Literatur-Extra 14/19
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Autoren «Ich hungerte nach Liebe» Helen Meier, die Grande Dame der Schweizer Literatur, wird neunzig. Im Gespräch erzählt sie von ihrem Kampf um Freiheit, ihren Liebschaften zu Frauen und ihrer späten Entdeckung durch Marcel Reich-Ranicki. Von Rico Bandle ass wir uns ausgerechnet im Gasthaus Nein. Ich weiss aber noch, wie während des nicht, nur der Bruder durfte ans Gymnasium. Dtreffen, wo der Film «Die göttliche Ord- Kriegs die Soldaten uns Mädchen am Abend Sie haderte nicht nur mit ihrem Umfeld, son- nung» über den Kampf ums Frauenstimm- jeweils nach Hause schickten. Sie fürchteten dern auch mit sich selbst. In einem Tagebuch- recht gedreht wurde, ist reiner Zufall. Einen wohl, dass wir mit Flüchtlingen anbandeln eintrag schrieb sie: «Ich war natürlich mager- passenderen Ort für ein Gespräch mit Helen würden . süchtig. Nur, dazumal kannte man dieses Meier könnte es aber kaum geben. Ihre Mutter arbeitete in den Kriegsjahren Wort – geschweige denn das Krankheitsbild – Helen Meier gehört zu den herausragen- im örtlichen Rationierungsbüro. Wie muss noch nicht. Ich hatte Angst, Frau zu werden. den Schweizer Autorinnen. Jahrzehntelang man sich diese Arbeit vorstellen? Reinheit und Intellektualität war mein Ideal. schrieb sie ausschliesslich für sich, bis Gross- Sie bereitete die Umschläge vor mit den Im Schatten lag mein Heisshunger nach Liebe kritiker Marcel Reich-Ranicki sie als 55-Jäh- Rationierungsmarken für jede Familie. Je und Sexualität.» Ihre Krise akzentuierte sich, rige persönlich an den Wettstreit um den nach Familiengrösse enthielt der Umschlag als sie kurz nach Eintritt in das Lehrerseminar Ingeborg-Bachmann-Preis einlud – und sie eine unterschiedliche Anzahl Marken, bei einem Unfall ihre Schneidezähne verlor. gleich einen Preis gewann. Ein später Durch- die zum Einkauf von Lebensmitteln be- Sie glaubte, ihr Gesicht und damit ihr Leben bruch für eine Frau, die ein Leben lang um seien für immer zerstört. Freiheit und Anerkennung kämpfte. Helen Meier erscheint mit dem Rollator Literatur-Extra Wenn man von Ihrer Not in der Pubertät im «Gasthaus zum Hirschen» in Trogen, liest, so muss man sagen: Es sind exakt die- 50 Helen Meier Gespräch mit begleitet vom Zürcher Publizisten Charles selben Probleme, die die jungen Frauen der der grossen Schweizer Autorin Linsmayer, der ihre letzten Bücher heraus- heutigen Selfie-Generation haben: Es geht gebracht hat und sich auch privat um die be- 52 Tana French Psychothriller um Schönheit, Selbstoptimierung – ständig tagte Autorin kümmert. Die Begrüssung ist «Der dunkle Garten» von der Angst getrieben, was andere über herzlich, Meier freut sich über das Mittag- 53 Jakob Christoph Heer sie denken könnten. essen mit dem Gast aus Zürich. Sie sei eine «An heiligen Wassern» Die Angst, nicht zu gefallen und keinen begeisterte Weltwoche-Abonnentin, sagt sie. 54 Eveline Hasler Millionärstochter Mann zu finden, ist in einem Mädchen ganz «Ich lese jede Ausgabe.» Zum Essen bestellt und Vorzeigekommunistin tief drin. Das liegt in der Natur des Frau- sie Geschnetzeltes mit Butterrösti, isst den 56 Thomas Mullen seins, das wird sich wohl auch nie ändern. ganzen Teller leer und bestellt als Einzige Mädchen auf der Müllhalde Für mich war es ganz schlimm. Im Lehrer- am Tisch noch ein Dessert. seminar waren wir nur vier Mädchen. Wegen 57 Vea Kaiser Helen Meiers Gesundheitszustand hat des Unfalls fühlte ich mich nicht wie die an- Was ist ihr Erfolgsgeheimnis sich in den letzten Wochen etwas verschlech- deren und zog mich zurück. tert. Die Autorin hat ab und zu Mühe, das 58 Charles Lewinsky Ihre ersten erotischen Erfahrungen mach- Gesagte zu verstehen, manchmal hat sie Ge- Lust am Lügen ten Sie mit einem Mädchen. Damals muss dächtnislücken, aber es entwickelt sich doch 58 Cary Steinmann Der Stratege das ein enormer Tabubruch gewesen sein. je länger, je mehr ein angeregtes Gespräch vermisst den Mut in der Werbung Ich hungerte nach Liebe. Es war ein Akt der über neun Jahrzehnte als Frau in der 59 Max Wey Die Schreibe Verzweiflung. Sie war einiges älter als ich, Schweiz: von der Kindheit im Krieg über den hatte schon einige Erfahrung, was mir sehr Kampf um Selbstbestimmung bis hin zu gelegen kam. ihrem Erfolg als Autorin. rechtigten. Sie war sehr exakt, es gab nie Sie sagen: «ein Akt der Verzweiflung». Weil Diskussionen. die Buben im Lehrerseminar Sie nicht be- Sie sind in Mels aufgewachsen, nahe der Auf den alten Fotos sieht man Sie als Mäd- achteten? Grenze zu Österreich. Als der Zweite Welt- chen mit Brille. Nein, ich fühlte mich zu Frauen hingezo- krieg begann, waren Sie elf Jahre alt. Was Ich war oft einsam, wie später im Leben gen. Ich hatte ja später auch immer wieder sind Ihre Erinnerungen? auch. In der Schule war es damals so, dass die Beziehungen mit Frauen. Und die Buben Wir sahen die Rauchschwaden vom Fes- besten Schüler hinten sassen, die schlechtes- waren ja damals gehemmter als wir. tungsbau Gonzen, dort wurde gesprengt. ten vorne. Ich war immer eine sehr gute Unser Zuhause lag ausserhalb der Vertei- Schülerin, sass also zuhinterst, konnte aber Im Buch «Übung im Torkeln entlang des digungslinie. Wären die Deutschen ge- wegen meiner schlechten Augen nicht mehr Falls» spricht Charles Linsmayer die Autorin kommen, so hätten wir fliehen müssen. erkennen, was die Lehrerin an die Tafel auf ihre Beziehungen mit Frauen an. Sie ant- Mein Vater hatte alles dafür vorbereitet, schrieb. Also sorgte mein Vater dafür, dass wortet: «Ja, wahrscheinlich bin ich bisexuell. die Kisten standen bereit. die hinterste Reihe nach vorne durfte . Ich habe es mit einer Frau als wunderbar emp- 1938 kam die grosse Flüchtlingswelle, die funden. [. .] Sie [die Geliebten] mussten eben- Grenzstation Diepoldsau, wo der bekann- Die Pubertät war für Helen Meier eine Kata- so frei sein wie ich und gegenüber den sexuel- te Fluchthelfer Paul Grüninger wirkte, strophe, wie aus mehreren ihrer Texte hervor- len Möglichkeiten, die Frauen haben, auf- war nicht weit entfernt. Haben Sie von geht. Sie hätte gerne die Matura gemacht, um geschlossen.» Der Drang nach Freiheit, nach den Flüchtlingen etwas mitgekriegt? später studieren zu können, das ging aber einem selbstbestimmten Leben, war bei ihr 50 Weltwoche Nr. 14.19 immer stärker als jener nach Geborgenheit in der Familie. Heute sind gleichgeschlechtliche Bezie- hungen völlig normal. Wie war das damals? Hatten Sie Vorbilder? Zum Beispiel Anne- marie Schwarzenbach? Ich weiss nicht mehr. Bestimmt habe ich Bücher gelesen, bei denen zwei Frauen eine Liebschaft eingingen. Aber ich kann es nicht mehr sagen. Später hatten Sie 24 Jahre lang eine Bezie- hung zu einem verheirateten Mann. War das für Sie die Idealform einer Beziehung: geliebt werden und doch frei sein? Ja, das kann man so sagen. Ich hatte ja einige Liebschaften mit bedeutend jüngeren Frauen und Männern. Das war immer sehr intensiv. Neid und Eifersucht führte oft bald wieder zur Trennung. Das war jedes Mal «Die Angst, nicht zu gefallen und keinen Mann zu finden, ist in einem Mädchen ganz tief drin.» schmerzhaft. Mit diesem Mann war es etwas Langfristiges. Meine Vorstellungen von Lie- be wurden erfüllt. Viele Ihrer Geschichten handeln von der Einsamkeit. Ist die Einsamkeit der Preis für die Freiheit? Ich denke schon. Aber ich habe das nicht bewusst gesucht. Es hat sich so ergeben. Helen Meier leidet jetzt, im hohen Alter, mehr denn je unter der Einsamkeit. Charles Lins- mayer, der vor einigen Jahren ihr Lesebuch «Übung im Torkeln entlang des Falls» heraus- gegeben hat, inklusive einer umfangreichen Helen-Meier-Biografie, reist einmal pro Wo- che von Zürich nach Trogen, um sie zu besu- chen. Jetzt, im Gespräch, blüht sie auf. Als Linsmayer ein Foto von ihr macht und sie das Bild auf dem Mobiltelefon anschaut, sagt sie euphorisiert: «Ich bin ja gar nicht gealtert, ich habe immer schon so ausgesehen!» «Es waren immer Männer, die mich gefördert haben»: Autorin Meier. Mit 22 Jahren haben Sie Ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten. Ihre Klasse hatte vier- Meiers Märchen zig Schüler, heute undenkbar. Es ist erstaunlich, aber das klappte gut. Die Zum 90. Geburtstag von Helen Meier am samkeit, Liebe und Verlust. Immer mal Kinder waren damals besser erzogen als 17. April erscheint unter dem Titel «Der wieder stösst man dabei auf Sätze, die sich heute. Was auch anders war: Wenn es Pro- weisse Vogel, der Hut und die Prinzessin» einprägen. Wie etwa: «Jemand Toten zu er- bleme gab, erfuhren die Eltern in der Regel eine Sammlung von 23 bisher unveröffent- morden, ist wirklich nicht nötig, glauben nichts davon, das war eine Angelegenheit lichten Märchen, die die Autorin als junge Sie mir.» (rb) zwischen Schüler und Schule. Lehrerin Ende der 1950er Jahre geschrie- Zu jener Zeit wurden an gewissen Schulen ben hat. Die Geschichten sind voller fantas- Helen Meier: Der weisse Vogel, die Kinder noch geschlagen. tischer Wesen, Hexen und Kobolde, sogar der Hut und die Prinzessin. Das habe ich nie erlebt, weder als Schülerin ein lebender Hut kommt vor. Dennoch Mit Illustrationen von Verena noch als Lehrerin. Monkewitz, herausgegeben von sind es keine Kindergeschichten, sondern Charles Linsmayer. Xanthippe. Als starke, freiheitsliebende Frau hatten Sie mehrheitlich abgründige Fabeln über Ein- 183 S., Fr. 29.80 es nicht einfach: Weil Sie eine Frau waren, konnten Sie nicht ans Gymnasium, Frauen Weltwoche Nr. 14.19 51 Bild: Benjamin Manser (St. Galler Tagblatt) hatten bis 1971 kein Stimm- und Wahl- recht. Haben Sie das als Ungerechtigkeit wahrgenommen? Ich habe darunter gelitten. Ungerecht fand ich es aber nicht. Ich dachte, es sei ein- fach so, normal. Natürlich war ich dann eine vehemente Befürworterin des Frau- enstimmrechts. In der Frauenbewegung waren Sie nicht? Nein. Ich muss auch sagen: Es waren immer Männer, die mich gefördert haben. Peter Lindegger vom Tibet-Institut in Rikon, wo ich gearbeitet habe [Ende der 1960er Jahre, Anm. d. Red.], war von mei- nen Texten begeistert und fand, man müsse die unbedingt publizieren. Egon Ammann hat mich dann in seinem Verlag aufgenommen, Marcel Reich-Ranicki hat mich persönlich auf Anraten Ammanns zum Ingeborg-Bachmann-Preis einge- laden.