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Miriam Drewes

Die Bühne als Ort der Utopie () Vortrag am 21. August 2013 im Rahmen der „Festspiel-Dialoge“ der Salzburger Festspiele 2013

Anlässlich des 200. Geburtstags von schreibt Christine Lemke-Matwey in „Der Zeit“: „Keine deutsche Geistesgröße ist so gründlich auserzählt worden, politisch, ästhetisch, in Büchern und auf der Bühne wie der kleine Sachse mit dem Samtbarrett. Und bei keiner fällt es so schwer, es zu lassen.“1

Allein zum 200. Geburtstag sind an die 3500 gedruckte Seiten Neuinterpretation zu Wagners Werk und Person entstanden. Ihre Bandbreite reicht vom Bericht biographischer Neuentdeckungen, über psychologische Interpretationen bis hin zur Wiederauflage längst überholter Aspekte in Werk und Wirkung. Inzwischen hat die Publizistik eine Stufe erreicht, die sich von Wagner entfernend vor allen Dingen auf die Rezeption von Werk und Schöpfer richtet und dabei mit durchaus ambivalenten Lesarten aufwartet. Begegnet man, wie der Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert konzediert, Person und Werk naiv, begibt man sich alsbald auf vermintes ideologisches Terrain,2 auch wenn die Polemiken von Wagnerianern und Anti-Wagnerianern inzwischen nicht mehr gar so vehement und emphatisch ausfallen wie noch vor 100 oder 50 Jahren. Selbst die akademische Forschung hat hier, Rathert zufolge, nur wenig ausrichten können. Immerhin aber zeigt sie eines: die Beschäftigung mit Wagner ist nicht obsolet, im Gegenteil, die bis ins Ideologische reichende Rezeption führe uns die Ursache einer heute noch ausgesprochenen Produktivität vor Augen – sowohl diskursiv als auch auf die Bühne bezogen. Ich möchte mich in diesem Vortrag weniger auf diese neuesten Ergebnisse oder Pseudoergebnisse konzentrieren, als vielmehr darauf, in wieweit der Gedanke des Utopischen, der Richard Wagners theoretische Konzeption wie seine Opernkompositionen durchdringt, konturiert ist. Als untrennbar damit verbunden erweist sich die Konzeption eines Festspiels.

1 Lemke-Mattwey, Christine: Ekstasen mit viel Rosenwasser, in: Die Zeit online vom 13.12.2012 http://www.zeit.de/2012/41/Richard-Wagner-200-Geburtstag-Literatur, letzter Zugriff am 18.08.2013. 2 Vgl. Rathert, Wolfgang: Wagner heute? Das Werk Wagners fungiert heute als Katalysator für die unterschiedlichsten Weltentwürfe, in: Neue Zeitschrift für Musik, 01/2013, S. 18-23. Was diese Herangehensweise meines Erachtens so interessant macht, ist zudem der ideelle Grundimpetus, der und die Salzburger Festspiele, 1920 durch Max Reinhardt gegründet, miteinander verbindet. Der Aspekt des Utopischen im Fest oder genauer, im Festspiel, ist hier der Anlass, um über den konkreten Utopie-Gedanken bei Wagners Fest hinaus, über dessen Umsetzung für die Bühne zu sprechen. Im folgenden möchte ich Ihnen deshalb weniger einen biographisch-anekdotischen Zugang zum Thema bieten, sondern mich über historische und insbesondere ideengeschichtliche Ansätze dem Gegenstand nähern. Dabei möchte ich meinen Vortrag in folgende drei Teile gliedern: Im ersten Teil soll der Gedanke des Utopischen in Wagners theoretischen Schriften herauspräpiert und auf dessen ideengeschichtlichen diskursiven Kontext bezogen werden.3 Im zweiten Teil möchte ich kurz Entwicklung und Entstehung von Wagners Festspielgedanken erläutern. In einem dritten Teil schließlich, soll auf die Realisierung des Utopischen in ausgewählten Opernkompositionen eingegangen werden und ferner darauf, ob die Idee eines utopischen Kunstideals in zeitgenössischen bzw. gegenwärtigen Inszenierungen noch identifizierbar bzw. überhaupt sinnvoll ist. Zu Punkt eins: Bereits vor Wagners theatertheoretischen Schriften, auf die ich im weiteren Verlauf näher eingehen werde, erlangte die Musik in Verbindung mit einer ausgeprägten Festkultur und im Rahmen eines neu erwachenden Nationalbewusstseins erhebliche Bedeutung. Neben einer politischen Ausrichtung und einem hohen ästhetischen Anspruch verband die Musikfeste des Vormärz ein ambitioniertes Bildungsziel. Ernst Lichtenhahn, der zahlreiche historische Quellen auswertete, fand etliche Kommentare mit ähnlicher Beschwerde: die Musik habe ihre gesellschaftliche Bedeutung eingebüßt, sei inhaltsleer geworden und zur reinen Unterhaltung depraviert.4 Dieser offenbar damals wie heute vertraut klingenden Klage wollten die Initiatoren der Musikfeste im frühen 19. Jahrhundert entgegenwirken. Durch die Präsentation anspruchsvoller Komponisten wie Haydn, Händel oder Beethoven sowie die Förderung junger Talente sollten, zumindest mittelbar, auch politisch gesellschaftliche Ziele gefördert werden. Es ging, so Ernst Lichtenhahn, auch darum, die Kunst an die patriotische Vision einer Nation anzubinden.5

3 Drewes, Miriam: Die Bühne als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld: transcript 2010, S. 177-187. 4 Vgl. Lichtenhahn, Ernst: Das bürgerliche Musikfest des 19. Jahrhunderts, in: Paul Hugger (Hg.): Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Fesstkultur, Unterägeri: W&H Verlag 1987, S. 161-179, S. 163. 5 Vgl. ebd., S. 169f. Allein schon dieser Umstand lässt es wenig sinnvoll erscheinen bei Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks bzw. bei seiner Festspielkonzeption von einer eindeutigen Zäsur zu sprechen. Dagegen spricht auch die sich schon seit längerem formierende Kombination von Ästhetik und Politik in philosophisch-ästhetischen Schriften auf die ich im folgenden ebenfalls näher eingehen möchte. Zunächst aber scheint es sinnvoll, einige zentrale Aspekte von Wagners utopischen, dabei durchaus in sich widersprüchlichen Gedanken vorzustellen. Wichtig zu wissen ist, dass, wie die spezialisierte Wagner-Forschung inzwischen konzediert, die theoretischen Schriften, mit Richard Kleins Worten (Zitat) „keine ideologische Beigabe des künstlerischen dar[stellt], sondern [die] ästhetische, kompositorische und dramaturgische Sphäre in der Substanz mitbestimmt […].“6 (Zitat Ende) Bereits in seiner ersten Schrift „Die Kunst und die Revolution“ aus dem Jahr 1849 wird deutlich, wie sehr diese in die aktuellen politischen Debatten eingebunden ist. Einer Zeit, die bis in die Kleiderordnung und Grußformeln durchdrungen war von einem Bedürfnis nach Anbindung der praktischen Politik an ethische Prinzipien wie Freiheit und Gerechtigkeit, nach nationaler Selbstvergewisserung und einer freiheitlichen Bürgergesellschaft. Es ist bekannt, dass Wagner aufgrund seiner aktiven Beteiligung an den Aufständen zur Unterstützung einer Reichsverfassung 1849 ins Schweizer Exil musste. Doch auch die theoretische Schrift ist ganz von dem revolutionärem Pathos durchdrungen. Religiionskritik, Kunstkritik, Institutionenkritik und auch Kapitalismuskritik sind in der Schrift tonangebende Leitgedanken, wenngleich sich Wagner, keiner dieser programmatischen Aspekte wirklich eindeutig anschließen mag. Wagner bleibt, was Fragen der praktischen Umsetzung angeht, im Diffusen. Seine Schrift gibt keine Anleitung zu einer genauen Staatsverfassung, wie sie etwa bei historischen Utopien eines Thomas Morus mit dem Roman „Utopia“ von 16, oder eines Tommaso Campanella mit „Der Sonnenstaat“ von 1602 anzutreffen ist. Aus künstlerischer Perspektive erstaunt zunächst die Verve, mit der Wagner vor allem auch gegen die Kunst seiner Zeit polemisiert. In seinen Augen hat ausgerechnet die „höchste“ Kunstform, das Theater, einen Tiefpunkt erreicht. Wagner schreibt (Zitat):

6 Klein, Richard: Wagners plurale Moderne, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.): Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart: Klett Cotta 1999, S. 185-225, S. 190. „Unser Theater bietet bloß den bequemen Raum zur lockenden Schaustellung einzelner, kaum oberflächlich verbundener, künstlerischer oder besser kunstartiger Leistungen.“7 (Zitat Ende)

In seinen Augen geht der Verfall der Theaterkultur aber nicht allein auf binnenkünstlerische Entwicklungen zurück, sondern ist Teil einer umfassenden Degeneration der Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Das zum bloßen Schaubetrieb verkommene Theater bedient ein Publikum, das seinerseits innerlich korrumpiert ist. Es stellt, wie Wagner weiter schreibt, (Zitat) „die Blüthe der Fäulniß einer hohlen, seelenlosen naturwidrigen Ordnung der menschlichen Dinge und Verhältnisse dar“.8 (Zitat Ende) Beleg für diese Naturwidrigkeit ist ihm – und das ist ein bis heute bekannter Topos – die Ausrichtung der Kunst am Ökonomischen, ihre Orientierung an, so Wagners Worte, an „Industrie“ und „Gelderwerb“. Wagners Gegenwartskritik, die zugleich Kulturkritik ist, bleibt allerdings nicht in der abstrakten Negation stecken. Er hat eine Idee, um nicht zu sagen, eine utopische Idee, die zur Heilung dieses jämmerlichen Zustands beitragen soll und auch kann. In programmatischem Rückbezug auf das Theater der Antike, insbesondere auf die Tragödien des Aischylos aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, sieht Wagner die Möglichkeit zur Wiedererlangung einer universalen Kunst, die die partikulare Existenz des Menschen in der Moderne aufhebt und ihn über die Kunst zum Teil eines sinnvollen politischen Ganzen werden lässt. Dieser Ansatz ist dabei alles andere als neu. Wagner ist längst nicht der erste, der solche Gedanken formuliert. Um die genaue Verfasstheit des Utopischen bei Wagner nachzuvollziehen, möchte ich daher ein wenig ausholen und auf Texte aus Wagners Vergangenheit zurückgreifen. Knapp 100 Jahre vor Wagner entwarf Jean-Jacques Rousseau eine durchaus seinerseits ambivalente Sozialutopie, unter besonderer Berücksichtigung, um nicht zu sagen, Negation des Theaters. Rousseau arbeitete rastlos an der Konzeption einer praktischen Politik zur Erreichung einer neuen republikanischen Gesellschaft, wie er sie schließlich in „Du contrat social“ (Vom Gesellschaftsvertrag) aus dem Jahr 1762 niedergelegt hat. Bekanntlich hat sich auch Rousseau nicht damit begnügt, ein einzelnes philosophisches Feld zu bestellen. Er

7 Wagner, Richard: Die Kunst und die Revolution [1849], in: RIchard Wager. Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig: Breitkopf et Härtel 1914, S. 8-41, S. 20. 8 Ebd. hat sich, neben Fragen zur praktischen Politik, auch jenen zu Erziehung, zu Wissenschaft und schließlich auch der Kunst, insbesondere dem Theater zugewandt. In seiner Schrift „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“ aus dem Jahr 1758 entwirft Rousseau allerdings nicht, wie der Titel suggerieren könnte, eine Apologie des Theaters sondern eine Utopie des Fests. Rousseaus utopischer Entwurf einer sozial relevanten Festkultur geht von der Voraussetzung aus, der Zivilisationsprozeß habe zu einer von ihren Ursprüngen entfernten verweichlichten Gesellschaft geführt, deren maroder Zustand unter anderem an der überbordenden Inszenierungssucht der Menschen, insbesondere des Adels abzulesen sei. „Zurück zur Natur!“ bedeutet für Rousseau die Abkehr von diesen uneigentlichen, verzärtelten Lebensformen der aristokratischen Gesellschaft. Askese, Reinheit und Härte - das ist das Mantra seiner Vision von der neuen bürgerlichen Ordnung. Erstmals macht er dafür ein geschichtsphilosophisches, ein teleologisches Gesetz geltend, das später auch in jeweils abgeänderter Form Kant, Schiller, Hegel und eben auch Wagner anwenden werden. Rousseau ist der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut sei, seine Tugendhaftigkeit aber im Verlauf der Geschichte verschütt gegangen ist. Zu den Widerständen gegen diesen erneut anzustrebenden Naturzustand zählt Rousseau – neben den Frauen – eben auch das Schauspiel, das für ihn die größtmögliche Entfernung von der Natur, vom eigentlichen Sein darstellt. Schauspiele sind für Rousseau das genaue Gegenteil von Konzentration und Zähmung des einzelnen, die notwendig sind, eine republikanische Gesellschaft zu erlangen. Ihre Wirkung zielt in erster Linie auf Zerstreuung des Publikums. Das macht sie zu natürlichen Feinden des pflichtbewußten Republikaners. Rousseau schreibt: „Beim ersten Blick, den ich auf diese Einrichtungen werfe, sehe ich, daß das Schauspiel ein Zeitvertreib ist, und wenn es wahr ist, daß der Mensch Zeitvertreib braucht, werden Sie wenigstens zugeben, daß er nur so weit als notwendig erlaubt ist und daß aller unnütze Zeitvertreib ein Übel für ein Wesen bedeutet, dessen Leben so kurz und dessen Zeit so kostbar ist.“9 Genauso leidenschaftlich, wie Rousseau die Wirkung des Theaters negiert, so nachdrücklich fällt sein Plädoyer für die Wirkung der Feste aus: „Wie? Soll es in einer Republik denn gar kein öffentliches Schauspiel geben? Im Gegenteil, man braucht sogar viele. In den Republiken wurde das Schauspiel geboren, in ihrem Schoß sieht man es wahrhaft festlich blühen. (...) In frischer Luft und unter

9 Rousseau, Jean-Jacques: Brief an d‘Alembert über das Schauspiel, in: Jean-Jacques Rousseau. Schriften, Bd. 1, hg. v. Henning Ritter, München: Hanser 1978, S. 333-474, S. 348. freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen. Eure Vergnügungen seien weder verweichlicht noch kommerziell, damit nichts, was nach Zwang oder Interesse riecht, sie vergifte, damit sie frei und hochherzig seien wie ihr, damit die Sonne euer unschuldiges Schauspiel beleuchte, ihr seid es selbst, das würdigste Schauspiel, auf das die Sonne scheinen kann.“10 Der Hasspredigt auf die Scheingefechte der Theaterbühne und die eitle Prunk- und Putzsucht der Theaterbesucherinnen stellt Rousseau das Fest gegenüber. Erfahrungshintergrund sind ihm hierfür die Volksfeste der beschaulichen Schweizer Bergdörfer. Sie ermöglichen Rousseau zufolge etwas, das dem Theater nicht gelingt. Sie ermöglichen die Erfahrung absoluter Präsenz und damit absoluter Gemeinschaft. Die Verneinung von Zeitvertreib und Zeitverschwendung ist allein über den Ausstieg aus der Zeit im Fest erreichbar. Doch auch sie sind nicht reiner Selbstzweck, sie sind die Mittel zur Erlangung einer freiheitlichen Bürgergesellschaft. Man kann, mit dem Rousseau-Biographen Jean Starobinski, das Rousseausche Fest als Sinnbild der idealen republikanischen Bürgergesellschaft verstehen – gefeiert unter der Transparenz des freien Himmels ist im Akt der Feier alle Ungleichheit aufgehoben: Ein jeder ist Akteur und Zuschauer gleichermaßen, ein jeder hat ein gleiches Recht unter freiem Himmel, jedem gebührt die gleiche Aufmerksamkeit.11 Zwar reformuliert Rousseau Platons Absage an die Kunst mit ihrer für die Gesellschaft schädigende Wirkung, die der Philosoph in der „Politeia“ vorgebracht hat. Doch zeigt sich deutlich das utopische Moment des Rousseauschen Gesellschaftsentwurfs und zugleich dessen antinomischer Charakter: Die ideale Gemeinschaft realisiert sich nur in der zeitlosen Präsenz der gemeinsamen Feier. Die zutiefst ambivalente Haltung zwischen Fortschrittseuphorie und Fortschrittsskeptizismus ist bereits zu Rousseaus Zeit als Reaktion auf den schwierigen Weg zu einer pluralisierten Gesellschaft zu verstehen, die man erst im 20. Jahrhundert als demokratische bezeichnen kann. Der Werdegang der französischen Revolution, dem Werdegang der Revolutionsfeste, analog, gibt hiervon ein trauriges Zeugnis ab. Der Verfall der Revolutionsfeiern, denen Rousseaus Festidee einst Vorbild war, war sicher nicht im Sinne ihres Theoretikers.

Das geschichtsphilosophische Theorem von einer naturnotwendigen Verbesserung der Gesellschaft greifen schließlich etliche Philosophen und Künstler des deutschen Idealismus auf. Namentlich Friedrich Schiller entwirft in „Über die ästhetische Erziehung

10 Ebd., S. 462. 11 Vgl. Starobinski, Jean: Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l‘obstacle, Paris: Plon 1957, S. 115. des Menschen in einer Reihe von Briefen“ aus dem Jahr 1795 eine ästhetische Utopie,12 die eine Antwort darstellt auf die als degeneriert wahrgenommene Gesellschaft, insbesondere aber auf die negativen Auswirkungen der französischen Revolution. Wie Schiller im 5. Brief schreibt, habe diese Entwicklung die harmonischen Kräfte „entzweyt“13 und zur Depravation des menschlichen Charakters beigetragen. Schiller wendet nun aber Rousseaus antiästhetischen Impetus ins Positive: Nur durch Kunst bzw. das Kunsterlebnis könne, so das Credo in Schillers Schrift, die zerstörte Totalität von Kultur und Natur wie sie in der Antike vorherrschend gewesen sei, wieder hergestellt werden. Allein die Kunst könne zur Veredelung des Charakters beitragen, der, auf der einen Seite roh, auf der anderen schlaff, erst gebildet werden muss, und gleichsam die Basis darstellt für eine „moralische Staatsverbesserung“.14 Noch heute dient Schillers Credo zur Legitimation der Subvention von Theater, wie man wiederholt in Intendantenkommentaren nachlesen kann etwa im „Bündnis für Ther“ mitinitiiert vom ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau aus dem Jahre 2003.15 Bei Schiller wird der Gedanke des Utopischen, um nicht zu sagen, des pädagogisch- Utopischen erstmals eindeutig an das Ästhetische geknüpft. Kunst wird damit funktionalisiert im Sinne einer ethischen Idee, die, wie auch Rousseau, Lessing und Kant, an die Perfektibilität, an die Verbesserung des Menschen glaubt und sie als naturnotwendig erachtet. Die Reformulierungen des Utopischen bis hin zu Wagner basieren allesamt auf einer Gegenwartskritik, auf einer Feststellung eines Ungenügens der Gegenwart. Sie weisen dabei einige Gemeinsamkeiten mit historischen utopischen Entwürfen auf, die Ferdinand Seibt zusammengefasst hat und die ich Ihnen hier kurz zusammenfassen möchte. Die weitaus meisten utopischen Entwürfe basieren auf ähnlichen Grundannahmen. Dazu gehören: 1. die Annahme von der Perfektibilität des Menschen. Sie beruhen, zweitens, auf der vorausgesetzten Übereinstimmung zwischen dem Denkbaren und dem Wirklichen und sie sind, drittens, deshalb auf eine in der Welt befindliche Bedürfnisbefriedigung abgestellt und deshalb nicht jenseitsbezogen, obwohl sie viele religiöse Motive beerben., 16

12 Vgl. Berghahn, Klaus L.: Nachwort. in: Friedrich Schiller. Über die ästhetischer Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 2000, S. 253-286, S. 272. 13 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 18. 14 Ebd., S. 152. 15 Vgl. Kulturstiftung der Länder (Hg.): Bündnis für Theater. Wir brauchen einen neuen Konsens, Berlin: o.V. 2004, S. 63-74. 16 Vgl. Seibt, Ferdinand: Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, München: Orbis 2001, S. 252f. Bei Wagner ergibt sich nun insofern eine Besonderheit, als er zwar, wie seine Vorgänger, ebenfalls gegenwarts- und auch kunstkritisch argumentiert. Im Gegensatz zu ihnen aber eine Konzeption des Utopischen vornimmt, die Fest, Kunst und Sozialutopie verbindet. Hinzu kommt, dass Wagner seine Konzeption im zeitlichen Verlauf modifiziert. Der utopische Gedanke erfährt unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, die zusätzlich noch einmal anders bewertet werden müssen, geht es um deren Realisierbarkeit etwa bei der Festspielkonzeption von Bayreuth oder um die dramaturgisch-musikalischen Konzeption seiner Opern. Im Exil, um die Erfahrung des Scheiterns des persönlichen politischen Einsatzes reicher, entfernt sich Wagner dann zunehmend von konkreten Bezugnahmen zur politischen Theorie und Praxis. Zwar ist auch in der zweiten Schrift „ Das Kunstwerk der Zukunft“ ebenfalls im Jahr 1849 erschienen, die Kritik am gesellschaftlichen Ist-Zustand nicht verklungen, doch der Aufruf zum revolutionären Handeln weicht nun einer abstrakten Utopie, die, wie bei Schiller, ins Ideelle verlagert und weniger in der konkreten Wirklichkeit verortet ist. Einheit des Volkes und Einheit der Kunst sind eins, wie Wagners emphatisches Plädoyer vermittelt: „Gemeinsam aber werden wir auch den Bund der heiligen Nothwendigkeit schließen, und der Bruderkuß, der diesen Bund besiegelt, wird das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft sein. In ihm wird auch unser großer Wohltäter und Erlöser der Vertreter der Nothwendigkeit in Fleisch und Blut, - das Volk, kein Unterschiedenes, Besonderes mehr sein; denn im Kunstwerk werden wir eins sein […].“17 Wie dieser Zustand konkret herbeigeführt werden könnte, bleibt unklar – was zuvor die politische Aktion erreichen sollte, wird nun zu einer Sache des Glaubens an die politische Verwandlungskraft des Ästhetischen. Die Einheit der wahren, freien Kunst, als Einheit der von Wagner als gegenwärtig in Vereinzelung verharrend wahrgenommenen Einzelkünste, nämlich „Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst“, den „drei urgeborenen Schwestern“, erfordert nun einmal die Einheit des Volkes und wird demgemäß auch geschaffen von einer „Genossenschaft der Künstler“.18 Der Weg zur wahren Communio führt, wie schon bei Rousseau, über das Erlebnis unmittelbarer Präsenz – echte Gemeinschaft findet sich im Hier und Jetzt wie Wagner weiter ausführt. Daß es ausgerechnet die über die gemeinsame Teilnahme an der Aufführung vermittelte Erfahrung unmittelbarer Gegenwart ist, die Gemeinschaft stiftet, also ausdrücklich keine diskursive Größe, macht nicht nur deutlich, wie sehr hier die Kunst zum alleinigen

17 Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft [1849], in: Richard Wagner. Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig: Breitkopf et Härtel 1914, S. 42-177, S. 50. 18 Vgl. ebd., S. 67. Hoffnungsträger des Politischen geworden ist. Es zeigt auch die Grenzen einer Theorie auf, die sich dezidiert als politische versteht, dabei aber vorwiegend in ästhetischen Kategorien denkt. Dem Begriff der Freiheit bekommt diese Blickverengung nicht. Wie schon Rousseau, muß auch Wagner schlichtweg davon ausgehen, daß sich einer idealen Gemeinschaft das Problem der Pluralität, des Widerstreitens von Interessen und Meinungen, gar nicht erst stellen wird. Damit aber ist seine ästhetische Theorie politisch nicht länger satisfaktionsfähig. In „Oper und Drama“ wird dieses Dilemma noch deutlicher. Hier sind politische Idealgemeinschaft und Festspielpublikum endgültig eins geworden, in der Aufführung verschmelzen Künstler und Zuschauer, Kunstwerk und Gesellschaft. Wagners Gedankengut, das hinsichtlich einer antisemitischen Musiktheorie noch eine weitere Zuspitzung erfährt – er hat „Das Judentum in der Musik“ 1850 und 1869 publiziert –, enttarnt die Botschaft der Utopie einer absoluten Einheit des Volkes durchaus das ideologische Gesicht einer von Ressentiment geleiteten politischen Theorie: als Gemeinschaft, zu der nur bestimmte Individuen Zutritt haben. Eine ästhetisch-politische Theorie, die jeglichen Dissens durch die vermeintliche Wunderkraft der Kunst aufheben will, denkt, auch wenn man die historische Kontextualität in Rechnung stellt, zuletzt an der Wirklichkeit vorbei. Es ist insofern folgerichtig, daß Wagners Einfluß auf das Musikleben seiner Zeit weitaus nachhaltiger ausfiel als seine Wirkung als politischer Pamphletist. Vor dem Hintergrund dieser durchaus widersprüchlichen Utopie-Konzeption lohnt es sich, eineb Blick auf die konkrete Realisierbarkeit des Festspielgedankens zu werfen. Ich komme nun also zu Punkt zwei meines Vortrags: Richard Wagners theoretische Konzeption des Fests, die in enger Verbindung mit seinem Kunstideal gesehen werden muss, lebt von der Idee, die Theaterkultur der Antike wieder aufleben lassen. Im 6. bis 4. Jahrhundert vor Christus war die Aufführung der Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides eingebunden in eine umfassende Festkultur, die jährlich während der „Großen Dionysien“ stattfand und in die ein jeder Bürger der Polis eingebunden war – allerdings auch hier unter Ausnahme der Sklaven und Frauen. Auch Wagner geht es um ein Fest, das Kunst und Zuschauer zusammen- und die Zuschauer einander näherbringt. Doch theoretischer Anspruch und praktische Umsetzung unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Frage nach der Adäquatheit von Theorie und Praxis, sondern auch hinsichtlich ihres chronologischen Ablaufs. Der Wagner-Spezialist Carl Dahlhaus schreibt hierzu: „Die Festspielidee Richard Wagners ges nicht. Die Gedanken, die er in der Vorgeschichte der Bayreuther Gründung entwickelte – einer Vorgeschichte, die sich parallel zur Entstehung der Ring-Tetralogie über nicht weniger als ein Vierteljahrhundert erstreckte –, sind so verschieden, daß von bloßen Abwandlungen eines im Grunde immer gleichen Prinzips schwerlich die Rede sein kann, es sei denn, man ließe das nüchtern pragmatische Moment, daß Wagner für seine musikalischen Dramen ein eigenes, vom Obernbetrieb getrenntes Theater errichten wollte, als Idee gelten.“19 Wagners Konzeption schwankt, wie Dahlhaus weiter notiert, zwischen „den Extremen“. Bereits im Jahr 1846 reicht Wagner als Königlicher Hofkapellmeister in die Denkschrift „Die Königliche Hofkappelle betreffend“ mit zahlreichen Reformvorschlägen ein. Diese und weitere Schriften bleiben jedoch unbeantwortet. Die Idee zu einem eigenen Festspiel nimmt erstmals 1858 feste Züge an, wie in einem Brief an festgehalten ist. Auch hier ist das Festspiel wieder eindeutig an die Voraussetzung der Revolution gebunden. Das Festspiel selbst weist hier noch, ganz rousseauistisch, provisorische volksfestartige Züge auf: für vier Tage soll ein Zelt am Rhein aufschlagen werden. Ein Jahr zuvor hatte er noch lediglich von einem „dramatischen Musikfest“ gesprochen, zu dem er die Freunde des „musikalischen Dramas“ einladen wollte auf einer „schönen Wiese bei der Stadt“ in einem „roh gezimmerten Theater“, an dessen Ende das Theater eingerissen und die Partitur von „Siegfrieds Tod“ - um den es damals ging - verbrannt werden sollte.20 Ausdrücklich als singuläres Ereignis erachtet Wagner dieses Fest. Ihm sei, wie er schreibt, ejne weitere Folge ebenso gleichgültig wie sie ihm überflüssig erscheine. Wagner bestätigt also die Kraft des Theaters, bzw. der Aufführung, in dem er das Ereignishaft-Transitorische – eine jede Aufführung ist einzigartig und niemals wiederholbar – betont. Voraussetzung dieser Haltung ist – und darin bleibt sich Wagner, trotz aller Veränderungen seiner Konzeption treu –, dass die Aufführung elementarer Bestandteil des Opernwerkes ist. Er versteht die Bühnenrealisierung nicht als bloße, nachgeordnete Interpretation der Oper, wie etliche seiner deutschen Vorläufer. Wagner denkt hier reformerisch: Die Bühne ist Teil der Schöpfung. Diese Wertschätzung des Theaters, die zugleich ein Rekurs auf das griechische Theater darstellt, verbindet ihn im übrigen mit Max Reinhardt, der wiederum als Urheber des heute so oft gescholtenen Regietheaters gilt. Wagner selbst jedoch hat, bezogen auf den Festspielgedanken, die Idee des Singulär- Ereignishaften schließlich preisgegeben. Zwar steht immer noch die Aufführung sowie die

19 Dahlhaus, Carl: Richard Wagners Bühnenfestspiel: Revolutionsfest und Kunstreligion, in: Walter Haug/Richard Warning (Hg.): Das Fest. München: Fink 1989, S. 592-609, S. 592. 20 Zitiert nach: Ebd. Verbindung von Sprache, Musik und Szenischem im Zentrum seiner Konzeption. Doch hat sich die Festspielidee, wie Carl Dahlhaus beschrieben hat, ins Monumentale gesteigert. Grund hierfür mögen auch die faktischen Unwägbarkeiten sein, die die Errichtung eines solchen Ortes über all die Jahre begleitet haben. Als Festspielorte standen zunächst Weimar und Zürich im Visier, ehe Wagner, durch die Unterstützung Königs Ludwigs II. München zum Ort des Festspiels wählte. Nach dem die Umsetzung dort scheiterte, traf Wagner schließlich auf Bayreuth, insbesondere das markgräfliche Opernhaus, das er 1871 erstmals besuchte. Bereits zu diesem Zeitpunkt hat sich Wagner im Zuge der Reichsgründung als Schöpfer einer Nationaloper, nämlich des „Ring des Nibelungen“ inszeniert. Es ist nicht mehr die Rede davon, die Partitur zu verbrennen und das Theater niederzureißen.21 Und auch die öffentliche Feier einer freien Bürgergesellschaft, die sich in ihr selbst bestätigt, ist durch die Institutionalisierung Bayreuths desavouiert, wie nicht nur in den Schriften des ehemals glühenden Wagner-Verehrers , in dessen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ nachzulesen ist.

Es scheint, als würde heute weder Wagners theoretische Konzeption, noch seine Festspielidee dem utopischen Anspruch genügen. Die theoretischen Ausführungen deshalb nicht, weil sie letztlich zu diffus und in sich widersprüchlich ausfallen, um einer Anweisung für eine praktische Politik standzuhalten. Die Institution Bayreuth nicht, weil sie, historisch belastet, Wagners eigenem Anspruch zuwiderläuft und, ferner, den Erhalt des Festspiels auf Staatskosten aufgrund der Ermangelung eines breiteren Konsens‘ wiederholt auf die Probe stellt. So bleiben also die Opernkompositionen und Aufführungen als Drittes übrig, weshalb ich nun auch zum dritten Teil meines Vortrags überleiten möchte. Auch hier möchte ich zunächst auf die theoretischen Hintergründe von Wagners musikdramatischer Konzeption eingehen. Dabei folgen die kompositorischen und szenographischen Problemstellungen und Lösungen durchaus denselben konzeptionellen Grundgedanken. Auch im Bereich der Musik soll die, durch die partikularisierenden Kräfte der Moderne verloren gegangene, ursprüngliche Einheit wiederhergestellt werden. In „Oper und Drama“ von 1851, das als Wagner theoretisches Hauptwerk gilt, entfaltet der Komponist diesen Gedanken. Ich möchte Ihnen einige zentralen Aspekte daraus vorstellen: Während im antiken Drama Musik und Wort noch eng verbunden waren, fallen im modernen Theaterbetrieb durch die Trennung von Musik und Drama, Ausdruck und Inhalt

21 Vgl. ebd. auseinander. Die Oper, eigentlich prädestiniert, die Nachfolge des antiken Dramas anzutreten, sei, so Wagner, zu einer „bloßen Modeerscheinung“ herabgesunken. Harsche Worte findet er für die in seinen Augen zur Hohlheit verkommenen Kompositionen seiner Kollegen Meyerbeer und Rossini. Die Rückkehr zum wahren Drama liegt für Wagner hingegen in der Wiederherstellung des komplexen Wirkungsgeflechts von Wort- und Tonsprache, wozu das Zusammenspiel von „dichterischer-musikalischer Periode“ und „dramatischer Situation“ ebenso gehört, wie die Verbindung von „Versmelodie“ und „Orchestermelodie“, die jede nichtnotwendige, heteronome Herleitung ablehnt.22 Ohne die Dichtkunst sei nämlich die Melodie – Wagner zufolge die „wirkliche Gestalt der Musik“ – nicht in ihr Recht gesetzt. Die geschlechterspezifische Metaphorik von der „weiblichen“ Musik – sie bezeichnet Wagner als Gebärende – und der „männlichen“ Dichtkunst – sie tituliert er als Erzeuger –, die eine Verbindung eingehen müßten, verrät hier nicht nur das vitalistische Moment seiner Konzeption. Die implizite Notwendigkeit, die Wagner seiner idealistischen (und quasi-naturalisierten) Programmatik zukommen läßt, erklärt diese darüber hinaus zu einer von kulturellen Entwicklungen unbeeinflußbaren Naturnotwendigkeit. Analog zu seiner politischen Ästhetik benannte Wagner auch hier, wie Dieter Bremer bemerkt hat, das Verhältnis von Musik und Drama je unterschiedlich: Einesteils bezeichnete er das Verhältnis, wie soeben beschrieben, genetisch, andererseits sprach er aber auch davon, dass die Dramen sichtbar gewordene Taten der Musik seien.23 Eine Affirmation der Präsenz im Fest, die sich auch in einer Apologie einer ästhetischen Augenblickserfahrung ausdrückt, ist auf der manifesten Ebene des musikdramatischen Werkes nur teilweise auszumachen. Das heißt: Auch anhand der verschlungenen, hochgradig intertextuellen Dramaturgie sämtlicher Opern, insbesondere aber des „Ring des Nibelungen“, lässt sich vielmehr der ambivalente Status des ästhetischen Augenblicks exemplifizieren. Dazu gehört, dass Wagner weit in die Vergangenheit zurückreichende Mythen aufruft, miteinander verwebt und somit reformuliert, um den nordischen, bzw. den deutschen Mythos der griechischen Tragödie anzupassen.24 Dem entspricht auf musikalischer Ebene das Geflecht der Leitmotive, die auf rein musikalischer Ebene bestimmten Charakteren oder Situationen zugeordnet, immer wiederholt und dadurch als handlungstragendes Moment identifizierbar werden.

22 Wagner, Richard: Oper und Drama, Stuttgart: Reclam 1984, S. 447. 23 Vgl. Bremer, Dieter: Vom Mythos zum . Wagner, Nietzsche und die griechische Tragödie, in: Borchmeyer, Dieter (Hg.): Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner „“, München: dtv 1987, S. 41-63, S. 45f. 24 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt/M.; Leipzig: Insel 2002. Das Einheitsstreben Wagners, das in seinen theoretischen Texten aufscheint, wiederholt sich somit auch auf produktionstechnischer Ebene. Doch ist dieses Einheitsstreben, wie Dieter Borchmeyer gezeigt hat, defizitär: Etwa im „“, der das Ende der Romantischen Oper bezeichnet und bereits die Entzauberung der Welt zeige, die es „nicht mehr zuläßt, das Mythische unmittelbar aus der historischen Wirklichkeit hervorgehen zu lassen“. Oder im „Ring des Nibelungen“ das „Mythische in einer von der Geschichte abgelösten Kunstwelt zur Erscheinung zu bringen.“25 Selbst die Liebe, die in Wagners Opern stets als das utopische Moment schlechthin aufgerufen wird, bleibt als Erlösungsraum prekär. Ein Realität gewordener Moment der irdischen Erlösung ist immer nur von kurzer Dauer oder ein von Tragik durchzogener: Selbst bei „“ ist die Erlösung der Liebenden nur durch den Tod zu erlangen. Wagners Zugang zu einer utopischen Weltsicht ist also auch in seinem musikdramatischen Werk alles andere als naiv-affirmativ zu bezeichnen, sondern in hohem Maße von einer skeptischen, dialektischen Weltsicht geprägt. Ich möchte an dieser Stelle nun weniger zu einer Exegese der Wagnerschen Opern anheben, als vielmehr auf Aspekte hinweisen, die das Wagnersche Werk mit dem Theater der Gegenwart verbinden. Ebenso wie bei seinen theatertheoretischen Ausführungen hatte Wagner ganz dezidierte Vorstellungen für die szenische Realisation, also für die Bühne. Anders als viele seiner deutschen Kollegen, aber auch anders als viele spätere Theatermacher, war er der festen Überzeugung, die szenische Darstellung, die Aufführung, bilde ein zentrales Element des Gesamtkunstwerks. Die Bühnenversion sollte dem Opernwerk nicht nachgeordnet sein, sondern sie überhaupt erst in ihr Recht setzen. Das bedeutet nicht, dass Wagner einen vollkommen freien bzw. gegenwartsbezogenen Inszenierungsstil proklamierte, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Anfang mit den historischen Avantgardebewegungen genommen hat. Wagner selbst pflegte vielmehr die Vorstellung eines szenischen Historismus, der, einmal festgelegt, jegliche zeitliche Veränderung überdauern sollte.26 Wagners reformerische Absichten gingen dabei immerhin soweit, dass nicht lediglich Sänger die Charaktere seiner Opern repräsentieren sollten, sondern Sängerdarsteller, die gesangliche und darstellerische Qualitäten vereinten. Wagners Einfluss dieser grundlegenden theatralen Neuerungen auf die Theaterreformbewegung der Jahrhundertwende um 1900, auf die historischen Avantgardebewegungen und letztlich auch auf die Neoavantgarde der 1960er Jahre war enorm und kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. , der bis vor

25 Vgl. ebd., S. 304ff. 26 Vgl. Dahlhaus, a.a.O. Kurzem die Bayreuther Festspiele leitete, war sich dessen bewußt: Das Werk Richard Wagners, so Wolfgang Wagner im Jahr 1979, „muß immer wieder von unserer Gegenwart gefordert und gemessen werden, es muss uns unmittelbar betreffen.“27 Nicht zuletzt dieser Hintergrund lässt es meines Erachtens sinnvoll erscheinen, unter besonderer Berücksichtigung des Utopischen über die Verbindung von zeitgenössischer Regiekunst mit Wagners Opern zu sprechen. Denn auch bei Wagners Opern lässt sich der Weg vom zum sogenannten postdramatischen Theater nachzeichnen, wenngleich diese Entwicklung in der Oper weitaus schwächer ausfällt als im Sprechtheater. Ursache hierfür ist der viel stärker durch die Musik festgelegte Rahmen, der Streichungen, Kürzungen und Umstellungen am Text weniger zulässt, als das im Sprechtheater möglich ist. Doch auch hier gilt: spätestens seit den 1970er Jahren ist die Auffassung von Regie als Autorschaft fester Bestandteil deutschsprachiger Bühnentradition. Zu den sogenannten „Meilensteinen“ der Wagnerschen Regiekunst zählen unter anderen Patrice Chéreaus sogenannter „“ anlässlich des 100jährigen Jubiläums von Bayreuths Eröffnung im Jahr 1976, Otto Schenks Ring aus dem Jahr 1986, Robert Lepages „Ring“ von 2010 und Christoph Schlingensiefs Produktion „“ aus dem Jahr 2004. Ich möchte abschließend zwei Beispiele herausgreifen und diese unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach dem Utopischen im Gegenwartstheater erläutern. Patrice Chéreaus Bayreuther „Ring“-Inszenierung von 1976 geriet zum Skandal: Tumultartige Reaktionen beim Publikum, Verrisse in den Feuilletons, sogar Morddrohungen begleiteten diese aus heutiger Sicht eher moderat scheinende Interpretation von Wagners Tetralogie. Wenige Jahre später wich die Entrüstung einer nahezu einmütigen Huldigung, die sich in stehenden Ovationen von bis zu 80 Minuten und in über 100 Vorhängen kundtat.28 Was Chéreaus „Ring“ künstlerisch so interessant macht, ist aber gerade nicht dessen vermeintlich provokante Lesart. Bedeutsam ist vielmehr die Fortsetzung des Wagnerschen Impetus‘ mit Mitteln des Gegenwartstheaters. Chéreau macht sich eine werkimmanente Struktur zueigen und verwandelt sie bewußt zu einer ästhetischen Strategie. Diese werkimmanente Struktur liegt darin begründet, dass Wagner sich, wie bereits oben erwähnt, vieler mythischer Schichten und Stoffe bediente, sie zu einem neuen Gesamtwerk verwob, ohne aber die Herkunft der Quellentexte kenntlich zu machen. In

27 Wagner, Wolfgang: Bayreuth als ständige Auseinanderstzung. Auszüge aus dem Tonbandmitschnitt eines frei gehaltenen Vortrags in Tokio, 1979. 28 Vgl. Weinberg, Peter: Der „Ring des Nibelungen“. The Making-of, Deutschland, Unitel: 1983, DVD. germanistischer Terminologie bezeichnet man so einen Text als Hypertext: Wagner ist also gerade nicht alleiniger Urheber eines literarischen Werkes, sondern dessen Neuschöpfer. Wie der Musikwissenschaftler David Levin auf eindrucksvolle Weise analysiert hat, radikalisiert Wagner sogar diesen Ansatz der Neuerzählung des Mythos‘, indem er das Wissen um dieses Weiter- bzw. Wiedererzählen seinen Figuren mitgibt. So charakterisiert er beispielsweise nicht allein als naiv-stürmischen Naturburschen, der durch einen Zufall der Natur zu Tode kommt – im „Nibelungenlied“ fällt ihm im Bade des Drachenbluts ein Lindenblatt auf eine Stelle des Rückens, an der er fortan verwundbar sein wird. Im Gegensatz dazu wird Siegfried bei Wagner zum Erzähler seiner eigenen Biographie. Das Lindenblatt fehlt bei Wagner. Vielmehr spricht Siegfried sich um Kopf und Kragen, so dass ihn am Ende des Meineids bezichtigen und schließlich zur Ehrenrettung ermorden kann.29 Wagner formuliert hier also nicht nur die Hinfälligkeit des Menschen durch die negativen Einflüsse des Zivilisationsprozesses. Und er gibt den Figuren nicht allein inhaltlich das Wissen um diese Entwicklung mit. Wagner geht noch viel weiter: er transformiert dieses Wissen zu einer dramaturgischen, also ästhetischen Kategorie. Dieses Wissen ist nun auch Kennzeichen von Chéreaus „Ring“. Allerdings hat sich der Status der Selbstreflexivität um der Wissensradius um Bayreuth und die Entstehungszeit des „Rings“ erweitert. Dies zeigt sich bereits am zeitlichen Bogen den Chéreau spannt, indem er den Beginn seiner Inszenierung von „“ mit dem Beginn der Zeit zusammenfallen lässt, in der Wagner anfing, den Ring zu schreiben. Und er endet in der „Götterdämmerung“ damit, als Wagners Sohn Siegfried das Festspielhaus übernahm. Chéreaus „Ring“ spannt also den Bogen von den 1840er bis zu den 1920er Jahren. Diese Konzeption ist damit nicht bloße Kulisse. Sie schreibt vielmehr Wagners Strategie konsequent weiter und reflektiert zusätzlich über das Wissen des Wagnerschen Weiterschreibens, des Neuerzählens des Mythos’. Dazu gehört auch Chéreaus konsequente Verortung der Nibelungensage in das Zeitalter der industriellen Revolution mit all ihren negativen Begleiterscheinungen wie Ausbeutung, Prostitution und das Versagen der (Halb-Götter, die Chéreau bereits 1976 mit einem Versagen der Firmenleitung, heute würde man Management sagen, gleichsetzt. Chéreau kontrastiert also seine Ästhetik mit einer diskursiven Strategie, die, über die dramaturgische Dimension hinaus philosophische Ansätze ästhetisch erfahrbar macht. Die Rede ist hier von Roland Barthes Schrift „ Der Tod des Autors“ aus dem Jahr 1967 deren

29 Vgl. Levin, David: Richard Wagner – Fritz Lang. The Nibelungen, Princeton: Princeton University Press 1997, S. 18-29. Prämisse darin besteht, dass jeder Schreibende bereits ein Geschriebener sei. Jeder Text basiert auf anderen Texten und ein jeder Text produziert Widersprüche, die vom Urheber weder beabsichtigt waren, noch kontrolliert werden können. Chéreaus inszenatorischer Ansatz ist daher durchaus als postmodern zu bezeichnen. Der Regisseur erliegt aber nicht einer Ideologie des „anything goes“, die man in den 1970ern bis 1980ern ebenfalls als postmodern bezeichnete. Das Attribut „postmodern“ wird hier aufgefaßt als zutiefst utopiekritische Haltung, die jeder einmütigen Utopie misstraut, das Wissen um die Effekte des utopischen Denkens des 19. Jahrhunderts aufdeckt, in diesem Wissen aber die neue Möglichkeit einer Utopie der „ästhetischen Erfahrung“ verortet. Dieser Ansatz einer selbstreferentiellen oder auch selbstreflexiven Autorschaft wird bei weiterentwickelt, aber um eine performative Dimension, um eine zeitgenössische theaterwissenschaftlicher Terminologie aufzugreifen, erweitert. Bereits im Vorfeld der Premiere des „Parsifal“ – die im übrigen ebenso wie Chéreaus „Jahrhundertring“ von dirigiert wurde – betrieb Christoph Schlingensief eine exzessive Ausweitung dieses Autorenselbstverständnisses: In zahlreichen Interviews verwies Schlingensief wiederholt auf die Analogien von Wagner und seiner Person und wie zur Selbstlegitimation – Schlingensief hatte bis dahin noch nie eine Oper inszeniert – wiederholte er unermüdlich seine langjährige Beschäftigung mit Wagners Werk. „Parsifal“, Wagners letztes Musikdrama, das er ein Jahr vor seinem Tod 1882 selbst für die Bühne inszenierte, nannte Wagner nicht umsonst ein „Bühnenweihfestspiel“. Der quasireligiöse Charakter wird also bereits im Untertitel zu „Parsifal“ ersichtlich. Wie um den utopischen Gedanken noch zu steigern, verspricht er, die Erlösung durch die ästhetischen Utopie nun endgültig ins Reich der Transzendenz zu verlagern. Auch beim „Parsifal“ bediente sich Wagner unterschiedlicher historischer Mythenkomplexe, die bis zu dem Franzosen Chrétien des Troyes zurückreichen, hauptsächlich aber von Wolfram von Eschenbachs „“ übernommen sind. Die Umdeutungen durch Wagner sind eminent und, wie auch schon beim „Ring“, dem zivilisatorischen Modernisierungsprozess geschuldet. Auffällig ist Wagners Montage unterschiedlichster christlicher, mittelalterlicher, kultischer Motive und Symboliken, die eine rein christliche Interpretation des „Parsifal“ als Erlöser auf den ersten Blick nahelegen mögen, letztlich aber bereits im Ansatz verweigern. Diese Gemengelage an Motiven, Bildern und Symboliken, dient Schlingensief als Archiv, um sie für seine eigenen Interpretation fruchtbar zu machen. Mehr als Chéreaus Ansatz ist Schlingensiefs Inszenierung aber nicht bloß als dem Regietheater zugehörig, sondern als postdramatisch zu bezeichnen. Das postdramatische Theater weist die Hierarchie von Text und Theater zurück. Es erachtet sämtliche szenischen Elemente als gleichberechtigt. Licht, Kostüm, Bühnenbild, bzw. Raumgestaltung, Musik, Film und schließlich die Darsteller haben den gleichen Stellenwert.30 Das Präfix „post“ vermittelt hier einen Status des Theaters nach dem Text, der ihn mit der Epochenbezeichnung Postmoderne verbindet. In der Tat ist die Subjektkritik, die die Theoreme der Postmoderne auszeichnen auch im Theater anzutreffen. Die Vorstellung vom Subjekt als intentional handelndem Individum wird ersetzt durch den Gedanken des von kulturellen Einflüssen geprägten Subjekt. Auch auf der Bühne ist das Subjekt nicht mehr als intentional handelnde Figur identifizierbar. Rollenfigur und Darsteller fallen auseinander. Christoph Schlingensiefs postdramatischer Ansatz nun fokussiert weder Streichungen am Text, noch Veränderungen der Musik. Vielmehr orientiert er sich seinerseits an einer inzwischen durchaus als etabliert zu bezeichnenden Bühnenkonvention, wie sie durch Regisseure wie Christoph Marthaler und Frank Castorf und durch Autoren wie Elfriede Jelinke, Heiner Müller und Rainald Goetz geprägt wurde. Schlingensief wendet diesen subjektkritischen Ansatz auf „Parsifal“ an, indem er sämtliche Bühnenfiguren zum einen nicht als Repräsentanten ihrer Rolle ausgibt, zum anderen aber aufsplittet, sie mit Doppelgängern versieht, sie multipliziert. Kundry etwa erhält soviele unterschiedliche Kostümierungen, dass sie nicht mehr als in sich stimmiger Charakter zu identifizieren ist, geschweige denn die Motivationen ihrer Handlungen. Im zweiten Aufzug wiederum gibt „Parsifal“ dem Werben der Blumenmädchen nicht nach, sein Double aber lässt sich sehr wohl von ihrem Werben einfangen.31 Diese Aufspaltung der Subjekte ist aber auch hier mehr als nur ein ästhetizistischer Regieeinfall. Es geht nicht mehr darum zu sagen, dass die Figuren, ihre Urheber und Rezipienten Wissende über den Ablauf des Zivilisationsprozesses sind. Es geht darum zu zeigen, dass dieses Wissen ursprungslos, transkulturell und zirkulär zugleich ist. Schlingensief artikuliert oder auch kompensiert diese Interpretation, indem er die Multiplikation der Figuren mit einer ausdrucksstarken Bildsprache kontrastiert. Bilder wie ein aufgemaltes Herz oder ein gezeichnetes Gehirn auf einem Prospekt weisen einen ikonischen Charakter auf, bleiben aber aufgrund ihres ausgeprägten Symbolcharakters rein selbstbezogen. Schlingensief weiß um die Grenzen der Interpretierbarkeit, die zugleich eine Stärkung der performativen Dimension bedeuten. Die „ästhetische Erfahrung“ des Hier und Jetzt, die Erfahrung der Körperlichkeit der Darsteller, die Erfahrung der Materialität ihrer Stimmen, die Erfahrung der Selbstbezüglichkeit des

30 Vgl. Drewes, Miriam: Ein Theater jenseits des Dramas: Das postdramatische Theater, in: Handbuch Drama, hg. v. Peter Marx, Stuttgart: Metzler 2012, S. 74-82. 31 Vgl. Lodemann, Caroline A.: Regie als Autorschaft. Eine diskurskritische Studie zu Schlingensiefs „Parsifal“, Göttingen: V&R unipress 2010, S. 158. Bilderarsenals weist auf nichts anderes als auf die Erfahrung theatraler Präsenz im Hier und Jetzt. Man kann darin eine buddhistische Interpretation des Wagnerschen „Parsifal“ sehen, wie die Autoren Edward und Paula Bortnichak. Sie versuchen nachzuweisen, dass bereits Richard Wagner, der buddhistische Schriften gekannt hat, den „Parsifal“ mit einem buddhistischen Subtext unterlegte. Schlingensiefs Interpretation sei jedoch eindeutig als Weg des Retters durch die sieben Chakren ins Reich der Erlösung konzipiert.32 Man könnte auch biographisch argumentieren und Schlingensiefs Inszenierung, wie er es retrospektiv selbst getan hat, als eine Art eigenen Bühnenabschied auslegen. Bezogen auf den Aspekt des Utopischen scheint jedoch ein anderer Zugang naheliegender: Schlingensiefs „Parsifal“ verweigert bereits im Ansatz und absichtlich jede eindimensionale Interpretierbarkeit. Er ist in der Postpostmoderne angekommen. Utopiekritik ist nicht mehr das Thema, wie es Chéreau in den 1970er Jahren noch beschäftigte. Die eine Utopie ist den vielen Zukünften, auf englisch würde man „Multiple Futures“ sagen, gewichen. Ebenso wie es retrospektiv unterschiedlichste heterogene Quellen, Archivmaterialien und damit Interpretationen gibt, so gibt es auch in der Gegenwart unterschiedlichste, sich widersprechende Weltzugänge. Das mag in manchen Ohren nach pragmatischer Utopieferne klingen, ist möglicherweise in Wahrheit aber eine zukunftsweisende Akzeptanz der Komplexitätssteigerung unserer Gegenwart.

32 Bortnichak, Edward und Paula: Lecture: Schlingensiefs „Parsifal“. Lecture WagnerWorldWide, in: http://www.youtube.com/watch?v=OFhKiK0t_6M, letzter Zugriff am 15.08.2013.