Sendung vom 24.6.2013, 21.00 Uhr

Stefan Mickisch Pianist, -Experte und Musikwissenschaftler im Gespräch mit Roland Spiegel

Spiegel: Herzlich willkommen beim alpha-Forum. Ich freue mich, Ihnen heute jemanden vorzustellen, der nicht nur ausgezeichnet Musik spielen kann, sondern sie auch noch außergewöhnlich verständlich erklärt. Herzlich willkommen, Stefan Mickisch. Mickisch: Danke, dass ich hier sein darf. Spiegel: Herr Mickisch, Sie haben sich viel mit Wagner befasst und haben uns zum Einstieg eine kleine Kostprobe vorbereitet, damit die Leute auch mal sehen und hören können, was Sie so machen. Ich würde sagen: Legen Sie doch bitte los. Mickisch: Ich habe mir gedacht, mit dem "Walkürenritt" könnte man im Wagner- Jahr doch einen großen Hit von vorstellen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Musik, die man ja gut kennt, sondern vielleicht auch im Hinblick darauf, was das Stück bedeutet bzw. was man aus ihm ablesen kann. Ich halte das nämlich für sehr essenziell. Der Beginn des "Walkürenritts" von Wagner fängt ja bekanntermaßen mit diesem "Quintschleifer" an (unterlegt hier wie im Folgenden alle seine Aussagen mit kurzen Beispielen auf dem Flügel). Der hat nicht nur eine gewisse aggressive Note, sondern – und bei großen Geistern steckt eben auch immer Intellekt mit drin, obwohl man meint, die Musik sei nur eine Gefühlskunst – man kann darin auch die neun Walküren abzählen. Wenn man nicht genau weiß, wie viele Walküren es sind, kann man schlicht mitzählen. Das ist die erste, hier die zweite, die dritte, die vierte, die fünfte, die sechste, die siebte, die achte und die neunte Walküre. Und genau bei der neunten Walküre beginnt dann dieses Stück zu laufen. Interessant ist auch, dass mit diesen Walküren – das sind ja Luftrosse – gemeint ist, dass da tapfere Krieger ausgewählt worden sind. Die Walküren sind Luftwesen, sind fast schon engelhaft und kommen daher von oben. Sie kommen also nicht von unten, von links auf der Klaviatur, sondern von rechts, von oben. Es dauert dann eine Zeit lang, bis sie Bodenhaftung bekommen. Als Drittes kommen wir zum berühmten Walkürenruf: Er hat die Tendenz, die Tonarten in der Mitte aufzuspalten. Das sind große Terzen! Und große Terzen bedeuten in der Musik Kraft und Spannung. Der nächste Punkt hat mit der Vorliebe unserer germanischen Vorfahren für Pferde zu tun. Manche haben diese Vorliebe ja auch heute noch, zu Recht. Richard Wagner hat hier komponiert, wie so ein Ross hochsteigt und wiehert. Man kann da richtig sehen, wie ein Pferd hochsteigt und wiehert. Das war wichtig für die Germanen, weil sie nämlich aus dem Pferdegewieher die Zukunft abgeleitet haben – genau wie aus dem Vogelflug. Sie haben also den Pferden in ihrem Aberglauben Funktion zugeschrieben, sie gaben ihnen eine "glaubenstechnische" Funktion. Noch etwas ist interessant beim "Walkürenritt": nämlich dieser Rhythmus. Das ist ein typischer Reiterrhythmus. Dieser Reiterrhythmus steht freilich nicht nur für Wagner, sondern wird z. B. auch von Rossini verwendet, und zwar ebenfalls für Reiter. Und dieser Rhythmus kommt sogar hier vor … Haben Sie es erkannt? Das war die berühmte Auftaktmelodie der Fernsehserie "Bonanza". Deswegen sage ich: Richard Wagner ist der Vorläufer dieser Bonanza-Melodie! Er hat das wirklich schon viel früher komponiert und deswegen würden ihm heute noch Tantiemen zustehen für diese Idee. Ich spiele Ihnen jetzt den gesamten "Walkürenritt" vor – mitsamt den Engelwesen, den Luftrossen, dem Pferdewiehern, dem Bonanza- Vorläufer und der großen Kraft dieser Walkürewesen. Spiegel: Vielen, vielen Dank, Herr Mickisch. Das ist erschöpfend, was Sie machen. Mickisch: Ja, das ist erschöpfend. Aber meine alte Grunddevise war immer schon: Entweder man macht es richtig oder man lässt es bleiben! Spiegel: Sie geben ja Einführungen in die kompletten Musiktheaterstücke von Richard Wagner. Jetzt haben Sie uns einiges zur "Walküre" gesagt, dem zweiten Teil der Tetralogie "". Diese gesamte Tetralogie dauert ja 16 Stunden, manchmal sogar noch ein bisschen länger. Wenn Sie nur alleine die "Walküre" auf diese Weise vor Publikum erklären, dann sind Sie doch schon nach 10 Minuten fix und fertig, oder? Mickisch: Ich habe ja soeben ein bisschen was von Pferden erzählt: Es gibt unter den Pferden Kurzstreckler, Mittelstreckler und Langstreckler. Und bei Wagner muss man als Musiker eben ein "Langstreckenpferd" sein. Ich gebe ja in Bayreuth jeden Sommer nicht nur einen Vortrag, sondern 30 am Stück. Da muss ich mir meine Kräfte natürlich schon einteilen. Aber wenn ich weiß, dass ich nur eine oder zwei Nummern zu spielen habe, dann heißt das als Künstler, dass man sich verausgaben muss. Wenn ich aber den ganzen Vortrag von 90 Minuten mache, dann werde ich mir meine Kraft einteilen und sparen und nicht meine gesamte Energie beim "Walkürenritt" verbrauchen. Das heißt aber nicht, dass ich dieses Stück nicht trotzdem mit vollem Einsatz spiele: Ich bin dann hinterher schon immer ein bisschen fertig, aber wenn ich dann spreche und das nächste Tableau erkläre – z. B. das von Wotans Abschied –, kann ich mich wieder ein bisschen erholen. Das Herz schlägt dann wieder langsamer und man geht hinüber in die Philosophie. Spiegel: Besonders dankbar war ich Ihnen natürlich für die Bonanza-Melodie und auch für das ... Mickisch: Man vergisst das immer: Richard Wagner war im Grunde genommen der Urvater der Hollywood-Musik, überhaupt der guten Unterhaltungsmusik. Denken Sie nur einmal an die Leitmotive in dem Film "Star Trek": Das kommt alles von Richard Wagner. Deswegen sage ich auch, er ist der erfolgreichste aller Komponisten. Spiegel: Wie fing denn eigentlich Ihre Faszination für Wagner an? Man muss dazusagen, dass Sie ja auch ganz andere Dinge machen, Sie beschäftigen sich auch mit anderen Komponisten. Es ist also nicht so, dass Sie für sich noch nach einem Zweit-Komponisten suchen würden. Aber woher kommt bei Ihnen diese ganz starke Konzentration auf Wagner? Mickisch: Wagner ist nun einmal besonders intensiv, ist besonders fantasievoll und er hat ganz besonders viele interessante Philosophien in seinen Stücken. Das geht bis zur Religiosität im "" und der Frage der Kunst in den "Meistersingern". Wer hat die Liebe besser und intensiver beleuchtet als Richard Wagner? Da findet man eigentlich niemanden. Und er vergisst nichts und gibt auch überall Antworten. Er stellt also interessante Fragen zur Kunst, zur Liebe, zur Religion, zur Macht, zum Verzicht oder zum Sterbenlernen – wie z. B. bei Wotan im "Ring" – und er gibt auch Antworten. Schlechtere Künstler bzw. mittelmäßige Künstler formulieren noch nicht einmal die richtigen Fragen. Das aber ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt Antworten geben zu können. Deswegen sagt ja auch Sokrates, die richtige Frage würde bereits die passende Antwort implizieren. Spiegel: Es gibt natürlich eine zentrale Frage zu Wagner selbst, und vor allem in Jahren, in denen Jubiläen gefeiert werden: Wie steht es mit Wagners Antisemitismus und auch mit dem Antisemitismus in seinen Opern? Gerade vom Weltanschaulichen her ist ja Wagner ein extrem heißes Eisen. Wie stehen Sie dazu? Mickisch: Das wird überbewertet und das wird überzogen und das verstellt den Blick auf die Klasse Richard Wagners. Letztlich ist dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt. Dazu muss man aber relativ viel wissen. Das gilt z. B. auch für Nietzsche: Es gibt ja viele Leute, die Nietzsche kritisieren, ohne ein einziges Buch von Nietzsche gelesen zu haben. Das empfinde ich schon immer als besonders lustig. Bei Wagner ist es im Grunde genommen genauso, dass kaum jemand seine Schriften gelesen hat, auch nicht seine Schrift "Das Judentum in der Musik". Trotzdem spielen diese Leute dauernd den Moralapostel. Ich empfinde das eigentlich als lächerlich. Man muss nur genau lesen, was Wagner geschrieben hat. Dann kann man nämlich herausfinden, welcher Art der Antisemitismus von Wagner war, was das für eine relativ entschärfte Form des Antisemitismus bei Wagner gewesen ist. Wagners Antisemitismus war nämlich ein sprachphilosophischer und kein rassistischer. Wagner war auch ein Anti- Adelsmensch, ein Kommunist, ein Antikapitalist: Das sind alles Dinge, die man heute gerne vergisst. Er war ein Bakuninfreund, er war ein Karl Marx Naher, er war quasi ein Feuerbachschüler, er war ein Religionskritiker usw. Dieser ganze linke Komplex bei Wagner ist viel zu wenig beleuchtet. Dass er heute ein Grüner wäre, dass er heute ein Öko wäre, dass er wahrscheinlich ein "Pirat" wäre, das steht für mich fest: Ich glaube, er wäre in politischer Hinsicht ein rot-grüner "Pirat". Spiegel: Dann würde er aber keine Tantiemen bekommen. Das heißt, er würde es sich vielleicht doch überlegen, ein "Pirat" zu werden. Mickisch: Wagner war auch gar nicht tantiemengeil in dem Sinne, wie das heute viele sind, die irgendeinen Mist produzieren. Denn Wagner ging es um große Kunst und er hat auch deswegen so lange nichts verdient. Wenn man einen "Tristan" schreibt oder den "Ring", den niemand aufführen kann, dann kann man doch so jemandem nicht unterstellen, er wäre geldgeil. Wenn er das wirklich gewesen wäre, dann hätte er leichte Symphonien komponieren müssen, Streichquarttete, Lieder wie z. B. seine Kollegen. Sein Kollege Brahms hat z. B. gut verdient. Nichts gegen Brahms, aber so ein Streichquartett lässt sich eben leichter aufführen als der "Tristan". Marcel Reich-Ranicki hat doch sehr gut bemerkt: "Es gibt viele nette Menschen auf Erden, aber die haben keinen "Tristan" und keine "Meistersinger" geschrieben." Das heißt, man muss den Genies zugestehen, dass sie Fehler machen. Antisemiten waren Karl Marx und Bruno Bauer genauso – auch wenn das die Leute nicht wissen. Man muss Marx und Bruno Bauer lesen in ihren Schriften aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dann kann man nämlich Wagner wieder als linkshegelianischen Antisemiten einordnen und dadurch auch entschärfen und begrenzen. Ich halte daher von dieser Diskussion, die wirklich meistens von Unwissenheit getragen wird, gar nichts. Spiegel: Wobei das natürlich ein spannendes Thema ist – und wir beide reden ja jetzt auch darüber. Vielleicht noch diesen einen Punkt: Es gibt ja unter den Wagner-Kennern, die ebenfalls viel über diese Thematik diskutieren, zwei Positionen. Es gibt die einen, die sagen: In den Werken von Richard Wagner ist Antisemitismus nicht drin. Es gibt die anderen, die sagen: Es gibt Figuren bei Wagner wie z. B. den "Mime", die in der Kennzeichnung, in der sie dargestellt sind, doch irgendwo einen Hauch von Antisemitismus tragen. Wie stehen Sie dazu? Mickisch: Schön, dass Sie das fragen und ich finde es auch sehr gut und sehr berechtigt, dass man solche Fragen stellen. Denn ich verstehe mich ja als Wissenschaftler, auch als geistig-religiösen Wissenschaftler: Da muss man alle Argumente bedenken und alle Fragen beantworten, und zwar objektiv und emotionsfrei. Im Werk Richard Wagners findet sich kein Antisemitismus. Nach meiner Auffassung sind die Leute, die das behaupten, ziemlich doof. Denn "Mime" ist kein Jude, sondern ein Zwerg, "Beckmesser" ist kein Jude, sondern ein deutscher Beamter. Das haben die Deutschen auch noch kaum begriffen: dass die "Meistersinger von Nürnberg" ein gegen das deutsche Beamtentum komponiertes Stück ist. Und die Deutschen sind brutale Bürokraten! Das ist der "Beckmesser": Die Karikatur des deutschen Beamten und Kritikers. Das hat mit Jüdisch nichts zu tun. Das sind also nur Konstruktionen. Und sogar eine vom Feuilleton sehr geschätzte sagt mit Recht, dass im Werk von Wagner kein Antisemitismus vorhanden ist. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist das, was Wagner außerhalb seiner Opern gesagt hat. Hierzu habe ich ja vorhin schon meine Position dargelegt: Auch dort ist sein Antisemitismus ein spezieller, nämlich ein sprachphilosophischer. Das heißt, er hat gedacht, dass die Juden aufgrund des Nicht-Zugangs zur originären deutschen Sprache keine neue Kunst schaffen könnten. Das ist ein relativ schwacher und kein rassistischer Antisemitismus. Und in diesem Punkt darf man Wagner auch widersprechen. Denn es kam ja Schönberg, es kam ja Gustav Mahler, das waren ja Juden, und die haben sehr wohl gezeigt, wie man komponieren kann. Ich sage daher, Wagner ist wirklich ein "sehr guter Freund von mir", aber das heißt nicht, dass ich ihm nicht da oder dort widersprechen würde. Wagner hat nämlich gemeint, das Wort sei wichtiger als die Musik: Daher rührt das, das ist die Wurzel für seinen Antisemitismus. In diesem Punkt würde ich ihm wirklich widersprechen, denn ich glaube, dass Wagner seine eigene große Musikalität zugunsten des Dramas ein bisschen zurückgedrängt und gemeint hat, es ginge alles nur über das Drama und über das Wort. Und dabei hat er so unglaublich tolle sinfonische Musik geschrieben, dass Tschaikowski gesagt hat, Wagner sei der größte Sinfoniker nach Beethoven. Das heißt, für mich müsste man diese Debatte auf diese Weise führen. Spiegel: Ich empfinde hingegen das, was Wagner gedacht und gesagt hat, sehr wohl mindestens im Ansatz als rassistisch: Mir ist diese Haltung sehr unsympathisch. Das andere ist, Sie können von Glück reden, dass Sie nicht zu seinen Lebzeiten mit ihm befreundet waren, weil Sie sonst längst pleite wären: Er hätte Sie wahrscheinlich gnadenlos angepumpt. Mickisch: Nun, da gehören immer zwei dazu. Ich finde es immer etwas billig, über ein Genie solchen Ausmaßes negative Worte zu verlieren. Ich finde es billig, es geht sehr leicht, und die Leute, die das sagen, leisten selbst nichts. Fast alle, die Wagner kritisieren, leisten nichts und sind unglaublich klein. Eine Prüfung führe ich jederzeit durch. Wagner ist dagegen unglaublich groß. Es ist sehr einfach und billig, z. B. auch Beethoven zu kritisieren, man findet auch bei Chopin, bei Schumann, überall findet man etwas. Auch bei Goethe findet man viel. Das ist außerdem sehr dumm, denn wir sind in Deutschland und in Deutschland sollte man stolz sein auf das, was Deutschland hervorgebracht hat. Und da gibt es nicht nur negative Dinge. Wir haben auch die Relativitätstheorie, Einstein kommt aus Ulm. Deutschland hat Max Planck. Die Röntgenstrahlen wurden in Deutschland erfunden. Da kann man doch auch auf Wagner und seine Superwerke stolz sein! Ich finde es gefährlich, wenn man dauernd mit diesen Vorwürfen kommt. Denn die Gefahr ist, dass dann die Jugend von Wagner vielleicht nichts mehr wissen will, dann strengt sie sich nicht mehr an und sagt sich: "Ach, das ist alles fehlgeleitet, der war doch ein Antisemit. Den muss man nicht studieren!" Das ist ein großer Fehler, denn man muss an Wagner, muss an diesen großen Leuten lernen, wie gut man eine Oper schreiben kann, wie man gute Musik macht. Da kann man sehr viel lernen. Spiegel: Ich finde, das bietet einfach auch eine Chance für einen selbst, das differenzierte Denken zu üben: Man kann ja anerkennen, dass es grandiose Künstler gibt. Da sind wir uns ja bei Wagner auf jeden Fall einig, was seine Kompositionen, was sein Opernschaffen bzw. Musiktheaterschaffen, wie er es selbst genannt hat, betrifft. Aber große Künstler sind oft im realen Leben charakterlich sehr zweifelhaft. Das gibt es einfach und das ist vielleicht auch ein Plädoyer, Künstler nicht von vornherein heiligzusprechen. Mickisch: Genau. Wer macht das eigentlich? Spiegel: Das machen wir hier jedenfalls nicht. Mich würde es nun interessieren, wie das bei Ihnen angefangen hat. Seit 1998 halten Sie in Bayreuth Ihre Einführungsvorträge, die von manchen quasi schon als Gegenfestspiele und als Kultveranstaltungen dargestellt werden. Sie haben aber schon viel früher auch mit Vorträgen und auch mit der Musik angefangen. Ich habe über Sie gelesen, dass Sie als Kind hervorragend Geige gespielt haben, dass Sie der Primarius eines Streichquartetts in Ihrem Gymnasium waren. Neben der Geige haben Sie auch noch Klavier gespielt und Klavier haben Sie dann auch studiert. Was war denn überhaupt Ihr musikalisches Initialerlebnis? Mickisch: Das waren wohl die Eltern, denn mein Vater ist Musiklehrer gewesen am Gymnasium und meine Mutter hat sehr schön gesungen. Sie haben z. B., als wir Kinder waren – mein Bruder ist ein bisschen jünger als ich –, den "Figaro" von Mozart am Klavier akteweise durchgemacht: mein Vater als "Figaro" und "Graf" und gleichzeitig am Klavier spielend, und meine Mutter als "Susanne" und "Gräfin". Sie haben auf diese Weise einen ganzen Akt durchgespielt. Wissen Sie, das war beste Hausmusik. Meine ersten musikalischen Erlebnisse beziehen sich also darauf, dass meine Eltern Mozartopern gespielt und gesungen haben. Da bin ich also ganz schnell hineingewachsen. Ich habe dann schon mit vier Jahren bestimmte Melodien aus diesen Mozartopern spielen wollen. Mein Vater hat mir das gezeigt und rein nach Gehör habe ich das dann ganz schnell gelernt. Spiegel: Sie sind den Opern Ihr ganzes Leben lang treu geblieben. Es hätte aber auch gerade umgekehrt kommen können, denn man wird erwachsen und sagt sich: "Ach, ich kann das Zeug nicht mehr hören, das die ganze Zeit über im Elternhaus herumgeisterte." Mickisch: Das ist auch eine gute Frage. Ich bin den Opern nicht unbedingt treu geblieben. Eigentlich war es so, dass ich diese Stimmen in meiner Jugendzeit immer als hysterisch und schrill empfunden habe. Vor allem bei den Frauenstimmen ging es mir so. Meine Interessen gingen daher schon sehr in Richtung Instrumentalmusik, also zum Klavier und zum Orchester. Mein Zugang zu Wagner, als ich zu Beginn der 90er Jahre angefangen habe, mich mit ihm zu befassen, war ebenfalls orchestral. Ich sehe Wagner als Symphoniker und ich brauche die Sänger nicht. Die Frage ist, ob Wagner die Sänger gebraucht hat. Vielleicht nicht. Der Gesang ist ja schön, aber der Sänger muss da wirklich gut sein. Wenn wie bei der "Brünnhilde" usw. zu schrill gesungen wird, dann spiele ich diese Musik doch lieber auf dem Klavier. Ich bin in meiner Jugend sehr schnell zu Bruckner gekommen, zu Skrjabin. Die Aschkenasi- Aufnahmen der Skrjabin-Sonaten haben damals in den 80er Jahren wirklich Furore gemacht: Ich war einer der Ersten, der dann auch die vierte Sonate gespielt hat. Ravel und Debussy waren ebenfalls frühe Lieblinge von mir. Von dort aus ging es zu Schubert und Brahms. Später durchlief ich die Schule von Karl-Heinz Kämmerling in Hannover und erarbeitete mir Beethoven. Ich bin also schon relativ breit interessiert. Spiegel: Das heißt, Ihr Interesse konzentrierte sich dann immer mehr aufs Klavier. Ich nehme mal an, dass Sie die Geige seit Jahren nicht mehr spielen – oder nur sporadisch. Mickisch: Ich habe mir sogar gerade eine neue Geige gekauft, ich spiele privat für mich und in Wien habe ich die Ehre, mit Philharmonikern Kammermusik spielen zu dürfen: Dvořák-Terzett usw. Ich spiele da auch Bratsche. Aber das ist wirklich nur Hobby. Ich habe einfach damals mit 17 Jahren den "Jugend musiziert"-Wettbewerb gewonnen für Fachs Klavier. Dieser Bundessieg für Klavier war die Initialzündung. Ich habe gesehen, dass ich da wirklich an der deutschen Spitze bin und dass man einen Beruf daraus machen kann. Im Grunde hätte ich aber Philosophie studieren wollen. Das habe ich halt dann nebenbei betrieben: Ich habe immer Philosophie gelesen. Spiegel: Das heißt, Sie haben es nie bereut, dass Sie die praktizierende Musik gewählt haben? Mickisch: Ich habe das nie bereut, denn das ist quasi ein Handwerk und eine Berufung gleichzeitig. Ich bin mir sicher, dass die Ausübung von Musik und die Verbindung mit dem Hören von Musik auch sehr heilsam und schützend ist. Spiegel: Haben Sie denn irgendwann selbst entdeckt, dass Sie Musik gut erklären können? Sind Sie im privaten Rahmen darauf gekommen? Mickisch: Ja, genau so war es. Ich stellte bei vielen, vielen Abonnementkonzerten überall fest, dass die Leute nicht verstehen, was sie hören. Man kann das ja ablesen an der Mimik. Das merke ich natürlich nur, wenn ich nicht selbst spiele, sondern das merke ich, wenn ich selbst Zuhörer, Zuschauer bin. Ich sehe da wirklich, dass viele im Publikum sitzen und nicht verstehen, was sie soeben gehört haben. Das hat nichts mit böser Absicht aufseiten dieser Leute zu tun, das liegt einfach daran, dass sie die Kenntnisse dafür nicht haben oder weil sie die Musik nur emotional hören. Dann schimpfen sie auch gelegentlich über etwas, was eigentlich sehr gut ist. Also habe ich mir gedacht, dass ich da was machen muss: "Hier musst du eine Brücke schaffen zwischen dem Werk und diesen Hörern!" Ich wollte diesem Umstand abhelfen, dass da Sachen aneinander vorbeilaufen, vor allem auch dann, wenn da vielleicht noch ein Musikkritiker dazwischen sitzt, der unmaßgeblichen Mist erzählt. Ich wollte also zwischen Beethoven oder Wagner einerseits und dem Publikum andererseits vermitteln. Das war der Impetus und der zieht bis heute. Spiegel: Musik ist ja nichts, was den Komponisten zufliegt, sondern es ist Handwerk, wie Sie uns vorhin an der Machart des "Walkürenritts" deutlich gezeigt haben: Da sind Stilmittel drin, die sind einfach naheliegend und die muss man umzusetzen wissen als Komponist. Mickisch: Oder erfinden. Invention, Improvisation, Klanggestalten erfinden, die eine hohe Qualität aufweisen! Darf ich Ihnen mein Gesellschaftsmodell vorstellen? Das ist ein Dreieck: das Schöne, das Wahre und das Gute. Die Kunst ist das Schöne, das Wahre ist die Wissenschaft und das Gute ist die Ethik. Das ist das Dreieck, in dem ich mich gerne bewege. Spiegel: Das heißt, Sie wollen in Ihren Vorträgen auch solche Modelle vermitteln oder auch moralisch-philosophische Dinge? Mickisch: Philosophische! Spiegel: Es gab einen berühmten Einstieg von Ihnen in den USA, und zwar lange, bevor Sie in Bayreuth Vorträge gehalten haben. Erzählen Sie mal, wie das kam und wo das war. Mickisch: Die Amerikaner haben eine spezielle Form der Offenheit, die es in Deutschland in dieser Form nicht gibt. In den USA gibt es Art Colonies, in denen sich Künstler verschiedener Art treffen: Bildhauer, Schriftsteller, Komponisten usw. In Virginia gibt es eine schöne solche Kolonie mit dem Namen Virginia Center for the Creative Arts. Dorthin hatte ich ein Stipendium und so kam es, dass ich 1993 zum ersten Mal dort gewesen bin. Ich hatte viel Zeit und konnte wunderbar zu mir selbst kommen. Es gibt dort eigentlich nur Landschaft und andere Künstler, von denen jeder sein eigenes Studio hat. Da macht mal der eine Maler eine Ausstellung, bei der eine Schriftstellerin dann aus ihrem neuesten Werk vorliest usw. Dass ich dort in einen anderen Kulturkreis mit einer anderen Sprache hineingekommen bin, war wahnsinnig interessant für mich. Ich wurde dort eines Tages gefragt, was mich am meisten interessieren würde, welcher Komponist mir am nächsten läge. Ich sagte daraufhin: "Eigentlich Wagner." Bis dahin hatte ich aber Wagner noch nicht konzertant gespielt, sondern ihn nur immer in meinem Herzen getragen. Die Amerikaner sagen aber in so einem Moment sofort: "Play for us!" Mach mal! Und warum findest du Wagner gut? Ich habe dann den Schluss aus der "Götterdämmerung" erarbeitet und den Schlussgesang der letzten 20, 30 Minuten einstudiert. Im Konzert haben ich ihnen dann die Themen usw. alle genau erklärt und anschließend habe ich das Stück gespielt. Die Zuschauer waren davon vollkommen begeistert, denn auch sie hatten teilweise so eine Aversion gegen Wagner wegen dessen angeblichen Antisemitismus'. Es gibt ja viele jüdische Künstler in den USA: Gerade im bildhauerischen und überhaupt im künstlerischen Sektor gibt es ganz viele Rosenberg und Rosenzweig usw. Sie mochten mich aber und dachten sich daher, wenn ich den Wagner mag, dann kann es sein, dass dieser Wagner vielleicht doch nicht so schlecht ist. Ich selbst bin ja ein ganz normaler Mensch und habe überhaupt keine Vorurteile, gegen niemand, und als solcher habe ich ihnen einfach nur diese Kunst erklärt. Das war wie eine Bombe und diese Leute waren begeistert ohne Ende. Von diesem Zeitpunkt an habe ich gewusst: Genau so musst du es in Deutschland auch machen! Spiegel: Das ist ja vielleicht überhaupt so ein Grundproblem: dass Kunst meistens nicht für ganz normale Menschen erklärt wird. Stattdessen führen da oft Musikwissenschaftler einen Fachdialog untereinander und schreiben nie so, dass man ihre Sachen auch mal lesen könnte, ohne selbst Musikwissenschaftler zu sein. Mickisch: Das ist sehr wichtig! Denn man soll nicht glauben, dass das Volk so dumm ist. Die lassen sich alle bilden! Jeder Mensch hat Fähigkeiten, die geweckt werden können. Weil diese Menschen oft in wahnsinnig dummen Fernsehprogrammen versinken oder in entsprechenden Zeitungen usw., werden diese Fähigkeiten eben leider nicht geweckt. Aber wenn sie die Chance dazu haben, dann kann man da auch was machen. Ich spiele z. B. im Tischtennisclub Ettmannsdorf: Niemand erwartet, dass im Tischtennisclub lauter Musikfachleute sind. Ich auch nicht. Dort reden wir gar nicht über Musik. Aber wenn ich ein Konzert spiele, dann lade ich sie ein. Hinterher sind sie dann zu mir gekommen und haben gesagt: "Wir haben gar nicht gedacht, dass du so gut Klavier spielen kannst." Spiegel: Das heißt, Sie sind ein eher mäßiger Tischtennisspieler? Mickisch: Ich war nicht so schlecht, denn sonst hätten sie ja auch nicht dieses Kompliment formuliert. Ich spiele auch Fußball, und als ich zu meinem Verein gekommen bin, hatten die dort einen Trainer, der meine Vorträge von Bayreuth gekannt hat. Er hat zu mir gesagt: "Wenn du nur halb so gut Fußball spielst, wie deine Vorträge sind, dann sind wir echt glücklich mit dir!" Ich habe ihm dann geantwortet: "Halb so gut wie meine Vorträge? Trainer, dann würde ich doch in der Bundesliga spielen!" (lacht) Das heißt, ich habe ihm da sofort Zunder gegeben. Ich will damit nur sagen: Man kann wirklich alle Leute ansprechen, wirklich. Es ist dann nur die Frage, ob sie überhaupt den Schritt machen, ins Konzert oder in Vorträge zu gehen. Aber das machen eben doch viele. Spiegel: Wo liegt eigentlich dieses Ettmannsdorf? Mickisch: In der Nähe von Schwandorf. Spiegel: Und dort sind Sie auch geboren. Mickisch: Ja, Schwandorf ist meine Heimatstadt. Spiegel: Und dieser Gegend sind Sie auch immer treu geblieben? Mickisch: Ja, letztlich schon. Meine schöne Heimat liegt an der Naab in der Oberpfalz. Meine Eltern, meine Großeltern kamen aus Schwandorf und aus Waldmünchen, also aus diesem Grenzbereich im Bayerischen Wald. Ja, da dort fühle ich mich wohl. In geografischer Hinsicht ist diese Gegend auch günstig: Man kommt leicht nach Wien, nach Berlin, nach Karlsruhe, nach München. Das ist von dort aus alles gut zu erreichen. Spiegel: Kommen wir noch einmal zurück zur Vermittlung von Musik. Sie sagen, jeder Mensch ist dafür aufnahmefähig, wenn man ihm die Vermittlung nur richtig präsentiert. Sie machen auch häufig sehr, sehr böse Bemerkungen über Regisseure, über Theaterfachleute, die Opern auf die Bühne bringen. Eine Pauschalaussage von Ihnen lautet: "Die kennen sich meistens nicht genug aus mit der Musik." Mickisch: Das ist aber nicht böse, sondern das ist ein Fakt. Spiegel: Es gibt ein paar, die kennen sich sehr wohl aus, wie z. B. Peter Konwitschny. Mickisch: Das stimmt, der kennt sogar Tonarten und das lasse ich bei ihm auch gelten. Es gibt zwei Regisseure, die ich kenne, die Dur von Moll unterscheiden können. Dass sie das können, ist schon mal nicht schlecht. Aber das sagt eben auch, wie viele das nicht können. Spiegel: Ist das nicht doch ein bisschen sehr zugespitzt? Mickisch: Das ist ein bisschen zugespitzt, aber nicht sehr. Ich habe ja viele dieser Regisseure testen können: Die meisten von ihnen hören den Unterschied von Dur und Moll nicht. Das gilt übrigens auch für viele sogenannte Kritiker. Ich kann da gerne Tests durchführen, um das zu beweisen. Aber ich sage Ihnen: Das ist gefährlich. Spiegel: Ich selbst will das lieber nicht mitmachen. Mickisch: Es meinen viele, über Musik zu reden, wäre leicht. Aber Musik zu beherrschen und zu wissen, wo ein c-Moll steht, was ein Quartsextakkord ist und warum er genau da steht und wie der Tristanakkord aufgebaut ist und wo sich der auflöst, ist eben nicht trivial. Ich finde, wenn man sich mit Opern befasst – Opern bestehen ja aus Musik –, dann müsste man doch diesen wichtigen Teil der Oper schon auch verstehen. Spiegel: Man könnte allerdings jetzt mit Wagner kommen und sagen, Opern bestehen nicht nur aus Musik. Was steht noch mal bei "" auf dem Deckblatt? "Eine Handlung." Das ist also nicht nur ein Spiel mit Tönen, sondern das ist auch ein Spiel mit einer dramatisch aufbereiteten Geschichte. Mickisch: Genau, und das widerspricht sich ja auch gar nicht. Das ist diese "Handlung" nach Calderón, aber die Oper besteht nun einmal auch aus Musik. Und wenn man bei "Tristan und Isolde" die Musik rausnimmt, dann bleibt nichts übrig. Die Musik ist also in der Regel das Wichtigste an der Oper. Das heißt, wenn ein Regisseur eine Oper inszeniert, dann muss er wissen, was die Musik darstellt. Was mich bei den Regisseuren meistens nervt, ist, dass sie die Schlüsse nicht kapieren. Und da bin ich ja wirklich nicht alleine mit meiner Klage. Aber eigentlich ist mir das auch schon wieder egal, denn ich erkenne ja an, dass man da nur sehr schwer etwas sehr Gutes leisten kann. Und es ist auch klar, dass das ein Minenfeld ist, weil da jeder gackert. Bei Inszenierungen bekommt man nie einhellige Begeisterung. Das geht vielleicht nur beim "Ring" von Patrice Chéreau nach 30 Jahren. Da sagen die Leute heute vielleicht alle: "Ja, das war gut!" Aber damals war auch sein "Ring" heftigst umstritten. Ich finde es jedenfalls wichtig, dass man die Schlüsse schafft, die Schlüsse der Oper, und dass man nicht mit einer vorgefertigten Destruktion, die von vornherein feststeht, sagen will: "Der Wagner ist sowieso ein Mist, da inszeniere ich jetzt einfach einen großen Skandal und biege den Schluss um." Das gefällt mir nicht. Wenn man Wagner nicht mag, dann sollte man ihn auch nicht inszenieren. Spiegel: Es gibt aber, das haben Sie jetzt selbst mit eingeflochten, ein berühmtes Gegenbeispiel. Ich meine damit selbstverständlich nicht jemanden, der Wagner nicht mochte und doch gut inszenierte. Sondern ich meine einen Regisseur, der Wagner zunächst einmal gar nicht gekannt hat: Patrice Chéreau, ein französischer Theater- und Filmregisseur. Er hat 1976 den sogenannten "Jahrhundertring" in Bayreuth inszeniert. Dessen Inszenierung gilt immer noch als die maßgebliche Inszenierung dieses großen Werks. Mickisch: Und das mit Recht. Spiegel: Aber er war ja jemand, der sich zuerst einmal monatelang in ein Kämmerchen einschließen musste, um Wagner zu hören, die Partituren und die Texte zu lesen und um in diese Welt überhaupt eindringen zu können. Das heißt, es ist also möglich, dass ein Regisseur auch von einem anderen Fach kommen kann: Er muss sich dann eben einfühlen, einarbeiten usw. Und er muss die Story als solche rüberbringen können. Mickisch: Stimmt. Das ist wirklich möglich und das schließe ich auch überhaupt nicht aus. Ich erkenne das auch vollständig an, denn das gibt es durchaus. Aber Chéreaus von dieser Klasse sind selten. Spiegel: Allerdings. Eine Oper auf die Bühne zu bringen, ist ja eine riesengroße Herausforderung, und es wäre ja auch langweilig, wenn das immer gelingen würde. Mickisch: Möglich, das weiß ich nicht. Ich spiele diese Musik ja eh selbst, d. h. ich bin nicht abhängig von Inszenierungen. Spiegel: Wir haben es vorhin schon einmal gesagt: "Der Ring des Nibelungen" ist 16 Stunden Musik. Können Sie denn all diese Stücke komplett auswendig? Es wäre also nicht möglich, dass wir sagen: "So, jetzt verlängern wir die Sendung mal, Sie fangen an mit dem Rheingold- Vorspiel und dann bleiben wir 16 Stunden auf Sendung, weil Sie das alles auswendig können!"? Mickisch: Nein, das könnte ich selbstverständlich nicht eins zu eins. Aber ich könnte jetzt auf Anhieb vom "Ring" sechs, sieben Stunden spielen und auch die Überleitungen machen. Das könnte ich schon, d. h. die halbe "Götterdämmerung" und das halbe "Rheingold" müsste ich eigentlich im Kopf haben. Ich glaube, die Hälfte des "Rings" würde ich Ihnen anbieten können. Ich würde dann auch improvisierend überleiten bzw. würde improvisatorische Abschnitte einbauen. Und wenn ich müsste, dann könnte ich mit einer bestimmten Zeitvorgabe alles auswendig lernen. Ich möchte in einigen Jahren auch noch die "Götterdämmerung" eins zu eins fürs Publikum in meiner eigenen Bearbeitung spielen. Spiegel: Das sind also eigene Bearbeitungen, die Sie spielen, das ist nie der reine Klavierauszug? Mickisch: Der Klavierauszug ist eine Grundlage: Das ist so wie ein Skelett, das muss man mit Fleisch und Bändern und Sehnen auskleiden und gestalten, damit das nach was klingt. Denn der Klavierauszug ist höchstens so etwas wie eine Barrenstange: Da muss der Turner schon auch noch selbst etwas dazutun. Spiegel: Was mich so ein bisschen wundert, ist, wie gut Wagners Musik wirkt, wenn Sie sie auf dem Klavier spielen. Denn eigentlich lebt diese Musik ja ganz stark vom Einsatz der Instrumente und z. B. von den Bläserfarben. Haben Sie im Ohr, wenn Sie diese Musik spielen, wie Wagner Instrumente eingesetzt hat? Oder ist das eine Musik, die ganz abgesehen davon einfach gut wirkt? Mickisch: Beides. Denn ein guter Flügel wie z. B. ein Steinway D-Flügel hat so viele Farben, dass er einem Orchester nahezu gleichwertig ist, wenn es der Pianist versteht, diese Farben zu bedienen. Da ich ausgebildeter Pianist bin, weiß ich ja, wie viele Farben man braucht: Bei Claude Debussy braucht man z. B. unglaublich viele Farben. Denken Sie nur einmal an Pianisten wie Michelangeli oder Gulda oder Argerich oder Rachmaninow: Der Klavierklang hat wirklich unendlich viele Möglichkeiten, dynamisch und farblich. Es ist wahnsinnig interessant, diese Farbpalette des Flügels und die orchestrale Farbpalette quasi miteinander zu vergleichen und nebeneinander hinzustellen. Das interessiert mich enorm, weil ich ja als Pianist und Wagner-Liebhaber quasi beides verbinden kann. Das ist ungeheuer interessant. Ich kann mir vorstellen, dass das bei im 19. Jahrhundert oder auch bei Rosenthal und solchen Leuten ähnlich gelaufen ist: dass man das nicht als Ersatz sieht, sondern als Eigenwert. Spiegel: Das heißt, das ist jetzt kein Plädoyer für die Abschaffung von Orchestern, sondern ganz im Gegenteil ein Vorschlag, Musik mal so und mal so zu entdecken. Mickisch: Es ist ja so, dass das Klavier eigentlich keine eigene Klangfarbe hat. Nehmen Sie als Beispiel die Bläser: Das Horn klingt so und die Klarinette klingt ganz anders. Das Klavier hingegen hat einen objektiven Klang: Da schlägt man mit einer Taste eine Saite an. Das heißt, man kann den Klavierklang durch Suggestion und Einbildung färben. Ich kann also auf dem Klavier Hörner spielen, wenn ich das will – oder Klarinetten oder Oboen oder Flöten oder Streicher. Aber das muss ich natürlich alles wissen, weil ich nur dann mein Klavierspiel dementsprechend einfärben kann. Das nimmt der Hörer auch immer unbewusst auf. Spiegel: Wir werden jetzt gleich noch einmal Ihre Einfärbungskunst genießen können. Wir haben nämlich nur noch fünf Minuten Sendezeit und Sie haben noch etwas vorbereitet, etwas aus einem weiteren großen Werk Richard Wagners, um uns noch ein paar Details zu erklären und um uns noch ein bisschen Musik darzubieten. Bevor Sie aber anfangen, verabschiede ich mich schon mal von unseren Zuschauern. Bleiben Sie bitte dran, sonst versäumen Sie ganz viel. Herzlich Dank, Herr Mickisch. Und jetzt lauschen wir. Mickisch: Es gibt am Ende der "Götterdämmerung" – und das finde ich u. a. so genial bei Richard Wagner – die Kombination von mehreren Motiven. Das eine ist der paradiesische Zustand (spielt während seiner Ausführungen zur Veranschaulichung auf dem Flügel). Diesen paradiesischen Zustand besingen die Rheintöchter am Ende dieses großen Werkes, des "Rings". Das ist Pentatonik. Dann gibt es Wotan, der seine Schöpfung letztlich positiv beendet hat. Wagner bestätigt das über seine Musik: Da ist nämlich am Ende wirklich nur noch Musik und es gibt keinen Text mehr darüber. Deswegen ist es beim Schluss der "Götterdämmerung" so wichtig, die Leitmotive und die Klangfarben zu verstehen. Wotans Schöpfung ist also kein Nullsummenspiel und kein negativer Abschluss, obwohl er sicherlich Fehler gemacht hat. Das wird gezeigt, indem dieses Motiv gekoppelt wird mit dem paradiesischen Urzustand und diesem berühmten Liebesmotiv. Das Liebesmotiv wird von den Violinen gespielt – weil Sie, Herr Spiegel, vorhin die Klangfarben angesprochen haben. Und jetzt kommt wieder dieses Wotan-Motiv ins Spiel. Und als wäre das noch nicht genug, setzt Wagner das Gleiche noch einmal einen Ton höher. Das ist alles das Wotan-Motiv. Und jetzt kommt vor dem Schluss noch etwas ganz Wichtiges, nämlich das -Thema, das Thema des Helden Siegfried. Hier wird gezeigt, dass er seine Mission nur halb erfüllen konnte. Warum das so ist, das müssten wir extra besprechen. Wagner lässt hier jedenfalls nur die Hälfte des Siegfried-Motivs erklingen. Und dann setzt die Götterdämmerung ein: Das Motiv der Götterdämmerung geht von oben nach unten. Wenn jetzt Wagner einen negativen Schluss hätte machen wollen, dann hätte er z. B. Folgendes komponiert … Wenn man das hört, dann könnte man wirklich sagen: "Ach was, der Ring endet ja doch negativ." Aber so ist es nicht, denn bei Wagner klingt das eben nicht negativ, sondern positiv aus.

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