Autoren «Ich hungerte nach Liebe» Helen Meier, die Grande Dame der Schweizer Literatur, wird neunzig. Im Gespräch erzählt sie von ihrem Kampf um Freiheit, ihren Liebschaften zu Frauen und ihrer späten Entdeckung durch Marcel Reich-Ranicki. Von Rico Bandle

ass wir uns ausgerechnet im Gasthaus Nein. Ich weiss aber noch, wie während des nicht, nur der Bruder durfte ans Gymnasium. Dtreffen, wo der Film «Die göttliche Ord- Kriegs die Soldaten uns Mädchen am Abend Sie haderte nicht nur mit ihrem Umfeld, son- nung» über den Kampf ums Frauenstimm- jeweils nach Hause schickten. Sie fürchteten dern auch mit sich selbst. In einem Tagebuch- recht gedreht wurde, ist reiner Zufall. Einen wohl, dass wir mit Flüchtlingen anbandeln eintrag schrieb sie: «Ich war natürlich mager- passenderen Ort für ein Gespräch mit Helen würden . . . süchtig. Nur, dazumal kannte man dieses Meier könnte es aber kaum geben. Ihre Mutter arbeitete in den Kriegsjahren Wort – geschweige denn das Krankheitsbild – Helen Meier gehört zu den herausragen- im örtlichen Rationierungsbüro. Wie muss noch nicht. Ich hatte Angst, Frau zu werden. den Schweizer Autorinnen. Jahrzehntelang man sich diese Arbeit vorstellen? Reinheit und Intellektualität war mein Ideal. schrieb sie ausschliesslich für sich, bis Gross- Sie bereitete die Umschläge vor mit den Im Schatten lag mein Heisshunger nach Liebe kritiker Marcel Reich-Ranicki sie als 55-Jäh- ­Rationierungsmarken für jede Familie. Je und Sexualität.» Ihre Krise akzentuierte sich, rige persönlich an den Wettstreit um den nach Familiengrösse enthielt der Umschlag als sie kurz nach Eintritt in das Lehrerseminar ­Ingeborg-Bachmann-Preis einlud – und sie eine unterschiedliche Anzahl Marken, bei einem Unfall ihre Schneidezähne verlor. gleich einen Preis gewann. Ein später Durch- die zum Einkauf von Lebensmitteln be- Sie glaubte, ihr Gesicht und damit ihr Leben bruch für eine Frau, die ein Leben lang um seien für immer zerstört. Freiheit und Anerkennung kämpfte. Helen Meier erscheint mit dem Rollator Literatur-Extra Wenn man von Ihrer Not in der Pubertät im «Gasthaus zum Hirschen» in Trogen, liest, so muss man sagen: Es sind exakt die- 50 Helen Meier Gespräch mit ­begleitet vom Zürcher Publizisten Charles selben Probleme, die die jungen Frauen der der grossen Schweizer Autorin Linsmayer, der ihre letzten Bücher heraus­ heutigen Selfie-Generation haben: Es geht gebracht hat und sich auch privat um die be- 52 Tana French Psychothriller um Schönheit, Selbstoptimierung – ständig tagte Autorin kümmert. Die Begrüssung ist «Der dunkle Garten» von der Angst getrieben, was andere über herzlich, Meier freut sich über das Mittag­ 53 ­Jakob Christoph Heer sie denken könnten. essen mit dem Gast aus Zürich. Sie sei eine «An heiligen Wassern» Die Angst, nicht zu gefallen und keinen begeisterte Weltwoche-Abonnentin, sagt sie. 54 Eveline Hasler Millionärstochter Mann zu finden, ist in einem Mädchen ganz «Ich lese jede Ausgabe.» Zum Essen bestellt und Vorzeigekommunistin tief drin. Das liegt in der Natur des Frau­ sie Geschnetzeltes mit Butterrösti, isst den 56 Thomas Mullen seins, das wird sich wohl auch nie ändern. ganzen Teller leer und bestellt als Einzige Mädchen auf der Müllhalde Für mich war es ganz schlimm. Im Lehrer­ am Tisch noch ein Dessert. seminar waren wir nur vier Mädchen. ­Wegen 57 Vea Kaiser Helen Meiers Gesundheitszustand hat des Unfalls fühlte ich mich nicht wie die an- Was ist ihr ­Erfolgsgeheimnis sich in den letzten Wochen etwas verschlech- deren und zog mich zurück. tert. Die Autorin hat ab und zu Mühe, das 58 Charles Lewinsky Ihre ersten erotischen Erfahrungen mach- Gesagte zu verstehen, manchmal hat sie Ge- Lust am Lügen ten Sie mit einem Mädchen. Damals muss dächtnislücken, aber es entwickelt sich doch 58 Cary Steinmann Der Stratege das ein enormer Tabubruch gewesen sein. je länger, je mehr ein angeregtes Gespräch vermisst den Mut in der Werbung Ich hungerte nach Liebe. Es war ein Akt der über neun Jahrzehnte als Frau in der 59 Max Wey Die Schreibe Verzweiflung. Sie war einiges älter als ich, Schweiz: von der Kindheit im Krieg über den hatte schon einige Erfahrung, was mir sehr Kampf um Selbstbestimmung bis hin zu gelegen kam. ­ihrem Erfolg als Autorin. rechtigten. Sie war sehr exakt, es gab nie Sie sagen: «ein Akt der Verzweiflung». Weil Diskussionen. die Buben im Lehrerseminar Sie nicht be- Sie sind in Mels aufgewachsen, nahe der Auf den alten Fotos sieht man Sie als Mäd- achteten? Grenze zu Österreich. Als der Zweite Welt- chen mit Brille. Nein, ich fühlte mich zu Frauen hingezo- krieg begann, waren Sie elf Jahre alt. Was Ich war oft einsam, wie später im Leben gen. Ich hatte ja später auch immer wieder sind Ihre Erinnerungen? auch. In der Schule war es damals so, dass die Beziehungen mit Frauen. Und die Buben Wir sahen die Rauchschwaden vom Fes- besten Schüler hinten sassen, die schlechtes- waren ja damals gehemmter als wir. tungsbau Gonzen, dort wurde gesprengt. ten vorne. Ich war immer eine sehr gute Unser Zuhause lag ausserhalb der Vertei- Schülerin, sass also zuhinterst, konnte aber Im Buch «Übung im Torkeln entlang des digungslinie. Wären die Deutschen ge- wegen meiner schlechten Augen nicht mehr Falls» spricht Charles Linsmayer die Autorin kommen, so hätten wir fliehen müssen. erkennen, was die Lehrerin an die Tafel auf ihre Beziehungen mit Frauen an. Sie ant- Mein Vater hatte alles dafür vorbereitet, schrieb. Also sorgte mein Vater dafür, dass wortet: «Ja, wahrscheinlich bin ich bisexuell. die Kisten standen bereit. die hinterste Reihe nach vorne durfte . . . Ich habe es mit einer Frau als wunderbar emp- 1938 kam die grosse Flüchtlingswelle, die funden. [. . .] Sie [die Geliebten] mussten eben- Grenzstation Diepoldsau, wo der bekann- Die Pubertät war für Helen Meier eine Kata­ so frei sein wie ich und gegenüber den sexuel- te Fluchthelfer Paul Grüninger wirkte, strophe, wie aus mehreren ihrer Texte hervor- len Möglichkeiten, die Frauen haben, auf- war nicht weit entfernt. Haben Sie von geht. Sie hätte gerne die Matura gemacht, um geschlossen.» Der Drang nach Freiheit, nach den Flüchtlingen etwas mitgekriegt? später studieren zu können, das ging aber einem selbstbestimmten Leben, war bei ihr

50 Weltwoche Nr. 14.19 immer stärker als jener nach Geborgenheit in der Familie.

Heute sind gleichgeschlechtliche Bezie- hungen völlig normal. Wie war das damals? Hatten Sie Vorbilder? Zum Beispiel Anne- marie Schwarzenbach? Ich weiss nicht mehr. Bestimmt habe ich ­Bücher gelesen, bei denen zwei Frauen eine Liebschaft eingingen. Aber ich kann es nicht mehr sagen. Später hatten Sie 24 Jahre lang eine Bezie- hung zu einem verheirateten Mann. War das für Sie die Idealform einer Beziehung: geliebt werden und doch frei sein? Ja, das kann man so sagen. Ich hatte ja einige Liebschaften mit bedeutend jüngeren ­Frauen und Männern. Das war immer sehr intensiv. Neid und Eifersucht führte oft bald ­wieder zur Trennung. Das war jedes Mal

«Die Angst, nicht zu gefallen und keinen Mann zu finden, ist in ­einem Mädchen ganz tief drin.»

schmerzhaft. Mit diesem Mann war es etwas Langfristiges. Meine Vorstellungen von Lie- be wurden erfüllt. Viele Ihrer Geschichten handeln von der Einsamkeit. Ist die Einsamkeit der Preis für die Freiheit? Ich denke schon. Aber ich habe das nicht ­bewusst gesucht. Es hat sich so ergeben.

Helen Meier leidet jetzt, im hohen Alter, mehr denn je unter der Einsamkeit. Charles Lins- mayer, der vor einigen Jahren ihr Lesebuch «Übung im Torkeln entlang des Falls» heraus- gegeben hat, inklusive einer umfangreichen Helen-Meier-Biografie, reist einmal pro Wo- che von Zürich nach Trogen, um sie zu besu- chen. Jetzt, im Gespräch, blüht sie auf. Als Linsmayer ein Foto von ihr macht und sie das Bild auf dem Mobiltelefon anschaut, sagt sie euphorisiert: «Ich bin ja gar nicht gealtert, ich habe immer schon so ausgesehen!» «Es waren immer Männer, die mich gefördert haben»: Autorin Meier. Mit 22 Jahren haben Sie Ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten. Ihre Klasse hatte vier- Meiers Märchen zig Schüler, heute undenkbar. Es ist erstaunlich, aber das klappte gut. Die Zum 90. Geburtstag von Helen Meier am samkeit, Liebe und Verlust. Immer mal Kinder waren damals besser erzogen als 17. April erscheint unter dem Titel «Der wieder stösst man dabei auf Sätze, die sich heute. Was auch anders war: Wenn es Pro­ weisse Vogel, der Hut und die Prinzessin» einprägen. Wie etwa: «Jemand Toten zu er- bleme gab, erfuhren die Eltern in der Regel eine Sammlung von 23 bisher unveröffent- morden, ist wirklich nicht nötig, glauben nichts davon, das war eine Angelegenheit lichten Märchen, die die Autorin als junge Sie mir.» (rb) zwischen Schüler und Schule. Lehrerin Ende der 1950er Jahre geschrie- Zu jener Zeit wurden an gewissen Schulen ben hat. Die Geschichten sind voller fantas- Helen Meier: Der weisse Vogel, die Kinder noch geschlagen. tischer Wesen, Hexen und Kobolde, sogar der Hut und die Prinzessin. Das habe ich nie erlebt, weder als Schülerin ein lebender Hut kommt vor. Dennoch Mit Illustrationen­ von Verena noch als Lehrerin. ­Monkewitz, herausgegeben von sind es keine Kindergeschichten, sondern Charles Linsmayer. Xanthippe. Als starke, freiheitsliebende Frau hatten Sie mehrheitlich abgründige Fabeln über Ein- 183 S., Fr. 29.80 es nicht einfach: Weil Sie eine Frau waren, konnten Sie nicht ans Gymnasium, Frauen

Weltwoche Nr. 14.19 51 Bild: Benjamin Manser (St. Galler Tagblatt) hatten bis 1971 kein Stimm- und Wahl- recht. Haben Sie das als Ungerechtigkeit wahrgenommen? Ich habe darunter gelitten. Ungerecht fand ich es aber nicht. Ich dachte, es sei ein- fach so, normal. Natürlich war ich dann ­eine vehemente Befürworterin des Frau- enstimmrechts. In der Frauenbewegung waren Sie nicht? Nein. Ich muss auch sagen: Es waren ­immer Männer, die mich gefördert haben. ­Peter Lindegger vom Tibet-Institut in ­Rikon, wo ich gearbeitet habe [Ende der 1960er Jahre, Anm. d. Red.], war von mei- nen Texten begeistert und fand, man ­müsse die unbedingt publizieren. Egon ­Ammann hat mich dann in seinem Verlag aufgenommen, Marcel Reich-Ranicki hat mich persönlich auf Anraten Ammanns zum Ingeborg-Bachmann-Preis einge­ laden. Marcel Reich-Ranicki! Der war ein Gott damals. Und mich hat er eingeladen und mir danach einen Förderungspreis überreicht! «Mein Berater macht mir Angst»: Autorin French.

Kurz nach ihrem Auftritt beim Bach- Neuerscheinungen mann-Preis 1984 erschien im Ammann-Ver- lag ihr erstes Buch, «Trockenwiese», eine Sammlung von Kurzgeschichten. Ein Leben Gefährliches Glück lang hatte Meier geschrieben, doch erst in Die irische Schriftstellerin Tana French hat mit ­einem Alter, in dem andere an die Frühpen- dem Psychothriller «Der dunkle Garten» einen Bestseller gelandet. sionierung denken, wurde sie als Schriftstel- lerin wahrgenommen. Zwei Romane hat sie Sie stellte ihn in London den Lesern vor. Von Rolf Hürzeler veröffentlicht, darunter ihre Autobiografie «Lebenleben» (1989), dazu eine Novelle, un- in Verhör ist Folter – auch ohne Daumen- Kumpels bei einem Besuch in einem typisch zählige Kurzgeschichten und einige Thea- Eschrauben. Dieser Überzeugung ist die iri- irischen Pub kennen. Jeder kippt einen oder terstücke. Meier erreichte mit ihren Bü- sche Schriftstellerin Tana French. Sie sitzt in zwei zu viel, jeder gibt gerne etwas an. Aber chern zwar nie die grossen Massen – wie im der Buchhandlung Waterstones am Londoner man bewegt sich mit den Sprüchen und Hän- Leben blieb sie auch im Literaturbetrieb eine Piccadilly und spielt ihren Lesern eine polizei- seleien gerade noch im Erträglichen, ohne dass Aussenseiterin –, fand aber eine treue An- liche Einvernahme vor. «Links der bad cop, der Abend ausartet. Zu später Stunde kommt hängerschaft im gesamten deutschsprachi- rechts der good cop und dazwischen der einge- Toby nach Hause, und dort verändert sich sein gen Raum. In ihren Geschichten offenbaren schüchterte Verdächtige», wie sie sagt. Dazu ­Leben. Er wird kurz und klein geschlagen, sich Begierden, Abgründe, Todesfantasien; gestikuliert die Autorin mit den Armen und kommt erst in einem Dubliner Spital wieder die Texte sind ein Abbild ihres ständigen ahmt variantenreich die Stimmen der Polizis- zu sich – der Beginn von Tobys Albtraum. Kampfs um Freiheit, Selbstbestimmung ten sowie des Opfers nach. und Liebe. Intensiv, berührend, oft auch Tana French, muss man wissen, ist von Be- Zwischen Gut und Böse traurig. ruf Schauspielerin. Als ihr die grossen Rollen «Mich interessierte beim Schreiben ein verwehrt blieben, entschied sie sich für das Mensch, dem alles gelingt», sagt Tana French Sie haben einmal geschrieben: «Ohne dass Schreiben. Zuerst ist eine Serie über den fikti- über ihren Protagonisten, «denn dabei geht die Menschen es ahnen, ist ja das Leben ven «Dublin Murder Squad» erschienen, des- die Empathie verloren.» Tolle Hechte könnten nur erträglich, weil es vom Tod erwartet sen Fälle unter Titeln wie «Grabesgrün» oder sich nicht vorstellen, dass das Leben der ande- wird.» «Gefrorener Schrei» auch in Deutsch auflie- ren nicht ganz so cool verlaufe. Genau deshalb Sehen Sie, ich lebe noch! Ist das nicht er- gen. Jetzt ist French mit dem Psychothriller verkennt laut French ihre Hauptfigur Toby die staunlich? «Der dunkle Garten» in den Buchhandlungen Gefahren, denen er ausgesetzt ist. «Zu viel Was kommt danach? präsent. Die Kritik ist begeistert: «Das Buch Glück ist gefährlich», sagt sie und schaut her- Nichts. ist packende Unterhaltung und stellt angebli- ausfordernd ins Londoner Publikum, ob je- Haben Sie Angst vor dem Tod? che Gewissheiten in Frage», schreibt die mand zu widersprechen wage. Nein, überhaupt nicht. Sunday Times. Der Guardian konstatiert: «Über­ Die 45-jährige Tana French wirkt auf ihre raschend windungsreich.» Leserschaft wie ein in die Jahre gekommener Im Mittelpunkt steht der 28-jährige Ich-­ Teenager, der sich mit etwas viel Mode- Erzähler Toby Hennessy. Er ist der Typ Son- schmuck behängt. Sie trägt die rotgefärbten Geburtstagsfeier und Buchvernissage: nenschein, dem alles gelingt – toller Job in kurz geschnittenen Haare und scheint keine 17. April, 17 Uhr im Festsaal der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen. ­einer Galerie, liebevolle Freundin, allseits be- Minute ruhig sitzen zu können. Ihre Schau- Die Festrede hält Franz Hohler. wundert. Der Leser lernt ihn mit seinen zwei spieleinlagen sind unterhaltend; immer wie-

52 Weltwoche Nr. 14.19 Bild: Gaby Gerster (Laif, Keystone) der gönnt sie den Zuhörern ein Bonmot: «Der Schweizer Klassiker beste Ermittler von Dublin berät mich. Er macht sogar mir Angst.» Ganz so schlimm kann diese Angst nicht Vergessenes Heiligtum sein, French verströmt die Aura der Welt­- Mit seinem Gebirgsroman «An heiligen Wassern» (1898) eroberte er­fahrenen. Die Tochter eines amerikanischen ­Jakob Christoph Heer hunderttausende Leser. Und schrieb Walliser Vaters und einer italienischen Mutter ist in ­etlichen Entwicklungsländern aufgewachsen, Tourismusgeschichte. Von Christoph Mörgeli darunter längere Zeit in Malawi. Als junge Frau besuchte sie in Dublin das renommierte 897/98 erschien in zahlreichen Folgen in der ren. Die Bewohner sprechen denn auch voller Trinity College und arbeitete eine Weile als 1NZZ eine Fortsetzungserzählung, die der Ehrfurcht von «heiligen Wassern». Das Los Schauspielerin für Fernsehen und Bühne. einflussreiche Kritiker Josef Viktor Widmann ­bestimmt jeweils die Männer, die Familie und Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei vom Konkurrenzblatt Der Bund als «ersten Dorf verlassen müssen, um in die steile Wand Kindern in Dublin. Im angelsächsischen Raum ­grossen Gebirgsroman der deutschen Schweiz» einzusteigen. Viele sind so schon gestorben, ist ihr Name seit einigen Jahren ein Begriff. bezeichnete. Das bei Cotta in Stuttgart verlegte und auch ein verschuldeter Taglöhner fällt zu In der Schweiz ist nun «Der dunkle Garten» Buch traf den Nerv der Zeit und bedeutete den Tode, den der mächtige «Präsi» zu dieser bei der Leserschaft angekommen. ersten Erfolg des NZZ-Feuilletonredaktors schweren Pflicht gedrängt hat. Für den zusammengestauchten Protagonis- ­Jakob Christoph Heer (1859–1925) bei einem ten Toby ergibt sich während seiner Rekon­ Massenpublikum. Es wehte ein kräftiger Rasch aus der Mode valeszenz die Gelegenheit, seinen an Krebs er- Heidi-­Geist mit einer Prise Dämonie, viel Die neue Frau des verwitweten Dorfvorstehers krankten Onkel in einem irischen Landhaus ­Tempo, Spannung, emotionaler Erschütte- bringt Leben und Fremdenverkehr ins abgele- zu betreuen. Toby nimmt sich der Aufgabe rung und am Schluss poetische Gerechtigkeit. gene Dorf. Josua aber reist nach Indien und ­gemeinsam mit seiner Freundin Melissa liebe- wird ein tüchtiger Ingenieur. Der Stiefbruder voll an. Doch das Glück betrügt ihn diesmal. tritt zwischen ihn und Binia, fängt dessen Brie- Während eines Familienfests entdeckt ein un- fe ab und sagt Binia sogar, ihr Liebster sei in der gezogener Junge, «eine kleine Kanaille», in Fremde einer Seuche erlegen. Doch Josua kehrt ­einem hohlen Baumstamm einen Schädel. zurück und sorgt mit dem Wunderpulver Dy- Dieser war einst das Haupt eines plötzlich ver- namit für die gefahrlose Versorgung mit «heili- schwundenen Kumpels von Toby und dessen gen Wassern» durchs Innere der Felsen. Ein fei- Clique gewesen. ger Nebenbuhler, klerikaler Widerstand und Ähnlich wie in etlichen Romanen der ver- der Aberglaube der Bevölkerung behindern das storbenen Schriftstellerin Ruth Rendell ist grosse Werk. Doch schliesslich ist der Gemein- in «Der dunkle Garten» die Vergangenheit depräsident überzeugt von Josuas Lauterkeit plötzlich allgegenwärtig. Toby merkt nach und gibt ihm seine Tochter Binia zur Frau. und nach, wie er seine Familie und seine Kol- Laut Kritiker Josef Viktor Widmann machte legen in der Jugendzeit falsch verstanden hat. ein «sittigender, keuscher Hauch» den Roman In langen Trinkorgien mit seinen Verwand- für Jung und Alt zu einem «Musterbuch». Er ten, durchzogen von zahlreichen Joints, er- wurde im wilhelminischen Deutschland gera- kennt Toby jetzt im Dunst des Schwindels dezu verschlungen und hat den Fremdenver- langsam die Bedrohungen, die sein Leben in kehr ins Wallis massgeblich beflügelt, genau Frage stellen. Zu spät; Toby sieht sich als Gebrochener Mann: Schriftsteller Heer. wie der «König der Bernina» desselben Autors Mord­verdächtigen zwischen dem guten und zwei Jahre später jenen ins Engadin und ins dem bösen Cop. Die Geschichte aus dem kleinen Oberwalliser Puschlav. Obwohl Bund-Kritiker Widmann Die Autorin verwendet drei Viertel des Ro- Bergbauerndorf St. Peter drängte sich für Ver- ­urteilte, Heers «An heiligen Wassern» übertref- mans darauf, die Charaktere und die gesell- filmungen geradezu auf: 1930 erschien «An fe in den «grandiosen Anlagen» sogar Jeremias schaftlichen Verhältnisse in der modernen iri- heiligen Wassern» als deutsche Produktion, Gotthelf, kam der Roman nach dem Ersten schen Republik filigran auszuleuchten. Erst dreissig Jahre später als Schweizer Heimatfilm Weltkrieg rasch aus der Mode. Und Jakob Chris- im letzten Viertel nimmt die Geschichte einen mit zahlreichen deutschen Schauspielern. toph Heer, der gelernte Lehrer aus Töss bei Win- atemberaubenden Verlauf. Seite um Seite er- Das klassische Drama von Romeo und Julia terthur, der voll aufs deutsche Publikum setzte öffnen sich neue Abgründe. – die Liebesgeschichte eines jungen Mannes und seit 1901 als freier Schriftsteller lebte, muss- Tana French ist keine Frau der feinen Worte. und einer jungen Frau aus zwei verfeindeten te noch die Inflation und den Verlust seiner Wie im Roman entfahren ihr im Gespräch im- Familien – spielt vor dem Hintergrund einer Tantiemen erleben, bevor er als gebrochener mer wieder ein shit oder ein fuck. Man spürt, dörflichen Gebirgsgemeinschaft am Fin de Mann verstarb. Als das dankbare Pontresina zu dass diese Frau ihre Botschaft verstanden ha- Siècle. Binia, Tochter des Wirts und Gemeinde- Heers Gedenken 1928 einen vierzehn Tonnen ben will: Nur wer dem Glück misstraut, darf präsidenten, und der Wildheuersohn Josua schweren Stein nach Töss transportieren liess, ihm wirklich vertrauen, ansonsten – wehe! überwinden schliesslich alle Gegensätze und brachten ihn zunächst nicht einmal 24 Pferde Lagerkämpfe der Sippen, wobei die Segnungen zum vorgesehenen Standort. der Technik und der aufkommende Tourismus lange Zeit eher Streit als Frieden stiften. Ein Fluch liegt auf dem Dorf, denn nach jedem La- winenniedergang müssen die zerstörten ­Holzkännel in schwindelerregender Höhe neu Jakob Christoph Heer: An heiligen Wassern – Roman aus Tana French: Der dunkle Garten. ergänzt werden. Ohne die zuverlässige­ Versor- dem schweizerischen­ Hochgebirge. Fischer Scherz. 656 S., Fr. 25.90 gung mit Gletscherwasser wäre St. Peter verlo- ­Hofenberg 2017. 260 S., Fr. 37.90

Weltwoche Nr. 14.19 53 Bild: zVg (Wikimedia Commons) Biografien Millionärstochter und Vorzeige-Kommunistin Sie war eine der reichsten Schweizerinnen, kämpfte ein Leben lang für den Sozialismus und starb als Heldin in der DDR. Mit Mentona Moser hat Schriftstellerin Eveline Hasler einmal mehr eine faszinierende Frauenfigur ausgegraben. Von Rico Bandle

ast so spektakulär wie das Leben der Men- Ftona Moser ist die Art und Weise, wie Eve- line Hasler auf die in der Schweiz vergessene, schwerreiche Kommunistin gestossen ist. Irgend­wann in den 1980er Jahren erreichte ein Brief aus Ostberlin den Schweizer Schriftstel- lerverband: eine offizielle Einladung für einen Besuch in die DDR. Zwei Autoren durften in den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat reisen. Da alle Vorstandsmitglieder Interesse zeigten, entschied das Los. Es fiel auf Eveline Hasler und Urs Berner. Die Schweizer Gäste reisten via Westberlin in die DDR, wo sie von dortigen Schriftstellern empfangen wurden. Hasler und Berner wurden zu den schönen Plätzen Ostberlins geführt, so auch zum Friedhof Friedrichsfelde mit seinem «Ehrenhain der Sozialisten». Und da wurde ­ihnen das Grab einer «Heldin aus der Schweiz» vorgestellt. Auf dem Grabstein stand: «Men­ tona Moser, geboren 1874, ge­storben 1971». Eve- line Hasler erinnert sich: «Die Leute, die uns ­herumführten, zeigten uns stolz die Ruhestätte unserer Landsfrau – doch wir beide hatten noch nie etwas von dieser Mentona Moser gehört.» Hasler, die gerade ihren vielbeachteten ­Roman «Anna Göldin. Letzte Hexe» geschrie- ben hatte, ging der Geschichte dieser geheim- Wenn eine gute Idee zum Dogma wird: Fabrikantentochter Moser. nisvollen Schweizer DDR-Heldin nach. Aber erst Jahrzehnte später sah sie die Zeit gekom- Jedenfalls liess sich Baronin Moser mit ihren den Sozialdemokraten­ Hermann Balsiger, men, über Mentona Moser zu schreiben: eine zwei Töchtern im prächtigen Schloss Au auf der allerdings nach der Geburt des zweiten Frau aus schwerreichem Haus, die ihr ganzes der gleichnamigen Zürichsee-Halbinsel nie- Kindes – eines­ behinderten Buben – die Fami- Leben und ihr ganzes Vermögen für den Sozia­ der. Die Mutter hatte paranoide Verlustängste, lie verliess und nie Unterhalt bezahlte. lismus hergegeben hat. schikanierte die schlechtbezahlten Haus­ Obschon aus einer der reichsten Familien angestellten und isolierte die Töchter, die der Schweiz stammend, darbte Moser in Von Geldgier getrieben kaum je die Halbinsel verlassen durften. Die ­Armut – die geizige Mutter verweigerte ihr Schon die Geburt von Mentona war von einer Baronin wurde zu einer der besten Kundinnen Tragödie begleitet. Vier Tage nachdem das von ­, der ihren Fall in seinen Moser traf Lenin in Zürich und Mädchen das Licht der Welt erblickt hatte, berühmten Hysterie-Untersuchungen ausge- lernte Fritz Platten­ kennen, den starb sein Vater, der Uhrenfabrikant Heinrich führt hat. Vom grossen Wiener Psychothera- Moser. Dieser war mit seinen Fabriken in Russ- peuten erfuhr Tochter Mentona von ihren berühmten Kommunistenführer. land zu einem Vermögen gekommen. In der Halbgeschwistern­ – die Mutter hatte ihren russischen Oberschicht galten die Uhren von zwei Töchtern deren Existenz verheimlicht. jegliche Hilfe. Die ihr zustehendenUnter­ H. Moser & Cie. als unabdingbare Prestige­ Die unterkühlte Freiherrin Moser hat haltszahlungen­ einzufordern, war ebenfalls objekte; sogar Lenin besass eine. ­Mentona nie die ihr zustehende Liebe ge­ ein hoffnungsloses Unterfangen: Kein Jurist Mentonas Mutter, Baronin Fanny Moser von geben, angeblich, weil diese sie stets an den wagte es, sich mit ihrem Ex-Mann anzulegen, Sulzer-Wart, hatte den 42 Jahre älteren Indus- Tod ihres Mannes erinnerte. der mittlerweile zum Oberrichter aufgestie- triellen offensichtlich wegen des Geldes ge­ gen war. heiratet. Am Sterbebett soll sie ihm vorgegau- Ab nach Russland Ihre Not radikalisierte sie. Die mittellose kelt haben, einen Jungen geboren zu haben, Kaum erwachsen, wollte sich Mentona Moser Millionärstochter schloss sich dem linken um ans gesamte Erbe zu kommen. Heinrich für eine bessere Welt einsetzen. Sie arbeitete Flügel der Sozialdemokratischen Partei an, Mosers Kinder aus erster Ehe sahen sich um bei der Armenfürsorge in London und lernte aus dem 1921 die Kommunistische Partei ­ihren Anteil geprellt. Es kursierte gar der un- dort eine Frühform der Sozialhilfe kennen. ­hervorging. Moser traf Lenin in Zürich und bestätigte Vorwurf, Frau Moser habe ihren Sie kehrte zurück nach Zürich in der Absicht, lernte Fritz ­Platten kennen, den berühmten Mann aus Geldgier vergiftet. da Ähnliches zu vollbringen. Sie heiratete Kommunistenführer, der Lenin 1917 auf

54 Weltwoche Nr. 14.19 Bild: zVg (www.zhaw.ch) ­seiner Reise von Zürich nach Moskau be­ emigrierten und dort quasi als Sklaven ende- gleitet hatte. ten. Stolz ist sie auch auf ihren Roman über Begeistert von der russischen Revolution – Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreu- die Utopie einer gerechten Welt schien Wirk- zes. Das Buch ist eben neu aufgelegt worden lichkeit zu werden –, reiste Moser in die So­ und steht wieder auf den Bestsellerlisten. wjetunion und baute dort ein Kinderheim auf. «Auch Dunant wurde­ verlacht für seine Ideen», Es herrschte Euphorie, viele Europäer wollten sagt sie. damals mithelfen, eine sozialistische Gesell- Ihrem neuen Roman «Tochter des Geldes» schaft aufzubauen. Doch die Ernüchterung könnte man vorwerfen, er verharmlose den kam bald. Stalin hatte das Zepter übernom- Kommunismus. Die Autorin macht sich die men, anstatt Gleichheit und Gerechtigkeit gab Grundhaltung der Hauptfigur Mentona Mo- es Bespitzelung, Denunziation, willkürliche ser zu eigen: Der Kommunismus wäre eigent- Morde. Kurz: Aus der Utopie war ein Terror­ regime geworden, dem auch Fritz Platten, Optimistin: Autorin Hasler. Man müsste allen, die von den der einst Lenin das Leben gerettet hatte, zum guten alten Zeiten schwärmen, Opfer fiel. nach dem Tod der Mutter geerbt hatte. Sie Moser – unerschütterlich in ihrem Glauben flüchtete verarmt in die Schweiz, wo sie er- Haslers Bücher zu lesen geben. an den Sozialismus – zog nach . Dort er- krankt und in bescheidensten Verhältnissen lebte sie den Aufstieg der Nazis; wieder wurde lebte – bis die DDR sie nach Ostdeutschland lich gut, würde er nur richtig umgesetzt. «Ich Jagd gemacht auf Andersdenkende, wieder einlud, wo sie als Heldin bis zum Lebensende wollte zeigen, was mit ­einer an und für sich hatte der Terror gesiegt. Die Nationalsozialis- eine Vorzugsbehandlung genoss. guten Idee passiert, wenn sie zu einem Dogma ten konfiszierten ihr ganzes Vermögen, das sie wird», stellt Hasler klar. Das sei durchaus als «Zu früh mit ihrem Denken» Warnung zu verstehen. Die Ideen der frühen Eveline Hasler erzählt diese Geschichte detail- Kommunisten sieht sie noch immer positiv: reich nach – ein Stück Weltgeschichte aus der «Die wollten die Welt zum Besseren verän- Sicht einer bemerkenswerten Schweizer Per- dern, ­haben sich als Erste um Arbeiter- und sönlichkeit. Frauenrechte gekümmert, was heute ja noch Seit vielen Jahren wohnt die Schriftstellerin aktuell ist.» im Tessin. Und hier, während nördlich der Eveline Hasler ist eine charmante, äusserst ­Alpen nasskalter Regen niederprasselt, treffen zuvorkommende Frau. Sie ist eine Optimistin, wir uns bei schönstem Sonnenschein in einem sieht vor allem das Positive in der Welt. «Es Café in Locarno, direkt am Lago Maggiore. 86 gibt zwar noch einiges zu tun, aber es ist wun- Jahre alt ist die Autorin mittlerweile, und sie derschön, wie sich die Gesellschaft entwickelt freut sich, als ich ihr sage, dass ich mich gut er- hat», sagt sie. Dabei denkt sie an Toleranz, innern kann, wie sie vor über dreissig Jahren Umweltanliegen, aber auch an den Umgang bei uns an der Primarschule aus ihrem Kinder- mit der Vergangenheit. «Als ich als Glarnerin buchklassiker «Komm wieder, Pepino» vorlas. das Buch über Anna Göldin herausbrachte, Nach ihren Anfängen als Kinderbuchautorin wurde ich in Glarus angefeindet. Man wollte wechselte die studierte Psychologin ins Er- diese düstere Geschichte am liebsten ver­ wachsenenfach und schrieb vorwiegend histo- drängen.» Das habe sich gänzlich geändert. rische Romane. «Heute gibt es in Glarus sogar ein Anna- Ihre Lebensleistung kann nicht hoch genug Göldin-­Museum.» eingeschätzt werden: Sie schaffte es immer wieder, grosse, aber vergessene Frauenfiguren Die gute Geschichte im Vordergrund ins Scheinwerferlicht zu rücken. Den Anfang Tatsächlich müsste man allen, die von den machte sie mit dem Roman «Anna Göldin» ­guten alten Zeiten schwärmen, ihre Bücher zu (1982) über die letzte in der Schweiz hingerich- lesen geben. Im Vergleich leben wir heute im tete Hexe. Der Roman wurde zu einem rie­ Paradies, vor allem, was die Rechte der Frauen Erste Juristin der Schweiz: Emilie Kempin-Spyrig. sigen Erfolg. Eine weitere Figur, die Hasler betrifft. Für Eveline Hasler allerdings steht wiederentdeckt hat, war die erste Juristin der der Kampf um die Gleichberechtigung gar Schweiz, Emilie Kempin-Spyri («Die Wachs­ nicht unbedingt im Vordergrund. Sondern, flügelfrau», 1991). Kempin-Spyri durfte zwar wie es sich für eine Schriftstellerin gehört, die studieren, aber dann nicht als Juristin arbei- gute Geschichte: «Es ist doch erstaunlich, ten. Die hochintelligente Frau musste in die wie viele besondere, eigenwillige Frauen die USA emigrieren; als sie zurückkam, wurde sie Schweiz hervorgebracht hat.» in die psychiatrische Klinik gesteckt. Und jetzt also Mentona Moser. «Mich faszi- nieren Leute, die mit ihren Gedanken zu früh waren», sagt Hasler. Sie möchte aber nicht auf die Frauenfiguren reduziert werden. In «Ibi- caba» (1985), ihrem zweiten Roman, be- schäftigte sie sich mit Schweizer Armuts­ auswanderern im 19. Jahrhundert, die ins Eveline Hasler: Tochter des Geldes. Letzte hingerichtete Hexe: Anna Göldin. ­vermeintliche Paradies nach Brasilien Nagel & Kimche. 200 S., Fr. 31.90

Weltwoche Nr. 14.19 55 Bild: zVg (Wikimedia Commons), Patrick Lo Giudice, Isolde Ohlbaum (Laif) Krimi dem fühlen sie sich verpflichtet, zu ermitteln, dürfen aber nicht. Ihre Selbstbehauptungs­ aktivitäten sind sinnlos und geben dem Roman Mädchen auf der Müllhalde den Reiz des Absurden. Ein «Gegen-Krimi». Er In den Nachkriegsjahren versuchen zwei Cops in einem Mordfall spielt in einer Zeit, in der der Rassismus zwar nach aussen hin weggedrückt, aber im Alltag zu ermitteln, was sie nicht dürfen – sie sind schwarz. «Darktown» ungehemmt praktiziert wurde. Boggs und ist ein brillanter Thriller des Absurden. Von Wolfram Knorr Smith ist buchstäblich nichts erlaubt. Ihre Funktion ist sinnlos, und aus dieser Absurdität entfaltet der Roman seinen besonderen Reiz. Dem Duo hockt zusätzlich der bis auf die Kno­ chen korrupte Lionel Dunlow im Nacken. Er möchte den beiden einen Mord anhängen, um von eigenen Machenschaften abzulenken. Boggs und Smith bewegen sich zwischen Skylla und Charybdis. Die eigene Community hält sie für Verräter, die anderen halten sie für minder­ wertig. Autor Thomas Mullen modelliert aus diesem Widerspruchsirrsinn die sozialen Zu­ stände mit plastischem Sarkasmus heraus.

Heimliche Fahrt in die Provinz Lucius Boggs, Sohn eines in der Stadt einfluss­ reichen Predigers, der mit der Regierung die schwarze Cop-Einheit durchgesetzt hat, ge­ niesst einen Hauch von Respekt. Den will er nut­ zen, um wenigstens die Hintergründe des Mor­ des am farbigen Mädchen zu ergründen. Wie ein Mehlwurm wühlt er sich in die Society-Fäul­ nis, misstrauisch beäugt wie ein Kammerjäger von seinem Chef, der sich als Leiter der schwar­ Widerspruchsirrsinn: Autor Mullen. zen Einheit für degradiert hält. Es ist die Zeit so­ zialen Umbruchs, ausgelöst durch die Ent­ it den schwarzen Detektiven Grave­ Aber dort gab’s Arbeitskräfte, und die waren bil­ lassung der Schwarzen aus der Armee. Tommy Mdigger Jones und Coffin Ed Johnson, die lig. Der Süden boomte, das Image war wichtig. Smith erzählt mal von seinem Vater, der im Ers­ in Harlem ermittelten und aus der Feder von Die Mehrheit der Afroamerikaner trat nach dem ten Weltkrieg Senfgas überlebt hatte und in der Chester Himes stammten, haben Lucius Boggs Zweiten Weltkrieg anders auf. In den Polizei­ Heimat gelyncht wurde, weil er in Uniform an und Tommy Smith aus Atlanta aber auch gar dienst eintreten gehörte dazu. einer Veteranenparade teilgenommen hatte. nichts gemein, ausser dass sie auch Cops sind Eines Nachts verirrt sich, während Boggs und Die neuen Kriegsrückkehrer würden sich das und «Negroes», wie Afroamerikaner im Süden Smith Streife laufen, eine Limousine mit einem nicht mehr bieten lassen, doch auch sie bleiben der Nachkriegsjahre genannt wurden. Boggs betrunkenen weissen Fahrer nach Sweet Opfer des hartleibigen Rassismus. und Smith dürfen gar nichts, nicht mal einen ­Auburn, abschätzig «Darktown» genannt. Die Zu den beklemmendsten Szenen gehört Dienstwagen fahren. Weisse sind tabu, selbst Karre schrammt an einen Laternenmast, der Boggs’ heimliche Fahrt in die Provinz, um Ver­ wenn sie vor ihren Augen Verbrechen begingen. Fahrer verflucht seine Beifahrerin, eine junge wandte der Toten aufzusuchen. Die Angst wird Verhaftungen wären strafbar – für beide. Sie Farbige, die offenbar misshandelt wurde. Sie spürbar, sobald er das «gesicherte» Atlanta hin­ dürfen nur in Uniform durchs Stadtviertel steigen aus, beharken sich, Boggs und Smith ter sich lässt und draussen sich wie Freiwild Sweet Auburn Streife latschen. So kommt es lauschen und rufen die Streife. Die Mitfahrerin fühlt: nicht auffallen, nichts verkehrt machen, dann gelegentlich vor, dass weisse Kollegen sich nutzt die Gelegenheit, zu türmen, ehe zwei den Weissen nicht in die Augen sehen. Das Kli­ den Jux leisten, im Streifenwagen mal an ihnen ­weisse Cops auftauchen. ma wird greifbar. Mullen rekonstruiert penibel langsam vorbeizufahren und Orang-Utan-Lau­ Der betrunkene Fahrer wird freundlich er­ die Nachkriegszeit, die Angst von Weissen, wie te «Uuuu-uuu-uuu!» aus dem offenen Fenster mahnt und darf unter rassistischen Flüchen mit etwa die von Denny Rakestraw, Dunlows Kum­ zu brüllen und: «bugga-bugga» und: «Passt auf seiner lädierten Kiste weiterfahren. Der ausge­ pel, der zu viel Nähe zu Afroamerikanern zeigt. eure Ärsche auf, Nigger!» buffte Lionel Dunlow, einer der weissen Polizis­ Ob Zufall oder nicht, Mullens Roman erschien 1948 stellte die Stadt Atlanta (US-Bundesstaat ten, findet das sehr lustig, sein neuer Kumpel 2016, genau in jener Zeit, in der die Spaltung Georgia) eine erste schwarze Polizeieinheit ein. Denny Rakestraw weniger. Einen Tag später der US-amerikanischen Gesellschaft sich durch Das weisse Bürgertum reagierte mit gemischten wird das farbige Mädchen tot auf einer Müllhal­ Donald Trump zu verschärfen begann. Gefühlen, die Cops fanden das einfach nur lä­ de gefunden. Für die Polizei kein Ermittlungs­ cherlich. Der Bürgermeister setzte die Massnah­ fall, ist ja nur ein «Negro». Für Boggs und Smith me durch, weil die Schwarzen als Wähler wich­ eigentlich schon. tig wurden. Es war eine Geste zur «Darktown» wird zum Thriller des Absur­ «Gleichbehandlung», mehr aber auch nicht. den, zum Krimi, der sich vertrauten Prinzipien Schwarze in Uniform sollten das Stadtbild auf­ entzieht. Seine Helden fühlen sich als Fremde, Thomas Mullen: werten, auch wenn nur in der afroamerikani­ ihre etablierte Polizeibehörde bietet ihnen, Darktown. Dumont. schen Community patrouilliert werden durfte. Uniform hin oder her, keinen Schutz. Trotz­ 480 S., Fr. 36.90

56 Weltwoche Nr. 14.19 Bild: Jeff Roffman Bestseller Als der immer unter Geldnot leidende Neffe ­Lorenz Prischinger zu Besuch kommt und seine in Altphilologie promovierte erfolgreiche Wild fabuliert Freundin Steffi mitbringt, bereiten die Tanten Wie die beiden ersten Bücher startet auch der dritte Roman panierte Schnitzel zu, Berge vom Kalb, Rind, Schwein, Reh, Hirsch, dazu Gemüse wie vom des österreichischen­ Shootingstars Vea Kaiser durch. Was ist ihr Fliessband, Karotten, Zucchini, Melanzani, Erfolgsgeheimnis?­ Von Pia Reinacher Champignons und Spargel, dass es der jungen Akademikerin auf der Stelle den Appetit ver- lles an ihr verrät einen vehementen Selbst- wurden auf Anhieb zu Bestsellern und in schlägt – und nicht nur ihr. Komisch und slap- Agestaltungsimperativ: Das Make-up ist mehrere Sprachen übersetzt. stickartig wird es, als Onkel Willi, während die mustergültig gestylt, die Augenbrauen milli- Wie die beiden ersten Bücher ist auch ihr eben Tanten wieder einmal kochen und er fernsieht, metergenau in Form gezupft, die schönen erschienener dritter Roman, «Rückwärtswalzer unvermittelt das Zeitliche segnet. Mirl hält, na- schwarzen langen Haare baumeln wirkungs- oder Die Manen der Familie Prischinger», ein türlich, den Rosenkranz umklammert. Später voll auf die Schultern. Darüber trägt sie zu öf- weit ausuferndes Familienepos. Familien und versuchen die Tanten, den toten Willi, der im- fentlichen Präsentationen gerne einen keck Beziehungen sind Kaisers Kernthema. Ihre mer in seinem Geburtsland Montenegro begra- geschlungenen, interkulturellen Turban: fürs ­Familie stammt aus Niederösterreich. Die Ge- ben werden wollte, illegal im Panda von Wien Fernsehinterview aus geheimnisvoll glänzen- schichten der Grosseltern und der russischen in den Balkan zu überführen. der schwarzer Seide, für die Anfahrt in der Soldaten haben sie eine Kindheit lang begleitet. Die Familiengeschichte der Prischingers ist ­Limousine zur Leipziger Buchmesse ganz ­Einen roten Faden sucht man vergeblich, aber mal witzig, mal geschwätzig, mal originell, mal ­casual aus lachsfarbenem Tuch, zum Interview das ist auch gar nicht so geplant. Die Autorin temporeich und turbulent, und natürlich über- in der Mensa wildkatzenartig mit gefährli- treibt es Vea Kaiser auf alle Seiten. Weder sind chem Leopardenmüsterchen. die Figuren von besonderem Tiefgang, noch ist Vea Kaiser, Shootingstar der österreichischen die Story von höherer Relevanz, dazu ist sie viel Literaturszene, mit 260 000 verkauften Exem­ zu zerfahren. Trotzdem muss man sich ­fragen, plaren bereits nach dem zweiten Roman Best- was sie zum Bestseller macht. Es ist eine Mi- sellerautorin, überlässt nichts dem Zufall. Von schung aus archaischem Familienepos, rück- sich selbst sagt die toughe Dreissigjährige, dass wärtsgewandter, süss-­säuerlicher und ein biss- sie eine echte «Rampensau» sei, keine Berüh- chen schwerenöterischer Nostalgieerzählung rungsängste kenne und sich problemlos nackt und dem Kommunikationsverhalten der jüngs- vor 300 Leute hinstellen könnte. Von den ande- ten Social-Media-­ und Internetgeneration, die ren, den Kritikern ihrer Selbstvermarktungs- sich in dieser Textsorte sofort wiedererkennt. In lust, sagt sie, dass es Neider seien, die ihr den Er- diesem Roman­ wird wie beim Chatten, Mailen folg missgönnten. Von ihrem Mann, dem und iPhone-Telefonieren­ ununterbrochen ge- «Dottore Amore», einem Urologen mit italieni- quatscht, das Wichtige steht unterschiedslos schen Wurzeln, sagt sie in ihrer wöchentlichen ­neben dem Irrelevanten, ausgelassen wird Kolumne im Freizeit-Kurier nur das Beste und nichts, verschwiegen auch nichts, stilisiert dass er mittlerweile ihre Artikel vorab zu lesen schon gar nicht, so zieht es den Leser, je nach- bekomme und unter ihren Leserinnen einen dem fröhlich oder gelangweilt, immer weiter. Fanklub habe. Das Phänomen dieses Erfolgs heisst Commu-­ Vom Schreiben sagt sie, dass es zwar ein gewis- nity-­Literatur: geheimnislos und gleichzeitig ses Talent brauche, im übrigen Handwerk sei kreativ. Die identitäts- und gemeinschaftsstif- wie die Arbeit eines Tischlers auch. Was denkt tende Sprechspur trifft auf Leser, die sich darin sie von ihrer zukünftigen Karriere? Sie sagt, dass wiedererkennen und sie entsprechend lustvoll sie als Fünfjährige ihrem Opa versprach, irgend- und widerstandslos resorbieren. Buch und Au- wann eine Frau Doktor Kaiser zu werden. Und Archaisches Familienepos: Vea Kaiser. torin bilden dabei ein «Gesamtkunstwerk», weil man sie jetzt schon als Arztgattin ab und zu wenn auch ein selbstreferenzielles. Selbstinsze- mit «Frau Doktor» anspreche, sagt sie, wolle sie schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – nierung und Selbstverkauf heisst das literari- natürlich auch einen eigenen Doktortitel und nicht witzlos, anekdotisch, mäandrierend. sche Gebot der Stunde. Vea Kaiser kommt den werde wohl ihre Dissertation schreiben, wahr- Nach ein paar Seiten gibt man auf der Suche medialen Forderungen des Zeitgeistes perfekt scheinlich über die alten Griechen. nach einer kohärenten Geschichte, in der man entgegen und entspricht damit überkorrekt sich zurechtfinden könnte, erschöpft auf und dem Leitbild des modernen Schriftstellers, der Gebot der Stunde überlässt sich dem Strom der wild fabulieren- virtuos auf allen Kanälen agiert, sich selbst und Als Neunzehnjährige fing Vea Kaiser an, in Hil- den Erzählerin. Immerhin, ein paar Kern­ das Buch in­ ­szeniert, genau die richtige Mi- desheim kreatives Schreiben zu studieren. Im elemente macht man aus: die Geschichten der schung aus beruhigender Tradition und Wild- ­Seminar beschäftigte man sich mit der Frage, Prischinger aus dem niederösterreichischen heit, Un­an­gepasstheit und Konservativität lie- wie man den Ingeborg-Bachmann-Preis gewin- Waldviertel. Fünf Geschwister wachsen in den fert und damit den entsprechenden Erfolg hat. nen könne, und analysierte die Texte der Preis- vierziger und fünfziger Jahren auf einem träger. Da wusste sie, dass sie dort falschliegt, Landgasthof auf. Die drei Schwestern Mirl, und da sie schon die Anfänge ihres ersten Rom- Wetti und Hedi streiten gerne, aber halten, ans, «Blasmusikpop, oder Wie die Wissenschaft wenn es drauf ankommt, durch dick und dünn in die Berge kam», im Kopf hatte, setzte sie sich zusammen. Alle drei haben sie ein schweres Vea Kaiser: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger. ab. Sowohl ihr Debüt als auch ihr Zweitling Schicksal gehabt. Wenn sie sich sehen, wird Kiepenheuer & Witsch. «Makarionissi oder Die Insel der ­Seligen» wild gekocht – ländlich deftig, versteht sich. 432 S., Fr. 33.90

Weltwoche Nr. 14.19 57 Bild: Ingo Pertramer Romane Werbung Lustvoll lügen Die Fliege am Urinal Charles Lewinsky hat eine Das neue Buch des umtriebigen Schweizer Marketing-Professors Figur kreiert, die sein Alter Cary Steinmann ist ein Sprengsatz unter dem Hintern mutloser Ego sein könnte. Werbeauftraggeber. Was taugen seine Rezepte? Von Dominik Imseng

st man in das ary Steinmann, erst Werbestratege, dann ger bewirkt, sondern sich mit den günstigen IBuch vertieft, Cbis 2006 Marketingprofessor, hat ein klu- Taschenbüchern von Dan Ariely, Daniel Kah- sieht man innerlich ges und unterhaltsames Buch vorgelegt: «Jetzt neman oder Richard Thaler eindecken. immer wieder den neu! Marketing mit verbesserter Formel» Diese und weitere Vertreter der Verhaltens­ Autor vor sich, wie (NZZ Libro). Steinmanns These: Wirksames ökonomie (Behavioral Economics) untersu- er beim Schreiben Marketing ist heute so selten wie ein Kolibri chen schon seit Jahrzehnten, warum sich Men- schmunzelt. Eine am Nordpol. schen verhalten, wie sie sich verhalten, warum aberwitzige Figur Der Berner hat recht: Das Sturmgeschütz sie sind, wie sie sind. Und doch werden die steht im Zentrum des Kapitalismus hat Ladehemmung. 2016 ­psychologischen Erkenntnisse der Verhalten- des Romans: Johan- ­verzeichneten 259 Unternehmen auf der sökonomie, die im Fall von Kahneman und nes Hosea­ Stärckle, «Fortune 500»-Liste sinkende Umsätze. Im Thaler zu Wirtschaftsnobelpreisen führten, Charles Lewinsky. ein hochbegabter Jahr darauf zeigte eine Umfrage unter 300 000 von den Marketingverantwortlichen fast Lügner und Hoch- Konsumenten in 33 Ländern, dass sie auf gänzlich ignoriert. stapler, der im Gefängnis sitzt und sein Leben 74 Prozent der Marken, die sie verwenden, aufarbeitet. Wobei man nie weiss, ob die Ge- ­verzichten könnten. Kreative Schubse schichten über seine Lügen nicht auch wieder Wer ist schuld daran? Laut Steinmann ist es Ziemlich speziell. Denn Ariely und Co. unter- Lügen sind. Jedenfalls, dieser Lügner lügt so die Mutlosigkeit der Werbeauftraggeber, die suchen, wie wir Menschen Entscheidungen lustvoll und gekonnt, dass ihm sämtliche Sym- ihrem Unternehmen kein klares Profil verlei- treffen. Und was anderes ist ein Kauf als eine pathien zufliegen. Dass er sich selbst mit dem hen, weil sie auf brave, austauschbare Wer- Entscheidung? Darüber hinaus lehrt die Ver- Meister-Kunstfälscher Beltracchi vergleicht, bung setzen. Aber stimmt das? Ist nicht der haltensökonomie, dass es keine teuren Werbe- passt: Es ist eine hohe Kunst, die Stärckle be- Hauptgrund für die zunehmende kampagnen braucht, um das ­Ver- herrscht, mit der er viel Geld ergaunert, die ihn Wirkungslosigkeit von Werbung halten von Menschen zu beein- aber auch ins Gefängnis bringt. deren Omnipräsenz? Tatsächlich flussen. Es reicht, wenn man in Als Kind diente dem stotternden Jungen die sind wir von kommerzieller Kom- ­ihrem Hirn die richtigen Knöpfe Lüge als Mittel zur Selbstverteidigung. «Der munikation umgeben wie der drückt. Moment, in dem ich diese Fähigkeit in mir ent- Fisch von Wasser – und nehmen Nehmen wir ein Unterneh­- deckte, war ein Wendepunkt für mich.» Später Werbung darum kaum mehr men, das die Gesundheit seiner machte er ein Geschäft daraus, etwa als Enkel­ wahr. Selbst dann, wenn sie «krea­ Mit­arbeiter fördern will. Ein trickbetrüger, der mit wohlformulierten Brie- tiv» ist, also grundsätzlich auffal- Werber würde in einem solchen fen alten Frauen ihr Vermögen abnimmt. len sollte. Fall dazu ­raten, eine Sensibilisie- Lewinsky beherrscht wie Stärckle jedes Text- Trotzdem findet in der Werbe- Es reicht, wenn rungs­kampagne zu starten, mit genre, vom Sitcom-Drehbuch bis zur hoch­ branche keinerlei Diskussion man im Hirn Bannern im Intranet, Inseraten stehender Literatur. Die beiden weisen viele ­darüber statt, wie sie für ihre in der Firmenzeitschrift, Plaka- Ähnlichkeiten auf, bloss, dass der Autor sein ­Auftraggeber relevanter werden die richtigen ten in den Fluren. Ein Verhaltens­ Talent nicht für kriminelle Zwecke einsetzt. könnte. Stattdessen entwickeln Knöpfe drückt. ökonom hätte eine andere und Wie viel Spass es Lewinsky macht, Stile zu imi- die Werber einfach die nächste – deutlich günstigere Idee. Näm- tieren, zeigte er schon im Buch «Schweizen», am liebsten digitale – Kampagne, lich die, in der Kantine Spiegel wo er in 24 Textarten Zukunftsvisionen für die um das zu tun, was sie schon seit hundert Jah- aufzuhängen. Dann würden die Mitarbeiter Schweiz entwarf. Im neuen Buch erklärt seine ren tun: die Menschen dann stören, wenn sie ihre überzähligen Pfunde sehen – und öfter Haupt­figur: «Geschichtenerfinder müssen gerade Besseres vorhaben. Dabei sollten sich zu Salat und Früchten greifen. keine Bekenner sein, sondern gute Lügner. die Werber einmal eine einfache Frage stel- Solche cleveren kreativen Schubse findet man Wer ein Märchen erzählt, muss an Feen und len: Welche bedeutende neue Marke der letz- in verhaltensökonomischen Experimenten zu- sprechende Tiere nicht glauben. Er muss sie ten Jahrzehnte wurde durch Werbung ge- hauf. Zwei Beispiele: Klebt in Urinalen eine nur so beschreiben können, dass der Leser da- schaffen? Starbucks? Amazon? Google? Fliege, geht 85 Prozent weniger auf den Boden, ran glaubt, und selbst das nur für den kurzen Fehlanzeige. denn Männer wollen zielen. Machen Müll­ Moment der Lekture.» Worte, die genauso gut Die Wahrheit ist: Von allen Formen, wie eimer dank Sensoren lustige Geräusche, ist das aus einem Interview mit Lewinsky stammen Kreativität zur Erreichung von Unterneh- Littering-Problem gelöst, denn die korrekte könnten. Rico Bandle menszielen beitragen kann, ist Werbung bei Müllentsorgung macht auf einmal Spass. weitem nicht die effizienteste. Zwar holt eine Dieses letzte Beispiel zeigt auch, dass eines kreative Kampagne aus einem Werbebudget der grundlegenden Axiome der Werber Un- mehr heraus – es braucht aber immer noch sinn ist: dass es nämlich für eine Verhaltens­ ein Werbebudget. änderung eine veränderte Einstellung braucht Was sollten die Marketingverantwortli- (Erst das Denken, dann das Tun). Tatsächlich Charles Lewinsky: Der Stotterer. chen tun? Vielleicht nicht länger immer mehr lässt sich das Verhalten von Menschen direkt Diogenes, 416 S., Fr. 32.-. Geld für Werbung ausgeben, die immer weni- verändern. Mehr noch: Nachdem ein cleverer

58 Weltwoche Nr. 14.19 Bild: Christian Beutler (Keystone) Sprache Die Schreibe Heute darf man selbst Opernaufführungen geil finden.Von Max Wey

ie Rede ist von der Schreibe. Gemeint ist Dder Schreibstil. Sprachpuristen sträuben sich die Nackenhaare, wenn sie das Wort, das als umgangssprachlich gilt, vernehmen. In die deutsche Sprache eingeführt hat es wahr- scheinlich Friedrich Theodor Vischer (1807– 1887). In seinem Werk «Das Schöne und die Kunst» steht der Satz: «Eine Rede ist ein für allemal keine Schreibe.» Kurt Tucholsky hat ihn mehr als einmal zitiert. Der Ausdruck «flotte Schreibe» ist ab 1910 belegt.

Meine Fresse! Müssen wir jetzt jedes Mal die Nase rümpfen, wenn von der Schreibe die Schreibe ist? Klar ist, dass umgangssprachliche Ausdrücke nicht in jeden Text passen. Über die Schreibe eines ­Thomas Mann oder eines Max Frisch habe ich noch nichts gelesen. Wohl aber über Martin ­Suters Schreibe, die laut Srf.ch süffig und mit schnellen Dialogen gespickt sein soll. Er habe seine Schreibe amerikanisiert, schrieb die deut- sche Zeit über Joël Dicker. Auszuschliessen ist es ja nicht, dass Queen Elizabeth in ihren Privat- gemächern schon mal in lautes Gelächter aus- gebrochen ist. Ob sie sich schon mal auf die Schenkel geklopft hat? Wir wissen es nicht. Aber auch wenn wir es wüssten, würden wir von der Lache der Königin sprechen? Meine Fresse! Nein, Ihre Majestät hat keine Lache. Erst das Denken, dann das Tun: Marketingstratege Steinmann. Immerhin darf man feststellen: «Schreibe» ist eine korrekte Bildung nach dem Vorbild von Schubs sie dazu brachte, ihren Abfall korrekt Für den Economist erhöhte sich dadurch der zum Beispiel «Durchreiche», «Suche» und zu entsorgen, bezeichnen sich Menschen durchschnittliche Verkaufspreis pro Abo von «Liege», weiblichen Substantiven, die von plötzlich als umweltbewusst (Erst das Tun, 80 auf 114 Dollar – eine Steigerung von 43 Pro- ­einem Verb gebildet sind und auf -e enden. dann das Denken). zent. Und, ganz genau: Die Einführung dieser ­Viele von ihnen wie «Fresse», «Lache», Geradezu sträflich ist es für jeden Marke- dritten und vermeintlich unsinnigen Abo-­ ­«Mache», «Schütte» oder «Spüle» stehen nicht tingleiter zudem, wenn er die wirksamen psy- Option kostete das Magazin keinen Rappen. nur im Duden, sondern sind auch schon im chologischen Effekte ignoriert, welche die Ver- Fazit: «Marketing mit verbesserter Formel» Wörterbuch der Brüder Grimm aufgeführt. haltensökonomie untersucht. Zum Beispiel lehrt Cary Steinmann in seinem vergnüglich Wörter aus der Umgangssprache mausern sich den «Köder-Effekt», dessen Macht unter ande- zu lesenden Buch nur bedingt. Dafür hängt er manchmal und nisten sich in der Standard­ rem das Magazin The Economist nutzte. zu sehr den guten alten Zeiten nach, in denen sprache ein. Man denke nur an das in der Be- Werbung noch die Durchschlagskraft eines deutung von «grossartig» aus der Jugendspra- Mike Tysons Durchschlagskraft Mike Tyson hatte. Als frühe Memoiren des che stammende Adjektiv «geil»; heute darf Auf ihrer Website machte die Zeitschrift Rockstars unter den Schweizer Marketingpro- man selbst Opernaufführungen geil finden. ­potenziellen Lesern folgendes Angebot: ein rei- fessoren ist «Jetzt neu!» aber grandios. Die deutsche Tageszeitung Handelblatt nes Online-Abo für 59 Dollar oder ein kombi- schrieb in einem Nachruf über Marcel Reich-­ niertes Print- und Online-Abo für 125 Dollar. Ranicki: «Alle diese Kämpfe haben ihn nach Das Resultat: 68 Prozent der Abonnenten wähl- aussen hin gestählt, haben seine Zunge und ten das Online-Abo und 32 Prozent das kombi- seine Schreibe zu wirksamen Waffen ge- nierte. Als eine dritte und an sich unsinnige macht.» Der Schweizer Dichter Gerhard Meier Cary Steinmann: Jetzt neu! Abo-Option eingeführt wurde – ein reines Marketing mit verbesserter Formel. hat mehrmals von seiner Schreibe gesprochen. Print-Abo für ebenfalls 125 Dollar –, wählten NZZ Libro. 200 S., Fr. 38.90.– Wir werden weiter von der Schreibe hören. neu 84 Prozent der Abonnenten das Kombi- Dominik Imseng ist Managing Partner beim Aber jetzt muss ich zur Tanke. Dann hock ich und nur noch 16 Prozent das Online-Abo. Beratungsunternehmen Smartcut Consulting in Zürich mich vor die Glotze.

Weltwoche Nr. 14.19 59 Bild: zVg