gilt nicht!) Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol- Wir können dies nicht einseitig nur der öf fentlichenlegen! Herr Kollege Brase, ich pflichte Ihnen bei, wenn Hand, der Politik, den verschiedenen Ebenen aufbürden. Sie sich eindeutig für das duale Berufsausbildungssys- Das werden wir zukünftig nicht mehr mitmachen. tem aussprechen. Da gibt es Gemeinsamkeiten. An dem (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ System sollte man festhalten. Verehrte Frau Ministerin CSU]: Neue Lasten oben drauf!) Bulmahn, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass gerade die Ausbildung eine der wichtigsten gesellschaftlichen He- – Ich wäre etwas vorsichtig, von neuen Lasten zu spre- rausforderungen für uns ist. Auch darüber besteht Kon- chen. Denn ich sehe, wie dies teilweise hervorragend in sens. Diese Debatte heute ist aber angesetzt worden, um der Bauindustrie und anderen Bereichen läuft. Es gibt einmal genau zu durchleuchten, wo Fehler gemacht wor- also Beispiele, über die man nachdenken muss. den sind, wo angesetzt werden muss, um wieder mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und vielen Jugendlichen Lassen Sie mich noch ein, zwei Punkte ansprechen. In wieder Perspektiven zu geben, woran es momentan ja der Reform der beruflichen Bildung ist wichtig, sich dar- mangelt. über zu verständigen, dass die Verantwortung und die Möglichkeiten in den Regionen stärker beachtet werden. Zu diesem Zeitpunkt gibt Herr Gerster im Rahmen ei- Ich plädiere nachdrücklich dafür, dass wir die Rolle, die ner Pressekonferenz die neuen Arbeitsmarktzahlen be- Funktion und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs- kannt. Wenn wir leider feststellen müssen, dass auch zu möglichkeiten der örtlichen Berufsbildungsausschüsse Beginn des Frühjahrs die Arbeitslosigkeit fast nicht zu- erhöhen, dass wir da, wo es notwendig ist, regionale rückgeht, wenn die Zahl der Arbeitslosen insgesamt bei Partner mit ins Boot nehmen. Denn ich glaube, dass sie über 4,6 Millionen liegt, wenn 580 000 jugendliche Ar- am besten wissen, wie berufliche Bildung umgesetzt beitslose unter 25 Jahren verzeichnet werden müssen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3043

Ernst Hinsken (A) dann stimmt das mehr als nachdenklich; es ist katastro- Mittelstand und Handwerk, herunter gewirtschaftet wor- (C) phal. Es ist alles zu tun, damit das möglichst schnell ge- den sind. ändert wird. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Muss man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich einmal vorstellen! – Nicolette Kressl Es sind 580 000 Einzelschicksale junger Men- [SPD]: Der Zusammenhang ist unzulässig!) schen. Das sind, verehrte Frau Ministerin Bulmahn, Heute, verehrte Ministerin Bulmahn, schlagen Sie 212 000 mehr, als es 1998 – da haben Sie die Regie- nun vor, die Geltung der Ausbilder-Eignungsverord- rungsgeschäfte übernommen – waren. nung für fünf Jahre auszusetzen. Auf einen besonderen (Edelgard Bulmahn, Bundesministerin: Das Nachweis der Eignung zum Ausbilder sollte Ihrer Mei- stimmt nun wiederum nicht!) nung nach also verzicht et werden. Dadurch sollen 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen wer- Das Ausbildungsstellenangebot sinkt radikal, insbe- den. Es ist natürlich zu begrüßen, wenn dadurch zusätz- sondere in den neuen Bundesländern. liche Ausbildungsplätze, und zwar auf dem ersten Ar- (Jörg Tauss [SPD]: Das stimmt nicht!) beitsmarkt, entstehen. Dass sich damit allerdings die angespannte Lehrstellensituation verbessern lässt, ist un- Im Jahr 2002 gab es 6,8 Prozent weniger Ausbildungs- wahrscheinlich, denn Lehrstellen fehlen deshalb, weil verträge. Viele Jugendliche verlieren den Glauben an die Unternehmen aufgrund der katastrophalen W irt- den Staat, weil so viel versprochen wurde und zu guter schaftspolitik von Rot-Grün nicht mehr in dem Maße Letzt nichts gehalten wurde. wie früher ausbilden. Der Rückgang bei der Zahl der Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich, Lehrstellen liegt deshalb nicht in erster Linie an der Aus- von welcher Seite des Hauses, erleben sicherlich das bilder-Eignungsverordnung, sondern an den katastropha- Gleiche wie ich, nämlich dass sich in den Sprechstun- len Wirtschaftsbedingungen, die wir haben. den, die wir immer wieder durchführen, Eltern einfin- (Beifall bei der CDU/CSU) den, die den Jungen oder das Mädchen dabeihaben und händeringend darum ersuchen, man möge doch mithel- Gerade im Handwerk bringt eine solche Änderung auf fen, dass das Kind endlich einen Ausbildungsplatz be- dem Lehrstellensektor keine Erleichterung, denn in allen kommt, den es dringend braucht, um für das Leben ge- derzeit nicht ausbildenden Betrieben wird durch die rüstet zu sein. Ihnen zu helfen ist nur zum Teil möglich, Meisterprüfung bereits das Erfordernis der berufs- und weil nur noch 30 Prozent der Betriebe ausbilden. W a- arbeitspädagogischen Prüfung erfüllt und auch alle Exis- rum? – Weil die Lage für sie so schlecht geworden ist, tenzgründer im Handwerk, bei denen ein Betrieb von ei- (B) (D) (Ulla Burchardt [SPD]: Da ist doch Unfug!) nem Meister bzw. von einer fachlich geeigneten Person geleitet wird, bringen diese V oraussetzung mit. Das weil viele Betriebe aufgrund verfehlter W irtschaftspoli- Handwerk ist somit zunächst einmal dringend darauf an- tik inzwischen Bankrott gegangen sind. Daraus resul- gewiesen, dass es beispielsweise durch Reformen bei tiert, dass 48 Prozent der Jugendlichen keinen Ausbil- den Sozialsystemen entlastet wird. Das ist das Gebot der dungsplatz mehr finden. Stunde. 110 000 betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. Über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 50 Prozent der Jugendlichen befinden sich nicht in regu- lären Ausbildungsverhältnissen, sondern in staatlich fi- Andere Bereiche der W irtschaft warten nun ab, wie nanzierten Ersatzmaßnahmen bzw. in der Warteschleife. sich die von Ihnen angekündigten Maßnahmen konkret Heute ist von den verschiedensten Rednern von Ihrer auswirken. Gerade der Mittelstand hat schlechte Erfah- Seite, aber auch von Frau Ministerin herausgestellt wor- rungen mit der Ankündigungspolitik der Regierung den, dass das JUMP-Programm ein Allheilmittel für Schröder gemacht, die von Ihnen, meine Damen und die Jugendarbeitslosigkeit war und ist. So wurde es ein- Herren, gestützt wird. Mor gens ankündigen, mittags re- mal angepriesen. In der Zwischenzeit hat es Milliarden lativieren und am Abend zurückziehen. Ich bin neugie- von D-Mark, Jahr für Jahr 1 Milliarde DM, gekostet.rig, wie das bei dem, was Sie jetzt wieder angekündigt Jetzt stellen wir fest, dass das JUMP-Programm nicht haben, läuft. Deshalb fordere ich Sie, verehrte Frau Mi- das bewirkt hat, was man erwartet hat, und dass die Ju- nisterin, auf, diesen Vorschlag umgehend zu konkretisie- gendarbeitslosigkeit damals, bevor das JUMP-Pro- ren, damit sich die Betriebe und die einen Ausbildungs- gramm aufgelegt worden ist, niedriger war, als sie jetzt platz suchenden jungen Menschen darauf einstellen ist. können. Gerade für Jugendliche mit Hauptschulabschluss, die Der wichtigste Ausbilder in der Bundesrepublik auch eine Zukunftsperspektive wollen, haben sich die Deutschland – das steht ja unbestritten fest; das wurde Chancen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich ver- öfter schon zum Ausdruck gebracht – ist und bleibt der schlechtert. Die Bundesregierung liefert immer neue Mittelstand. Den aber hat man nicht gepflegt, sondern Kreationen und auch in der Namensgebung für Gesetze systematisch vor die W and gefahren. Insolvenzen über sind Sie sehr erfinderisch. So haben Sie ein Programm Insolvenzen. „Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Doch daran, dass Ausbil- dungsplätze durch Kredite finanziert werden müssen, er- (Willi Brase [SPD]: Quatsch! Zahlen lesen! kennt man, dass die deutschen Ausbildungslokomotiven, Unglaublich!) 3044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Ernst Hinsken (A) Ein Pleite gegangener Betrieb kann nämlich keine Aus- Übernahmegarantie für ein Jahr nach der Ausbildung (C) bildungsplätze mehr zur Verfügung stellen. Bedingung ist, als Hemmnis bei der Einstellung von Auszubildenden erweisen. Die Tarifparteien sind aufge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fordert, diese Hemmnisregelungen zu ändern. Alleine in der Baubranche sind nämlich in den beiden Zweitens. letzten Jahren über 18 000 Betriebe von der Bildfläche verschwunden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich meine, die wichtigste Maßnahme zur Schaf fung Herr Kollege Hinsken, wie viele Punkte haben Sie neuer Ausbildungsplätze wäre die Herbeiführung eines noch? Die Zeit ist schon um. Wirtschaftsaufschwungs. Denn ohne W irtschaftsauf- schwung gibt es keinen Aufschwung auf dem Lehrstel- lenmarkt, den wir so dringend brauchen. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Nur noch neun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Darum müssen sich unsere V orstellungen durchsetzen. Wir müssen möglichst bald das, was S ie hier aufgelegt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: haben, korrigieren. Das ist unmöglich. Sie haben nur noch einen letzten Satz, bitte. (Jörg Tauss [SPD]: Welche Vorstellungen? Die von Stoiber, die von Merkel oder die von Merz?) Ernst Hinsken (CDU/CSU): – Herr Tauss, passen Sie einmal auf! Ich gehe ja davon Dann geht es uns darum, das erfolglose JUMP-Pro- aus, dass Sie bei dem Antrag, den SPD und Grüne einge- gramm zugunsten einer Senkung des Beitrags zur Ar- bracht haben, haben mitarbeiten dürfen. Da heißt es beitslosenversicherung zu streichen und eine konse- nämlich: quente Modernisierung der Ausbildungsordnungen im In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Aus- Hinblick auf Differenzierung und Flexibilisierung sowie bildungschancen junger Menschen deutlich zu ver- hinsichtlich der Ausbildungsdauer und der Praxisorien- bessern. tierung aufzulegen. (Willi Brase [SPD]: Richtig! – Zuruf von der Meine Damen und Herren, ich meine, wenn richtig CDU/CSU: Der blanke Hohn!) angesetzt wird, dann werden wieder Ausbildungsplätze (B) geschaffen. Richtig angesetzt wird dann, wenn eine ver- (D) Das Bild, das da gezeichnet wird, ist realitätsfern und nünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dazu waren entspricht nicht der W ahrheit. Sie leben doch in einer Sie bisher nicht in der Lage. Sie haben uns so weit ge- völlig anderen Welt und haben den Bezug zur Realität, bracht, dass wir heute leider in einem solchen Dilemma also zu dem, was draußen los ist, verloren. stecken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie uns – das sage ich vor allen Dingen an die Der Bundeskanzler hat seinerzeit gesagt: Jeder Jugend- rechte Seite des Hauses gewandt – über den Bundesrat liche, der einen Ausbildungsplatz braucht, wird einen und da, wo es sonst möglich ist, alles daransetzen, dass in Ausbildungsplatz bekommen. – Diese Blase ist geplatzt. der Bundesrepublik Deutschland die Ausbildungsplatzsi- Die Regierung, die den Karren in den Dreck gefahren hat, tuation der jungen Leute in Zukunft wieder besser wird, kommt mit den führenden Leuten der SPD-Fraktion daher als es in den letzten viereinhalb Jahren der Fall war. und droht den Unternehmen, sie hätten in Zukunft eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausbildungsplatzabgabe zu bezahlen, wenn sie nicht be- reit seien, auszubilden. So etwas Unverfrorenes ist mir zeit meines Lebens noch nicht untergekommen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert. (Lachen bei der SPD)

Ich weiß, jeder Betrieb ist bereit, auszubilden, aber er Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss diese Ausbildung auch leisten können. Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) legen! In einer Sache sind wir uns einig, sogar mit Herrn Hinsken, Frau Reiche und Frau Pieper: Es ist klar , dass Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deshalb ein Sinken der Zahl der Ausbildungsplätze und die ge- kurz zusammenfassen, was meiner Meinung nach getan ringe Zahl von Betrieben, die ausbilden, nämlich nur werden muss; denn die Modernisierung des Systems der 30 Prozent, von uns nicht zu akzeptieren sind. beruflichen Ausbildung ist die Kernfrage für die Zukunft der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Um dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) System werden wir weltweit beneidet. V iele Länder ko- Aber ich glaube, da hört es mit der Einigkeit auch schon pieren es und das soll weiterhin so bleiben. auf, wie ich feststelle, wenn ich mir das zu Gemüte führe, Deshalb fordern wir erstens die Umgestaltung derje- was Frau Reiche hier vorgetra gen hat. Frau Reiche hat ge- nigen tarifrechtlichen Regelungen, die sich, weil die sagt, man solle weder in dieser Situation noch grundsätz- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3045

Dr. Thea Dückert (A) lich Lösungen finden, die auf dem Rücken der Jugendli- Arbeitsmarktpolitik weiter brauchen, wird ihnen jetzt der (C) chen ausgetragen werden. Richtig, Frau Reiche! Aber im Boden entzogen. Ich glaube, dass wir in der jetzigen Si- gleichen Atemzug – das vers tehe ich überhaupt nicht – tuation, in der wir durch ein ungeheures Reformwerk an sprechen Sie sich hier zum wiederholten Mal gegen das vielen Stellen gleichzeitig Baustellen haben, darauf ach- Jugendsofortprogramm, das JUMP-Programm, aus. Sie ten müssen, dass nicht auf der einen Seite alte Strukturen wollen das JUMP-Programm streichen, um die Lohnne- schon abgebaut werden, bevor die Bundesregierung auf benkosten zu senken. Ich füge in Klammern hinzu: Aber der anderen Seite neue Strukturen aufgebaut hat. die Ökosteuer, durch die die Lohnnebenkosten gesenkt werden, wollen Sie abschaffen. Wir müssen viele Wege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen finden, um und bei der SPD) aus der momentanen S ituation herauszukommen. Aber Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen da- wenn Sie gerade jetzt den Jugendlichen, die aufgrund der für schaffen, dass sich der Anteil der Betriebe, die aus- geringen Zahl von Angeboten keinen Ausbildungsplatz bilden, von mickerigen 30 Prozent, die im Moment er- finden, auch noch das JUMP-Programm streichen wollen, reicht werden, erhöht. Die Ministerin hat die ehr geizige ist das auf Kosten der Jugendlichen gedacht. Zielmarke von 40 Prozent genannt. Dafür muss viel ge- tan werden. Wir müssen die Zahl der Ausnahmegeneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN migungen für Ausbildungsbetriebe mindestens verdop- und bei der SPD) peln. Ich halte es zum Beispiel auch für völlig Mit dem JUMP-Programm sind über 500 000 Jugend- anachronistisch, weiterhin am Meisterbrief als V oraus- liche erfasst und 60 000 betriebliche sowie 37 000 au- setzung für Ausbildung festzuhalten. Das alles sind Hür- ßerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden. den, die Sie weiter pflegen wollen, die aber abgebaut Ich sage ausdrücklich: Die betrieblichen Ausbildungs- werden müssen, um in weiteren Betrieben Ausbildungs- plätze sind für die Jugendlichen natürlich das W ich- möglichkeiten zu schaffen. tigste. Aber mit dem JUMP-Programm sind durch eine aufsuchende Sozialarbeit auch Jugendliche erreicht wor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, die arbeitsmarktfern waren und die schon keinen sowie bei Abgeordneten der SPD) Ausbildungsplatz mehr gesucht haben, weil sie die Hoff- Wir müssen auch das Angebot der modularen Aus- nung aufgegeben hatten. Der Weg, den dieses Programm bildung ausweiten. Das ist für beide Seiten wichtig, so- geht, ist beschwerlich; deswegen sind die Erfolge, die wohl für die Betriebe als auch für die Jugendlichen. In damit erreicht worden sind, umso wichtiger. der Biografie eines jungen Menschen ist es sehr proble- matisch, wenn er es nicht schafft, eine begonnene Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bildung zu Ende zu führen. Wenn er eine Ausbildung (B) sowie bei Abgeordneten der SPD) (D) zum Beispiel wegen der zu hohen Anforderungen im Wir müssen in dieser Situation alles daransetzen, da- theoretischen Teil nach einem Jahr abbricht, steht er mit mit die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel, die für das leeren Händen da. JUMP-Programm angesetzt sind, auch wirklich einsetzt. Die Gelder müssen voll ausgeschöpft werden, und zwar Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zügig, damit an die Träger der Projekte in der Jugendar- beit das Signal ausgesendet wird, dass sie weiterhin tätig Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Kollegin! bleiben müssen, weil wir sie brauchen werden. Auch wenn die vielen Maßnahmen, die die Ministerin hier Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorgeschlagen hat, greifen, werden wir angesichts der Ja, Frau Präsidentin, ich ende auch mit einem theoreti- wirtschaftlichen Situation, die durch den Irakkrieg noch schen Teil. Ich will an dieser Stelle nur noch sagen, dass verschärft wird, weiterhin die Angebote brauchen, wel- diese Jugendlichen mit der modularen Ausbildung in ei- che über die Träger als Projekte für Jugendliche in Aus- nem solchen Fall etwas in die Hand bekommen sollten, bildungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Deswegen ist woran sie an einem späteren Punkt ihrer Lebensplanung für uns natürlich die derzeitige Situation nicht zu akzep- anknüpfen können, sodass auch eine nicht abgeschlos- tieren, wo zum Beispiel Modellprojekte für Jugendliche, sene Ausbildung eine weitere Einstiegsmöglichkeit in die die gut angenommen worden sind, abgebrochen werden. berufliche Bildung bietet. An dieser Stelle müssen wir Abhilfe schaffen. Schönen Dank. Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im Mo- ment sowohl Kommunen, die Projekte für Jugendliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angeboten haben, als auch Länder aus der Kofinanzie- und bei der SPD) rung zurückziehen. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: W eil sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kein Geld haben, Frau Kollegin! – Gegenruf Eine Kurzintervention des Kollegen Tauss. des Abg. Willi Brase [SPD]: Die kriegen doch gerade Geld!) Jörg Tauss (SPD): Baden-Württemberg zum Beispiel hat diese Projekte Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege vollständig gestrichen. Obwohl alle wissen, dass wir Hinsken, Sie haben im Hinblick auf unseren Antragstext diese Projektangebote auch nach den Reformen in der behauptet, die Zahlen bezüglich der Ausbildungsjahre 3046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Jörg Tauss (A) 2000 und 2001 seien falsch. Ich will aus diesem Grunde Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) noch einmal ausdrücklich bekräftigen, dass es – im Ge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer. gensatz zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 – in den Jahren 2000 und 2001 unter unserer Regierungsverantwortung (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Endlich in Zusammenarbeit mit der W irtschaft tatsächlich er- einmal einer, der etwas davon versteht!) reicht werden konnte, in diesem Land eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur V erfügung zu stellen. (CDU/CSU): Insofern bitte ich Sie, diese Behauptung zurückzuziehen. Uwe Schummer Das zum Ersten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jugendlichen, die können und wollen, erhalten ei- Zum Zweiten bitte ich Sie einfach, zur Kenntnis zu nen Ausbildungsplatz. – Das war die Ausbildungsgaran- nehmen, dass allein aufgrund des JUMP-Programmes tie der Bundesregierung. mehr als 60 000 Ausbildungsplätze geschaf fen werden konnten. Obwohl JUMP kein Ausbildungsplatzpro- (Ulla Burchardt [SPD]: Der Arbeitgeber, Herr gramm ist, hat sich diese W irkung ergeben. Aus diesem Kollege!) Grunde habe ich einfach die Bitte, auch mit Rücksicht – Gerhard Schröder hat diese Aussage gemeinsam mit auf die betroffenen Jugendlichen, endlich davon abzuse- den Arbeitgebern und den Gewerkschaften getroffen. hen, das Programm JUMP in dieser Form zu diskreditie- ren und mit falschen Zahlen in der Öffentlichkeit falsche (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Ja- Eindrücke zu erwecken. wohl!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fakt ist – nach den aktuellen Zahlen der Bundesregie- DIE GRÜNEN) rung –, dass bis heute 30000 Schulabgänger aus dem laufenden Ausbildungsjahr noch nicht mit einem Ausbil- dungsplatz versorgt sind. Das Bundesinstitut für Berufs- Ernst Hinsken (CDU/CSU): bildung beziffert die latente Nachfrage nach Ausbil- Herr Kollege Tauss, ich habe aus Ihrem Antrag zitiert, dungsstellen auf etwa 70 000. Das heißt, Sie haben Ihre der am 1. April verfasst wurde. Seien Sie froh, dass ich Zusage einer Ausbildungsgarantie gebrochen. nicht noch mehr Stellen zitiert habe, sonst müssten Sie in (Willi Brase [SPD]: Die Arbeitgeber haben sie Sack und Asche gehen. Ich will aber noch eine Stelle gebrochen!) daraus vorlesen: Allein der Abwärtstrend bei der Zahl der Ausbildungs- (B) Erstmals seit vielen Jahren konnte in den Jahren plätze bleibt ungebrochen. Die Ausbildungslücke für das (D) 2000 und 2001 ein ausreichendes Angebot an Aus- neue Ausbildungsjahr wird von Monat zu Monat größer. bildungsplätzen zur V erfügung gestellt werden.So gab die Bundesanstalt für Arbeit die Ausbildungs- Diese positive Entwicklung wurde entscheidend ge- lücke für das im September beginnende Ausbildungsjahr fördert durch eine Reihe von Maßnahmen, die die im Januar noch mit 90 000 an. Im Februar wurde diese Bundesregierung in Kooperation mit den Sozial- Zahl bereits auf 120 000 und heute auf 150 000 ge- partnern in die Wege geleitet hat. schätzt. Das heißt: Die Dramatik bei der Ausbildungssi- Wie sieht das Er gebnis aus? Haben Sie mitbekom- tuation nimmt Monat für Monat zu. – Frau Ministerin men, was ich Ihnen dazu gesagt habe? Sie stellen zwar Bulmahn, wenn Sie da von spürbaren Erfolgen Ihrer Po- fest, dass das Jahr 2001 abgehakt ist, aber jetzt befinden litik reden, dann halten Sie auch Gerhard Schröder für wir uns im Jahr 2003. Jetzt erst haben wir das Er gebnis einen guten Kanzler. der Maßnahmen auf dem T isch, für die Sie verantwort- (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl lich zeichnen. Sie haben an den völlig falschen Stellen [SPD]: Beides ist wahr!) angesetzt. Sie haben eine völlig falsche Politik aufgelegt. Wir sollten einmal partei- und fraktionsüber greifend Wir nähern uns of fenkundig einer Ausbildungskata- über die Ursachen dieser schlechten Situation nachden- strophe; denn der Abbau der Ausbildungsplätze be- ken, in der wir uns momentan befinden. schleunigt sich. Im letzten Jahr waren es 7 Prozent weni- ger; in diesem Jahr werden es etwa 14 Prozent weniger Es gibt viele Ansätze zur Lösung. Ich bin gerne bereit, Ausbildungsplätze sein. Allein die Nachfrage nimmt Ihnen meine zehn Punkte, die ich zu einem Großteil we- weiter zu. 580 000 junge Arbeitslose im Alter bis gen der fehlenden Redezeit nicht mehr vortragen konnte, 25 Jahre: Das ist Schröders Ohrfeige für die jungen zur Verfügung zu stellen. Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftschancen. (Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) Sie können sie nachlesen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen. Sicherlich werden Sie etwas dazuler- Wir haben eine Erosion der dualen beruflichen Bil- nen. Wenn Sie sie befolgen, werden Sie in Zukunft auf dung. Es gibt mehr Schulabgänger in Ersatzmaßnahmen dem richtigen Weg sein. als in der betrieblichen Ausbildung. Das Verfassungsziel einer freien Berufswahl ist durch Ihre Politik in weite (Beifall bei der CDU/CSU) Ferne gerückt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3047

Uwe Schummer (A) (Willi Brase [SPD]: Es gibt noch ein anderes vom 28. März dieses Jahres wurden – dies teilt die Kre- (C) Verfassungsziel!) ditanstalt für Wiederaufbau mit – Qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer sind der (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr inter- wichtigste Standortfaktor Deutschlands im globalen essant, was sie hierzu sagt!) Wettbewerb. Die Ausbildungszahlen sind auch ein Spie- auf diesem W ege bundesweit insgesamt 648 Arbeits- gelbild der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes. plätze geschaffen. Dafür mussten 190 Millionen Euro Wer keine Zukunft mehr sieht und dessen Betrieb ums mobilisiert werden. Eine solche Nebelkerze gibt es kein Überleben kämpft, hat nicht die Möglichkeit, andere zweites Mal in Deutschland. Existenzen zu retten. Betriebe werden erst dann Auszu- bildende einstellen, wenn sie für die nächsten drei Jahre (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine gute Auftragslage und zufrieden stellende Gewinne Es geht nicht um Kredite, sondern um Aufträge für die erwarten. Wirtschaft, um die Zukunft und den richtigen Rahmen, (Beifall bei der CDU/CSU) den Sie politisch setzen müssen. Hinter 40 000 Insolvenzen verber gen sich über (Willi Brase [SPD]: Merkel und Bush! Da ge- 400 000 Arbeitsplätze und über 40 000 Ausbildungs- hen die Aufträge verloren!) plätze, die durch Ihre Finanzpolitik vernichtet wurden. Der Mittelstand stellt 80 Prozent der Ausbildungsplätze. Dies stimmt in der Tat: Der Schlüssel zur Lösung dieser Ausbildungsmisere liegt bei Eichel, also in der Steuer -, Als eine weitere große Maßnahme, mit der Sie den Finanz- und Wirtschaftspolitik. Mittelstand bzw. das Handwerk fördern wollen, kündigt Herr Clement an, Existenzgründer vier Jahre von Kam- (Hans-Werner Bertl [SPD]: W as reden Sie da merbeiträgen zu entlasten. Ich habe einmal bei der In- für ein Zeug? Das hilft den jungen Leuten! dustrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein Unglaublich! Unsinn! Unverantwortlich, was nachgefragt, was das bringen würde: 5 Euro pro Monat, Sie da reden!) also 60 Euro pro Jahr. Mit solchen Nebelkerzen schaffen Fragen Sie die Betriebe! Sie werden Ihnen sagen: Ohne Sie weder Ausbildungsplätze noch sichern Sie die Zu- eine vernünftige Analyse wird Ihre Therapie immer kunft für unsere Wirtschaft. falsch sein. Deshalb helfen solche Zahlen, dass Sie end- (Beifall bei der CDU/CSU) lich auf den richtigen Weg kommen. Solange Sie in der Steuerpolitik die Grenzen der Be- (Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist unverant- lastbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen testen, (B) wortlich!) zerstören Sie jede Ausbildungsmotivation. (D) Bei einer Befragung, warum Betriebe nicht ausbilden, (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist wirklich ein gab es zwei zentrale Ar gumente: erstens kein Perso- Blödsinn!) nalbedarf, da zu wenig Aufträge, und zweitens zu hohe Kosten der Ausbildung. Das heißt, erst wenn Sie bei den Sie lösen kein Problem. Sie sind vielmehr das Problem. Kosten ansetzen und die Zukunft der Betriebe sichern, (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Kretschmer wird es wieder Betriebe geben, die bereit sind, Ausbil- [CDU/CSU]: Das tut weh, stimmt aber!) dungsplätze bereitzustellen. Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor, dass die Re- (Ulla Burchardt [SPD]: Heißt das, die Jugend- duzierung der Lohnnebenkosten bzw . der Sozialversi- lichen sollen das Geld mitbringen, oder was ist cherungsbeiträge um 1 Prozent dazu führt, dass etwa Ihre Konsequenz daraus?) 80 000 bis 100 000 zusätzliche Arbeits- und Ausbil- Lassen Sie uns also gemeinsam an die Tarifparteien, dungsplätze geschaffen werden können. Das wäre der sowohl an die Politik als auch an die Gewerkschaften richtige Weg, um wieder Zukunft für junge Menschen und die Arbeitgeber , appellieren, in den nächsten drei und die Wirtschaft zu erreichen. Jahren die Ausbildungsver gütungen einzufrieren und Ihr JUMP-Programm, das Sie heute feiern, hat, wie mithilfe des Geldes, das die Unternehmen dabei sparen, Sie selber im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen! In der bestätigt haben, nur bei 30 Prozent der jungen Menschen Chemiebranche gibt es in diesem Zusammenhang sehr dazu geführt, dass diese anschließend eine reguläre Be- kreative und interessante T arif- undBetriebsvereinba- schäftigung gefunden haben. rungen, die wir nutzen könnten, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) (Jörg Tauss [SPD]: Vorsicht mit den Flächen- tarifverträgen!) Sie selbst haben den Trägern der Weiterbildung als Qua- litätsstandard mitgegeben, dass eine überbetriebliche wenn die Politik vernünftig in einem Bündnis für Arbeit Ausbildung nur dann Sinn macht, wenn für den Arbeit- voranmarschieren würde und es nicht gegen die W and nehmer, der ausgebildet wird, eine mindestens 70-pro- gesetzt hätte. zentige Chance besteht, dass er aus der Arbeitslosigkeit herauskommt. Was ist Ihr Konzept? Kapital für Ausbildung? Ich habe mir einmal die Zahlen darüber geben lassen, wie (Hans-Werner Bertl [SPD]: Sie haben über- Ihr Konzept „Kapital für Arbeit“ derzeit läuft. Mit Stand haupt nicht begriffen, um was es da geht! Das 3048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Uwe Schummer (A) ist unglaublich verantwortungslos, was Sie da (Nicolette Kressl [SPD]: Ist es jetzt gut oder (C) machen!) schlecht?) Wenn Sie Ihre im Hartz-Konzept formulierten Qualitäts- Die andere Möglichkeit wäre, dass man Ausbildungsbe- standards auf das JUMP-Programm übertragen würden, triebe gezielt entlastet, indem man die Sozialversiche- dann müssten Sie zu dem Er gebnis kommen, dass es rungsbeiträge der Ausbildungsbetriebe für die Auszubil- hoffnungslos gescheitert ist. denden anteilig übernimmt. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber die Ausgaben für JUMP in Höhe von 1 Milliarde Euro sind nichts im V ergleich zu dem, was Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unter- Sie derzeit für die Berufsvorbereitung zusammenstrei- stützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken. chen. Dorthin müssen Sie mehr Geld lenken. Dann geht (Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist eine es auch den Jugendlichen wieder besser. Dummheit, die Sie da provozieren!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Mit dem Niveau Ihrer Zurufe können Sie unter dem Herr Clement sagte am 30. Januar 2003, dass Teppich laufen, ohne Wellen zu schlagen. Ein wenig Ge- 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern und duld und Konzentration würden auch Ihnen gut tun. 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der überhaupt nicht ausbildungsberechtigt sind. Die Mehr- CDU/CSU) zahl der Ausbildungsbetriebe darf derzeit of fenkundig nicht ausbilden. Ich habe diesbezüglich eine Anfrage an Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: das Bildungsministerium gestellt, ob die Zahlen, die Herr Clement genannt hat, stimmen. Die Antwort von Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Herrn Staatssekretär Matschie lautete: Wir können diese Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Fakt ist also: Uwe Schummer (CDU/CSU): Zur Ausbildungsmisere kommt noch eine Informations- Ja. misere. Es gibt nicht einmal identische Daten beim Ar- beits- und Wirtschaftsministerium und dem Bildungsmi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nisterium. Dort müssen Sie anfangen, damit Ihre Therapie vernünftig ist. Bitte. Lassen Sie uns überlegen, ob wir verstärkt Stufenaus- Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bildungen – wie etwa bei der Ausbildung vom Verkäufer (B) NEN): zum Kaufmann – möglich machen sollten. Auch theorie- (D) geminderte zweijährige Berufausbildungen sind denk- Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bewusst bar; diese jedoch dürfen keine Sackgasse sein, man muss ist, dass gerade durch das JUMP-Programm Jugendliche auf ihnen weiter aufbauen können. Es sind hervorra- erreicht werden, die ansonsten überhaupt keine Chance gende Modelle entwickelt worden, die aber von den So- gehabt hätten, eine Stelle zu finden. zialpartnern noch blockiert werden. Die Handelskammer (Nicolette Kressl [SPD]: Davon weiß er Hamburg etwa schlägt 100 neue Ausbildungsberufe vor. nichts!) (Willi Brase [SPD]: Ein Jahr Türsteher auf Wenn Sie die Erfolge des JUMP-Programms berücksich- Sankt Pauli als neuer Ausbildungsberuf! Das tigen, können Sie dann vielleicht auch andere Konse- kann doch wohl nicht wahr sein!) quenzen daraus ziehen? Hierdurch würden neue Beschäftigungsmöglichkeiten und konkrete Ausbildungsanreize geschaf fen. Sie wer- Uwe Schummer (CDU/CSU): den derzeit aber blockiert. Wenn Sie da weiterkämen, Ich denke, auch Sie kennen Briefe von regionalen Ar- hätten junge Menschen mehr Chancen. beitsämtern, in denen darauf hingewiesen wird, dass der- (Beifall bei der CDU/CSU) zeit aufgrund von Irritationen sämtliche Maßnahmen zur Berufsvorbereitung gerade für diese Zielgruppe einge- Unser Antrag ist kein Gesetz, sondern ein Ge- spart werden. Die T räger, die Maßnahmen für solche sprächsangebot, nachdem Ihr Bündnis für Arbeit ge- Zielgruppen unterstützen, sind völlig irritiert, weil sie scheitert ist. Lassen Sie uns bei aller Kritik hier im Parla- nicht mehr wissen, ob sie entsprechende Kurse anbieten ment ein überparteiliches Bündnis für Ausbildung können. schaffen. (Nicolette Kressl [SPD]: Plötzlich ist es wieder (Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht auf der Basis!) gut! Ich denke, es ist schlecht! Entscheiden Sie Wir sind dazu bereit. Aber ändern Sie bitte Ihren Kurs! sich einmal!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von daher kann ich nur empfehlen, diese Mittel wie- der einzusetzen, indem man in V erbindung mit anderen Maßnahmen, also durch eine Absenkung der Sozialver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sicherungskosten, mehr Anreize zur Schaffung von Aus- Jetzt hat der Abgeordnete Hans-W erner Bertl das bildungsplätzen gibt. Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3049

(A) Hans-Werner Bertl (SPD): aus dem Blick und auch ein Stück aus dem Engagement (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der der Verantwortlichen geraten ist. Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung an die Vor 23 Jahren haben wir in diesem Land eine heftige Verabredung mit der W irtschaft – jeder Ausbildungs- Auseinandersetzung um die Frage der Zuständigkeit platzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen – bei der beruflichen Bildung geführt. Die Wirtschaft hat erinnert und gesagt hat, wenn dies nicht eingehalten das Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich will Ihnen werde, müsse es zu einer gesetzlichen Regelung kom- einen Teil des Urteils vortragen: Am 10. Dezember 1980 men, hat es die altbekannten Proteste gegeben. Der Bun- haben die Verfassungsrichter unter dem großen Beifall deskanzler hat noch etwas gesagt, was ich unterstreichen der Wirtschaft in Deutschland erklärt, dass die V erant- kann: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chan- wortung und die Zuständigkeit für die duale Ausbildung cen und zu diesem Recht müssen wir ihnen immer wie- bei der W irtschaft liegeund auch weiterhin liegen der verhelfen. werde. Ich will einen Satz aus dem Urteil zitieren: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgaben- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stellung den Arbeitgebern die praxisbezogene Be- rufsausbildung der Jugendlichen überlässt, so muss Es darf einfach nicht wahr sein, dass in einer der er erwarten, dass die gesellschaftliche Gruppe der reichsten Gesellschaften der Welt junge Menschen, die Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer ob- in diesem Jahr aus der Schule entlassen werden, als Ers- jektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, dass tes mitgeteilt bekommen: Wr i brauchen euch im Mo- grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendli- ment nicht, ihr seid zu viele, ihr seid – darin gipfelt das chen eine Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz Ganze – zu schlecht. Daneben steht die Forderung nach zu bekommen. solidarischer Einbeziehung in den Generationenvertrag, für den sie ihre Leistung erbringen sollen. Im Urteil folgt ein weiterer ganz entscheidender Satz. Er lautet: Die Verantwortung für das duale System liegt ein- deutig bei der Wirtschaft, beim Handwerk und bei allen Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte anderen, die an der Ausbildung im dualen System betei- zur Erfüllung der übernommenen Aufgaben nicht ligt sind. mehr ausreichen sollte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vor diesem Hintergrund können wir, wie ich glaube, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diskussion um die Auswirkungen der konjunkturellen Lage und mögliche Einschränkungen daraus beenden. (B) Diese Verantwortung kann und darf nicht von der (D) Konjunktur oder von den schlechten Schulnoten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schulabgänger abhängig gemacht werden. Mit DIE GRÜNEN) 1,7 Millionen Auszubildenden im dualen System in circa 620 000 Betrieben wird von denjenigen, die aus- Dieses Urteil gilt noch heute und führt die betriebliche bilden, eine beachtliche Leistung erbracht. Aber nicht an Ausbildung aus der Beliebigkeit heraus. sie geht unsere Forderung, sondern an die 1,28 Millionen Es geht mir – das habe ich bereits deutlich gesagt – Betriebe, die die Berechtigung zur Ausbildung haben, nicht so sehr um diejenigen, die ausbilden, sondern viel- aber derzeit nicht ausbilden, sowie an die 70 Prozent al- mehr um diejenigen, die ihrer Verantwortung nicht ge- ler Betriebe, die sich gar nicht beteiligen. Hier bringen recht werden. Es gibt etwa 650 000 Betriebe, die ausbil- wenige eine große Leistung für die Volkswirtschaft, die den können und dürfen, dies aber nicht tun. Insgesamt andere abschöpfen. 70 Prozent der Unternehmen in unserer W irtschaft be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dienen sich weitgehend aus der Ausbildungsleistung der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anderen. Es darf nicht nur um die Frage von so genann- ten Ausbildungshemmnissen gehen. Denn wenn die Zurzeit fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. Wir müs- Senkung der Belastungen und die Aussetzung der Aus- sen damit rechnen, dass im August 50 000bilder-Eignungsverordnung bis nicht mehr ausreichen, wie 70 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz be- wir das gerade erleben, dann wird die Frage nach der be- kommen. Dieser Fehlbestand kann nicht mit Hemmnis- rühmten zweiten T oilette gestellt, was letztlich das sen, Tarifen, Kündigungsschutz, Betriebsverfassungsge- Ganze ad absurdum führt. setz, Steuern, etwa Gewerbesteuern, oder mangelnden Schulleistungen begründet werden. Der Ausbildungsmarkt ist in einer Notsituation. Flexi- bilität, Kreativität und Verantwortung sind gefragt. Es ist (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Mit was kein Poker um Abschaf fung von Jugendarbeitsschutz- denn sonst?) rechten, Kündigungsschutz oder demokratische Mitbe- stimmung. Das, was jetzt stattfindet, ist für mich ein bil- Wenn dieser Ausbildungsplatzmangel eintritt, stellt liger Klassenkampf auf dem Rücken derjenigen, die in sich das duale System – eigentlich eines der beachtlichs- diesem Jahr aus der Schule entlassen werden. ten Erfolgsmodelle für berufliche Bildung – selbst in- frage. Auch die zunehmenden staatlichen Finanztrans- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fers in dieses System deuten an, dass das duale System des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 3050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Hans-Werner Bertl (A) Hier ist Kreativität gefragt. Diese Kreativität müssen Vielen Dank. (C) wir bis August dieses Jahres bei der Klärung der Frage an den Tag legen, wo und wie zusätzliche Ausbildungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen einzurichten sind. Die Antwort muss in den DIE GRÜNEN) nächsten Wochen erfolgen. Es ist zu spät, diese Antwort erst dann zu geben, wenn wir ausdiskutiert haben, wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes aussehen Danke schön. – Das W orthat jetzt die Abgeordnete soll. Gesine Lötzsch. Die Zeit der Appelle und des Bittens um Ausbildung läuft uns davon. Gefragt ist jetzt die V erantwortung der Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Unternehmen. Es bilden zum Beispiel nur 2 Prozent der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur glei- Unternehmen im Verbund aus. Alle, die sich in unserem chen Zeit, zu der wir über die Situation im Bereich der Land fragen, ob sie ausbilden können, ob die Belastung Berufsausbildung und über den Lehrstellenmangel dis- für sie alleine zu hoch ist – das ist von Ihnen immer an- kutieren, findet eine Pressekonferenz der Bundesanstalt gesprochen worden – oder ob sie das qualitative Spek- für Arbeit statt. trum für Ausbildung leisten können, haben die Möglich- keit, Ausbildung im V erbund anzuleiten. Gefragt sind Die Arbeitsmarktzahlen sind genauso dramatisch wie aber auch diejenigen, die Verbünde organisieren können, die Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Im Februar wur- in den Kammern, in den Kommunen und in vielen ande- den den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehr- ren Organisationen. Diese werden übrigens mit Mitteln stellen gegenüber dem V orjahresmonat gemeldet, näm- der Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. In Deutschland lich nur 368 000. Das sind 54 000 weniger als noch vor gibt es im Moment 350 Ausbildungsverbünde, die mit einem Jahr und 1 14 000 weniger, als benötigt werden. 11,6 Millionen Euro gefördert werden. Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zu Es gibt übrigens auch überbetriebliche und außer- schaffen. Diese Ausbildungsplätze sind dann jedoch betriebliche Einrichtungen für berufliche Bildung, die steuerfinanziert. Die gleichen Leute, die die Regierung durch Umlagefinanzierung von Kammern und staatliche auffordern, überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaf- Zuschüsse getragen werden. Wenn es richtig ist, dass die fen, fordern die Regierung auch auf, Steuern zu senken. beste Ausbildung im Betrieb stattfindet, dann sollten die- Ich denke, das ist zutiefst verlogen. jenigen, die dort Verantwortung tragen, sich jetzt dieser Verantwortung stellen, zumal Hilfen und Unterstützung (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) sowohl durch das Bundesministerium als auch durch die (B) Das Bundesverfassungsgericht verwies bereits im (D) Bundesanstalt gegeben sind. Jahre 1980 darauf, dass es eine – ich zitiere mit Geneh- Ich möchte einige Sätze an diejenigen richten, die von migung der Präsidentin – „V erantwortung der Arbeit- den Schulen kommen. Ich bitte Sie: Warten Sie nicht auf geber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen den Traumberuf. Träume erfüllen sich meist woanders. Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche Man wird auch nicht für einen Beruf geboren. Aber Be- Regelung an. Das war vor 23 Jahren. Wir als PDS for- ruf und erfolgreicher Abschluss ermöglichen ein selbst- dern eine gesetzliche Ausbildungsumlage. Wer nicht bestimmtes Leben. Dann lassen sich auch viele T räume ausbildet, soll zahlen. Die Einführung einer Ausbil- erfüllen. dungsumlage wurde von Rot-Grün übrigens bereits in der Koalitionsvereinbarung im Jahre 1998 festgeschrie- Abschließend möchte ich an die Unternehmen, die ben. wir nicht aus der V erantwortung für die berufliche Bil- dung entlassen können, sagen: Wenn wir 60 000 oder Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung 70 000 Schulabgänger im Herbst dieses Jahres alleine vom 14. März dieses Jahres nur noch vage von einer ge- lassen, indem wir ihnen keine berufliche Perspektive ge- setzlichen Regelung gesprochen, die man einführen ben, wird sich der Staat der Frage der Berufsausbildung würde, wenn die Unternehmen nicht selbst aktiv werden annehmen müssen. Dann soll aber auch keiner anschlie- würden. Das alles sagte er betont im Konjunktiv . Dieser ßend jammern, wenn wir einen großen Teilbereich des so Konjunktiv hat die Debattenbeiträge vonseiten der Re- hoch gelobten dualen Systems über Subvention und Er- gierungskoalition auch heute wieder geprägt. Der vorlie- satz letztendlich zu einer sozialpolitischen Veranstaltung gende Antrag der Regierungskoalition strotzt nur so von machen müssen. Das zeigt allerdings auch, dass mögli- Appellen an die Wirtschaft. Alle Ausführungen zu kon- cherweise das Ende dieses Systems aufgrund der man- kreten Maßnahmen bezüglich der Unternehmen bleiben gelnden Verantwortung der Arbeitgeber und der fehlen- vage. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie den Mitwirkung der Betriebe gekommen ist. mit der Ausbildungsumlage noch warten? Deswegen sind Anstrengungen nötig. Es dürfen nicht In der letzten W oche war ich in meinem W ahlkreis nur Schuldzuweisungen gemacht und dubiose Erklärun- Lichtenberg im Oberstufenzentrum für Versorgungstech- gen abgegeben werden, die keinem einzigen jungen nik und habe mich vor Ort informiert. Es fehlt, so wie Menschen in diesem Land helfen. Wir brauchen Ausbil- überall, an betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ein Groß- dungsstellen! Die Wirtschaft muss sich der V erantwor- teil der Ausbildungsplätze ist überbetrieblich. Ein Pro- tung stellen, die sie 1980 für sich angesichts des Urteils blem, das im Osten besonders häufig auftritt, finde ich des Bundesverfassungsgerichts gefordert hat. für junge Leute besonders deprimierend: Auszubildende Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3051

Dr. Gesine Lötzsch (A) verlieren ihren Ausbildungsplatz, wenn ihr Betrieb zum zum großen Teil keine Antwort oder eine Absage be- (C) Beispiel wegen der schlechten Zahlungsmoral und der kommen haben. niedrigen Kapitaldecke in Konkurs geht; denn Auf fang- strukturen existieren nicht. Ich denke, das ist für einen Viele ostdeutsche Jugendliche gehen deshalb für eine Jugendlichen eine Katastrophe: Er hat gute Leistungen Ausbildung schweren Herzens in die alten Bundesländer. gezeigt und verliert trotz guter Arbeit und Lernerfolge Aus diesem Grunde schlägt die Bundesanstalt für Arbeit seine Lehrstelle. Wie soll ein solcher Jugendlicher noch Alarm. Wir haben die Zahlen gehört: Im W esten der an die Leistungsgesellschaft glauben? Bundesrepublik sind im März bis zu 56 000 Lehrstellen weggebrochen. Das Ausbildungsjahr 2003/2004 droht Meine Damen und Herren, der parteilose Hanauer zum schwarzen Jahr der Berufsausbildung zu wer- Stadtverordnete Jochen Dohm wies in einem Brief an die den. Der DGB spricht von einem Ausbildungsplatzdefi- Abgeordneten auf die dramatische Lage auf dem Lehr- zit in nicht gekanntem Ausmaß. stellenmarkt in Hanau hin. Er machte besonders auf das Problem aufmerksam, dass Jugendliche ohne Schul- Angesichts der aktuellen Lage – das ist mehrfach ge- abschluss von der Hartz-Gesetzgebung besonders hart nannt worden, aber man kann es nicht oft genug wieder- getroffen werden. Das Arbeitsamt in Hanau hat allen holen – ist die Ausbildungsplatzgarantie, von der der Trägern, die berufsvorbere itende Kurse anbieten, die Bundeskanzler und die Bundesbildungsministerin immer Verträge gekündigt. sprechen, der blanke Hohn. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das bedeutet für Hanau den Wegfall von 466 Plätzen bei berufsvorbereitenden Maßnahmen. Gestern haben wir im Ausschuss für Bildung und For- schung einen Vortrag der Bundesanstalt gehört. Dabei ist Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungs- deutlich geworden – man hat es uns auf unsere Rück- werke, die uns Abgeordnete angeschrieben hat, verweist frage hin bestätigt –: Schon heute wird eine große An- in einem Brief auf die dramatischen Folgen der Arbeits- zahl von Jugendlichen in Scheinmaßnahmen geparkt, ein marktpolitik für Jugendliche mit Behinderungen. Die Jahr später stehen sie wieder ohne eine Ausbildung da Bundesarbeitsgemeinschaft schreibt: und müssen sich wieder bewerben. – Das ist Ihr V er- ständnis einer Ausbildungsplatzgarantie. Aus jungen Leuten ohne Ausbildung oder berufs- vorbereitenden Lehrgängen heute werden Arbeits- Die Bugwelle aus nicht vermittelten Bewerbern und lose von morgen, Sozialhilfeempfänger auf Dauer. neuen Ausbildungsplatzsuchenden wird immer größer . Ich denke, das kann nicht unser Ziel sein. In diesem Jahr droht sie endgültig über den Köpfen der (B) Bundesregierung zusammenzuschlagen. Davon betrof- (D) Es ist in der heutigen Debatte bereits erwähnt worden: fen sind Tausende Jugendliche, denen der Start ins Be- Nur 30 Prozent aller Betriebe bilden Jugendliche aus. rufsleben unmöglich gemacht wird. Ausbildung ist für Die Bundesministerin, Frau Bulmahn, will die Zahl der Schulabgänger und für Unternehmen eine Investition in Betriebe auf 40 Prozent erhöhen. Hierzu können wir nur die Zukunft. Sie können in jeder beliebigen Zeitung le- unser Einverständnis erklären; wir werden Sie unterstüt- sen, wie stark der Pessimismus in den Unternehmen ist. zen. Ich mache Ihnen konkrete V orschläge: Machen Sie Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben das analy- Nägel mit Köpfen! Fordern Sie von der W irtschaft, dass siert. 40 Prozent der Betriebe im Jahre 2004 Ausbildungs- plätze anbieten müssen! W enn die Zahl nicht erreicht Dem Handwerk in Deutschland, wo immerhin ein wird, dann – so sagen Sie als Regierung – kommt im Drittel aller Lehrlinge ausgebildet werden, sitzt die Jahre 2004 definitiv die Ausbildungsumlage. blanke Angst um die eigene Existenz im Nacken. Die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt sind hausgemacht. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Nur 50 Prozent aller Unternehmen, die ausbilden kön- nen, bilden auch tatsächlich aus. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Ulla Burchardt [SPD]: Wie staatsgläubig sind Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie eigentlich?) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael– Nein, ich bin nicht staatsgläubig. Sie, meine Kollegin- Kretschmer. nen und Kollegen von der SPD, sind staatsgläubig. Sie glauben, mit Appellen an die Wirtschaft oder einer (Beifall bei der CDU/CSU) Ausbildungsplatzabgabe weiterzukommen. Wir hinge- gen wollen, dass Sie den Unternehmen die Möglichkeit Michael Kretschmer (CDU/CSU): geben auszubilden. Hören Sie auf, mit milliardenschwe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ren Programmen diese Probleme von Staats wegen lösen deprimierend, welche Geschichten zum Thema Ausbil- zu wollen. Das ist der falsche Weg. dung Jugendliche zu berichten haben. Ich habe am (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Montag eine zehnte Klasse einer Görlitzer Mittelschule neten der FDP) in meinem W ahlkreis besucht. V on den anwesenden 30 Schülern haben in den vergangenen Wochen viele 40, Steuererhöhungen, Verschärfungen im Kündigungs- 50, 60 oder 70 Bewerbungen geschrieben, auf die sie schutz, die Ebbe in den Kassen der Kommunen und Ihr 3052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Michael Kretschmer (A) angekündigter Eingriff in die Handwerksordnungen sor- Die betriebliche Ausbildung hat vor jedem außerbetrieb- (C) gen für Verunsicherung und haben die wirtschaftliche lichen Bildungsprogramm Vorrang. Situation in den Unternehmen massiv verschlechtert. Be- troffen sind davon besonders die neuen Bundesländer . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das hochgejubelte JUMP-Programm mit 1 Milliarde neten der FDP) Euro im Jahr ist speziell im Osten ins Leere gelaufen. Wir müssen dieAusbildungsfähigkeit und Ausbil- (Ulla Burchardt [SPD]: Das stimmt doch dungsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Die Zah- überhaupt nicht!) len sind genannt worden, sie sind zu gering. – Ich komme aus den neuen Bundesländern. Lassen Sie uns die Ausbilder-Eignungsverordnung modernisieren. Wir sind da durchaus offen. Sie haben (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sagt noch gar 1972 diese Verordnung eingeführt. Sie haben sie 1999 nichts!) reformiert. Warum, bitte schön, haben Sie sie nicht 1999 Ich lade Sie herzlich ein, mich in Sachsen zu besuchen. abgeschafft? Das ist im Übrigen überhaupt die Frage. Es Sie werden in Görlitz sehen, dass das Programm dort ist sehr viel von „wir wollen“, „wir könnten“ und „wir völlig versagt hat. müssten“ geredet worden. Sie regieren dieses Land seit 1998. Sie hätten seit 1998 die Chance gehabt, etwas zu (Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie es abschaffen? – verändern. Sie haben es nicht getan. Deshalb sind die Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Ausbildung der Zahlen, die jetzt vorliegen, ein deutliches Armutszeugnis Jugendlichen ist eine Daueraufgabe, junger für Ihre Politik. Mann!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Herr Tauss, anstatt Wirtschaftsstrukturen aufzubauen und damit ausreichend Ausbildungsplätze in der betrieb- Zu der Ausbildungsplatzabgabe ist einiges gesagt lichen und gewerblichen W irtschaft zu schaffen, haben worden. Sehen Sie sich an, wie die wirtschaftliche Situa- Sie den leichteren, aber teureren Weg gewählt: Sie haben tion in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auch sich für den W eg derStaatsintervention entschieden in den alten Bundesländern ist! In den alten Bundeslän- und 500 000 Jugendliche in ein Programm der aktiven dern bricht derzeit der Ausbildungsmarkt zusammen: Arbeitsmarktpolitik gesteckt. Das ist von Ihnen über- 51 000 Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern, schwänglich gelobt worden. T atsächlich sind dieseungefähr 6 000 in den neuen Bundesländern. Das zeigt, 500 000 Jugendlichen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik dass eine Ausbildungsplatzabgabe der völlig falsche ein drastisches Zeichen für Ihr V ersagen in der W irt-Weg ist. schaftspolitik in diesem Land. (B) Ich komme zum Schluss und zitiere Nietzsche, der (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagte: „Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens.“ Bewei- neten der FDP) sen Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD, dass Sie Rückgrat haben. Än- Dieser Wert ist im Übrigen gestern im Ausschuss von dern Sie Ihre Politik! Gehen Sie mit uns gemeinsam an Herrn Alt von der Bundesanstalt für Arbeit als der die Reform der Ausbildungsverordnung und lassen Sie höchste Wert seit der W iedervereinigung bezeichnetuns gemeinsam eine Zukunft für die jungen Leute in worden. Auch das zeigt Ihre wirtschaftliche „Kompe- Deutschland schaffen. tenz“, es zeigt, wie Sie gedenken, dieses Land aufzu- bauen. Das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist auch nicht Vielen Dank. das Programm „Kapital für Arbeit“, weil Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht einen Kredit aufnehmen, um jemanden einzustel- len, sondern weil sie wachsen und ihren Umsatz steigern wollen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war die erste Rede des Kollegen. Ich möchte Ih- Das ist das, was wir von Ihnen erwarten. Schaffen Sie nen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. Sie die Rahmenbedingungen, damit die Wirtschaft wächst, mussten sich schon richtig in einem Zwischenrufgewit- damit Ausbildungsplätze bereitgestellt werden können ter bewähren. Herzlichen Glückwunsch. und die Leute freiwillig Auszubildende und Arbeitneh- mer einstellen. Sie haben die Zahlen gehört: 4,6 Millio- (Beifall) nen Arbeitslose, 42 000 Unternehmen, die in diesem Das Wort hat jetzt derAbgeordnete Ernst Dieter Jahr vermutlich in Konkurs gehen. Das ist kein Umfeld, Rossmann. in dem Unternehmen ausbilden. Das ist auch der Grund dafür, dass Unternehmen in Deutschland nicht ausbilden. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neten der FDP) Ich möchte in dieser Debatte der starken W orte einige Der Wert eines Ausbildungsplatzes bemisst sich für Fragen stellen. Herr Hinsken und andere sagten, dieses uns an der Qualität des vermittelten Wissens, der Praxis- Jahr sei das dramatischste Jahr, das wir in Bezug auf die nähe der Ausbildung und der Chance, unmittelbar nach Ausbildungslücke erlebten. Ich glaube, Sie sollten auf dem Abschluss der Lehre einen Arbeitsplatz im ersten die Jahre 1996 bis 1998 zurückschauen. Dann wissen Arbeitsmarkt zu finden. Deswegen ist für uns ganz klar: Sie, wo Sie damals standen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3053

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) (Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: einige Veränderungen und Anpassungen nötig, die man (C) Das Argument reicht nicht mehr! Das ist un- aber gemeinsam und zielgerichtet verwirklichen sollte. sinnig!) Im Übrigen ist vielleicht ein weiterer Blick in das Be- Wir haben damals hart diskutiert und Sie haben das rufsbildungsgesetz notwendig, um festzustellen, was al- Recht, heute hart zu diskutieren. Aber ich möchte dafür les bereits jetzt möglich ist. Denn ein Gesetz abstrakt zu werben, das praxisorientiert zu tun. Ich will versuchen, verändern, obwohl das geltende Gesetz allen Forderun- das einmal am Beispiel von JUMP mit Ihnen durchzu- gen gerecht wird, zeigt, wie wenig man sich bisher mit gehen. dem Gesetz auseinander gesetzt hat. Wir erleben, dass Sie auf der Ebene des Bundestages (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje JUMP vehement kritisieren. Ich erinnere mich aber da- Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ran, wie der damalige CDU-Ministerpräsident Barschel Andere Kollegen haben schon ausgeführt, was das in Schleswig-Holstein auf die großen Ausbildungs- und Gesetz in Bezug auf die zweijährige Ausbildung, T eil- Vermittlungsnöte junger Menschen reagiert hat, nämlich qualifikation und anderes bereits ermöglicht. W ir wer- mit einem großartigen Landesprogramm, welches von den es Schritt für Schritt verbessern und dabei in seiner der Bundesebene unterstützt worden ist. Es nannte sich Vielfalt erhalten, weil die Auseinandersetzung in der Ge- damals „Arbeit für Schleswig-Holstein“, „Ausbildungs- sellschaft gezeigt hat, wie unterschiedlich die Erwartun- bündnis“ usw. Wenn Sie die Praktiker, die Menschen, die gen in der betrieblichen Praxis sind. Verantwortung tragen, die Ministerpräsidenten, die Oberbürgermeister, die Kommunalpolitiker und diejeni- gen, die in den Bildungsinstitutionen und Betrieben tätig Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sind, fragen würden, dann würden alle so antworten wie Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin derjenige, der gestern im Ausschuss ein Problem von der Pieper? Basis geschildert hat. Er hat gesagt: Die ganze Breite des Instrumentariums muss erhalten bleiben. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): (Beifall bei der SPD) Das würde ich gerne machen, aber ich habe nur noch wenig Redezeit. Deshalb fahre ich lieber fort. Ich garantiere Ihnen: Wnn e Sie ir gendwann wieder einmal regieren sollten, dann würden auch Sie auf die (Jörg Tauss [SPD]: Es wird nicht angerech- ganze Breite des Instrumentariums zurückgreifen, wel- net!) ches jetzt in JUMP gebündelt worden ist. Ihnen ist – Wenn es nicht angerechnet wird, ist es mir recht. (B) schließlich aus der Praxis bekannt, dass über JUMP teil- (D) weise betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsver- (FDP): hältnisse sowie V orbereitungsmaßnahmen für Men- Cornelia Pieper schen, die noch nicht in eine betriebliche Ausbildung Herr Kollege Rossmann, würden Sie bitte zur Kennt- eintreten konnten, und Maßnahmen zur Motivierung für nis nehmen, dass sich nicht nur die Politiker , sondern Menschen, sich erneut zu bewerben, mit gefördert wor- auch die Bildungsexperten – ich habe das heute schon den sind. mehrmals ausgeführt – und das zuständige Bundesinsti- tut mit dem Berufsbildungsgesetz befassen und dass die Man sollte nicht das Porzellan zerschlagen, von dem Experten darauf hinweisen, dass es nach der geltenden man vielleicht noch selbst essen will. Fassung des Berufsbildungsgesetzes nicht möglich ist, durchgängig für alle Berufe eine zweijährige Grundaus- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje bildung mit Qualifizierungsbausteinen zuzulassen? Das Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ist aber der Weg, den wir beschreiten müssen, um mehr Deshalb bitte ich an dieser Stelle um etwas mehr Zu- Flexibilisierung und Dif ferenzierung der Berufsausbil- rückhaltung, selbst wenn das für Sie nicht wohlfeil sein dung zu erreichen. mag. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Man konnte an mancher Stelle den Eindruck gewinnen, Ich will Ihnen in Fortsetzung meiner Überlegungen dass das Berufsbildungsgesetz ein schlechtes Gesetz sei. antworten: Wenn man mit vielen Beteiligten in der Pra- Ich will für die SPD-Fraktion ausdrücklich festhalten, xis spricht, dann hört man vonseiten des Handwerks: dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sehr gut Lasst bloß die Hände von der zweijährigen Ausbildung! ist. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt (Beifall des Abg. Klaus Barthel [Starnberg] nicht!) [SPD]) Wir brauchen hinsichtlich der Qualifikation und der An- forderungen eine dreijährige, hoch qualifizierende Aus- Es hat die hohe Qualität der beruflichen Bildung in bildung. Deutschland über viele Jahre hinweg stabil gehalten. Es wäre von Vorteil, wenn wir diesen Konsens, der auch (Cornelia Pieper [FDP]: Das stimmt nicht! – parteipolitische Veränderungen im Bundestag überdauert Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war in der hat, auch in Zukunft wahren könnten. Es sind durchaus Vergangenheit!) 3054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) – Werfen Sie einen Blick in die Unterlagen und nehmen Die Maßnahme, die Aufgaben der Lehrstellenentwick- (C) Sie Kontakt zu Ihrem örtlichen Handwerk auf! Wenn Sie lung aus den neuen Bundesländern auch auf die alten zu denen mit der zweijährigen Ausbildung kommen, wer- übertragen – das ist eine Schlüsselstelle –, wird gerade den sie Ihnen sagen, dass sie diese nicht wollen. die kleinen Betriebe in die Ausbildungsverbünde hinein- bringen. Andere Betriebe wünschen sich eine differenziertere Struktur. Alles in allem lässt sich das im Berufsbil- Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Auch dungsgesetz wiederfinden. Dass es eine durchgängige Sie von der Opposition haben hier die Chance, bewusst- Meinung in der Theorie wie in der Praxis gäbe, dass eine seinsverändernd auf die kleinen Betriebe einzuwirken gestufte Ausbildung in zwei Jahren und eine anschlie- und darauf hinzuweisen: Ausbildung kostet euch nicht ßende Weiterbildung notwendig seien, deckt sich eben- unendlich viel Geld, sondern ist eine Chance. Ihr habt falls nicht mit dem, was wir aus der Metallindustrie, der eine gesellschaftliche Bringschuld. Nur so kann die Elektrobranche und anderen Bereichen hören. Im Ge- Wirtschaft in diesem Land wieder Vertrauen fassen. Das genteil: Dort werden Forderungen nach einer größeren ist eine spezifische Anforderung an eine Berufsausbil- Differenzierung erhoben, denen man noch auf den dungsreform, bei der wir auch das Berufsbildungsgesetz Grund gehen kann. berücksichtigen müssen und die wir gemeinsam angehen sollten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie erlauben noch folgende ideologische, aber auch Erlauben Sie mir, noch einen anderen Punkt anzuspre- zum Nachdenken anregende Bemerkung: W enn man chen, der vertieft werden könnte. Es wurde die Frage ge- sich die Statistiken anschaut, aus denen hervorgeht, wie stellt, warum so wenig Betriebe ausbilden. Auch in dieser viele Betriebe in welchen Branchen ausbilden, dann Frage zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es sich dabei stellt man fest, dass die Ausbildungsbereitschaft im Nah- nicht um einen T rend handelt, der erst mit dem Regie- rungs- und Genussmittel- sowie im Baubereich überpro- rungswechsel 1998 begonnen hat. V ielmehr handelt es portional hoch ist. Im Baubereich wird faktisch am meis- sich um längerfristige Trends, die etwas mit veränderten ten ausgebildet. Ist das so, weil er durch eine Umlage Betriebsstrukturen, dem veränderten Verhältnis von gro- gestört oder entlastet wird? Zumindest diese Frage ßen und kleinen Betrieben und der zunehmenden Zahl möchte ich in den Raum stellen, bevor wir wieder zu von Existenzgründungen – die Unternehmen beginnen ideologischen Keilereien übergehen. nicht unbedingt gleich mit dem Ausbildungsbetrieb – zu tun haben. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie mir nicht glauben, werfen Sie einen Blick in den Berufsbildungsbericht 2002! Darin gibt es eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) (D) interessante Statistik in Bezug auf die gesetzlichen Aus- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits beendet. bildungsvoraussetzungen nach Betriebsgrößenklassen und Branchen. W enn es richtig ist, dass nur rund Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): 56 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt sind, dann zeigt diese Statistik, dass es in den Kategorien von Noch ein S chlussgedanke: Bei allem, was jetzt als ein bis neun Beschäftigten, zehn bis 49, 50 bis 499 und verbaler Schlagabtausch abläuft, müssen wir im Bundes- über 500 ein riesiges Potenzial, insbesondere bei den tag für eine positive Stimmung zugunsten einer Berufs- kleinen Betrieben, gibt, das noch nicht entdeckt worden bildungsreform sorgen. Diese Reform darf nicht als stö- ist. Dabei handelt es sich um das Potenzial der Verbund- rend empfunden werden. Entscheidend ist dabei auch, ausbildung in kleinen Betrieben. wie wir darüber diskutieren und dass wir die Erwartun- gen an diese Reform nicht zu hoch schrauben. Wir müs- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir haben sen den Bund, die Länder, die Bundestagsfraktionen und es schon entdeckt!) die Betriebe zur Zusammenarbeit motivieren. Dafür wer- 51 Prozent der Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten ben wir; denn das ist das W ichtigste. Das sollte es auch erfüllen die Ausbildungsvoraussetzungen im Betrieb. für Sie sein, wenn Sie wieder einmal regieren sollten. Aber im Verbund können zusätzlich 46 bis 47 Prozent der Betriebe diese V oraussetzungen erfüllen. Nur ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sehr kleiner Teil der Betriebe wäre also weder theore- Herr Kollege, das ist doch ein schöner Schlusssatz. tisch noch praktisch in der Lage, auszubilden. Dieses Po- tenzial müssen wir ausschöpfen, wenn wir mehr Betriebe (SPD): in Ausbildung hineinbringen wollen und mehr betriebli- Dr. Ernst Dieter Rossmann che Ausbildungschancen wollen; denn die Alternative Danke schön. wäre, alles überbetrieblich zu organisieren. Wir wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aber, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet. DIE GRÜNEN) Deshalb ist das, was Sie, Frau Ministerin, jetzt auf den Weg gebracht haben, eine Hilfe. Das Programm Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: „Kapital für Arbeit“ ist ja vor allen Dingen etwas für Ich schließe damit die Aussprache. kleine Betriebe. Auch die von Ihnen veranlasste Ausset- zung und Überprüfung der Ausbilder -Eignungsverord- Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen nung sind eine Erleichterung für die kleinen Betriebe. auf den Drucksachen 15/653, 15/587, 15/739 und 15/741 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3055

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) an die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten (C) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Verfahren ohne Debatte. der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ich rufe die T agesordnungspunkte 17 a und 17 b so- die in der T agesordnungaufgeführten Ausschüsse zu wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/510 soll zusätzlich zur Mitberatung und gemäß § 96 der Ge- 17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- werden. Sind Sie einverstanden? – Das scheint der Fall kommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Re- zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. gierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches Thailand Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 b auf: über den Seeverkehr Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- – Drucksache 15/716 – ausschusses (6. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Übersicht 2 Finanzausschuss über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Ausschuss für Tourismus Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/656 – gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzr eformge- Es handelt sich um eine Beschlussfassung, zu der setzes keine Aussprache vorgesehen ist. Wer stimmt für diese – Drucksache 15/510 – Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) angenommen worden. Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- fahren (Ergänzung zu TOP 17.) schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- mittlungsausschuss) zu dem Ersten Gesetz zur a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Änderung des Gesetzes zur Neur egelung des Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr . Maria Böhmer, Energiewirtschaftsrechts (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (D) CDU/CSU – Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 – Benachteiligung von Frauen wirksam be- Berichterstattung: kämpfen – Konsequenzen ziehen aus dem Abgeordneter Ludwig Stiegler CEDAW-Bericht der Bundesregierung Wird das W ort zur Berichterstattung gewünscht? – – Drucksache 15/740 – Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – W ir kom- Überweisungsvorschlag: men dann unmittelbar zur Abstimmung. Der V ermitt- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- Innenausschuss schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustim- Ausschuss für Bildung, Forschung und men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Technikfolgenabschätzung Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/712? – Ge- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Entwicklung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef worden. Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Christian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, Volker Beratung der Unterrichtung durch den W ehrbe- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der auftragten Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Jahresbericht 2002 (44. Bericht) Wiederbelebung des Friedensprozesses in Ko- lumbien – Drucksache 15/500 – – Drucksache 15/742 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Aussprache eineinviertel Stunden vor gesehen. – Ich Entwicklung höre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen. 3056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ein Problem, für das inzwischen eine Lösung gefun- (C) der Wehrbeauftragte desDeutschen Bundestages, den wurde, ist der mangelhafte Zustand des Feldlaza- Dr. Willfried Penner. Herzlich willkommen! retts Rajlovac: Der vom Bundesministerium der Vertei- digung favorisierte Neubau kann nun endlich beginnen; das Bundesministerium der Finanzen hat dafür endlich Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut- schen Bundestages: grünes Licht gegeben – und das ist gut so. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des danke mich sehr für den freundlichen Gruß, Frau Präsi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dentin. Die Eingaben bezogen auf Bundeswehr im Inland ha- Heute ist Veränderung das zentrale Thema der Bun- ben – neben dem Flickenteppich völlig unterschiedlicher deswehr, ohne dass die seit langem bekannten sonstigen Problemfelder – einen herausragenden Schwerpunkt: die Angelegenheiten des militärischen Alltags damit bewäl- Personalangelegenheiten. tigt seien. Veränderung, das bedeutet eine zunehmende Gewiss hat das auch mit den Auswirkungen des At- Anzahl von Einsätzen sowie eine zunehmend abstrakter traktivitätsprogramms zu tun, etwa damit, dass die werdende Notwendigkeit der Landes- und Bündnisver- Kompaniechefs und Einheitsführer nunmehr nach A 12 teidigung. Dies hat Auswirkungen auf die Soldaten und und nicht mehr wie bisher nach A 11 besoldet werden, deren Familien und infolgedessen auf die Quantität und was diejenigen zu Zweifeln an der Gerechtigkeit heraus- Beschaffenheit der Eingaben und des mündlichen V or- forderte, die sich schon auf einem A-12-Dienstposten bringens. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Einga- bewährt hatten und sich in Folgeverwendungen weiter ben aus dem Einsatz mit mehr als 100 Prozent mit die A 11 zufrieden geben mussten. Man kann den Är ger höchste Steigerungsquote gegenüber dem V orjahr auf- eines Hauptmanns schon verstehen, wenn sein Nachfol- weisen. In konkreten Zahlen: Es gab 1 150 Vorgänge ger auf dem Dienstposten, teilweise im Dienstgrad nie- dieser Art in 2002 gegenüber 570 Eingaben in 2001. driger und regelmäßig an Lebensjahren jünger, Nutznie- ßer der Neuregelung wird und damit an ihm vorbeizieht. Der Einsatz ist für immer mehr Soldaten zum Be- Natürlich beschwert sich der Begünstigte nicht. standteil des Dienstes geworden. Diese Einsätze funktio- nieren teilweise vorbildlich; aber es gibt unübersehbar Auch zur Einführung der neuen Laufbahn der Fach- Schwächen, Missstände und Fehler. unteroffiziere hat es nicht wenige kritische Stimmen ge- geben. Fest steht, das Interesse an dieser neuen Laufbahn Ein Beispiel: Allein zum Auslandsverwendungszu- ist groß. Die hohe Anzahl der Bewerber beweist dies: Im schlag haben mich 450 Eingaben erreicht. Einmal wurde (B) Jahre 2001 gab es im Bereich der Unterof fiziere und(D) eine Herabstufung generell beklagt, ein anderes Mal Mannschaften rund 33 000 Bewerber bei den Zentren für wurden Umstände zur Ermittlung der Herabstufung kri- Nachwuchsgewinnung; im Jahre 2002, also nach Ein- tisiert. In anderen Fällen wurden Einwände gegen eine führung der neuen Laufbahn, waren es rund 46 000. Das zu geringe Einstufung vorgebracht. Es wurde außerdem bedeutet aber nicht, dass die „alten“ Unteroffiziere nicht kritisiert, dass eine Herabstufung nach einer Stichtags- ihre Schwierigkeiten mit den neuen Möglichkeiten hät- regelung für Soldaten eines im Einsatz befindlichen ten. Ihnen fällt es schwer, die „neuen“ Kameraden als Kontingents – trotz eines gegebenen Ministerwortes – gleichwertig zu akzeptieren, weil sie deren militärische vorgenommen wurde. Qualitäten bezweifeln und sich gegenüber den „Neuen“ Ein weiteres Beispiel: Immer wieder gibt es V ersor- zurückgesetzt fühlen. gungsfragen an die Adresse des Dienstherrn für den Überhaupt lassen Unteroffiziere im unmittelbaren Ge- „Fall des Falles“. Nicht zu ver gessen sind Probleme im spräch zunehmend Verdruss, Resignation und berufliche Zusammenhang mit der eingeschränkten „Einsatztaug- Unzufriedenheit erkennen. Dies bezieht sich nicht allein lichkeit“ des deutschen Normen- und V orschriftenge- auf die geläufigen Probleme des militärischen Alltags flechts. In einem Fall wurden Soldaten bei einem Aus- wie etwa die W underlichkeiten der Militärbürokratie. landseinsatz im Gebir ge dieleichten Bergstiefel nicht Die stärker werdende Bedeutung der Bundeswehr als ausgegeben, weil diese nach dem Ausstattungssoll nur Einsatzarmee wirkt sich zunehmend zulasten der Solda- für die Gebirgsjäger vorgesehen waren. ten im Inland aus. Mehrfachvertretungen können die (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Folge sein und sind die Folge. Ausbilder fehlen, worun- und der FDP) ter die Ausbildung leiden ka nn. Qualitativ hochwertiges Gerät wird im Einsatz benötigt und die Ersatzteillage Natürlich gibt es auch Eingaben, die mit der Proble- wird nach wie vor als nicht zufriedenstellend geschildert. matik der sechsmonatigen Einsatzdauer – sie hat be- Es ist ja auch nicht motivierend, wenn ein Fahrzeug we- sonders herbe Auswirkungen für junge Familien – zu tun gen Fehlens eines Dichtungsrings, den man für 50 Cent haben. Die Eingaben aus dem Einsatz haben übrigens überall kaufen kann, wochenlang stillsteht und zugleich nicht nur Bedingungen des Einsatzes selbst zum Gegen- ein weiteres Kraftfahrzeug abgezogen wird. Bisweilen stand, sondern es geht auch um die künftige Verwendung aber – auch dies ist wahr – lässt sich der Eindruck nicht im Inland, um Konsequenzen aus der Auflösung der von der Hand weisen, dass gerade bei den Soldaten, die Stammeinheit, um Umzugskosten, um Fragen zu Reich- sich besonders kritisch äußern, falsche V orstellungen weite und Umfang des V ersicherungsschutzes, also um über berufliche Chancen auf dem zivilen Arbeitsmarkt Alltagsfragen, usw. vorherrschen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3057

Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner (A) Auch folgender Punkt gehört zum Thema Personalan- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es sieht (C) gelegenheiten und war für die Soldaten wichtig: die ge- so aus, als werde die Phase der Veränderungen in der setzlich eröffnete Möglichkeit des vorzeitigen Ausschei- Bundeswehr noch Jahre dauern. Jüngsten Äußerungen dens aus der Bundeswehr für insgesamt 3 000 Soldaten des Bundesministers der V erteidigung zufolge werden der Jahrgänge 1956 und älter bis zum Ende des Jahres die diesbezüglichen Prozesse der Anpassung und Um- 2006. Rund 5 800 Soldaten waren bisher daran interes- steuerung bis weit in das nächste Jahrzehnt reichen und siert. Sie waren teilweise enttäuscht, weil sie nicht in Be- das sind möglicherweise weitere Standortschließungen, tracht kamen. Das dienstliche Interesse am Abbau der weniger Panzer, weniger Tiger, Außerdienstnahme von Personalüberhänge ist allein ausschlaggebend dafür, ob Waffensystemen der Luftwaffe, Übernahme von Luftge- jemand in Betracht kommt oder nicht. Die hohe Anzahl rät und Auftrag von Marinefliegern durch die Luftwaf fe der vor der üblichen Zeit Ausscheidungswilligen ist al- sowie Außerdienstnahme von Schnellbooten, um die Ar- lerdings als Indikator im Zusammenhang mit Berufszu- mee im Einsatz so gut wie möglich ausstatten zu können. friedenheit bemerkenswert. Meine Damen und Herren, es besteht Veranlassung, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Qua- darauf hinzuweisen, dass solche Veränderungen nur grei- lität des Sanitätswesens ist gewiss auch für die Berufs- fen können, wenn die im engeren Sinne Betrof fenen, zufriedenheit maßgeblich. Sie nimmt Schaden, wenn nämlich die Soldaten, auch mittun und sie nicht nur über operative Eingriffe in den Bundeswehrkrankenhäusern sich ergehen lassen. Die Parlamentsarmee Bundeswehr nicht stattfinden können, weil Chirurgen, Anästhesisten muss gerade insoweit erfahren, dass sie tatsächlich eine und Orthopäden fehlen, da sie im Einsatz unabkömmlich Angelegenheit des Parlaments ist. sind. Noch eines muss ich berichten: Tagesantrittsstär- ken zwischen 40 und 60 Prozent sind für T ruppenärzte (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried keine Seltenheit. Jüngst ist mir sogar von einer Tagesan- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) trittsstärke von nur 16 Prozent berichtet worden. Damit Vielleicht gehört dazu auch die große sicherheitspoli- sind Personalprobleme im Bereich der Sanitätsof fiziere tische Debatte über die Rolle des vereinigten Deutsch- nicht abschließend aufgezählt. Die Zahl der Berufsbe- lands in der Welt. Sie hättenach der Wende stattfinden werber ist weiterhin rückläufig. Auf eine Stelle kommen müssen und ist bis heute ausgeblieben. Nach meiner Ein- zwei geeignete Bewerber; die Möglichkeiten, Seitenein- schätzung ist sie für die Justierung der Bundeswehr und steiger zu gewinnen, sind eher mäßig. die Orientierung der Soldaten weiterhin geboten. Frauen in der Bundeswehr , das ist inzwischen ein Kapitel des militärischen Alltags. Mit anderen W orten: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Sie gehören einfach dazu. Dies spiegelt sich auch in den Es ist und bleibt politisch unbefriedigend, dass das Bun- (D) Gesprächen und Eingaben wider und unterscheidet sich desverfassungsgericht und nicht das Parlament oder die vielfach nicht vom Vorbringen ihrer männlichen Kame- Bundesregierung die entsch eidenden diesbezüglichen raden. Das reicht von einer zu langen Bearbeitungsdauer politischen Markierungen gesetzt hat. von Anträgen bis hin zu unerfüllten V ersetzungswün- schen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aber auch dies ist wahr: Die Zahl der Verstöße gegen und der FDP) die sexuelle Selbstbestimmung von weiblichen Soldaten ist angestiegen. Im Berichtsjahr waren es 57, im Jahre Im Übrigen bin und bleibe ich der Überzeugung, dass 2001 waren es 20. Regelmäßig ging es um plumpe An- gerade eine Bundeswehr im Einsatz eine nach Ost und mache oder noch plumpere V erbalerotik, ergänzt durch West unterschiedliche Besoldung nicht verträgt. Betatschen und andere körperliche Kontakte. Durchweg passt die Bundeswehr auf und reagiert richtig, was gele- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ gentliche Schwächen nicht ausschließt. CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Ein Beispiel für eine solche Schwäche in der Reaktion sei hier berichtet: Ein Oberleutnant zur See betrat in Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine ab- stark alkoholisiertem Zustand die Stube einer schlafen- schließende Bemerkung: Die Einsätze mit Beteiligung den Soldatin und legte sich nackt neben sie ins Bett. Als deutscher Soldaten sind noch gefährlicher geworden, als sie aufwachte, versuchte er sie zu küssen; auf ihre Auf- sie es ohnehin schon waren, auch wenn die Bundeswehr forderung hin verließ er die Stube. Gegen den Soldaten und ihre Soldaten nicht am Krieg im Irak teilnehmen. wurde ein Verweis verhängt. Ich meine, es geht nicht, Das ist Herausforderung und Verpflichtung für politische dass eine solche Angelegenheit gewissermaßen unter Verantwortung. Unbeschadet politischer Meinungsunter- vier Augen beigelegt wird. schiede und über die Parteigrenzen hinweg müssen ge- rade Soldaten im Einsatz wissen und darauf vertrauen (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Sehr richtig!) können, dass ihr Dienst politisch und gesellschaftlich Eines schätzen die Soldaten im Übrigen ganz und gar ganz breit getragen wird. nicht: ein angestrengtes, ja angespanntes Verhalten von Schönen Dank fürs Zuhören. Vorgesetzten im Umgang mit ihnen bis hin zur unge- wöhnlichen Wortwahl, und dies nur , um Fehler zu ver- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜND- meiden. NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) 3058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Genau aus diesem Klima ergeben sich die handfesten (C) Lieber Herr Penner, wir haben nicht nur eine Parla- Gründe, die zu den vielen Eingaben an den W ehrbeauf- mentsarmee, sondern auch einen Parlamentsbeauftrag- tragten führen. An drei Themen zeigt sich das. Ich nenne ten. Sie tun Ihre Arbeit für uns alle, für das Parlament. erstens das Attraktivitätsprogramm, zweitens die Nach- Dafür und auch für Ihren Bericht möchte ich mich be- wuchswerbung und drittens die Fürsor ge des Dienst- danken. herrn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den ersten (Beifall) Punkt angeht, kann ich nur empfehlen: Zu Risiken und Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer. Nebenwirkungen des Attraktivitätsprogramms fragen Sie Ihren Wehrbeauftragten. – Jede dritte Eingabe be- trifft den Bereich Personalführung. Viele der groß an- (Saalstadt) (CDU/CSU): Anita Schäfer gekündigten Maßnahmen hatten nur einen kurzfristigen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Effekt. Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, hatte Herr Wehrbeauftragter Dr. Penner, Sie haben in Ihrer Glück. Viele andere wurden benachteiligt. Die an sich Rede und in Ihrem Jahresbericht 2002 auf zahlreiche De- positive Hebung der Stellen für Kompaniechefs nach fizite in der Bundeswehr hingewiesen. Das liegt in der A 12 hat erhebliche Probleme mit Folgeverwendungen Natur eines Mängelberichts. Für Ihren Bericht danke ich gebracht. Dazu ein groteskes Beispiel: Ein Oberleutnant, Ihnen auch im Namen meiner Fraktion. Ebenso gilt un- Zugführer und Vermessungsingenieur, hat zweimal die ser Dank natürlich auch Ihren Mitarbeitern und Mitar- Beförderung zum Batteriechef und damit nach A 12 aus- beiterinnen. geschlagen, weil er um seine Folgeverwendung nach A 11 im Militärgeographischen Dienst fürchtete; die Er- Gemessen an der Truppenstärke der Bundeswehr sind eignisse gaben ihm Recht. Das Attraktivitätsprogramm die über 6 400 Eingaben ein Maximum. Man kann auch hatte also zur Folge, dass Leistungsträger durch die sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten – die Bun- Übernahme von Führungsverantwortung Nachteile er- deswehr hat den niedrigsten Personalbestand seit dem fahren konnten. Jahr 1961 – so viele Sorgen. Andere Offiziere und Feldwebel mussten erleben, Eine Ursache, wenn nicht die Ursache der hohen Zahl dass deutlich jüngere Soldaten an ihnen vorbeizogen und der Eingaben liegt gerade in der T ruppenstärke. Noch rasant befördert wurden. Diesen Petenten geht es weni- nie hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu be- ger um materielle Nachteile als vielmehr um ihre Aner- wältigen. Auslandseinsätze sind Normalität geworden kennung und Selbstachtung. Ein Petent merkt zu Recht und die Aufgaben in der Heimat werden nicht weniger; an, dass solche Ungleichbehandlungen Unruhe bis auf (B) (D) ganz im Gegenteil. Ich denke nur an die Bewachung Kompanieebene bringen und man sich dann die Frage amerikanischer Liegenschaften. Bundeswehr im Einsatz stellt: Was habe ich falsch gemacht? kann aber nur gut gehen, wenn zu Hause alles in Ord- nung ist. Fachunteroffiziere mögen ja helfen, personelle Lü- cken zu schließen. Es muss aber auch gewährleistet sein, Was ist nun der Kern des 44. Berichts des Wehrbeauf- dass die Seiteneinsteiger mit höherem Dienstgrad den tragten? Es ist der dramatische Abstand zwischen dem allgemeinen Anforderungen entsprechen. Gerade die rot-grünen Anspruch und der W irklichkeit. Diese Bun- mangelnde Fähigkeit, Menschen zu führen, erntet aber desregierung hat einfach kein Gesamtkonzept, weder in viele kritische Stimmen aus der Truppe. Aus Gesprächen der Verteidigung, noch in anderen Politikbereichen. Wir mit jungen Kompaniechefs sind mir deren Sor gen be- brauchen endlich wieder eine Sicherheitspolitik nach kannt, dass Fachunterof fiziere nicht überzeugen, dass Bedrohungslage und nicht nach Kassenlage. die Truppe sie nicht anerkennt. Es ist beklagenswert, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wenn der Dienstgrad nur noch etwas über die Besol- neten der FDP) dungsgruppe, aber nichts mehr über die Fähigkeit zum Führen von Soldaten aussagt. Führungskompetenz ist Herr Dr. Penner, leider unterlassen S ie es, aus den immer noch das, was die Soldaten am meisten brauchen Elementen Ihres Berichts ein Gesamtbild zu zeichnen. und schätzen. Viele Eingaben liegen genau in diesem Problem begrün- Gleichzeitig fühlen sich aber altgediente Unterof fi- det. Aber Sie scheuen sich, es deutlich aufzuzeigen. In ziere und Feldwebel degradiert, weil sie oft die Aufga- Ihrer Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Be- ben von qualifizierten Mannschaftsdienstgraden über- richts neulich ging Ihre Kritik an der Bundesregierung nehmen müssen. Ob sich diese Probleme auf eine weiter. Zu Recht forderten Sie Berechenbarkeit und Füh- Übergangsphase beschränken lassen, bleibt zu bezwei- rungsverantwortung von der politischen Führung der feln. Das Attraktivitätsprogramm hat zu viele Nebenwir- Bundeswehr. Hier liegt der Hund begraben: Die Mehr- kungen. Die militärische Ausbildung der Fachdienst- zahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich einer unbe- unteroffiziere muss deutlich verbessert werden. Die rechenbaren und sprunghaften politischen Führung aus- Folgeverwendungen der Kompaniechefs müssen ange- gesetzt. Das Gefühl, verantwortungsvoll und weitsichtig passt werden. geführt zu werden, fehlt vielen Soldaten. W oher soll es auch kommen, wenn nur mit kurz- und mittelfristigen Ich komme zweitens zur Nachwuchswerbung der Aktionen regiert wird? Reform über Reform verunsi- Bundeswehr. Wie sehr die Nachwuchsgewinnung stockt, chert die Truppe. zeigt das weiterhin rückläufige Bewerberaufkommen für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3059

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Offizierstellen, ganz besonders für Sanitätsof fizierstel- Rechtsklarheit im Dienst, in der sozialen Absicherung (C) len. Wie nachlässig manan die Nachwuchswerbung und besonders darin, dass sich der Dienstherr um die herangeht, zeigen zum Beispiel Fälle, in denen Zeitsol- menschlichen Probleme der Soldatinnen und Soldaten daten bei der Bewerbung keine V orstellung vermitteltkümmert. bekommen, was es heißt, Soldat zu sein. Das V erteidi- gungsministerium muss hier kräftig nachbessern und den Die angesprochene Unterfinanzierung der Bundes- Bewerbern mehr Informationen geben. Bei allen Äuße- wehr hat materielle Defizite entstehen lassen. Mittler- rungen, angefangen bei denen des Ministers, muss klar weile sind die Kasernen in den alten Bundesländern oft werden, dass Soldat kein Beruf wie jeder andere ist. Ein in einem schlechteren Zustand als die Kasernen in den einheitliches soldatisches Berufsbild muss vermittelt neuen Ländern. Zahlreiche Eingaben beklagen Schäden werden. und Schimmelbefall in den Unterkünften. Übertriebene Sparmaßnahmen bei den Heizkosten haben neue Schä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den verursacht. Hier wird Sparen teuer und für die neten der FDP) Truppe nicht mehr nachvollziehbar. Junge Menschen vermissen daher logischerweise eine Damit ist der vorliegende Bericht auch eine nachhal- klare Perspektive bei der Bundeswehr. Es darf nicht vor- tige Aufforderung an die Bundesregierung, ihren Solda- kommen, dass Bewerbern nichts über die allgemeine ten eine menschenwürdige Unterbringung bereitzustel- Grundausbildung gesagt wird. Aus den Petitionen an den len. Wehrbeauftragten ergibt sich deutlich die Erkenntnis: Auf Nachwuchswerbung legt der Verteidigungsminister Das gilt auch für die Schiffe und Boote der Marine. In nicht seinen Schwerpunkt. Ich fordere daher mehr En- tropischen Gewässern eingesetzte Einheiten können gagement von Minister Struck in dieser Sache. Ansons- nicht ohne Klimaanlagen operieren. Starker Schimmel- ten hat die Bundesregierung für die Einsätze bald keine befall in den Kajüten darf den Besatzungen nicht zuge- Soldaten mehr. mutet werden. An der Nachwuchswerbung wird aber noch etwas Wenn aus Kostengründen zu wenige gepanzerte Fahr- deutlich: Die rot-grüne Regierung schafft es nicht, das zeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetzten Ansehen des Soldatenberufs unter Jugendlichen zu stei- Soldaten unnötigen Gefahren ausgesetzt. Angesichts der gern; vermutlich will sie das auch gar nicht. W er eineDiskussion über einen Einsatz im Irak warne ich die Armee in den Einsatz schickt, muss auch hinter ihr ste- Bundesregierung aber, hierfür geschützte Fahrzeuge aus hen. Ich glaube, viele Jugendliche spüren, dass diese Re- anderen Einsätzen abzuziehen. gierung zwar die Bundeswehr braucht, sie aber nicht Einsätze müssen und können sich nur an den vorhan- (B) schätzt. denen Ressourcen ausrichten. Das gilt im Besonderen (D) (Beifall bei der CDU/CSU) für die persönliche Ausstattung der Soldaten. Die Worte Spardiktat und Unterfinanzierung sagen viel Die Versorgung mit Kleidung ist ein weiterer Punkt, aus. Neben den Verdienstmöglichkeiten ist aber das An- der die Stiefmütterlichkeit belegt, mit der Rot-Grün un- sehen eines Berufs für Jugendliche der wichtigste Ent- sere Bundeswehr finanziert. W o, wie in meinem W ahl- scheidungsfaktor. kreis, kein Geld bereitgestellt wird, um die Soldaten rechtzeitig und ausreichend auszustatten, liegt es auf der Heute dominiert aber eine Ohne-mich-Einstellung die Hand, dass man von Ausstattungsherstellern die Produk- Sicht der Jugend auf die Bundeswehr . Das vermeintlich tion schon mal zum Selbstkostenpreis verlangt. Das, hohe Ansehen in Meinungsumfragen geht mit weit ge- meine Damen und Herren, ist nun wirklich die Bankrott- hendem Desinteresse einher, wie es der Truppe wirklich erklärung bezüglich der rot-grünen Fürsorge für unsere geht. Viele Soldaten meinen auch, ein Desinteresse der Soldaten. Politik zu spüren. Verteidigungspolitik wird ausschließ- lich als Sparpolitik empfunden, ausgetragen auf dem Rü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cken der Soldaten. Die politische Symbolik sowie Sinn neten der FDP) und Zweck der Einsätze bleiben nachrangig. Eine Vielzahl von Eingaben an den Wehrbeauftragten Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass richtet sich gegen die Dauer des Auslandseinsatzes von die Grenze der materiellen wie auch der ideellen Belast- sechs Monaten. Die Folgen der Trennung von der Fami- barkeit der Streitkräfte erreicht ist. Die starke Belastung lie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. V iele im Dienst dringt auch nach außen und wird von der Ge- Beziehungen geraten in Probleme. Mir persönlich ist ein Fall sellschaft wahrgenommen. Damit bin ich bei meinem bekannt, in dem der kurzfristig befohlene Anschlusse insatz dritten Punkt, der Fürsorge des Dienstherrn angesichts im Ausland nachweislich zu einer Frühgeburt bei der der starken Belastungen. Fürsor ge muss als ganzheitli- Ehefrau des Soldaten geführt hat. Die mangelnde Ko- che Aufgabe gesehen werden, als der wichtigste Faktor ordination von Auslandseinsätzen lässt das absolut not- eines gegenseitigen Treueverhältnisses. wendige Mindestmaß an Fürsorge des Dienstherrn ver- missen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Fürsorge zeigt sich in Folgendem: in der materiellen So ist es auch kein W under, dass immer mehr Solda- Ausstattung, in der Or ganisation des Dienstes, in der tenehen scheitern. Die dienstlichen Belastungen haben 3060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) für viele Zeit- und Berufssoldaten ein solches Ausmaß letzten Endes auch deutlich, dass die derzeitigen Plan- (C) erreicht, dass sie vor der Frage Dienst oder Familie ste- spiele der Koalition, die Wehrpflicht gegebenenfalls auf- hen. Ich fordere daher den Bundesminister der Verteidi- zugeben, nicht von Vorteil für das Land sind. gung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine hohe Scheidungsquote zum Berufsbild des Soldaten gehört. (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Und trotzdem ist es Der Soldat im Auslandseinsatz hat einen existenziellen geplant!) Anspruch auf Familienbetreuung. Ein Soldat, der sich Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des W ehr- permanent Sorgen um P artner oder Familie machenbeauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Kluft zwi- muss, ist nur teilweise einsatzfähig. schen dem politischem Anspruch und der Lage in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Truppe immer größer wird. Diese Regierung hat fast neten der FDP) nichts unternommen, um die Lage der Streitkräfte zu verbessern. Neben der dramatischen Unterfinanzierung Mobilität gehört zwar zum Beruf des Soldaten, die steht eine zunehmende Distanz zwischen Bundeswehr Stehzeiten im Ausland müssen aber besser or ganisiert und Politik. Die Soldatinnen und Soldaten spüren, dass werden. Sie müssen verkürzt werden. Wer die Dauer des diese Regierung sie zwar braucht, aber nicht wirklich Einsatzes als nebensächlich herunterspielt, verharmlost achtet. das Problem. Für viele junge Soldaten ist nach dem Wegfall der traditionellen Abschreckung der sechsmona- Der diesjährige Bericht des Wehrbeauftragten lässt tige Einsatz die moderne Form der Abschreckung. nur einen Schluss zu: Herr Bundeskanzler, Herr Verteidi- gungsminister, Eine weitere organisatorische Frage ist Teilzeitarbeit für Soldatinnen und Soldaten. Neue, innovative Arbeits- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Die sind ja beide zeitmodelle können Familie und Beruf besser vereinbar nicht da!) machen. Dienstposten in Stabs- und Lehrverwendungen bieten sich an, aber auch die Bereiche Nachwuchswer- kümmern Sie sich mehr um die Bundeswehr . – Der bung, Öffentlichkeitsarbeit oder Heimatschutz. Kanzler braucht nicht da zu sein; der Bundesminister der Verteidigung ist wichtig. – Sorgen Sie für eine den Auf- Zur Fürsorge des Dienstherrn gehört auch die Rechts- trägen angemessene Finanzierung und Organisation. klarheit. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klare Rechtsgrundlage in den Einsatz gehen. Es ist geradezu Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. beschämend für eine Regierung, wenn sie diese trotz al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ler sich aufwerfenden Fragen stur verweigert. Ganz aktu- (B) ell ist das Problem der A WACS-Besatzungen. Aber es (D) gibt auch zahlreiche andere Beispiele. So können betrof- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fene Soldaten zum Beispiel nicht nachvollziehen, dass Ich erteile das W ort dem Parlamentarischen Staats- die Novelle des MAD-Gesetzes, also ihre Rechtssicher- sekretär Walter Kolbow. heit, auf dem Altar des rot-grünen Koalitionsfriedens ge- opfert wurde. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist der Mi- nister eigentlich hingegangen?) In diesem Zusammenhang ist auch die Anpassung des Soldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, es ist viel- mehr eine zwingende Notwendigkeit. Die Bundesregie- Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- rung kann nicht Menschen nach Afghanistan in einen nister der Verteidigung: lebensgefährlichen Einsatz schicken und die V ersor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gungssicherung an den Gefahren einer deutschen Amts- Herr Wehrbeauftragter, zunächst darf ich für die Exeku- stube ausrichten. Wenn Tod und Verwundung im Ein- tive Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen satzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dann und Mitarbeitern für Ihren umfassenden Bericht herzlich verliert die Truppe den letzten Rest an Vertrauen in die danken. Dieser dritte in Ihrer Amtszeit erstellte Bericht politische Führung. zeigt: Sie haben wieder bewährt über die Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und die Beachtung der Zum Schluss noch ein Wort zu den Reservisten. Einga- Grundsätze der inneren Führung gewacht. ben zeigen, dass sich viele Reservisten in der Schwebe fühlen, was ihre militärische Zukunft angeht. Die lange Sie haben betont, dass Ihr Bericht kein Zustandsbe- angekündigte Reservistenkonzeption steht noch immer richt der Bundeswehr, sondern auch, wie immer in den aus. Verbunden mit dem Mangel an Personal und Mate- vergangenen Jahren, ein Mängelbericht ist. Er ist natür- rial leiden so Ausbildung und Förderung. Gerade im lich eine sehr wertvolle Momentaufnahme. Er hat sich Hinblick auf den Heimatschutz sind aber Reservisten mit den Sorgen und dem Ärger unserer Soldatinnen und wichtig. Ich sage: ohne Reservisten kein Heimatschutz. Soldaten, aber auch mit den Schwächen und Stärken des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Systems der Bundeswehr zu beschäftigen. Die Einlas- neten der FDP) sungen der höchstgeschätzten Kollegin Schäfer haben gezeigt, dass man, wenn einem dieser Bericht nicht Wie dringend diese Frage für unser Land und unsere passt, die Dinge natürlich noch schlechter reden kann, Gesellschaft geworden ist, muss ich hier wohl keinem als sie im Bericht des W ehrbeauftragten beschrieben mehr erklären. Das, lieber Herr Minister Struck, macht sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3061

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Meine Damen und Herren, für uns im Bundesministe- und -stellen ihre Aufgaben mit Verantwortungsbewusst- (C) rium der Verteidigung ist der Jahresbericht des W ehrbe- sein, mit fachlichem Können und Fingerspitzengefühl auftragten wieder eine bedeutsame Hilfe und Anregung. wahrnehmen. An diese Erfolge gilt es anzuknüpfen. Ich freue mich darüber und danke dem Wehrbeauftragten dafür, dass er auch positive Seiten herausgestellt hat. Er Zweitens: Stehzeit im Einsatz. Die Initiativen im hat im Bericht auf die überragenden Leistungen bei der Verteidigungsausschuss unter anderem vonseiten der Bewältigung der Hochwasserkatastrophe an Elbe und FDP-Fraktion haben dazu beigetragen, dass wir diesem Donau hingewiesen und daraus sehr zu Recht eine her- Thema eine große Beachtung schenken werden. W ir vorragende Akzeptanz der Institution Bundeswehr in der wissen um die besondere Belastung der Soldatinnen und Gesellschaft und auch im Ausland abgeleitet. Frau Soldaten. Sie sind auchvon Ihnen, Frau Kollegin Schäfer, wir brauchen und schätzen die Soldatinnen und Schäfer, dargelegt worden. Wir verhehlen keinesfalls, dass Soldaten. Das gilt nicht nur für die deutsche Gesell- es derzeit eine Notwendigkeit für eine sechsmonatige Steh- schaft, sondern natürlich auch für die, die für sie verant- zeit im Einsatz gibt, die sich aus dem operationellen Bedarf wortlich sind, für die politische Leitung und die militäri- und der gegenwärtigen Struktur der Bundeswehr – wir wol- sche Führung. Ich lade Sie herzlich ein zur V erleihung len sie zu einer Einsatzarmee umbauen – herleitet. Bei einer der Verdienstorden an die Soldatinnen und Soldaten auf- viermonatigen Stehzeit müsste der Einzelne im Durch- grund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Flutkata- schnitt bereits nach 16 Monaten wieder zu einem Einsatz strophe. herangezogen werden. Verbunden mit der Entscheidung für eine sechsmonatige Stehzeit wurde die Möglichkeit Sie werden im weiteren Verlauf meiner Ausführungen der Gewährung von drei W ochen Urlaub während des sicherlich konstatieren können, dass wir die Soldaten Einsatzes eröffnet. Zusätzlich wurde im Rahmen eines nicht nur schätzen, sondern auch etwas für sie tun und Splittingmodells die flexible Festsetzung der Stehzeit im aus den aufgezeigten Mängeln Konsequenzen ziehen. Einsatz ermöglicht. Diese Maßnahmen sollen ab Juni Darauf haben sie, die Soldatinnen und Soldaten, einen dieses Jahres im vollen Umfang erprobt werden. Anspruch, ebenso Sie im Parlament und natürlich auch der Herr Wehrbeauftragte, der für Sie Kontrollorgan ist. Drittens: Soldatenversorgungsgesetz und Aus- landsverwendungszuschlag. Es ist eine unserer Aufga- (Beifall im ganzen Hause) ben, in diesem Bereich ständig zu V erbesserungen zu kommen. Dies tun wir, wie Sie aus den Diskussionen ge- Jetzt zu den kritischen Anmerkungen des Herrn rade im Verteidigungsausschuss wissen. Die einstimmige Wehrbeauftragten: Die im Berichtszeitraum sehr hohe und begrüßenswerte Entschließung des Verteidigungsaus- Zahl der Eingaben beweist, dass die Soldatinnen und schusses, die Versorgungsleistungen bei Auslandseinsät- Soldaten sich neben der laufenden Umstrukturierung zen unverzüglich zu verbessern und auszubauen, ent- (B) in besonderem Maße auch der Herausforderung ausge- (D) spricht auch den Anforderungen, die sich aus dem Bericht setzt sehen, die sich aus den umfangreichen Auslands- des Wehrbeauftragten ergeben. Wir werden zu Regelun- einsätzen der Bundeswehr ergibt. gen beitragen, die besser als bisher den Gefahren im Ein- Die Auslandseinsätze stellen in der Tat eine enorme or- satz Rechnung tragen. Ich rufe Ihnen das Stichwort ganisatorische, personelle und logistische Herausforde- „Einsatzunfall“ in Erinnerung. Ein entsprechendes Kon- rung dar. Dies belastet die Soldatinnen und Soldaten so- zept wird derzeit im Ministerium erarbeitet. Ziel ist es, wie deren Angehörige aufs Äußerste. W egen dieserdurch Änderungen im Soldatenversorgungsgesetz unter großen Belastung ist die gewachsene Zahl der Eingaben, der Überschrift „Einsatzversorgung“ Leistungsverbesse- die im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen stehen, rungen zu schaf fen. Unter anderem sollen die in be- zu erklären. Am meisten wurde die Höhe des Auslands- stimmten Fällen bestehenden Unterschiede zwischen der verwendungszuschlages und die Frage der Stehzeit im Versorgung der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie Einsatz thematisiert. Es wurden aber auch – zu Recht – der Soldatinnen und Soldaten, die freiwillig zusätzlichen Fragen der Betreuung sowie des Soldatenversor gungs- Wehrdienst leisten, und der so genannten qualifizierten rechts angesprochen. Genau dies sind auch aus Sicht des Unfallversorgung der Berufssoldatinnen und -soldaten Verteidigungsministeriums die Themenbereiche, die der ausgeglichen werden. besonderen Beachtung bedürfen und bei denen es gilt, für weitere Verbesserungen Sorge zu tragen. Viertens: attraktives Laufbahn- und Beförderungs- angebot. Dies ist für die künftige Stimmungslage in der Ich will kurz fünf Schwerpunkte ansprechen. Truppe – wer wollte das bestreiten – von erheblicher Be- deutung. Der Wehrbeauftragte beschreibt in seinem Be- Erstens: Familienbetreuung. Der Familienbetreuung richt sehr zutref fend, wie die Motivation durch ein at- kommt eine große Bedeutung zu. Deshalb hat der Bun- traktives Laufbahn- und Beförderungsangebot bestimmt desminister der Verteidigung im ver gangenen Jahr die wird. Dem haben wir durch das Attraktivitätsprogramm ersten zehn Familienbetreuungszentren mit hauptamtli- Rechnung getragen, dessen Nebenwirkungen nicht so chem Personal ausgestattet und damit für eine weiter drastisch sind, wie Sie es möglicherweise – das tun Sie verbesserte Betreuung der Soldatinnen und Soldaten sonst nicht, Frau Kollegin – aus politischer Absicht dar- Sorge getragen. Unsere Absicht ist – das wissen Sie –, stellen. 31 Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichen Mit- arbeitern aufzubauen. Die positiven Rückmeldungen der Denn wir haben hier spür bare Beförderungsmöglich- Teilnehmenden im Einsatz und der betroffenen Familien keiten eingeleitet, insbesondere auch bei den Feldwebel- machen deutlich, dass die Familienbetreuungszentren dienstgraden. Sie wissen, dass wir durch die Bündelung 3062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) der Dienstposten etwas W ichtiges für die Vereinbarkeit Elbeflut ist die Bundeswehr wieder mehr in das Licht der (C) von Familie und Beruf getan haben. Es ist beabsichtigt, Öffentlichkeit geraten – und damit natürlich auch der alle Oberfeldwebel, die im Zusammenhang mit den Be- Bericht des W ehrbeauftragten. Herr Dr . Penner, ich förderungen zum Haupt- oder Stabsfeldwebel nach einer möchte Ihnen und Ihren Mitarbeitern für die Erstellung Verwendungsentscheidung vor dem 1. April 2002 im dieses Berichts und auch für die Offenheit in der Bewer- Zuge der weiteren Bündelung noch nicht befördert wor- tung danken. den sind, im Rahmen der Planstellen des Haushaltes 2003 zu befördern. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fünftens: Soldatengleichstellungsgesetz und T eil- zeitarbeit. Die Erarbeitung eines Soldatengleichstel- Um es vorweg zu sagen: Wie ein roter Faden zieht es lungsgesetzes und das Ausloten von Möglichkeiten für sich durch den Bericht, dass Soldaten, Soldatinnen und Teilzeitarbeit treiben wir mit Nachdruck voran. Der Ent- ihre Familien bei aller Notwendigkeit zu Reformen wurf eines Soldatengleichstellungsgesetzes ist auf dem Planungssicherheit und Verlässlichkeit – auch bezüg- Weg. Auch die Teilzeitarbeit ist Gegenstand ernsthafter lich der Äußerungen des Bundeskanzlers und der Kabi- interministerieller Überlegungen mit dem Ziel, unver- nettsmitglieder – wollen. W as sie nicht brauchen – wir züglich – Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben sich sehr alle übrigens nicht –, ist das System: Interview, Dementi, intensiv mit dieser Angelegenheit beschäftigt – eigene Gegeninterview, so wie kürzlich beim Thema Finanzaus- und sehr konkrete Vorstellungen zur Umsetzung zu for- stattung geschehen. mulieren. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das ist Abschließend ist es mir ein Anliegen, nicht nur grund- wohl wahr!) sätzlich, sondern auch aus Sicht des Bundesministeriums Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch das der Verteidigung auf die innere Führung einzugehen: Interview des Umweltministers zur Reform der Bundes- Die innere Führung verharrt nicht im Stillstand, sondern wehr usw.; es sei denn, er will das Dosenpfand am Hin- folgt den Forderungen des Generals de Maizière, dass – dukusch einführen. so hat auch der Herr W ehrbeauftragte heute seinen Be- richt eingeleitet – „der veränderte Auftrag der Bundes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wehr, aber auch das Lebensgefühl und die Lebenswirk- lichkeit richtungsweisend und bestimmend“ für die Entgegen den Behauptungen mancher böser Zungen, Ausgestaltung der inneren Führung sind. beim Wehrbeauftragten werde sich nur ausgeheult und geklagt, ohne zu leiden, sehen wir eine Bestandsauf- Das Leitbild von der Rolle des Staatsbürgers und der nahme, wie es um unsere Bundeswehr bestellt ist. Un- (B) Staatsbürgerin in Uniform behält auch unter den Bedin- sere Soldaten sind leistungswillig und leistungsfähig. (D) gungen einer Bundeswehr im Einsatz unverändert seine Wir können zu Recht stolz auf sie sein. zentrale Bedeutung. Soldatinnen und Soldaten sind im- mer und gerade in diesen herausfordernden und für sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) besonders schwierigen Zeiten als politisch denkende und Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zu handelnde Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefordert. stellen, die im Bericht des W ehrbeauftragten angespro- In diesem Zusammenhang ist der herausragende Stel- chen werden. Seit Bestehen des Amtes hat es gemessen lenwert des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta- an der T ruppenstärke noch nie eine so hohe Zahl von ges zu sehen. Diesen Stellenwert haben wir in dem vor- Eingaben gegeben. liegenden Bericht nachvollziehen können. Er ist nicht (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE hoch genug einzuschätzen. Wir werden den Bericht auf GRÜNEN]: Bei dem traut man sich!) der Grundlage der Debatten im V erteidigungsausschuss und Ihrer heutigen Debattenbeiträge zeitgerecht mit unse- Es gibt viele Gründe dafür: Die Bundeswehr befindet ren Ergebnissen versehen und können darüber im Deut- sich im Wandel – das wurde schon öfter angesprochen – schen Bundestag noch vor der Sommerpause debattieren. und dieser Wandel mutet den Soldaten viel zu. Auch des- Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. halb ist es an der Zeit, dass die jetzige Reform angegan- gen wird, damit sich endlich jeder darauf einstellen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kann, was passieren wird, und damit nicht schon nach DIE GRÜNEN) kurzer Zeit eine Reform der Reform notwendig wird oder – wie es so schön heißt – nachjustiert werden muss. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das schulden wir unseren Soldaten. Das Wort hat die Abgeordnete Helga Daub, FDP- (Beifall bei der FDP) Fraktion. Der Wehrbeauftragte hat natürlich Recht: Die Bun- deswehr ist ein Großtanker, der nicht beliebig zu manö- Helga Daub (FDP): vrieren ist, aber man muss ihm endlich eine Richtung ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ben. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird Herr Dr. Penner, seitdem die Bundeswehr in Auslands- der Handlungsbedarf besonders deutlich: Die Einsatz- einsätzen ist, und seit den Katastropheneinsätzen wie dauer von sechs Monaten ist zu lang, die Abstände zwi- seinerzeit beim Oderbruch oder im letzten Jahr bei der schen den Einsätzen sind zu kurz und der zugesagte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3063

Helga Daub (A) Mindestabstand von zwei Jahren zwischen zwei Aus- Im In- und Ausland erfüllen Soldaten aus den neuen (C) landseinsätzen kann nicht eingehalten werden. Bundesländern ihren Auftrag Seite an Seite mit ihren Kameradinnen und Kameraden aus den alten Bundeslän- Es gibt auch etliche Beschwerden über die Höhe der dern. Die Ost-West-Besoldungsdifferenz ist durch Auslandsverwendungszuschläge und über die man- nichts mehr gerechtfertigt. Sie wirkt demotivierend und gelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier diskriminierend und ist dahe r schnellstmöglich abzu- – wie in der Gesellschaft überhaupt – besteht auch bei schaffen. Für die Soldaten fordern wir dies vor 2007 und der Bundeswehr Handlungsbedarf; und das nicht erst seit 2009. die Bundeswehr für Frauen geöffnet ist. Der Wehrbeauf- tragte kommt zu Recht zu dem Schluss, es dürfe auf kei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen Fall eine Lage entstehen, in der sich der einzelne der CDU/CSU) Soldat zwischen den Belangen des Dienstherren einer- seits und seiner Familie andererseits entscheiden muss. Dem Verteidigungsminister glaube ich gerne, dass für ihn die Unterteilung in qualifizierte und nicht qualifi- Natürlich weiß der Zeit- und Berufssoldat, dass er zierte Unfälle genauso zynisch klingt wie für mich. Alle mobil und flexibel sein muss. Dass dies jedoch nicht Fraktionen haben im Januar im Verteidigungsausschuss überstrapaziert werden sollte, zeigt die im Bericht des festgestellt, dass das Versorgungsrecht entsprechend Wehrbeauftragten genannte Tendenz: Wegen der Dauer den neuen Anforderungen an die Bundeswehr geändert und der zunehmenden Häufigkeit der Auslandseinsätze werden muss. Der Minister versprach, entsprechende verzichten viele Soldaten nach Ablauf der V erpflich-Maßnahmen zu tref fen. Ich bitte ihn herzlich, dies tungszeit auf eine W eiterverpflichtung, verkürzen die schnell zu tun. Dienstzeit oder verzichten auf eine Übernahme als Be- rufssoldat. Das ist ein alarmierendes Signal für die At- (Beifall bei der FDP) traktivität der Bundeswehr. Abschließend möchte ich festhalten, dass sich in dem (Beifall bei der FDP) Bericht des W ehrbeauftragten Forderungen der FDP wiederfinden. Die in dieser W oche geäußerte Zustim- Hoch qualifizierte Kräfte gehen der Bundeswehr verlo- mung zu einem Entsendegesetz – das sagt man allge- ren, Motivation im Übrigen auch. Das ist schlecht, wenn mein; wir meinen eher ein Mitwirkungs- oder Beteili- die Bundeswehr eine gute Zukunft haben soll. gungsgesetz – ist ein guter Anfang. Den größten Anstieg der Eingaben verzeichnete der (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Bereich Personalfragen. Besonders hervorzuheben ist GRÜNEN]: Richtig!) der Beförderungsstau der Unteroffiziersdienstgrade. Es (B) ist natürlich löblich und vernünftig, dass jungen Feldwe- – Da Sie, Herr Nachtwei, gerade „Richtig!“ gerufen ha- (D) beln und Oberfeldwebeln ein attraktiver Beförderungs- ben, möchte ich Folgendes deutlich sagen: Ich meine, weg gezeigt wird; solange es der Qualifikation ent- heute Morgen einige seltsame Töne in der Regierungser- spricht, versteht sich. Es müsste sich jedoch von selbst klärung des Bundeskanzlers gehört zu haben. Wir möch- erklären, dass das nicht auf Kosten der Dienstälteren ge- ten ganz eindeutig feststellen: Für uns gilt das Primat des schehen darf, die sich dann natürlich übergangen fühlen. Parlamentsvorbehalts, wie groß oder wie klein ein Ein- Das ist sozialer Sprengstoff in der Truppe. satz auch sein mag. Das muss in der Debatte unstrittig sein. Dass diese Kritik ernst zu nehmen ist, zeigen die 3 000 Soldaten, die von der Vorruhestandsregelung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schon Gebrauch gemacht haben. 7 000 weitere Anträge der CDU/CSU – W infried Nachtwei [BÜND- konnten nicht berücksichtigt werden. Diese Zahlen las- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder richtig!) sen eindeutige Rückschlüsse auf die Berufsunzufrieden- – Dazu passt wunderbar mein Schlusssatz, Herr heit zu. Nachtwei: Lassen Sie uns gemeinsam Rechts-, Pla- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nungs- und politische Sicherheit für die Bundeswehr der CDU/CSU) schaffen. Es ist der frustrierte Berufssoldat, der immer mehr an Danke. seiner Berufung zweifelt. Hier muss sich endlich etwas (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ändern. Ich zitiere aus dem Bericht: Es sind die aktiven Soldaten, die durch ihre Einstel- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lung zum Dienst die Attraktivität der Streitkräfte aus- Nun hat der gerade angesprochene Kollege W infried machen. Zufriedene Soldaten sind gute Werbeträger. Nachtwei das Wort. Das gilt insbesondere für die noch ausstehende An- gleichung der Ost- an die Westbesoldung. Mein Kollege Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Günther Nolting hat die Situation in der Debatte über Herr Präsident! Sehr geehrter Herr W ehrbeauftragter, den Einzelplan 14 sehr plastisch geschildert. W ie soll lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man 100 Prozent Einsatz und 100 Prozent Motivation Der Jahresbericht des W ehrbeauftragten ist kein Zu- für nur 90 Prozent des Soldes einfordern? standsbericht; das ist uns bekannt, aber wahrscheinlich (Beifall bei der FDP) kaum in der Öf fentlichkeit. Er ist aber auch kein reiner 3064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Winfried Nachtwei (A) Mängelbericht, sondern ist zugleich ein Stimmungsbaro- Erstens geht es eben um diese Nachwuchsgewinnung. (C) meter und Problemindikator, der uns wesentliche Hin- Es gibt immer noch zu viele Klagen über die Arbeit von weise darauf gibt, was zu tun ist. Herr Penner , Zentren ich für Nachwuchsgewinnung und W ehrdienstbera- möchte Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern, zum Beispiel über zu lange Bearbeitungszeiten. Be- tern im Namen meiner Fraktion wieder herzlich für Ihre werberinnen bemängeln, ihnen würden nur die positiven Arbeit danken. Wenn ich das zum wiederholten Male Seiten des Bundeswehrdienstes dar gestellt, die beanspru- tue, dann ist das in keiner Weise ein Ritual, sondern ge- chenden und belastenden jedoch weniger. Weiterhin wird schieht aus voller Überzeugung. Wir danken Ihnen. gesagt, die Beratung erfolge oft nur bezogen auf den Be- darf der Truppe und es werde zu wenig auf neigungsge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechte Verwendungen eingegangen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Es wird immer deutlicher, dass die Verein- barkeit von Familie und Beruf in der Bundeswehr aus Der Bericht des Wehrbeauftragten beinhaltet auch po- zwei Gründen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist: sitive Nachrichten. Vor einigen Jahren waren wir sehr beunruhigt über die zunehmende Zahl der Meldungen Zum einen geschah dies durch den wachsenden Anteil über bestimmte besondere Vorkommnisse, nämlich über von Soldatinnen und Alleinerziehenden in den Streit- Ereignisse mit Verdacht auf rechtsextremen oder frem- kräften. In einer Studie der Bundeswehruni in Hambur g denfeindlichen Hintergrund. Hier gibt es die erfreuli- wurde festgestellt, dass einer familienorientierten Perso- che Entwicklung, dass zumindest die Zahl der Meldun- nalpolitik in der Bundeswehr in Zukunft eine außeror- gen dieser besonderen V orkommnisse von fast 200 in dentliche Bedeutung zukommt. Die Notwendigkeit der den Vorjahren auf 111 im letzten Jahr deutlich zurückge- Einsatzbereitschaft, des Dienstes in Schif fen und der gangen ist. Auslandseinsätze ist unstrittig. Trotzdem muss sich die Bundeswehr in T eilbereichen Gedanken um flexiblere Eine zweite gute Nachricht. Die Integration der Sol- Arbeitszeiten, Teilzeitbeschäftigung und Kinderbetreu- datinnen in die Bundeswehr ist besser gelaufen, als von ung machen. Skeptikern erwartet wurde. Zum anderen beeinträchtigen vor allem die Ausland- Drittens. Eine weitere sehr gute Nachricht ist – das seinsätze das Familienleben von Bundeswehrangehöri- wird von allen Kolleginnen und Kollegen so geteilt –, gen. Gerade in Familien mit kleinen Kindern sind die dass die durchschnittlich 9 000 Soldatinnen und Solda- Entfremdungsprozesse erheblich. Dauer und Häufigkeit ten, die sich in Auslandseinsätzen befinden, in jedem von Auslandseinsätzen mindern inzwischen die Bereit- (B) Monat entscheidend zur Gewalteindämmung und schaft von Soldaten, sich weiter zu verpflichten oder gar (D) Kriegsverhütung beitragen. Auch vor Ort genießen sie Berufssoldat zu werden. Die Stehzeit von sechs Monaten zu Recht hohes Ansehen. ist eines der Probleme, um dessen Lösung sich die Bun- desregierung bemüht. Ein anderes Problem sind die Fa- Schließlich ist positiv – das steht nicht im Bericht, ist milienbetreuungszentren. Von den zurzeit 19 Familien- aber für das Parlament sehr interessant –, dass wir so betreuungszentren verfügen bisher nur zehn über früh wie nie zuvor begonnen haben, diesen Bericht im hauptamtliches Personal. Nach den Angaben im Bericht Bundestag zu debattieren. ist die technische Ausstattung dieser Familienbetreu- ungszentren mit Kommunikationsmitteln usw . offen- Das Jahr 2002 war das erste Jahr der neuen großen Ein- sichtlich unzureichend. Diese Mängel müssen schnell sätze, nämlich der Einsätze in Kabul und im Rahmen der behoben werden. Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Das ging einher mit einer enormen Steigerung der Belastungen und Drittens nenne ich das Laufbahn- und Beförde- Risiken. Aber es schlug sich auch in einem enormen An- rungsangebot. Ein attraktives Laufbahn- und Beförde- stieg von Eingaben – die Zahl der Eingaben ist um fast rungsangebot ist entscheidend für die Motivation von 32 Prozent gestiegen – nieder. Auch wenn die gerade ge- Bundeswehrangehörigen. Hier gab es etliche Attraktivi- nannten Rahmenbedingungen sicherlich dazu beigetragen tätssteigerungen. Ihre W irkung ist aber of fenbar zwie- haben, so ist dieser Anstieg dennoch beunruhigend. spältig. Ich nenne ein Beispiel – andere sind vorher be- reits genannt worden –: Bei Unteroffizieren mit Portepee Zu Zeiten des Ost-W est-Konflikts war die Motivati- wurden die zeitlichen Mindestvoraussetzungen für Be- onslage für Bundeswehrangehörige noch relativ ein- förderungen zum nächsthöheren Dienstgrad verkürzt. fach. Mit den neuen Aufgaben, der neuen politischen Nun gibt es viel mehr Anwärter als Dienstposten. Hohe Unübersichtlichkeit und der Einsatzrealität sind die Erwartungen wurden geweckt. Mit der Umsetzung Rahmenbedingungen für Motivation und Einstellung kommt man jedoch nicht nach. der Bundeswehrangehörigen zumal angesichts des ho- hen Anspruchs von Staatsbür gern in Uniform kompli- Viertens komme ich zu den Wehrpflichtigen: Im zierter geworden. Berichtsjahr 2002 stellten insgesamt 189 644 W ehr- pflichtige einen KDV-Antrag. Das waren so viele wie Der Wehrbeauftragte spricht unter anderem folgende noch nie zuvor seit Bestehen der Bundeswehr . Der Problembereiche an, die die Motivation beeinträchtigen Wehrbeauftragte vermerkt den Zweifel von W ehrpflich- und Hindernisse für die Regeneration und Nachwuchs- tigen an der Wehrpflicht. Diese Zweifel werden vom rea- gewinnung der Streitkräfte sein können: len Wehrdienst offenbar noch befördert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3065

Winfried Nachtwei (A) Die 14. Shell-Jugendstudie brachte hierzu folgendes Darüber darf nicht routinemäßig debattiert werden, son- (C) Ergebnis: Junge Männer lehnen die W ehrpflicht dern zu das muss uns zum Nachdenken anregen. Damit 53 Prozent ab meine ich nicht nur die hier zitierten Ausstattungspro- bleme wie Bergstiefel, Rucksäcke oder Dichtungsringe. (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Dazu habt ihr maß- Bei diesen zwei Grundgedanken spielt die soziale Frage geblich beigetragen!) eine große und die Sinnfrage eine noch größere Rolle. – schauen Sie sich einmal die Umfragen der Jahre vor unserer Regierungszeit an; da gibt es keinen großen Un- Die soziale Frage ist immer auch eine Ost-West- terschied – und junge Männer, die den Wehrdienst abge- Frage. Solange Soldatinnen und Soldaten aus den neuen leistet haben, lehnen die W ehrpflicht zu 60 Prozent ab. schlechter als Soldatinnen und Soldaten aus den alten Das ist ein eklatanter Beleg dafür, dass die Wehrpflicht Bundesländern gestellt werden, so lange geht es unge- gerade für die betrof fene Bevölkerungsgruppe nichtrecht zu. mehr verständlich und plausibel gemacht werden kann. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Ich denke, mit Behauptungen über die Alternativlosig- onslos]) keit der Wehrpflicht ist das nicht wegzuwischen. Sie wissen, dass ich nicht über Milliardenaufwendungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rede. Vielmehr wären mehrere Millionen Euro nötig, um Bundeswehrsoldaten – ich glaube, darüber herrscht diese Gerechtigkeitslücke zu schließen. Diese ungelöste wieder völliger Konsens – sind keine Söldner. Der Wehr- soziale Frage hat übrigens – das ist makaber – eine Hin- beauftragte betont die Erwartung der Soldaten, dass Aus- tertür: Wer in den Krieg zieht, ist plötzlich nicht nur vor landseinsätze rechtlich einwandfrei sein müssen. Diese Gott, sondern auch vor dem Soldmeister gleichwertig: Erwartung wird von den Soldaten vor allem vor dem gleicher Lohn für gleiche Gefahr oder gar T od? Ich Hintergrund der Irakkrise bzw . des jetzt stattfindenden finde, das ist ein schlimmes Motto. Irakkrieges formuliert, der ohne UN-Mandat begonnen Damit bin ich bei der Sinnfrage. Immer mehr Wehr- wurde. Weitere Zweifel ergeben sich im Zusammenhang pflichtige verweigern den Zwangsdienst. Immer weni- mit dem Afghanistan-Einsatz, bei dem Bundeswehran- ger sind bereit, neuen Militärstrategien zu folgen. Sie gehörige möglicherweise zur V erhaftung von Personen wollen nicht im Dienste einer Politik stehen, die Kriege beitragen, die im amerikanischen Gewahrsam of fenkun- im Zweifelsfall für legitim hält und das Völkerrecht für dig nicht strikt nach dem Völkerrecht behandelt werden. störend. Das Machtgebaren der USA schreckt ab und Bundeswehrangehörige zeigen mit diesen Erwartun- auf. Schauen Sie sich an, wer in diesen Tagen demons- gen ein klares Rechtsstaatsbewusstsein und erweisen sich triert: Das sind jene, die Sie demnächst gerne in der Bun- (B) damit als Staatsbürger in Uniform. Das gehört zu den viel deswehr haben wollen. Diese Jugendlichen haben gut (D) zu wenig wahrgenommenen po sitiven Nachrichten dieses zugehört, als Herr Schäuble für die CDU/CSU im No- Berichtes. Diese Haltung ist zugleich Verpflichtung für vember im Bundestag von Präventivkriegen redete, die die Politik der Bundesregierung und der Koalition. Der zu führen seien. Aber sie vernehmen auch, wenn Bun- Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungser- desminister Struck verkündet, die Verteidigung der Bun- klärung dazu eindeutig Stellung genommen. desrepublik finde am Hindukusch statt. Diese Jugend- lichen merken auf, wenn selbst Bündnis 90/Die Grünen Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung ste- die Bundeswehr und Europa hochrüsten wollen. hen für eine Politik der umfassenden, gemeinsamen und friedlich-vorbeugenden Sicherheit, eine Politik im Rah- Für die PDS im Bundestag ist die Sinnfrage der men der Charta der Vereinten Nationen. Rot-Grün steht NATO mitnichten beantwortet, jedenfalls nicht positiv . für die Stärkung der V ereinten Nationen und die Stärke Eine zivile Welt braucht andere, neue Instrumente, um des Rechts. Ich meine, dies ist gerade angesichts des Konflikte zu mindern und zu lösen. Darüber ist ange- Irakkrieges und der gegenwärtigen Verwilderung der in- sichts des völkerrechtswidrigen Angrif fskrieges gegen ternationalen Sitten zu betonen. den Irak, aber auch anhand des vorliegenden Berichts des Wehrbeauftragten zu reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es Sie wundern – aber ich meine das ganz ernst –, wenn ich sage: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Penner und seine Mitarbeiter haben eine gute Arbeit gemacht; sie haben eine wichtige Aufgabe. Das ist kein Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Pau. Widerspruch zu dem, was ich eben vorgetragen habe. Es ist richtig, dass die PDS die W ehrpflicht abschaffen Petra Pau (fraktionslos): möchte. Wir wollen das Militärische zurückdrängen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Aber auch für die Soldatinnen und Soldaten gilt: Solange greife zwei Aussagen aus dem Bericht des W ehrbeauf- es sie und ihren Beruf gibt, müssen sie gerecht behandelt tragten für das Jahr 2002 heraus, und zwar nicht irgend- werden. Damit es gerechter zugeht, dafür leistet auch der welche, sondern die meines Erachtens wesentlichen: Wehrbeauftragte einen wichtigen Beitrag. a) Die Zahl der Beschwerden von Soldatinnen und Sol- Danke schön. daten hat zugenommen; b) zugenommen hat auch die Verunsicherung von Soldatinnen und Soldaten. Die PDS (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- im Bundestag findet: Das muss ernst genommen werden. onslos]) 3066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mehr auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein- (C) Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Evers-Meyer, stellen muss. Sie wird ihr Angebot von der Teilzeitarbeit SPD-Fraktion. bis hin zur Kinderbetreuung weiter verbessern müssen. Im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr werden Auslandseinsätze zunehmend das gesamte Berufsleben Karin Evers-Meyer (SPD): der Soldaten begleiten. Diese Einsätze sind gleicherma- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ßen eine Belastung für die Familien daheim als auch für Sehr verehrter Herr W ehrbeauftragter! Die öf fentliche die Soldaten in den Einsatzgebieten. Gerade Familien Debatte über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist mit kleinen Kindern haben darunter zu leiden, wie wir gute Tradition in diesem Hause. Die Sor gen und Pro- gehört haben. Im Bericht lesen wir von Entfremdung, bleme unserer Soldatinnen und Soldaten gehen uns alle Verlustängsten und Eifersucht, aber auch von zahl- an. reichen zerbrochenen Partnerschaften. Natürlich weiß je- der Soldat und jede Soldatin, worauf er bzw. sie sich bei Ich möchte auch an dieser Stelle mit dem Dank an den der Wahl dieses Berufes einlässt. Soldaten müssen flexi- Wehrbeauftragten Willfried Penner und seine Mitarbei- bel einsetzbar sein. Die Politik hat jedoch die unbedingte terinnen und Mitarbeiter beginnen und ihm ausdrücklich Pflicht, auch die Belastungen so gering wie möglich zu im Namen meiner Fraktion für seine Arbeit danken. halten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall der Abg. Helga Daub [FDP]) DIE GRÜNEN) Die SPD nimmt diese Pflicht sehr ernst. Denn zur Sie leisten einen wichtigen Beitrag für das Ansehen un- Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber den Soldaten serer Streitkräfte in der Bevölkerung. Auch international gehört auch die Betreuung ihrer Familien. Der Aufbau gesehen ist die Institution des Wehrbeauftragten immer der Familienbetreuungszentren muss weiter vorange- noch einzigartig. Sie sind Ga rant dafür, dass die Sorgen trieben werden. Die bestehenden Betreuungseinrichtun- und Nöte unserer Soldatinnen und Soldaten an uns unge- gen müssen personell und materiell in ausreichender filtert herangetragen werden. Weise ausgestattet werden. Der Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gibt einen breiten Einblick sowohl in den Alltag unserer DIE GRÜNEN sowie der Abg. Helga Daub Soldatinnen und Soldaten als auch in die innere Lage der [FDP]) Bundeswehr insgesamt. In diesem Bericht ist nichts schöngefärbt. Er ist ein Mängelbericht, der aber nicht Das ist leider immer noch nicht an allen Stellen möglich. Wir müssen an dem Ziel festhalten, dass keiner der zu (B) – darüber sind wir uns alle einig – auf die Bundeswehr (D) als Ganzes übertragen werden kann. Einigkeit sollte aber Betreuenden mehr als 100 Kilometer zu einem Familien- auch darüber herrschen, dass der vor gelegte Bericht an betreuungszentrum zurücklegen muss. Insgesamt wer- vielen Stellen Anlass zum Handeln gibt. den 31 Familienbetreuungszentren mit jeweils fünf Mit- arbeitern angestrebt. Gerade letzte Woche war ich auf einer dreitägigen In- formationsreise bei der Marine. Dabei hatte ich die Gele- Im Rahmen von Auslandseinsätzen müssen Einsatz- genheit, mit Soldatinnen und Soldaten vor Ort zu spre- dauer und Regeneration für unsere Soldatinnen und Sol- chen. Ich bin auf eine hoch motivierte und gut daten in ein vertretbares Verhältnis gebracht werden. Bei ausgebildete Truppe getroffen, die jedoch zu Recht er- der Marine konnte ich zum Beispiel feststellen, dass es wartet, dass ihre Sor gen ernst genommen werden. Die durchaus zu zwei sechsmonatigen Einsätzen innerhalb Soldatinnen und Soldaten können erwarten, dass wir uns von zwei Jahren kommt. nach der Vorlage dieses Berichts nicht allein in gesell- Eine Veränderung bewirken wir sicherlich nicht von schaftspolitischen Gesamtbetrachtungen verlieren, son- heute auf morgen. Wir werden uns daher erst einmal für dern alsbald auch konkrete Lösungsvorschläge auf den eine Zwischenlösung einsetzen. Denkbar wäre zunächst Tisch legen. eine Einsatzdauer von drei Monaten mit einer Ruhezeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von einem Jahr. Mittelfristig muss die Struktur, vor al- DIE GRÜNEN) lem des Heeres, so geändert werden, dass die Einsatz- dauer auf vier Monate bei einer zweijährigen Regenera- Die SPD hat das bis heute getan und wird das auch tionszeit beschränkt wird. weiter tun. Ich will mich hier in der Kürze der Zeit auf Dies kann nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Katalog ein Themenfeld beschränken, das in besonderem Maße der Problemstellungen und Lösungsvorschläge sein. Im an mich herangetragen wurde, das aber auch im Bericht Zuge der konsequenten Weiterentwicklung der Bundes- des Wehrbeauftragten eine gewichtige Rolle spielt. Es wehrreform werden die im Bericht des Wehrbeauftragten geht um die Vereinbarkeit von Familie und Soldaten- angesprochenen Bereiche jedoch weiter angemessene beruf. Das ist ein zentrales Thema sowohl für die Moti- Berücksichtigung finden. vation der Truppe als auch für die Motivation derjeni- gen, die sich einmal für den Soldatenberuf entscheiden Vielen Dank. könnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In dem Bericht wird zu diesem Komplex mit Recht DIE GRÜNEN sowie der Abg. Anita Schäfer festgestellt, dass sich die Bundeswehr in Zukunft noch [Saalstadt] [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3067

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gungsminister, der leider während dieser Diskussion (C) Frau Kollegin Evers-Meyer, das war Ihre erste Rede nicht anwesend ist, auf, im Zusammenhang mit diesem im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen Thema endlich Klarheit zu schaffen. des ganzen Hauses herzlich gratuliere. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall) Helga Daub [FDP]) Ich erteile nun das W ort der Abgeordneten Ursula Einer der Punkte, die sich mit schöner Regelmäßig- Lietz, CDU/CSU-Fraktion. keit wiederholen, ist die Klage des Wehrbeauftragten, dass der Zugriff auf das Intranet der Bundeswehr nicht möglich sei. Das geht uns genauso, Herr Dr. Penner. Seit (CDU/CSU): Ursula Lietz Jahren versuchen wir, Informationen über dieses System Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! der Bundeswehr zu bekommen. V orschriften, die nur Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mittlerweile ein noch über das Intranet verbreitet und veröffentlicht wer- guter parlamentarischer Brauch, dass wir einmal jährlich den, stehen uns somit nicht zur V erfügung. Man fragt über den Bericht des W ehrbeauftragten diskutieren und sich schon, ob sie nicht zur V erfügung gestellt werden uns mit den Nöten und Sor gen der Soldaten der Bundes- sollen und, wenn ja, warum nicht. Allerdings haben die wehr, die ja eine Parlamentsarmee ist, befassen. Wir blicken meisten von uns – meine Damen und Herren Kollegen übrigens – das erscheint mir erwähnenswert – auf eine aus dem Verteidigungsausschuss, ich denke, es geht Ih- 44-jährige Tradition zurück; denn seit 1959 gibt es das nen genauso – einen kleinen Dienstweg gefunden, auf Beschwerderecht der Soldaten und das Amt des Wehrbe- dem wir uns auf andere Art und W eise die Berichte im auftragten. Intranet verschaffen können. Trotzdem ist das nicht be- Seit fünf Jahren bin ich im Bundestag und habe in friedigend. dieser Zeit festgestellt, dass es auch die eher unerfreuli- Die personellen Engpässe im Sanitätswesen möchte che Tradition gibt, dass sich die Beschwerden wiederho- ich hier besonders hervorheben. Es fehlen nicht nur Sa- len, dass sie nicht immer ernst genommen und deswegen nitätsoffiziere, sondern mittlerweile auch Unteroffiziere. nicht bearbeitet werden. So gab es im Berichtsjahr Dabei hat das Sanitätswesen der Bundeswehr internatio- 2002 – das ist schon erwähnt worden – insgesamt 6 436 nal einen exzellenten Ruf. Wir sind Medical Lead Nation gemeldete Vorgänge. Das sind 32 Prozent mehr Be-in multinationalen Einsätzen. Mit diesem Pfund sollten schwerden als ein Jahr zuvor. wir sehr viel mehr wuchern, als wir das bisher getan ha- Ich bin im Gegensatz zu Ihnen, Herr Nachtwei, nicht ben. Wir haben damit aber auch einen guten Ruf zu ver- lieren. Wenn, wie eben beschrieben, die Tagesantritts- (B) der Meinung, dass diese Zunahme nur darauf zurückzu- (D) führen ist, dass sich die Soldaten, wie Sie eben ausge- stärke zwischen 40 und 60 Prozent bzw. möglicherweise führt haben, bei dem derzeitigen Wehrbeauftragten eher sogar noch darunter liegt und wenn ein T ruppenarzt trauen, sich zu beschweren. Das hat andere Gründe, die heute 1 000 statt wie früher 400 Soldaten betreuen muss, Sie teilweise auch schon selber dargelegt haben. dann sind die Betreuung der T ruppe in vollem Umfang und die Qualität der Versorgung nicht mehr gewährleis- (Beifall der Abg. Christa Reichard [Dresden] tet. Im Inland herrscht Facharztmangel. W ir stellen fest, [CDU/CSU]) dass in Bundeswehrkrankenhäusern Operationssäle ge- schlossen und dass Operationen sehr kurzfristig abgesagt Ich schlage vor, uns in Zukunft einmal im Jahr einen werden müssen. Das alles muss für uns ein böses Alarm- Sachstandsbericht des Verteidigungsministeriums vorle- zeichen sein. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wie gen zu lassen, mir führende Anästhesisten, mit denen ich gesprochen (Zurufe von der SPD: Den kriegen wir doch!) habe, bestätigt haben. in dem die Punkte, die der Wehrbeauftragte angeprangert 2 689 Bewerber für den Beruf des Arztes in der Bun- hat, angesprochen werden, und uns mitteilen zu lassen, deswehr gab es im Jahre 1999. Im Jahre 2002 waren es wie viel davon abgearbeitet worden ist. Das findet der- nur noch 1 398. 50 Prozent weniger Interesse am Beruf zeit nicht in dem Maße statt, wie ich mir das wünsche. des Sanitätsoffiziers in der Bundeswehr in drei Jahren! Das ist für mich eine erschreckende Zahl. (Beifall bei der CDU/CSU) (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr Der Zustand, der hier besprochen worden ist, zeigt, wahr!) dass in der Bundeswehr einiges im Ar gen liegt. Wer das verhehlt, nimmt die Soldaten nicht ernst, Herr Kolbow . Im letzten Jahr konnten zum ersten Mal nicht alle Studi- Sie haben eine Bundeswehrreform auf den W eg ge- enplätze für Medizin, die der Bundeswehr zur Verfügung bracht. Kaum, dass sie auf den Weg gebracht worden ist, gestellt werden, besetzt werden. Das ist ebenfalls ein stellt der nächste V erteidigungsminister fest, dass sie Zeichen für die sinkende Attraktivität speziell des Sani- nicht ausreicht. Er kündigt erst für Ende Februar , dann tätsdienstes. Auch die Anzahl der Anträge von Sanitäts- für Ende März und nun für Ende April verteidigungspo- offizieren auf Übernahme in die Laufbahn des Berufs- litische Richtlinien an. In der Zwischenzeit fragen sich soldaten ist rückläufig. Aufgrund einer völlig verfehlten viele Soldaten, an welchen Stellen die Kürzungen erfol- Gesundheitspolitik in diesem Land verpassen wir die gen werden. Weil das niemand weiß, herrscht Unsicher- Chance, jungen Medizinern eine Perspektive in der Bun- heit in der T ruppe. Deshalb fordere ich den V erteidi-deswehr zu geben. Stattdessen gehen die jungen deut- 3068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Ursula Lietz (A) schen Ärzte ins Ausland. Man trif ft sie zum Beispiel, halb der Bundeswehr eine Einrichtung, die so verkom- (C) wenn man große Kliniken und Universitäten in Belgien men wie dieses Krankenhaus in Rajlovac war, gibt. Wir und in den Niederlanden besucht. Wir bilden sie aus und haben gemeinsam im Verteidigungsausschuss beschlos- dann haben andere Länder den Nutzen. Ich finde das sen, einen Neubau anzuregen. schade; denn ein junger deutscher Arzt könnte ein gute Wiederum durch den Bericht eines vor Ort tätigen Perspektive in der Bundeswehr haben. Soldaten haben wir feststellen müssen, dass der Neubau Ich wünsche mir ein wirksames Attraktivitätspro- dieses Krankenhauses stockt, und zwar aufgrund einer , gramm speziell für das Sanitätswesen, das ich gerne zu- wie ich finde, unverantwortlichen Blockade des Finanz- sammen mit dem in das neue Amt berufenen Inspekteur ministers. des Sanitätswesens auflegen würde. Ich kann ihm nur ( [SPD]: Das stimmt doch nicht unsere Sympathie bezeugen und wünsche ihm eine mehr!) glückliche Hand und alles Gute für seine neue Aufgabe. – Es ist ganz genau so. – Mittlerweile soll das Ganze auf Wenn aber Fachärzte und solche, die es werden wol- den Weg gebracht sein. len, immer häufiger Auslandseinsätze mitmachen müs- sen, dann ist auch die Kontinuität der Facharztausbil- Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz das Schicksal dung gefährdet, das heißt, junge Ärzte absolvieren der Soldaten ansprechen, die aufgrund ihrer früheren Tä- möglicherweise keine Facharztausbildung, weil sie zu tigkeit im Radarbereich einer Strahlenexposition ausge- oft in den Einsatz müssen. Das gefährdet das System der setzt worden sind. Dazu wird es zunächst einen Bericht Ausbildung in den Bundeswehrkrankenhäusern und da- geben. Ich werde dazu hier zum entsprechenden Zeit- mit einmal mehr die Attraktivität des Sanitätsdienstes. punkt sicherlich noch einmal Stellung nehmen. Ich hoffe Das sind die warnenden W orte, die mir bei Besuchen nur, dass dieser Bericht keine Wiederholung des Berich- von Bundeswehrkrankenhäusern immer wieder ans Herz tes sein wird, den wir aus dem Verteidigungsministerium gelegt werden. Die Häufigkeit der Auslandseinsätze und bekommen haben. die Einsatzdauer im Allgemeinen sind immer wieder Ich bin Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeitern Thema. für das, was Sie geleistet haben, sehr dankbar . Ich be- Herr Staatssekretär Kolbow hat eben gesagt, dass man danke mich für die wirklich gute Zusammenarbeit hier weiterhin auf sechs Monaten bestehen müsse. Herr Ver- und im Verteidigungsausschuss. teidigungsminister Struck hat vor einiger Zeit gesagt, dass Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir zugehört haben. er darüber nachdenke, dort, wo es möglich ist, auf eine Einsatzzeit von vier Monaten zurückzugehen. Ich halte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) eine allgemeine Flexibilisierung für die bessere Lösung. (D) Das tun auch die Soldaten. Man kann das Ganze – viele Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Generäle im Ausland tun das bereits – sehr viel flexibler Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rolf Kramer, gestalten, als es zum jetzigen Zeitpunkt geschieht. SPD-Fraktion. Im Sanitätsbereich, in dem Spezialisten immer wieder zum Einsatz kommen, hilft das allerdings nicht mehr. Ich Rolf Kramer (SPD): bin fest davon überzeugt, dass wir im Laufe der Zeit zu Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr der Einsicht kommen müssen, dass einfach mehr Ärzte verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und eingestellt werden müssen, was durch ein Attraktivitäts- Kollegen! Wie im Bericht des W ehrbeauftragten richti- programm ermöglicht werden sollte. gerweise festgestellt wird, befindet sich die Bundeswehr Das Vertrauen verspielt man auch – ich spreche die- nach wie vor in einem „V eränderungsprozess, der alle sen Fall zum ersten Mal an –, wenn einem Vater falsche Bereiche vom Auftrag über die Struktur bis hin zur Aus- und mangelhafte Berichte über den Tod seines Sohnes rüstung erfasst“. Ich werde näher auf jene Passagen des im Kosovo vor drei Jahren gegeben werden. Ich habe Berichts eingehen, die sich, erstens, mit dem Personal, diese Familie drei Jahre lang begleitet. V or einigen Mo- also mit den Soldatinnen und Soldaten, befassen und die naten habe ich an Verteidigungsminister Struck in dieser sich, zweitens, auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr Angelegenheit einen Brief mit der Bitte um ein vertrauli- beziehen. ches Gespräch geschrieben. Von ihm persönlich habe ich Der grundlegende personelle Strukturwandel, den bis heute weder eine Bestätigung des Eingangs dieses die Bundeswehr zu bewältigen hat, wird an folgenden Schreibens bekommen noch das Angebot zu einem Ge- Zahlen deutlich: Im Jahre 2002 dienten durchschnittlich sprächstermin. Ich möchte dieses Gespräch führen, da- 295 000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr . mit diese Familie endlich zur Ruhe kommt. Ich bedaure, Die Zielstärke nach dem Pe rsonalstrukturmodell 2000 dass das bis jetzt nicht der Fall ist. beträgt 285 000 Dienstposten, ausgehend von 335 000 in den 90er-Jahren. Einen weiteren Beweis für die Notwendigkeit der Insti- tution des Wehrbeauftragten ist das Lazarett in Rajlovac. Die besondere Dramatik des personellen Umbaus Nur weil ein vor Ort tätiger Soldat den Wehrbeauftragten wird an den folgenden Zahlen deutlich: Der Anteil der informiert hat, haben wir überhaupt von den schreckli- Grundwehrdienstleistenden sinkt nach dem Personal- chen Zuständen im dortigen Krankenhaus erfahren. Ich strukturmodell von 105 000 auf 53 000 – er wird sich habe es zuvor nicht für möglich gehalten, dass es inner- also halbieren –, während es im Bereich der Unterof fi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3069

Rolf Kramer (A) ziere und der Offiziere, bezogen auf den Istbestand von waren bisher fast 100 000 Soldatinnen und Soldaten im (C) Anfang 2002, eines notwendigen Aufwuchses von Auslandseinsatz, im ver gangenen Jahr ungefähr 9 000 20 000 Unteroffizieren und fast 1 200 Offizieren bedarf. pro Monat. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Si- tuation und Diskussion wird allein daran deutlich: W ir Die Bundeswehr benötigt gut ausgebildete, hoch mo- leisten unseren Anteil an völkerrechtlich eindeutig legiti- tivierte Frauen und Männer in allen Tätigkeitsbereichen. mierten Einsätzen für die friedliche Entwicklung auf die- Gerade im Bereich der Zeit- und Berufssoldaten konkur- sem Globus. Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen riert die Bundeswehr mit der W irtschaft. Damit sichihre häufig gefährlichen Aufgaben vorbildlich und mit Frauen und Männer für eine Tätigkeit bei der Bundes- hoher Professionalität. wehr entscheiden, muss eine besondere Attraktivität ge- boten werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das von der Bundeswehr beschlossene Programm CDU/CSU) zur Attraktivitätssteigerung sieht unter anderem fol- gende Einzelmaßnahmen vor: Die neue Laufbahn der Nimmt man alle Einsätze, die entweder durch die NATO Fachunteroffiziere wurde eingeführt. Bei der Feldwebel- oder durch die Vereinten Nationen legitimiert sind, und laufbahn wurden die Posten eines Feldwebels des Trup- sieht man vom gegenwärtigen Irakkrieg einmal ab, dann pendienstes und eines Feldwebels des Fachdienstes ein- stellt die Bundeswehr weltweit das zweitgrößte Kontin- gerichtet. gent. Bei der Laufbahn der Feldwebel hat sich durch die Es ist vollkommen klar, dass sich die Soldatinnen und Verkürzung der zeitlichen Mindestvoraussetzungen um Soldaten immer sicher sein müssen, dass sie ihren Dienst ein Jahr und der Bündelung der meisten Dienstposten so- auf rechtlich einwandfreien Grundlagen leisten. Dies gilt wie der Anhebung von mehr als 1 400 Stellen von A 8 im Inland wie im Ausland. Für diese Bringschuld des nach A 9 einerseits der Beförderungsstau entspannt. An- Parlaments steht die Koalition ein. Das Bundesverfas- dererseits erfüllen jetzt wesentlich mehr Oberfeldwebel sungsgericht hat in seiner letzten Entscheidung die Posi- die Mindestvoraussetzungen für eine Beförderung zum tion der Regierung und der sie tragenden Parteien ge- Hauptfeldwebel. Dass sich, bedingt durch diese Ände- stützt. rungen und die damit verbundene Attraktivitätssteige- rung für die Laufbahn insgesamt – dies betone ich –, in Mit besonderem Interesse habe ich die Ausführungen Einzelfällen auch individuell empfundene Benachteili- des Wehrbeauftragten zurinneren Führung gelesen. gungen ergeben können, ist evident. Seine Schlussfolgerung, „das Prinzip der inneren Füh- rung hat sich auch bei Auslandseinsätzen bewährt“, kann (B) Mit der Bündelung der Dienstposten sind für die Sol- uneingeschränkt unterstützt werden. Der Bundestag hat (D) datinnen und Soldaten sowie für ihre Familien erhebli- durch die Einsetzung des Unterausschusses „Innere Füh- che Vorteile verbunden; denn jetzt kann ein Feldwebel rung“ entschieden, sich vor dem Hintergrund der gewan- auf seinem Dienstposten bis hin zum Stabsfeldwebel be- delten Aufgaben der Bundeswehr intensiv mit den fördert werden, ohne versetzt werden zu müssen. Grundlagen der inneren Führung auseinander zu setzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dass auch in Zukunft die tragenden und bewährten DIE GRÜNEN) Grundsätze der inneren Führung weiter gelten, muss nicht besonders betont werden. In der Laufbahn der Offiziere sind durch die Weisung des Verteidigungsministers Kompaniechefs jetzt in die Meine sehr verehrten Damen und Herren, der W ehr- Besoldungsgruppe A 12 eingestuft. Damit waren insge- beauftragte klassifiziert seinen Bericht folgendermaßen: samt 1 760 Planstellenanhebungen von A 11 nach A 12 Auch dieser Bericht ist der Natur der Sache nach verbunden. ein Mängelbericht; er spiegelt also nicht den Zu- Die positiven W irkungen des Attraktivitätssteige- stand der Bundeswehr insgesamt wider. Der Bericht rungsprogramms sind unter anderem an den stark gestie- gibt Erkenntnisse wieder , die aus Eingaben von genen Bewerberzahlen für die Laufbahnen der Feldwe- Soldaten, Gesprächen mit Soldaten und anderen Er- bel, der Unteroffiziere und der Mannschaften abzulesen. kenntnisquellen gewonnen wurden. Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gilt Dem ist nichts hinzuzufügen. Dieser Bericht gibt uns für unser Dank für ihre aktive Mitarbeit bei den notwendi- die Zukunft Handlungsanleitungen für die Bereiche, in gen Strukturveränderungen. denen es Mängel zu beseitigen gilt, zeigt uns aber in ers- ter Linie, dass die Bundeswehr auf dem richtigen W eg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist. DIE GRÜNEN) Wir bedanken uns bei allen, die durch ihren Einsatz Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme den Frieden auf dieser Welt ein wenig sicherer machen, nun zu einem weiteren Aspekt im Bericht des W ehrbe- und ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. auftragten, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr . Gerade an diesen Auslandseinsätzen wird der W andel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz – ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nauer gesagt: im Friedenseinsatz – deutlich. Insgesamt CDU/CSU) 3070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gang hat, auch wenn sie nicht veröffentlicht werden. Ge- (C) Ich gratuliere auch Ihnen, Herr Kollege Kramer, herz- spräche mit Soldaten haben mir deutlich gemacht, dass lich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und die Motivation im Einsatz ganz entscheidend von der Fa- verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere milienbetreuung zu Hause und den Möglichkeiten, mit- parlamentarische Arbeit. einander zu kommunizieren, abhängt. (Beifall) Ich bin froh, dass erkennbar zunehmend die Meinung vorherrscht, dass Familienbetreuung kein weiches Nun hat das Wort die Abgeordnete Christa Reichard, Thema ist, kein „Gedöns“, wie der Bundeskanzler zu sa- CDU/CSU-Fraktion. gen pflegte, sondern ein zentrales Feld der Fürsor ge für die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familien. Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr Meine Damen und Herren, haben Sie sich schon ein- verehrten Damen und Herren! Dem Dank des Hauses an mal klar gemacht, was die lange und häufige T rennung Sie, Herr W ehrbeauftragter,und an Ihre Mitarbeiter gerade bei Familien mit kleinen Kindern bedeutet und schließe ich mich natürlich an. Ich finde es besonders wie die Berichterstattung in den Medien auf die Angehö- gut, dass Sie mit vielen Besuchen bei der Truppe vor Ort rigen der Soldatinnen und Soldaten wirkt? Viele Frauen in deren Situation Einblick nehmen und diese dadurch fühlen sich überfordert, die Kinder alleine zu erziehen; viel besser beurteilen können, als wenn Sie nur am oft tritt eine Entfremdung zwischen Vätern und Kindern Schreibtisch säßen. ein und es kommt zu Ess- und Schlafstörungen. Auch Besonders interessant ist für mich und meine Fraktion die Rückkehr ist oft mit Problemen verbunden. Einige nicht nur, wie die Mängel im Einzelfall abgestellt wer- Väter kommen mit den selbstständiger gewordenen Fa- den, sondern auch, was über den Einzelfall hinaus pas- milien nicht mehr zurecht und flüchten sich in den siert und wie den Empfehlungen der Berichte der ver- nächsten Einsatz. gangenen Jahre aus Ihrem Hause Rechnung getragen Die unzureichende Information über Einsatzbeginn wurde. Ich stimme zu, dass es durchaus nicht nur um und Einsatzland belastet Soldaten und ihre Familien; das eine Mängelliste geht. So unterstütze ich beispielsweise können Sie sich sicherlich vorstellen. Es soll sogar vor- ausdrücklich die Würdigung des Einsatzes der Solda- gekommen sein, dass sich Soldaten fünfmal von ihren ten bei der Flutkatastr ophe. Mit etwa 44 000 einge- Lieben mit dem Hinweis verabschiedet haben, heute setzten Soldaten war dies der größte Katastropheneinsatz geht es nun wirklich los, um am Abend desselben Tages der Bundeswehr. Die Klagen einiger Soldaten, daran doch wieder zu den verblüf ften Angehörigen zurückzu- (B) (D) nicht beteiligt worden zu sein, machen die große Bereit- kehren: Der Abmarsch hatte wieder nicht stattgefunden. schaft und den Wunsch zu helfen nur noch deutlicher. Dies ist eine Achterbahn der Emotionen nicht nur für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Soldaten, sondern auch für ihre Partner und nicht zuletzt neten der FDP) für ihre Kinder. Als Dresdnerin mit einer intensiven Erinnerung an die In den vorangegangenen Berichten des W ehrbeauf- Fluttage danke ich – wie ic h gehört habe, tun Sie dies tragten nahm Familienbetreuung weit weniger Raum ein, auch – den Soldaten auch von dieser Stelle aus für ihren aber bereits 2002 wurden flächendeckend Familienbe- Einsatz noch einmal ausdrücklich und herzlich. treuungszentren mit hauptamtlichem Personal gefor- dert. 2001 wurde die Entscheidung kritisiert, zunächst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nur einen zweijährigen Probelauf mit hauptamtlichem bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Personal in acht bis zehn Zentren durchzuführen. Im Be- NISSES 90/DIE GRÜNEN) richt 2002, den wir heute debattieren, wird ausführlich geschildert, welche besonderen Belastungen die Solda- Meine Damen und Herren, als Berichterstatterin für tenfamilien zu tragen haben und dass daran zahlreiche die Bereiche Betreuung und Seelsorge möchte ich mich Partnerschaften und Familien zerbrochen sind. auf diesen Ausschnitt des Berichtes begrenzen. Ich habe auch in den bisherigen Reden schon einige Kommentare Der Wehrbeauftragte weist darauf hin, dass eine er- dazu gehört. Auf die Thematik der Auswirkungen der folgreiche Arbeit der Betreuungszentren von deren per- Auslandseinsätze auf die Soldaten und ihre Familien soneller und materieller Ausstattung sowie einem zeitge- wird so umfangreich wie in keinem früheren Bericht ein- rechten und umfassenden Informationsfluss abhängt. gegangen. Das finde ich auch gut und richtig. Wieder wird eine schnellstmögliche Ausstattung mit hauptamtlichem Personal gefordert. Ich frage den Herrn Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studien des Verteidigungsminister – ich hof fe, der Staatssekretär Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr über wird ihm das ausrichten –: W arum gehen Sie mit den die Auslandseinsätze im Rahmen von KFOR halte ich Soldatenfamilien so nachlässig um? Nehmen Sie die dies für besonders wichtig. Dort heißt es, dass nur jeder Alarmsignale nicht wahr? fünfte Soldat das Gefühl hat, ihm und seiner Familie werde von den Streitkräften ausreichende Hilfe zuteil. Ist Das Konfliktpotenzial für das Familienleben führt be- das nicht alarmierend, meine Damen und Herren? Ich reits jetzt dazu, dass Soldaten nach Ablauf der Verpflich- hoffe, dass der W ehrbeauftragte zu diesen SOWI-Be- tungszeit von einer W eiterverpflichtung Abstand neh- richten – anders als zum Intranet der Bundeswehr – Zu- men, ihre Dienstzeit verkürzen oder auf eine Übernahme Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. 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Christa Reichard (Dresden) (A) als Berufssoldat verzichten wollen. Es soll sich dabei – so Frau Kollegin Schäfer, ich will dann doch ein Wort zu (C) der Wehrbeauftragte – oft um die qualifiziertesten Kamera- Ihren Ausführungen und zu dem sagen, was die Kollegin den handeln. Reichard eben vorgetragen hat. Wenn man dem Bild, das Sie vor dem Hintergrund dessen zeichnen, was Sie dem Herr Minister, es ist höchste Zeit, den Probelauf mit Bericht meinen entnehmen zu können, Glauben schen- Familienschicksalen zu beenden und endlich eine wirk- ken könnte, dann müssten die Bundeswehrsoldaten nicht lich flächendeckende professionelle hauptamtliche Fa- zuletzt in den internationalen Einsätzen mit den Fähig- milienbetreuung einzurichten. Ergänzend dazu sollen die keiten von Yogis ausgestattet sein, die sich 40 Tage ein- hervorragenden Initiativen der Soldatenfrauen durch mauern lassen können und danach ganz fidel wieder versicherungsrechtlichen Schutz und durch Infrastruktur herauskommen. Wir wissen natürlich, dass die Bundes- der Bundeswehr unterstützt werden. Zu Recht werden wehrsoldaten und die -soldatinnen ganz hervorragende das Forum für Soldatenfamilien sowie die Initiative Leistungen erbringen und auch hohe Anerkennung finden. „Frau zu Frau“ besonders gewürdigt und wird ihre Ar- Das geht nicht nur mit Motivation und guter Ausbi ldung, beit als unverzichtbare Hilfe im Rahmen der Betreu- sondern dazu gehört auch eine entsprechende Ausrüs- ungsveranstaltungen bezeichnet. tung und Ausstattung. Dazu gehört schließlich eine ent- Auch die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Solda- sprechende Haltung und Fürsor gepflicht des Dienst- tenbetreuung widmet sich verstärkt den Soldatenfami- herrn. Das ist gegeben. Deswegen stimmt das, was Sie lien. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsge- dem Bericht des W ehrbeauftragten glauben entnehmen meinschaft für Soldatenbetreuung leisten darüber hinaus zu können, einfach nicht. einen wichtigen Beitrag für die Soldaten in Deutschland (Beifall bei der SPD) und bei Auslandseinsätzen in den Oasen. Die Soldaten in Kabul warten sehnsüchtig darauf, dass auch dort eine Frau Kollegin Lietz, Sie sind auch schon etwas länger Oase gebaut wird. Dies steht zwar nicht im Bericht, wird dabei. Sie haben, glaube ich, auch schon mehrfach zum aber bei den Seelsor gern vor Ort immer wieder ange- Bericht des W ehrbeauftragten gesprochen. Ich weiß, mahnt. dass seitens der Bundesregierung sehr wohl eine Stel- lungnahme zu dem abgegeben wird, was der Wehrbeauf- tragte in seinem Bericht an Mängeln aufführt und an Er- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fordernissen in den Raum stellt. Sie müssten das Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. eigentlich auch wissen. Lassen Sie mich noch eines sagen – Frau Kollegin Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Lietz, es wäre schön, wenn Sie mir zuhörten, auch wenn (B) Bei der Neugestaltung des Heimbetreuungswesens ist wir jetzt schon am Ende der Debatte sind –: (D) darauf zu achten, dass der bisherige Leistungsstandard (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Tue ich gern!) erhalten bleibt und bestehende Beteiligungsrechte nicht verkürzt werden. Ich nehme es Ihnen durchaus ab, dass Sie diese Familie, von der Sie eben gesprochen haben, intensiv begleitet In Auswertung der Berichte des W ehrbeauftragten haben und davon auch tief betrof fen sind. Ich halte es und anderer Dokumente fordert die CDU/CSU-Fraktion nur schlechterdings für einigermaßen ungewöhnlich, so dringend ein neues, umfassendes Betreuungskonzept für einen Fall hier im Plenum anzusprechen. Das gehört, wie Soldaten und ihre Familien im Inland und im Ausland. ich glaube, nicht hierhin, das hätte man an anderer Stelle Ich danke Ihnen. machen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das tue ich seit neten der FDP) drei Jahren, Frau Merten!) So viel wollte ich gerne dazu sagen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich habe meine Ausführungen damit begonnen, dass Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulrike im Mittelpunkt dieses Berichts mehr das Manko als das Merten, SPD-Fraktion. Plus steht. Aber gerade darin und auch im Vergleich mit vorhergehenden Berichten liegt ja der besondere Auf- Ulrike Merten (SPD): schluss. Wenn man diesen Bericht für sich nimmt, er- möglicht er einen Blick in das innere Gefüge und die in- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nere Ordnung der Bundeswehr . Wir als Parlament tun Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter gut daran, diesen jährlichen Bericht des Wehrbeauftrag- Herr Wehrbeauftragter, auch ich möchte mich wie alle ten nicht nur als Auftrag zur Abarbeitung einer Mängel- meine Kolleginnen und Kollegen zu Beginn meiner Aus- oder Beschwerdeliste aufzufassen. Zugleich besteht im- führungen bei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und mer wieder die Chance, mit dem gesamten Parlament Mitarbeitern für diesen aufschlussreichen Bericht bedan- über den Zustand und die innere Befindlichkeit unserer ken. Er benennt wie immer ganz konkret Beschwerden Streitkräfte zu debattieren. und Beschwernisse der Soldaten. Wie wir hier schon mehrfach gehört haben, liegt das in der Natur der Sache; Es ist wohl wahr , dass die spezifische Aufgabe des denn im Mittelpunkt steht nicht so sehr das Plus, sondern Wehrbeauftragten unter anderem darin besteht, V or- eher das Manko. gängen nachzugehen, die auf eine V erletzung von 3072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Ulrike Merten (A) Grundrechten der Soldaten oder der Grundsätze der in- mit internationalen Partnern in multinationalen Einsät- (C) neren Führung schließen lassen. Aber wie wir als Abge- zen. ordnete mit dem Bericht umgehen, gibt Zeugnis darüber, wie ernst wir wirklich den Begriff der Parlamentsarmee Als weiteres Beispiel nenne ich die Bildung; sie ist nehmen. Wir können diesen Bericht zwar mit Dankbar- ein Schlüsselfaktor für die Innovation der Streitkräfte keit für die getane Arbeit und auch mit einer gewissen und die Weiterentwicklung der inneren Führung. Auch Geschäftsmäßigkeit und Routine zur Kenntnis nehmen, hier stellt sich die Frage: Entspricht eigentlich das, was wir können aber auch den Anlass nutzen, über die sich wir an Bildung und Ausbildung vermitteln, noch dem abzeichnenden Veränderungen bis tief in das Berufsbild neuen Bild der Streitkräfte und den Erfordernissen? der Soldatinnen und Soldaten hinein eine Debatte anzu- Müssen wir uns damit nicht stärker auseinander setzen? stoßen, die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt. Was ist mit dem System der Personalauswahl und Meine Damen und Herren, die Soldatinnen und Sol- Personalförderung? Brauchen wir nicht gerade in diesen daten der Bundeswehr setzen ganz offensichtlich hohes Zeiten Vorgesetzte, militärische Führer , die über eine Vertrauen in die Institution des W ehrbeauftragten, ausgeprägte politische und ethische Urteilsfähigkeit ver- denn die gestiegene Anzahl der Eingaben im Berichts- fügen? jahr 2002 ist ja keineswegs, wie es die Kolleginnen und All diesen Dingen sollten wir in dem Unterausschuss Kollegen von der Opposition hier teilweise geltend ma- Innere Führung, den wir angeregt haben und der sich chen wollten, nur ein Beleg für bestehende Beschwer- demnächst konstituiert, nachgehen. Das kann ganz nisse. Hier wird doch auch deutlich, dass die Soldatinnen fruchtbar werden, wenn wir zwei Dinge tun: wenn wir und Soldaten um ihre Rechte wissen und Vertrauen nicht die Debatte, die wir dort führen, zum einen ins P arla- nur zum Wehrbeauftragten, ment tragen und es damit über den Bericht des Wehrbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auftragten hinaus mit diesen Fragen befassen und zum des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anderen diese Debatte in die Gesellschaft hineintragen, sodass sie zwischen der Bundeswehr , dem Parlament sondern eben auch zu dieser Bundesregierung haben und und der Gesellschaft geführt werden kann. Damit kön- relativ sicher sind, dass ihre Beschwerden nicht ungehört nen wir im besten Fall der Weiterentwicklung des verhallen. Rechtsstaats und des Gemeinwesens dienen. Ich fände es gut, wenn wir dahin kämen. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das glau- ben wir nun wirklich nicht!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sie wissen also um ihre Rechte – das will ich auch noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) sagen – und drängen natürlich erst einmal darauf, dass DIE GRÜNEN) Abhilfe bezüglich der in ihren Beschwerden und Ein- gaben angesprochenen Punkte geschaffen wird. Sie Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: drängen damit aber auch darauf, dass sich das Parlament wirklich als Ganzes, und zwar jenseits von Truppenbesu- Ich schließe die Aussprache. chen in Wahlkreisen odervon Entsendebeschlüssen im Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichts Bundestag, mit ihrer beruflic hen Wirklichkeit auseinan- des Wehrbeauftragten 2002 auf Drucksache 15/500 an der setzt. Darauf haben sie, wie ich finde, auch einen den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da- Anspruch. Wir tun gut daran, dies jenseits einer ge- mit einverstanden? – Das ist ganz of fenkundig der Fall. schäftsmäßigen Routine zu machen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Es ist schon viel über die erhöhte Anzahl von Einga- Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 6 a und 6 b ben gesprochen worden. W ir haben auch gehört, woran auf: das liegt. Ich muss all das nicht wiederholen. Die Erfor- dernisse, die sich aus den Auslandseinsätzen er geben, a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- haben wir hier inzwischen wirklich eingehend erörtert. neten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo Ich will daher noch einmal auf einen Aspekt eingehen, Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und der der sich neben den ganz praktischen Anliegen, die ein- Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs mal mehr in dem Bericht des W ehrbeauftragten zum eines Gesetzes zur Aufhebung des V ermögen- Ausdruck kommen, ganz generell aufdrängt: W enn es steuergesetzes richtig ist, dass wir inmitten tief greifender sicherheits- – Drucksache 15/196 – und gesellschaftspolitischer Veränderungen stehen, die eben auch von der Bundeswehr Neuorientierungen (Erste Beratung 16. Sitzung) verlangen – wir wissen, dass das so ist –, dann müssen wir uns auch fragen, wie wir damit eigentlich jenseits Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- fachlicher und militärischer Überlegungen umgehen. schusses (7. Ausschuss) Was bedeuten zum Beispiel die veränderten Rahmenbe- – Drucksache 15/436 – dingungen für das Prinzip der inneren Führung? Ich nenne hier nur als Beispiel und stellvertretend den Wan- Berichterstattung: del des Konflikt- und Kriegsbildes, die Entwicklungen Abgeordnete Florian Pronold in Kultur und Gesellschaft, aber auch die Kooperation Dr. Michael Meister Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3073

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Wenn er damit erfolgreich ist, dann wird er einen verfas- (C) Entwurfs eines Gesetzes zur Aufh ebung des sungswidrigen Haushalt haben. V ielleicht wird er uns, Vermögensteuergesetzes wenn er die V ermögensteuer doch braucht, damit sein Haushalt verfassungsgemäß ist, dankbar sein, wenn wir – Drucksache 15/408 – ihm dabei behilflich waren, indem wir dem vorliegenden Überweisungsvorschlag: Entwurf nicht zugestimmt haben. Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit DIE GRÜNEN) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Bilanz Ihrer Politik lässt sich sehr schön nach Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höre dem Matthäus-Prinzip zusammenfassen: Wer schon hat, ich keinen W iderspruch. Dann haben wir das so be- dem wird noch gegeben. schlossen. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So macht ihr es Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem doch mit der Körperschaftsteuer!) Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion das Wort. Ihre Steuerpolitik in 16 Jahren Kohl war durch eine Umverteilung von unten nach oben gekennzeichnet. Sie haben während Ihrer Regierungszeit die Normalver- Florian Pronold (SPD): diener in einer W eise ausgenommen, dass der S heriff Sehr geehrte Damen und Herren! Ich gehe von einem von Nottingham vor Neid erblasst wäre. positiven Menschenbild aus. Deswegen glaube ich auch an die Lernfähigkeit der Union und der FDP. Daher bin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ich verwundert, dass Sie in dieser Art und Weise einen DIE GRÜNEN) Antrag stellen. Die Vermögensteuer, gezahlt von den oberen (Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) 5 Prozent der Gesellschaft, hat 1996 immerhin umge- rechnet 4,5 Milliarden Euro eingebracht. Würde man die Ich will mich trotzdem in die sachliche Auseinanderset- Bewertung der Grundstücke ändern, könnte man sie zung über den vorliegenden Entwurf begeben. heute verfassungskonform wieder erheben. Dann wür- Wir halten als SPD daran fest, dass das Gesetz zur den wir über einen Betrag von 20 Milliarden Euro für Vermögensteuer, das derzeit keine Anwendung findet, die Länderhaushalte reden, die von den oberen 5 Prozent bestehen bleibt, und lehnen den von der Union sowie der Gesellschaft bezahlt würden. (B) den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf ab, und zwar (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Warum machen (D) aus mehreren Gründen. Sie es denn nicht?) Zunächst ist zu fragen – das ist vielleicht historisch – Warum wir es nicht machen? Die Antwort ist relativ wichtig –: Warum ist es dazu gekommen, dass die V er- einfach: weil wir derzeit dafür keine Mehrheit im Bun- mögensteuer nicht mehr erhoben werden kann? Die Ur- desrat finden. Sie wissen genauso wie wir, dass wir diese sache fällt in Ihre Regierungszeit und damit in Ihre Ver- Mehrheit brauchen. antwortung. Es ist Ihr Versäumnis Ich will Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, (Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) wie sich Ihr Raubzug der Reichen auf Kosten der Armen – natürlich! –, weil Sie nichts unternommen haben, um ausgewirkt hat. die ungleiche Bewertung von Geldvermögen und (Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) Grundstücksvermögen zu ändern und weil Sie das Ver- mögensteuergesetz derzeit im Bundesrat blockieren. Sie Es ist doch eine alte Weishe it: Das, was man den Reichen haben die V ermögensteuer verfassungswidrig werden schenkt, muss man anderen nehmen. Die Familie Quandt, lassen. Ihnen vielleicht bekannt, besteht aus drei Personen. Als Sie die Erhebung der Vermögensteuer haben verfassungs- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist eine widrig werden lassen, hatte diese Familie BMW -Aktien Ländersteuer!) im Wert von damals 13,5 Mil liarden DM in ihrem Besitz. Darauf musste sie 0,5 Prozent Vermögensteuer zahlen. – Natürlich ist es eine Ländersteuer; das ist unbestritten. Das ist, wie wenn unsereins a Fuf fzgerl aus der Tasche Trotzdem ist das für viele eine wichtige Frage, gerade fällt, sagt man in Niederbayern. Die Nichterhebung der angesichts der Situation einiger Länderhaushalte. V iel- Vermögensteuer war für diese armen Menschen mit dem leicht ist uns die Union bald dankbar , dass wir dem Ge- Vermögen von 13,5 Milliarden DM ein schönes Steuer- setzentwurf nicht zustimmen. Ich denke da zum Beispiel geschenk von immerhin 67,5 Millionen DM. an Hessen. Sie wissen, dass der Herr M inisterpräsident Koch seinen Haushalt nur deshalb hat verfassungskon- Wie es so ist, bleibt Gutes nicht lange ungestraft. Des- form aufstellen können, weil er die Mehreinnahmen aus wegen musste man eine Kompensation finden, um dieses dem Steuervergünstigungsabbaugesetz bereits eingestellt Steuergeschenk zu finanzieren. Was hat man gemacht? hatte. Jetzt blockiert er dieses Gesetz. Man hat die Grunderwerbsteuer um 75 Prozent erhöht. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Er blockiert doch (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Schlecht in- gar nicht!) formiert!) 3074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Florian Pronold (A) – Das war damals eine der Kompensationen für die – Ach, Sie waren das, die im Zusammenhang mit der (C) Nichterhebung der Vermögensteuer. Dienstwagenbesteuerung von dem Mitarbeiter, der den Rolls Royce fährt, gesprochen hat. Jetzt erinnere ich (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Erb- mich wieder. schaftsteuer wurde erhöht! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die SPD hat doch zugestimmt!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Aber es war richtig!) – Das war etwas anderes. Aber die Grunderwerbsteuer wurde erhöht. Das bedeutete für einen Bausparer , der– Das war völlig verkehrt, aber das ist hier nicht das sich damals für 300 000 DM eine Eigentumswohnung Thema. gekauft hatte: Er hätte vorher 6 000 DM Grunderwerb- Wenn Sie die Gesetzgebungskompetenz an die Län- steuer zahlen müssen, nachher, als die V ermögensteuer der geben, haben Sie folgendes Problem: Sowohl die nicht mehr erhoben werden konnte, waren es Rechtseinheit als auch die Einheitlichkeit der Lebensver- 10 500 DM, also 4 500 DM mehr. hältnisse werden natürlich infragegestellt. Das Problem (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Erb- kennen wir zum Beispiel auch aus der europäischen De- schaftsteuer ist heraufgesetzt worden! Das ist batte. Sie wollen einen Steuersenkungswettbewerb in Ihre sozialistische Neidhammelpolitik! So ein diesem Bereich. Das Er gebnis wäre – wir alle würden Quatsch!) das nicht gut finden; wir diskutieren darüber gerade im Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung –, dass insge- – Hören Sie einmal zu. – Das bedeutet: 15 000 Bauspa- samt weniger Steuereinnahmen erzielt würden, insbe- rer, die sich mühevoll ein Eigenheim ersparen, werden sondere weniger Steuereinnahmen von den oberen von Ihnen als leistungsfähiger als die drei Mitglieder der 5 Prozent der Gesellschaft, die besonders leistungsfähig Familie Quandt betrachtet. sind. Sie wollen, dass diese Gruppe weniger Steuern (Ute Kumpf [SPD]: Da kommt’s raus!) zahlt. Es braucht nämlich 15 000 Bausparer, um dieses Steuer- Ihr Gesetzentwurf bedeutet mehr Bürokratie, weil das geschenk an die Familie Quandt zu finanzieren. Und das Bundesland, das die V ermögensteuer einführt, das ge- liegt in Ihrer Verantwortung. samte Vermögen des Steuerpflichtigen zugrunde legen muss. Wenn dieses Vermögen auf mehrere Bundesländer (Beifall bei der SPD – Heinz Seif fert [CDU/ verteilt ist, müssen die betreffenden anderen Bundeslän- CSU]: Und warum habt ihr damals zuge- der mitwirken, dieses Vermögen zu ermitteln. Das ist ein stimmt?) relativ kompliziertes Verfahren; denn die Länder ohne Der jetzt von Ihnen vor gelegte Gesetzentwurf sieht Vermögensteuer werden wahrscheinlich die erforderli- (B) (D) vor, die Vermögensteuer nicht mehr bundesweit einheit- chen Bewertungen gar nicht mehr vornehmen. Ihr V or- lich zu erheben, sondern die Frage, ob Vermögensteuer schlag bedeutet also erstens mehr Bürokratie und zwei- erhoben wird oder nicht, in die Kompetenz des einzelnen tens, dass er praktisch nich t durchführbar ist. – Ihrem Landes zu geben. Sie behaupten, die Vermögensteuer sei Lächeln entnehme ich, dass Sie mir zustimmen, Herr ein bürokratisches Monstrum. Kollege. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ist sie auch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heinz Seif fert [CDU/CSU]: Es sind Gerüchte im Umlauf, die Verwaltungskosten wür- Sie haben keine Ahnung! Das ist lächerlich, den ein Drittel der Einnahmen aus der V ermögensteuer was Sie sagen! Unglaublich!) ausmachen, während eine Untersuchung aus Nordrhein- Westfalen nachweist, dass der V erwaltungsaufwand Was Sie machen, ist typisch. Ihr V orschlag erinnert 11 Prozent beträgt. Vielleicht ist ja Nordrhein-Westfalen mich an die Sache mit den Betriebsprüfern. Einige Län- besser organisiert als andere Bundesländer der werben offensichtlich damit, dass es bei ihnen weni- ger Betriebsprüfungen gibt. Das bedeutet, dass die Be- (Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) triebe in diesen Ländern real weniger Steuern zahlen und hat deshalb einen niedrigeren Verwaltungsaufwand. müssen. Auch diese Debatte haben wir in diesem Hause Wenn man die V ermögensteuer verfassungskonformschon des Öfteren geführt. Ich habe den Eindruck, dass wieder erheben würde, wäre der Anteil im Übrigen nie- die mit Ihrem Vorschlag eröffnete Möglichkeit der Steuer- driger. verkürzung ein wichtiger Standortfaktor für das eine oder andere Bundesland sein soll. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was sind das denn für Märchen?) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Ver- leumdung!) – Das sind keine Märchen. Das können Sie in der „Süd- deutschen Zeitung“ nachlesen. Ich nenne Ihnen gern die – Das ist keine V erleumdung; das ist die W ahrheit. Sie entsprechende Stelle aus dem Jahr 1999 und wir stellen wissen ja: Eine V erleumdung ist umso schlimmer , je Ihnen auch gern die entsprechende Untersuchung aus mehr sie der Wahrheit entspricht. In diesem Sinne war es Nordrhein-Westfalen zur Verfügung. Daraus können Sie eine ganz schlimme V erleumdung, weil nämlich das, lernen, wie man das vernünftig macht. was ich gesagt habe, wahr ist. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Danke! Ich lebe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ da und weiß, wie schlecht es dort ist!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3075

Florian Pronold (A) Ein letzter Punkt. Heute Vormittag konnten wir wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) der erkennen, dass die Union den USA in vielen Dingen sehr nahe steht. Ich würde mich freuen, wenn dieses va- Machen Sie endlich Schluss mit dieser Ideologie! Fan- sallenähnliche Verhalten, das die Union in der Außenpo- gen Sie an, Sachkenntnis in Ihre Politik einzubeziehen! litik an den T ag legt, auch bei der V ermögensbesteue- Ich will Ihnen einmal sagen, was die Bundesbank zu rung Einzug finden würde. dem, was Sie hier vor getragen haben, feststellt. Ich zi- (Beifall bei der SPD) tiere den Bericht der Bundesbank aus dem März 2003: Die USA erzielen nämlich 3,9 Prozent ihrer Steuerein- Zudem muss Klarheit darüber bestehen, dass Pro- nahmen aus der Vermögensbesteuerung. Die Bundesre- duktion und Leistung, die Schaf fung von Werten publik dagegen erzielt nur 0,9 Prozent ihrer Steuerein- und Arbeitsplätzen Vorrang vor der Verteilungspoli- nahmen aus der Vermögensbesteuerung. tik haben. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie wird doch gar Herr Pronold, das ist eine klare Antwort auf Ihre V ertei- nicht erhoben!) lungspolitik. Sie ist der falsche Weg. Sie richten den Standort Deutschland, die W irtschaft und die Arbeits- – Doch! Die Erbschaftsteuer gehört zur Vermögensteuer. plätze, mit Ihrer Ideologie zugrunde. Hören Sie endlich Ich nehme an, dass Sie das wissen und dass Sie meiner auf damit! Belehrung nicht bedürfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie jammern sonst immer darüber – meistens unbe- rechtigt –, dass Deutschland Schlusslicht ist. In diesem Die Bundesbank sagt in ihrem Bericht noch mehr: Fall trifft es zu: Deutschland ist zusammen mit Öster- Die gegenwärtige Wachstums- und Vertrauenskrise reich Schlusslicht bei der Vermögensbesteuerung. Aber findet ihren Ausdruck in der seit Jahren schwachen der Grundsatz unseres Steuersystems ist, dass die star- Investitionsneigung der Unternehmen. Angesichts ken Schultern mehr tragen sollen als die schwachen. der hohen Unsicherheiten erscheinen die Ertrags- Dieses Prinzip wird durch Ihren Gesetzentwurf verletzt, aussichten als zu gering. weil nämlich die Reichen außen vor bleiben und sich arm rechnen können. Deshalb wird nicht investiert und deshalb ist dringend Klarheit notwendig. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wer ist reich?) Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Sie Klarheit ge- schaffen haben. Wir wussten bis zu dieser Minute nicht, Deswegen werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zu- (B) was die SPD im Hinblick auf die V ermögensteuer will. (D) stimmen. Wir bleiben bei dem Prinzip „Robin Hood“ Es wurde laviert und gesagt, einige SPD-regierte Länder und gehen nicht über zu dem Prinzip „Sherif f von Not- würden sie möglicherweise wollen. Der Herr Bundes- tingham“, dem Sie hier folgen. kanzler, der leider nicht anwesend ist – er hätte sich mit Vielen Dank. Sicherheit über Ihre Rede gefreut –, hat gesagt, er wolle keine Vermögensteuer. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Florian Pronold [SPD]: Weil sie im Bundesrat nicht durchsetzbar ist!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Seit ein paar Minuten wissen wir: Die SPD-Bundestags- fraktion will anders als der Bundeskanzler, der in der Öf- Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr . Michael fentlichkeit das Gegenteil verkündet, die Einführung der Meister, CDU/CSU-Fraktion. Vermögensteuer in Deutschland.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Uner- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- hört! – Florian Pronold [SPD]: Wann habe ich ren! Angesichts des V ortrages des Kollegen Pronold das denn gesagt?) muss man sagen: – Sie haben eben von diesem Pult aus dar gestellt, dass (Ute Kumpf [SPD]: Guter Vortrag!) Sie die V ermögensteuer wollen. W ir haben das zur Man darf sich am heutigen Tage nicht wundern, dass die Kenntnis genommen. Seit diesem Zeitpunkt ist klar: Die Zahl der arbeitslosen Menschen auf 4,6 Millionen ge- SPD-Bundestagsfraktion will in Deutschland eine V er- stiegen ist. Ihre Politik, die Sie gerade dar gestellt haben, mögensteuer. hat in den letzten 12 Monaten einen Anstieg der Zahl der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arbeitslosen von über 400 000 bewirkt. Sie haben von Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Schwächsten der Gesellschaft gesprochen. In diesem NEN]: Regen Sie sich nicht so auf!) Jahr haben Sie 400 000 Menschen alleine gelassen und in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Das ist eine Folge Ihrer – Ich rege mich nicht auf. Ich stelle fest: Es gibt einen Politik, die allein aus Ideologie besteht und keinerlei Dissens zwischen dem Bundeskanzler und der Fraktion, Sachkenntnis von den wirtschafts- und finanzpolitischen die ihn angeblich unterstützt. Ich bin Herrn Pronold Zusammenhängen aufweist. dankbar, dass er dies hier so klar vorgetragen hat. 3076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Michael Meister (A) Alle sieben Minuten geht in Deutschland ein Unter- streichen. Dann wäre sie als Bundessteuer und als Lan- (C) nehmen verloren. 400 000 Menschen verlieren pro Jahr dessteuer nicht mehr vorhanden und dann gäbe es keine durch Ihre Politik, die zu Unternehmensinsolvenzen Vermögensteuer mehr. Stimmen Sie unserem V orschlag führt, ihren Arbeitsplatz. Lehrstellen, die wir in Deutsch- zu! Dann brauchen Sie keine Angst mehr zu haben, dass land dringend benötigen, können nicht geschaf fen wer- irgendein Bundesland diese Steuer einführt! den, da Sie mit Ihrer Politik Unternehmen zugrunde richten. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist so niedrig wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch nie. Im Maschinenbau zum Beispiel gibt es einen neten der FDP) Auftragsrückgang. Das ist eine Ausrede von Ihnen. Sie haben keinen Mut (Florian Pronold [SPD]: W ir haben seit sechs zu Entscheidungen. Jahren keine Vermögensteuer! Vielleicht des- wegen?) Meine Damen und Herren, dieselbe Substanzbesteue- rung betreiben Sie bei der Gewerbesteuer. Gehen Sie einmal in die Heimatstadt Ihres Bundes- kanzlers: Auf der Hannover -Messe in diesem Jahr wer- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den 800 Aussteller weniger sein als in den V orjahren. NEN]: Oh! Oh!) Warum kommen weniger Aussteller zur Hannover - Ich bitte Sie, sich einmal anzuschauen, was momentan Messe? Weil Sie eine Wirtschaftspolitik machen, die für bei der Gewerbesteuer passiert. Sie von den Grünen ha- diesen Standort keine Perspektive bietet. ben vielleicht nicht gelesen, was Ihre Bundestagskolle- In dieser Situation kündigen Sie den Menschen in gen von der SPD vorhaben. Sie sollten einmal nachlesen, Deutschland an: Die SPD-Bundestagsfraktion will wei- was der Herr Poß dazu gesagt hat. Er hat sich im Rah- tere Substanzsteuern. In dieser Situation wäre es notwen- men der Gemeindefinanzreform eindeutig für eine Reak- dig gewesen, klar zu sagen: Wir wollen keine Substanz- tivierung der Substanzbesteuerung ausgesprochen. steuern in Deutschland. Das ist das Signal, das gebraucht wird. Aber nun besteht Klarheit und nun wissen wir, wo- (Bernd Scheelen [SPD]: Völliger Unsinn!) rüber wir mit Ihnen zu diskutieren haben und womit wir Diese Vorschläge gibt es bei Ihnen. rechnen können. Sie wollen den Unternehmen in der schwierigen Wirt- Wir brauchen dringend ein höheres Wachstum und schaftslage, die wir heute haben, über die Substanzbe- über das Wachstum mehr Steuereinnahmen. steuerung Liquidität entziehen. Sie führen mit drei Bun- (Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold desländern, mit Schleswig-Holstein, Berlin und Nord- (B) [SPD]: In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass rhein-Westfalen, eine Debatte über die Erbschaftsteuer. (D) auch Sie die Vermögensteuer wollen!) Sie wollen die Erbschaftsteuer erhöhen und auch damit den Unternehmen Liquidität entziehen. So vertreiben Sie Herr Pronold, wenn ein um nur 6 Promille höheres Unternehmen aus Deutschland. Sie richten Unternehmen Wachstum gelingen würde, dann hätten wir pro Jahr zugrunde und Sie betreiben damit eine Politik nicht ge- 3,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen. Das ist ge- gen die Unternehmer, sondern gegen die Arbeitnehmer , nau das Volumen, das Sie angeblich anstreben. Machen die dabei ihren Arbeitsplatz verlieren. Mit Ihrer Politik Sie endlich eine Politik, die für mehr W achstum sorgt, treffen Sie die Schwächsten der Gesellschaft. Dafür tra- die diese 6 Promille herbeiführt! Dann brauchen Sie in gen Sie, Herr Pronold, und Ihre Fraktionskollegen die Deutschland keine Vermögensteuer zu aktivieren. Verantwortung. Wir fordern eine Politik, die endlich Perspektiven nach vorne schafft und die dafür sor gt, Investitionsklar- (Beifall bei der CDU/CSU) heit und vernünftige Rahmenbedingungen zu schaf fen. Wir als Union fordern eine klare Ansage zur V ermö- Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der heutigen Ab- gensteuer. Wir wollen, dass sie in Deutschland gänzlich stimmung zu dem Er gebnis kommen: Der Deutsche verschwindet. Wir fordern eine klare Ansage zur Erb- Bundestag stellt fest, dass die V ermögensteuer abge-schaftsteuer. Wir wollen keine Erhöhung der Erbschaft- schafft wird. steuer und wollen für Betriebsüber gänge Erleichterun- (Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold gen schaffen, damit für diese Nachfolgeregelungen [SPD]: Sehen Sie doch einmal in den Gesetz- möglich sind und Betriebe nicht ohne Grund zerstört entwurf! Da steht etwas anderes!) werden. Hinsichtlich der Gewerbesteuer wollen wir eine Gemeindefinanzreform, die keine Substanzbesteuerung Jetzt sagen Sie: W enn wir sie als Bundesgesetz ab- kennt. Wenn wir diese klaren Ansagen machen und schaffen, dann wird sie möglicherweise auf Landesebene keine Neiddebatte führen, wie Sie es getan haben, dann wieder eingeführt. Sie hätten in der Debatte zur ersten kommen wir endlich voran. Lesung dieses Gesetzentwurfes anwesend sein sollen. Damals hatte ich Ihnen angeboten – die FDP hatte signa- Ich möchte Ihnen einige Punkte nennen, zu denen Sie lisiert, dass sie zustimmt –, eine Neiddebatte führen: Mit Ihrer Unternehmensteu- erreform 2001 haben Sie dafür gesor gt, dass Körper- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!) schaften keine Körperschaftsteuer mehr zahlen, dafür gemeinsam die Vermögensteuer, die als eine Steuerart aber Arbeitnehmer und der Mittelstand eine höhere Steu- im Grundgesetz verankert ist, aus dem Grundgesetz zu erlast zu tragen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3077

Dr. Michael Meister (A) (Bernd Scheelen [SPD]: Schwachsinn! – Solange Sie davon ausgehen, die V ermögensteuer zu (C) Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aktivieren, solange Sie Debatten über die Erbschaft- Sehen Sie sich die Zahlen doch einmal an!) steuer führen, solange Sie den Menschen mit Kontroll- mitteilungen drohen, wird es keinen einzigen Menschen Was ist denn das für eine Steuerpolitik, bei der Körper- geben, der sein Kapital in ein Land transferiert und dort schaften keine Steuern zahlen, aber Arbeitnehmer und anlegt, in dem das Bankgeheimnis ausgehöhlt wird, in Mittelstand herangezogen werden? Was hat das mit so- dem man eine riesige Bürokratie schaf ft, in dem man zialer Gerechtigkeit zu tun, von der Sie immer sprechen? plötzlich 300 Millionen Konten kontrollieren möchte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit dieser Kontroll- und Bürokratiewut müssen Sie end- lich aufhören. Ihr Wirtschaftsminister sagt, er wolle Bü- Sie legen ein Steuervergünstigungsabbaugesetz rokratie abbauen. Sie aber tun in Ihrer Politik genau das vor. Darin steht, dass die Spekulationsfrist für private Gegenteil dessen, was Sie in Ihren Sonntagsreden an- Veräußerungsgewinne wegfällt und dass derjenige, der kündigen. als Daytrader an der Börse unterwegs ist, seinen Steuer- satz um 200 Prozent reduziert bekommt, weil er seine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gewinne statt mit seinem persönlichen Steuersatz jetzt Diese Debatte führen wir in einer Situation, in der ein nur noch mit 15 Prozent versteuern muss. Das machen Herr Lauterbach, der in der vom Bundeskanzler einberu- Sie! Sie treten für eine niedrigere Besteuerung von Spe- fenen Kommission zur Reform der Gesundheitspoli- kulationsgewinnen ein. Ist das eine Politik für soziale tik sitzt, den Leuten droht, dass sie auf ihre Kapitaler- Gerechtigkeit? Ich sage eindeutig Nein. So etwas ma- träge auch noch eine Gesundheitsabgabe in Höhe von chen wir nicht mit. W ir sind für soziale Gerechtigkeit nahezu 11 Prozent zahlen müssen. Das ist doch ein Witz! und Sie machen Politik für Spekulanten in Deutschland. Glauben Sie denn, dass Sie den Finanzmarkt Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold land mit Vermögensteuer, mit Erbschaftsteuer, mit Kon- [SPD]: Manche Vorwürfe sind so absurd, da trollmitteilungen, mit Sozialabgaben auf Kapitalerträge sind selbst wir sprachlos! – Zuruf der Parl. attraktiv machen können? Das ist der völlig falsche Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks) Weg! Wenn Sie diese Debatten endlich beenden und Klarheit schaffen würden, dass das alles nicht kommt, – Doch, so ist es, Frau Hendricks. Lesen Sie doch nach, wird Ihre Wirtschaftspolitik an dieser Stelle endlich ver- was in dem Entwurf Ihres Steuerver günstigungsabbau- nünftig. gesetzes zur Besteuerung privater V eräußerungsge- winne steht! Lesen Sie nach, was der Wegfall der Speku- (Beifall bei der CDU/CSU) lationsfrist für den Tageshändler an der Börse bedeutet! Als das Bundesverfassungsgericht damals die V er- (B) Dieser Wegfall bedeutet für ihn eine Steuersenkung um (D) mögensteuer als nicht verfassungsgemäß angesehen hat 200 Prozent. Das wollen wir nicht. und wir daraufhin diese ausgesetzt haben, haben wir (Bernd Scheelen [SPD]: Was ist das denn für zwei Steuern erhöht, um den dadurch entstandenen Aus- eine Rechnung?) fall zu kompensieren. Das war zum Ersten die Grunder- werbsteuer und zum Zweiten die Erbschaftsteuer. Wenn Das hat nach unserer Meinung mit sozialer Gerechtigkeit ich sage „wir“, heißt das, Sie waren dabei und haben das nichts zu tun. mitbeschlossen. (Ute Kumpf [SPD]: Wo haben Sie Abitur (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) gemacht?) Nicht allein die Koalition, sondern Sie und auch die – Ich rechne es Ihnen gern vor. Dann verstehen Sie auch SPD-regierten Länder haben dafür gestimmt. einmal Ihren eigenen Gesetzentwurf. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Mit der Mehrheit ( [Heidelberg] [SPD]: Können der SPD!) Sie das mit der Senkung um 200 Prozent noch einmal erläutern? Das habe ich nicht verstan- Herr Pronold, Sie haben von diesem Pult aus gesagt, den!) Sie wollten die Vermögensteuer wieder aktivieren. Dann sollten Sie aber auch diese beiden Steuern, also die Erb- – Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann bekommen Sie es schaftsteuer und die Grunderwerbsteuer, wieder senken. erläutert. Davon habe ich allerdings nichts gehört. Es muss eine Sie haben die Steueramnestiepläne angesprochen. Korrektur erfolgen. Doch Sie denken grundsätzlich nur Der Bundeskanzler hat erwartet, dass aufgrund der Am- an Steuererhöhungen, die zu höheren Belastungen der nestieregelung Kapital in Höhe von 100 Milliarden Euro Menschen in diesem Land führen. Dieses Denken ist nach Deutschland zurückkäme. Gleichzeitig diskutieren falsch. Das muss sich endlic h ändern. Wir müssen da- Sie hier – Herr Pronold kündigt das an – die W iederein- rüber nachdenken, wie wir die Steuer - und Abgabenlast führung der V ermögensteuer. Glauben Sie denn, dass senken, damit sich Leistung in Deutschland wieder auch nur ein einziger Mensch Geld nach Deutschland lohnt, und dürfen nicht das Gegenteil tun. zurückführt, wenn Sie ihm hier mit der Vermögensteuer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) drohen? Ihr Bundesfinanzminister ist hier ein Stück weit realistischer. Er geht nur von Steuermehreinnahmen in Zum Thema Verwaltung und Bürokratie. Wir sind Höhe von 5 Milliarden Euro aus. glücklich darüber, dass es in Deutschland nur noch eine 3078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Michael Meister (A) Steuer gibt, nämlich die Grundsteuer , die von den Ein- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: War gut!) (C) heitswerten abhängt und dass das bei allen anderen Steu- war eine ziemlich lächerliche Nummer. Das wissen Sie, ern nicht mehr der Fall ist. W ir sind auch glücklich da- glaube ich, auch selber. rüber, dass wir im Rahmen der Gemeindefinanzreform die Chance haben, die Grundsteuer zu reformieren, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit wir in Zukunft auch bei ihr auf Einheitswerte, Fort- sowie bei Abgeordneten der SPD) schreibungen und Bewertungen von Grundstücken in der alten Form verzichten können. Das wäre ein großer Fort- Sie kennen die Position der rot-grünen Koalition in der schritt beim Abbau von Bürokratie und Verwaltung. Frage der Vermögensteuer ganz genau. Der Bundeskanz- ler hat sie vor einigen Monaten sehr deutlich gemacht. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das wäre ein großer Wurf!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Er hat das Ge- genteil gesagt! Das war doch deutlich!) Wenn Sie darüber nachdenken würden, dann würden Sie etwas für Deutschland tun. – Man kann immer versuchen, aus Redebeiträgen das herauszuinterpretieren, was man gerne hätte. Das hat Stattdessen haben Sie von diesem Pult aus vorgeschla- aber mit dem, was wir in dieser Koalition wollen, nichts, gen, eine Steuer einzuführen – die Vermögenssteuer –, für aber auch gar nichts zu tun. die man die Einheitswerte braucht. Das wäre eine voll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen falsche Entwicklung, die dazu beiträgt, Büro- und bei der SPD) kratie dauerhaft zu etablieren. Nein, Sie sollten Bürokra- tie an dieser Stelle dauerhaft abbauen. Man kann natürlich lange über den Sinn der V ermö- gensteuer diskutieren; darüber sind wir uns, wie ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) glaube, einig. Zunächst hört sich das Ziel, das mit der Sie haben zu Recht die internationale Ebene ange- Vermögensteuer verfolgt wird, sehr gerecht an: Durch sprochen und haben die USA ausgewählt. Ich will Sie die Besteuerung der hohen Einkommen sollen die Rei- aber darauf hinweisen, dass es auch in der EU hinsicht- chen dazu gebracht werden, sich am Steueraufkommen lich der Kapitalgesellschaften den Trend gibt, dass die des Staates zu beteiligen. Doch wenn man genau hin- nationalen Gesetzgeber immer mehr dazu über gehen,sieht, was diese Koalition in den letzten fünf Jahren an Substanzsteuern abzuschaffen. Wenn wir innerhalb der Entlastung gerade für die Bezieher unterer Einkommen EU wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen auch bei gebracht hat, uns die Substanzsteuern weg. Verlassen Sie den falschen (Lachen bei der CDU/CSU – Elke Wülfing Weg, der die W ettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, und [CDU/CSU]: Das kann nicht sein!) (B) begeben Sie sich mit uns auf den richtigen Weg! (D) dann ist das das Gegenteil von dem, was Sie eben gesagt Wenn Sie etwas weniger Ideologie im Kopf hätten haben. Auch zu diesem Punkt haben Sie, Herr Meister , und ein bisschen mehr Sachverstand walten lassen wür- großen Unsinn erzählt. den, dann könnten wir, wie ich glaube, in der Steuerpoli- tik vernünftig vorankommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Ute Kumpf [SPD]: Ihren Sachverstand wollen wir nicht, Herr Meister!) Ich muss die Höhe der Steuersätze nicht wiederholen; wir kennen sie mittlerweile alle. V on den Steuersätzen, Ich bedauere, dass das noch nicht gelungen ist. Ich be- sowohl dem Eingangs- wie dem Spitzensteuersatz, hät- dauere auch, dass die Debatte zur ersten Lesung, in der ten Sie früher nur geträumt. wir die Grundpositionen ausgetauscht haben, bei Ihnen zu keinerlei Reaktion geführt hat. Sie sind in Ihrem Vor- (Zuruf von der CDU/CSU: Fragen Sie mal die trag sogar hinter das zurückgefallen, was Sie in der ers- Leute!) ten Lesung gesagt haben. Gerade die Bezieher der unteren und mittleren Einkom- Vielen Dank. men, die mit 12 bis 18 Prozent zum Einkommensteuer- aufkommen beitragen, wurden von Rot-Grün bis zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 36 Prozent entlastet, und das ohne Vermögensteuer. Das ist die Realität. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Diskussion wird aber erst durch Ihren Antrag so Das Wort hat nun der Abgeordnete Hubert Ulrich, richtig verrückt, durch nichts anderes. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Jetzt bin ich ein- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Heinz mal gespannt, Herr Ulrich! Sie haben alle Seiffert [CDU/CSU]: Was?) Chancen, sich abzugrenzen!) Wir haben in diesem Hause nicht den Antrag gestellt, die Länder in die Lage zu versetzen, die V ermögensteuer Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einzuführen. Sie haben das vor geschlagen, nicht diese Herr Meister, es tut mir Leid, das sagen zu müssen, Koalition. Ich kann sehr lange darüber nachdenken, was aber das, was Sie hier gerade abgeliefert haben, Sie damit eigentlich bezwecken wollen. Wir sind nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3079

Hubert Ulrich (A) für die Vermögensteuer, und zwar aus guten Gründen: Es (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Seien Sie es (C) handelt sich bei ihr um eine Substanzsteuer . Sie würde doch einmal!) zur Kapitalflucht beitragen. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Gründe, die Vermögensteuer abzulehnen. Ich könnte sagen: Ihre eigentliche Hoffnung ist, dass die Abgeltungsteuer nicht greift, weshalb Sie die Vermögen- Zudem muss man zwischen einer privaten und einer steuerdiskussion, die eine reine Geisterdiskussion ist, betrieblichen Vermögensteuer differenzieren. Diebe- immer noch am Leben halten. triebliche Vermögensteuer wäre ganz eindeutig schäd- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Haben Sie nicht lich für die Unternehmen. gehört, was Ihr Kollege vor zehn Minuten ge- ( [CDU/CSU]: Ja, dann sagt hat?) macht doch mit!) Ich befürchte, dass das Ihre eigentliche Absicht ist. Sie würde unserer Unternehmensteuerreform diametral (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- entgegenlaufen. Darum kann es wirklich nicht gehen. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Heinz Worum geht es bei Ihrem Antrag? W as hätte dieses Seiffert [CDU/CSU]: Das ist die Meinung Land davon, wenn man eine Unternehmensteuer auf der SPD!) Landesebene einführen könnte? Zum einen geht es aus Ihnen geht es darum, dieses Land und die Steuerpolitik rein rechtlichen Erwägungen praktisch nicht. der Koalition weiter zu schädigen. Das können Sie hier (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Warum nicht?) ruhig offen zugeben. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen; das sagen Wie gesagt: Für das Bündnis 90/Die Grünen und – so sowohl Verfassungs- als auch Steuerrechtler. Ich will es denke ich – auch für die SPD kann ich nur sagen, dass Ihnen kurz zitieren: Der Steuerrechtler Crezelius hat ge- wir keine Vermögensteuer wollen. sagt, dass die Länder keine eigenen V ermögensteuerge- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das hat sich aber setze erlassen können, weil sie keine Steuer gesetzge- anders angehört! – Norbert Schindler [CDU/ bungskompetenz haben. Der V erfassungsrechtler CSU]: Simonis und Gabriel wollen sie!) Siekmann hat gesagt, dass der Landesgesetzgeber nicht berechtigt ist, Steuergesetze einzuführen, die der Bund Der Kanzler hat das ganz klar erklärt. W eder von der ersatzlos aufgehoben hat. SPD noch von den Grünen gibt es einen Antrag auf Wie- dereinführung der Vermögensteuer; das ist Fakt. Daran Zum anderen frage ich: Was würde das in der Praxis kommen Sie nicht vorbei. Das ist mit ein Grund dafür , (B) bedeuten? Eine Person wohnt beispielsweise in Nord- dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen werden. (D) rhein-Westfalen und hat eine Immobilie in Hessen. Nordrhein-Westfalen hat in meinem Beispiel die Vermö- Vielen Dank. gensteuer eingeführt, Hessen aber nicht. Wie würden Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das voneinander abgrenzen? Es gibt eine ganze Menge und bei der SPD) praktischer Probleme, so etwas umzusetzen.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Heide Simonis und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: haben die Steuer doch gewollt!) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Viel schlimmer bei dieser Diskussion, die die CDU/ Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion. CSU hier betreibt, finde ich Folgendes: Diese Regierung bemüht sich, durch die Abgeltungsteuer Kapital aus Carl-Ludwig Thiele (FDP): dem Ausland in dieses Land zurückzuholen. Die Diskus- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten sion um die Vermögensteuer, die Sie und nicht die rot- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ulrich, es ist grüne Koalition angestoßen haben, schon erstaunlich: Wir debattieren hier über ein Gesetz, (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr habt sie doch welches formal noch besteht, seit dem 1. Januar 1997 ständig angesprochen, Herr Ulrich! Erzählen aber überhaupt nicht mehr angewandt wird. Wozu haben Sie doch nicht!) wir in unserem Land eigentlich Gesetze, die nicht ange- wandt werden und die tatsächlich auch niemand wieder- trägt dazu bei, dass sehr viele Menschen wieder sehr zu- beleben will? Das Sinnvollste wäre doch, dieses Gesetz rückhaltend sein werden. Das ist schon eine Pervertie- abzuschaffen, weil es keinen Sinn mehr hat. rung dieser Diskussion, die Sie und nicht diese Koalition zu verantworten haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Wer war denn 1997 in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der Regierung?) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ich erinnere mich an Wenn der W irtschaftsminister Clement der Auf fas- den Landtagswahlkampf in Niedersachsen!) sung ist, wir müssten Bürokratie abbauen, dann kann ich doch nur fragen: W as machen wir mit diesem Gesetz? Wenn ich böswillig wäre, könnte ich den Faden noch Entweder wird es mit Leben gefüllt oder nicht. Am ein Stück weiter spinnen. 2. Februar gab es in Nieder sachsen eine Landtagswahl. 3080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Carl-Ludwig Thiele (A) Vor den Landtagswahlen wollte Herr Gabriel es mit Le- Was wir benötigen – auch das ist einer der Gründe, (C) ben füllen. warum wir den Entwurf der Union unterstützen –, sind Planbarkeit und Verlässlichkeit. Ein Gesetz, das seit (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Simonis auch!) 1997 nicht mehr angewandt wird, muss abgeschafft wer- Es hat eine lange Diskussion gegeben, in deren An- den, schluss es wieder zur Seite genommen wurde. Nun schlummert es weiter vor sich hin. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein Zombie!) Herr Pronold, jetzt komme ich zu Ihnen. Diese Form es sei denn, man will es eventuell wiederbeleben. W ir der klassenkämpferischen Töne habe ich nun wirklich wollen es abschaffen. Der Weigerung von Ihrer Seite, es nicht erwartet. Es war wahrscheinlich gut, dass der abzuschaffen, entnehme ich, dass Sie es wiederbeleben Kanzler bei Ihrer Rede nicht anwesend war , weil ichwollen. Schaffen Sie Klarheit und hören Sie auf, die nicht weiß, ob alle Kolleginnen und Kollegen der SPD Leute zu verunsichern! Verunsicherung schadet unserem das, was Sie hier gesagt haben, teilen. Standort. Ich hoffe, dass Sie im Sinne der Ruck- oder Vi- brationsrede des 14. März 2003 den Mut finden, den ei- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Nein! – Elke nen oder anderen ideologischen Ballast abzuwerfen. Wülfing [CDU/CSU]: Es war nicht karriere- förderlich!) Herzlichen Dank. Eines muss man sehen: Natürlich eignet sich die Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mögensteuer hervorragend zur Polemisierung. V or der Aussetzung der Vermögensteuer resultierten 60 Prozent Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Vermögensteuereinnahmen aus betrieblichem Ich schließe die Aussprache. Vermögen. Es kann doch keinen Sinn er geben, ein Ver- mögen in einem Betrieb unabhängig von der Ertragsfä- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- higkeit des Betriebs zu besteuern. Wenn der Betrieb leis- wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Aufhebung des tungsfähig ist, hat er die direkten Steuern zu zahlen. Vermögensteuergesetzes auf Drucksache 15/196. Der Fi- Wenn er aber nicht leistungsfähig ist, möglicherweise nanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/436, den sogar rote Zahlen schreibt, würde die V ermögensteuer Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem zusätzlich obendrauf kommen und mit dazu beitragen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- dass weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Das kann chen. – W er stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der doch nicht der richtige Weg sein. Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) ratung. (D) Insofern bitte ich in dieser Diskussion um etwas mehr Zum Tagesordnungspunkt 6 b wird interfraktionell Redlichkeit, insbesondere da heute bekannt gegeben die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache wurde, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 4,6 Millionen 15/408 an die in der T agesordnung aufgeführten Aus- gestiegen ist. Einige der Gründe dafür sind Rot-Grün schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige V or- und das so genannte Steuervergünstigungsabbauge- schläge? – Das ist of fenkundig nicht der Fall. Dann ist setz, das unser Land ein halbes Prozent W achstum ge- die Überweisung so beschlossen. kostet hat. Die Leute sind verunsichert; denn das Ein- zige, was sie von Rot-Grün immer hören, ist, dass für die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Lösung eines jeden Problems eine neue Steuer erhoben oder eine Steuer erhöht werden muss. Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung (Beifall bei der FDP) Waldzustandsbericht 2002 Dazu sagen wir als Liberale ganz klar: Das ist der fal- – Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni- sche Weg. Wir müssen bei den Ausgaben ansetzen; denn torings – alles, was sich der Staat in Form von Einnahmeerhöhun- – Drucksache 15/270 – gen nimmt, Überweisungsvorschlag: (Jörg Tauss [SPD]: Wo denn?) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) fehlt beim Konsum und im investiven Bereich. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Union aus- drücklich zu. Ich gehe davon aus, dass wir diese Diskus- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen sion in dieser Legislaturperiode leider noch häufiger zu von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. führen haben, weil – das hat Herr Pronold sehr deutlich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gesagt – Sie die Vermögensteuer wollen. Aus momentan Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höre opportunistischen Gründen wollen S ie sie zurzeit nicht ich keinen Widerspruch. Wir haben das so beschlossen. wiederbeleben, aber wenn sich die Lage wieder ändert, dann glaube ich schon, dass Sie sich der Vermögensteuer Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- wieder erinnern werden. tarischen Staatssekretär Dr. Thalheim das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3081

(A) Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der kennung. Wenn man das auf einer Bauernversammlung (C) Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und im Bayerischen Wald hört, dann ist das für einen Sozial- Landwirtschaft: demokraten schon ein sehr schönes Erlebnis. Das zeigt, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten was auf diesem Gebiet geleistet wurde. Kolleginnen und Kollegen! „Der Wald kehrt zurück“, so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ titelte am 30. März eine große deutsche T ageszeitung. DIE GRÜNEN) Ich kann dem nur beipflichten, ist doch in den letzten Jahrzehnten die bewaldete Fläche in Deutschland stetig Wir müssen beim Thema Luftreinhaltung selbstkritisch gewachsen, und zwar um rund 100 Quadratkilometer die Agrarpolitik nennen; denn die Ammoniakemissionen jährlich. kommen zu rund 50Prozent aus der Landwirtschaft. Es ist einer der Schwerpunkte unserer Politik, diese Emissionen (Jörg Tauss [SPD]: Das ist Rot-Grün!) zu mindern. Damit sind wir bei der Frage, wie Tierhaltung betrieben wird, wie Güllebehälter abgedeckt werden und – Natürlich in den letzten Jahren noch mehr. welche ähnlichen Maßnahmen ergriffen werden können, Das ist die gute Nachricht. W ie so häufig im Leben um diese Emissionen zu reduzieren. gibt es natürlich auch beim Thema Wald eine schlechte Natürlich muss auch die Forstwirtschaft ihren Bei- Nachricht. Sie lautet, dass sich der Waldzustand in den trag leisten. Sie tut das durch die Stabilisierung der letzten Jahren nicht mehr in dem Maße gebessert hat wie Waldökosysteme. Hier ist das forstliche Umweltmonito- noch vor einigen Jahren. W o liegen die Ursachen? Si- ring zu nennen, die Bundeswaldinventur, die wir ge- cherlich war es leichter , die Schwefelemissionen zu re- meinsam mit den Ländern machen, um neue Erkennt- duzieren als die Schadstoffemissionen, die uns nach wie nisse zu gewinnen und die Datenbasis zu verbreitern. vor Probleme bereiten. Wir sind auf einem guten W eg, festzustellen, wo noch Kurz einige Anmerkungen zur Situation der Wälder Probleme bestehen. Da sind auf alle Fälle die Waldböden in Deutschland. Wir haben nach wie vor auf 44 Prozent zu nennen, die über Jahrzehnte, wenn man so will, belas- der Waldfläche eine leichte Kronenverlichtung, über ein tet worden sind. Wir werden eine ebenso lange Zeit und Drittel des W aldes dagegen weist keine Schäden aus. einen langen Atem brauchen, um die Schadstof fbelas- Nahezu unverändert weisen 26 Prozent der Fichtenflä- tung auch der Böden zurückzuführen. Ich bin aber opti- che, 13 Prozent der Kiefernfläche und 32 Prozent der mistisch, dass uns das bei Fortsetzung der konsequenten Buchenfläche deutliche Blatt- und Nadelverluste auf. Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet gelingt. Aber auch hier ist zu dif ferenzieren: Während uns noch Herzlichen Dank. in den letzten Jahren die Laubbäume, insbesondere die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Eiche, große Sorgen bereitet haben, ist hier eine Besse- (D) DIE GRÜNEN) rung festzustellen. Aber die Besserung geht im Wesent- lichen auf positive Witterungseinflüsse zurück. Die Witterung war für die Eiche in den letzten Jahren außer- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ordentlich günstig. Wir hatten mit weniger Krankheiten Der nächste Redner ist der Kollege Cajus Julius und Schädlingen zu tun und es hat auch Besserungen der Caesar, CDU/CSU-Fraktion. Luftqualität gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss Das ist auch der Punkt, an dem wir in der Zukunft wei- [SPD]: Nichts mies machen!) ter ansetzen müssen. Auch wenn in der Luftreinhaltung in den letzten Jahren viel erreicht wurde – ich sprach Cajus Caesar (CDU/CSU): schon vom Schwefel –, so zählt doch jede T onne Stick- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! stoff, die weniger emittiert wird. Das heißt: Die Bundes- Wald ist mehr als die Summe aller Bäume. Er ist ein regierung wird ihre konsequente Politik für den Wald fort- hochkompliziertes, aber auch ein hochsensibles Ökosys- setzen, insbesondere bei der Luftreinhaltung. Hier ist die tem. Wir von der Union setzen uns für dieses Ökosystem Verringerung der Schadstoffemissionen aus Kraftwerken ein und werden es in besonderer Weise bei unseren poli- und Industrieanlagen sowie der Tierhaltung zu nennen. tischen Handlungen berücksichtigen. Es hat besondere Weiter ist die Energie- und Klimaschutzpolitik auf- Bedeutung für die Erholung suchende Bevölkerung, aber zuführen. Hier sind insbesondere die Ener gieeinsparung auch im Rahmen des Bodenschutzes und der Bodenero- und die Steigerung der Energieeffizienz zu nennen. Wei- sion. Wir haben hier keine Gebir gszüge, die entwaldet terhin ist mit Nachdruck die Ökosteuer zu nennen sowie sind, wie etwa in Südeuropa.

die verstärkte Nutzung regenerativer Energien. Der Wald hat große Bedeutung hinsichtlich der CO2- Insbesondere in Bezug auf die Nutzung von Holz – da Neutralität wie auch des Klimaschutzes und – nicht zu vergessen – der immerhin 800 000 Arbeitsplätze, die im spielt die wirtschaftliche Seite eine Rolle – hat die rot- Zusammenhang mit dem Wald stehen. Der Wald ist für grüne Bundesregierung seit 1998 Maßstäbe gesetzt. Ich habe selbst erlebt, dass mir in Bayern auf Bauernver- unsere Wirtschaft, insbesondere aber auch für unsere Natur und Umwelt von großer Bedeutung und das soll- sammlungen, auf denen man in der Regel nicht allzu viel ten wir besonders anerkennen und achten. Anerkennung findet, gesagt worden ist: Was ihr in Be- zug auf die Nutzung von Bioenergie, was Holz und Bio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gas anbelangt, durchgesetzt habt, verdient unsere Aner- Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) 3082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Cajus Caesar (A) Insbesondere hinsichtlich der Filterung des W assers Wir haben zu Zeiten der von der Union geführten Re- (C) können wir feststellen, dass der W ald wie eine biologi- gierung einschneidende Maßnahmen auf den W eg ge- sche Kläranlage wirkt. Das ist hinsichtlich der Hygiene, bracht. Ich nenne das Bundes-Immissionsschutzgesetz, der gesunden Ernährung und – nicht zu ver gessen – der die Großfeuerungsanlagenverordnung, das Ozongesetz, Speicherfunktion im Zusammenhang mit dem Hochwas- die Kleinfeuerungsanlagenverordnung, die Einführung serschutz von Bedeutung. Wenn wir über enorme Inves- des Katalysators und etliche Maßnahmen zur Boden-, titionen für den Hochwasserschutz reden, dann sollten Luft- und insbesondere W asserverbesserung. Das hat wir uns insbesondere mit der Funktion und der Bedeu- dazu geführt, dass die Stickoxidemissionen von 1990 bis tung des Waldes stärker befassen. 1998 immerhin um 34 Prozent auf 1,78 Millionen Ton- nen abgenommen haben. Sie als Regierung haben mit dem W aldzustandsbe- richt und den Er gebnissen des Umweltmonitorings eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Zustandsbeschreibung und damit eine Analyse vor ge- Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) legt. Uns, der Union, fehlt aber ein Handlungskonzept Bei den Schwefeldioxidemissionen ist sogar ein Rück- der Regierung. Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen als gang von 76 Prozent auf nur noch 0,80 Millionen Ton- Regierung in diesem Bereich wieder einmal nicht ge- nen zu verzeichnen gewesen. W enn Sie jetzt in Ihrem recht. Das können wir nicht hinnehmen. Antrag den rapiden Rückgang der Schwefeldioxidemis- sionen deutlich machen, dann beziehen Sie sich auf eine (Beifall bei der CDU/CSU) Zeitspanne von 1990 bis 2000, Das jüngste Beispiel ist die neue W assergesetzge- (Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Heinen bung. Dort ist vorgesehen, dass der Waldbesitzer zusätz- [CDU/CSU]: Klar! Weil das in unserer Regie- liche Abgaben zu zahlen hat. Das geht nicht an. Derje- rungszeit geschehen ist!) nige, der für sauberes Wasser sorgt und sicherstellt, dass Wasser gespeichert wird und langsam abfließt, soll zu- weil Sie mit den Zahlen Ihrer Regierungszeit nicht glän- sätzliche Lasten auf sich nehmen. W ir sind dafür, dass zen können. Vielmehr müssen Sie die Unionserfolge mit die Veranlagung nicht nach Flächenmaßstab, sondern einbauen. nach einem Vorteilssystem erfolgt, statt dass der W ald- (Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Heinen [CDU/ besitzer zusätzlich belastet wird. CSU]: Ohne uns wären Sie gar nichts!) Der Waldzustandsbericht beschreibt eindeutig, dass Im Hinblick auf die Bodenversauerung ist festzustel- beispielsweise bei der Eiche leichte V erbesserungen zu len, dass der pH-W ert deutlich zurückgegangen ist und (B) verzeichnen sind. Das hat aber auch etwas mit den Rah- auf 80 Prozent der Fläche unter fünf liegt. Ein Punkt be- (D) menbedingungen, zum Beispiel mit besseren klimati- deutet eine zehnfache Versauerung; zwei Punkte bedeu- schen Bedingungen, zu tun. Bekanntlich waren die Nie- ten eine hundertfache Versauerung. Wir haben es in den derschlagsmengen im Jahr 2002 besonders hoch. Das hat vergangenen Jahren in Deutschland mit einer hundertfa- aber nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung in chen Versauerung zu tun gehabt. Das sollte man sich vor besonderer Weise aktiv geworden ist. Augen führen. Deswegen besteht angesichts der T atsa- che, dass dies nicht nur auf den Boden, sondern auch auf Wir geben der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald die Vegetation, die Kleinlebewesen, die Artenvielfalt so- Recht, die festgestellt hat, dass der Zustand der Wälder wie insbesondere auf das Quell- und Grundwasser er- besorgniserregend ist und bleibt. In diesem Bereich be- hebliche Auswirkungen hat, dringender Handlungsbe- steht ein dringender Handlungsbedarf. Das wird auch am darf. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie die Beispiel der Kiefer ersichtlich, bei der eine deutliche Zu- Mittel auch für die Agrarstruktur und die Küstenschutz- nahme der Schäden zu verzeichnen ist, weil sie auf Bö- maßnahmen zurücknehmen; denn zu diesem Bereich ge- den wächst, die immer schlechter mit Nährstoffen ver- hören auch Kalkungsmaßnahmen, die der Bodenver- sorgt sind. Insbesondere ist anzumerken, dass vor allem besserung bzw. der Bodenstabilisierung dienen. Ich bei der Eiche mit ihren hohen Bodenansprüchen drei verstehe nicht, warum die Regierung nicht bereit ist, hier Viertel des Baumbestands geschädigt sind. Hier besteht mehr zu tun. Statt in einem Entschließungsantrag allge- dringender Handlungsbedarf seitens der Bundesregie- mein gehaltene Punkte aufzulisten, sollte man endlich rung. Wenn es darum gehen soll, den Laubwaldanteil Maßnahmen vor Ort auf den Weg bringen. nicht nur zu erhalten, sondern zu vermehren, dann muss eine Regierung auch bereit sein, etwas dafür zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Wir als Union wollen, dass Sie mehr in die For- Kastner) schung investieren. Die finanziellen Ressourcen sind dort gut angelegt; denn sie dienen der Ursachenerkun- Wenn wir das forstliche Umweltmonitoring betrach- dung und dazu, entsprechende Maßnahmen abzuleiten. ten und uns die Stichprobenanalyse noch einmal im De- Stattdessen reden Sie in Ihrem Entschließungsantrag von tail vor Augen führen, dann können wir feststellen, dass einer Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform. zwar wieder eine Reihe von Statistiken, T abellen undDas ist weder öko noch logisch, sondern nur belastend. Daten aufgelistet wurden, dass aber letztendlich die Das ist nicht die Politik der Union. Wir wollen eine prak- Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, feh- tische Politik für den Wald, für die Waldbesitzer, für die len. vor Ort lebenden und arbeitenden Menschen und insbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3083

Cajus Caesar (A) sondere für die Artenvielfalt. Deshalb haben wir – das Erst gibt es Auflagen und dann keinerlei Entschädigung. (C) sagt auch die Vielzahl unserer Anträge zu diesem Thema Das kann nicht die Politik unter Einbeziehung der vor aus – die Initiative er griffen und deutlich gemacht, dass Ort lebenden und arbeitenden Menschen sein, die mit wir hier mehr Einsatz wollen, als die rot-grüne Bundes- dem Wald ihr Einkommen erzielen. Das ist nicht die Po- regierung bereit ist zu leisten . litik der Union, sondern die von Rot-Grün. Ihre Auf fas- sung können wir nicht teilen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte einen weiteren Punkt aus Ihrem Entschlie- ßungsantrag ansprechen. Wenn Sie sich einseitig für ein Wir wollen durch vertragliche Maßnahmen, durch bestimmtes Zertifizierungssystem einsetzen, dann soll- den Vorrang des Vertragsnaturschutzes nach vorne kom- ten wir an einem Beispiel betrachten, wie es sich aus- men. Wir wollen dem Rohstoff Holz durch Marketing wirkt. Das FSC-Zertifizierungssystem lässt beispiels- diejenige Bedeutung beimessen, die er verdient hat. W ir weise eine Bodenbearbeitung zur Erzielung einer wollen, dass der Biomasse, beispielsweise im Rahmen Laubholznaturverjüngung nicht zu. Aber wir wollen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, diejenige Bedeu- doch den Laubholzanteil nicht nur stabilisieren, sondern tung beigemessen wird, die sie verdient hat. W ir wollen – wo möglich – noch weiter erhöhen. Insbesondere die eine standortgerechte W aldvermehrung in unterdurch- Buche ist auf Naturverjüngung angewiesen. Das ist Ihre schnittlich bewaldeten Bereichen. W ir wollen mehr theoretische Politik. Statt zusammen mit den Waldbesit- Kompetenzen für forstliches Personal auch im Bereich zern vor Ort etwas auf den W eg zu bringen, setzen Sie des Naturschutzes. Wir wollen eine unbürokratische, na- sich einseitig für das FSG-Zertifizierungssystem ein, das turnahe Bewirtschaftung mit dem und nicht gegen den sicherlich für den Großwald und insbesondere für den einzelnen Waldbesitzer. Wir setzen uns zudem für den Tropenwald, nicht aber für den kleinen Privatwald in der Erhalt des Tropenwaldes ein. Bundesrepublik Deutschland geeignet ist. Wir wollen insbesondere durch ein Sofortprogramm (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit entsprechenden Kalkungsmaßnahmen dafür sor gen, dass unserer Umwelt, insbesondere unserem Wald, dieje- Wir haben es in Deutschland nicht mit wenigen Groß- nige Bedeutung beigemessen wird, die sie verdient ha- waldbesitzern, sondern mit 1,3 Millionen Kleinwaldbe- ben. Wir wollen im Verstehen von Ökonomie, Ökologie sitzern zu tun, von denen jeder im Durchschnitt und sozialer Komponente vorangehen und mit den vor 3,6 Hektar Wald sein Eigentum nennen darf und die sich Ort lebenden und arbeitenden Bürgern den Wald – unter über Generationen hinweg im Schweiße ihres Angesich- Einbeziehung der Biomasse – erhalten, pflegen, weiter- tes den jetzigen Waldbestand erst geschaffen haben. Das entwickeln und nachhaltig bewirtschaften, sodass wir (B) sollten wir endlich auch im Deutschen Bundestag aner- ihn unseren Kindern gesund übergeben können. (D) kennen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie wollen das Bundeswaldgesetz ändern, um wei- neten der FDP) tere bürokratische Hemmnisse einzubauen. Sie wollen in dem geänderten Gesetz auf den Zentimeter genau vor- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schreiben, welches noch so kleine Pflänzchen auf wel- chem Quadratmeter – wenn möglich, würden Sie wahr- Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm, scheinlich auch die Himmelsrichtung vorgeben – die Bündnis 90/Die Grünen. Waldbesitzer auf eigene Kosten pflanzen sollen. W ir (Jörg Tauss [SPD]: Fragen Sie doch einmal, ob wollen hier ein Stück mehr Freiheit. W ir wollen den es gerade um den Wald oder die Waldbesitzer Waldbesitzer mitnehmen. Dann haben wir auch etwas ging!) für die Waldwirtschaft, aber insbesondere auch für die Natur erreicht. In diesem Sinne wollen wir Politik betrei- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben. Wir wollen mehr Eigenverantwortung statt Regle- mentierung. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern Sie sich noch an die kahlen Ber g- (Beifall bei der CDU/CSU) kämme im Erzgebirge? Dort war das W aldsterben auch für den Laien unübersehbar . Wer heute ins Erzgebir ge Mehr Staat bedeutet nicht mehr Erfolg und schon gar fährt, sieht, dass der W ald dort wieder wachsen kann. nicht mehr Umweltschutz. W enn Sie beispielsweise im Aber es sind lichte und ver graste Ersatzwälder, die von Hinblick auf die Ausweisung von FFH-Gebieten in einem naturnahen Zustand noch weit entfernt sind. Deutschland – es handelt sich immerhin um 5,2 Millionen Hektar; davon sind 1,9 Millionen Hektar Der Zustand der Erzgebir gswälder belegt aber, dass Wald, von denen sich 450 000 Hektar in privatem und wir gegenüber den 80er-Jahren deutliche Fortschritte ge- kommunalem Besitz befinden – zusagen, die Bundesre- macht haben. Tote Wälder sind hierzulande glücklicher- gierung werde für Auflagen entschädigen – Ihr Staatsse- weise kaum noch zu finden. Doch mit den sich schlie- kretär Berninger hat das auf dem 1. Deutschen Waldgip- ßenden Wunden verschwindet das Problem der fel 2001 erklärt –, dann sollten Sie sich auch an diesen Umweltzerstörung aus dem Bewusstsein. So spricht Worten messen lassen. W as ist bis jetzt geschehen?heute kaum noch jemand davon, dass mehr als Nichts! Man lässt die W aldbesitzer im Regen stehen. 20 Prozent der Waldflächen deutlich geschädigt sind. 3084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Cornelia Behm (A) Aber gerade deswegen, gerade wegen dieser Schäden, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Forstwirt- (C) ist es für eine Entwarnung leider noch zu früh. Ohne schaft verbessern; wir denken also durchaus auch an die konzentrierte Maßnahmen zum Waldschutz können un- Forstwirte und Waldbesitzer. Dazu gehört es, dass mehr sere Wälder nicht gesunden. Ich bin guter Hof fnung,Holz als Rohstof f und Energieträger eingesetzt wird. dass wir hinsichtlich dieser Maßnahmen mit der Opposi- Dazu gehört es, bei der Novellierung des Bundeswaldge- tion trotz einiger Verbalattacken durchaus eine Einigung setzes die Spielräume hin zu niedrigeren Kosten und ei- erzielen. ner einfacheren Verwaltung zu nutzen. Dazu gehört es auch, mit der Novellierung des Bundesjagdgesetzes da- Die Erfolge in der Luftreinhaltepolitik sind durchaus für zu sorgen, dass die Verbissschäden durch waldökolo- eindrucksvoll. gisch tragfähige Schalenwilddichten vermindert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen sicher sowie bei Abgeordneten der SPD) die großen Schilder mit dem Ahornblatt, die häufig von So gingen die Emissionen von Stickoxid in den letzten der Autobahn aus zu sehen sind. Auf ihnen steht: „Rette zehn Jahren um 41 Prozent zurück. Bei Ammoniak be- die Bäume – Schütze den Wald – Tu was!“ Das nach wie trug der Rückgang 19 Prozent, bei Schwefeldioxidvor hohe Schadensniveau des Waldes macht eindringlich 85 Prozent. deutlich, dass dieser Aufruf nicht ungehört verhallen darf. Wir haben es in der Hand, etwas zu tun: Erstens brauchen Dennoch sind die W aldschäden seit 1995 kaum zu- wir eine konsequente Fortsetzung der Anstrengungen in rückgegangen. Das zeigt, wie lang die W irkungszeit-der Luftreinhaltepolitik. Zweitens brauchen wir eine kon- räume sind. Das zeigt aber auch, dass vor allem die ver- sequente Fortsetzung der Klimapolitik. Drittens brauchen sauernden und eutrophierenden Belastungen durch wir eine naturnahe Waldwirtschaft. So schaffen wir wie- Stickoxide aus dem V erkehr und durch Ammoniak aus der gesunde und widerstandsfähige Wälder. der Landwirtschaft noch immer zu hoch sind. Das heißt, wir müssen die Anstrengungen in der Luftreinhaltepoli- Ich danke Ihnen. tik fortsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch die Klimaveränderungen sind eine Gefahr für Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Wälder, und zwar nicht nur weil mehr Stürme zu grö- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Christel ßeren Windwurfschäden führen; vielmehr verschiebt Happach-Kasan, FDP-Fraktion. sich bei dauerhaft steigenden T emperaturen das Arten- (B) (D) spektrum der Pflanzen und Tiere und damit das ökologi- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): sche Gleichgewicht und der Wald verliert an ökologi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! scher Stabilität. Der Waldzustandsbericht des Jahres 2002 ist kein Anlass Wir können gegen die drohenden Klimaveränderun- zum Jubeln; das haben meine Vorredner bereits deutlich gen durchaus etwas tun. Es ist das Gebot der Stunde, den gemacht. Auch wenn den meisten Spazier gängern der Ausstoß von Treibhausgasen einzuschränken. Das heißt, Unterschied zwischen einem geschädigten und einem ge- wir müssen die von der Bundesregierung eingeleitete sunden Baum nicht sofort auffällt, Fachleute sehen ihn. Politik der Energiewende weg vom Öl und hin zu erneu- Auch wenn geschädigte Bäume nur schwer zu erkennen erbaren Energien auch im Interesse der W aldwirtschaft sind, der Zusammenbruch eines Waldes bietet ein drama- konsequent vorantreiben. tisches Bild. Es sind Wälder im Harz und im Erzgebir ge gestorben. Deren Anblick tut weh; aber in Deutschland ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Wald – anders, als es der Begrif f „Waldsterben“ vor und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Jahrzehnten nahe legte – nicht gestorben. CDU/CSU) Die Schäden beruhen wesentlich auf den Schadstoff- Die Waldschäden und der Klimawandel machen eine einträgen aus der Luft. Im Zeitraum von 1990 bis 2000 naturnahe Waldwirtschaft noch dringlicher, denn na- gingen die Einträge von Schwefeldioxid um 85 Prozent, turnahe Wälder sind stabiler als Monokulturen. Dieses von Stickstoffdioxid um 41 Prozent und von Ammoniak Ziel einer naturnahen Waldwirtschaft ist nur durch ver- um 19 Prozent zurück. Daran zeigt sich, dass die christ- bindliche Standards zu erreichen, die wir bei der Novel- lich-liberale Regierung erfolgreich war. lierung des Bundeswaldgesetzes einführen werden. Au- ßerdem fördern wir eine W aldbewirtschaftung, die über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die gesetzlichen Mindeststandards hinausgeht, und wer- An diese Erfolgsgeschichte kann Rot-Grün leider nicht den, auch wenn Sie es nicht hören mögen, die FSC-Zer- anknüpfen. tifizierung der Bundesforsten zügig umsetzen und die Holzbeschaffung des Bundes entsprechend ausrichten. Die Erfolge im Bereich der Minderung der Einträge von Stickoxiden und Ammoniak sind noch lange nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zufriedenstellend. Es ist bekannt, dass die Stickoxid- und bei der SPD) emissionen aus dem Verkehr stammen, die Ammoniak- Im Interesse derer, die den Wald bewirtschaften, und einträge aus der Landwirtschaft; dies ist hier gesagt wor- im Interesse unserer Umwelt müssen und wollen wir die den. Seltsam ist, dass der Bericht der Minderung der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3085

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Einträge aus der Landwirtschaft zweieinhalb Seiten wid- Die Menschen kennen die Forstsiegel nicht; für das Er- (C) met, der Minderung der sehr viel höheren Einträge aus reichen von Umweltzielen haben wir sehr viel bessere dem Verkehr aber noch nicht einmal eine Spalte. Ange- Instrumente; die Erlössituation verschlechtert sich. sichts dessen muss der Eindruck entstehen, dass der Schutz der Böden vor Schadstof feinträgen für die Bun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: desregierung nur eine untergeordnete Stellung einnimmt und die Kritik an der Landwirtschaft wie üblich im V or- Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr dergrund steht. auf Ihrem Rednerpult!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): der CDU/CSU) Entschuldigung, ich bin nicht daran gewöhnt. Ich darf Die Schadstoffeinträge haben die Waldböden großflä- meinen letzten Satz formulieren: Die Koalition kündigt chig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark be- mit ihrer Politik die jahrhundertelange Erfolgsgeschichte einträchtigt. Die Säureeinträge haben zur Bodenversaue- der nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder auf. rung, zur Auswaschung von Pflanzennährstoffen und Ich danke für die Aufmerksamkeit. gleichzeitig auch zur Belastung des Grundwassers mit Schwermetallen geführt. Diese Veränderungen sind alle- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) samt nicht kurzfristig rückgängig zu machen. W ir wer- den daher noch lange im Parlament über W aldzustands- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: berichte diskutieren. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Kollegin Aber was nützen Berichte, wenn daraus keine Konse- Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. quenzen gezogen werden? Als Maßnahmen gegen die Versauerung der Waldböden empfiehlt der Bericht aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) drücklich forstliche Bodenschutzkalkungen und Kom- pensationsdüngungen. Dieser Empfehlung schließt sich Gabriele Hiller-Ohm (SPD): die FDP an. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Ok- (Beifall bei der FDP) tober letzten Jahres ist die Berichterstattung über die Wälder um 30 Prozent zurückgegangen. Dies belegt eine „Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablen Analyse der Schutzgemeinschaft Deutscher W ald. Die- Schäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit der ses sinkende Interesse sollte aus folgenden Gründen für (B) Waldwirtschaft und die Qualität unserer W asserresour- uns alarmierend sein: (D) cen“, so die ehemalige Umweltministerin des Landes Erstens konnte die Vernichtung der letzten großen Ur- Rheinland-Pfalz von der SPD. Doch der Entschließungs- wälder nicht gestoppt werden. Zweitens ist der Zustand antrag von SPD und Grünen enthält nichts zum Thema unserer heimischen Wälder weiterhin kritisch; zwei von Kalkungen. Damit verfehlen Sie das eigentliche Thema drei Bäumen sind krank. und die Maßnahmen, die wir tatsächlich er greifen müs- sen. Sie konzentrieren sich auf Zertifizierungen. Sie ma- Deshalb braucht der W ald heute mehr denn je eine chen, wie mein V orrednerverdeutlichte, den Kleinst- starke Lobby, denn wir, die Industrienationen, gefährden waldbesitzern das Leben schwerer; Sie verhindern, dass mit unserem enormen Holzverbrauch die Urwälder. diese Besitzer einen kleinen zusätzlichen Erwerb aus ih- Holz ist nach Rohöl das in der EU zweitwichtigste Im- ren Wäldern ziehen können. Das ist der falsche Weg. portgut. Wir brauchen Holz zur Papierproduktion, als Heizstoff und als Ener gieträger. Bei Papier können wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sparen. Ich bedauere sehr, dass die Recyclingquoten der- zeit rückläufig sind; das müssen wir ändern. Wir müssen die vorhandenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse umsetzen und sollten deshalb die Kalkung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Wälder stärker unterstützen. W ir wissen, dass dies wirkt. Das hat Rheinland-Pfalz in zehn Jahren deutlich Als Energieträger ist Holz allemal richtig und zukunfts- bewiesen: Die Artenzahl in der Krautschicht steigt, die weisend. Das zeigt schon die Ökobilanz. Holz als nach- Regenwurmbesiedlung steigt, die Feinstwurzelintensität wachsender Rohstoff ist eine wichtige Alternative zum steigt, der Magnesiumgehalt in den Nadeln steigt, die Öl. Verminderung der Kadmiumeinträge ist eindrucksvoll, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Verminderung der V ergilbung der Fichtennadeln ebenfalls. Das ist ein Erfolgsprogramm; damit könnten Deshalb müssen wir die wirtschaftlichen Grundlagen der wir dem Wald helfen. Holzproduktion schützen und fördern. Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, ihre Allein in Deutschland sind rund 800 000 Menschen in Politik der Bevormundung zu beenden und für keines der Holzwirtschaft beschäftigt, mehr als in der chemi- der Zertifikate zu werben. Das staatliche Engagement in schen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeu- Bezug auf die Zertifizierung ist der falsche Politikansatz. gung zusammen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für unsere Waldwirtschaft stärken und die Wettbewerbs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fähigkeit langfristig sichern. 3086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Gabriele Hiller-Ohm (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Genau. – Ihnen liegt unser Entschließungsantrag vor . (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darin ist ein umfangreicher Forderungskatalog enthal- ten. Wir erwarten eine konsequente und zügige Umset- Wie erhalten wir Wälder und Arbeitsplätze? W ie ma- zung unserer Forderungen. chen wir unsere Wälder fit für die Zukunft? Die Luft- schadstoffe müssen weiter reduziert werden, und zwar (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sie sollen nicht drastisch. Wir müssen die W aldwirtschaft auf scho- fordern, Sie sollen machen!) nende, nachhaltige Produktion nach den Kriterien guter So machen wir den Wald fit für die Zukunft. Der nächste fachlicher Praxis umstellen. Zurzeit läuft in der Holz- Waldzustandsbericht wird mit Sicherheit positiver aus- wirtschaft ein wichtiger gesellschaftlicher Diskurs über fallen. Helfen Sie mit! Stimmen Sie unserem Entschlie- diesen Begriff und über diese Kriterien. Ich bin sehr ge- ßungsantrag zu! spannt darauf, was dabei herauskommt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir müssen eine verlässliche Zertifizierung und DIE GRÜNEN) Kennzeichnung des so produzierten Holzes mit einem hochwertigen Ökosiegel durchsetzen. W ir brauchen auch eine Erhöhung des Marktanteils des zertifizierten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Holzes. Ich schließe die Aussprache. SPD und Grüne haben in der letzten Legislaturperiode Interfraktionell wird Überweisung des Waldzustands- die Weichen richtig gestellt. Weitreichende Gesetze, Ver- berichts 2002 auf Drucksache 15/270 an die in der T a- ordnungen und Bestimmungen zum Umwelt- und Kli- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. maschutz wurden in Angriff genommen und durchge- Der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und setzt. Diese Initiativen werden auch für unsere Wälder des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/745 mittelfristig Wirkung zeigen. soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie (Beifall bei der SPD) zur Mitberatung an den Ausschuss für W irtschaft und Es sollte möglichst nur noch zertifiziertes Holz aus Arbeit, an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und zertifizierten Betrieben in den Handel kommen. Die Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für wirtschaftli- Bundesregierung bemüht sich zurzeit auf EU-Ebene in- che Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen wer- tensiv um internationale Lösungen. den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Rot-Grün hat sich auf die anerkannten Standards des (B) Ökosiegels FSC festgelegt. Warum haben wir das getan? Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: (D) Wir haben das gemacht, weil FSC zurzeit die überzeu- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk gendsten Standards sowohl in ökologischer als auch in Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle, ökonomischer und sozialer Hinsicht bietet. Außerdem ist weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP FSC ein international anerkanntes Ökosiegel. W enn wir Holz importieren, das dieses Siegel trägt, können wir Reform des Kündigungsschutzgesetzes zur also sicher sein, dass es nicht aus Raubbau und illegalen Schaffung von mehr Arbeitsplätzen – V or- Holzeinschlägen stammt. So schützen wir die Urwälder. schlag des Sachverständigenrates jetzt auf- greifen Wir haben viel getan, besonders in den letzten vier Jahren, Herr Kollege Caesar , aber das alles reicht noch – Drucksache 15/430 – nicht aus; denn der Zustand unserer Wälder ist seit 1995 Überweisungsvorschlag: nicht besser geworden. We i kommt das? Durch jahr- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) zehntelange hohe Schadstoffeinträge sind die Waldbö- Rechtsausschuss den versauert. Das stresst unsere Wälder und ist eine Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung tickende Zeitbombe für unser Trinkwasser. Die Bundes- Ausschuss für Bildung, Forschung und regierung versucht durch großflächige Kalkungen der Technikfolgenabschätzung Wälder Schadensbegrenzung. Das ist eine Soforthilfe für die Wälder, aber keine langfristige Lösung. Es führt kein Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Weg daran vorbei, meine Damen und Herren: W ir müs- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei sen die Schadstof feinträgereduzieren. Das bedeutet: die FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen noch weniger Stickstoffoxide, noch weniger Ammoniak, Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. noch weniger Schwefel. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Wir müssen die rot-grüne Umweltpolitik vor allem in Dirk Niebel (FDP): den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft und Energie kon- sequent fortsetzen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Leitsatz Nummer eins der sozialdemokrati- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Arbeitsmarktphilosophie: „Einmal erreichte Be- DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: So soll sitzstände sind unantastbar!“ muss am heutigen T ag es sein! – Das werden wir auch tun!) wirklich neu überdacht werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3087

Dirk Niebel (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und es nicht selber macht, müssen wir es im Parlament (C) der CDU/CSU) nachholen. Heute hat der V orstandsvorsitzende der Bundesanstalt Wir wollen dafür sor gen, dass die Menschen die für Arbeit die Arbeitsmarktzahlen für März vorgelegt: Chance bekommen, wieder ins Berufsleben einzustei- gen. Der Kündigungsschutz stellt tatsächlich für diejeni- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Desaster!) gen, die einen Arbeitsplatz haben, einen Besitzstand dar. 4,6 Millionen Menschen in diesem Land haben keinen Er ist aber eine Barriere für diejenigen, die versuchen Job, das sind fast 500 000mehr als im gleichen Monat wollen, wieder in Arbeit zu kommen, und führt in der des Vorjahres. Wir aber haben es immer noch nicht ge- Praxis dazu, dass kleine Betriebe auf andere flexible In- schafft, einzusehen, dass arbeitsmarktpolitische Mittel in strumente wie Zeitarbeit, Überstunden und befristete Form von Geld einfach nicht ausreichen, um einer gro- Beschäftigungsverhältnisse ausweichen. W ie wir alle ßen Zahl von Menschen die Chance zu geben, wieder in wissen, rutschen manche Bereiche auch in die Illegalität; den Arbeitsprozess eintreten zu können, wir darüber hi- sonst wäre die Schattenwirtschaft nicht die einzige naus vielmehr Rahmenbedingungen auf dem Arbeits- Boombranche in der Bundesrepublik Deutschland. markt verändern müssen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) (Beifall bei der FDP) Der Bundeskanzler hat nun gesagt, man müsse etwas Der Bundeskanzler hat am 14. März eine Rede gehal- ändern, und ist dabei ein wenig unkonkret geblieben. ten, mit dem wesentlichen Tenor: Alles wird gut. Er hat Das muss wohl so sein, wenn ihm selbst seine Mitarbei- in dieser Rede aber etwas zumindest für Sozialdemokra- ter etwas Falsches aufschreiben. Er hat sich ja zum Bei- ten Bemerkenswertes festgestellt. spiel, wie wir gestern in der Fragestunde noch einmal eindrucksvoll vom Kollegen Schlauch bestätigt bekom- (Zuruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ men haben, einfach geirrt, als er gesagt hat, in Zukunft DIE GRÜNEN]) werden auch Zeitarbeitnehmer nicht mehr beim Kündi- – Herr Kuhn, Sie erinnern sich, dass die vorvorherige gungsschutz berücksichtigt; das ist nämlich schon heute Bundesregierung unter Helmut Kohl dieses Problem nicht der Fall. Zumindest hat er sich Gedanken gemacht, schon einmal angegangen ist. Wir haben 1997 ja den wie man das Problem lösen kann, Kündigungsschutz geändert, indem wir den Schwellen- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Richtung hat wert von fünf auf zehn Arbeitnehmer angehoben haben. gestimmt!) (Doris Barnett [SPD]: Da haben Sie ja eine als er sagte, befristete Beschäftigungsverhältnisse sollen (B) Menge getan! – Dr . Heinrich L. Kolb [FDP]: in kleinen Betrieben vermehrt möglich werden. (D) Allerdings! 40 000 Arbeitsplätze!) Ich frage mich, warum wir diese von Ihnen früher im- Das hat sogar etwas bewirkt, liebe Kollegin Barnett; mer als prekär bezeichneten Beschäftigungsverhältnisse denn in dem kurzen Zeitraum, in dem das Gesetz gegol- überproportional fördern sollen, wenn wir dadurch das ten hat, sind, wie uns die Kammern, die IHKs und die Problem nur in die Zukunft verlagern. W arum soll be- Handwerkskammern, mitgeteilt haben, in den Betrieben, fristete Beschäftigung gefördert werden, wenn man die den sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeit- durch eine Veränderung beim Schwellenwert für dauer- nehmer eingestellt haben, überproportional mehr Neu- hafte Festanstellungen in Betrieben sorgen könnte? einstellungen vorgenommen worden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Das war ein echtes Jobprogramm – ohne einen einzigen Denn nach Ablauf der Höchstbefristungszeit baut sich Cent Steuergeld, nur durch eine kleine Veränderung ei- doch die psychologische Barriere zur Einstellung wieder ner psychologischen Barriere. Hierdurch wurde Men- vor dem Verantwortlichen für ein kleines Unternehmen schen die Chance gegeben, wieder in den Arbeitsprozess auf. Er steht dann nämlich vor der Frage, ob er jemanden einzutreten. dauerhaft einstellt und dadurch zeitlich verzögert den Mittlerweile hat auch der Bundeskanzler erkannt, Schwellenwert übersteigt oder ob er jemand Neuen be- dass diese psychologische Hemmschwelle dazu führt, fristet beschäftigt und die eingearbeitete Arbeitskraft dass gerade in den kleinen Betrieben nicht eingestellt freisetzt. Eine Beibehaltung dieser Regelungen erscheint wird. Daran wollen wir anknüpfen. Wir haben deswegen uns nicht als richtig. Deswegen schlagen wir vor , den einen Vorschlag vorgelegt, der nicht nur auf einer Initia- Schwellenwert auf 20 Arbeitnehmer pro Betrieb anzu- tive aus der letzten Legislaturperiode, sondern auch auf heben und, weil ja befristete Beschäftigungsverhältnisse den Bemerkungen Ihres Sachverständigenrates im Jah- schon für zwei Jahre möglich sind, festzulegen, dass der resgutachten 2002/03 basiert. Kündigungsschutz erst nach Ablauf von zwei Jahren ein- setzt. Damit erreichen wir eine rechtliche Gleichstellung. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darauf hören sie ja leider nicht!) (Beifall bei der FDP) – Leider hören sie, Herr Kollege Kolb, nicht auf ihren ei- Wir wollen darüber hinaus die Option schaf fen, beim genen Sachverständigenrat, obwohl sie ihn eingesetzt Abschluss des Arbeitsvertrages auf den besonderen haben. Da die Regierung leider manchmal nicht zuhört Kündigungsschutz zu verzichten, zugunsten entweder 3088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dirk Niebel (A) einer Abfindung oder einer Qualifizierungsabrede, was Kanzler andeutungsweise gesagt hat, ohne gleich zu wi- (C) im Falle einer Entlassung dazu führt, dass derjenige, der dersprechen, ohne sofort in die Betonbarrieren zurückzu- den Arbeitsplatz verliert, bessere Chancen hat, einen kehren. neuen Arbeitsplatz zu bekommen und wieder am Ar- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: beitsprozess teilzuhaben. Dadurch würde auch die Zeit Es reicht!) der Arbeitslosigkeit insgesamt verkürzt. Wir wollen dafür sor gen, dass die SozialauswahlMachen Sie das schon jetzt und nicht erst am Ende der nicht, wie es der Kollege Stiegler gefordert hat, abge- Debatte; denn Sie werden es im Endeffekt doch tun. schafft wird, sondern so gestaltet wird, dass Arbeitneh- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kommen Sie mal mer und Arbeitgeber etwas davon haben. Denn wir sind zum Ende! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die durchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine sozi- brauchen immer so lange, bis sie das Richtige ale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und tun!) Mitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situation beenden, in der oftmals die Luschen bleiben können und Die SPD und ganz besonders die Grünen haben sich zu die Leistungsträger gehen müssen. einem Kanzlerwahlverein entwickelt. Wir werden es am Ende dieser Diskussion sehen, wenn wir die gesetzlichen Deswegen brauchen wir hinsichtlich der Sozialaus- Rahmenbedingungen auch beim Kündigungsschutz än- wahl im Gesetz drei klar definierte Kriterien: die Dauer dern. der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die An- zahl der unterhaltspflichtigen Personen. Das war schon Vielen Dank. Gesetz, als wir es 1997 geändert haben. 1999 ist es von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Rot-Grün mit einem der ersten Korrektur gesetze wieder CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ abgeschafft worden. DIE GRÜNEN]: Sie hatten 29 Jahre Zeit!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehen Sie jetzt endlich ein, dass das ein Fehler war? – Zuruf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Nächster Redner ist der Kollege W ilfried Schreck, GRÜNEN]) SPD-Fraktion. – Da waren Sie, Herr Kuhn, noch nicht Mitglied dieses Hauses; deswegen können Sie das nicht wissen, wenn Wilfried Schreck (SPD): Sie sich nicht eingelesen haben. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (B) (Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) – Herr Dreßen, schreien Sie in Ihren DGB-Veranstaltun- Arbeitsrecht und T arifverträge ergänzen sich in gen, aber nicht hier. Deutschland zu einem dichten Netzwerk geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit. (Beifall bei der FDP) Mit diesen W orten hat der Bundeskanzler in seiner Diese drei Kriterien mit der klaren Maßgabe, dass die Grundsatzrede zur Agenda 2010 am 14. März verdeut- Leistungsträger ausgenommen werden können und der licht, worauf der soziale Frieden in unserem Land be- Betrieb definiert, wer der Leistungsträger ist, führen ruht. Dabei ist das Thema Kündigungsschutz von zentra- dazu, dass die sozialen Notwendigkeiten, die der Arbeit- ler Bedeutung. geber zu gewährleisten hat, berücksichtigt werden, dass aber der Betrieb keine Schädigung dadurch erleidet, dass Als Gesamtbetriebsratsvorsitzender einer Firma, die die falschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen. vor zwölf Jahren circa 30 000 Mitarbeiter hatte und heute weniger als 5 000 hat, weiß ich, wovon ich spre- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt Rechts- che. Wir sind zurzeit nach einer weiteren Fusion zum sicherheit!) dritten Mal in zwölf Jahren dabei, über einen Interessen- Wir wollen mehr Rechtssicherheit für die Menschen ausgleich und Sozialpläne zu verhandeln. in diesem Land. Wir wollen mehr Chancen auf Teilhabe Gerade der Kündigungsschutz stellt die Betriebspar- für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der ei- teien immer wieder vor die Aufgabe, nach Lösungen zu nen Seite und die Arbeit Suchenden und Arbeitslosen suchen und diese gemeinsam zu verantworten. auf der anderen Seite. (Zuruf des Abg. Dr. Reinhard Göhner Ein Ammenmärchen wollen wir von Anfang an been- [CDU/CSU]) den: Wer nicht dem besonderen Kündigungsschutz des Kündigungsschutzgesetzes unterliegt, ist nicht rechtlos – Kommt gleich. – Wir haben zum Beispiel Teilzeitmodelle in diesem Land. entwickelt nach der Faustformel: 10 Prozent weniger Ar- beitszeit – das ist noch leicht zu vermitteln –, 10 Prozent we- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) niger Gehalt – das ist schon schwieriger vermittelbar – und Es gelten noch immer die Regelungen des Bürgerlichen 10 Prozent mehr Beschäftigung, für die sich, denke ich, die Gesetzbuches gegen willkürliche Kündigung und gegen Mühe solcher Diskussionen lohnt. I n bestehenden Betrie- sachfremde Erwägung. V on daher: Kommen Sie mir ben hat das zu weniger Entlassungen geführt, in Neubau- nicht mit solchen Geschichten, machen Sie das, was Ihr kraftwerken zu den berühmten 10 Prozent mehr Einstel- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3089

Wilfried Schreck (A) lungen. Damit haben wir für über 300 Kolleginnen und eines Unternehmens, einen sechsten Mitarbeiter einzu- (C) Kollegen Arbeit erhalten bzw .geschaffen. Übrigens ist stellen, eher gering. das alles passiert in Ausgestaltung bestehender Tarifver- träge und mit ausdrücklicher Billigung unserer Gewerk- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Die Unter- schaft, der IG BCE. – Das wollten Sie doch hören, Herr nehmen sind aber anderer Meinung!) Kollege?! So viel kurz zum praktischen Kündigungs- Eine Kündigung muss nur eine Bedingung erfüllen: Sie schutz. muss begründet sein. Das ist sie, wenn sie als betriebs-, Wie Sie wissen, hat der Bundeskanzler am 14. März personen- oder verhaltensbedingt gelten kann. Der of- aber auch auf die Notwendigkeit von Reformen beim fenbar tief verwurzelten Hemmung können wir begeg- Kündigungsschutz hingewiesen. Heute stehen wir vor nen, ohne die Angst vor dem V erlust des Arbeitsplatzes der Frage: Wer hat dazu das bessere Konzept? für Millionen von Arbeitnehmern zu schüren, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag zur Anhebung des Schwellenwertes (Dirk Niebel [FDP]: Wir!) auf 20 Beschäftigte tun würden. W ir hingegen werden, wie gesagt, neu eingestellte Arbeitnehmer mit befristeten Wir wollen eine Regelung, die gleichermaßen die Inte- Arbeitsverträgen aus der Schwellenwertberechnung her- ressen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber wahrt, aber ausnehmen. auch Neueinstellungen, in erster Linie in Kleinbetrieben, fördert. Was den Wirkungsgrad der von Ihnen beabsichtigten Anhebung auf 20 Arbeitnehmer angeht, empfehle ich Ih- (Dirk Niebel [FDP]: Dann stimmen Sie doch nen Ziffer 470 des von Ihnen angeführten Jahresgutach- zu!) tens des Sachverständigenrats zur Lektüre. Dort ist zu le- Was schlagen S ie dazu vor? Nehmen wir zum Bei- sen, dass verschiedene zur Fragestellung des Einflusses spiel Ihre Forderung, den Schwellenwert für die An- des Kündigungsschutzgesetzes auf die Arbeitslosen- wendung des Kündigungsschutzgesetzes von derzeit quote durchgeführte Untersuchungen zu teilweise recht fünf Arbeitnehmern auf 20 Arbeitnehmer anzuheben.unterschiedlichen Ergebnissen führten. Zusammenfas- Nach derzeitiger Rechtslage gilt das Kündigungsschutz- send wird festgestellt: gesetz erst für Firmen mit mindestens sechs Beschäftig- Der Gesamteindruck ist jedoch, dass sich in diesen ten, das heißt, nur in jedem dritten Betrieb; denn zwei Studien ein verstärkender Einfluss des Kündigungs- Drittel aller Unternehmen beschäftigen weniger als schutzes auf die Höhe der Arbeitslosigkeit nicht be- sechs Mitarbeiter. legen lässt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum wohl, Herr Ich komme nicht umhin, im Zusammenhang mit Ihrem Schreck? Woran mag das wohl liegen?) (B) ersten Änderungsversuch aus dem Jahre 1996 – Herr Kol- (D) Um diese vermeintliche oder echte Schwellenangst zu lege Niebel, Sie haben darauf hingewiesen – auf den da- beseitigen, sehen wir vor , dass neu eingestellte Arbeit- maligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu verwei- nehmer mit befristeten Arbeitsverträgen nicht auf den sen, der auf die Frage, was er von der Änderung des Schwellenwert von fünf Arbeitnehmern angerechnet Kündigungsschutzgesetzes halte, antwortete: werden. Wir haben damals den Schwellenwert von fünf auf (Dirk Niebel [FDP]: Und was ist nach Ende zehn angehoben. Ich habe noch das Handwerk im der Befristung?) Ohr, das 300 000 Arbeitsplätze versprochen hat. Auf die warte ich heute noch. Gerade kleine Unternehmen, die die Basis unserer Volkswirtschaft bilden, können damit mehr Einstellun- Zitat aus der „Lausitzer Rundschau“ vom 7. März 2003. gen vornehmen, ohne in den Geltungsbereich des ver- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Sie meintlichen Schreckgespenstes Kündigungsschutz zu dürfen nicht ver gessen, dass Herr Blüm ein kommen. schwarz lackierter Gewerkschafter ist!) Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich Wenn ich Sie, meine Damen und Herren der FDP- der Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn. In Fraktion, bzw. Ihren arbeitsmarktpolitischen Sprecher, den Niederlanden benötigen die Arbeitgeber für jede Kollegen Niebel, beim Wort nehmen darf, so werden Sie Kündigung eine staatliche Genehmigung, in Österreich uns, wenn unser Gesetzentwurf eingebracht sein wird, und Italien ist auch bei gerechtfertigter Kündigung im- beim Punkt Sozialauswahl voll und ganz unterstützen. mer eine Abfindung zu zahlen, in Frankreich beginnt der Denn neben starren Kriterien wie Lebensalter, Dauer der Kündigungsschutz schon beim ersten Arbeitnehmer. Un- Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten des Ar- ser Kündigungsschutz könnte somit für multinationale beitnehmers sollen Prioritäten auch direkt zwischen Ar- Unternehmen geradezu ein Anreiz sein, hier zu investie- beitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet wer- ren. Leider ist das Thema komplexer. den können. Das müsste Ihrem Flexibilisierungsdrang (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes doch entgegenkommen. Singhammer [CDU/CSU]: Und warum kom- men die nicht?) Zu Ihrer Forderung, Arbeitnehmer, deren weitere Be- schäftigung im betrieblichen Interesse liegt, explizit aus Im Gegensatz zu der oft gezeichneten Horrorvision der Sozialauswahl herauszunehmen, kann ich nur sagen, des Kündigungsschutzgesetzes ist das juristische Risiko dass dies nach § 1 Abs. 3 Satz 2 Kündigungsschutzgesetz 3090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Wilfried Schreck (A) schon heute möglich ist. Wenn es zurzeit nicht praktika- cherheiten stellen, als sie sich im heutigen Erwerbsleben (C) bel ist, muss man es im Gesetz klarstellen bzw . verbes- schon ergeben können. Wenn sich Arbeitnehmer und Ar- sern. beitgeber darauf verständigt haben, dass das Arbeitsver- hältnis auf zwei Jahre befristet ist, so ist beiden Beteilig- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann machen Sie ten der rechtliche Status von vornherein klar. mal! – Dr . Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Dann mal ran!) Die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre – das beinhaltet Ihr Vorschlag doch – Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie wollen, dass Arbeitnehmer mit Abschluss des Arbeitsvertrages (Dirk Niebel [FDP]: Nein, überhaupt nicht! zwischen der Anwendung des Kündigungsschutzgeset- Das wird gar nicht gefordert!) zes und der Zahlung einer Abfindung durch den Arbeit- geber wählen können. lässt Menschen zu lange im Ungewissen. Dies ist der Ar- beitsmotivation auf Dauer wenig dienlich. (Dirk Niebel [FDP]: Das schafft Rechtssicher- heit und Planungssicherheit!) (Dirk Niebel [FDP]: Dann müssten Mitarbeiter in einem V iermannbetrieb völlig unmotiviert Glauben Sie allen Ernstes, dass ein Arbeit Suchender sein!) sich für eine dieser Optionen wirklich frei entscheiden könnte? Die Unterscheidung zwischen befristeten und unbefriste- ten Arbeitsverträgen ist sachlich richtig. Wir planen aber, (Dirk Niebel [FDP]: Selbstverständlich!) Existenzgründern die Möglichkeit einzuräumen, die be- fristete Beschäftigung von Arbeitnehmern zu erweitern. Ihr Vorschlag lässt dem Arbeitnehmer faktisch nur die In den neu gegründeten Unternehmen können dann be- Wahl zwischen dem Verzicht auf den Kündigungsschutz fristete Arbeitsverträge mit einer Dauer bis zu vier Jah- und dem Verzicht auf die Einstellung. ren abgeschlossen werden. Das erleichtert Existenzgrün- Wir halten es für sinnvoller , dass erst im Fall der be- dern in der schwierigen Aufbauphase des Unternehmens triebsbedingten Kündigung die Wahlmöglichkeit zwi- die Entscheidung für Einstellungen. schen einem Abfindungsanspruch in gesetzlich festge- Die von Ihnen geforderte dreiwöchige Ausschluss- legter Höhe und einer Klage auf Bestandsschutz zum frist für alle arbeitsrechtlichen Ansprüche lehnen wir ab. Tragen kommt. Zum einen gibt diese Regelung dem Ar- Einerseits müssen Arbeitnehmer nicht erfüllte Entgelt- beitnehmer die Möglichkeit, in Kenntnis der Umstände und andere Ansprüche im Rahmen der allgemeinen Ver- und der Auswirkung der Kündigung gleichberechtigt, jährungsfristen geltend machen können; andererseits (B) sozusagen auf Augenhöhe, mit dem Arbeitgeber zwi- wollen Arbeitgeber sicherlich nicht auf Lohnrückforde- (D) schen Abfindung und Klage zu wählen. Zum anderen rungs- und Schadensersatzansprüche verzichten. Hier werden damit Kündigungen für den Arbeitgeber bere- obliegt es den Tarifparteien, Ausschlussfristen zu verein- chenbar und Prozesse vermieden, baren, die hinter den allgemeinen Verjährungsfristen zu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben nicht!) rückbleiben. wo es von vornherein nur um die Abfindung geht. Unser Modell des Sozialstaates hat entscheidend zum Erfolg der deutschen W irtschaft beigetragen und ist ein Im Zusammenhang mit der Einführung der Abfin- Fundament unserer demokratischen Entwicklung. Der dungsoption müssen wir auch über die notwendigen Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht das Er gebnis Konsequenzen hinsichtlich des Anspruches auf Arbeits- ökonomischer Prozesse, sondern Ergebnis gemeinsamer losengeld entscheiden, wo wir wieder auf Sie zählen Wertvorstellungen. dürfen. Aber die Umsetzung Ihrer Forderung, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Vertragsabschluss auf Sichere Arbeitnehmerrechte wie die im Kündigungs- die Übernahme von Qualifizierungskosten durch den Ar- schutzgesetz sind elementare Bestandteile unseres Sozial- beitgeber anstelle einer Abfindungszahlung einigen kön- staates und damit auch unserer W ettbewerbsfähigkeit. nen sollen, Dies darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Ich kann daher nur empfehlen, den Antrag der FDP abzuleh- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist sehr vernünftig!) nen. ist, mit Verlaub, nicht nur nicht praktikabel, sondern geht (Dirk Niebel [FDP]: Schlechte Empfehlung!) auch völlig an der Realität vorbei. W eder der Arbeitge- ber noch der Arbeitnehmer wissen bei Abschluss des Ar- Danke. beitsvertrages, ob und welche Qualifizierungsmaßnah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men bei einem Ausscheiden des Arbeitnehmers not- DIE GRÜNEN) wendig und möglich sind und welche Kosten dann ent- stehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ihre Forderung, die Frist in § 1 Abs. 1 des Kündi- Herr Kollege Schreck, ich gratuliere Ihnen sehr herz- gungsschutzgesetzes auf zwei Jahre anzuheben, um sie lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und mit den gesetzlichen Regelungen für befristete Arbeits- wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. verträge zu harmonisieren, würde alle Arbeitnehmer bis zum Ablauf der Zweijahresfrist vor noch größere Unsi- (Beifall) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3091

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Die Union ist sich ihrer besonderen V erantwortung(C) Dr. Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion. gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern be- wusst. Kündigungsrecht und Kündigungsschutzrecht be- Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): treffen schließlich verfassungsrechtlich geschützte Posi- tionen beider Vertragspartner. Es entspricht dem Gebot Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und des sozialen Staates nach Art. 20 und Art. 28 des Herren! Der Ruf nach einer Reform des Kündigungs- Grundgesetzes, dass die Arbeitnehmer gegen grundlose schutzgesetzes wird immer lauter . Verbände von Indus- oder willkürliche Kündigungen des Arbeitgebers ge- trie, Handel, Handwerk und freien Berufen beklagen die schützt sind. Beliebige Kündigungen im Sinne einer un- mangelnde Flexibilität des Arbeitsrechts. Zwischenzeit- begrenzten Kündigungsfreiheit der Arbeitgeberseite sind lich sehen sich sogar einzelne Gewerkschafter ebenso verfassungsrechtlich nicht gedeckt und werden von der wie der von der rot-grünen Bundesregierung als Sach- Union nicht akzeptiert. verständiger ausgewählte VW-Vorstand Hartz die unbe- streitbare Notwendigkeit, das zum T eil weit verstreute (Dirk Niebel [FDP]: Von der FDP auch nicht!) und komplizierte Recht des Kündigungsschutzes zu ver- Andererseits ergibt sich aus der unternehmerischen Ent- einfachen. scheidungsfreiheit für die Arbeitgeberseite ein verfas- In den von der Regierung immer wieder gelobten sungsrechtlich geschütztes Mindestmaß an Kündigungs- Hartz-Vorschlägen wird richtig erkannt, dass der Kündi- freiheit, wiederum gewährleistet durch Art. 2, Art. 12 gungsschutz in seiner jetzigen Form ein Einstellungshin- und Art. 14 des Grundgesetzes. dernis ist. Das Kündigungsschutzrecht hat daher immer die Auf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das steht in je- gabe, einen verfassungsgemäßen Interessenausgleich dem Sachverständigenbericht!) zwischen der Arbeitgeberseite und der Arbeitnehmer- seite zu gewährleisten. Dieser verfassungsgemäße Inte- Angesichts einer Massenarbeitslosigkeit von mehr als ressenausgleich wird angesichts der weit gefassten 4,7 Millionen Menschen können wir uns in Deutschland Generalklauseln des Kündigungsschutzrechts heute Gesetze, die als Einstellungshindernis erkannt worden überwiegend zum Richterrecht, welches das Geschehen sind, nicht länger erlauben. auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland maßgeblich mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) steuert. Dieses Richterrecht ist auch für den interessierten Doch statt auf der Grundlage dieser allgemeinen Er- Laien kaum mehr zu überblicken und führt zur Undurch- kenntnis schnell zu handeln, verzögert die SPD-geführte schaubarkeit bei einer Vielzahl formeller und materieller (B) Bundesregierung die überfällige Diskussion um die Re- (D) Rechtsfragen. Die Rechtsunsicherheit gerade beim Kün- form des Kündigungsschutzrechts und beschränkt sich digungsschutz ist kaum noch steigerungsfähig, zumal die auf vage Ankündigungen möglicher Veränderungen. Rechtsprechung häufigen Schwankungen unterliegt. Das (Dirk Niebel [FDP]: Sie will den 1. Mai ab- Ergebnis sind beispielsweise zwei vorhandene Groß- warten!) kommentare zum deutschen Kündigungsschutzrecht mit bis zu 34 verschiedenen Gesetzesmaterien auf mehr als Angesichts der in Deutschland herrschenden Massen- 3 300 Seiten kommentiert. arbeitslosigkeit wird die Wirkung des Gewerkschaftsrats der SPD deutlich, der zwar , wie man liest, zunehmend (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das schafft Ar- häufiger tagt, aber unfähig ist, notwendige Reforment- beitsplätze! Leider nur im Buchdruck!) scheidungen zu treffen, und der damit das Problem der In diesem Dickicht von juristischen und richterrecht- Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verfestigt. lichen Regelungen finden sich Unternehmer – Kleinun- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr! – ternehmer schon gar nicht – nicht mehr zurecht. Dirk Niebel [FDP]: Der ist ja auch nicht wirk- ( [CDU/CSU]: So ist es! lich legitimiert dafür!) Genau!) Es ist überfällig, die Diskussion um die Reform des Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass es deutschen Arbeitsrechts aus den Hinterzimmern dieses durch die richterrechtliche Ausprägung des Kündigungs- Gewerkschaftsrats herauszuholen und darüber endlich so schutzes in Deutschland zeitraubender und schwieriger wie heute in öffentlicher Sitzung zu diskutieren. ist, einen Arbeitsvertrag aufzulösen als eine Ehe. Dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gilt besonders für personen- und verhaltensbedingte Kündigungen. Das gegenwärtige System des gerichtli- Die gewerkschaftlich organisierte Hinhaltetaktik ist ge- chen Kündigungsschutzes ist zeitraubend, kostenträchtig rade bei der Reform des Kündigungsschutzes weder aus und ineffizient. Gründen des Sozialschutzes der Arbeitnehmer gerecht- fertigt noch angesichts steigender Massenarbeitslosig- Der Deutsche Arbeitsgerichtstag hat vor einiger Zeit keit politisch vertretbar. Es muss gehandelt werden, und Aufwand und Praxis der arbeitsgerichtlichen Überprüf- zwar jetzt. barkeit von Kündigungen gegenübergestellt. In Deutsch- land werden pro Jahr rund 350 000 Kündigungsschutz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- prozesse geführt. Zwischen 80 und 90 Prozent dieser wie der FDP) Kündigungsschutzprozesse enden im Er gebnis ohne 3092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Rolf Bietmann (A) streitiges Urteil mit einer Abfindungszahlung für den werden sollte; diese Einschränkung der Sozialauswahl (C) Arbeitnehmer. Daraus folgt, dass der Kündigungsschutz öffnet nämlich Willkür Tür und Tor. heute in ein Abfindungsverfahren verwandelt worden (Dirk Niebel [FDP]: Das hatten wir bis 1999 ist. schon einmal gesetzlich geregelt!) (Dirk Niebel [FDP]: Richtig! Genau!) Wir begrüßen die von Ihnen und von uns ebenfalls ge- Kritiker sprechen nicht ganz ohne Zynismus vom Abfin- forderte Einführung des Optionsmodells. Hierdurch dungshandel. wird das Arbeitsrecht um ein flexibel anwendbares In- strument erweitert, was der Kalkulierbarkeit der Arbeits- Die Ineffizienz dieses Systems hat verhängnisvolle kosten und vor allem der zügigeren Rechtssicherheit Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, weil es im derzeitigen dient. Zustand die Einstellung von Arbeitslosen massiv behin- dert. Ich sage es noch mal: Auch der von Ihnen immer (Beifall bei der CDU/CSU) wieder zitierte Herr Hartz kommt genau zu dieser Er- Dieses Modell kann greifen, wenn Arbeitnehmer und kenntnis und fordert von den politisch V erantwortlichen Arbeitgeber es vertraglich vereinbaren. Ich will nicht eine Reform, die zu mehr Rechtsklarheit und mehr Flexi- verschweigen, dass man dabei noch einmal gesondert bilität im Kündigungsschutzrecht führt. prüfen sollte, ob es richtig ist, dieses Modell auch in den (Beifall bei der CDU/CSU) Fällen der verhaltensbedingten Kündigungen anzuwen- den; denn bei schuldhaften Arbeitsvertragsverstößen des Die CDU/CSU-Fraktion hat zur Reform des Kündi- Arbeitnehmers kann die Of ferierung von Abfindungs- gungsschutzes und wichtiger arbeitsrechtlicher Regelun- leistungen natürlich geradezu die Provokation des ver- gen ein eigenes Reformwerk entwickelt, welches mit den tragswidrigen Verhaltens beinhalten. Vorstellungen der FDP teilweise übereinstimmt, in ein- zelnen Teilen aber auch abweicht. Im Kern geht es da- (Dirk Niebel [FDP]: Auch nicht vorgesehen in rum, den Sozialschutz des Arbeitnehmers zu sichern und unserem Optionsmodell!) gleichzeitig die unternehmerische Entscheidungskompe- Deswegen sollte man dies, meine ich, noch einmal prü- tenz zu konkretisieren. fen und das Modell bei verhaltensbedingten Kündigun- Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag, den gen nicht anwenden, wohl aber bei betriebsbedingten Kündigungsschutz erst ab einer Betriebszugehörigkeit Kündigungen und natürlich auch bei personenbedingten von mehr als zwei Jahren greifen zu lassen, als nicht un- Kündigungen. problematisch. Die hier von vielen vertretene Auf fas- (Dirk Niebel [FDP]: Genau so ist es vorgese- (B) sung, es könne ohnehin über einen Zweijahreszeitraum hen!) (D) befristet werden, geht nach meiner Ansicht in die falsche Richtung. Zum einen wäre ein Arbeitnehmer mit einem Im Ergebnis kann ich feststellen, dass mit dem Antrag unbefristeten Arbeitsvertrag in den ersten zwei Jahren der FDP die dringend notwendige Debatte um die Re- seiner Tätigkeit schlechter gestellt als mit einem befris- form des Kündigungsschutzes im Parlament eröf fnet teten Arbeitsvertrag – im Rahmen der Befristung ist im worden ist. CDU und CSU werden insoweit mit eigenen Regelfall keine ordentliche Kündigung möglich –, zum Vorschlägen zur Flexibilisierung des deutschen Arbeits- anderen, dies ist der maßgebliche Arbeitsmarktaspekt, rechts über das Kündigungsschutzrecht hinaus vorstellig erschwert der Ausschluss des Sozialschutzes von zwei werden; Jahren die Bereitschaft zum Wechsel von Arbeitsplätzen. (Dirk Niebel [FDP]: Haben wir schon längst Arbeitnehmer, die einmal dem Kündigungsschutzgesetz eingebracht! Stimmen Sie einfach unserem unterfallen, dürften kaum noch bereit sein, dieses Privi- Antrag zu!) leg zugunsten einer neuen Anstellung aufzugeben. Das schadet der Fluktuation im Arbeitsmarkt. denn Veränderungen am Arbeitsmarkt werden wir nur durch mutige Reformen erzielen. W er heute glaubt, er Dagegen ist die von der FDP und auch von der CSU könne alles belassen, wie es ist, versündigt sich an den angestoßene Schwellenwertdiskussion zu begrüßen. Ge- Millionen Menschen, die in unserem Land auch bei gu- rade Kleinbetriebe mit wenigen Mitarbeitern und regel- ter Ausbildung nach Arbeit suchen und sie einfach nicht mäßig ohne größere Kapitalausstattung sind durch das finden. Wer wie der SPD-Gewerkschaftsrat Neuregelun- Kündigungsschutzgesetz erheblichen finanziellen Risi- gen blockiert, handelt nicht sozial; er schadet vielmehr ken ausgesetzt. Die jetzige Regelung verhindert vielfach den Massen von Menschen, die in dieser Republik mit Neueinstellungen in den innovativen kleinen und mittle- Recht den Anspruch auf Arbeit erheben. ren Unternehmen. Die von der FDP geforderte Einführung enumerativer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kriterien in der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. Kündigungen ist richtig. Hierdurch werden klare Rege- lungen geschaffen, die die Akzeptanz des Rechts erhö- Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): hen. Problematisch ist allerdings die im Antrag enthal- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. tene Einschränkung der Sozialauswahl, die wiederum zu rechtlicher Unklarheit bei der Auswahl führt und deswe- Hier haben Rot-Grün und die Bundesregierung kläg- gen – jedenfalls in dieser Form – besser weggelassen lich versagt. CDU und CSU werden nicht ruhen, diesen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3093

Dr. Rolf Bietmann (A) Missstand aufzuzeigen und die Regierung zum Handeln Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) im Interesse der Menschen dieses Landes zu zwingen. Herr Kollege Kuhn, darf Kollege Kolb eine Zwi- Vielen Dank. schenfrage stellen?

(Beifall bei der CDU/CSU) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, das möchte ich nicht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dirk Niebel [FDP]: Das ist schade! Er traut sich Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/ nicht! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er Die Grünen. hätte eine gute Frage gestellt!) – Das macht nichts. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich finde es aber sehr wichtig, überhaupt etwas zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tun, weil es Betriebe gibt, die wegen des Kündigungs- Ich will zunächst einmal für meine Fraktion klar zum schutzes Probleme haben, über die Anzahl von fünf Be- Ausdruck bringen: W ir sehen einen Unterschied zwi- schäftigten hinauszugehen. In diesem Zusammenhang ist schen einem Marktfundamentalismus ohne soziale Rah- anzumerken, dass wir mit der Verbesserung und der Ver- menbedingungen und der sozialen Marktwirtschaft. stärkung der Leiharbeit durch Hartz ein wichtiges In- Marktfundamentalismus, wie Sie von der FDP ihn oft strument geschaffen haben, das es dem zögernden Fir- predigen, ist nicht unser Ding. W ir haben eine soziale meninhaber ermöglicht, intelligente Lösungen zu finden, Marktwirtschaft und der Kündigungsschutz – der Kol- wenn er nicht weiß, wie sich das Geschäft entwickeln lege von der Union hat es schon angeführt – ist elemen- wird. Er lernt so die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. kennen und kann, besser als aus jeder Bewerbung, ein- schätzen, was sie im Betrieb können. W enn sich zeigt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass das Geschäft läuft und das Unternehmen wächst, Dirk Niebel [FDP]: Wir wollen es ja nur rich- sind die Mitarbeiter schon vorhanden, die dann fest in tig machen!) dem Betrieb eingestellt werden können. Dann wagt man Wir streiten also nicht darüber, ob wir Kündigungsschutz es auch leichter, die Grenze von fünf Beschäftigten zu wollen, sondern darüber, wie er richtig gefasst ist, damit überschreiten. Man muss also den Gesamtkontext sehen. auf der einen Seite die Menschen geschützt werden und Hier hat Hartz sicherlich viel geholfen. Das haben wir auf der anderen Seite das nötige Maß an Flexibilität ge- mit Hilfe der Union schon beschlossen. (B) währt wird. Das ist die Basis, von der wir ausgehen müs- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war (D) sen. richtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn ich mit Unternehmern vor allem kleinerer Be- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk triebe spreche und sie frage, welche Probleme sie mit Niebel [FDP]: Genauso wie wir! Hätten Sie dem Kündigungsschutz haben, dann nennen sie oft – das den Antrag gelesen, dann hätten Sie gesehen, sind die Kernargumente –, dass es im Streitfall zu einem dass es bei uns auch so ist!) Prozess vor dem Arbeitsgericht kommt und es ein langes Verfahren mit einem erheblichen Prozessrisiko für die – Sie müssen mir nicht mit solchen Zwischenrufen kom- Betriebsinhaber gibt. In der Regel kommt es aus diesem men, Herr Kollege. Gegen Ihr Problem hilft im Übrigen Grund am Schluss zu einem V ergleich mit einer Abfin- Baldrian. Den gibt es in jeder Apotheke. dung. Ich will nun etwas dazu sagen, wie die Flexibilisie- Wir haben vorgeschlagen, das vorher durch eine Ver- rung ausgestaltet sein muss. Das richte ich vor allem an einbarung über die Höhe der Abfindung zu regeln. Das diejenigen, die Skepsis gegenüber den V orschlägen der ist eine kluge Lösung; denn dadurch wird das Prozessri- Agenda 2010 zum Kündigungsschutz haben. Mir siko gemindert. Außerdem wird verhindert, dass die Ar- scheint der Hauptpunkt zu sein, dass die Betriebe, die beitnehmer weiterhin so tun, als würden sie auf V erlän- sich im Aufbau befinden – dazu zählen vor allem inno- gerung des Arbeitsverhältnisses klagen, in W irklichkeit vative Betriebe, bei denen man noch nicht weiß, ob die aber eine Abfindung bekommen wollen. Das ist Unsinn, innovative Idee des Betriebes in einigen Jahren trägt –, das unterbinden wir. Es wird manchen Ärger, den es bei zögern, ob sie über die Grenze von fünf Beschäftigten den Unternehmern wegen des Kündigungsschutzes gibt, gehen können und sollen. Ich glaube, dass es aus diesem reduzieren. Grund richtig ist, einen bestimmten Maßnahmenkatalog Herr Niebel, ich glaube aber, dass man eine solche Ver- von Flexibilisierungsmöglichkeiten aufzubauen, wie es einbarung nicht beim Einstieg in eine Firma treffen kann, der Kanzler in seiner Regierungserklärung vorgeschla- da keine Waffengleichheit herrscht. Die Position desjeni- gen hat. Ob man eine Gleitzone einrichtet, wie wir vor- gen, der einsteigt, ist sehr schwach. Deswegen muss man geschlagen haben, oder befristete Beschäftigungsver- eine solche Vereinbarung tatsächlich nach der Kündigung hältnisse nicht dazu rechnet, wird man im Einzelnen zu treffen. Der Gesetzgeber hat nur die Aufgabe, den Rah- prüfen haben. Ich glaube, dass beide Möglichkeiten men zu definieren, in dem das Ganze ablaufen soll. funktionieren würden und so die starre Grenze, die wir heute haben, im richtigen Umfang flexibilisiert würde. (Dirk Niebel [FDP]: Dann machen Sie das doch!) 3094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Fritz Kuhn (A) Wir halten Ihren V orschlag, die Grenze auf 20 Be- die Dinge so gestalten könn en, dass der Arbeitgeber Ja (C) schäftigte zu erhöhen, für nicht richtig, weil wir bei der sagt? bestehenden Regelung mit fünf Beschäftigten die Flexi- bilität, die wir brauchen, bekommen können. Deswegen Herr Kuhn, der Kollege Schreck hat zu Recht darauf werden wir Ihrem Vorschlag nicht zustimmen. hingewiesen, dass zwei Drittel aller Betriebe in Deutsch- land fünf oder weniger als fünf Beschäftigte haben. Ich (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein großer sage Ihnen: Es ist kein Zufall. Es ist eben nicht nur das Fehler!) Gefühl, sondern es ist tatsächlich eine sehr rigide Schwelle, die im deutschen Arbeitsrecht eingezogen Ich will zum Abschluss einen Punkt ansprechen, der wurde. Es gibt Untersuchungen bezüglich der W irkun- mir wichtig erscheint. Es gibt manchmal eine Diskus- gen der Änderung des Kündigungsschutzes im Jahr sion, ob die Vorbehalte bei den Unternehmern gegen die 1997. Die Handwerkskammer Oberbayern sagt zum Bei- Kündigungsschutzregelung symbolisch sind oder tat- spiel, dass es deutliche Beschäftigungsef fekte gegeben sächlich bestehen. Gibt es also nur einen gefühlten V or- hat. Diese wären natürlich um so stärker gewesen, wenn behalt oder einen tatsächlichen? Dazu habe ich eine ganz diese Änderung bestehen geblieben wäre. Leider waren klare Meinung: Die Frage ist völlig irrelevant, weil ge- Sie hier beratungsresistent und haben die Änderung des fühlte Vorbehalte tatsächliche empirische Wirkungen ha- Kündigungsschutzes aus dem Jahre 1997 entgegen allen ben können. Warnungen wieder zurückgenommen. Wer glaubt, der Kündigungsschutz behindere ihn, wird Ich möchte Sie noch auf einen Punkt hinweisen: Es tatsächlich so handeln, als würde er durch ihn behindert. wäre auf jeden Fall falsch, mit dieser befristeten Lösung Der richtige Weg ist deshalb ein klares Bekenntnis zum zu arbeiten. Als kleines Unternehmen bekommen Sie Kündigungsschutz als zentralem Element der sozialen keinen qualifizierten Mitarbeiter, wenn Sie ihm sagen Marktwirtschaft. Man muss pragmatisch an die Flexibili- müssen, dass sie ihn zwar befristet einstellen – gegebe- sierung herangehen. Das tut die Bundesregierung. Des- nenfalls für die Höchstdauer der Befristung, die jetzt ge- wegen sind wir auf dem richtigen Weg. setzlich möglich ist –, ihn danach aber nicht übernehmen Wenn Sie noch die eine oder andere gute Idee haben, können, weil dann der Kündigungsschutz greifen würde. dann bringen Sie sie ein; das wäre natürlich willkom- Mit dieser Perspektive können Sie keinen qualifizierten men. Ich glaube aber, dass der Laden auch so läuft. W ir Mitarbeiter für Ihr Unternehmen gewinnen. Darauf werden den Kündigungsschutz in Deutschland verbes- kommt es letztlich an. sern. Letzter Punkt: Wir müssen immer auch die Sicherheit Vielen Dank. der verbleibenden Arbeitsplätze in einem Unternehmen (B) sehen. Gerade wenn es um betriebsbedingte Kündi- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gungen geht, ist es sehr wichtig, dass die Kostenent- und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Alles wicklung, die sich aus der unvermeidlichen Auflösung wird gut!) von Arbeitsplätzen ergibt, so verläuft, dass der Bestand der verbleibenden Arbeitsverhältnisse auf Dauer gesi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chert werden kann. Der Kollege Schreck hat ja gesagt, in Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen teilweise er- Kolb. forderlich sind. Auch von daher ist aus meiner Sicht vom Beginn des Arbeitsverhältnisses an eine Kalkulierbarkeit unabdingbar, wenn man zu einer modernen und zu- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): kunftsgerichteten Lösung des Kündigungsschutzes kom- Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege men will. Kuhn, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. So sehe ich mich veranlasst, Eiern Sie also nicht herum, sondern sagen Sie klar , das als Kurzintervention hier anzubringen. was Sie wollen. Halten Sie bitte auch im Auge, was für die Arbeitnehmer letztendlich am besten ist, nämlich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist aber keine klare und berechenbare Verhältnisse bei der Begründung gute Begründung! Die Präsidentin freut sich des Arbeitsverhältnisses. darüber!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie sagen, dass man irgendetwas tun muss, und stellen es so dar, als sei es kein richtiges Problem, sondern nur gefühlt. Außerdem sagen Sie, Sie wissen noch nicht so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: recht, was Sie tun wollen. Stimmen Sie mir denn zu, Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Recht, zu antwor- dass es letztlich entscheidend darauf ankommt, wie die ten. Sicht desjenigen ist, der ein neues Arbeitsverhältnis be- gründen soll? Dabei geht es in entscheidender Weise um (Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Arbeitgeber, der Ja oder Nein sagt. NEN] begibt sich zum Rednerpult – Dirk Niebel [FDP]: Frau Präsidentin, gehen wir Stimmen Sie mir außerdem zu, dass wir bei der Lö- jetzt immer nach vorne? – Dr . Heinrich L. sung, die wir anstreben, immer im Auge behalten müs- Kolb [FDP]: Keine Frage zulassen, aber nach sen, wie wir in einer möglichst großen Zahl von Fällen vorne marschieren! Das haben wir gerne!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3095

(A) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): land liegt die Quote bei Leiharbeit bei 1 Prozent, in ver- (C) Machen Sie mal halblang! – Bei dem ersten Punkt, gleichbaren Volkswirtschaften sind es 5 Prozent. den Sie angesprochen haben, haben Sie wirklich nicht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woran liegt denn zugehört. Ich habe argumentiert, dass aus dem Gefühlten das?) das Tatsächliche resultiert. In Richtung derjenigen, die sagen, dass es nur eine symbolische Diskussion ist, sage Das müssen wir ändern, damit mehr Leute in Arbeit ich: Es reicht aus, dass ein Unternehmer einen Hinde- kommen. Dadurch gewinnt der Unternehmer Sicherheit; rungsgrund für eine Einstellung fühlt, um nicht einzu- denn er kann bei einem größeren Auftragsvolumen stellen. Leute einstellen, die nach unserem Modell bereits zwei Jahre im Betrieb gearbeitet haben, die er kennt und die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Wir- hoch qualifiziert sind. kung ist da, das geben Sie zu!) Wenn man sich bemüht, die Grundsätze der sozialen – Ich glaube, Sie haben jetzt verstanden, was ich sagen Marktwirtschaft zu wahren, dann werden wir eine prag- will. matische Lösung finden. Über die Details können wir (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] uns noch unterhalten. Dabei können Sie sich einbringen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Heinrich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- L. Kolb [FDP]: Nein, nein!) wie bei Abgeordneten der SPD – Dr . Heinrich – Dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Es ist doch lo- L. Kolb [FDP]: Sehr gern!) gisch, oder? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zwei Drittel der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unternehmen in Deutschland haben fünf oder Nächster Redner ist der Kollege Dr . Göhner, CDU/ weniger als fünf Beschäftigte! Das ist Fakt!) CSU-Fraktion. – Also, ich habe es jetzt zweimal gesagt. Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Zweiter Punkt. Sie sagen, man würde für befristete Stellen keine qualifizierten Mitarbeiter finden. Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Bei allem Streit über Ideen zur V eränderung des Arbeitsrechtes gibt es (Dirk Niebel [FDP]: Das ist schwierig!) seit wenigen W ochen erstmals einen Konsens: Of fen- Ich glaube, dass Sie in vielen Bereichen unserer W irt- sichtlich ist die Erkenntnis, dass das geltende Arbeits- schaft die tatsächliche – – recht, insbesondere das Kündigungsschutzrecht, in (B) Deutschland ein zunehmendes Beschäftigungshemmnis (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gilt nicht, ist, Grundlage dieses neue n Wettbewerbs auf allen Sei- wenn sie unbefristet eingestellt werden!) ten, Vorschläge zur Veränderung des Arbeitsrechtes zu – Interessiert Sie die Antwort eigentlich? machen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch, aber ich Dieses Beschäftigungshemmnis hat sich durch eine bin gerne im Dialog mit Ihnen!) ausufernde, rechtschöpfende, zum Teil geradezu recht- gestaltende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, die der – Ah ja, wir müssten dann nach draußen gehen und Sie Gesetzgeber durch seinen Gestaltungsraum ermöglicht könnten mir einen Kaffee zahlen. So wäre es möglich. hat, und durch zahlreiche Neuregelungen in den letzten (Dirk Niebel [FDP]: Gute Idee! Tschüss!) vier Jahren entwickelt. – Jetzt hören Sie mal zu, damit wir vernünftig miteinan- (Doris Barnett [SPD]: Und durch die FDP!) der reden können. Es ist natürlich zu begrüßen, wenn jetzt zum Teil eine Zu Ihrer These sage ich Ihnen: In ungeheuer vielen Umkehr dieses Prozesses stattfindet. Erster Schritt ist Bereichen unserer W irtschaft ist die Arbeitsmarktlage übrigens die am 1. April dieses Jahres in Kraft getretene so, dass sich auch für befristete Stellen qualifizierte Mit- gesetzliche Neuregelung zu Minijobs. arbeiter finden lassen – das ist doch logisch –, weil die (Klaus Brandner [SPD]: Gute Lösung!) Arbeitnehmer wissen, dass ein befristetes Arbeitsver- hältnis die Chance bietet, dauerhaft in einem Betrieb zu Das war ein Schritt, um die Verriesterung des Arbeits- arbeiten. rechtes wieder zurückzuführen. Die Vorschläge, die der Bundeskanzler zur Veränderung beim Thema Sozialaus- (Dirk Niebel [FDP]: Das sollten Sie mal dem wahl gemacht hat, entsprechen übrigens weit gehend Kollegen Dreßen sagen!) dem Programm der CDU/CSU und auch dem vor geleg- Die Realität in den Betrieben ist so, dass die Unter- ten Antrag der FDP. Er läuft auf den Rechtszustand von nehmer aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht vor 1998 hinaus. wissen, ob sie ein kurzfristiges Wachstum mit der Ein- (Dirk Niebel [FDP]: Richtig!) stellung neuer Mitarbeiter auf fangen sollen oder nicht. Sowohl die Leiharbeit als auch die befristeten Arbeits- Ich halte es für richtig, auch in diesem Punkt die Verries- verhältnisse bieten hier gute Chancen. Schauen Sie sich terung des Arbeitsrechtes zurückzunehmen. Übrigens doch einmal die Zahlen zur Leiharbeit an. In Deutsch- wäre es für die Bundesregierung einfach, ein schnelles 3096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Reinhard Göhner (A) Ergebnis zu liefern: Sie braucht wirklich nur den Rechts- zusätzlich zu der von den Arbeitgebern zur Hälfte mitge- (C) zustand von vor 1998 herzustellen. tragenen Arbeitslosenversicherung eine weitere Verteue- rung von Arbeit bedeuten. Sie sollten sich überlegen, ob Ich finde es sehr bemerkenswert, was schon an weite- Sie tatsächlich an dieser Stelle ein solches Wahlrecht vor- ren Änderungen im Arbeitsrecht beschlossen ist und im legen können. Bundesgesetzblatt steht. Das erwähne ich deshalb, Herr Kuhn, weil man jetzt keinen Popanz aufbauen und sich Der Vorschlag der FDP und der CDU/CSU zu einer als Hüter der sozialen Marktwirtschaft und der Rechte Optionslösung ist demgegenüber ein vollständig ande- der Arbeitnehmer darstellen sollte. Es ist nicht so, als ob rer. Er bedeutet durchaus mehr Flexibilität, mehr Rechts- wir diejenigen seien, die all das aufgeben wollten. sicherheit und vor allem eine Verbesserung von Einstel- lungschancen. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das macht er Abschluss eines Arbeitsvertrages künftig vereinbaren immer!) können, anstelle des Kündigungsschutzes bei betriebsbe- Die Tatsache, dass seit Anfang dieses Jahres Arbeitsver- dingten Kündigungen eine gesetzlich geregelte Min- hältnisse für Arbeitnehmer ab 52 Jahren ohne Begren- destabfindung vorzusehen, dann beseitigt das eben die zung sachgrundlos zumindest bis 2006 befristet werden heute bestehende Unkalkulierbarkeit des Kündigungs- können, halte ich für richtig. Dies war T eil des Pro-schutzes, die S ie beim Vorschlag der Bundesregierung gramms der CDU/CSU, dem die SPD im W ahlkampfbehalten. heftig widersprochen hat. Die FDP war immer dieser (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der Meinung; das weiß ich. Immerhin ist auch dies ein Unterschied!) Schritt, um die Verriesterung des Arbeitsrechtes zurück- zunehmen. Der Vorteil ist: In diesen Fällen weiß der Arbeitneh- mer, welche Abfindung er bekommt, und der Arbeitge- Ich muss allerdings sagen, dass Sie mit einem Ihrer ber weiß, dass er sich nicht auf einen unkalkulierbaren Vorschläge all das wieder konterkarieren könnten, näm- langen Rechtsstreit einlassen muss, falls er keine Arbeit lich dem vom Bundeskanzler eingebrachten V orschlag mehr hat, und er kennt die Kosten dieser Lösung. eines Wahlrechtes für die Arbeitnehmer, bei betriebsbe- dingten Kündigungen künftig zwischen Abfindung oder (Dirk Niebel [FDP]: Und Willkür ist trotzdem Kündigungsschutzprozess wählen zu können. ausgeschlossen!) Diese Optionslösung hat den Vorteil, dass in allen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Fällen, in denen sich der Kündigungsschutz als Beschäf- Herr Kollege Göhner , gestatten Sie eine Zwischen- tigungshemmnis auswirkt, Arbeitnehmer und Arbeitge- (B) frage des Kollegen Dreßen? ber eine arbeitsvertragliche Vereinbarung treffen kön- (D) nen, die dieses Beschäftigungshindernis beseitigt. Das nutzt also denjenigen, die keine Arbeit haben, und be- Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): deutet für alle, die heute Arbeit mit Bestandsschutz und Nein. – Das würde zu einer nachhaltigen Verteue- Kündigungsschutz haben, kein e Beeinträchtigung ihrer rung des Kündigungsschutzes in Deutschland und zu Rechte. noch mehr Rechtsunsicherheit führen. Zum hier vorliegenden Antrag der FDP für eine sol- Nach geltendem Recht erfo lgen etwa 60 Prozent der che Optionsregelung habe ich allerdings einen zentralen betriebsbedingten Kündigungen in Deutschland ohne Einwand. Herr Bietmann hat es eben angedeutet. Nach Abfindung. Es gibt übrigens Untersuchungen, zum Bei- dem eindeutigen Wortlaut Ihres Antrags würde Ihre Op- spiel von der Hans-Böckler -Stiftung, die besagen, dass tionsregelung auch bei einer verhaltens- oder personen- diese Zahl noch höher sei. 75 Prozent der Kündigungen bedingten Kündigung, die eindeutig der Arbeitnehmer werden ohne Kündigungsschutzprozess abgewickelt. zu vertreten hätte, von ihm verschuldet, sogar provoziert Nach dem Vorschlag des Bundeskanzlers gäbe es dem- wäre, greifen. Das können Sie nicht ernsthaft meinen. gegenüber immer entweder eine gesetzlich geregelte Ab- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist auch nicht so!) findung für den Arbeitnehmer oder einen Kündigungs- schutzprozess, der im Übrigen, wie Herr Kuhn richtig Deshalb rege ich an, dass Sie Ihren Antrag in diesem sagt, in aller Regel auch eine Abfindung regeln würde. Punkt korrigieren. Denken Sie beispielsweise einmal an einen Hand- Ich glaube, dass wir vor dem Hintergrund des Kon- werksbetrieb mit zehn Arbeitnehmern. Wenn der plötz- senses, dass das Arbeitsrecht heute ein weitgehendes lich keinen Auftrag mehr hat oder nur noch Aufträge, die Beschäftigungshemmnis darstellt, wirklich überlegen nur für die Beschäftigung von zwei oder drei Arbeitneh- müssen, wie wir eine Fortentwicklung des Kündigungs- mern reichen – leider ist das keine theoretische Konstel- schutzes und des Arbeitsrechts – übrigens auf mehr Fel- lation, sondern etwas, was wir in der Praxis massenhaft dern als nur dem Kündigungsschutz – hinbekommen, bei bei der katastrophalen wirtschaftlichen Lage feststellen –, der nicht die V erteuerung von Arbeit die Folge ist und dann würde der Betrieb nach diesem V orschlag Abfin- bei der Sicherheit und Flexibilität für Arbeitnehmer und dungen zu zahlen haben. Das würde die Existenz dieses Betriebe miteinander verbunden werden können. Ich Betriebes massiv gefährden und zusätzlich zu den un- sehe bei den Vorschlägen der Bundesregierung kein hin- streitig fortgeltenden Kündigungsschutzfristen bis zu sie- reichendes Konzept, mit dem diese Ziele verwirklicht ben Monaten – zum Teil sind sie sogar noch länger – und würden, weil sie gerade das Gegenteil, nämlich eine Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3097

Dr. Reinhard Göhner (A) teuerung des Kündigungsschutzes bewirken. Das kann – Was heißt „Ihren“? Er berät uns alle. (C) eigentlich nicht Ihre Absicht sein. Deshalb appelliere ich an Sie, Ihre Vorstellungen in diesem Punkt zu überden- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Nein! Es ken. ist ein Sachverständigenrat der Bundesregie- rung!) (Dirk Niebel [FDP]: Das steht hier drin!) Sie berufen sich, wie gesagt, auf die Er gebnisse des Ich glaube, dass die Optionslösung im Sinne einer arbeits- Sachverständigenrats und picken sich Ihre Ar gumente vertraglichen Vereinbarung für den Fall einer nur be- heraus. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Frage: Sind triebsbedingten Kündigung der richtige Weg wäre. Um es Sachverständige und Weise nicht in Wirklichkeit – wir noch einmal den Kollegen der FDP zu sagen: Das geht haben selbst auch leidige Erfahrungen damit gemacht – nicht bei allen Kündigungen von Arbeitgeberseite. Aber wie Wegweiser? Sie weisen den W eg, sind ihn aber nie für betriebsbedingte Kündigungen sollte es einen solchen selbst gegangen und merken deswegen vielleicht nicht, Weg geben. Wir brauchen bei der Fortentwicklung des dass in der Zwischenzeit Umleitungen oder auch andere Arbeitsrechts die Mischung von mehr Flexibilität und Hindernisse aufgetreten sind. Sicherheit. Die ist möglich, deshalb verabschieden Sie sich von Ihrem Vorschlag des Kündigungsschutzrechts. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie Eunuchen! Die wissen, wie es geht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Ich muss bis auf eine Ein- Ist das Kündigungsschutzgesetz abgesehen von aller schränkung klatschen!) Psychologie und Symbolik wirklich ein Beschäfti- gungshemmnis? Schrecken kleine Betriebe in Wirklich- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: keit vor möglichen Einstellungen zurück? Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin (Dirk Niebel [FDP]: Sonst hätte es der Kanzler Doris Barnett, SPD-Fraktion. doch nicht gesagt! Es ist Ihr Kanzler , der das gesagt hat!) (SPD): Doris Barnett – Hören Sie doch auf! – Sie können das nicht mit seriö- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sen Zahlen belegen. Das zeigt doch Ihr Feldversuch. Der Es geht doch nichts über gepflegte V orurteile, Herr Kollege Schreck hat vorhin sogar den ehemaligen Ar- Niebel und meine Damen und Herren von der CDU/ beitsminister Blüm zitiert. Welchen besseren Zeugen da- CSU. Eines der zumindest von Ihnen gepflegten Vorur- für könnte man denn sonst noch bringen? teile scheint zu sein, dass das Kündigungsschutzrecht (B) (D) unbedingt abzuschaffen sei. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Aber Sie wollen ihn doch selbst einschränken!) Sie beschweren sich auch ständig, dass es in unserem Land an Investitionen, Aufträgen, Fachkräften und Be- Es gibt 3,5 Millionen Beendigungen von Arbeitsver- triebsmitteln fehle. trägen pro Jahr. Ungefähr die Hälfte davon wird in Form von Kündigungen von den Arbeitnehmern selbst veran- (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das stimmt lasst. Das zeigt doch, dass der Arbeitsmarkt in stetiger doch auch! Das ist unstreitig!) Bewegung ist. Es herrscht eine erhebliche Fluktuation. Arbeit sei zwar vorhanden, aber nicht für den erwarteten Entlassungen und Einstellungen finden täglich in Grö- Lohn. Die Arbeitskosten seien zu hoch, die Lohnneben- ßenordnungen von Zigtausenden statt. Dabei stellt der kosten müssten gesenkt werden und die Arbeitnehmer Kündigungsschutz offenbar doch kein so großes Hemm- sollten viel mehr selbst in ihre soziale Sicherheit inves- nis dar. Dass die Zahl der Einstellungen bei Betrieben tieren. mit sechs bis neun Beschäftigten, die Sie derzeit beson- ders im Blick haben, höher ist als in Kleinstbetrieben Gleichzeitig soll die Inlandsnachfrage kräftig steigen. oder in Großbetrieben, ist sicherlich auch bekannt. Der Arbeitnehmer von heute soll flexibel, hoch moti- viert, bestens ausgebildet – die Ausbildungskosten sollen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das liegt aber an am besten von Dritten getragen werden –, höchst verant- der Zahl der Betriebe!) wortungsbewusst, spendabel für Sicherungssysteme und höchst spendabel für eine florierende Inlandsnachfrage, Viele Tarifverträge sorgen für passgenaue Arbeitsver- hältnisse. Diese Tarifverträge wurden auch von den Ar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt pflegen Sie beitgebern unterschrieben, Herr Niebel und Herr aber Ihre Vorurteile!) Göhner. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, die Ar- beitgeber seien dazu von den Gewerkschaften, von de- aber recht bescheiden sein, wenn es um Lohnforderun- nen Sie behaupten, dass niemand mehr hinter ihnen gen und Schutzrechte geht. steht, erpresst worden? Sie sollten einmal Ihre Argumen- Deswegen greift die FDP wieder einmal den Kündi- tation auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. gungsschutz auf: Wenn der abgeräumt ist, dann gibt es auch mehr Arbeitsplätze. Die FDP beruft sich dabei auf (Dirk Niebel [FDP]: Sie sind hier nicht der den Sachverständigenrat. Vertreter der Arbeitgeber! W ir sind, glaube ich, die einzigen Vertreter der Arbeitslosen, die (Dirk Niebel [FDP]: Ihren!) es noch gibt!) 3098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Doris Barnett (A) Nur gegen 11 Prozent der Kündigungen durch die Ar- viel besser als unser Vorschlag bzw. als der des Bundes- (C) beitgeber wurde mit Klagen vor gegangen. In der Hälfte kanzlers. dieser Fälle wurde geklagt, weil bereits vorher der Be- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist so!) triebsrat der Kündigung widersprochen hat. Insofern war das doch für den Arbeitgeber ein deutliches Zeichen da- Mir ist klar: Die FDP will die Sozialauswahl durch für, dass die betriebsbedingte Kündigung vielleicht doch ein Abfindungsrecht ersetzen. nicht gerechtfertigt war. Dieses Risiko war dem Arbeit- geber bekannt, als er trotzdem auf der Kündigung be- (Dirk Niebel [FDP]: Nein!) standen hat. So viel zur Rechtssicherheit. – Das ist so, ganz egal, was Sie, Herr Niebel, auch be- (Dirk Niebel [FDP]: Dann hat sich der Kanzler haupten. am 14. März wohl geirrt!) (Dirk Niebel [FDP]: Wir glauben im Gegensatz Lassen Sie uns trotzdem die Ziffern II.3 und II.4 Ihres zu Ihnen an den mündigen Arbeitnehmer!) Antrags näher betrachten, Herr Niebel. W er das Recht – Da haben Sie aber die Rechnung ohne den W irt ge- der Überprüfung der ordnungsgemäßen oder rechtmäßi- macht. Beim Lesen Ihres An trags ist mir ein weiterer gen Auswahl zur Disposition stellt – das tun Sie –, weil Punkt aufgefallen. Dort heißt unter Ziffer II.3: der Arbeitnehmer beim Unterschreiben des Arbeitsver- trags auf sein Klagerecht verzichten und stattdessen Er- Die Arbeitnehmer, deren W eiterbeschäftigung im satz erhalten soll – entweder in Form einer Abfindung berechtigten betrieblichen Interesse liegt, werden oder einer Weiterbildung, wobei gegenwärtig niemand aus der Sozialwahl ausgenommen werden. Wer das absehen kann, wie sich die Situation nach 15 Jahren dar- ist, entscheidet die Betriebsleistung. stellt und ob der Arbeitgeber dann noch solvent ist –, Ist „Betriebsleistung“ richtig? (Dirk Niebel [FDP]: Dann muss man darüber (Dirk Niebel [FDP]: Nein, die Betriebslei- reden! Die Option müssen wir einbauen!) tung!) schafft die Sozialauswahl letztendlich ab. Da können Der vom Bundeskanzler unterbreitete V orschlag Sie sagen, was Sie wollen. schafft die Sozialauswahl dagegen nicht ab, sondern (Dirk Niebel [FDP]: Das hat nur Herr Stiegler macht sie rechtssicher. Es gibt drei leicht nachprüfbare gefordert! Daran erinnere ich mich!) Kriterien – Sie haben schon darauf hingewiesen –: Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsver- Bisher gilt: Klagen gegen betriebsbedingte Kündigun- pflichtungen. gen sind nur erfolgreich – ich hoffe, Sie geben mir darin (B) (D) Recht –, wenn die Sozialauswahl nicht stimmt. In dem (Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie das Fall entsteht auch ein Abfindungsanspruch. Solche Kla- 1999 eigentlich abgeschafft?) gen – das ist richtig – kosten Zeit und Geld und beinhal- Der Bundeskanzler hat außerdem vor geschlagen, dass ten ein gewisses Risiko. sich die Arbeitnehmervertreter mit dem Arbeitgeber ei- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das ist nigen, was – daran hat er wohl gedacht – dem Gedanken falsch, was Sie sagen!) des § 125 der Insolvenzordnung entspricht. Das ist, denke ich, ein gangbarer Weg. Das schafft auf jeden Fall Klagen gegen sozial gerechtfertigte betriebsbedingte Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Kündigungen – wenn die Sozialauswahl stimmt – lösen keinen Kündigungsschutz und auch keinen möglichen (Dirk Niebel [FDP]: Dann können wir es ja Anspruch auf Abfindung aus. gleich wieder einführen!) Das FDP-Modell sieht dagegen Abfindungen bzw. ei- Die Arbeitnehmer sollen nach unseren V orstellungen nen Weiterbildungsanspruch bei jeder – wahrscheinlich nach betriebsbedingten Kündigungen das Recht haben, meinen Sie: betriebsbedingten – Kündigung vor . Haben zwischen Abfindung und Klageweg zu wählen. Ich weiß Sie sich jemals wirklich ernsthaft mit Arbeitgebern darü- nicht, was daran so schlimm sein soll, Herr Göhner; ber auseinander gesetzt, wie hoch dann das Kostenrisiko (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Mehr Un- für sie wird? Hier wird – man stelle sich das vor – die sicherheit, mehr Kosten!) FDP plötzlich zu einem unkalkulierbaren Risiko für die deutsche Wirtschaft. denn das heißt ja nicht, dass es einen Abfindungsan- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das ist spruch bei einer berechtigten Kündigung gibt. Über die teilweise existenzbedrohend! Das ist so!) Hälfte der von Arbeitgebern ausgesprochenen Kündi- gungen – darauf habe ich schon vorhin hingewiesen – Oder sollen Abfindungsansprüche doch wieder ge- haben den Mangel, dass der Betriebsrat nicht zuge- richtlich überprüft werden? stimmt hat. In solchen Fällen besteht für den Arbeitgeber ein großes Risiko. Wenn der Arbeitnehmer aber mit ei- (Dirk Niebel [FDP]: Mit einem Annahmever- ner Abfindung einverstanden ist, dann hat der Arbeitge- zug von drei Jahren!) ber nicht mehr das Risiko, eventuell viel Geld zahlen zu Den Salto mortale, den Sie, Herr Göhner , eben vollführt müssen. Eine solche Regelung ist eine große Erleichte- haben, kann ich, ehrlich ge sagt, nicht nachvollziehen. rung für die Arbeitgeber. Wenn wir das im Gesetz veran- Sie haben nämlich behauptet, das FDP-Modell sei so kern, dann müssen wir auch keine Sperrzeiten aufheben, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3099

Doris Barnett (A) Herr Niebel; denn wer sich gesetzeskonform verhält, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (C) kann später auch nicht bestraft werden. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Die FDP und Ministerpräsident Stoiber versuchen gierung jetzt, eine zweite Variante ins Spiel zu bringen. Danach Sondergutachten des Rates von Sachverstän- soll der Kündigungsschutz erst für Betriebe mit mehr als digen für Umweltfragen 20 bzw. 80 Mitarbeitern – das will Herr Gillo aus Sach- Für eine Stärkung und Neuorientierung des sen – gelten. Naturschutzes (Dirk Niebel [FDP]: Herr Milbradt ist nicht in – Drucksache 14/9852 – der FDP!) Überweisungsvorschlag: Dazu kann ich nur sagen: T olle Sache! Damit würden Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) über 4,5 Millionen bzw. fast 11 Millionen Beschäftigte Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ihres Rechts beraubt; denn sie unterlägen nicht mehr Ausschuss für Tourismus dem Kündigungsschutz, wenn man dem folgen würde. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Dirk Niebel [FDP]: Reden Sie doch über un- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich seren Antrag!) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Vorschlag des Bundeskanzlers greift dagegen über- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin haupt nicht in bestehende Schutzrechte ein; denn für Astrid Klug, SPD-Fraktion. Betriebe mit weniger als fünf Mitarbeitern gilt das Kün- digungsschutzgesetz weiterhin nicht, und zwar auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe dann nicht, wenn sie befristet Beschäftigte zum Bei- Küster [SPD]: Das wird eine kluge Rede!) spiel für die Bewältigung von Auftragsspitzen oder für die Eroberung neuer Märkte einstellen. Das ist für ei- Astrid Klug (SPD): nen atmenden Betrieb viel vernünftiger und besser als Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! die von Ihnen vor geschlagene zweijährige Probezeit, Liebe Kolleginnen und Kollegen! W ir diskutieren jetzt die sich außerdem konträr zur bisherigen Rechtspre- über neue strategische Ansätze im Naturschutz für chung verhält. Deutschland. Das ist ein spannendes Thema; denn der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reichtum eines Landes bemisst sich nicht nur an mate- DIE GRÜNEN) riellen Gütern, den wahren Reichtum eines Landes er- (B) kennt man vielmehr an der Schönheit und an der Vielfalt (D) Die Vorschläge des Bundeskanzlers er gänzen dies in seiner Naturgüter. zumutbarer Weise, ohne in die Grundstruktur des Kündi- gungsschutzgesetzes einzugreifen, das dem Schutz vor (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Willkür dient. Der geforderte Interessenausgleich wird DIE GRÜNEN) verwirklicht und das Vertrauen nicht verletzt. W er aber Wenn ich im Frühling bei mir zu Hause im wunder- an die Substanz des Kündigungsschutzrechts geht, der schönen Bliesgau im Südosten des Saarlandes – das Na- will Willkür im Betrieb. Genau das ist es, was Sie wol- turschutzgroßvorhaben Saar-Bliesgau/Auf der Lohe ist len; denn Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Betriebs- ein tolles, aber, wie im Naturschutz üblich, auch ein um- leitung entscheiden müsse, wer herausfliegt. strittenes Naturschutzprojekt – unterwegs bin, die blü- henden Bäume genieße – seit ich den Job hier habe, Hören Sie mit Ihren überzogenen Forderungen an die kommt das leider selten genug vor –, die ersten Mai- Arbeitnehmer auf. Sägen Sie nicht den Ast ab, auf dem glöckchen entdecke und das mor gendliche Zwitschern Sie sitzen. Auch Sie werden froh sein, wenn es bald wie- der Vögel höre, dann ist das ein Stück Lebensqualität, der genügend Arbeitnehmer gibt. Schließen Sie sich un- die auch die nächsten Generationen noch verdient haben. serer Politik mit Augenmaß an und erarbeiten Sie ge- Wir müssen heute etwas dafür tun, dass auch sie die meinsam mit uns ein vernünftiges Kündigungsschutz- Möglichkeit haben werden, das zu genießen. gesetz. Das würde allen dienen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eine lebendige, eine lebensfähige Natur und die bio- DIE GRÜNEN) logische Vielfalt sind die V oraussetzungen für unsere Existenz, für unsere Zukunft und auch für die Lebens- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: qualität, von der ich eben gesprochen habe. Das wissen Ich schließe die Aussprache. wir alle. Trotzdem befindenwir uns in einer ständigen Spannung – auch das kennen wir alle –: Naturschutz Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf kontra Wirtschaftsansiedelung, Naturschutz kontra Stra- Drucksache 15/430 an die in der Tagesordnung aufge- ßenbau, Naturschutz kontra Landwirtschaft, Naturschutz führten Ausschüsse vor geschlagen. Sind Sie damitkontra Arbeitsplätze. Damit verbunden sind Konflikte, einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- die vor allem vor Ort ausgetragen werden. Der Natur- sung so beschlossen. schutz zieht dabei noch immer zu oft den Kürzeren. 3100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Astrid Klug (A) Das Sondergutachten für eine Stärkung und Neuori- dem Jahr neu der Natur und damit auch unseren natürli- (C) entierung des Naturschutzes, das wir heute diskutieren, chen Lebensgrundlagen entziehen, entspricht der Hälfte versucht, diese Spannung aufzulösen. Dieses Gutachten der Fläche Berlins. Der Sachverständigenrat setzt in sei- benennt offen Hemmnisse und Konflikte, die die Durch- nem Gutachten beim Thema Flächenverbrauch und Flä- setzung von Naturschutzinteressen behindern, und es chenzerschneidung einen deutlichen Schwerpunkt. Dies enthält einige sehr intelligente und sehr pfif fige Vor- begrüßen wir ausdrücklich. Wir sehen uns ebenfalls dem schläge, wie der Naturschutz stärker strategisch und stär- ehrgeizigen Ziel verpflichtet, die Flächeninanspruch- ker erfolgsorientiert ausgerichtet werden kann. nahme bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar zu senken. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Na, Das Gutachten schlägt eine Reform der Wohnbauför- na, na!) derung vor, damit in Zukunft Altbausanierungen, die städtebauliche Verdichtung und die Umnutzung ehemali- Der Dank der SPD-Bundestagsfraktion gilt ausdrück- ger Industriebrachen Vorrang vor Neubauten auf der grü- lich allen Mitgliedern und Mitarbeitern des Rates von nen Wiese haben. Die von uns, der rot-grünen Koalition, Sachverständigen für Umweltfragen, die uns eine gute angestrebte Neugestaltung der Eigenheimzulage gibt Arbeitsgrundlage und wichtige Bausteine für eine natio- darauf eine erste wichtige Antwort. nale Naturschutzstrategie übergeben haben. Wir fangen in Sachen Naturschutz zum Glück nicht Auch die Idee des Umweltrates, mit handelbaren Flä- bei null an. W ir haben 2002 dasBundesnaturschutz- chenausweisungsrechten und einem ökologischen kom- gesetz novelliert, was von den Sachverständigen aus- munalen Finanzausgleich vor Ort Naturschutz und Flä- drücklich als Fortschritt begrüßt wird. Bundesregierung chenschonung ökonomisch attraktiv zu machen, hat und Bundestag haben im letzten Jahr die Nachhaltig- einen echten Reiz; denn auch im Naturschutz gilt: Ohne keitsstrategie für Deutschland beschlossen, welche die Moos nix los. Je stärker das ökonomische Gewicht des Indikatoren definiert und Ziele festschreibt, auch für den Naturschutzes ist, desto größer ist auch seine Durchset- Naturschutz. Wir haben die Bürgerbeteiligung verbessert zungsfähigkeit. und die Rolle der Naturschutzverbände als Anwälte der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Natur gestärkt, auch in dem Wissen, dass die frühzeitige DIE GRÜNEN – Dr . Peter Paziorek [CDU/ Einbindung der Öffentlichkeit der Akzeptanz des Natur- CSU]: Das werden wir mal der Frau Höhn in schutzes dient. Gesetze und hoheitliches Handeln sind Nordrhein-Westfalen schicken!) ohne Zweifel notwendig; aber Überzeugung, Einsicht und Verhaltensänderung sind noch immer erfolgreicher, Sehr geehrte Damen und Herren, die Nachhaltigkeits- sinnvoller und im Sinne des Naturschutzes besser. strategie, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, war (B) und ist die Grundlage, der rote Faden unserer Politik. (D) (Beifall bei der SPD) Eine Naturschutzstrategie, für die das Gutachten Bau- Es ist erfreulich, dass dieser Bereich im Gutachten ei- steine liefert, ist die fachliche Konkretisierung und Er- nen breiten Raum einnimmt. W ir müssen diese V or-weiterung für den Bereich Naturschutz, die wir brau- schläge aufgreifen und in diesem Parlament zum Thema chen, weil Nachhaltigkeit kein Zustand, sondern ein machen, um sie später in konkretes politisches Handeln dynamischer Prozess ist, um den wir ständig und perma- umzusetzen. nent ringen müssen und den wir ständig und permanent weiterentwickeln müssen. Wir haben praktische Erfolge erzielt, die Mut ma- chen: Von 1990 bis 2001 ist es gelungen, die Fläche der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Naturschutzgebiete zu verdoppeln. Die W asserqualität DIE GRÜNEN) der großen Fließgewässer hat sich erheblich verbessert. Der Bestand einzelner schutzwürdiger Pflanzen- und Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor sechs Tierarten konnte in den letzten Jahren stabilisiert und Monaten mit dem Anspruch in dieses Haus gekommen, ihre Population konnte sogar ausgebaut werden. dass Politik für heute nur gut ist, wenn sie auch mor gen noch richtig ist, und dass sich alle unsere Diskussionen Aber trotz aller großen und kleinen Erfolge bleibt und Entscheidungen daran messen lassen müssen, ob sie noch mehr zu tun. W er das Gutachten liest, kann davor nachhaltig und auch morgen und übermorgen noch trag- die Augen nicht verschließen. Zwei Drittel aller in fähig sind. Ich freue mich, dass ich meine erste Rede in Deutschland vorkommenden Biotoptypen werden als ge- diesem Parlament zu einem Thema halten durfte, das fährdet eingestuft, 15 Prozent sind sogar von völliger diesem Anspruch gerecht wird. Die Natur braucht uns Vernichtung bedroht. Fast 40 Prozent der in Deutschland Menschen nicht, aber wir brauchen die Natur. Sägen wir vorkommenden Tierarten und 28 Prozent der Pflanzen- also nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen, sondern sorgen arten sind in ihrem Bestand gefährdet oder sogar schon wir gemeinsam dafür, dass die Empfehlungen des Son- ausgestorben. Der Umweltrat legt den Finger in die dergutachtens für eine Stärkung und Neuorientierung Wunde, benennt die Ursachen und formuliert ehr geizige des Naturschutzes kein Papiertiger , sondern politische Ziele. Realität werden. Das größte Problem ist der Flächenverbrauch. In Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den letzten zehn Jahren wurden bundesweit an jedem Tag zwischen 120 und 130 Hektar Fläche versiegelt; das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind bis zu 175 Fußballfelder. Die Fläche, die wir in je- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3101

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Tier- und Pflanzenarten und deren Lebensräume hinaus, (C) Frau Kollegin Klug, Sie haben es gerade selber ge- denn er bezieht sich – so das Gesetz – auf die Leistungs- sagt: Es war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. fähigkeit des gesamten Naturhaushaltes, die Nutzungsfä- Auch Ihnen gratuliere ich dazu recht herzlich und wün- higkeit der Natur güter und die V ielfalt, Eigenart und sche Ihnen politisch und persönlich alles Gute. Schönheit der Landschaft. Unserer Meinung nach muss sich der Naturschutz in Deutschland daher am Leitbild (Beifall) der Nachhaltigkeit orientieren. Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . MariaMit dem Begriff Sustainable Development, nachhal- Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion. tige Entwicklung, machte die so genannte Brundtland- Kommission auf die Herausforderungen einer globalen Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Umwelterhaltung und einer gerechten Ressourcenbe- wirtschaftung aufmerksam und beschloss ein Hand- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und lungskonzept, die Agenda 21, als Leitprinzip der Politik. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vorgelegte Gleichzeitig wurde deutlich, dass nachhaltige Politik Sondergutachten ist ein sowohl umfangreicher als auch nicht allein ökologische Aspekte beinhalten darf, son- inhaltsschwerer Bericht, der zahlreiche gute V orschläge dern gleichberechtigt und gleichgewichtig ökonomische zur Verbesserung des Naturschutzes in Deutschland ent- und soziale Aspekte berücksichtigen muss. hält. Leider – diese kleine Kritik sei mir erlaubt – ist der Bericht insbesondere in seinen Eingangskapiteln so sehr Da mehr als die Hälfte des Bundesgebietes landwirt- mit Fachbegriffen gespickt, dass er ohne Spezialwissen schaftlich und fast ein Drittel forstwirtschaftlich genutzt gar nicht ohne weiteres lesbar ist. werden, kommt der Einbeziehung der Land- und Forst- wirtschaft in den Naturschutz eine herausragende Be- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr gut!) deutung zu. Oder wissen Sie, meine sehr geehrten Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegen, welche Bedeutung eudaimonistische Ar gu- mentationen gegenüber einer holistischen oder sentien- Zudem ist ein großer T eil der biologischen Vielfalt in tistischen haben? Mitteleuropa erst durch Zurückdrängung des Waldes und die Schaffung unserer offenen Kulturlandschaften durch Bei allen Versuchen des Gutachtens, den Naturschutz die landwirtschaftliche Nutzung entstanden. Daher sind nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch-philosophisch auch viele Arten an agrarisch genutzte Ökosysteme ge- zu begründen, sollten seine Verständlichkeit und Lesbar- bunden. Bei einer Verbuschung landwirtschaftlicher Flä- keit darunter nicht zu sehr leiden, insbesondere dann, chen durch Nutzungsaufgabe geht die erwünschte Arten- (B) (D) wenn die Gutachterkommission es als wichtige Forde- vielfalt verloren. rung erachtet, die Akzeptanz für den Naturschutz in der Bevölkerung durch bessere Information und Kommuni- Die CDU/CSU-Fraktion orientiert sich deshalb am kation zu verbessern. Schade also, dass der vorliegende europäischen Agrarmodell, das eine multifunktionelle Bericht weite Kreise der interessierten Bevölkerung Land- und Forstwirtschaft mit dem Ziel einer wettbe- nicht erreichen kann. werbsfähigen Erzeugung und Entwicklung der Leistun- gen in der Landschaftspflege und im Naturschutz sowie Bitte erlauben Sie mir noch eine V orbemerkung. Als der ländlichen Räume in Einklang zu bringen sucht. Die Christdemokratin, die aus einigen Richtungen dieses effizienteste Form der Pflege ist eine Verbindung der na- Hauses in den letzten Wochen häufig und vehement auf turschutzfachlichen Anforderungen mit der Nutzung. das „C“ im Namen ihrer Partei hingewiesen wurde, möchte ich es im Rahmen der ethisch-philosophischen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Grundlegung des Naturschutzes nicht versäumen, den Vertragsnaturschutz und der Einsatz moderner Landtech- Begriff der Schöpfung in diese Diskussion einzuführen. nik im Rahmen der Präzisionslandwirtschaft ermögli- Die Bewahrung der Schöpfung ist ein christliches und chen unter anderem die Wahrnehmung dieser Aufgabe. genuin konservatives Anliegen. Der alttestamentliche Auftrag „Macht euch die Erde untertan“ fordert den (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen dazu auf, die Natur und ihre Ressourcen ver- Doch das Umweltgutachten stellt fest: antwortlich zu nutzen, das heißt, für sie Sorge zu tragen. Vorbehalte gegen Ziele des Naturschutzes können (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht verwundern, wenn die betrof fenen Personen neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE … finanzielle Einbußen oder ähnliche Nachteile GRÜNEN und der FDP) wie etwa Bewirtschaftungserschwernisse in Kauf nehmen müssen. Meine Damen und Herren, die Natur ist ohne direkten Bezug zum Menschen in den dicht besiedelten Regionen Und weiter: Europas bzw. Deutschlands, in denen wir leben, nicht Derzeit reicht die Gesamtfinanzierung der Agrar- vorstellbar, unberührte Natur in Nationalparks nach US- umweltmaßnahmen nicht aus ... amerikanischem Vorbild bei uns daher fast nicht darstell- bar. Zudem geht der Naturschutz, wie in § 1 des Bundes- Umso verwunderlicher, ja sogar schädlich im Sinne naturschutzgesetzes neuerer Fassung definiert, auch weit des Naturschutzes erscheint es, wenn die Mittel der über den Schutz seltener oder vom Aussterben bedrohter Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küsten- 3102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Maria Flachsbarth (A) schutz“ im Haushalt 2003 um 107 Millionen Euro auf Lassen Sie mich noch ein paar W orte zumVertrags- (C) 764 Millionen Euro gekürzt wurden. Auch Umweltver- naturschutz sagen. Naturschutz ist nicht an öffentliches bände wie der BUND, der NABU, der WWF und andere Eigentum gebunden. So kann zum Beispiel das europäi- fordern den Erhalt der Gemeinschaftsaufgabe und deren sche Biotopverbundsystem „Natura 2000“ nicht allein langfristige Absicherung. auf Flächen der öffentlichen Hand verwirklicht werden. Naturschutz ist Aufgabe aller und kann nur durch maß- (Beifall bei der CDU/CSU) gebliche Beteiligung aller Betroffenen an einer eigenver- Meine Damen und Herren, noch ein Detail: Die Bun- antwortlichen Naturschutzarbeit erreicht werden. desmittel müssen durch die Länder mit 60 Prozent ko- Ein aus der Sicht der CDU/CSU besonders geeignetes finanziert werden. Bei der Förderung der Länder für Instrument ist der V ertragsnaturschutz. Er genießt V or- Agrarumweltmaßnahmen gibt es übrigens gravierende rang vor dem hoheitlichen Instrumentarium der Auswei- Unterschiede. Laut Agrarbericht der Bundesregierung sung von Schutzgebieten mit Ge- und V erboten, wenn förderten 2001/02 Baden-Württember g diese Maßnah- die naturschutzrechtliche Zielsetzung auch auf diesem men mit 104 Euro je Hektar, Bayern mit 64 Euro je Hek- Weg zu erreichen ist. Durch freiwillige V ereinbarungen tar, Nordrhein-Westfalen mit ganzen 1 1, Niedersachsen und Selbstverpflichtung kann der Eigentümer von mit 4 und Schleswig-Holstein mit lediglich 1 Euro je Schutzgebietsflächen dazu beitragen, besonders wichtige Hektar. Kleinstrukturelemente wie Hecken, W iesen, Raine und (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Äcker mit Wildkräutern zu erhalten. Die Akzeptanz für den Naturschutz wird durch diese Maßnahmen, wie auch Die drei letztgenannten Länder hatten zum Zeitpunkt im Sachverständigenratsgutachten gefordert, höher, weil der Untersuchung sozialdemokratische bzw . rot-grüne die Menschen vor Ort mitgenommen werden und auch Regierungen. Bezüglich des Zugrif fs aufAgrarum- ehrenamtliches Engagement entsprechend gewürdigt weltprogramme der EU hat die Bundesregierung den wird. Dazu ist es allerdings notwendig, dass Haushalts- deutschen Landwirten mit der Novelle des Bundesna- mittel für ganz konkrete Projektarbeit vorgesehen wer- turschutzgesetzes eine neue nationale Hürde aufgebaut: den. Durch die Ausweitung der gu ten fachlichen Praxis in Deutschland werden Fördermöglichkeiten der EU bei (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau!) zahlreichen Umweltprogrammen in den Ländern aufs Leider weist der ohnehin schon reduzierte Haushalt des Spiel gesetzt. In anderen europäischen Staaten mit ge- BMU für 2003 über die Hälfte seiner Mittel für den Ver- ringeren nationalen Standards sind dieselben Maßnah- waltungshaushalt aus. men der vor Ort wirtschaftenden Landwirte dann aber förderfähig. Dies ist ein weiteres Mal ein Stück Wettbe- In diesem Zusammenhang geht die Empfehlung der (B) (D) werbsverzerrung durch deutsche Sonderwege. Sachverständigen, die personellen Kapazitäten in den Naturschutzbehörden auszubauen, an der finanziellen Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, der zur- Wirklichkeit von Bund, Lä ndern und Kommunen leider zeit in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert völlig vorbei. Den Vorschlag, Arbeitsfelder, die kein ho- wird, jedoch auch in direktem Zusammenhang mit der heitliches Vorgehen erfordern, auszulagern, unterstützen Thematik Landwirtschaft und Naturschutz steht. Ich wir allerdings nachdrücklich. denke an die ener getische Nutzung vonBiomasse. Ihre gezielte Förderung würde eine zusätzliche Einnahme- (Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/ quelle für die Landwirtschaft eröffnen und bei entspre- CSU]) chender Auswahl der Ener giepflanzen eine extensivere Als mögliche Partner sind W asserversorger, der ehren- Bewirtschaftung der Nutzflächen ermöglichen. Rasch amtliche Naturschutz, zum Beispiel die Naturschutzsta- wachsende Pflanzen vermindern zudem die Gefahr der tionen in Niedersachsen, oder auch die Landwirtschafts- Bodenerosion. Die Nutzung von Abfallprodukten aus kammern zu nennen. der Tierhaltung in Biomasseanlagen bringt zudem hygie- nische Vorteile, senkt die Geruchsbelästigung und er- Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen möglicht eine verbesserte Verfügbarkeit von Pflanzennähr- noch ein zentrales Anliegen der Sachverständigen nach- stoffen. Das Klimagas Methan wird zur Energieproduktion haltig unterstützen: die Erarbeitung wissenschaftlicher genutzt und der CO2-Ausstoß wird insgesamt vermin- Grundlagen bzw. Grunddaten. Die Sachverständigen dert. Die Bündelung der Fördermittel im Rahmen des stellen fest, dass im Bereich von Natur und Landschaft EEG und im Rahmen von Agrarumweltprogrammen die Datenlage uneinheitlich und lückenhaft ist und zu- wäre daher sinnvoll und würde eine Ef fizienzsteigerung dem allgemein anerkannte Erhebungs- und Auswer- der Fördermaßnahmen zur Folge haben. tungsmethoden fehlen. Dies betrif ft insbesondere die Umsetzung der V ogelschutz- und der FFH-Richtlinie. Der Ausbau der ökologisch so vorteilhaften Biomas- Ohne diese Daten ist die Erarbeitung und Überwachung sekraftwerke darf unserer Meinung nach nicht durch die konkreter regionaler und überregionaler Umweltschutz- weit überzogene Verschärfung der Grenzwerte im Rah- ziele aber nicht möglich. Die Erhebung und Bewertung men der neuen Kompost- bzw . Klärschlammverordung dieser Daten könnte zugleich mit einer Förderung der behindert werden, die das Verbringen der Reststoffe aus mit dieser Aufgabe betrauten Universitäten und Hoch- Biokraftwerken als Dünger auf landwirtschaftlich ge- schulen verbunden werden. Aber wenn denn diese Daten nutzte Flächen nämlich unmöglich machen würde. vorliegen, dann lassen Sie uns bitte auch seriös mit ihnen (Beifall bei der CDU/CSU) umgehen, meine Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3103

Dr. Maria Flachsbarth (A) Die von den Sachverständigen im Sonder gutachten in alle Politikbereiche einzubringen. Ich werde darauf (C) vielfach aufgestellte Forderung, den Landverbrauch noch aus aktuellem Grund zurückkommen. Ferner sagt unter den Wert von 130 Hektar pro Tag zu senken, ist er, es sei notwendig, das Bundesnaturschutzgesetz jetzt nur zu unterstützen. Allerdings sollte auch nicht ver- auch tatsächlich umzusetzen. Außerdem fordert er die schwiegen werden, dass der Landverbrauch durch Ver- Länder nachdrücklich auf, über Nachmeldungen für eine siegelung längst auf 70 Hektar pro Tag gesenkt werden vollständige Meldung von FFH-Gebieten – übrigens konnte. Der höhere Wert ergibt sich nur dann, wenn die auch ein Fachterminus – zu sorgen. Schließlich fordert er bei Bauvorhaben erforderlichen Ausgleichsflächen in nachdrücklich, an der Möglichkeit von V erbandsklagen den Gesamtlandverbrauch einbezogen werden. Dies ist festzuhalten. Das alles bestätigt in der Summe zu allerdings keine seriöse Argumentation und fördert eben 100 Prozent die Politik dieser Bundesregierung und der nicht die Transparenz und damit die Akzeptanz des Na- sie tragenden Koalition von SPD und Grünen. turschutzes, die wir doch alle gemeinsam wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herzlichen Dank. und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich freue mich, dass auch diejenigen, die aus den Rei- neten der FDP) hen der Opposition hier gesprochen haben, dazu positiv Stellung bezogen haben. Zugleich bitte ich Sie aber auch, sich einmal in den Ländern umzuschauen, die sich zurzeit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei der Naturschutzpolitik positionieren. Anstatt alles da- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieser ranzusetzen, das Bundesnaturschutzgesetz, das nur ein Debatte einige Jungfernreden in diesem Hohen Haus er- Rahmengesetz ist – die eigentliche Kompetenz liegt hier- lebt. Auch für Sie, Frau Kollegin Flachsbarth, war es die für bei den Ländern –, bis zum Frühjahr 2005 umzusetzen erste Rede. Herzlichen Glückwunsch, verbunden mit den – da läuft die Frist nämlich ab –, will die neue CDU-FDP- besten Wünschen für Sie persönlich und politisch! Koalition in Hannover, wie ich in der Koalitionsverein- (Beifall) barung gelesen habe, nicht etwa für eine schnelle Umset- zung sorgen, sondern eine Initiative starten, damit einige Nächster Redner ist der Bundesminister für Umwelt, Regelungen aus der gerade novellierten Fassung des Bun- Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. desnaturschutzgesetzes zurückgenommen werden. Das finde ich doch sehr merkwürdig, wie Sie, meine Damen Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- und Herren von der Opposition, sich vor diesem Hinter- schutz und Reaktorsicherheit: grund zu dem Gutachten positiv äußern. (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Es geht aber noch weiter: Das Gutachten hat gerade (D) glaube – das ist das Erfreuliche an der hohen Beteiligung die Rolle der mündigen Bürgerinnen und Bürger im Na- von Niedersachsen, die hier schon geredet haben und turschutz unterstrichen, indem in ihm festgestellt wurde: noch reden werden –, dass wir uns in einem Punkt par- Naturschutz kann man nur mit den Menschen machen. tei- und fraktionsübergreifend einig sind: Der Sachver- Das heißt aber auch, dass die Natur an bestimmten Stel- ständigenrat für Umweltfragen hat mit seinem Sonder- len einen Anwalt braucht. Gerade die naturschutzrechtli- gutachten gute Arbeit geleistet. Ich will, liebe Frau chen Regelungen, für deren Rücknahme Ihre Landesre- Flachsbarth, damit aber nicht in Abrede stellen, dass das gierung in Hannover sich einsetzen will, greifen ja den Gutachten, auch wenn es im W esentlichen unter Feder- christlichen Gedanken der Schöpfung auf, indem erstma- führung einer Hannoveranerin, nämlich von Frau Profes- lig – Herr Göppel wird das wissen, er hat uns ja ordent- sor von Haaren von der Universität Hannover , erstellt lich gedrängt – darin enthalten ist, wurde, in der Tat verständlicher hätte formuliert werden (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aber lei- können. Wir haben das in den Vorgesprächen auch ange- der nicht in der Bibel!) merkt, aber Sie wissen ja, wie das mit den Wissenschaft- lerinnen und W issenschaftlern ist: Sie legen W ert aufdass die Natur auch um ihrer selbst willen zu schützen ist. ihre Fachsprache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich freue mich vor allen Dingen deswegen über dieses sowie bei Abgeordneten der SPD) Gutachten, weil es wesentliche Eckpunkte unserer Na- Wir haben dazu gesagt, dass solche Aussagen nichts nüt- turschutzpolitik bestätigt. Sie haben einen angesprochen, zen, wenn die Natur keinen Anwalt hat. Deswegen ha- nämlich die Reduzierung des Flächenverbrauchs auf ben wir in das Naturschutzrecht eingefügt, dass die aner- 30 Hektar pro Tag. Dieser Punkt ist bereits Bestandteil kannten Naturschutzverbände, also diejenigen, die sich der Nachhaltigkeitsstrategie, die diese Bundesregierung bei Planverfahren für die von Ihnen ja genannten Nut- entwickelt hat. Auf diesem W eg können wir auch die zungen als Anwalt der Natur betätigen, auch Rechte er- vorgeschlagene Naturschutzstrategie umsetzen, nämlich halten. Was aber beschließt der Bundesrat unter dem im Rahmen der Fortentwicklung der von uns erarbeite- Vorwand der Planbeschleunigung? Man wolle genau ten Nachhaltigkeitsstrategie. diese Möglichkeit von Verbandsklagen wieder rück- gängig machen, also weniger statt mehr Bür gerbeteili- Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat gung im Naturschutz. prangert auch in anderen Bereichen genau dieselben Punkte an, die auch wir immer angeprangert haben. Er (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Verbandsklage sagt: Wir müssen uns darum bemühen, den Naturschutz hat doch nichts mit Bürgerbeteiligung zu tun!) 3104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Bundesminister Jürgen Trittin (A) – Lieber Herr Paziorek, Sie sagen, die CDU wolle Natur- Wir gehen ihn und wir würden uns freuen, wenn mehr (C) schutz mit den Menschen machen, und wissen, dass die Kollegen so mutig wären, diesen Weg im Alltag mitzu- von der CDU mit unterzeichnete Aarhus-Konvention, gehen. die übernächstes Jahr in Deutschland bindendes Recht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird, ein umfassendes Verbandsklagerecht vorsieht. Da und bei der SPD) ist es doch nicht konsistent, sondern eher verrückt, wenn nun CDU/CSU-regierte Bundesländer den Bundestag Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung ma- mit dem Vorschlag behelligen, wir sollten diese Rege- chen, weil Herr Paziorek da sitzt und die ganze Zeit dar- lung für zwei Jahre wieder aussetzen. auf wartet. Sie haben mir neulich gesagt, ich hätte mich in der Umweltpolitik verhalten wie Richard Kimble auf Sie wissen doch, dass die Verbandsklage ausweislich der Flucht. Das hat mich nachdenklich gemacht. Sie ha- aller Untersuchungen, zum Beispiel in der Schweiz, die ben in diesen Tagen an einer Reihe von Dingen gesehen, dieses Instrument länger hat, und in den Bundesländern, dass ich alles andere als auf der Flucht bin. Darüber hin- die es haben, nicht etwa zu einer V erlängerung, sondern aus sollten Sie bei diesem V ergleich eines berücksichti- zu einer Beschleunigung von Planverfahren, aber auch gen: Vielleicht haben Sie gedacht, Sie seien der Marshal, zu einer verbesserten Abwägung geführt hat. der Herrn Kimble nachstellt. Wenn Sie sich den Film an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schauen, werden Sie feststellen: Richard Kimble und bei der SPD) (Helga Daub [FDP]: Sah klasse aus!) Deswegen sollten wir uns bei aller Freude über das, ist unschuldig, er ist der Gute; der Marshal ist der Böse. was hier gesagt worden ist, darüber im Klaren sein, dass In diesem Sinne haben Sie sich die falsche Rolle ausge- im Naturschutz mehr als in allen anderen Bereichen gilt: sucht, Herr Paziorek. Es nützt nichts, sich nur in Sonntagsreden darauf zu be- ziehen; man muss ihn im Alltag wirklich praktizieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch die W idersprüche,die sich daraus er geben, und bei der SPD) aushalten. Ein anderes Beispiel, das ich ebenfalls der Koalitions- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vereinbarung der CDU und der FDP in Niedersachsen Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunk- entnommen habe. Dort steht, man wolle bei Umwelt- horst, FDP-Fraktion. schutzmaßnahmen künftig eine Wettbewerbsverträg- lichkeitsprüfung einführen. Angelika Brunkhorst (FDP): (B) (Lachen des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) legen! Der Erfolg von Naturschutzmaßnahmen hängt nicht zuletzt von der Akzeptanz des Bürgers ab. Von da- Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier eben her steht für uns Liberale der Mensch im Mittelpunkt al- gesagt haben. Sie haben gesagt, der Naturschutz müsse ler Überlegungen zum Naturschutz. Bestandteil aller Politikbereiche werden. W enn Sie eine Wettbewerbsverträglichkeitsprüfung einführen, dann (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kommen Sie genau an den Punkt, an dem wir in den der CDU/CSU) Auseinandersetzungen über die Naturschutzgebiete wa- Das hier vorliegende Sondergutachten macht deutlich, ren. Damals hieß es: Ihr schafft hier ein Naturschutzge- welche Erfolge im Naturschutz schon erzielt worden biet, das aber gefährlich für die touristische Nutzung ist, sind. Die Kollegin hat bereits einige genannt; ich will sie denn es verzerrt den W ettbewerb. Deswegen kommt es nicht wiederholen. Aber der Sachverständigenrat hat den nicht infrage. Teilerfolgen die zugegebenermaßen größeren Defizite, Die Erfahrung mit dem Naturschutz ist in W irklich- die es noch gibt, gegenüber gestellt. Er schlägt einen keit eine andere, wie ich am Beispiel des Nationalparks Maßnahmenkatalog unter dem Oberbegrif f „nationale Bayerischer Wald und des Nationalparks Harz – ich Naturschutzstrategie“ vor. Ich erkenne darin diverse Ver- könnte das aber auch an anderen Beispielen deutlich ma- schärfungen sowohl im Planungs- als auch im Natur- chen – zeigen kann: Am Ende hat sich diese schutzrecht. Wettbewerbsverträglichkeitsbetrachtung als eine kurz- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) sichtige Betrachtung herausgestellt; denn es hat sich ge- zeigt, dass der Nationalpark Bayerischer W ald allein im Dem können wir so nicht uneingeschränkt folgen. Natur- Landkreis Freyung 30 000 neue Arbeitsplätze geschaf- schutz wird von den Bür gern in der Regel schon heute fen hat und der Nationalpark Harz inzwischen mit Zu- als restriktive und bürokratische Ordnungspolitik wahr- stimmung der Gemeinden erweitert wird, weil er sich zu genommen. Das ist häufig so. W ir Liberalen meinen, einem Touristenmagnet entwickelt hat. dass die verschiedenen Interessenlagen eine ausbalan- ciertere Gewichtung haben müssen. Zum einen muss die Deswegen ist unser Weg, der Weg, den die Sachver- Lebensqualität durch den Erhalt der Naturhaushalte und ständigen an dieser Stelle vorschlagen, nämlich Natur- der Vielfalt der Arten gesichert werden. Natürlich müs- schutz in alle Politikbereiche zu integrieren, einen inte- sen auch sozioökonomische Interessen gewahrt werden, grierten Ansatz gerade in der Nachhaltigkeitsstrategie zu zum Beispiel die Interessen des T ourismus und des finden, der richtige Weg. Es ist der Weg dieser Koalition. Sports. Die Erfüllung der Anforderungen an die Raum- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3105

Angelika Brunkhorst (A) ordnung muss berücksichtigt werden und, ganz wichtig, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) das Recht des ländlichen Raumes auf Entwicklung muss der CDU/CSU) gewahrt bleiben. Die FDP ist der Meinung, dass die Fachgesetzgebung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in der V ergangenheit demNaturschutz schon ausrei- chend Instrumente in die Hand gegeben hat. Wie auch in Gerade die quantitativen V orgaben für Biotopver-anderen Politikfeldern liegt jedoch – darin stimmen wir bünde lassen den Eindruck zu, dass der ländliche Raum mit dem Sachverständigenrat überein – ein Umset- peu à peu zum ökologischen Reserveraum werden soll. zungsdefizit vor. Daher begrüßen wir den Vorschlag, die Naturschutz ist aber eine Aufgabe, die gesamtgesell- Umweltbeobachtung zu systematisieren und besser zu schaftlichen Nutzen erbringt. Die derzeitige Lastenver- koordinieren. teilung ist jedoch in einer Schieflage. Ich will insbeson- dere auf die Land- und Forstwirte eingehen, die durch Allerdings muss ich dazu sagen: Die FDP hat bereits die Einschränkung ihrer Nutzungsrechte auch wirt- in der letzten Legislaturperiode Anstrengungen unter- schaftliche Einbußen hinnehmen. Sie werden im Mo- nommen, ein biogeografisches regional orientiertes Um- ment über Gebühr in die V erpflichtung genommen und weltmonitoring durchzusetzen, das satellitenunterstützt in ihren Eigentumsrechten beschnitten. betrieben werden sollte. Die Vertreter der Regierungsko- alition haben das Projekt leider nicht mitgetragen; des- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halb war ein so exzellenter Vorschlag nicht umzusetzen. Der Vertragsnaturschutz war ein gutes Instrument, Für die Zukunft wünsche ich mir eine sehr gute fach- um den Naturschutz einerseits und eine anteilige Exis- liche Zusammenarbeit, die sich insbesondere an den Be- tenzsicherung in der Land- und Forstwirtschaft anderer- dürfnissen der Regionen und der Bürger, die darin leben, seits unter einen Hut zu bekommen. Ich bedauere sehr , ausrichtet. dass in der Novelle des B undesnaturschutzgesetzes der Vertragsnaturschutz quasi ausgehebelt worden ist. Herr Ich möchte zum Schluss sagen: Bei der V erwirkli- Minister Trittin, hier muss ich leider sagen: Das haben chung aller gesellschaftlichen Prozesse, Projekte, Ziele Ihre Regierungsfraktionen bewirkt. und Werte wünsche ich mir neben einer Überprüfung der Umweltverträglichkeit und der Sozialverträglichkeit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch eine Überprüfung der Wettbewerbsverträglich- keit. Naturschutz ist nur in der Allianz mit der Land- und Forstwirtschaft möglich. Daher brauchen wir dringend Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit. die auch vom Sachverständigenrat geforderten Agrarum- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) weltprogramme auf nationaler und europäischer Ebene, (D) in denen vor allen Dingen die Aufträge klar umrissen werden und für ihre Ausführung eine angemessene Ent- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lohnung vorgesehen wird. Frau Kollegin Brunkhorst, ich gratuliere Ihnen zu Ih- rer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) allen guten Wünschen für Ihre weitere parlamentarische In diesem Punkt gehen wir ebenfalls mit dem Umweltrat Arbeit. konform. (Beifall) Meine Damen und Herren, der Umweltrat geht in sei- Nun hat die Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller nem Gutachten weiter auf das Problem des Flächenver- das Wort für die SPD-Fraktion. brauchs ein, das hier schon angesprochen worden ist. Der vorgeschlagenen Begrenzung der Flächenversiege- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): lung auf 30 Hektar pro Jahr und im Endef fekt vielleicht dem völligen Verzicht auf Versiegelung können wir aber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte nicht folgen. Ein Flächenverbrauch von 130 Hektar pro nicht Frau Klug aus dem hier geredet, hätten Tag ist natürlich völlig unakzeptabel. Aber lassen Sie wir die Debatte glatt nach Hannover verlegen können. mich, genau wie die Kollegin vorhin, auch den Unter- Ich halte meine Rede aber lieber hier. schied deutlich machen: Besiedelt ist nicht gleich versie- Es ist wieder so weit. Die Luft ist lauer, selbst hier in gelt. Da muss man schon noch ein wenig differenzieren. Berlin. Bei mir zuhause blühen die Märzenbecher und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ganze Völkerscharen sind auf den Beinen, um den Blü- der CDU/CSU) tenteppich am Schweineber g – so heißt dieser Ort bei uns – anzuschauen. Mor gens – vielleicht tun das einige Vielmehr sollen die Gemeinden vor Ort eine ökolo- von Ihnen – können wir uns von Vogelzwitschern wecken gisch sinnvolle Flächenausweisungspolitik betreiben, lassen. Kraniche und Gänse – das haben Sie hof fentlich immer Hand in Hand mit de m Bürger vor Ort. Der Bür- alle gemerkt – sind auch schon vorbeigezogen. Kein ger, der in der Gemeinde lebt, soll für uns Liberale das Zweifel: Der Frühling ist da. Eigentlich können wir mehr Sagen haben. Das Signal darf nicht lauten: mehr Ge- als froh sein, dass unsere Natur uns immer noch so reich setze; das Signal muss lauten: mehr Selbstverpflichtung beschenkt. Denn wir – in diesem Punkt ist das Sondergut- für den ressourcenschonenden Umgang mit der Natur . achten des Sachverständigenrates für Umweltfragen ganz Dahin wollen wir. klar – könnten für die Natur entschieden mehr tun. 3106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Naturschutzpolitik in Deutschland kann auf Erfolge in Vielmehr spielen die von den Akteuren subjektiv (C) den letzten Jahren zurückblicken; das stimmt. Viele gute wahrgenommenen ökonomischen, sozialen oder Beispiele wurden von meinen Vorrednerinnen und auch politischen Problemlagen eine entscheidende Rolle. von dem Minister genannt. Aber leider ist genauso rich- tig: Wir haben immer nochviele Defizite im Natur- Wir werden sicher im Ausschuss die Gelegenheit ha- schutz. ben, über Lösungsansätze zu diskutieren – sie sind in diesem Gutachten in Fülle enthalten – und Möglich- Frau Klug und andere Vorrednerinnen haben zu Recht keiten zur Akzeptanzverbesserung zu besprechen. Sie als eines der großen Probleme den Flächenverbrauch reichen von ökonomischen Anreizen – zum Glück be- herausgestellt. Die Inanspruchnahme von Flächen ist ein schränken sie sich aber nicht darauf – über die Einfüh- gigantischer naturzerstörerischer Vorgang. Genauso pro- rung diskursiver Kommunikationsverfahren bis hin zur blematisch ist allerdings die Flächenzerschneidung, die Erhaltung von Rechtsmitteln der Verbände. wir Tag für Tag erleben. Wir alle wissen um den entste- henden Schaden und scheinen ihn locker in Kauf zu neh- Ich bin dem Minister dankbar dafür, dass er deutlich men. Solange Kommunen durch die Ausweisung neuer angesprochen hat, welche Gegenbewegung hier am Baugebiete und Flächen miteinander konkurrieren – teil- Werke ist. Es kann nicht sein, dass wir das Verbands- weise konkurrieren müssen –, solange Gesteinsabbau klagerecht, das endlich im Bundesnaturschutzgesetz ge- sehr lukrativ ist, weil Ersatzmaterial teuer und nicht weit regelt worden ist, zurückentwickeln. Allen Ernstes: Das genug entwickelt ist, so lange werden die Naturschützer nimmt uns niemand ab. Wir würden in Europa wieder ei- wie Sisyphus Stück für Stück kleine Flächen zurückero- nen Sonderweg gehen; das wird hier als Argument stra- bern und gleichzeitig große verlieren – mit Streit und Är- paziert. Das ist mit uns nicht zu machen. ger, mit Nutzungs- und Interessenkonflikten. W eil ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus dem Weserbergland komme, kann ich in Sachen Ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) steinsabbau viel dazu erzählen. Insbesondere wenn es darum geht, Aspekten des Wettbewerbs den Vorrang ein- Ich möchte dem Hause nicht vorenthalten, dass man zuräumen, ahne ich, was uns in nächster Zeit droht. dann dem Muster folgt: Die pralle Natur soll auf alle Fälle bis dicht an die Leitplanken funktionieren. Dann Dabei sind wir alle eigentlich einer Meinung: dass die haben wir auf der Überholspur freie Fahrt. Ich denke, so Bedeutung der Natur für unsere Lebensqualität gar nicht kann man allen Ernstes keine Naturschutzpolitik betrei- hoch genug einzuschätzen ist. Obwohl dies allenthalben ben. bekräftigt wird, gilt für den Naturschutz das so genannte NIMBY-Problem. Dies ist ein Begrif f aus dem Gutach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten. Ich erkläre ihn gerne: NIMBY ist die Schwester von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) TINA. Die kennen wir alle, sie heißt auf Deutsch: Da Schon die „Daten zur Natur 2002“ zeigten, dass wir ist keine Alternative. NIMBY – englisch: not in my nach wie vor auch auf nationaler Ebene Handlungsbe- backyard – heißt: Überall, aber nicht bei mir. Dieses Pro- darf im Hinblick auf den Erhalt der biologischen Viel- blem treffen wir im Naturschutz häufiger an. Je konkre- falt haben. Aus naturschutzfachlicher Sicht schlägt zum ter Naturschutzmaßnahmen der Entfaltung menschli- Beispiel der Sachverständigenrat vor, rote Listen so wei- cher Wünsche entgegenstehen, desto schneller sinkt die terzuentwickeln, dass sie nicht an politisch-administrati- Akzeptanz für diese Regelung. ven Grenzen orientiert werden, sondern stärker an bio- Das Gutachten zeigt fünf Gruppen von Gründen für geographischen Regionen. Das ist der richtige W eg. Ich diese Akzeptanzdefizite auf. Ich skizziere sie kurz. Zu- denke, in dieser Hinsicht haben wir noch viele Verbesse- nächst sind ökonomische Nachteile und ungünstige Rah- rungen vor uns. menbedingungen finanzieller und or ganisatorischer Art Ich wünsche mir, dass der Naturschutz in Deutschland zu nennen. Dazu gehören allerdings auch – das sollte uns auch im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte einen pro- zu denken geben – eine ma ngelnde Vertrautheit mit minenten Platz einnimmt. Im Sondergutachten wird eine Naturschutzzielen. Zu diesen Gründen zählen ferner eigenständige nationale Naturschutzstrategie vorge- konträre Werthaltungen und Überzeugungen sowie schlagen und es werden gute Gründe dafür geliefert. Ob Kommunikationsformen, die von den Beteiligten als un- eigenständige Strategie oder nicht: Das soll so oder so befriedigend oder als autoritär erlebt werden. Schließlich nicht zur Glaubensfrage werden. Gerade aber in Bezug ist noch die Angst vor V erhaltenseinschränkungen, Be- auf den Naturschutz, für den bei den Bundesländern vormundung und Fremdbestimmung zu nennen. Allein weitreichende Zuständigkeiten bestehen, müssen wir diese Aufzählung lässt erkennen, wie weit der Weg sein sehr sorgfältig prüfen, ob unsere Verantwortung fachlich wird. ausreichend und politisch zufriedenstellend in der unbe- Ich zitiere kurz aus dem Gutachten: stritten sinnvollen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aufgehoben sein wird. Sicher wird die heute hieran an- Es muss ein Mindestmaß an Problemdruck und Lö- knüpfende parlamentarische Arbeit dazu interessant sungswillen bei den Akteuren vorhanden sein. werden. Ein für die Naturschutzprojekte förderlicher Pro- Aber wenn ich hier schon einmal stehe und zum Na- blemdruck entsteht nicht durch einen kritischen Zu- turschutz spreche, möchte ich auf zwei Projekte hinwei- stand von Natur und Landschaft. sen, die von allen Naturschützern begrüßt wurden und – Das sollte uns zu denken geben. – dennoch in ihrer Umsetzung weit hinter unseren Erwar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3107

Gabriele Lösekrug-Möller (A) tungen zurückgeblieben sind – zumindest bis jetzt; ich gen Sitzung nachzukommen, um eine ordnungsgemäße (C) hoffe, es gibt einen weiteren Impuls –: Das sind die Abwicklung unserer Tagesordnung zu ermöglichen. BVVG-Flächen, circa 100 000 Hektar, deren Übertra- Nun hat als letzter Redner zu diesem T agesordnungs- gung aus dem Eigentum des Bundes in Naturschutz- punkt der Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Frak- hände ins Stocken geraten ist. Hier muss es vorangehen. tion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und das ist das „grüne Band“. Für diejenigen, die nicht Josef Göppel (CDU/CSU): wissen, was das ist: Das ist jener Streifen, der ehedem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De- Ost und West trennte und nun als einzigartiges Natur- batte begann heute mit dem Zitat, dass sich der Reichtum schutzprojekt im besten Sinne Geschichte machen eines Landes auch nach seinem Naturvermögen bemisst könnte, gäbe es eine größere Bereitschaft, diese Flächen – ungewohnte Töne in einer Zeit, die vom Kriegslärm für den Naturschutz zu erwerben. Beide Projekte sind und vom Klagen über schlechte ökonomische Daten er- einzigartige Chancen für den Naturschutz. füllt ist. Wir sehen ja: Hier versammelt ist der positive (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten harte Kern der Naturliebhaber. Naturschutz ist aber zur- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zeit ein Thema irgendwo am Rande. Es ist vielleicht in- teressant zu fragen: W ie kommen wir wieder in die Natürlich haben wir auch Schönes: unsere Groß- Mitte? schutzgebiete; sie wurden schon angesprochen. Wir ha- ben mit ihnen die Möglichkeit, zu zeigen, dass es geht: Wir haben gewaltige Erfolge gehabt. Diese Erfolge Mensch und Natur in einem jeweils balancierten Verhält- hatten wir aber vor allem dort, wo wir mit technischen nis Raum zu geben. Der vor kurzem vor gelegte Bericht Mitteln Probleme beheben konnten, zum Beispiel bei „Tourismus in Großschutzgebieten“ zeigt diese Chancen der Luftreinhaltung und der W asserreinhaltung. Beim auf und zeigt auch, dass naturschutzkonforme Angebote Naturschutz ist aber nicht in erster Linie neue T echnik für Menschen möglich und für die regionale Entwick- gefordert, sondern Behutsamkeit im Zugriff und Zurück- lung vorteilhaft sind. Da ist die Gewichtung von Ökono- haltung. Da stecken wir in den Anfängen. mie und Ökologie sicher richtig angelegt. Genau da ist die Debatte fä llig. Herr Kollege Trittin, die Frage nach einer Naturschutzstrategie stellen die Ich muss zum Schluss kommen, wie ich sehe. Ich habe Gutachter in den Mittelpunkt. Natürlich ist es zweitran- eine Aufforderung an Sie alle – denn ich frage mich, ob gig, ob man eine eigenständige Naturschutzstrategie be- wir gute Beispiele sind, was den Naturschutz anbelangt –: (B) treibt oder ob man sie integriert in die Nachhaltigkeits- (D) Geben wir uns die Chance, Natur zu erleben! Wie gesagt, konzepte. Eines ist aber sicher: Sie sind in der Regierung mein Appell ist: Die Märzenbecher blühen, die Luft ist und Sie müssen das jetzt umsetzen. Wir sind uns doch in lau, seien Sie mutig und gehen Sie raus aus dem Bau! Las- den Grundsätzen schnell einig; das haben wir an den bis- sen Sie uns nicht immer nur hier sitzen und über Dinge re- herigen Reden sofort gemerkt. Es geht jetzt um die kon- den, sondern lassen Sie uns etwas tun: die Natur erleben, kreten Schritte. wie das Kinder in Waldkindergärten und in grünen Klas- senzimmern machen, und das junge Leute ein Jahr lang in (Beifall bei der CDU/CSU) ökologischen Projekten tun! Ich denke, das ist der richtige Ich möchte den Vorschlag machen, alle zu integrieren, Weg. Wenn wir als Mitglieder dieses Parlamentes öfter die guten Willens sind. Ob sie Jäger, Kanuten, Sportklet- nach draußen gingen und nicht nur das im Kopfe hätten, terer, Landschaftsschützer oder wie auch immer heißen: was wir jeden Tag an Politik machen, sondern auch offen Es gibt überall gut Gesinnte. Es geht darum, im Rahmen für die Natur wären, – der Strategieallianzen für den Naturschutz Strukturen zu finden, um diese Leute einzubinden. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Kollegin! neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Sie sind nicht unmittelbar verantwortlich für die Ge- – ginge es dem Naturschutz besser. Das sehe ich so setzesvorhaben: neues Waldgesetz, neues Jagdgesetz. Ich wie TINA. Das ist für mich ohne Alternative. greife da aber eines heraus: Ich hielte es nicht für gut, wenn man mit diesen Gesetzen Regelungen schüfe, die Vielen Dank. bestimmte Gruppen eher zurückdrängen und einengen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anstatt sie heranzuführen und mehr in die Verantwortung DIE GRÜNEN) zu nehmen. Die Menschen, die in die Verantwortung ge- nommen werden, sind in der Regel auch bereit, mehr zu tun. Das steht auch ganz klar im Gutachten: Unter dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Punkt 125 loben die Gutachter zum Beispiel die Kon- Ich bitte die anwesenden Kolleginnen und Kollegen struktion der deutschen Landschaftspflegeverbände. In gleichwohl darum, der gut gemeinten Empfehlung, sich diesen Verbänden arbeiten Landwirte, Naturschützer und in der freien Natur aufzuhalten, erst nach Ende der heuti- Kommunalpolitiker gleichberechtigt zusammen, auch 3108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Josef Göppel (A) wenn nicht alle gegensätzlichen Interessen sofort über- Ein letzter Gedanke. W ir müssen darüber nachden- (C) wunden werden können. Wir müssen aber die Strukturen ken, wie wir es schaffen, den Naturschutz wieder mitten dafür schaffen. Das ist Ihre Verantwortung. An der kon- in der gesellschaftlichen Diskussion zu platzieren. kreten Tat werden wir Sie auch messen. (Ulrike Mehl [SPD]: Das ist eine gute Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich berührt es nicht jeden, wenn die Stimme eines Die Frage der Grundsätze ist natürlich auch wichtig. Vogels nicht mehr zu hören oder ein Stück W iese nicht Ich darf aber daran erinnern, dass der Eigenwert der mehr zu sehen ist. Aber ich denke, jeder wird letztlich Natur zuerst im bayerischen Naturschutzgesetz formu- einsehen, dass der Mensch auch im Internetzeitalter ohne liert und von uns eingebracht wurde. Es freut uns als die elementaren Dinge Boden, Wasser, Luft und die Le- CSU-Mandatsträger natürlich sehr, dass das jetzt auch bewelt, die uns umgibt, nicht in W ohlbefinden leben im Bundesnaturschutzgesetz steht. Das soll Folgerungen kann und dass ohne diese elementaren Dinge auch eine haben. Wenn in einer großen V olkspartei Dinge formu- gute Wirtschaftsentwicklung nicht möglich ist. W ir als liert werden, über die wir noch diskutieren müssen, dann Verantwortliche haben die allererste Pflicht, daran ge- werden Kollege Paziorek und die anderen aus der CDU/ meinsam zu wirken. Deswegen freue ich mich sehr, dass CSU das mit großer Freude tun; darauf können Sie sich diese Debatte an der Sache orientiert geführt wurde. Ab- verlassen. Für uns und auch für mich gibt es in diesen schließend sage ich noch einmal: Herr Kollege T rittin, Dingen kein Zurück. Eine gute Entwicklung gibt es nur Sie sind der zum Handeln V erpflichtete. Sie haben die in der Zusammenschau von intakter Natur und intak- Hauptverantwortung. Wir werden das, was Sie tun, mit ter Wirtschaftsentwicklung, aber nicht im Entweder - Sympathie, aber auch mit kritischem Augenmaß beglei- oder. Das ist unsere Position. ten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall im ganzen Hause – Ute Kumpf [SPD]: neten der FDP) Schwarz-rot-grüne Koalition!) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beim Thema Flächenverbrauch wurde von allen Rednern darauf hin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gewiesen, dass wir eine Trendwende brauchen. Ich sitze Herr Kollege Göppel, auch Ihnen darf ich herzlich zu seit 30 Jahren im Stadtrat einer Wachstumsgemeinde. Ge- Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. rade deswegen habe ich große Sympathie für den V or- schlag der Gutachter zu handelbaren Flächeninanspruch- (Beifall) nahmerechten. Das ist eine Idee, die es wert ist, diskutiert Dem amtierenden Präsidenten steht selbstverständlich (B) zu werden. Ich bin sehr dafür, dass wir dies tun. Ob es der kein Kommentar zum Inhalt einer hier gehaltenen Rede (D) Weisheit letzter Schluss ist, werden wir dann im Detail se- zu, aber dass es Ihnen gleich bei Ihrer ersten Rede gelun- hen. Klar ist: Wir müssen Wege finden, um den Trend zu gen ist, frei zu reden und dennoch die Redezeit einzuhal- durchbrechen und die Flächeninanspruchnahme dorthin ten, verdient besonderen Respekt. zu lenken, wo der ökonomische Nutzen am größten ist. Dazu würde dieses Modell beitragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Keine Generation vor uns ist mit den Flächen so ver- der FDP) schwenderisch umgegangen und hat so viele Flächen überbaut wie unsere Generation. Das ist wahr . VorIch schließe die Aussprache. Interfraktionell wird 30 Jahren, als ich meine Ausbildung zum Förster begon- Überweisung der V orlage auf Drucksache 14/9852 an nen habe, betrug der Anteil der überbauten Fläche in die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Deutschland 7 Prozent. Selbst wenn nicht alles endgültig schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der zubetoniert ist, so ist der Anteil der überbauten Fläche Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. doch auf 12 Prozent gestiegen. Das ist nahezu eine V er- doppelung. Deswegen brauchen wir eine T rendwende. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6 Diese wird nicht einfach zu erreichen sein. Ich denke nur auf: an Kommunalpolitiker auch in meinem W ahlkreis, die 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Henry glauben, sie könnten die Güter der Erde – das sind in Nitzsche, Arnold Vaatz, Dr. Michael Luther, wei- diesem Fall die Flächen, die ihnen in ihrem Gemeinde- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ bereich zur Verfügung stehen – in einer Generation ver- CSU brauchen. Das ist nicht nachhaltig. Stadtentwicklung Ost – Mehr Effizienz und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Flexibilität, weniger Regulierung und Bür o- DIE GRÜNEN sowie bei der FDP – Beifall kratie des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU] – Ute Kumpf [SPD]: Ein guter Mann!) – Drucksache 15/352 – Überweisungsvorschlag: Deswegen ist klar: Gute konservative Politik ist auf das Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Bewahren gerichtet. Im Naturschutz zeigt sich das schö- Rechtsausschuss ner als in allen anderen Bereichen. Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus (Beifall bei der CDU/CSU) Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3109

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Einigkeit besteht bei allen darüber, dass eine solche In- (C) Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), solvenz die Probleme nicht löst, da nur ein Eigentümer- Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der wechsel stattfindet, ohne dass auch nur eine einzige Fraktion der FDP Wohnung vom Markt genommen wird. Eine besondere Dramatik liegt bei den privaten Vermietern. In vielen Stadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zu m Fällen haben sie ihr Eigentum über die DDR-Zeit hin- Aufbau Ost weggerettet oder danach zurückbekommen. Im V er- – Drucksache 15/750 – trauen auf eine positive Entwicklung haben sie sich hoch Überweisungsvorschlag: verschuldet, um ihren W ohnungsbestand zu sanieren. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Das jetzige Überangebot an Wohnungen führt aber nicht Rechtsausschuss nur zu Vermietungsschwierigkeiten, auch lässt sich von Finanzausschuss einem Mieter keine rentierliche Miete mehr am M arkt Haushaltsausschuss erzielen. Vielen solchen privaten Eigentümern droht Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ebenfalls die Insolvenz. Aussprache eine Dreiviertelstunde vor gesehen. – Dazu (Zuruf von der CDU/CSU: Hier spricht höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- der Fachmann!) sen. Aber nicht nur das: Die rot-grüne Regierung hat den Ich eröffne die Aussprache und erteile das W ort zu- Bestandserwerb mit dem Ersatz der Investitionszulage nächst dem Kollegen Henry Nitzsche für die CDU/CSU- für selbst genutzte W ohnungen durch eine bislang wir- Fraktion. kungslos gebliebene Innenstadtzulage eher erschwert. Die jährlichen Förderfälle liegen in den betroffenen Län- Henry Nitzsche (CDU/CSU): dern – so muss man sie nennen – zum Teil im einstelli- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Woh- gen Bereich. Den Spitzenplatz nimmt hier der Freistaat nungswirtschaft in den neuen Bundesländern befindet Sachsen mit sage und schreibe 14 Förderfällen – das ist sich in einer dramatischen Krise. Während unmittelbar der Stand vom 1 1. März – ein; das war vorauszusehen. nach der Wende ein sensationeller Aufbruch durch Neu- Frau Gleicke, es wurden sage und schreibe 2 465 Euro bau sowie durch Modernisierung und Instandsetzung der ausgezahlt. Das ist fürwahr ein hervorragendes Förder- maroden Wohnungssubstanz zu spüren war, ziehen seit programm. Mit ihm wird die Eigentumsbildung im Be- Ende der 90er-Jahre die Reiter der Apokalypse durch un- stand mit Sicherheit ein Flop bleiben. sere mitteldeutschen Lande. Auf ihrer Spur hinterließen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sie unter den wehenden Fahnen der Arbeitslosigkeit ge- (B) neten der FDP) (D) plünderte Stadtkassen, bettelarme Rathäuser und Geis- terstädte, wie Halle-Neustadt mit 90 000 Wegzügen, Meine Damen und Herren, wir müssen hier dringend Hoyerswerda mit 30 000 Wegzügen sowie Frankfurt/ handeln. Das gilt natürlich ebenso für die FDP . Ich be- Oder, Schwedt, Weißwasser und viele andere mehr. grüße den Antrag, der gestern eingetrudelt ist: Spät kommt er, doch er kommt. Was tat die Bundesregierung? – Sie tat das Übliche und setzte eine Kommission, nämlich die Lehmann- (Jörg van Essen [FDP]: Dafür ist er umso Grube-Kommission, ein. besser!) ( [CDU/CSU]: W enn man nicht – Umso besser. – Der Wohnungsmarkt muss schleunigst mehr weiter weiß, setzt man eine Kommission wieder funktionieren. Eine Marktbereinigung, die im In- ein!) teresse aller Beteiligten – sowohl der Vermieter als auch der Mieter und der Bauwirtschaft – liegt, ist unverzüg- Das Ergebnis war für die Fachwelt nicht überraschend: lich erforderlich. Sie stellte fest, dass es mindestens 1 Million leer stehen- der Wohnungen gibt, wobei die Tendenz steigend ist. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wurde ein Maßnahmenkatalog vor geschlagen, der von Es müssen jährlich nicht nur 30 000 bis 40 000 Wohnun- der Bundesregierung teilweise umgesetzt wurde. Das gen vom Markt, wie dies die Lehmann-Grube-Kommis- Schwert, mit dem man den drei unheimlichen Reitern sion vorgeschlagen hat, sondern die doppelte Zahl ist er- begegnen wollte, hieß Stadtumbau Ost. Es wurde he- forderlich. Allein im Freistaat Sachsen müssen jährlich rumgereicht, man durfte es bestaunen und man sagte, es 20 000 Wohnungen vom Markt genommen werden, um sei bis 2009 1,2 Milliarden Euro schwer. nur den Zuwachs an Leerstand zu kompensieren. Am 18. März dieses Jahres nahm ich am Leerstands- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christoph kongress des GdW in Halle teil. Das Er gebnis war Bergner [CDU/CSU]: Wenn es reicht!) schockierend: Der Leerstand hat in den letzten Jahren nochmals zugenommen. Der Präsident des GdW, Lutz Nun zu unseren Einzelforderungen. Die einzelnen För- Freitag, sprach bereits von 1,3 Millionen leer stehenden derelemente müssen stärker verzahnt werden. Wohnungen. Wörtlich sagte er: Die Probleme wachsen Eine Schlüsselposition bei der Klärung der Marktbe- schneller, als die Lösungen wirken. reinigung nimmt das Altschuldenhilfe-Gesetz ein. Ich Viele private Vermieter, aber auch kommunale Unter- erinnere daran, welche Geschäftsgrundlage dem Gesetz nehmer und Genossenschaften stehen vor der Insolvenz. zugrunde liegt. Die nunmehr gekappten Altschulden 3110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Henry Nitzsche (A) sollten aus den Mieteinnahmen gedeckt werden. In der Aus diesem Grunde haben wir im Freistaat Sachsen (C) Verordnung der Bundesregierung zur Umsetzung des seit zwei Jahren ein eigenes Landesabrissprogramm. Mit § 6 a AHG wird neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten diesem Programm wird für jährlich 25 Millionen Euro ein Mindestleerstand von 15 Prozent des jeweiligen Un- nicht mehr benötigte W ohnungssubstanz abgerissen – ternehmens gefordert, um ei ne Entlastung der Altschul- ohne Verwendungsnachweis, unbürokratisch, schnell, den von abgerissenen Wohnungen in Aussicht zu stellen. 70 Euro je Quadratmeter Wohnfläche. Diese Verordnung braucht gar nicht erst auf den Prüf- stand gestellt zu werden. Nach Ansicht des GdW muss Der Stadtumbau darf nicht als alleiniges Interesse der sie geändert werden. Er erwartet, dass für jede abgeris- Wohnungswirtschaft dastehen. Mit dem Stadtumbau sene Wohnung die Altschulden übernommen werden. setzt sich eine Kommune mit ihrer derzeitigen Situation auseinander und sucht nach Strukturen, die der künftigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Die Joachim Günther [Plauen] [FDP]) Wohnungswirtschaft hat natürlich ein ureigenes Inte- resse, möglichst viele Mieter zu behalten. Aber der Die Entschuldung war bislang an eine Landesförde- Rückbau nicht mehr benötigter Wohnungssubstanz setzt rung in mindestens gleicher Höhe geknüpft. In der ein Freilenken von Wohnraum voraus. Verwaltungsvereinbarung 2002 hat der Bund die Aner- kennung der Komplementärmittel der Länder aus dem Die derzeitige Rechtslage hingegen unterstützt kei- Programm „Stadtumbau Ost T eil Rückbau“ definitivneswegs das gezielte Freilenken von Wohnungen. Die ausgeschlossen. Der Nachweis dieser Mittel war nicht Urteile von Halle und Jena kommen nur in dem Fall zur nur bürokratisch; er hat auch den Einstieg in die Markt- Anwendung, wenn einzelne Mieter das Auflösen ihres bereinigung im Jahr 2002 unnötig erschwert. Mietvertrages bis zum Schluss immer noch nicht akzep- tieren wollen. Die W ohnungswirtschaft braucht eine Unsere Fraktion hat mit dem vorliegenden Antrag das Kündigungsmöglichkeit bei stadtumbaubedingten Ab- von der Wohnungswirtschaft und den Ostbauministern brüchen. Es ist nicht hinnehmbar , dass Einzelne den aufgezeigte Problem aufgegriffen. Frau Gleicke, Sie ha- Stadtumbau nach dem Motto verzögern: Wir warten auf ben nunmehr den Bauministern die Anerkennung der den goldenen Handschlag. Rückbaumittel für das Programmjahr 2003 angekündigt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich zitiere Ihr Schreiben vom 20. Februar, also knapp ei- Joachim Günther [Plauen] [FDP]) nen Monat nach Erscheinen unseres Antrages: Ich komme zu einem weiteren Punkt des vorliegenden Es hat sich gezeigt, dass beide Instrumente noch Antrages. Dazu möchte ich aus einer aktuellen Presse- besser miteinander verzahnt werden müssen, um mitteilung zitieren: (B) den Stadtumbauprozess zu beschleunigen. (D) Stadtumbau Ost – Hemmnisse und Hindernisse be- Das, Frau Gleicke, ist richtige und konstruktive Opposi- seitigen. Zahlreichen ostdeutschen Wohnungsunter- tion. Sie haben sogar eine Formulierung aus unserem nehmen droht die Pleite. Zur Abwendung von In- Antrag gewählt. Dazu beglückwünsche ich Sie. solvenzen kommen Fusionen der Unternehmer als denkbare Alternative in Betracht. Diese dürfen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht durch 3,5 Prozent Grunderwerbsteuer er- Joachim Günther [Plauen] [FDP]) schwert oder praktisch unmöglich gemacht werden. Frau Gleicke, ich hoffe, dass Sie uns auch bei den weite- Hier besteht Reformbedarf. ren Punkten folgen; denn der Stadtumbau kennt keine Das sind nicht unsere Hilfstruppen, sondern das ist eine Gewinner und keine Verlierer. Gelingt er nicht, saufen in Meinung von Ihrer Seite, nämlich vom Mieterbund. Sie den neuen Bundesländern ganze Regionen ab! werden die Präsidentin kennen, . Sie bestä- Die Bundesregierung hat sich beim Stadtumbaupro- tigt den Inhalt unserer Anträge. Der Stadtumbau kann gramm für eine Abwicklung nach den Regularien der einzelne Eigentümer so stark tref fen, dass ihre Existenz traditionellen städtebaulichen Erneuerung entschie- infrage gestellt wird. Fusionen sind deshalb dringend er- den. Ob diese Entscheidung dem Problem des Stadtum- forderlich. Aber die Bereitschaft zum Helfen wird natür- baus gerecht wird, bezweifelt zumindest die unterneh- lich nicht ziehen, wenn das aufstrebende Unternehmen merische Wohnungswirtschaft. Der Leerstandskongress für seine finanziellen Bemühungen zusätzlich mit der des GdW hat dies klar zum Ausdruck gebracht. Nach- Grunderwerbsteuer belastet wird. W ir reden dabei nicht dem aber die Entscheidung gefallen ist, muss dafür von Steuerausfällen. Bleibt es bei der derzeitigen Rechts- Sorge getragen werden, den Programmvollzug reibungs- lage, dann fallen Fusionen aus. Ich bin dem Freistaat los abzusichern. Richtig Geld steht damit jedoch erst im Sachsen dafür dankbar, dass er eine gleichlautende Bun- vierten Programmjahr zur Verfügung. Bis dahin gibt es desratsinitiative eingebracht hat. Meine Damen und Her- Verpflichtungsermächtigungen, aber wenig Kassenmit- ren, Sie haben am nächsten Freitag Gelegenheit, diese tel. Die Wohnungswirtschaft wird aber Wohnungen nur im Bundesrat zu unterstützen. dann abreißen, wenn tatsächlich Geld fließt, und zwar (Beifall bei der CDU/CSU) schnell und ohne unnötige Papierchen. Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. Meine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Damen und Herren der rot-grünen Regierungspartei, for- neten der FDP) dern Sie mit uns gemeinsam die Bundesregierung auf, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3111

Henry Nitzsche (A) im Sinne unseres Antrags Veränderungen beim Stadtum- schen Programmen und Fördermaßnahmen wichtige (C) bau vorzunehmen. Je eher Sie sich unseren Forderungen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet. anschließen und diese umgesetzt werden, desto schneller (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gelingt der Stadtumbau Ost. Frau Staatssekretärin, ich DIE GRÜNEN) möchte Ihnen ins Poesiealbum schreiben: Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil Für die spezifischen Probleme der ostdeutschen wir sie nicht wagen, sind sie so schwierig. Städte und Kommunen ist daher primär das Programm „Stadtumbau Ost“ konzipiert worden. Für den Stadtum- Herzlichen Dank. bau Ost werden wir mit den Ländern und Gemeinden bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2009 zusammen rund 2,7 Milliarden Euro bereitstellen. Das Programm geht jedoch weit über die Bekämpfung des reinen Wohnungsleerstandes hinaus. Darauf werde Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ich im weiteren Teil meiner Rede noch eingehen. Auch Ihnen, Herr Kollege Nitzsche, herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak- Alle guten Wünsche für die weitere Arbeit. tion, es ist schon eine sehr kühne Unterstellung – die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben –, dass das Programm (Beifall) „Stadtumbau Ost“ nicht wirke bzw . die Probleme nicht Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Ernst Kranz lösen könne. 197 Kommunen wurden in das Programm für die SPD-Fraktion. „Stadtumbau Ost“ im Jahr 2002 aufgenommen. (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Und weiter?) Ernst Kranz (SPD): Sie erhalten vom Bund und den Ländern 153 Millionen Sehr geehrter Herr Präsident! V erehrte Kolleginnen Euro für den Rückbau von mindestens 45 000 Wohnun- und Kollegen! Herr Nitzsche, wir sind uns darin einig, gen. Bis Ende letzten Jahres wurden 75 Prozent der Bun- dass die Situation der ostdeutschen Länder nach wie vor desmittel und sogar 83 Prozent der Rückbaumittel abge- unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Dies be- rufen. Dieses Geld kann kurzfristig ausgegeben werden. trifft vor allem auch die Wohnungswirtschaft. Zu einigen Themen im Antrag der CDU/CSU wurden Neben den ganz Deutschland betreffenden sich än- durch Minister Stolpe am 18. März zum 3. Leerstands- dernden demographischen, gesellschaftlichen und wirt- kongress des GdW bereits Lösungen präsentiert. Deswe- schaftlichen Rahmenbedingungen ist die ostdeutsche gen hinken Sie ein klein bisschen nach. Wohnungswirtschaft nach wie vor durch eine dramati- (B) sche Höhe der W ohnungsleerstände geprägt. Die Leer- Gerade auf diesem Kongress wurde im Gegensatz zu (D) stände haben historische und auch aktuelle Ursachen. Ihren Ausführungen noch einmal deutlich, dass das Inte- Diese sind zum einen die Wohnungspolitik zu Zeiten der resse von Wohnungsunternehmen, Kommunen und der DDR, als Wohnungen in den Neubaugebieten, den Plat- Politik am Stadtumbau Ost stärker denn je ist. tenbausiedlungen, sehr begehrt waren und die Neubau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gebiete fast die einzige Möglichkeit boten, eine Miet- DIE GRÜNEN – Dr . Michael Luther [CDU/ wohnung mit Komfort zu bekommen, ohne dafür selbst CSU]: Das hat er auch nicht bestritten! Er hat sehr umständlich und mühsam durch Um- und Ausbau doch nichts anderes gesagt!) sorgen zu müssen. Niemand hat auf diesem Kongress bestritten, dass das Ein weiterer schwerwiegender Fehler in der W oh-Programm „Stadtumbau Ost“ als gesamtgesellschaftli- nungspolitik bestand darin, dass der in den Innenstädten che Aufgabe ganz Deutschlands ein Kernelement des vorhandene Altbauwohnungsbestand aufgrund der be- Aufbaus Ost darstellt. grenzten finanziellen Möglichkeiten nicht saniert und damit dem V erfall weitgehend preisgegeben wurde. Der Minister führte des Weiteren aus, dass gerade das Nach der Wende versuchten deshalb viele Mieter, diese Stadtumbauprogramm als ein lernendes Programm von beiden Wohnbereiche zu verlassen und sich entspre- besonderer Qualität ist. Mit der V erwaltungsvereinba- chend ihren finanziellen Möglichkeiten anderen bzw .rung 2003 werden Anregungen zur V erbesserung des neuen Wohnraum zu suchen und zu schaffen. Programms aufgenommen. Die Forderung, Rückbaumit- tel – hören Sie genau zu! – als Komplementärmittel an- Dies löste zu Beginn und in der Mitte der 90er -Jahre zuerkennen, ist erfüllt. die erste Auszugswelle aus den beiden gerade genannten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wohnbereichen aus. Verstärkt wurde dies durch die bis DIE GRÜNEN) heute anhaltende Abwanderungswelle derjenigen, die in den westlichen Bundesländern ihre größeren Zukunfts- Das war doch Ihre Forderung, nicht wahr? chancen sehen. Eine zeitgerechte Zurverfügungstellung der Bundes- Gerade dieser Fakt führt uns am deutlichsten vor Au- mittel im Rahmen des Programms kann durch die Län- gen, in welch hohem Maße wir auch weiterhin verstärkt der selbst entschieden beeinflusst werden. Es liegt an ih- Verantwortung für die ostdeutschen Bundesländer wahr- nen, eigene Fördermittel und Bundesmittel geschickt zu zunehmen haben. In der W ohnungspolitik hat deshalb bündeln und zeitnah mit möglichst geringem bürokrati- die Bundesregierung mit wohnungs- und städtebaupoliti- schen Aufwand an die betrof fenen Wohnungsunterneh- 3112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Ernst Kranz (A) men weiterzuleiten. Denn die Anträge laufen alle über Einige Probleme möchte ich noch kurz ansprechen. (C) die Länder und nicht über den Bund. Dabei geht es zum einen um die Zusammenarbeit und Mitarbeit der Wohnungsgesellschaften selber. Sie sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auf dem örtlichen W ohnungsmarkt Konkurrenten. Die DIE GRÜNEN – Reinhard W eis [Stendal] sie alle betreffenden Probleme können aber nur gemein- [SPD]: Vielleicht ist es ja erfüllt, wenn wir den sam gelöst werden. Das ist ein Widerspruch in sich, den Antrag im Ausschuss beraten! Dann wird es es aber letztendlich in der Praxis zu lösen gilt. Hierbei vielleicht schon erledigt sein!) gibt es ein unterschiedliches Engagement. Für die Ge- Auch die von Ihnen angemahnte flexiblere Handha- meinden ist es besonders schwierig, neben den hauptbe- bung des Förderelements W ohneigentumsbildung imteiligten kommunalen Wohnungsunternehmen und den Bestand wird im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung Genossenschaften auch die privatwirtschaftlichen W oh- 2003 zum Städtebaurecht einfacher und großzügiger ge- nungsvermieter sowie Zwischenerwerber und leider staltet. auch die TLG in die Abstimmung einzubeziehen. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Ein wesentliches Hindernis für einen zügigen Pla- Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, dass nungsverlauf bilden auch Unklarheiten aufgrund be- die Länder ermächtigt werden, in der Startphase nicht triebswirtschaftlicher und finanzieller Belastungen bzw . mehr wie bisher genau 50 Prozent, sondern mehr als der notwendige Ausgleich zwischen Wohnungsunterneh- 50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen. men beim Abbruch von W ohnungen oder beim Umbau im Wohngebiet. Ich meine, das ist ein Aspekt, der bei der (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das ist ja im Umsetzung dieser Konzepte gegenwärtig weiter große Ausschuss gefordert worden!) Schwierigkeiten bereitet. Er findet zwar genügend Be- Dies entspricht zum Beispiel auch einer Forderung im achtung, muss aber noch verstärkt beachtet werden. Antrag der FDP. Genau diese Ursachen und Zeiterscheinungen werden Bei der V ergabe der Fördermittel sollen die W oh-durch die Antwort der Thüringer Landesregierung auf nungsunternehmen bevorzugt werden, die Unterstützung eine Große Anfrage der SPD bestätigt. Etwas kritikwür- nach der Härtefallregelung beantragt haben; denn sie ha- dig ist die nur sehr zögerliche und nur ansatzweise V er- ben es am nötigsten. Es soll auch dafür gesor gt werden, öffentlichung der konkreten Er gebnisse des W ettbe- dass im Rahmen der V erwaltungsvereinbarung die Alt- werbs. In Kürze soll es jedoch eine Dokumentation schuldenhilfe und der Stadtumbau Ost wirksam mitein- geben, in der die 34 ausgezeichneten Konzepte präsen- ander verzahnt werden können. tiert werden sollen. (B) (D) Zu begrüßen ist auch der Gesetzentwurf der neuen Sowohl das Programm „Stadtumbau Ost“ als auch die Bundesländer – und zwar nicht nur Sachsens – zur vorliegenden Stadtentwicklungskonzepte der einzelnen Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von W oh-Städte und Gemeinden – das wurde schon betont – sind nungsunternehmen und W ohnungsgenossenschaften in nicht statisch. Das Programm wie die Konzepte müssen den neuen Ländern für die Jahre 2004 bis 2006. ständig weiterentwickelt werden. So hat auch der Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist seit einem Jahr 3. Leerstandskongress des GdW im letzten Monat einige in seiner Umsetzungsphase. Es hat sich sehr viel getan neue Tendenzen beraten und aufgezeigt. Wichtig war da- und es ist bereits viel erreicht worden. Dies ist meiner bei der Hinweis, dass kleinere Städte nicht ver gessen Meinung nach vor allem auch Resultat des vorgeschalte- werden dürften und dass man sich nicht nur auf Städte ten Wettbewerbs, als dessen Ergebnis die Stadtentwick- und Mittelzentren konzentrieren sollte. lungskonzepte mit einem integrierten wohnungswirt- Positiv und wichtig ist die Erkenntnis, dass gerade in schaftlichen Teil erstellt wurden. den kleinen Städten die Zusammenarbeit vor Ort funk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tionieren muss. Es ist notwendig, Regionalkonzepte aus- DIE GRÜNEN) zuarbeiten, in denen auch wohnungswirtschaftliche Fra- gen eine wichtige Rolle spielen; denn gerade in diesen Die Initiierung und Durchführung des Wettbewerbs zum Bereichen ist ein Zusammenschluss von kleinen W oh- Stadtumbau Ost ist eines der besten Beispiele, wie Kom- nungsunternehmen oder als erster Schritt eine gemein- munen durch den Bund schnell, effektiv und unbürokra- same Verwaltung wichtig für die weitere wirtschaftliche tisch in der für ihre Entwicklung notwendigen Grund- Sanierung und Stabilisierung der Unternehmen. satzarbeit unterstützt und angeregt werden können. Die Frage, wie die Wohnungsunternehmen mit dauer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haftem Leerstand und abzureißenden W ohnungen von DIE GRÜNEN) den Altverbindlichkeiten entlastet werden können, ist 261 Städte und Gemeinden haben Stadtentwicklungs- nochmals ernsthaft zu prüfen; denn mit dem Abriss wird konzepte mit einem integrierten wohnungswirtschaft- de facto auch V ermögen der Gesellschaften vernichtet lichen Teil erarbeitet und eingereicht. Mehr als 300 hat- und es bleiben oft nicht kurzfristig oder mittelfristig zu ten sich zum W ettbewerb angemeldet. Die Qualität der verwertende Grundstücke übrig. Die Bundesregierung Arbeiten und Konzepte hängt selbstverständlich wie im- hat im Rahmen der Haushaltsverhandlungen 2003 trotz mer von den handelnden Personen und ihrem Engage- der Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung die ment und dem Willen zur Mitarbeit ab. Mittel für Härtefälle nach § 6 a des Altschuldenhilfe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3113

Ernst Kranz (A) Gesetzes um 300 Millionen Euro auf 658 Millionen Euro Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) aufgestockt. Herr Kollege, diese können Sie nun wirklich nicht ein zweites Mal ansprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Heiterkeit) Das ist ein sehr positives Zeichen für die Wohnungswirt- Ernst Kranz (SPD): schaft. Für das Haushaltsjahr 2004 werden vom Bundes- ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Mit- Alles klar. Noch zwei Sätze: tel in der gleichen Größenordnung beantragt. Damit (Heiterkeit) beweist der Bund, dass er sich der Situation der W oh- nungsunternehmen in den neuen Ländern bewusst ist Die Wohnungsunternehmen brauchen Rechtssicherheit und dass er, soweit es in seinen Möglichkeiten steht, im- bei den Grundstücken. Ich verweise in diesem Zusam- mer bereit ist, auf veränderte Bedarfslagen flexibel und menhang nur auf die Problematik des Wiederauflebens engagiert zu reagieren. alter Ansprüche.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN) Herr Kollege, Sie haben ein außer gewöhnlich gnädi- Die meisten Städte und Gemeinden der ostdeutschen ges Präsidium. Nur, nach der Ankündigung eines letzten Bundesländer stehen mitten in einem neuartigen, tief Satzes und nach fünf weiteren Sätzen nun die beiden ab- greifenden Wandel in ihrer Stadtentwicklung. Es geht schließenden anzukündigen ist schon ein bisschen dabei nahezu ausschließlich um die Bewältigung vielfäl- forsch. tiger demographischer, ökonomischer und struktureller Prozesse. Wegen der Komplexität müssen wir besonders Ernst Kranz (SPD): darauf achten, dass das Programm „Stadtentwicklung Vielen Dank, Herr Präsident. Ost“ nicht als reines Abrissprogramm gesehen wird bzw. Ich schließe ab: dazu verkommt. Auch Arch itektur und Baukultur müs- sen in unserer Gesellschaft und im Stadtumbauprozess (Heiterkeit) einen höheren Stellenwert erhalten, damit sich das Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost ver- Bauen bzw. das Umbauen in den ostdeutschen Städten langt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische nicht nur auf technische und betriebswirtschaftliche As- Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen und (B) pekte beschränkt. weiterhin befördern. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen Dank, Herr Präsident, für die Nachsicht. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, das war auch Ihre erste Rede im Deut- schen Bundestag. Ich habe eine grobe Erinnerung daran, Ernst Kranz (SPD): dass auch ich hier einmal eine erste Rede gehalten habe Jawohl, nur noch zwei Sätze. und dass es einfachere Übungen als diese gibt, vor allen Dingen, was die Gnadenlosigkeit des Zeitmanagements Die sich wegen der ständigen Entwicklung der gesell- angeht. Deswegen bitte ich um Nachsicht für ein gewis- schaftlichen Rahmenbedingungen wandelnden Anforde- ses Maß an unvermeidlicher Intervention. Vonseiten des rungen an Stadt- und Gebäudestrukturen erfordern einen Präsidiums alle guten Wünsche für die Arbeit. permanenten Stadtumbau. Um die Stadtentwicklung Ost auch weiterhin erfolgreich fortzuführen und als echte Nun hat das W ort der Kollege Joachim Günther für Stadtentwicklung auch wirksam werden zu lassen, gilt es die FDP-Fraktion. noch einige wichtige Rahmenbedingungen zu verbes- sern. Die Kommunen, in denen zum größten T eil erar- Joachim Günther (Plauen) (FDP): beitete Stadtentwicklungskonzepte vorliegen, die aber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ständig an die aktuellen Entwicklungen angepasst wer- Herren! Ich glaube, dass wir in der Analyse des Berei- den müssen, sind aufgrund ihrer extrem angespannten ches Stadtentwicklung, Stadtumbau, fraktionsübergrei- Haushalte nur eingeschränkt handlungsfähig. V ielefend im Wesentlichen übereinstimmen. Im Osten gibt es Kommunen können ihren Anteil an der Finanzierung der 1,3 Millionen leer stehende Wohnungen. Mit anderen Aufwertungsmaßnahmen nicht oder nur eingeschränkt Worten – vielleicht kann sich der eine oder andere das so aufbringen. Hier ist die Verknüpfung verschiedener Pro- besser vorstellen –: Jede sechste W ohnung dort steht gramme auf Bundes- und Landesebene notwendig. leer. Auch über die von mir schon angesprochene Alt- ( [Zingst] [CDU/CSU]: Man schuldenhilfe muss noch einmal diskutiert werden. kann ja mal abzählen!) 3114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Joachim Günther (Plauen) (A) Meine beiden Vorredner haben einige wesentliche Ur- waren, stehen auf der Straße und warten darauf, dass sie (C) sachen dafür genannt, dass jede sechste W ohnung leer wieder in Arbeit kommen. steht. Meiner Ansicht nach – ich sage das, obwohl es Frau Staatssekretärin, das P ositive am P rogramm hier um Wohnungsbau geht – sind die fehlenden Arbeits- „Stadtumbau Ost“ ist, dass die Anzahl der Städte, die un- plätze in den neuen Bundesländern die Hauptursache für ter einem gewissen Druck – anders kann man das nicht den dortigen Wohnungsleerstand. Wenn wir dieses Pro- bezeichnen – endlich ein Stadtentwicklungskonzept er- blem nicht lösen, dann brauchen wir über andere Pro- arbeitet haben, groß ist. V iele Städte haben versucht, in bleme, zum Beispiel Abwanderung – es geht vor allem dieser Richtung voranzukommen, und sie haben zum um den Wegzug der jungen Generation –, nicht mehr zu Teil bis zum Jahr 2030 geplant. Das sind positive Ergeb- sprechen. nisse dieses Programms. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dieses Programm könnte noch zu einem anderen Pro- Im Zusammenhang mit dem W egzug der jungen Ge- blem führen – Stichwort „wohnungspolitische Gerech- neration – auch das war ein Thema der Vorredner – muss tigkeit“, wenn es so etwas überhaupt gibt –, nämlich zum man über die Geburtenrate in Ostdeutschland reflektie- Mikadoeffekt. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen ren. Sie ist entschieden niedriger als in den alten Bun- Unternehmen, die ihre Wohnungen als erste vom Markt desländern. Wer einer Statistik – Statistiken sind immer nehmen, hierfür nicht bestraft werden und diejenigen mit Vorsicht zu genießen – glaubt, der weiß, dass sich Unternehmen, die damit länger warten, davon profitie- der Umfang der Bevölkerung im Osten bis zum Jahr ren. Das stellt zumindest ein Problem dar . Vielleicht 2050 doppelt so schnell wie in den alten Bundesländern kann man es in Form eines Lastenausgleichs lösen; wir zurückentwickeln wird. Vor dieser Situation stehen wir. können im Ausschuss gern darüber sprechen. Angesichts dessen gilt es, das Übel an seiner W urzel Mit den heute vor gelegten Anträgen werben wir da- zu packen. Dieses Übel sind die fehlenden Reformen in für, dass eine flexiblere Gestaltung bei der Inanspruch- der Wirtschafts- und in der Arbeitsmarktpolitik. W enn nahme der Fördermittel ermöglicht wird, dass man sich diese Reformen nicht erfolgreich umgesetzt werden, etwas vom klassischen Finanzierungsmodus entfernt und dann können wir noch so oft und noch so viel über Städ- dass starre Aufteilungen aufgeknackt werden, ohne dass teplanung sprechen, ohne dass es etwas bringt. V erlan- man mit starren Prozentzahlen arbeitet. Die Menschen gen Sie doch von einem Stadtplaner einmal, über eine vor Ort können am besten entscheiden, wer auf Abriss, Stadt zu sprechen, deren Abwanderungsraten so hoch auf Stadtsanierung und aufStadtumbau setzen sollte. wie die von Halle-Neustadt oder Hoyerswerda – davon Wir müssen drohende Insolvenzen verhindern. Das be- war zuvor die Rede – sind! Was soll ein solcher Stadtpla- deutet die Mitarbeit der Bundesländer. Deshalb werden (B) ner denn für einen Zeitraum von 20 Jahren planen? Dazu wir auch den Antrag der Bundesländer auf Entlastung (D) ist er im Endeffekt gar nicht in der Lage. von Altschulden unterstützen. Auch hier können wir si- cherlich noch darüber reden, wie wir einen Schritt wei- Heute geht es darum, wie wir auf die große Anzahl an terkommen. Leerständen von W ohnungen von Gesellschaften, Ge- nossenschaften, aber auch von vielen Privateigentümern (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) im Endeffekt so reagieren, dass diesen geholfen wird. Die FDP wird sich auf jeden Fall strikt dafür einset- Die Anträge von CDU/CSU und FDP enthalten dazu zen, dass die privaten Hauseigentümer, die schon den Os- meines Erachtens viele Ansätze, die ich hier nicht wie- ten überstanden haben, nicht wieder die Leidtragenden derholen muss. sind, dass also auch andere Themen wie die W iederein- Ich unterstütze ausdrücklich das, was Herr Stolpe auf führung der Vermögensteuer, die Änderung der Bemes- dem 3. Leerstandskongress in Halle gesagt hat: Der sungsgrundlage und die Erbschaft- und Schenkungsteuer Stadtumbau Ost ist eine wichtige Voraussetzung für den aufgegriffen werden. Ich hoffe, wir werden im Ausschuss Aufbau Ost insgesamt. eine interessante Diskussion darüber führen und dann zu schnellem und flexiblem Handeln kommen. W enn ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie alle richtig verstanden habe, sind wir uns einig. Wenn der CDU/CSU und des Abg. Reinhard W eis wir den Bürokraten eine Absage erteilen, kommen wir [Stendal] [SPD]) auch voran. Auf dieser Grundlage muss man auf der einen Seite die Herzlichen Dank. Lösung des Problems des Überangebots, also der Leer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stände, angehen und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass nicht ganze Landstriche verschwinden. Ich habe langsam das Gefühl, dass dies in Hoyerswerda der Fall Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen. Wir müssen die Probleme also gesamtgesellschaftlich betrachten. Wir müssen denjenigen Gesellschaften, Un- ternehmen und Privateigentümern helfen, die aufgrund Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fehlender Ertragskraft nicht mehr in der Lage sind, die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nötigen Investitionen vorzunehmen. Schon jetzt ist die Kollegen! In der Beschreibung der Situation sind wir uns Bauindustrie sehr gebeutelt; viele, die dort beschäftigt einig. Der Wohnungsleerstand in den neuen Ländern von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3115

Peter Hettlich (A) circa 1,3 Millionen Wohnungen bedroht nicht nur W oh- blick keine andere Lösung erkennen. Wir können diesen (C) nungsunternehmen und -genossenschaften, sondern auch Abbau allenfalls durch gezielte Fördermaßnahmen zum private Haus- und W ohnungseigentümer in ihrer Exis- Beispiel im Rahmen der Altbausanierungsprogramme tenz. An dieser Stelle erinnere ich daran, dass auch im abmildern. Gewerbe- und Bürobau erhebliche Leerstände auf den Markt und die Mietpreise drücken. So gibt es allein in Angesichts dessen frage ich mich allerdings, warum sich Leipzig immer noch über 800 000 Quadratmeter unver- die verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU mieteten Büroraum. und der FDP so vehement gegen die geplante Änderung der Eigenheimzulage wehren. Gerade dadurch nehmen Die Ursache hierfür liegt einzig und allein in dem wir einen Druck vom Wohnungsmarkt, werten insbeson- enormen Überangebot auf den Immobilienmärkten seit dere die Bestandserhaltung auf und entlasten zusätzlich Mitte der 90er-Jahre. Bei den Wohnungen liegt die Ursa- noch die Haushalte der Länder und Kommunen. Die che interessanterweise noch nicht an der demographi- Kommunen können mit den dadurch eingesparten Gel- schen Entwicklung und dem Wegzug vieler junger dern wieder entsprechende Maßnahmen durchführen. Leute; denn sowohl die Anzahl der Haushalte als auch Das hat offensichtlich auch der sächsische Ministerpräsi- die durchschnittliche W ohnfläche je Einwohner sind dent Milbradt erkannt. Er sagte vor einigen Tagen in der zum Beispiel in Sachsen in den letzten Jahren immer Presse, dass er im Bereich der Eigenheimzulage Ände- noch gestiegen, was ja eigentlich zu einer Entspannung rungsbedarf sehe. auf dem Wohnungsmarkt hätte führen müssen. Diese ist aber nicht eingetreten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Die verfehlte, weil bedarfsunabhängige Förderpolitik der Kohl-Regierung führte dazu, dass immer mehr sa- Die Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus Ost nierte und vor allen Dingen neu gebaute Wohnungen auf und die Altschuldenhilfe leisten einen unverzichtba- den Markt geworfen wurden. ren und erheblichen Beitrag zur Marktentlastung sowie (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das ist zur Erhaltung der Wohnungsbauunternehmen und -ge- falsch!) nossenschaften und erhalten zudem dringend benötigte Arbeitsplätze im Baugewerbe. Auch wenn in 2002 – Ich habe es ja selbst mitgemacht. – noch nicht die angepeilten 40 000 Wohnungen vom Markt genommen werden konnten, so werden wir die- (Lachen bei der CDU/CSU) ses Ziel in diesem Jahr sicherlich erreichen und viel- Die ersten Leidtragenden waren die kommunalen W oh- leicht sogar übertref fen. In den nächsten acht Jahren (B) nungsbaugesellschaften und -genossenschaften; denn in werden wir – wie angestrebt – 350 000 Wohnungen(D) ihren Beständen befand sich der Wohnraum mit schlech- vom Markt nehmen. ter Grundsubstanz, dazu noch an marginalen Standorten. Sie hatten das Problem, dass sie im Wettbewerb mit den Es gibt nichts, was man nicht noch verbessern könnte. besseren Wohnlagen nur den Kürzeren ziehen konnten. Im Antrag der Kolleginnen und Kollegen gibt es durch- aus Punkte, über die wir uns unterhalten können. Das ha- Dass zudem auch private Haus- und Wohnungseigen- ben Sie eben vor geschlagen, Herr Günther , und ich tümer in Schwierigkeiten geraten würden, war nur eine stimme Ihnen hier auf jeden Fall zu. Frage der Zeit. Mancher hatte nämlich die 50-prozentige Sonderabschreibung gern mitgenommen, dann aber ent- Meine persönlichen Erfahrungen mit Verwaltungs- gegen allen guten Ratschlägen mit Kaltmieten zwischen vorschriften haben gezeigt, dass diese nicht unbedingt 15 und 16 DM je Quadratmeter kalkuliert. Für mich ist bis mit den Zielen der ihnen zugrunde liegenden Gesetze heute nicht nachvollziehbar, wie man von den Bürgerin- deckungsgleich sind. Dies gilt sowohl für den Bund als nen und Bürgern in den neuen Bundesländern erwarten auch für die Länder . Ich erinnere mich noch an das konnte, dass sie bei Einkommen Ost Mieten West bezah- Aufbaubeschleunigungsgesetz in Sachsen von 1994 als len sollten. Für derartiges wirtschaftliches Fehlverhalten eine Fortschreibung der damaligen Landesbauord- ist die Verantwortung bei diesen Menschen zu suchen. Ich nung. Die Verwaltungsvorschrift war viel dicker als das bin auch der Meinung, dass sie daraus die Konsequenzen Gesetz und konterkarierte viele der guten Intentionen selbst zu tragen haben. des damaligen Aufbaubeschleunigungsgesetzes. Daher sollten Schwachstellen durchaus genannt und gegebe- Aufgrund der Befristung der Sonderabschreibungen nenfalls bereinigt werden. In dieser Hinsicht sind wir konnte ja gar nicht schnell genug gebaut werden, was für Vorschläge sehr offen. dazu führte, dass der Aufschwung der Bauwirtschaft im Osten nur über eine kurzfristige Ausweitung der heimi- Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob und schen Kapazitäten und eine erhebliche Auftragsver gabe wie wir parallel zum Rückbau der Wohnungen auch den an Westfirmen erfolgte. Schon seit Jahren ist im Osten Rückbau der kommunalen Infrastruktur finanzieren. Wir im Baugewerbe nichts mehr zu holen und die W estfir- müssen uns wirklich Gedanken machen in Bezug auf die men sind schon lange wieder zu Hause. Aber der heimi- Bereiche Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme. Dort schen Bauwirtschaft hat man in Sachsen dann noch vor- gibt es gewaltige Probleme. geworfen, sie sei schuld an den Überkapazitäten. An einem weiteren Abbau der Überkapazitäten werden wir (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das steht im gar nicht vorbeikommen. Ich kann jedenfalls im Augen- Auswertungsteil!) 3116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Peter Hettlich (A) – Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir dazu wirk- und angenommen fühlt, aus denen man nicht gern weg- (C) lich Überlegungen anstellen müssen. Es steht im Aus- geht, sondern von denen man sagt, das ist meine Heimat, wertungsteil, aber nicht in dem anderen Teil. Über dieses hier möchte ich bleiben. Aufwertung der Städte, verbes- Thema müssen wir uns einfach einmal unterhalten. Das serte Lebensqualität und damit verbesserte Standortbe- ist ein großes Problem. dingungen sind nicht nur für den Stadtumbau Ost, son- dern für den Aufschwung Ost insgesamt sehr wichtig. Wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Die rot- Deswegen wurde dieses Thema auch im 13. Jahr der grüne Regierungskoalition hat die ersten und richtigen deutschen Einheit zu dieser späten Stunde noch einmal großen Schritte gemacht. Es liegt an Ihnen, ob Sie uns auf die Tagesordnung gesetzt. Ich glaube, wir sind gut bei diesem Handeln weiterhin unterstützen. Dazu stehe beraten, weiter an diesem Thema dranzubleiben. ich Ihnen gern zur Verfügung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte etwas zu den Akteuren sagen, die wir vor- und bei der SPD) finden, so etwa Stadtplaner und Kommunen. Sie allein können die Verbesserung der Standortstrukturen in den neuen Bundesländern nicht aus eigener Kraft leisten. Sie Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: bemühen sich, viele auch mit sichtbaren Erfolgen. Dort, Nächster Redner ist Kollege Manfred Grund, CDU/ wo sie erfolgreich arbeiten, merken wir: Wirtschaft und CSU-Fraktion. Infrastruktur kumulieren um diese lebenswerten Städte herum und der Wegzug hält sich in Grenzen. V on dort, (Beifall bei der CDU/CSU) wo strukturelle Probleme vorhanden sind, wo es nicht gelingt, sie aus eigenen Kräften zu lösen, ziehen die Manfred Grund (CDU/CSU): Menschen weg. Die Probleme, die sie dann hinterlassen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sind wesentlich größer. Jetzt können wir als Bund und Herren! Der Stadtumbau Ost braucht einen langen Atem. Länder noch einigermaßen handeln und versuchen eini- Das haben wir nicht nur an der Rede des Kollegen Ernst ges anzupacken. Kranz gemerkt. Kollege Kranz, glauben Sie uns: Auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) uns ist am Gelingen des Stadtumbaus Ost gelegen. Wenn er allerdings gelingen soll, dann muss er wesentlich Ich möchte in diesem Zusammenhang etwas zu den schneller, effizienter und besser werden. Wohnungsbaugesellschaften und zu den Wohnungs- baugenossenschaften sagen. Diese haben noch keine (Beifall bei der CDU/CSU) (B) marktfähigen Strukturen gefunden. Sie sind noch nicht (D) Ein Gelingen des Stadtumbaus Ost setzt einen Struktur- zu handlungsfähigen Akteuren geworden. Bei einem wandel in der ostdeutschen Wohnungswirtschaft voraus, Leerstand von zum T eil 30 Prozent werden wir wohl weil 1,3 Millionen leer stehende W ohnungen bedeuten, auch über Fusionen nachdenken müssen, damit diese dass Angebot und Nachfrage auf dem Immobilienmarkt Wohnungsbaugesellschaften und W ohnungsbaugenos- einander überhaupt nicht entsprechen. senschaften zu wirklich handlungsfähigen Akteuren werden. Wenn wir analysieren, warum der notwendige Struk- turwandel in der Wohnungswirtschaft bislang noch nicht Das Problem dabei ist folgendes: Wenn sich zwei Ge- geklappt hat, dann stellen wir fest: Wir haben einerseits sellschaften dieser Art zusammenschließen, müssen sie strukturell bedingte Leerstände, also Leerstände auf- Grunderwerbsteuer zahlen und genau das verhindert grund struktureller Probleme in der V ergangenheit. An- solche Zusammenschlüsse. Die Grunderwerbsteuer kann dererseits versuchen wir vonseiten der Politik zum T eil pro Quadratmeter Wohnfläche durchaus bei 15 Euro lie- ein bisschen halbherzig, diesen Prozess mit Programmen gen. Das summiert sich zu einer Größenordnung, die sol- zu begleiten. che Gesellschaften oder Genossenschaften allein nicht tragen können. Alle vorhandenen Programme, die wir auch akzeptie- ren und anerkennen, schieben diesen Strukturwandel an. Die Lösung wäre aus unserer Sicht eine befristete Be- Solange wir jedoch keine selbstständig handelnden Ak- freiung von der Pflicht zur Zahlung der Grunderwerb- teure am ostdeutschen Wohnungsmarkt haben, geht das steuer. Da die neuen Bundesländer das nicht selbst re- Ganze etwas ins Leere. Ich werbe daher nicht nur für un- geln können, haben wir das zum Gegenstand unseres seren Antrag, sondern auch für das, was ich dann noch Antrags gemacht. Wir werben für eine solche Öffnungs- im Einzelnen vortragen möchte: dass wir versuchen, oder Experimentierklausel. Das kostet nicht großartig selbstständig handelnde Akteure am W ohnungsmarkt in Geld. Das hält sich alles in Grenzen. Wir wollen keine den neuen Bundesländern zu bekommen. Steuererleichterungen schaffen und auch nicht wesent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich mehr Geld hineingeben, sondern durch den befriste- ten Verzicht auf die Erhebung der Grunderwerbsteuer Warum ist ein schnellerer , besserer und ef fizienterer wirklich nur die Möglichkeit schaf fen, dass sich zwei Stadtumbau Ost so wichtig für den Aufbau Ost? W irGenossenschaften oder Gesellschaften zusammenschlie- sprechen sehr viel von den weichen Standortbedingun- ßen, damit sie effizienter werden, größere Strukturen be- gen. Dazu gehören natürlich das W ohnumfeld und das kommen, einen höheren W ohnungsbestand verwalten Vorhandensein von Städten, in denen man sich wohlfühlt und das Management qualifizieren können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3117

Manfred Grund (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unsere Antwort auf die Leerstandskrise im Osten (C) neten der FDP) heißt: Stadtumbau Ost. Wir wollen den notwendigen Rückbau von Wohnungen nutzen, um die Städte aufzu- Ich habe bewusst von einer Experimentierklausel werten, um sie attraktiver zu machen und um sie als gesprochen. Das ist etwas, was die Bundesregierung, na- Wohn- und Wirtschaftsstandorte nachhaltig zu stärken. mentlich Bundesminister Stolpe und Bundesminister Clement, in den letzten Wochen sehr oft an uns herange- (Beifall des Abg. Reinhard Weis [Stendal] tragen und auch in die Öf fentlichkeit gebracht hat, ohne [SPD]) es allerdings im Detail zu unterlegen. Ich werbe dafür , dass wir die Möglichkeit bekommen, in den neuen Bun- Wir müssen verhindern, dass der Leerstand selbst Ursa- desländern zeitlich befristet von der Erhebung der che für weitere Abwanderung wird. Es geht also um Grunderwerbsteuer abzusehen, damit es uns gelingt, in mehr Lebensqualität. Es geht – ich glaube, da sind wir diesem Bereich Fusionen voranzutreiben, damit wir das, uns einig – um viel mehr als nur um die Marktbereini- was ich bereits aufgezählt habe, erreichen: zum Beispiel gung zugunsten der Wohnungswirtschaft. überzähligen Wohnraum vom Markt nehmen, leistungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schwache Wohnungsunternehmen von Risiken befreien, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die letztlich auf die Kommunen, Städte und Gemeinden durchschlagen, die ohnehin große finanzielle Probleme Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist jetzt ein Jahr alt. haben, oder auch auf diejenigen, die Kredite ausgereicht In den letzten Wochen hat es manch harsche Kritik gege- haben, nämlich Sparkassen und Genossenschaftsbanken. ben. Sehr geehrter Herr Kollege Nitzsche, ich halte Ihre Von daher werbe ich für diesen Vorschlag. Kritik, die Sie hier geäußert haben, für überzogen. Sie ist in einigen Punkten auch schlichtweg falsch. Es stimmt Ich denke, dass die Stabilisierung der ostdeutschen nämlich einfach nicht, dass die Leerstände trotz des Pro- Wohnungsunternehmen auch zu einem Stück mehr Nor- gramms „Stadtumbau Ost“ angewachsen sind. Das ist malität in Ostdeutschland beitragen kann. Deswegen einfach nicht wahr. Das sagt auch der GdW. sollte uns allen daran gelegen sein, mit diesem Antrag, der von der Union gestellt worden ist, oder auch mit dem Trotzdem begrüßen wir selbstverständlich, dass Sie von der FDP oder gar mit einem gemeinsamen weiterzu- einen Antrag vor gelegt haben, denn das gibt uns die kommen. Wir sind da im Interesse der neuen Bundeslän- Chance, im Ausschuss weiter über den Stadtumbau zu der sehr offen. reden und die Diskussionen zu versachlichen. Ich darf mich auch ausdrücklich, Herr Kollege Günther , bei der Herzlichen Dank. FDP bedanken, die gestern mit ihrem Antrag schon zur Versachlichung beigetragen hat. Der FDP-Antrag unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) streicht nämlich die Notwendigkeit des Programms (D) „Stadtumbau Ost“. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Der Kollege Grund hat von der Zeitüberschreitung GRÜNEN und der FDP) zweieinhalb Minuten wieder hereingeholt. Das ist von einem Parlamentarischen Geschäftsführer vorbildlich. Meine Damen und Herren von der Opposition, wir Dafür möchte ich mich bedanken. haben ja schon die meisten Ihrer Forderungen erfüllt. (Beifall) (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: So?) Mit einer leichten Erwartung im Hinterkopf erteile ich Ich möchte hier dazu einiges anmerken: Wir haben es er- nun der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke möglicht, dass die Bundesmittel für den Rückbau bzw . das Wort. für den Abriss auf den nach den Härtefallregeln in § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes erforderlichen Landesbei- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie muss nur Ja trag anrechnungsfähig sind. sagen, dann ist alles gut!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Trotz aller Sparanstrengungen haben wir für diese Härte- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen fallregelung 300 Millionen Euro zusätzlich zur V erfü- und Kollegen! W ir alle wissen: Die Ursachen für die gung gestellt; das ist fast eine Verdopplung. Es stehen Wohnungsleerstände im Osten sind vielfältig. Es geht jetzt 658 Millionen Euro für Härtefälle zur V erfügung. darum, dass unbewohnbare Wohnungen, die noch aus Dieser Beitrag wird auch der Wohnungswirtschaft hel- DDR-Zeiten stammen, vorhanden sind. Es geht auch da- fen. rum, dass Menschen abgewandert, der Arbeit hinterher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gezogen sind. Es geht darum, dass Stadt-Umland-W an- DIE GRÜNEN) derungen stattgefunden haben und viele Neubaugebiete entstanden sind. Es geht natürlich auch darum – das ge- Wir wissen selber, dass die Förderung von Wohnei- hört zur Wahrheit dazu –, dass es eine viel zu lange wäh- gentum im Bestand im Rahmen des Programms „Stadt- rende sehr üppige steuerliche Förderung für den Neubau umbau Ost“ nicht gut vorangekommen ist. Deshalb wer- gegeben hat. den wir hier V ereinfachungen vornehmen: W ir heben 3118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) einige Beschränkungen auf und wollen eine pauscha- legt ist. Wer kann denn vor diesem Hintergrund behaup- (C) lierte Förderung einführen. ten, dass der Stadtumbau nicht in Gang käme? Er kommt in Gang und das ist auch gut so. (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das haben wir ja vorgeschlagen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch das wird dazu führen, dass sich zunehmend Er- DIE GRÜNEN) folge einstellen werden. Außerdem ermöglichen wir den Wir gehen darüber hinaus davon aus, dass mit zuneh- Ländern, mehr als 50 Prozent der Mittel für den Rück- mender Abarbeitung auch der Abriss billiger wird, weil bau einzusetzen. Wir sind der Meinung, dass auch dieses man neue T echnologien finden wird. Auf dem Leer- dazu führt, dass der Abriss schneller vonstatten geht. standskongress, den Sie angesprochen haben, gab es (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das war unsere durchaus interessante Beiträge, in denen erläutert wor- Forderung im Ausschuss!) den ist, wie man auch billiger abreißen kann. Insofern gehen wir davon aus, dass im V erlauf des Vollzugs die- Das alles zeigt, dass es Ihrer Forderung eigentlich gar ses Programms immer mehr W ohnungen abgerissen nicht bedurft hätte. Wir beobachten die Wirkung unseres werden können. Programms selbstverständlich sehr genau. W ir haben von Anfang an gesagt, dass wir ein „lernendes Pro- Neben den Punkten, die wir schon abgearbeitet haben gramm“ wollten; das ist es auch. – zum Beispiel die Bevorzugung der Wohnungsunter- nehmen bei der V ergabe von Abrissmitteln, die Härte- (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Wir freuen fallmittel in Anspruch nehmen, oder dass wir uns nicht uns, dass Sie uns folgen!) mehr so eng auf Förder gebiete begrenzen, sondern im Dieses Programm existiert – ich sage es noch einmal, Einzelfall auch woanders einen Abriss ermöglichen –, Herr Kollege Nitzsche – erst seit einem Jahr und wir ha- will ich hier sehr deutlich sagen: W ir werden Lösungen ben damit Neuland betreten, denn Abriss war vorher nie finden, die verhindern, dass die Bereitstellung der Kas- ein Thema für uns. Wir haben hier dennoch viel erreicht. senmittel in Jahresraten den Rückbau unnötig verzögert. Ich habe zwar nichts gegen Kritik, aber es är gert mich Wir prüfen derzeit gemeinsam mit den Ländern, wie wir dann doch, wenn sich jemand hierher stellt und das das Problem lösen können, ohne die öf fentlichen Haus- ganze Programm locker flockig als Flop bezeichnet; halte zusätzlich zu belasten. Wir wollen praktikable Zwi- denn der zieht damit auch die Arbeit der Kommunen, der schenfinanzierungen ermöglichen. Ich denke, das ist Stadtplaner und der W ohnungsunternehmen in den ganz wichtig; die Wohnungswirtschaft braucht das. Wir Dreck. kommen da auch gut voran. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich ganz (D) DIE GRÜNEN) herzlich, den Stadtumbau mit uns gemeinsam als Chance zu nutzen und sich dem Th ema sachlich zu nähern. Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: W ir ha- Ebenso herzlich bitte ich Sie, mit der gleichen Vehemenz ben mit der ersten Etappe einiges erreicht. Herr Kollege auch die anderen Akteure, nämlich die Länder und Kom- Kranz hat schon den W ettbewerb und die vielen Stadt- munen, aufzufordern, sich dem Stadtumbau zu widmen, umbaukonzepte angesprochen, die entwickelt worden sodass wir vorankommen. sind und einen W eg zum Stadtumbau im Osten aufzei- gen, denn ohne Zielbestimmung einen Weg zu beschrei- (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das machen ten ist nicht möglich. Wir wollten ja nicht frei nach dem wir!) Motto agieren: Wir bauen auf und reißen nieder , Arbeit gibt es immer wieder . Gemäß diesem alten S pruch aus Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. DDR-Zeiten wollten wir die Sache nicht angehen. Inso- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fern sind integrierte Konzepte wichtig. Mit dem W ett- DIE GRÜNEN) bewerb „Stadtumbau Ost“ haben wir 260 Kommunen sozusagen angefeuert, solche Konzepte zu erstellen. Die Auszeichnungen zeigen, dass hier sehr erfolgreiche Ar- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: beit geleistet wurde. Es ist nun nicht fair, sich hinzustel- Ich schließe die Aussprache. len und zu sagen: Jetzt sind die Konzepte da, aber wa- rum sind sie noch nicht umgesetzt? – Liebe Leute, es Interfraktionell wird Überweisung der V orlagen auf dauert einfach eine Weile. Natürlich haben wir hier eine den Drucksachen 15/352 und 15/750 an die in der Tages- Aufgabe zu bewältigen, die längere Zeit in Anspruch ordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. Sind nimmt. Sie damit einverstanden? – Das ist of fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir haben das Programm sehr zügig umgesetzt. 197 Gemeinden wurden in das Stadtumbauprogramm Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: 2002 aufgenommen; sie erhalten von Bund und Ländern Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 153 Millionen Euro für den Rückbau von mindestens richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- 45 000 Wohnungen. Das ist übrigens etwas mehr als ein sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) Achtel der 350 000 abzureißenden Wohnungen. Somit liegen wir vollständig im Plan, da wir in diesem Jahr ein – zu dem Antrag der Abgeordneten Achtel abreißen und das Programm auf acht Jahre ange- Dr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Pflüger, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3119

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und Die Regierungen der Entwicklungsgemeinschaft des (C) der Fraktion der CDU/CSU Südlichen Afrika müssen gedrängt werden, den Kurs- wechsel zu flankieren, um Rechtsstaatlichkeit und De- Gegen Terror, Völkermord und Hunger- mokratie, letztendlich aber auch die W iederherstellung katastrophe in Simbabwe, um Destabilisie- der landwirtschaftlichen Infrastruktur zu gewährleisten. rung des südlichen Afrikas zu vermeiden (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- Wimmer (Karlsruhe), W alter Riester, Karin ten der CDU/CSU) Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten In der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin liegt auch der Schlüssel dazu, dass der Konflikt in Sim- Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der babwe bewältigt und nicht darüber hinaus getragen wird. Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Eine besondere Verantwortung für die Befriedung NEN – auch das haben wir in der Februardebatte festgestellt – Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter kommt der südafrikanischen Regierung und den bekämpfen – Internationalen Druck auf NEPAD-Partnerstaaten zu. die Regierung Simbabwes aufrechterhalten Wir haben festgestellt und das in unserem Antrag als – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Forderung erhoben, dass es weiterhin richtig ist, die bi- Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle, laterale Entwicklungszusammenarbeit ruhen zu las- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der sen. FDP Bei der desaströsen Ernährungslage ist es aber uner- Gemeinsame europäisch-afrikanische Ini- lässlich, humanitäre Sofortmaßnahmen der Nichtregie- tiative zur Lösung der Krise in Simbabwe rungsorganisationen und der Kirchen zu fördern. Das starten versteht sich von selbst. – Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, 15/613 – (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Berichterstattung: Wir machen aber zugleich deutlich: Sobald rechts- Abgeordnete Rudolf Kraus staatliche demokratische V erhältnisse hergestellt sind, Brigitte Wimmer (Karlsruhe) wird sich unser Angebot der Entwicklungszusammen- Hans-Chistian Ströbele (B) arbeit vornehmlich auf die Förderung einer funktions- (D) Markus Löning tüchtigen Landwirtschaft und auf die Stabilisierung des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft erstrecken müs- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre sen. Schließlich entspricht es unserem geopolitischen ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Grundverständnis und ist es nur allzu logisch, die Forde- rung zu erheben, dass die Situation in Simbabwe auf die Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Siegmund Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates gehört. Ehrmann für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten der CDU/CSU) Staatsminister Bury hat in diesem Hause über die darauf (SPD): Siegmund Ehrmann ausgerichteten Konsultationen der europäischen Staaten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der berichtet. Ich hoffe, dass es gelingt, die Vorbehalte Chi- Mitte Februar geführten Debatte über die bedrückende nas und der afrikanischen Staaten aufzulösen. Situation in Simbabwe stimmten alle Fraktionen in der Analyse der Ursachen, ihrer Bewertung und den notwen- Die EU hat zwischenzeitlich, nämlich Mitte Februar, digen Schlussfolgerungen weit gehend überein. Dass wir ihre Sanktionen gegen Simbabwe verlängert. Davon uns nunmehr auf einen gemeinsamen Antrag verständi- sind Gelder, Vermögenswerte und wirtschaftliche Res- gen können, unterstreicht, dass der Deutsche Bundestag sourcen der Regierungsmitglieder und der ihnen nahe geschlossen dazu beitragen will, den Druck auf Mugabe stehenden Personen betroffen. Überdies besteht ein Aus- und seine Komplizen zu verstärken. fuhrverbot für Ausrüstungen, die dem Repressionsappa- rat nützen könnten. Dass direkte oder indirekte Militär- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hilfe untersagt bleibt, versteht sich von selbst. Dies ist GRÜNEN und der FDP) sicherlich ein gutes Signal aus Europa, auch wenn es aus meiner Sicht durch die Plattform, die Mugabe auf dem Die jüngste Entwicklung zeigt, dass in Simbabwe und französischen Afrika-Gipfel in Paris geboten bekam, ge- seinem Umfeld offenkundig einiges in Bewegung gera- trübt wird. ten ist. Gerade dieser aktuelle Kontext muss uns darin bestärken, die mit dem vorliegenden Antrag verbunde- Gleichwohl haben sich die innenpolitische Situation nen Forderungen umso deutlicher zu erheben. Es geht im und die Ernährungslage in Simbabwe weiter verschärft. Einzelnen um Folgendes: Der Oppositionsbewegung wurde von so manchem 3120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Siegmund Ehrmann (A) Beobachter nicht mehr allzu viel zugetraut, aber sie ent- Präsident Mbeki apelliert, Simbabwe nach einjähriger(C) faltet offenbar neue Kraft und Energie. Ihr Streikaufruf Suspendierung als vermeintlich normalisierten Staat zum Jahrestag der manipulierten W ahlen wurde landes- wieder in den Commonwealth aufzunehmen. weit befolgt und hatte eine enorme Resonanz. Dem zweitägigen Streik am 18. und 19. März 2003 folgten in Doch offenbar ist Südafrika zu neuen Positionierun- den großen Städten Harare und Bulawayo so viele Be- gen gegenüber Simbabwe bereit. In der jüngsten Parla- schäftigte, dass nahezu alle Betriebe lahm gelegt waren. mentsdebatte, so wird berichtet, hat Ministerpräsident Mbeki deutliche Worte gegen die Unterwanderung des In dieser Situation ist es ein gutes Zeichen, dass die Rechts in Simbabwe formuliert. Ob Südafrika nicht nur Oppositionspartei Bewegung für den demokratischen verbal, sondern auch ökonomisch reagiert, muss sich Wandel trotz der von Mugabes Regime or ganisiertennoch herausstellen. Es ist richtig, dass die Republik Süd- Gewalt bei den Nachwahlen zum Parlament Ende März afrika aufgrund ihrer hervor gehobenen ökonomischen beide neu zu besetzenden Wahlkreise deutlich gewonnen und politischen Stellung im südlichen Afrika in besonde- hat. rer Weise an ihre V erantwortung erinnert und in die Pflicht genommen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der (Beifall im ganzen Hause) CDU/CSU und der FDP) Ziel der internationalen Staatengemeinschaft muss Das verleiht im Übrigen auch dem Ende März ausgelau- sein, den Druck auf Mugabe so zu erhöhen, dass in Sim- fenen MDC-Ultimatum an die Regierung Nachdruck. babwe die Menschen- und Bür gerrechte wiederher- Die darin erhobenen Forderungen zielten darauf ab, die gestellt werden und dass sich demokratische Strukturen politischen Gefangenen freizulassen, die Bür gerrechte entwickeln können. wiederherzustellen und die Milizen aufzulösen. Das Ul- (Beifall im ganzen Hause) timatum ist inzwischen abgelaufen, ohne dass Mugabe reagiert hat. Die politische Atmosphäre ist of fenbar ex- Wir können nicht hinnehmen, dass sich despotische trem angespannt. Es hat allerdings den Anschein, dass Regime im W indschatten des Irakkonfliktes brachial die Oppositionellen äußerst besonnen agieren. durchsetzen. Gelingt es nicht, die Krise in Simbabwe zu bändigen, wird sich ein dauerhafter regionaler Krisen- Dass die Regierung zu allem fähig ist, hat sich in den herd entwickeln, der wie ein Geschwür alle Ansätze für letzten Wochen erneut gezeigt. Auf den Streik von Mitte eine breite politische, ökonomische und soziale Emanzi- März reagierte das Regime mit einem brutalen Rache- pation zerstört. In diesem Sinne bitte ich, dem Antrag feldzug. 400 Anhänger der Opposition wurden verhaftet, zuzustimmen. (B) davon etwa 250 schwer misshandelt und mit zerschunde- (D) nen Körpern in Krankenhäuser eingeliefert. Berichten Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. zufolge sind die Zustände in den Krankenhäusern, Poli- (Beifall im ganzen Hause) zeizellen und Foltercamps unsäglich.

Menschen, die ganz nah dran sind, beobachten eine Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: neue Qualität von Gewalt. In der V ergangenheit gingen Herr Kollege Ehrmann, auch Ihnen möchte ich im die Anhänger der Regierungsparteien und die Veteranen Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen des Buschkrieges eher unkontrolliert und willkürlich vor. Bundestag herzlich gratulieren und wünsche Ihnen alles Jetzt sind es Polizeikräfte und Armeeangehörige, die Gute für die weitere Arbeit. systematisch agieren und Oppositionelle stellen. Es wird berichtet, in Bulawayo seien Soldaten anhand von Listen (Beifall) mit den Namen und Adressen der Oppositionspolitiker Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Kraus für die von Tür zu Tür gegangen. Die Verhafteten wurden so- CDU/CSU-Fraktion das Wort. dann auf dem Weg zu den Polizeizellen schwer misshan- delt. (Beifall des Abg. Dr. [CDU/ CSU]) Die Ereignisse der letzten W ochen passen zu den Drohungen von Mugabe. Jene, so Mugabe, die mit dem Feuer spielten, würden sich nicht nur ihre Finger ver- Rudolf Kraus (CDU/CSU): brennen, sondern sogar riskieren, von den Flammen ver- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- schlungen zu werden. V ieles deutet darauf hin, dass ren! Das Interesse der Weltöffentlichkeit richtet sich der- Mugabe im W indschatten des Irakkrieges mit denen zeit fast ausnahmslos auf den Krieg im Irak. Kriegeri- Rechnungen begleicht, die sich seinem Machtanspruch sche Auseinandersetzungen und Notsituationen vor entgegenstellen. allem in Afrika bleiben deshalb weit gehend unbemerkt. Das kann uns aber nicht daran hindern, von unserer Seite Umso wichtiger ist es, dass nicht nur die Europäische auf diese Situation hinzuweisen. Es ist notwendig, dass Union ihre Möglichkeiten wirksam nutzt. Nachhaltig wenigstens wir die Notsituation dieser Länder weiter be- muss deshalb auch von den südafrikanischen Staaten, obachten. insbesondere von der NEP AD-Initiative, ein wider- spruchsfreies Verhalten erwartet werden. Ich persönlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werte es als wenig hilfreich, wenn der südafrikanische neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3121

Rudolf Kraus (A) Der weltweite Druck auf das Regime in Simbabwe Hilfsprojekte und Nahrungsmittelprogramme. Damit ist (C) darf keinesfalls nachlassen. Der Irakkrieg hat die jüngste natürlich eine indirekte Hilfe für das Regime selber ver- gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Opposition bunden. Aber man sollte, so glaube jedenfalls ich, auf- und Präsident Mugabe überschattet. Am 18. und 19.März grund des Schicksals der Bevölkerung diese unliebsame dieses Jahres legte ein Streik das gesamte Land lahm. Nebenwirkung in Kauf nehmen. BBC-Berichten zufolge – mein Vorredner hat es bereits erwähnt – wurden 400 oder 500 Menschen inhaftiert und Seit Februar 2002 bestehen außerdem Sanktionen, mehrere Hundert verletzt. Menschenrechtsbeobachter be- die die Europäische Union gegen führende Mitglieder richten von grausamen Misshandlungen. Dass dieser der Regierung Simbabwes verhängt hat. Diese Sanktio- Streik trotz der Terrorherrschaft Mugabes überhaupt zu- nen wurden nun bis Februar 2004 verlängert. Im März stande kam, lässt auf die verzweifelte Lage der Bevölke- vergangenen Jahres wurde Simbabwe die Mitgliedschaft rung schließen. im Commonwealth aufgekündigt. Dennoch haben Nige- ria und Südafrika die W iederaufnahme Simbabwes ge- Simbabwe war früher die Perle Afrikas und hinter Süd- fordert. Das zeigt, dass Mugabe immer noch mit der Un- afrika die stärkste V olkswirtschaft Afrikas. Außerdem terstützung einiger Staaten im südlichen Afrika rechnen exportierte das Land Nahrungsmittel. Seit nunmehr kann. 23 Jahren regiert Präsident Robert Mugabe. Er hat das Land mit Korruption, W illkür und Diktatur in ein wirt- Hier ist natürlich insbesondere Südafrika zu nennen. schaftliches und humanitäres Desaster gestürzt. W egen Dieses Land stellt Simbabwe T reibstoff, Energie und der Enteignung der weißen Farmer ist die Landwirt- Kredite zur Verfügung. Dersüdafrikanische Staatschef schaft praktisch zusammengebrochen. Eigenartigerweise Mbeki nennt seine Politik „stille Diplomatie“. Es ist zu fragt man in der Öf fentlichkeit kaum nach dem Schick- hoffen, dass die auf den Streik folgende W elle der sal dieser Farmer. Auch das sollte einmal von uns aufge- Gewalt den Präsidenten Mbeki veranlassen könnte, diese griffen werden. Politik zu überdenken. Die Konzentration auf die humanitäre Situation im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Irak darf den Blick auf die katastrophale Lage in Sim- bei Abgeordneten der SPD) babwe nicht verstellen. Mit dem gemeinsamen Antrag Nach Angaben des Welternährungsprogramms der aller Fraktionen unterstreicht der Bundestag nachdrück- Vereinten Nationen müssten monatlich 200 000 Tonnen lich, dass alle im deutschen Parlament vertretenen Frak- Weizen oder Mais geliefert werden, um die Bevölkerung tionen in dieser Frage gleicher Auffassung sind. zu versorgen. Die Regierung und die Hilfsorganisationen (Beifall im ganzen Hause) (B) zusammen können aber höchste ns ein Drittel davon be- (D) reitstellen. Simbabwe braucht einen Kurswechsel in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Außerdem muss die Gestern war der Direktor des W elternährungspro-landwirtschaftliche Infrastruktur wiederher gestellt wer- gramms bei uns zu Gast im Ausschuss für wirtschaftli- den. Wie sonst könnten Armut und Arbeitslosigkeit be- che Zusammenarbeit und Entwicklung, im A wZ. Erkämpft werden? sprach im Zusammenhang mit Simbabwe von einer hu- manitären Katastrophe außerhalb jeder V orstellung. Die Regierungen der Entwicklungsgemeinschaft des 7,2 Millionen von 13 Millionen Einwohnern sind vom südlichen Afrika tragen eine besondere V erantwortung. Hunger bedroht. 75 Prozent der Bevölkerung leben un- Sie sollten mithelfen, den Druck auf Mugabe zu verstär- terhalb der Armutsgrenze. Es gibt 780 000 Aidswaisen. ken. Der von Südafrikas Staatschef propagierte Weg der 34 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind HIV-infi- „stillen Diplomatie“ unterstützt Simbabwes Weg in das ziert. Dies ist eine grauenvolle Zahl. Man kann sich vor- Chaos. Die Bundesregierung sollte alles in ihren Kräften stellen, dass damit natürlich der Ausfall großer Teile der Stehende tun, damit Südafrika seine Haltung gegenüber arbeitsfähigen Bevölkerung verbunden ist. Die Arbeits- diesem korrupten Regime in Simbabwe umgehend über- losenquote beträgt 80 Prozent. Nach Angaben des IWF denkt. wird die Inflationsrate heuer etwa 500 Prozent betragen. Die Auslandsschulden des Landes liegen bei circa (Beifall bei der CDU/CSU) 5 Milliarden Dollar. Der AwZ begrüßt, dass die Bundesregierung ange- Es gibt Berichte, wonach die Zuteilungen, die von au- sichts der drohenden Hungerkatastrophe die Initiativen der Kirchen und der Nichtregierungsor ganisationen wie ßen in das Land kommen, zwar durch die Regierung ver- auch Nahrungsmittelprogramme und humanitäre Hilfs- teilt, aber häufig im Zusammenhang mit der Frage, wer zur Staatspartei gehört und wer nicht, manipuliert wer- maßnahmen verstärkt fördern will. den. Ich bedanke mich. Deutschland, die Bundesrepublik, hat die bilaterale (Beifall im ganzen Hause) staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Sim- babwe im Mai 2000 weitest gehend und seit Juni 2002 vollständig eingestellt. Um das Leid der Bevölkerung zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lindern, unterstützt die Bundesrepublik jedoch Nichtre- Nächster Redner ist der Abgeordnete Markus Löning gierungsorganisationen und Kirchen sowie humanitäre für die FDP-Fraktion. 3122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Markus Löning (FDP): denn es ist aus unserer Sicht wichtig, dass vom Deut- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situa- schen Bundestag das Signal ausgeht: Wir, das deutsche tion in Simbabwe hat sich seit unserer Debatte im Fe- Parlament, unterstützen den friedlichen W andel in Sim- bruar leider kein Stück verbessert. Im Gegenteil: W irbabwe. Wir unterstützen die Opposition bei ihrem fried- müssen feststellen, dass sich sowohl die Menschen- lichen Kampf für die Durchsetzung von Menschenrech- rechtssituation als auch die Ernährungslage weiter ver- ten, für eine V erbesserung der Ernährungslage, für ein schlimmert haben. menschenwürdiges Leben in Simbabwe. Die Opposition in Simbabwe hat Mitte März einen Vielen Dank. Generalstreik organisiert, an dem sich zwischen 70 und (Beifall im ganzen Hause) 100 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben. Ich glaube, das ist ein deutliches Signal dafür , wie wenig Rückhalt Robert Mugabe noch in seinem eigenen Land hat. Ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: glaube auch, dass es ein deutlicher Appell an die interna- Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Christian tionale Staatengemeinschaft und damit auch an uns ist, Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. die Bevölkerung in Simbabwe in ihrem Kampf für einen friedlichen Wandel zu unterstützen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall im ganzen Hause) GRÜNEN): Während des Streiks hat es Hunderte von Festnahmen Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! gegeben; das ist hier schon erwähnt worden. Unter den Der Kollege Ehrmann, der Ausschussvorsitzende und Festgenommenen waren übrigens auch Abgeordneten- auch der Kollege Löning haben die Situation, wie sie kollegen vom MDC. Es gibt Berichte über Misshandlun- derzeit in Simbabwe ist, geschildert. Ich will gar nicht gen an Demonstranten. Es gibt Berichte über Grausam- viel hinzufügen; ich will nur ein paar persönliche Be- keiten der Sicherheitsbehörden an Festgenommenen. Es merkungen dazu machen. ist schon schlimm genug, dass dies passiert, und zwar Für mich ist dieser Anlass, über Simbabwe zu reden, schon seit Monaten. Was das Ganze noch verschlimmert, auch ganz persönlich – ich glaube, das geht auch ande- ist, dass das ganz of fensichtlich systematisch betrieben ren aus meiner Fraktion so – eine sehr traurige, schmerz- wird, auf Druck und auf direkten Befehl von Robert liche Angelegenheit. Es macht uns aber auch wütend, Mugabe. Das müssen wir mit aller Entschiedenheit zu- und zwar nicht nur, weil Simbabwe, das frühere Rhode- rückweisen, meine Damen und Herren. sien, einmal eines der fortschrittlichsten Länder Afrikas (B) (Beifall im ganzen Hause) gewesen ist mit einer funktionierenden Landwirtschaft (D) und blühenden Landschaften – es war die Kornkammer Der Prozess gegen den Oppositionsführer wird fort- Afrikas –, dem wir jetzt Hilfe geben müssen, weil die geführt. Es werden nur Belastungszeugen gehört. Der Menschen hungern; Sie haben auf die Einzelheiten hin- stellvertretende Vorsitzende des MDC ist inzwischen gewiesen. Es macht uns auch wütend, weil der jetzige verhaftet. Auch der Oppositionsführer selber wird offen Staatspräsident Mugabe früher von uns, von Deutsch- und öffentlich mit Verhaftung bedroht. Das können wir land aus, mit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft be- nicht hinnehmen. W ir können auch nicht die Art und gleitet worden ist, als er im Befreiungskampf von der Weise hinnehmen, wie Mugabe sich schon fast stolz als britischen Kolonialherrschaft als Befreiungskämpfer und Hitler Afrikas bezeichnet. Das ist unerträglich, meine Mitorganisator der Befreiungsbewegung Großes geleis- Damen und Herren. tet hat. (Beifall im ganzen Hause) Das hat uns zu ungeheuren Hof fnungen Anlass gege- Auch bei der Ernährungslage gibt es leider kein ver- ben, weil er nach der Befreiung einen scheinbar vernünf- bessertes Bild. Herr Kraus hat es schon geschildert: Ges- tigen Kurs gefahren hat. Er war derjenige, der den Briten tern war der Direktor des UN-W elternährungsprogram- und den englischen Landbesitzern in Rhodesien bzw. im mes bei uns. Er hat uns ein dramatisches Bild von der späteren Simbabwe eine Zukunft zugesagt hat, sie im Situation gezeichnet. Die Kornkammer Afrikas, bei der Land gelassen hat und versucht hat, das Land gemein- das Welternährungsprogramm früher selber Getreide sam mit den ehemaligen Kolonialherren zu entwickeln. eingekauft hat, ist nicht einmal mehr in der Lage, ein Mugabe war für mich und andere eine Figur in der Ge- Drittel ihrer Bevölkerung zu ernähren. Auch die Miss- schichte Afrikas, die – man traut sich das heute fast nicht stände bei der Verteilung der Nahrungsmittel wurden an- mehr zu sagen – eine ähnliche Signalwirkung hatte wie gesprochen. Die Wirtschaft ist zerschlagen. Es gibt eine Nelson Mandela und andere Persönlichkeiten im südli- Hyperinflation. Diese Aufzählung ließe sich noch fort- chen Afrika. führen. Es ist wirklich Zeit, das sich in Simbabwe etwas Umso schmerzlicher und trauriger ist es, jetzt feststel- ändert. len zu müssen, dass viele Ländereien, die nicht mehr den Daher möchte ich noch einmal ausdrücklich begrü- weißen Farmern gehören, sondern schwarzen Groß- ßen, dass wir uns hier auf einen gemeinsamen Text geei- grundbesitzern aus der Machtclique von Mugabe, brach- nigt haben; liegen. Diese Situation besteht nicht erst seit wenigen Monaten, sondern schon seit längerer Zeit. Ich war wäh- (Beifall im ganzen Hause) rend der Phase der ersten Landbesetzung mit meinem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3123

Hans-Christian Ströbele (A) Ausschuss in Simbabwe. Dort haben wir uns die Lage Repressionen fordere ich noch immer eine gerechte (C) angesehen und haben mit den Leuten gesprochen. Landverteilung. Ich sage das alles jetzt aber auch deshalb, weil ich da- von ausgehe, dass uns die Botschaft Simbabwes zusieht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie hat sich an den Deutschen Bundestag, vor allem an Herr Kollege, Sie müssten jetzt wirklich zum Ende die CDU/CSU-Fraktion, gewendet und in einem frechen kommen. Brief anlässlich des ersten Antrags, den Sie hier gestellt haben, Empörendes mitgeteilt: Diese Hungerkatastrophe Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE und die Zustände, die in Simbabwe herrschen, seien Fol- GRÜNEN): gen einer Naturkatastrophe, eines Klimawechsels, einer Dürre oder einer Regenkatastrophe. Ich kann dieser Re- Diese muss aber dazu führen – das ist mein letzter Satz –, gierung nur sagen: Das alles, was sie nach außen verkün- dass die neuen Farmer die Ländereien in den Stand ver- det hat, ist nicht wahr. setzen, dass sie diese Ländereien nachhaltig und ertrag- bringend bewirtschaften können. Das heißt: W enn sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Verhältnisse dort geändert haben, brauchen sie in der bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/ Entwicklungszusammenarbeit unsere finanzielle Unter- CSU und der FDP) stützung, aber auch unsere Unterstützung beim Know- Sie versucht, das der W eltgemeinschaft zu verkaufen, how. Diese sagen wir ihnen zu. Wir werden sie unterstüt- um von dem abzulenken, was Mugabe mit seiner Regie- zen, sobald sich die Verhältnisse dort demokratisiert und rungsmannschaft angerichtet hat. Im Deutschen Bundes- rechtsstaatlich gestaltet haben. tag haben wir festgestellt, dass sie durch das, was sie ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN macht hat, frühere Sympathie für den neu an die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Regierung gekommen Mugabe und seine Leute, die in CDU/CSU) Europa, in Afrika und in der Welt sehr lange angehalten hat, verspielt hat. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Heute stellen wir fest – so schmerzlich es auch ist –: Letzte Rednerin zu diesem T agesordnungspunkt ist Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, dass dor- die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion. tige Regime zu isolieren. Ich verspreche mir nicht, dass das Regime nur deshalb in die Knie geht, weil wir die (Lübeck) (CDU/CSU): staatliche Entwicklungszusammenarbeit eingestellt ha- Anke Eymer (B) ben. Dieses Vorgehen ist aber ein wichtiges Zeichen für Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (D) Afrika und für Europa, das zeigt, dass wir das durchhal- ren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir wissen, dass ten und konsequent betreiben. Das, was der französische die politische Situation in Simbabwe destabil und be- Staatspräsident auf dem Empfang praktiziert hat, muss denklich ist. Fortgesetzt finden Menschenrechtsverlet- ein Ausrutscher bleiben. Ich glaube, der Deutsche Bun- zungen statt. Millionen von Menschen in Simbabwe sind destag tut gut daran, das zu kritisieren, bei aller Freund- durch Hunger und Gewalt gefährdet. Das macht ein schaft zu Frankreich und zum französischen Staatspräsi- deutlicheres internationales Handeln notwendig. denten. Das war nicht richtig. Das kritisieren wir heftig. Es ist begrüßenswert, dass sich die Fraktionen diesbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- züglich zu einem gemeinsa men Antrag entschließen SES 90/DIE GRÜNEN) konnten. Bedauerlich ist, dass der für diesen Monat ge- plante EU-Afrika-Gipfel in Lissabon nicht stattfinden Wenn wir uns fragen, wie es weiter geht, dann muss kann. Wir erleben in Simbabwe eine politische und hu- klar sein – das er gibt sich auch aus dem gemeinsamen manitäre Katastrophe. Dies geht Hand in Hand mit dem Antrag –, dass der Schlüssel für den Wechsel dieses Re- Niedergang eines noch vor wenigen Jahren wirtschaft- gimes ganz unzweifelhaft bei den Nachbarländern liegt. lich blühenden Landes. Um einen Regierungswechsel in Die Verantwortung liegt in erster Linie bei Südafrika. Simbabwe zu erreichen, ist die Geschlossenheit der in- Südafrika ist das mit Abstand größte und einflussreichste ternationalen Staatengemeinschaft unverzichtbar. Land, dessen Staatspräsident nach wie vor sehr enge Be- ziehungen zu Simbabwe hat. W ir gehen deshalb davon Zusätzlich muss den gemeinsamen politischen Aktio- aus, dass er seinen Einfluss dort geltend machen kann. nen ein nachhaltiges Konzept zugrunde gelegt werden. Er muss ihn auch geltend machen. Er trägt eine hohe Dabei sollten wir auf die Ansätze und Strukturen Verantwortung dafür, dass sich die Verhältnisse dort än- schauen, die im südlichen Afrika schon bestehen. Unsere dern. Bemühungen dürfen aber nicht über den afrikanischen Anstrengungen stehen. Das könnte als neokoloniale Be- Lassen Sie mich eine letzte persönliche Bemerkung vormundung missverstanden werden. Bei der Konflikt- machen. Ich bin nach wie vor der Meinung, auch nach lösung und bei der Entwicklung der gesamten Region ist meinem Besuch mit dem Ausschuss in Simbabwe, dass Afrika in seiner führenden Verantwortungsposition an- eine Landreform, eine gerechte Landverteilung in die- zuerkennen. Jene Prinzipien des demokratischen Auf- sem Land notwendig ist. Bei aller Kritik sowie bei allen bruchs, die im südlichen Afrika schon bestehen, gilt es Forderungen nach einer grundlegenden Veränderung der zu beachten und zu unterstützen. Nur so kann die Afri- gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rücknahme der kanische Union zu einer politisch handlungsfähigen 3124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Anke Eymer (Lübeck) (A) Organisation werden, die letztlich auf dem gesamten Schließen möchte ich mit einem Wort des ehemaligen (C) Kontinent für eine politische und wirtschaftliche Renais- Präsidenten der Republik Botsuana, Sir Ketumile sance eintreten kann. Masire: Für die Stabilität und die Akzeptanz ist es wichtig, Niemand hat jemals wirklich Gewinne, die durch Afrika zu einem Produkt seiner eigenen Bevölkerung das Blut und Elend Unschuldiger errungen wurden, und Gesellschaft und damit zu einem gleichberechtigten dauerhaft behalten, ohne sein Leben durch das glei- Partner für die übrige Welt zu machen. che Schwert zu verlieren, das er selbst geführt hat. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall im ganzen Hause) Bei der Kardinalfrage geht es darum, dass das aufzubau- ende Programm ein afrikanisches Programm sein muss. Die für seine Umsetzung erforderlichen Beziehungen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen auf dem Gleichheitsgrundsatz und auf gegensei- Ich schließe die Aussprache. tigem Respekt beruhen. Das ist die klare Vision, die Af- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- rika für den ef fektiven Umgang mit seinen Problemen ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und für seine Entwicklung braucht. auf Drucksache 15/613. Der Ausschuss empfiehlt, die Die Afrikanische Union und die NEPAD sind die ge- Anträge auf den Drucksachen 1 5/353, 15/428 und 15/429 eigneten Instrumente für die praktische Umsetzung des zusammenzuführen und unter der Überschrift „Interna- afrikanischen Potenzials. Im Zeitalter des globalen Wett- tionalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrecht- bewerbs kann Afrika so Einfluss auf der Weltbühne ge- erhalten, um eine Destabilisierung des südlichen Afrikas winnen. Die Entwicklung, die wir in Deutschland und zu vermeiden“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Europa unterstützen können, zielt auf eine Verbesserung Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – W er der Qualität des Lebens der Menschen. Dabei gilt, dass stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Enthaltun- die Vorbedingung für die Qualität und die Nachhaltigkeit gen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig der Lebensbedingungen die Qualität der jeweiligen Re- angenommen. gierung ist. (Beifall im ganzen Hause) Konzeptionell zusammengefasst heißt das interafrika- Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 12 a und 12 b nisch: Afrika muss in die Lage versetzt werden, die Le- auf: bensqualität seiner Völker selbst erhalten und fördern zu (B) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia (D) können. Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Hom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Afrikanische Charakteristika in Kultur und Se lbst- Die Europäische Spallations-Neutronenquelle bewusstsein sind zu fördern und zu schützen. (ESS) in Deutschland fördern (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) – Drucksache 15/472 – Überweisungsvorschlag: Auf dem W eg zu einer supranationalen und politisch Ausschuss für Bildung, Forschung und handlungsfähigen Vereinigung der afrikanischen Staa- Technikfolgenabschätzung (f) ten ist es für Afrika notwendig, die wirtschaftlichen, ge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sellschaftlichen und politischen Prozesse selbst in die Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hand nehmen zu können. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Global heißt das, dass eine Modernisierung der Pro- duktionssysteme der Regionen und des Kontinents zu ei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ner Wettbewerbsfähigkeit auf dem W eltmarkt führen Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Christoph muss. Das darf nicht nur für einzelne Staaten gelten, son- Bergner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion dern muss für den gesamten Kontinent gelten. Es bein- der CDU/CSU haltet die Anerkennung Afrikas als gleichberechtigten Sachgerechte Planungsentscheidungen zum und verlässlichen Partner. Bau einer Eur opäischen Spallations-Neutro- Dies entspricht Überlegungen und Prinzipien, die in nenquelle ermöglichen der südafrikanischen Fort-Hare-Universität, der Univer- – Drucksache 15/654 – sität der Schwarzen in Afrika, entwickelt wurden. Es Überweisungsvorschlag: gilt, diesen Prinzipien durch eine europäische Afrikapo- Ausschuss für Bildung, Forschung und litik zum politischen Erfolg zu verhelfen. Das Ziel einer Technikfolgenabschätzung (f) solch afrikanischen Entwicklung, die auch bei der kon- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit kreten Behandlung der Krise in Simbabwe nicht aus den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Augen verloren werden darf, kann nur im Sinne Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutschlands und Europas liegen. Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3125

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wo ist sie (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre denn?) ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. als es um den Antrag für ESS ging, nebulös und zurück- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin haltend geäußert. Als dann der Wissenschaftsrat im Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion das Wort. letzten Jahr eine Förderung nicht empfohlen hatte, schien sie geradezu erleichtert darüber zu sein, dass das Cornelia Pieper (FDP): Projekt vom T isch ist. Frau Bulmahn gab in einem Schreiben an den W irtschaftsminister von Sachsen-An- Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und halt, einem der Bewerberländer um den Standort, be- Kollegen! kannt: Die Europäische Spallations-Neutronenquelle ist Die ESS im Kontext aller vorgeschlagenen Großge- weltweit das ehr geizigste Projekt für eine neue räte gesehen ist zwar sehr wertvoll, aber angesichts Neutronenquelle. Der Weg von der Kernspaltung in der hohen Investitionskosten können nicht alle Pro- Reaktoren hin zur Neutronenspallation wird eine jekte realisiert werden, die der Wissenschaftsrat be- Revolution in der Neutronenforschung erzeugen. reits jetzt zur Förderung empfohlen hat. Eine er- Das ist ein Zitat des W issenschaftlichen Direktors des neute Befassung des W issenschaftsrates mit den ESS, Professor Dieter Richter aus Jülich. Projektvorschlägen wird an dieser Situation nichts ändern. (Ute Kumpf [SPD]: Was ist denn Spallation? – René Röspel [SPD]: Können Sie das mal er- Das werfen wir Ihnen vor , meine Damen und Herren klären?) von der Koalition. – Meine Damen und Herren von der SPD, da Sie gefragt (Jörg Tauss [SPD]: Den Wissenschaftsrat wer- haben: Neutronen werden zur Untersuchung der Struktur fen Sie uns vor?) unterschiedlichster Materialien verwendet. Diese For- schungsergebnisse sind von enormem wirtschaftlichen – Nein. Wir werfen Ihnen vor, dass Ihre Ministerin – Sie Nutzen. unterstützten ja wohl diese Position – vorzeitig, vor der Evaluierung im W issenschaftsrat, eineStandort- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) entscheidung für ESS ablehnt. Das ist im Zusammen- hang mit den W eichenstellungen zu sehen, die wir ge- Es gibt weltweit zu wenig Neutronenquellen. Ihre rade auch für die neuen Bundesländer in Forschung und (B) Zahl nimmt im nächsten Jahrzehnt drastisch ab. Von den Entwicklung brauchen. Denn Sie wissen ganz genau, (D) derzeit weltweit in Betrieb befindlichen 25 Neutronen- dass laut Bericht der Bundesregierung über die Entschei- quellen werden aus Altersgründen in zehn bis 15 Jahren dung über die Großgeräte von den 975 Millionen Euro etwa zwei Drittel abgeschaltet werden. In Erkenntnis gerade einmal 25 Millionen Euro in den neuen Bundes- dieser Situation hat die OECD 1998 empfohlen, nicht ländern landen, Kernreaktoren, sondern je eine leistungsfähige Spal- lations-Neutronenquelle in den USA, in Japan und in (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist un- Europa zu bauen; denn moderne Spallations-Neutronen- glaublich!) quellen können Probleme, die mit Kernreaktoren zusam- menhängen, lösen. Eine Spallations-Neutronenquelle ist obwohl Sie im Koalitionsvertrag deutlich gemacht ha- im Gegensatz zu einem Kernreaktor durch Abschalten ben, dass Sie die neuen Bundesländer mit einem Groß- des zugehörigen Protonenbeschleunigers einfach und forschungsgerät unterstützen wollen. Diese Politik ist vollständig abschaltbar. Im Gegensatz zu einem Kern- unglaubwürdig, meine Damen und Herren von der Re- reaktor gibt es keine langlebigen radioaktiven Spaltpro- gierungskoalition. dukte. In einer Spallations-Neutronenquelle werden pro Elementarprozess etwa zehnmal mehr nutzbare Neutro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen als in einem Kernreaktor erzeugt. Deswegen fordern wir Sie heute mit diesem Antrag, Die weltweit vor geschlagenen neuen Spallations-der auch von Nordrhein-W estfalen und Sachsen unter- Neutronenquellen würden natürlich das Problem des Zu- stützt wird, auf, dass sich auch Deutschland für ESS be- gangs zu ausreichend vielen Neutronenquellen lösen. wirbt. Die Ministerin hat das aus unterschiedlichen Auch das ist ein Grund, warum diese hervorragende wis- Gründen in Europa abgelehnt. Wir fordern Sie auf, Ihre senschaftliche Forschungsleistung auch deutscher W is- Haltung zu überdenken und die Weichenstellung vorzu- senschaftler von vielen Experten, aber auch Politikern nehmen, damit die Spitzenforschung nicht nur nach Eu- unterstützt wird. ropa – da wird sie sowieso hinkommen, denn andere Länder Europas bewerben sich darum –, sondern nach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Deutschland und möglichst in eine strukturschwache Re- Tauss [SPD]: Ich bin beeindruckt!) gion kommt. Das muss das Ziel sein. Wir haben gerade mit der Neutronenspallation Spit- Vielen Dank. zenforschungsleistung erreicht. Aber Frau Bulmahn hat sich zunächst, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 3126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir sollten hier nicht den Streit des W issenschaftsra- (C) Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kasparick für tes weiterführen. Dafür gibt es dieses Gremium schließ- die SPD-Fraktion. lich. Wenn wir uns als Parlamentarier für Deutschland auf Ulrich Kasparick (SPD): diese Technologie festlegen, Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Der Wissen- Im Februar 2000 war ich im Rahmen meiner Institutsbe- schaftsrat soll entscheiden!) suche im Hahn-Meitner -Institut in Berlin. Sie wissen, dass ich mittlerweile fast alle ostdeutschen Institute be- dann bewegen wir uns auf einem politischen Handlungs- sucht feld, das uns zum einen nicht zusteht und auf dem wir zum anderen nur verlieren können, weil das eigentlich in (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hat es was die Zuständigkeit des Wissenschaftsrates fällt. gebracht?) (Abg. Cornelia Pieper [FDP] meldet sich zu ei- und über 500 Interviews geführt habe. Ich weiß allmäh- ner Zwischenfrage) lich, wie die Situation der W issenschaft im Osten ist. Das Ergebnis dieses Termins war, dass ich mit Minister- Lassen Sie mich deshalb drei Punkte ausführen. Ich präsident Höppner diskutiert habe, dass sich mehrere freue mich über jeden Unterstützer , der sich am Kampf ostdeutsche Länder um die ESS bewerben sollten. für die Ansiedlung neuer Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland beteiligt. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist ja wun- derbar!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Ergebnis war, dass es sogar eine parteiüber grei- fende, gemeinsame Bewerbung des sozialdemokratisch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: regierten Landes Sachsen-Anhalt mit dem CDU-regier- ten Land Sachsen gab. Das Projekt haben wir im Februar Herr Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischen- 2000 auf den Weg gebracht. Damals haben Sie noch gar frage der Kollegin Pieper? nicht gewusst, dass es die ESS-Projekte überhaupt gibt. Ulrich Kasparick (SPD): (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber durchge- setzt habt ihr euch nicht!) Ja, gerne.

(B) Außerdem haben wir es hinbekommen, den wichtigen Cornelia Pieper (FDP): (D) Satz in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, dass wir bei der Ansiedlung von neuen Großforschungsprojekten Ich mache es auch kurz. Außerdem weiß der Kollege vorrangig Ostdeutschland berücksichtigen wollen, und Kasparick sicherlich noch, dass er mir im ver gangenen zwar aus einem einfachen Grund: Jeder, der sich mit Jahr im Mai im neu gewählten schon einmal Förderprogrammen in Ostdeutschland ein bisschen in- ähnliche Fragen gestellt hat. tensiver beschäftigt und ein bisschen genauer hinschaut, Heißt das mit anderen W orten, dass Sie die Position der sieht, dass wir nur noch eine Chance in Ostdeutsch- Ihrer Ministerin, die sich gegen die Förderung der ESS land haben. Die Chance heißt: Ausbau der Forschungs- in Deutschland ausgesprochen hat und auch die Bewer- infrastruktur. bung von Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht unterstützt, (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Regierungs- nicht teilen? Denn die Länder sind selbst Antragsteller wechsel heißt die Chance!) und werden das Projekt im W issenschaftsrat erneut vor- stellen. Es handelt sich insofern nicht um eine Initiative Deswegen sind diese Großforschungsprojekte so der Bundesregierung, sondern der Länder. wichtig. Den von Ihnen eingebrachten Antrag halte ich für ei- Ulrich Kasparick (SPD): nen Showantrag. Ich will Ihnen auch erklären, warum: Dazu habe ich selber die Länder extra ermutigt. Nach Sie verlangen von der Bundesrepublik Deutschland, sich unserer Diskussion im Wissenschaftsausschuss habe ich auf eine Technologie festzulegen. sofort per E-Mail Professor Pobell ausdrücklich ermu- tigt, sich erneut zu bewerben, (Cornelia Pieper [FDP]: Quatsch! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er hat Sie wahr! Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!) gestern im Gespräch vermisst!) Damit mischen wir uns in einen wissenschaftlichen weil der Ball nicht bei uns im Parlament, sondern bei Streit über TESLA in Hamburg und das Hahn-Meitner - den beiden Bewerberprojekten in Jülich und in Halle- Institut in Berlin ein, den aber nicht das Parlament, son- Leipzig liegt. dern die Wissenschaft entscheiden sollte. Ich halte es für richtig, das Handlungsfenster , über (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das verhindern das wir in Bezug auf den W issenschaftsrat noch verfü- Sie ja gerade, weil Sie keine zweite Begutach- gen, zu nutzen und ihm eine zweite Bewerbung zur Prü- tung zulassen!) fung vorzulegen. Ihre wiederholte Behauptung, Frau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3127

Ulrich Kasparick (A) Pieper, dass die Ministerin das gesamte Projekt und ins- Inhalt des Berichts aufmerksam machen. Die Ministerin (C) besondere einen bestimmten Standort ausgeschlossen lehnt dieses Projekt ab. habe, ist falsch. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist die (Beifall bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/ Wahrheit!) CSU]: Frau Bulmahn hat das ganze Projekt ab- Das, was ich hieran zu kritisieren habe, ist der Umstand, gelehnt!) dass diese Ablehnung aus unserer Sicht nicht mit schlüs- Mein Votum ist: Weil es sich um eine gesamtdeutsche sigen Argumenten begründet wird. Aufgabe handelt, müssen wir uns hinsichtlich der Frage, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie wir die Ansiedlung von Großforschungseinrichtun- neten der FDP) gen in Ostdeutschland erreichen können, verbünden. Das bedeutet, dass wir auch noch einmal über die Konkur- Erstens. Bei der Ablehnung wird nicht berücksichtigt, renz der Standorte reden müssen. Es geht nämlich um dass es sich bei der Neutronenforschung um ein Gebiet eine gesamtdeutsche Aufgabe, und zwar die Entwick- handelt, auf dem Europa und insbesondere Deutschland lung von fünf Bundesländern. weltweit führend sind und dass die Gefahr besteht, dass wir dann, wenn wir in Zukunft unseren Forschern nicht (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) die erforderliche Infrastruktur bieten können, dieses Ich werbe sehr dafür, dass das Projekt, das ich im Fe- Stück Zukunftsfähigkeit und W ettbewerbsfähigkeit bruar 2000 auf den W eg gebracht habe, weiter verfolgt preisgeben. Ich finde, dass dies ein gewichtiges Ar gu- wird. Aber der Ball liegt zurzeit nicht im Parlament, son- ment sein sollte; denn wir sollten bedenken, dass die dern bei der Wissenschaft. Erst dann, wenn der W issen- USA und Japan in Hochleistungsanlagen, die sich in der schaftsrat votiert hat, liegt der Ball wieder im Parlament. Bauweise sogar an dem europäischen Vorhaben orientie- ren, investieren wollen. Wir nehmen also ein Stück Wett- Ich heiße jeden Unterstützer herzlich willkommen. bewerbsnachteil wissentlich in Kauf. Aber Ihr Antrag geht am Ziel vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Dies alles spielt aber aus unserer Sicht bei der Entschei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dung des Ministeriums nur eine unter geordnete Rolle und muss deshalb unbedingt neu gewichtet werden. Das Wort hat nun der Kollege Dr . Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. Zweitens. Die Ablehnung ist auch vom Ministerium unzureichend begründet worden; denn der Wissen- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (B) schaftsrat – ich kann nur auf fordern, dessen Votum ge- (D) Wir erwarten jetzt eine ganz besondere Rede!) nau zu lesen – gibt in der Sache kein grundsätzlich ab- lehnendes Votum gegen den Bau einer Spallations- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Neutronenquelle ab. Der Hinweis, den Hamburger Ring- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr beschleuniger PETRA zu einer Synchrotronstrahlen- Tauss, mir war es wichtig, dass meine Rede zu einem quelle auszubauen, macht nach Meinung aller Fachleute Thema, das eine Zukunftsentscheidung markiert, nicht die Option auf ESS nicht überflüssig. einfach zu Protokoll gegeben wird, sondern dass wir – auch in der Hof fnung, dass sich die Regierung dazu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: äußert – eine Debatte führen, die der W ichtigkeit des Herr Kollege Ber gner, gestatten Sie eine Zwischen- Themas angemessen ist. Denn Ihnen, Herr Kollege, frage des Kollegen Kasparick? muss ich sicherlich nicht erklären, dass es sich bei Ent- scheidungen über wissenschaftliche Großgeräte um Zu- kunftsentscheidungen für unser Land handelt. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Darf ich sie bis zum Schluss meiner Rede zurückstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len, um meinen Gedankengang nicht zu unterbrechen? Wenn wir uns darüber einig sind, würde ich gerne noch einmal den Bericht über die Investitionen in Groß- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: geräte der naturwissenschaftlichen Grundlagenfor- Aber gerne. schung, den die Ministerin bzw. das zuständige Ministe- rium dem Ausschuss vorgelegt hat, in Erinnerung rufen. Neun Projekte standen zur Prüfung an. Eine einzige Ent- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): scheidung hat nicht nur in den Oppositionsfraktionen, Ich finde es lächerlich, wenn – wohlgemerkt nicht in sondern auch in den Regierungsfraktionen W iderspruch den Papieren des Wissenschaftsrates, wohl aber in denen gefunden. Das war die Mitteilung des Ministeriums, dass des Ministeriums – auf Neutronenquellen hingewiesen der Antrag zum Bau der Spallations-Neutronenquelle wird, die zwar den gegenwärtigen Kenntnisstand reflek- nicht befürwortet wird. tieren, die aber – zu diesem Schluss kommt man, wenn man die internationale Entwicklung betrachtet – ab 2010 (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) mit Sicherheit als veraltet gelten werden. Insofern ist die Weil ich mich etwas wundere, dass Herr Kasparick Begründung der Ablehnung, die uns das Ministerium ge- die Fronten ein bisschen verwischt, möchte ich auf den geben hat, nicht schlüssig. 3128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Dr. Christoph Bergner (A) Herr Kollege Kasparick, es geht uns nicht darum Um diesen Irrtum zu vermeiden, sollten wir zunächst (C) – um das an dieser Stelle deutlich zu sagen –, politisch unter Zurückstellung aller Standortwünsche dafür eintre- ein Projekt durchzuboxen, das aus wissenschaftlicher ten, dass es zu einem fairen V erfahren des W issen- Perspektive womöglich nicht als förderwürdig betrachtet schaftsrates kommt und dass der W issenschaftsrat eine wird. Das heißt, am Anfang muss ein zustimmendes Vo- entsprechende Prüfung vornimmt. Ich bin sicher: Die tum des W issenschaftsrates stehen. Nur , der W issen-Politik wird hinterher genug Weisheit an den Tag legen, schaftsrat hat den antragstellenden Ländern – darauf hat wenn es darum geht, die Finanzierung zu klären und den schon Kollegin Pieper hingewiesen – eine weitere Prü- Standort zu bestimmen. Zunächst brauchen wir ein vor- fung in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung sollte urteilsfreies Votum des Wissenschaftsrates. erstens das zweite Antragsverfahren gegenüber dem Herzlichen Dank. Wissenschaftsrat unterstützen – das sehe ich bisher als nicht gegeben an; hier sollten wir als Parlament ein Wort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg mitreden und dafür sollten wir eintreten – Tauss [SPD]: Ein massiver V orwurf an den Wissenschaftsrat!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und sollte zweitens – Sie können sich darauf verlassen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass wir hier sehr wachsam sein werden – nicht versu- Herr Bergner, Sie stehen noch ganz erwartungsvoll chen, den Wissenschaftsrat politisch zu beeinflussen. Ich am Rednerpult. möchte auf Folgendes aufmerksam machen: Ich habe in meiner landespolitischen Laufbahn genügend Beispiele (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Weil eine erfahren, auf welch subtile Weise die Politik versucht Frage zurückgestellt war! Eine Frage war zu- hat, Gremien wie den W issenschaftsrat, der ja nur wis- rückgestellt!) senschaftsinterne Maßstäbe anlegen soll, zu beeinflus- – Ich möchte nur ungern die Praxis fördern, dass man sen. Herr Kasparick, wenn wir uns einmal über unser erst seine Redezeit ausschöpft, um anschließend durch Bundesland unterhalten sollten, dann könnte ich eine die Beantwortung eingesammelter Zwischenfragen zu Menge Dinge aus der Frühzeit der Hochschulstandort- zusätzlicher Redezeit zu kommen. festlegungen erzählen. (Beifall des Abg. Jörg van Essen [FDP] sowie Wenn ich einige Einzelheiten und Randbeobachtun- des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ gen richtig registriert habe – Herr Parlamentarischer DIE GRÜNEN]) Staatssekretär, im Moment möchte ich noch nicht zu sehr ins Detail gehen –, dann komme ich zu dem Gerade bei erfahrenen Parlamentariern will ich keine (B) Schluss: Das Ministerium läuft auch in diesem Fall Ge- Absicht unterstellen; aber ich will auch keinen Anlass (D) fahr, das unabhängige Votum des Wissenschaftsrates zu für Nachahmungstäter schaf fen. Da ich den Eindruck unterlaufen. Davor kann ich nur warnen. Auch deshalb habe, dass Sie sich mit diesem Thema innerhalb wie au- ist das die Stunde des Parlaments. ßerhalb der Parlamentsdebatten intensiv beschäftigen, kann das vielleicht auch bilateral geklärt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ulrich Kasparick [SPD]: Nein, ich würde das Ich habe von der Notwendigkeit dieser Investition ge- gern als Kurzintervention machen!) sprochen. Ich habe es bewusst vermieden – Kollege – Das habe ich zur Kenntnis genommen; aber ich bin Kasparick, Sie wissen, dass wir beide gemeinsam mit der hier jetzt der V erwalter der vereinbarten Redezeiten. Kollegin Pieper für dasselbe Bundesland reden –, hier ei- Diese Zeiten sind nicht nur erschöpft, sondern über- nen bestimmten Standort zur Sprache zu bringen; denn schritten. die antragstellenden Länder haben sich darauf verstän- digt, erst die wissenschaftsinterne Sachentscheidung zu (Ulla Burchardt [SPD]: Aber eine Kurzinter- treffen und dann – ich finde das sehr vernünftig – in einem vention muss doch möglich sein! – Ulrich zweiten Prüfungsverfahren die Frage der Finanzierung Kasparick [SPD]: Eine Kurzintervention muss und des Standortes zu klären. doch möglich sein!) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Nun hat der Kollege Dietmar Nietan für die SPD- Fraktion das Wort. Diesem Verfahren sollten wir uns verpflichtet fühlen, auch wenn wir wissen, wofür unser Herz jeweils schlägt. (Ulrich Kasparick [SPD]: Das ist ja unglaub- Kollege Rachel wird gleich seine Sicht hier darstellen. lich! – Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ich wäre gern dienlich gewesen!) Mein eigentliches Anliegen ist, dazu beizutragen, dass wir, die Parlamentarier, die Bundesregierung an die- Dietmar Nietan (SPD): ser Stelle vor einem Irrtum bewahren. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bundesregierung Opfer einer kurz- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am sichtigen Politik wird und einem Irrtum unterliegt, den Montag der vergangenen Woche hat die Kollegin Flach ich im Interesse der Zukunft der Forschungslandschaft als Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung Deutschland verhindern möchte. und Technikfolgenabschätzung das Forschungszentrum in Jülich besucht. Sie hat dort gesagt, die ESS müsse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) langfristig auf der politischen Agenda bleiben. Ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3129

Dietmar Nietan (A) glaube, alle Wortbeiträge, die wir bis jetzt gehört haben, dent. Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Europa (C) zeigen, dass wir uns in diesem Ziel einig sind. langfristig – – Für mich ist die Frage entscheidend, was wir als Par- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Ministerin lamentarierinnen und Parlamentarier tun können, damit ist aber genau anderer Auffassung! – Zuruf der das ehrgeizige Vorhaben ESS wirklich auf der for- Abg. Cornelia Pieper [FDP]) schungspolitischen Agenda in Deutschland bleibt. Auch – Ich stelle fest, dass ich mit diesen Worten bei Ihnen im- wenn ich viele Ansichten und Forderungen in den Anträ- mer große Emotionen auslöse. Lassen Sie es mich doch gen der FDP und der CDU/CSU durchaus unterstützen zu Ende bringen. kann, glaube ich nicht – das muss ich hier sehr deutlich sagen –, dass sie letztlich zielführend sind. Es ist doch wirklich evident, dass wir, wissenschaft- lich gesehen, langfristig in Europa eine Spallations-Neu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tronenquelle brauchen. Wenn wir uns darin einig sind, Ich will das auch begründen. Wenn wir die Kräfte da- dann sollten wir den Schwerpunkt anders legen. Es ist hin gehend bündeln wollen, dass der Standort der ESS, sicherlich auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen wenn sie nach Europa kommt, in Deutschland ist – der von der CDU/CSU und der FDP, nicht entgangen, dass Kollege Bergner hat das eben sehr deutlich gesagt –, viele Wissenschaftlerinnen und W issenschaftler der dann dürfen wir die Kräfte jetzt nicht aufsplitten. Ich ESS-Gemeinde auch in Jülich mittlerweile aus genau glaube, dass die ziemlich eindeutige Festlegung auf ei- diesen Gründen sagen, ein zweites Gutachten sei zum nen Standort in den neuen Ländern im FDP-Antrag für jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich, viel wichtiger unser gemeinsames Ziel zum jetzigen Zeitpunkt nicht sei die klare Aussage für eine langfristige Perspektive hilfreich ist. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Antrag nicht für eine Neutronenquelle in Europa. Wenn wir uns darin zu unterstützen. einig sind, sollten wir dies auch gemeinsam betonen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael (Beifall bei der SPD) Kretschmer [CDU/CSU]: Bitte?) Ich sage aber auch sehr deutlich, dass wir uns auf dem Ich will aber auch etwas zum CDU/CSU-Antrag sa- Weg dorthin die Chancen hier nicht verbauen sollten. gen. Die Überschrift dieses Antrags „Sachgerechte Pla- Deshalb wäre für mich die entscheidende Frage, die wir nungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spal- parlamentarisch diskutieren müssen: W as machen wir lations-Neutronenquelle ermöglichen“ ist – damit Sie mit den drei bestehenden Neutronenquellen sowie dem mich richtig verstehen – angemessen. Der Schwerpunkt hinzukommenden Standort in München? Ihres Antrags liegt auf dem zweiten Gutachten. Auch (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ganz (B) ich habe bisher die Position vertreten – das sage ich un- (D) anderer Art!) umwunden –, dass ein zweites Gutachten erstellt werden muss, und zwar möglichst schnell. – Nein, das ist nichts anderes. Ich will Ihnen das erklä- ren; hören Sie mir doch zu. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Dann ändern Sie Ihre Politik!) Wenn wir hier die ESS weiterhin theoretisch diskutie- ren und nicht überlegen, wie wir in Zukunft die vorhan- – Bitte, hören Sie mir zu! – Ist es aber , da wir wissen, denen Kompetenzzentren für Neutr onenforschung wie und in welchem Rahmen die erste Empfehlung des stärken, wenn wir vielleicht sogar eine Diskussion da- Wissenschaftsrates im November zustande gekommen rüber führen, den einen oder anderen Standort zu schlie- ist, realistisch, davon auszugehen, dass ein neues Gut- ßen, weil es ja vier Neutronenquellen gibt, verbauen wir achten kurz danach wirklich grundlegend neue und ab- die Zukunft aller in Deutschland bestehenden Kompe- weichende Empfehlungen enthält? Das sollte sich jeder tenzzentren. überlegen, der dieses Gutachten zum jetzigen Zeitpunkt fordert. (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist doch etwas ganz anderes! – Zurufe von der CDU/CSU) Wir haben festgestellt, dass die Bundesregierung bei den Großforschungseinrichtungen die Prioritätensetzung Es wäre eine viel sinnvollere parlamentarische Initiative, aktualisiert hat. Auch ein zweites Gutachten wird an die- darüber nachzudenken, wie wir die derzeitigen Kompe- ser Prioritätensetzung nichts ändern, wobei ich, damit tenzzentren stärken können. keine Legenden gebildet werden, an dieser Stelle unter- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wenn das alles streiche, dass die gegenwärtige Prioritätensetzung nie nichts Neues wäre, bräuchten wir dieses Pro- eine endgültige Ablehnung aller anderen noch nicht ge- jekt nicht! – Zuruf der Abg. Cornelia Pieper förderten Großforschungsprojekte darstellt. [FDP]) Ein Weiteres zur Frage der wissenschaftlichen Not- – Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper , sehr geehrter Herr wendigkeit eines zweiten Gutachtens: Wenn Mitte diese Präsident, ich sehe mich im Moment nicht mehr in der Jahrzehnts – auch das hat Kollege Ber gner angespro- Lage, in meiner Rede fortzufahren, weil hier nur noch chen – in Japan und in den USA starke neue Neutronen- dazwischengeredet wird. quellen in Betrieb genommen werden, dann stellt sich für mich nicht mehr die Notwendigkeit, wissenschaftlich (Cornelia Pieper [FDP]: Wenn Sie so viel fal- zu ergründen, ob es forschungspolitisch notwendig ist, in sches Zeug reden, muss ich doch dazwischen- Europa eine Neutronenquelle aufzubauen. Das ist evi- rufen!) 3130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Thomas Rachel (CDU/CSU): (C) Wir haben hier schon Schlimmeres erlebt. Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich über die sehr sachliche Diskussion hier im Parlament auch zu (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der später Stunde. Frau Ministerin Bulmahn hat ohne Not CDU/CSU und der FDP) und ohne Rücksicht auf die fortdauernde Debatte in der Wissenschaft Ende letzten Jahres bekannt gegeben, dass Dietmar Nietan (SPD): die Europäische Spallations-Neutronenquelle ESS Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für nicht zu finanzieren sei und Deutschland sich nicht um wichtig, sich darüber zu unterhalten, wie wir die Kompe- eine Ansiedlung bewerben werde. Es ist eine rückwärts tenzzentren für Neutronenforschung stärken und erhal- gewandte Entscheidung der rot-grünen Bundesregie- ten. Ich halte es auch für wichtiger, in diesem Hause ge- rung, der ESS keine Chance mehr zu geben. meinsam die Position zu formulieren, dass wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) langfristige Perspektive ESS für Europa und letztlich auch für den Standort Deutschland erhalten wollen. Da- Nachdem das erste Beurteilungsverfahren des W is- für brauchen wir eine Strategie. Es ist aber auch eine senschaftsrates auch in der Wissenschaft selber umstrit- Strategie der Bundesregierung zur Neutronenforschung ten war, sollte nach unserer Auf fassung eine zweite erforderlich. Dazu merke ich kritisch an, dass wir eine Begutachtung stattfinden. Im Rahmen einer zweiten Prü- solche Strategie im Fachausschuss rechtzeitig diskutie- fung könnte die Forschungs-Community die vom W is- ren und als Parlamentarier in den Bundestag einbringen senschaftsrat aufgeworfenen Fragen beantworten und sollten, die angesprochenen Kritikpunkte ausräumen. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Reden Sie Zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen, Sachsen doch mal mit Ihrer Ministerin darüber!) und Sachsen-Anhalt sowie dem Wissenschaftsrat ist bereits verabredet worden, ein neues Begutachtungsver- damit uns nicht das passiert, was uns bei der Entschei- fahren durchführen zu wollen. Dabei sollen die Frage dung über die Großforschungsgeräte passierte, als wir der Finanzierung, aber auch die Standortfrage erst in ei- Parlamentarier am Ende nur noch mitgeteilt bekommen ner zweiten Stufe erörtert werden. Die CDU/CSU-Frak- haben, wozu sich die Regierung entschieden hat. tion unterstützt nachdrücklich ein solches Verfahren. Wir erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie diese Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zweite Begutachtung ermöglicht. Möchten Sie eine Sekunde vor Ende Ihrer Redezeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (B) noch eine Zwischenfrage de s Kollegen Kretschmer zu- Tauss [SPD]: Wer hindert denn den W issen- (D) lassen? schaftsrat daran?) Es ist uns vollkommen unverständlich, dass diese Woche Dietmar Nietan (SPD): die Abgeordneten von SPD und Grünen sich dem V er- Nein, damit ich jetzt zu Ende komme, lasse ich sie such, zu einem überparteilichen Antrag zu kommen, ver- nicht mehr zu. weigert haben und nicht einmal zu dem von Liberalen und Christdemokraten angebotenen Gespräch erschienen (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist sind. vielleicht auch besser so!) (Cornelia Pieper [FDP]: Gut, dass Sie das noch Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der emotiona- einmal sagen! – Eckart von Klaeden [CDU/ len Aufwallungen auf der rechten Seite des Hauses bitte CSU]: Politik des leeren Stuhls! – Gegenruf ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den richtigen W eg des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: für eine Strategie finden, die langfristig die Option ESS Wenn man sich auf eure Stühle setzt ... !) offen hält. Wenn uns dies gemeinsam gelingt, tun wir der Deutschland darf nicht fahrlässig seine führende Sache den größten Gefallen. Rolle in der Spallationsforschung an die USA und Japan Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. verlieren. (Beifall bei der SPD) Die voreilige Entscheidung von Ministerin Bulmahn hat sogar die eigenen Parteifreunde verblüf ft und verär- gert. Der SPD-Forschungspolitiker T auss ist nach eige- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen Angaben in den „Jülicher Nachrichten“ vom Nun hat Herr Kollege Kasparick um das Wort zu einer 26. Februar 2003 – ich zitiere – „von der Entwicklung Kurzintervention gebeten. im Forschungsausschuss des Deutschen Bundestages überrascht worden“. (Ulrich Kasparick [SPD]: Nein, vorhin! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt will (Jörg Tauss [SPD]: Was habe ich gesagt? – er nicht mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Cornelia Pieper [FDP]: Was?) Schnell weiter, Herr Präsident!) Offensichtlich hat die SPD-Bundestagsfraktion keinen Dann hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kol- Informationsfluss aus dem Ministerium, geschweige lege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. denn Einfluss auf die Politik der SPD-Forschungsminis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3131

Thomas Rachel (A) terin. Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Her- Entscheidung Frau Bulmahns erst im Nachhinein infor- (C) ren. miert wurde und wir alle keine Gelegenheit hatten, auf die forschungs- und haushaltspolitische Prioritätenset- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zung Einfluss zu nehmen. Dies darf das gesamte Parla- ment nicht ruhig lassen. Nun hat sich erwartungsgemäß Kollege T auss zu ei- ner Zwischenfrage gemeldet, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Völlig un- merkt man! Immerhin sind fünf Leute bei Ih- erwartet, dass das kein Zwischenruf ist!) nen anwesend!) die Kollege Rachel vermutlich zulassen wird. Enttäuscht ist auch die nordrhein-westfälische For- schungsministerin Hannelore Kraft, übrigens auch SPD. Thomas Rachel (CDU/CSU): In einem Brief an die Forschungsministerin schrieb sie: Mit besonderer Freude, Herr Präsident. Ich halte es nicht für angemessen, zum jetzigen Zeitpunkt abschließende Finanzierungsentschei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dungen zu treffen, diewissenschaftliche Optionen Bitte schön. „erledigen“ und damit Zukunftschancen für den Wissenschafts- und W irtschaftsstandort Deutsch- Jörg Tauss (SPD): land verspielen. Da ich den Artikel leider nicht gelesen habe, bitte ich In diesem Punkt hat Frau Kraft Recht, meine Damen und Sie, ihn mir freundlicherweise zukommen zu lassen. – Herren. Ich fordere Sie deshalb sehr nachdrücklich auf, Ich frage Sie: Geht aus diesem Artikel möglicherweise dass Sie den Chancen Rechnung tragen. Frau Kraft hat auch hervor, dass ich gesagt habe, ich wunderte mich auch gesagt – ich zitiere –: über die Entscheidung des Wissenschaftsrates und über Die Diskussion in unseren Nachbarländern zur die Tatsache, dass an der Entscheidung des W issen- Neutronenstrahlung und Spallationstechnik scheint schaftsrates wissenschaftliche Zweifel aus der Commu- keineswegs so eindeutig zu sein, wie das BMBF be- nity angemeldet werden, hauptet. (Cornelia Pieper [FDP]: Er hat gar nicht wissenschaftlich entschieden!) Auch die Länder, die den Antrag stellen, glauben, dass wir europäische Partner für das Projekt finden. (B) dass sich aber diese V erwunderung wiederum nicht auf (D) die Bundesregierung bezog? Denn über die Politik der (Jörg Tauss [SPD]: Dann nennen Sie sie!) Bundesregierung braucht man sich nicht zu wundern; sie Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür ist so klar, dass ein Wunder damit nicht verbunden wäre. Sorge zu tragen, dass im Sinne des W issenschaftsstand- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ist orts Deutschland ein zweites Begutachtungsverfahren wunderbar!) für die ESS durchgeführt wird, was nur mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgen kann. V or einer erneuten Entscheidung des Ministeriums müssen die Er gebnisse Thomas Rachel (CDU/CSU): dann im Ausschuss erörtert werden. Das war leider eine typische Vernebelungstaktik vom Abgeordneten Tauss, denn ich habe Sie mit dem Zitat (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) konfrontiert, dass Sie gemäß den „Jülicher Nachrichten“ Es wäre doch eine schreckliche Entwicklung, wenn gesagt haben, Sie seien von der Entwicklung im For- zu dem Zeitpunkt, zu dem in Amerika die Entscheidung schungsausschuss des Deutschen Bundestages über- getroffen wird, die Leistung des betref fenden Projekts rascht worden. Ihre gerade getane Äußerung zeigt, dass von 1,4 auf 4 Megawatt zu verdreifachen, in Europa das dies die Wahrheit ist. Aus für ein derart zukunftsträchtiges Projekt kommt. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er ist (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) immer noch überrascht!) Europa ist – wie auch die amerikanischen Dokumente Es zeigt, dass die SPD-Fraktion in dieser Sache auf die belegen – in der Neutronenforschung weltweit führend. Forschungsministerin keinen Einfluss mehr hat. Mit dem Aus für die ESS würde Europa diese Führung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit Sicherheit an die Japaner und Amerikaner verlieren. Das wollen wir nicht. Deshalb wollen wir eine vorur- Herr Kollege Tauss, ich bedauere dies übrigens, weil teilsfreie Prüfung durch den Wissenschaftsrat. ich eigentlich von einer Regierungsfraktion – Sie können übrigens stehen bleiben, weil ich Ihnen noch antworte – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erwartet hätte, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) dass sie frühzeitig auf diese Frage Einfluss nimmt. Fak- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tum ist, dass der gesamte Forschungsausschuss von der Ich schließe die Aussprache. 3132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen Wir sind damit am Schluss unserer heutigen T ages- (C) auf den Drucksachen 15/472 und 15/654 an die in der ordnung. Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich vermute, dass das trotz der Meinungsverschiedenhei- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- ten in der Sache einvernehmlich so beschlossen werden tages auf morgen, Freitag, den 4. April 2003, 9 Uhr, ein. kann. – Dagegen erhebt sich kein W iderspruch. Dann Die Sitzung ist geschlossen. darf ich das Einvernehmen feststellen. Die Überweisun- gen sind so beschlossen. (Schluss: 21.27 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3133

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Nach welchen Gesichtspunkten sollen Arbeitsuchende den aufzubauenden Personal-Service-Agenturen zugeordnet wer- den und inwieweit soll die Übernahme in Personal-Service- Agenturen durch Maßnahmen der Fort- und W eiterbildung entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich flankiert werden? Zu Frage 39: Bätzing, Sabine SPD 03.04.2003 Dieser Grundsatz der Bundesanstalt für Arbeit ent- Bindig, Rudolf SPD 03.04.2003* spricht dem geltenden Recht. § 4 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch regelt wörtlich: Deittert, Hubert CDU/CSU 03.04.2003* „(1) Die Vermittlung in Ausbildung und Arbeit hat Fahrenschon, Georg CDU/CSU 03.04.2003 Vorrang vor den Leistungen zum Ersatz des Ar- Götz, Peter CDU/CSU 03.04.2003* beitsentgelts bei Arbeitslosigkeit. Der Vermittlungsvorrang gilt auch im Verhältnis zu Haupt, Klaus FDP 03.04.2003 den sonstigen Leistungen der aktiven Arbeitsförde- Höfer, Gerd SPD 03.04.2003* rung, es sei denn, die Leistung ist für eine dauerhaf- tere Eingliederung erforderlich.“ Irber, Brunhilde SPD 03.04.2003 Wenn die Bundesanstalt für Arbeit also die V ermitt- Jäger, Renate SPD 03.04.2003* lung in Arbeit einer Qualifizierung vorzieht, entspricht sie einem gesetzlichen Auftrag. Jonas, Klaus Werner SPD 03.04.2003* Geschäftspolitisches Ziel der Bundesanstalt für Arbeit Dr. Köhler, Heinz SPD 03.04.2003 im Bereich der beruflichen W eiterbildungsförderung ist Kramme, Anette SPD 03.04.2003 es, nun noch die T eilnahme an solchen Maßnahmen zu fördern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer Leibrecht, Harald FDP 03.04.2003* beruflichen Eingliederung führen. Eine strengere Aus- richtung der W eiterbildungsförderung an den betrieb- * Letzgus, Peter CDU/CSU 03.04.2003 lichen und arbeitsmarktlichen Erfordernissen entspricht (B) Lintner, Eduard CDU/CSU 03.04.2003* der von vielen Seiten geforderten Effizienzverbesserung (D) und liegt sowohl im Interesse der T eilnehmer als auch Dr. Lucyga, Christine SPD 03.04.2003* der Unternehmen. Eine frühzeitige Einbeziehung der

* Bundesanstalt für Arbeit in Entscheidungsprozesse zu Riester, Walter SPD 03.04.2003 Neuansiedlungen kann in besonderer Weise dazu beitra- Dr. Scheer, Hermann SPD 03.04.2003* gen, die berufliche W eiterbildung an einem konkreten Qualifikationsbedarf auszurichten und hohe Eingliede- Schmidt (Eisleben), SPD 03.04.2003 rungsquoten zu realisieren. Silvia Zu Frage 40: Siebert, Bernd CDU/CSU 03.04.2003*

* Entsprechend den Vorschlägen der Kommission Mo- Tritz, Marianne BÜNDNIS 90/ 03.04.2003 derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt über die Nut- DIE GRÜNEN zung der vermittlungsorientierten Arbeitnehmerüberlas- sung sollen die Personal-Service-Agenturen zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen. Ziel ist die V ermittlung * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen V ersamm- von Arbeitslosen, indem die Personal-Service-Agentu- lung des Europarates ren Arbeitslose einstellen, um diese vorrangig zu verlei- hen. Verleihfreie Zeiten sollen für die Qualifizierung und Weiterbildung genutzt werden. W elche Arbeitslosen in Anlage 2 eine Personal-Service-Agentur einmünden, richtet sich Antwort nach den Erfordernissen und den V oraussetzungen im Einzelfall. Hierüber entscheidet das örtliche Arbeitsamt. des Parl. Staatssekretärs Rezzo Schlauch auf die Fragen Arbeitslose mit geringer Qualifikation und/oder indivi- des Abgeordneten Ulrich Petzold (CDU/CSU) (36. Sit- duellen Vermittlungshemmnissen sollen besonders ge- zung, Drucksache 15/724, Fragen 39 und 40): fördert werden (Bundestagsdrucksache 15/25, Seite 28 Inwieweit kann – aus Sicht der Bundesregierung – der zu § 37c Abs. 2). Grundsatz der Bundesanstalt für Arbeit, BA, im Rahmen ihrer aktuellen Geschäftspolitik für Maßnahmen der Fort- und W ei- In verleihfreien Zeiten sollen die der Personal-Ser- terbildung „Erst platzieren, dann qualifizieren“ den Erfordernis- vice-Agentur zugewiesenen Arbeitnehmer durch die Per- sen einer Wirtschaftspolitik gerecht werden, die unter V erweis auf das Vorhandensein qualifizierter Arbeitskräfte Ansiedlun- sonal-Service-Agentur betreut und eventuell auch qualifi- gen befördern will? ziert werden. Dabei wird es sich jedoch in der Regel nicht 3134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003

(A) um umfassende Qualifizierungsmaßnahmen handeln, da in diesem Zusammenhang möglicherweise beabsichtig- (C) die Arbeitnehmer vorrangig verliehen werden sollen. ten Maßnahmen sind in dem Bericht nicht enthalten. Daraus folgt auch, dass eine Flankierung durch eine er- gänzende, durch das Arbeitsamt geförderte W eiterbil- Die derzeit im Zusammenhang mit der Thematik des dung im Regelfall nicht erfolgen wird. Preisdumping angedachten Maßnahmen sind Ihnen be- reits in der Antwort auf ihre schriftliche Frage am 13. März 2003 durch den Parl. Staatssekretär im Bun- desministerium für V erbraucherschutz, Ernährung und Anlage 3 Landwirtschaft, , mitgeteilt worden. Antwort Zu Frage 47: des Parl. Staatssekretärs Dr . Gerald Thalheim auf die Frage des Abgeordneten Albert Deß (CDU/CSU) (36. Die Bundesregierung erwägt nicht, gesetzliche V or- Sitzung, Drucksache 15/724, Frage 45): schriften zu erlassen, die über das bereits geltende Verbot Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber , dass der des systematischen Verkaufs unter Einstandspreis hinaus- Bundesrechnungshof kürzlich gegen die Stellenbewirtschaf- gehen. Wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes tung im BMVEL größte Bedenken angemeldet hat, und, wenn im Falle Wal-Mart zeigt, ist dieses Verbot durchaus geeig- ja, was kritisiert der Bundesrechnungshof? net, missbräuchlichen Niedrigpreisstrategien entgegen zu Der Bundesrechnungshof prüft derzeit die V erwen- wirken. Es ist Aufgabe der Kartellbehörden, auf die Ein- dung der neuen Stellen, die das BMVEL im Haushalt haltung des Verbots zu achten und Verstöße durch Miss- 2002 erhalten hat. Das Prüfverfahren ist noch nicht ab- brauchsverfahren zu ahnden. geschlossen. Eine abschließende Äußerung ist daher ge- genwärtig nicht möglich. Es trifft jedoch zu, dass der Bundesrechnungshof in diesem Prüfverfahren bisher die Anlage 5 Auffassung vertritt, BMVEL habe einen Teil dieser Stel- Zu Protokoll gegebene Rede len nicht bestimmungsgemäß eingesetzt. Das Ministe- rium widerspricht dieser Auf fassung nachhaltig und hat zur Beratung über die Anträge: ausführlich dargelegt, dass die Stellen zweckentspre- chend verwandt wurden. – Die Europäische Spallations-Neutronenquelle (ESS) in Deutschland fördern – Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Anlage 4 Bau einer Europäischen Spallatons-Neutro- (B) Antwort nenquelle ermöglichen (D) des Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim auf die Fra- (Tagesordnungspunkt 12 a und b) gen der Abgeordneten Gitta Connemann (CDU/CSU) (36. Sitzung, Drucksache 15/724, Fragen 46 und 47): Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Trifft der Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Neutronenforschung ist unverzichtbar. Sie leistet einen vom 6. Februar 2003, Seite 12 zu, demzufolge die Bundesmi- wichtigen Beitrag zum Beispiel für die Biotechnologie, nisterin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, für die Materialforschung, für die Grundlagenforschung Renate Künast, trotz des Wrstandes ide von Bundes kanzler ganz allgemein. Eine moderne Industrienation wie Gerhard Schröder weiter gegen „Preisdumping“ im Lebens- mittelhandel vorgehen wolle, und sind weitere, über die in der Deutschland braucht leistungsfähige Neutronenfor- Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundes- schung, gerade auch für die Herausforderungen im welt- ministerin für V erbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- weiten Wettbewerb neuer Produkte. Deutschland hat schaft Matthias Berninger vom 13. März 2003 auf meine schrift- eine gute Basis in der Neutronenforschung. liche Frage in B undestagsdrucksache 15/730, Arb.-Nr. 2/280, geschilderten Gespräche mit betrof fenen Marktbeteiligten hi- Nach Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen muss nausgehende Maßnahmen geplant? die Erzeugung von Neutronen in ihren gesamten gesell- Erwägt die Bundesregierung angesichts der wiederholten schaftlichen Auswirkungen betrachtet werden. Dazu ge- Ankündigung der Bundesministerin für V erbraucherschutz, hört auch die Proliferation. Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast, gegen Preis- dumping vor allem im Bereich des Verkaufs von Lebensmit- Eine existenzielle Vorgabe jeder Neutronenforschung teln vorgehen zu wollen, den Erlass gesetzlicher Vorschriften, die über die auf Betreiben der Fraktion der CDU/CSU 1998 muss es sein, keine Proliferationsgefahren durch hoch eingeführte Vorschrift des § 20 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes angereichertes Uran zu schaffen. gegen Wettbewerbsbeschränkungen – V erbot von Unter - Einstands-Verkäufen von Lebensmitteln – hinausgehen, und, Die momentanen weltpolitischen kriegerischen Ent- wenn nein, warum nicht? wicklungen, deren Ursache auch im V ersuch der Ein- dämmung von Massenvernichtungswaf fen liegt, zeigen Zu Frage 46: die Berechtigung dieser Forderung. Aufgrund dieser Vorgabe besteht ein entscheidender Unterschied zwi- Der in der Frage genannte Bericht in der F AZ ver-schen den beiden Arten der Erzeugung von Forschungs- deutlicht in zutreffender Weise, dass Preisdumping wei- neutronen. terhin ein Thema für die Bundesministerin für V erbrau- cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Zunächst die Kernspaltungsreaktoren: Sie haben den Künast, ist. Nähere Ausführungen der Ministerin zu den Nachteil, dass zu ihrem Betrieb kernwaffentaugliches Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3135

(A) Material wie hoch angereichertes Uran, HEU, besonders nal knappen Kassen lassen sich nicht alle Projekte ver- (C) geeignet ist. Dieses HEU findet die Begehrlichkeit von wirklichen, die eine hohe Forschungsqualität aufweisen. Terroristen oder Regimen, die ein Nuklearwaf fenarsenal Bündnis 90/Die Grünen wollen daher auch Großpro- aufbauen. Die USA haben aus diesem Grund bereits seit jekte aus anderen Forschungszweigen in diese Diskussion 1980 ein weltweit erfolgreiches Programm zur Umrüs- einbeziehen. So wird beispielsweise die Fusionsforschung tung von Forschungsreaktoren auf nicht waf fentaug- der Energieforschung zugeordnet. Fusionsener gie wird liches, niedrig angereichertes Uran begonnen. aber in den nächsten 50 Jahren nicht zur V erfügung ste- Aus der Sicht der grünen Bundestagsfraktion ist es hen. Nach den Untersuchungen vieler W issenschaftler bedauerlich, dass die Bayeri sche Staatsregierung in den wird es in 50 Jahren aber möglich sein, den gesamten Verhandlungen mit der Bundesregierung sich weigerte, Energiebedarf aus erneuerbaren Energien zu decken. eine Umrüstung für den neuen Forschungsreaktor in Die Forschung im Bereich der Fusionsener gie halten Garching auf niedrig angereichertes Uran vor Inbetrieb- wir für überflüssig, wegen ihren hohen Kosten gar für nahme durchzuführen. Eine solche Umrüstung vor Inbe- schädlich. Wir schlagen daher vor , zur Erfüllung der triebnahme wäre möglich gewesen. Aufgaben der Grundlagenforschung die für den ITER Die gerade in den USA neu in der Entwicklung be- vorgesehenen Mittel für die Erforschung von erneuerba- findlichen hoch dichten niedrig angereicherten Uran- ren Energien sowie die Errichtung einer europäischen brennstoffe eröffnen dafür eine technologische Option, Spallationsquelle zu verwenden. die keinerlei Einschränkung für die Forschung bedeutet. Auch wenn die Anträge der Union und der FDP da- Die zweite Form der Erzeugung von Neutronen ist die rauf abzielen, die Debatte über die ESS neu aufzurollen, Spallation: Dafür sind keine waf fentauglichen Uran-können wir ihnen dennoch nicht zustimmen. Union und brennstoffe erforderlich. Wir sehen daher in der Spalla- FDP machen in ihren Anträgen – wie so oft – keinerlei tionsquelle die optimale Lösung zur Erzeugung von For- Finanzierungsvorschläge. Wir von der grünen Bundes- schungsneutronen. Bündnis 90/Die Grünen begrüssen tagsfraktion schlagen einen Verzicht auf den Fusions- daher seit langem die Entwicklung einer europäischen energiereaktor ITER vor und liefern damit den Finanzie- Spallationsquelle. Umso bedauerlich fanden wir , dass rungsvorschlag für die ESS. Damit hätte auch der Osten die Begutachtung des Wissenschaftsrates negativ ausfiel. Deutschland eine Chance, endlich eine Großforschungs- Selbstverständlich akzeptieren wir dieses Votum als wis- einrichtung zu bekommen. Auch wir halten dies zur senschaftlich fundiert. Allerdings sind wir der Meinung, Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandortes dass in eine politische Entscheidung auch die nicht wis- Ostdeutschland für erforderlich. senschaftlichen Argumente wie eben die Non-Prolifera- Wir würden uns freuen, wenn auch die FDP diesen tion in die Entscheidungsfindung einbezogen werden (D) (B) Vorschlag aufgreifen würde, damit eine wirkliche Reali- müssen. sierungschance entsteht. Für ITER gibt es keine realisti- Wir sind uns allerdings bewusst, wie schwierig die sche Bewerbung eines ostdeutschen Standortes, damit Finanzierung wird. Sie kann nur im europäischen Kon- gibt es auch keine V erwirklichung einer Großfor- text stattfinden. Es ist daher erforderlich, auf nationaler schungseinrichtung für Ostdeutschland. Wir von Bünd- und internationaler Ebene einen Abwägungsprozess über nis 90/Die Grünen dagegen haben einen konkreten V or- die Notwendigkeit verschiedener Formen der Grundla- schlag und bitten Sie deshalb um Ihre Unterstützung in genforschung voranzutreiben. Angesichts der internatio- der Diskussion.

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