Nr. 3 | 31. März 2019

Coverstory Kinder RogerFederer Grossbritannienschottet sichab. SollichMutter Biografieüber Schuld daranseiauchdieKunst, werden?, fragen einenMeister schreibt A.L.Kennedy sichAutorinnen derKontrolle 14 4 26 NZZLITERARISCHESTERZETT DiebestenBücherder Saison – eine Literaturdebatte

Jede Saison aufs Neue erscheinen unzähligelesenswerte Bücher. Um Ihnen die Datum Auswahl etwas zu erleichtern, stellen drei NZZ-Literaturredaktoren und ein Dienstag, 16. April 2019 prominenter Gast Ihnen vieldiskutierte Titel der Saison vor, dieanschliessend 18.30bis 20.00Uhr aufdem Podium erörtert werden. Es erwartet Sie eine inspirierende Debatte mit anschliessendemApéro über belletristische Schätze. Ort Podiumsteilnehmer NZZ-Foyer, Falkenstrasse 11, 8008 Zürich

Eintritt Abonnentenpreis Fr.30.– Normalpreis Fr.40.–

Anmeldung nzz.ch/live 044 258 13 83

Miriam Maertens ManfredPapst Thomas Ribi Schauspielerinund Autorin Autor Kultur Redaktor Feuilleton «NZZ am Sonntag» «Neue Zürcher Zeitung» Moderation

Claudia Mäder Redaktorin Feuilleton «Neue Zürcher Zeitung» Inhalt

Dieses «Bücher am Sonntag» schickt Ihnen eine Flaschenpost, abgeschickt wurde sie auf einer Insel jenseits der Normalität. Verschickt hat die Schriftstellerin A. L. Kennedy. Die in London lebende Schottin richtet sich in ihrem Essay an den Rest der Welt und versucht zu erklären, wie es zur mentalen Distanz der Britinnen und Briten zu Europa gekommen ist (S. 14). Die Tendenz zur Abschottung bestehe schon lange, schreibt Martina Läubli, Kennedy, auch in der Kultur. Zum Beispiel werden in Grossbri- Redaktionsleiterin «Bücher am Sonntag» tannien kaum Bücher aus anderen Ländern und Sprachen gelesen. Der Anteil übersetzter Bücher liegt seit Jahrzehnten bei knapp 5 Prozent. Die Autorin interpretiert das als Selbstbezo- Bessernicht genheit: «Je mehr unser Gefühl für andere Länder verarmte, desto wichtiger nahmen wir uns selbst.» Nun lese ich aber im alleinaufeiner «Guardian» von einem «Boom» europäischer Literatur in Gross- britannien. Hat der Brexit-Entscheid etwa zu einem Gegentrend geführt? Zu einem neuen Interesse der Briten an der Welt? Bei Inselsitzen genauerem Hinsehen entpuppt sich der Literatur-Boom als sehr bescheiden: 5,5 Prozent aller britischen Bücher sind Überset- zungen, das Wachstum beträgt gerade einmal ein halbes Prozent. Im deutschsprachigen Raum liegt die Übersetzungs- rate bei etwa 12 Prozent, die Diversität der Stimmen ist ver- gleichsweise hoch. Profitieren wir also von diesem Reichtum, greifen wir zu Büchern unterschiedlicher Herkunft! Allein auf einer Insel zu sitzen, wird schnell langweilig. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre – und viel Freude beim Betrachten unserer neuen Bildserie «Lesewelten», diesmal mit Cary Grant (S. 28). Martina Läubli

Nr. 3 | 31. März 2019

Belletristik NTIS Sachbuch Coverstory Kinder Roger Federer Grossbritannienschottetsich ab. SollichMutter Biografie über SchulddaranseiauchdieKunst, werden?,fragen einenMeister schreibt A.L.Kennedy sichAutorinnen derKontrolle 14 4 26 ATLA 4 Sheila Heti: Mutterschaft / 18 Volker Gerhardt: Humanität SS

Ariana Harwicz: Stirb doch, Liebling GRO Heinz Bude: Solidarität 6 Jewgeni Wodolaskin: Der Luftgänger RD 20 Erica Fischer: WI

7 Niko Stoifberg: Dort IND Feminismus revisited

8 Matthias Nawrat: Der traurige Gast SENK Hermann Kurzke: Was mein Vater mir HA

9 Bela B. Felsenheimer: Scharnow N nicht erzählte EI -

Schaefer & Hachmann: L 21 Ruth Schweikert: Es war einmal in Amerika ME Tage wie Hunde

10 Eveline Hasler: STUM 22 Davide Enia: A. L. Kennedy Tochter des Geldes Schiffbruch vor Lampedusa (Seite 14). 11 Susanne Kronenberg: Harald Welzer: Illustration von Tod am Bauhaus Alles könnte anders sein André Carrilho 23 Michail Schischkin: Kurzkritik Belletristik Die Illustratorin Kathrin Schärer erschafft Tote Seelen, lebende Nasen Tierfiguren mit Charakter und Charme (S. 12) 24 Bartholomäus Grill: 11 Thomas Meyer: Meyers Kleines Wir Herrenmenschen Taschenlexikon Kolumne Martha Nussbaum: Marko Dinić: Die guten Tage Königreich der Angst Elisabeth Wandeler-Deck: 17 Lukas Linder 25 Elizabeth Anderson: Tagumtagkairo Mein Leben als Mensch Private Regierung Lisa Elsässer: Erstaugust 26 René Stauffer: Kurzkritik Sachbuch Roger Federer Kinder- und Jugendbuch Das amerikanische Buch 17 Abbas Khider: Deutsch für alle David Treuer: The Heartbeat of 12 Die Illustratorin Kathrin Schärer Irina Scherbakowa: Wounded Knee Ich glaube an unsere Kinder. Briefe Essay aus dem Gulag Agenda Lee Crutchley: 14 In Grossbritannien hat die Kunst Tagebuch für Schlaflose 27 Werner Spies: Max Ernst und die versagt Benjamin Balint: Geburt des Surrealismus von A. L. Kennedy Kafkas letzter Prozess Bestseller März 2019

Chefredaktion Luzi Bernet (lzb.) Redaktion Martina Läubli (läu., Leitung), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Lukas Linder, Victor Mauer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Katja Schönherr, Sacha Verna, Jürg Zbinden Produktion Daniela Salm, Björn Vondras (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Mark Walter (Layout) Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 2581111, Fax 044 2617070, E-Mail: [email protected] 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik

Romane Kinder – ja oder nein? Diese Lebensfrage erörtern derzeit mehrere Schriftstellerinnen auf ganz unterschiedliche Weise Diegrosse Entscheidung

Erzählfigur am Ende selbst für Heti un- der Sprache beim Thema «Kinderlosig- Ariana Harwicz: Stirb doch, Liebling. möglich machen: «Mein Charakter im keit». Denn bezeichnen lässt sich nur der C.H.Beck, München 2019. 128 Seiten, Buch ist eine Mischung aus mir und einer Mangel, nicht aber das, was stattdessen um Fr. 29.–, E-Book 17.–. Person, die ich werden muss, um meine da ist: Freiheit, Selbstbestimmung, Zeit. Sheila Heti: Mutterschaft. Rowohlt, Geschichte zu erzählen. Ich muss das so Für Hetis Erzählfigur kristallisiert sich als Reinbek bei Hamburg 2019. 220 Seiten, angehen, um die Probleme, die sich mei- ein Stattdessen immer mehr die Kunst um Fr. 34.–, E-Book 23.–. ner Protagonistin stellen, zu verarbeiten. heraus, die dem eigenen Leben Sinn ver- Ich glaube, wenn ich dieses Buch nicht leiht. Und doch: Einen Schlussstrich zu Von Katja Schönherr geschrieben hätte, hätte ich mich selbst ziehen, ist unmöglich: «Manchmal scheint nicht mit der Frage gequält, ob ich Kinder es für die Frage, ob man Kinder bekom- «Ob ich Kinder will, ist ein Geheimnis, das haben will oder nicht. Aber um das Buch men sollte, nur eine Lösung zu geben – ich vor mir selbst verberge – das grösste zu schreiben, musste ich diese Seiten welche zu bekommen. Denn selbst wenn Geheimnis.» In ihrem neuen Buch ver- von mir hervorbringen», erklärte Heti in man den entschiedenen Vorsatz gefasst sucht die kanadische Autorin Sheila Heti, einem Interview mit der Frauenzeitschrift hat, keine zu bekommen, schwebt über es zu lüften. «Mutterschaft» heisst das «Annabelle». einem weiter das Gespenst, man könnte semifiktionale Werk mit einer Ich-Erzäh- vielleicht doch eines bekommen.» lerin in ihren späten Dreissigern, die sich Voyeurismus und Reflexion Für die grundsätzliche Ob-Frage ist es auf 220 Seiten durch diese Lebensfrage Genau dieses Vorgehen macht einen der bei der Protagonistin aus Ariana Harwicz’ quält. Und sie quält sich wirklich: Sie Reize von «Mutterschaft» aus: Es befrie- Roman «Stirb doch, Liebling» schon zu weint, wirft Münzen, träumt Fürchter- digt die voyeuristische Lust, tief ins See- spät. Sie hat einen kleinen Sohn. Sein liches, befragt Wahrsagerinnen. Von sämt- lenleben einer grübelnden, mit sich selbst sechster Monatstag steht an: «Immer, lichen Freundinnen, die – scheinbar ein- ringenden Frau zu blicken, während man wenn ich das Kind anschaue, erinnere ich fach so, ohne darüber nachzudenken – trotzdem im Unklaren darüber bleibt, wel- meinen Mann hinter mir, wie er fast auf Kinder in die Welt setzen, fühlt sie sich che Regung nun Heti zuzuordnen ist und meinem Rücken abspritzt, als ihm plötz- genauso im Stich gelassen wie von ihrem welche dem fiktionalen Ich. lich einfällt, mich umzudrehen und ein- Freund, der die Entscheidung allein ihr Ein weiterer Reiz: Nicht nur die Erzähl- zudringen, in letzter Sekunde. Hätte er überlässt (und den man als Leserin für stimmen verschwimmen, sondern auch nicht diese Eingebung gehabt (...), müsste diese Ignoranz am liebsten kräftig durch- die Genregrenzen. Zwar ist der Text als ich jetzt nicht zur Bäckerei gehen, um schütteln möchte). Roman ausgewiesen, doch bei all dem Kerzchen und eine Crème- oder Schoko- «Es liegt eine Art Traurigkeit darin, Abwägen, all dem Verfolgen von Argu- ladentorte zu kaufen.» etwas nicht zu wollen, was dem Leben so mentationssträngen wirkt er stellenweise Dieser zynische, von Welthass geprägte vieler anderer Bedeutung verleiht», ist ihr wie ein Essay. Um eine Reflexion von Rol- Ton zieht sich durch den gesamten Credo an dem einen Tag. Am nächsten lenbildern und gesellschaftlichen Erwar- Roman, der in der französischen Provinz gewinnt der Kinderwunsch wieder Ober- tungen kommt er dabei natürlich nicht spielt, wo sich die namenlose, aus einem hand. Durch diese Gefühls- und Ge- herum. So wird mehrfach über die Stig- anderen Land stammende (aus welchem, dankenschwankungen begleitet man die mata gesprochen, die Nicht-Müttern bis wird nicht gesagt) Ich-Erzählerin fremd Protagonistin, wobei es schwerfällt, sie heute anhaften: «Eine nicht mit Kindern fühlt; sowohl fehl am Platz als auch falsch nicht mit Sheila Heti gleichzusetzen. Denn beschäftigte Frau hat etwas Bedrohliches. in ihrer Rolle: «Wie konnte es sein, dass die Schriftstellerin, 1978 in Toronto ge- Man hat das Gefühl, sie sei irgendwie un- ich, eine schwache, gestörte Frau (...), boren, ist bekannt für ihre Vermengung fertig. Was wird sie stattdessen machen? Mutter und Ehefrau dieser beiden von Autobiographischem und Fiktion, für Was für einen Ärger?» Wesen war?» ihre performativen Ansätze beim Schrei- Eine der schönsten Stellen in Hetis Familienidylle, Alltagsroutinen, Nach- ben, die eine Trennung von Autorin und Buch ist jene über die Unzulänglichkeit barschaft – all das erträgt die Hauptfigur 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Sheila Heti und Ariana nicht. Vielmehr wird sie von Mordphan- Harwicz fragen: tasien, sexuellen Träumen und surreal- Warum sollte es mystischen Naturbildern heimgesucht. selbstverständlich sein, Kinder zu Während sie für die Gefühle anderer kei- bekommen? nerlei Kapazitäten besitzt, dringen viel zu viele Sinneseindrücke zu ihr durch. Ihr Verhalten gleitet schliesslich ab ins Psy- chotische: In der Sommerhitze lässt sie das Kind im geschlossenen Auto und be- obachtet, als ginge es sie nichts an, den Aufruhr, der beim Anrücken der Rettungs- kräfte entsteht. Oder sie schaut zu, wie der Junge auf den Kamin zu stapft, vermu- tend, dass er sich gleich verbrennen wird. Sie behält recht: Er verbrennt sich. Gefangen in der Mutterrolle Die Autorin, Ariana Harwicz, kam 1977 in Buenos Aires zur Welt. Inzwischen lebt sie als Schriftstellerin und Dokumentarfilme- rin in Frankreich. Mit «Matate, amor», so der Titel der spanischsprachigen Original- ausgabe, genoss sie international bereits Erfolg. Dagmar Ploetz hat das Werk nun ins Deutsche übertragen. 126 beklem- mende und zugleich mitreissende Seiten. Auf wen sich der Buchtitel bezieht? Der mehr ab- als anwesende Ehemann könnte mit «Stirb doch, Liebling» gemeint sein. Doch vieles deutet darauf hin, dass er auf das Kind abzielt, denn: «Ich bin Mutter. Punkt. Ich bereue es, kann das aber nicht einmal sagen. Wem?» Oder: «Die anderen sagen gleich nach dem Gebären, ich kann mir mein Leben ohne das Kind nicht mehr vorstellen, als wäre es schon immer da gewesen. Pfff.» Stilistisch deutlich hervorstechend, sind Harwicz und Heti zwei von mehreren Gegenwartsautorinnen, die sich jüngst mit der Ablehnung oder zumindest dem kritischen Hinterfragen des Mutterseins befasst haben. Schlagwort: «Regretting Motherhood». Die Bezeichnung, die als- bald via Social Media die Runde machte, geht zurück auf eine im Jahr 2015 publi- zierte Studie der israelischen Soziologin Orna Donath. Sie befragte dafür 23 Frauen, die angegeben hatten, ihre Kinder zwar zu lieben, sich in ihrer Rolle als Mutter aber gefangen zu fühlen. Literarischen Niederschlag fand das Thema seither etwa bei Charlotte Roche («Mädchen für alles», Piper 2015) oder Zsuzsa Bánk («Schlafen werden wir spä- ter», S. Fischer 2017). In «Die Liebe im Ernstfall», soeben bei Diogenes erschie- nen, lotet Daniela Krien die Folgen von Kindern auf Liebesbeziehungen aus. Auf Sachbuch-Ebene meldeten sich beispiels- weise Antonia Baum («Stillleben», Piper 2018), Sabine Rennefanz («Mutter to go», btb 2019) und Verena Brunschweiger («Kinderfrei statt kinderlos», Büchner 2019) zu Wort. Männliche Autoren hingegen, die ihre Vaterrolle tiefgehend, fernab des humo- rigen Ratgebersegments, analysieren oder sich Gedanken über die negativen Folgen einer Kinderlosigkeit auf ihren gesell- schaftlichen Status machen, sind rar. Die Notwendigkeit zur Reflexion scheint hier nicht allzu gross zu sein. Eine Ausnahme sei genannt: Der Essay «Zusammenleben»

TTY des deutschen Philosophen Leander GE / Scholz ist im vergangenen Jahr bei Hanser EM

EYE erschienen. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman 1930 eingefroren, 1999 wieder belebt: Jewgeni Wodolaskin erzählt tollkühn von der Sowjetunion RussischeGeschichte imKonjunktiv

ger» kreist obsessiv um das Eisloch der meintlich bedeutungslose Schnipsel der Jewgeni Wodolaskin: Der Luftgänger. Geschichtsvergessenheit und die Wieder- Vergangenheit werfen grosse geschichts- Deutsch von Ganna-Maria Braungardt. belebung der Vergangenheit – ein Thema, philosophische und moralische Fragen Aufbau 2019, 429 Seiten, um Fr. 37.–, das derzeit so unterschiedliche russische nach historischer Gerechtigkeit und dos- E-Book 21.–. Autoren wie Sergei Lebedew oder Gusel tojewskischer Schuld und Sühne auf. Jachina umtreibt. Wodolaskins tollkühnes Gedanken- Von Sabina Meier Zur Wodolaskin nimmt dafür eine science- experiment ermöglicht abgründige Kon- fictionartige Versuchsanordnung an: Der frontationen. So steht der auferstandene Erinnerungsfetzen: kalte Ohren im Win- Häftling Platonow wird im Gulag in den Platonow am Krankenbett seiner hoch- ter, ein abscheulicher Streit, eine Toten- 1930er Jahren im Rahmen eines kyberne- betagten, bereits unansprechbaren Anas- feier. Ein Mann kommt zu sich in einem tischen Experiments eingefroren. Nun, im tassija. Das Kind, das er nach ihrem Tod weissen Krankenzimmer und weiss nicht, Jahr 1999, ist es gelungen, ihn aufzutauen mit ihrer Enkelin Nastja zeugt, hätte wo und in welchem Jahr er sich befindet. und wiederzubeleben. Der 99-Jährige, eigentlich ihres sein sollen, «wäre die rus- Nicht einmal mehr seines Namens ist er aber vom biologischen Alter her dreissig- sische Geschichte nicht so stockfinster sich sicher, als der Arzt ihn anspricht: jährige Halbtote, der zunächst an totaler verlaufen». Doch in der literarischen «Und Sie sind Innokenti Petrowisch Plato- Amnesie leidet, erhält den ärztlichen Auf- Fiktion ist eine zweite Chance möglich, now, nicht wahr?» Nach und nach tauchen trag, Tagebuch zu führen. Seine Erinne- die Geschichte erhält einen Konjunktiv. Bilder einer idyllischen Kindheit auf. Som- rungen entzünden sich manchmal an Im Modus der Fiktion kann Platonow merfrische auf der Datscha, winterliche einem einzelnen Wort, manchmal an sinn- entgegen aller Wahrscheinlichkeit sogar Szenen einer Grossstadt und die aufge- lichen Eindrücken, einem Geruch oder seinem grausamen Peiniger, dem Lager- heizte Stimmung der Revolutionsjahre Klang. Das Wort «Aviator» zieht Platonows schergen Woronin, entgegentreten. Hier vermischen sich mit der eisigen Hölle Bubentraum und den Fliegerkult der Jahr- gibt es jedoch kein Jüngstes Gericht und des Lagerlebens auf den Solowki-Inseln. hundertwende wie an einem Faden her- keine Gerechtigkeit. Der pensionierte Fol- Tröpfchenweise weiten sich die Erin- vor. Der Duft von gestärkter Wäsche der terknecht merkt nur an: «Erwarte keine nerungsflecken zum löchrigen Flicken- Krankenschwester weckt den Namen sei- Reue.» Und wenig später: «Ich bin müde.» teppich einer Biografie und einer Epoche. ner ersten Liebe: Anastassija. «Luftgänger» ist ein raffiniertes, intel- Der russische Schriftsteller und Philo- Es sind die Kleinigkeiten des Alltags im lektuelles und doch unterhaltsames Kalei- loge Jewgeni Wodolaskin, Jahrgang 1964, Fahrwasser der geschichtlichen Ereig- doskop der Geschichte, das am Ende sogar wurde 2014 für seinen historischen nisse, die Platonow aufspürt. Seinem ein kriminologisches Geheimnis verbirgt. Roman «Laurus» über einen mittelalter- Ethos als «Lebensbeschreiber» gemäss Das Buch mag teils zu konstruiert sein und lichen Heiler gefeiert. Sein neuer, elegant versucht er, über diese Winzigkeiten hat auch Längen – letztlich besticht es auf Deutsch übersetzter Roman «Luftgän- an die Vergangenheit anzuknüpfen. Ver- durch kunstvoll vertrackte Phantasie. ●

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6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Roman Das Debüt eines Autors zu lesen, mit dem man zehn Jahre lang liiert war, hat nichts mit bisherigen Leseerfahrungen zu tun. Eine persönliche Lektüre von Niko Stoifbergs Buch «Dort» Expedition indieSeele einesMenschen

Niko Stoifberg: Dort. UNG EIT Nagel & Kimche 2019. 328 Seiten, Z um Fr. 32.–, E-Book 20.–. NER ZER LU /

Von Denise Bucher SER RGIS BÜ S Auf diesen Roman habe ich 18 Jahre lang RI BO gewartet. Zehn davon war ich Niko Stoif- bergs Freundin. Das Debüt von jemandem zu lesen, mit dem man so lange alles ge- teilt hat, ist anders als alle bisherigen Leseerfahrungen. Wann hat man es schon mit einem Werk zu tun, von dessen Autor man weiss, wie er im Schlaf aussieht? Wenn er weint? Oder wochenlang über etwas grübelt und nichts dazu sagt, bis die Gedanken gar sind? Das Werk von jeman- dem, dessen Gedankenwelt man kennt, weil man wiederkehrende Themen immer wieder diskutiert hat? Zum Beispiel: Nichts hat einen Sinn, schon gar nicht das Leben, alles ist Zufall. Oder: Es gibt keinen freien Willen. Wir handeln, wie wir han- deln, weil wir aufgrund von Erbgut und Erfahrungsschatz so sind, wie wir sind. So gesehen gebe es keine Schuld, findet Niko Stoifberg, sie sei ein moralisches Kon- strukt. Das müsste uns spätestens seit 1999 Die gelbe Lieblings- könnten, ein Film, der Niko fasziniert hat. trolle, dem Widerstreit zwischen Diony- klar sein, als das Chromosom 22 als erstes jacke von Niko Sebi wird zum Gefangenen in einem Ge- sischem und Apollinischem, der auch das menschliches vollständig entschlüsselt Stoifberg, 42, spielt fängnis ohne Gitterstäbe. Was ihn festhält, Werk von Thomas Mann prägt. Niko ver- eine wichtige Rolle in und unsere Art entmystifiziert wurde. Weil seinem Roman. sind seine Schuldgefühle. ehrt ihn. Bei ihm selbst kommt das Motiv zwölf Nikos Lieblingszahl ist, beginnt «Dort» ist fiktiv, aber doch ist mir vieles aber weniger prätentiös daher, allein «Dort» am 12. August 1999. Der Roman hat vertraut, weil es an Orten spielt, an denen durch den Kontrast zwischen abgründiger zwölf Kapitel. Der Zufall bringt die Prot- wir uns damals bewegt haben: der Quai, Handlung und zurückhaltend strenger agonisten an den Rand des Abgrunds und der See, das Café du Lac, und vor allem Form: Die Hohwand ist im ersten Teil als einige darüber hinaus. Die Frage nach der die Hohwand mit Wandweg und Aus- Reflexion auf dem Wasser bereits sichtbar, Schuld ist es, um die sich alles dreht. sichtsplattform, wo Sebi einen seiner der See ist wie eine Achse, an der sich alles Stege bauen soll und wo nachts unheim- spiegelt. Das Wort «dort» kommt genau Gefängnis ohne Stäbe liche Lichtlein leuchten. So haben beim zweimal vor: in der Mitte des Romans, wie Im Zentrum von «Dort» steht Sebastian ersten Lesen ständig Erinnerungen in die ein Scharnier. Zünd, ein sehr von sich überzeugter Gar- Handlung hineingefunkt, wie ein Stör- tenbauer, berühmt geworden mit einem sender. Ich habe Details gefunden, von Die Sprache lullt ein künstlerischen Konzept namens «nature denen ich glaubte, die verstehe sonst nie- Innerhalb eines präzise abgesteckten directe»: Er legt Holzstege von Häusern mand. Das macht sentimental und lenkt Handlungsrahmens und eines klaustro- weg in die wilde Natur und behauptet, er vom Denken ab. phobisch engen Beziehungsnetzes droht definiere damit den Garten neu. Am be- Erst beim zweiten Lesen war es mir sich das Leben eines Mannes aufzulösen, sagten 12. August 1999 verliebt er sich, möglich, das alles nüchterner zu betrach- der glaubt, alles sei planbar. In schauder- schwarzhaarig und blauäugig, auf den ten. So nüchtern wie möglich betrachtet haften Träumen drängen nachts die Ängs- ersten Blick in eine geheimnisvolle Frau ist «Dort»: spannend von der ersten Seite te an die Oberfläche, die er tagsüber weg- in weissem Kleid. Sebi glaubt, sie, Lydia, an, aber viel mehr als ein Krimi. Der Ro- zudenken versucht. Etwas vom Schönsten sei alles, was ihm zu seinem Glück noch man ist wie eine Expedition in die Seele an «Dort» ist die rhythmisierte Sprache, fehle. Zu feige, sie anzusprechen, stösst eines Menschen, der etwas Schlimmes die nicht gekünstelt oder distanziert er den mongoloiden Buben in den See, auf getan hat und mit den Konsequenzen wirkt, sondern sinnlich, weil sie so bild- den sie aufpassen sollte. Er will damit ihre kaum leben kann. «Dort» ist ein Abgesang haft ist und fast haptisch anmutet. Sie lullt Aufmerksamkeit erregen. Es gelingt, sie auf die jüngere Menschheitsgeschichte: ein, hält fest und macht schwindlig. Es verfällt ihm, aber das Kind stirbt. 1-8-5-9, der Code zum Bunker, ist das Jahr, ging mir wie Sebi, der oft nicht weiss, ob Was hier am Quai beginnt, entwickelt in dem Charles Darwin «The Origin of Spe- ihn seine Sinne täuschen. sich dort, in einem Luxushotel auf einem cies» publizierte, womit die Wissenschaft Bevor ich diesen Roman endlich lesen Berg namens Hohwand, zu einer schwin- die biblische Entstehungsgeschichte zum konnte, hatte ich heimlich die Hoffnung, delerregenden Tragödie. Lydias Mutter Märchen degradierte, das Leben auf der dass er erklären würde, was mir an Niko Xenia, die auch die Mutter des toten Erde katalogisierte und wohl den Anfang bis heute ein Rätsel ist. Im Kern gleicht Buben ist, weiss, was Sebi getan hat. Sie der Forschung markierte, die es uns heu- ihm sein Antiheld zwar. Sebi ist ein quartiert ihn in einem umgebauten Bun- te, im 21. Jahrhundert, erlaubt, ins eigene schweigender Grübler, ein Träumer mit ker neben dem Hotel ein, wo auch ihre Genom einzugreifen. dem Wunsch, Ordnung ins äussere Chaos zwölf Ouvriers wohnen, Hotelangestellte «Dort» lebt vom Widerstreit zwischen zu bringen, um das innere Chaos zu ord- mit Krankheiten, an denen auch die Figu- Leidenschaft und Chaos und dem gleich- nen. Aber das macht ihn nicht weniger ren in «Freaks» von Tod Browning leiden zeitigen Wunsch nach Ordnung und Kon- rätselhaft als seinen Schöpfer. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Matthias Nawrat streift in «Der traurige Gast» durch und durch die polnische Diaspora VomVerschwinden

tektin vorsprechen liess, die wenigstens Matthias Nawrat: Der traurige Gast. seine Wohnung umgestalten sollte, wenn Rowohlt 2019, 304 S., schon sonst nichts im Leben geschieht. um Fr. 34.–, E-Book 23.–. Aus dem polnischen Opole siedelte der Autor 1989 mit der Familie nach Bamberg Von Judith Kuckart über. Da war er zehn. Er studierte Biologie und wechselte 2009 an das Literaturinsti- «Es könne in einem ein Schwindelgefühl tut Biel. Sein Debütroman «Wir zwei erzeugen, das einen um einen festen allein» erschien 2012. Mit «Der traurige Punkt in der eigenen Person schwanken Gast» war er dieses Jahr für den Leipziger lasse und einem plötzlich klarmache – Buchpreis nominiert. vielleicht jetzt, da der Herbst angebrochen Ja, aus Tagebucheinträgen, die ein sei, ganz besonders –, dass es in einem aktuelles und genaues Bild fest- Matthias Nawrats Wand, jener leere Raum, jene Nichtorte selbst eine Wand gebe, hinter die man halten, muss das Gerüst des Buchs ent- Erzähler reist mit der sind, von denen sie mit ihm bei der ersten niemals schauen könne, weil dort nur lee- standen sein. Überall, in den unterschied- U-Bahn durch Begegnung zu sprechen versuchte. verschiedene Berliner rer Raum sei. Nicht etwa das Nichts, son- lichsten Milieus macht der Erzähler Be- Milieus. Nach gut zwei Dritteln des Buchs be- dern wirklich nichts.» Das sagt die Archi- kanntschaften. Mit dem geliehenen Ohr ginnt das Attentat vom Berliner Breit- tektin, die ihre Wohnung nicht mehr ver- vorneweg verschwindet er in den ande- scheitplatz am 20. Dezember 2016 eine lässt. Der Erzähler im Roman «Der traurige ren, die so zu poetischen Dokumenten Hauptrolle im Leben des traurigen Gasts Gast» kann diese Frau, die so traurig ist und am Ende zu Romanfiguren werden. zu spielen. Er, der mittlerweile auch un- wie er, nicht gleich begreifen. Aber eine Das ist ein ungewöhnliches Verfahren. Im gern vor die Tür geht, schaut in seinem Ahnung befällt ihn, dass sie sich in sein Zuhören verschwindet der Erzähler und Zimmer eine Serie, die Manhattan zur Innerstes hineinredet, dass ihre Verloren- verweist auf ein Paradox: Wer verschwin- Kulisse hat, als der Live-Ticker die Schlag- heit ansteckend ist wie eine Krankheit, det, bleibt. zeile einspielt: Ein Lkw ist auf dem Weih- eine Krankheit zum Tod, die ihn aus dem Matthias Nawrat, Dichter, aber auch nachtsmarkt bei der Gedächtniskirche Leben hinaus und hinein in eine kosmi- Biologe, weiss, dass Erinnertes, Erzähltes in eine Menschenmenge hineingefahren. sche Kälte katapultieren könnte. und Erlebtes gehirnphysiologisch fast das Am Steuer: ein «Soldat des islamischen Er ist eben ein Schriftsteller, dieser Er- Gleiche sind. Dass beim Zuhören die Ge- Staats». Zwölf Menschen sind tot. Die zähler. Sein Autor heisst Matthias Nawrat, schichten eines Fremden sich einschrei- Serie verliert in dem Moment für den 1979 in Polen geboren. Im Roman wandert ben in die Erinnerungen des Zuhörenden, «berufsunfähigen» Schriftsteller jede dieser namenlose Erzähler an der Hand als wären sie ein Stück von ihm selbst. So Wirklichkeitsschwere. des Autors Nawrat von einem Berliner bleibt die Architektin, auch nachdem sie «Ich hatte das Gefühl, irgendwo zwi- Milieu ins andere. Was er beobachtet, wird Selbstmord begangen hat, Anteil in allem, schen Manhattan und meinem Zimmer zu stilistisch überarbeitete Notiz, ist tage- was folgt. Bleibt anwesend in ihrer sein, in einem leeren Zwischenbereich», buchgleich, aber noch nicht gleich Buch. Abwesenheit. Sie ist der gläserne Gast lässt Nawrat ihn aufschreiben. In den Der Erzähler ist wie sein Autor Natur- zwischen den Regalen eines Tankstel- Tagen danach bewegt er sich durch eine wissenschafter. Er schaut genau, ist inte- lenshops, wenn der ehemalige Arzt aus Welt, der man die Veränderung äusserlich ger. Sein linkes Auge ist gemacht für die Lublin beim Auffüllen dort sein Leben nicht ansieht. Doch eine U-Bahn ist nicht Mustererkennung, das rechte hat den rekapituliert, oder sie sitzt im leeren Ses- mehr einfach eine U-Bahn, deren Türen empathischen Blick. Wahrscheinlich hat sel, wenn ein Mann namens Eli im alten sich mit einem Schmatzen öffnen. Die Si- Nawrat immer ein Heft mitgenommen, Westberliner Hotel Savoy, im Ambiente tuation ist die von früher, von immer, aber während er seinen Erzähler durch die einer längst vergangenen BRD beim Rau- doch eine andere. Jede Begegnung in den Stadt streifen, U-Bahn fahren und die pol- chen einer Zigarre nach Rumänien reist. vollen Waggons kann die mit einem nihi- nische Gemeinde in der Diaspora besu- Die Architektin ist über das Grab hinweg listischen Mörder oder einem seiner Opfer chen liess, während er ihn zum Friseur Al anwesend, wenn der Erzähler von Ge- sein. Oder die Begegnung mit einem selbst Hadi und an einer Tankstelle zum Jobben schichte zu Geschichte besser begreift, wo als Toter. Kann Erzählen dieses Gefühl schickte, oder ihn mehrmals bei der Archi- in seiner eigenen inneren Architektur jene rückgängig machen? ●

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«Ein französischer «Doppelleben, Woody Allen.» Dreifachvergnügen.» Le Parisien Le Figaroscope DOUBLES VIES EIN FILM VON OLIVIER ASSAYAS AB DONNERSTAG IM KINO

8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Roman Bela B. Felsenheimer überrascht mit einem Roman über ein Dorf nördlich von Berlin, in dem nichts mit rechten Dingen zugeht DasDebütdesSängersvonDieÄrzte istwitzigundabsurd

nicht genug. In Scharnow gibt es mor- Supermarkt wird von einer Bande sicht- Bela B. Felsenheimer: Scharnow. dende Bücher mit eigenem Bewusstsein. lich betrunkener Nackter überfallen. Um Heyne 2019. 416 S., um Fr. 32.–, Es gibt die Verschwörungstheoretiker in diesem Durcheinander den Überblick E-Book 21.–, Hörbuch 28.–. vom Bund skeptischer Bürger, die die zu behalten, hilft auch das dem Roman Weltenlenker stürzen wollen. Es gibt den vorangestellte Personenverzeichnis nicht Von Lukas Keller Pakt der Glücklichen, die im Alkohol und viel. Dass darin auch leblose Orte zu fin- im Genuss gewaltverherrlichender oder den sind, das Buch mit eigenem Bewusst- Dass in Scharnow, einem kleinen Dorf pornografischer Filme ihre Erfüllung fin- sein und eigenen Gedanken dafür nicht, nördlich Berlins, nicht alles mit rechten den. Und es gibt Pseudo-Neonazi-Eltern, irritiert ebenfalls. Dazu kommt auch noch, Dingen zugeht, wird bereits im kurzen die aus erzieherischen Gründen mit ihrer dass Figuren, die im Laufe der Geschichte Abschnitt, der dem Prolog des Romans Tochter an rechtsradikalen Aufmärschen unter verschiedenen Namen auftreten, als vorangestellt ist, klar. Eine mysteriöse Ge- teilnehmen. zwei Personen aufgeführt werden. Das stalt, ein Schemen fliegt durch eine Als ob das nicht schon für eine span- alles macht die anfängliche Verwirrung Gänseschar und kündigt an, dass im ver- nende Ausgangslage reichen würde, be- des Lesers komplett. schlafenen Kaff bald nichts mehr so sein ginnen Menschen auch noch zu fliegen, Das Multitalent Bela B. Felsenheimer, werde, wie es einmal war. Doch damit Attentate werden geplant, und der kleine am besten bekannt ohne Nachnamen als Schlagzeuger und Sänger der Punkband Die Ärzte, legt mit «Scharnow» seinen ersten Roman vor. Auch wenn das knapp Amerika 300 Jahre Geschichte in Bildern über 400-seitige Werk an einzelnen Stel- len sprachlich ein wenig holprig wirkt, überzeugt Felsenheimer mit einer gelun- genen Figurenzeichnung, Sprachwitz und einer komplex arrangierten Geschichte, die so raffiniert ist, dass man nur bei sehr aufmerksamer Lektüre alle Verstrickun- gen aufschlüsseln kann. So bleiben die Ereignisse zwar absurd und nichts ergibt wirklich Sinn, aber die anfängliche Ver- wirrung legt sich mehr und mehr und weicht purer Unterhaltung. Mit spitzer Zunge persifliert Felsen- heimer alles und jeden: vom käuflichen Literaturblogger über Verschwörungs- theoretiker zu von Actionfilmen inspirier- ten Polizisten und überfürsorglichen Eltern. Was bleibt in diesem gewaltigen Chaos von Sex, Gewalt, Coming of Age, übernatürlichen Vorkommnissen und Weltverschwörung? Es ist die verlotterte und vergessene Provinz, die im nationalen Kontext niemanden interessiert, ge- schweige denn im internationalen. Und so passt es auch, dass Felsenheimer seinen ersten Roman seiner Jugend in Spandau gewidmet hat. «Scharnow» ist das Porträt eines Kaffs, in dem jeder jeden kennt, ohne etwas über den anderen zu wissen. Ein Ort der Perspektivlosigkeit, in dem trotzdem irgendwie alles möglich ist. Die Herausforderung, einen Debüt- roman zu präsentieren, war für Bela B. Fel-

IS senheimer aber noch nicht genug, und so

TER las der erfahrene Synchronsprecher sei- LIT nen Text «Scharnow» auch noch selbst für PRO die ungekürzte Hörbuchfassung ein. Wäh- Es ist ein Buch wie das Land: dick, schwer und unhand- Frau eines Indianerhäuptlings. Als Kolonien gegrün- rend der Anfang etwas monoton daher- lich. Aber wenn man sich darauf einlässt, ergeht es det wurden und die ersten Siedler kamen, waren Por- kommt, steigert sich Felsenheimer im einem wie den Reisenden, die sich mit Greyhound oder träts sehr beliebt. Langsam traten danach die gran- Verlauf, wodurch auch das Hörbuch zu Mietauto zwischen Ost- und Westküste der USA bewe- diose Landschaft und historische Ereignisse in den einem Erlebnis wird. Gerade weil die ver- gen. Die trotz Präsident Trump immer noch einzige Vordergrund. Künstlerisch blieb die europäische Tra- rückte Geschichte so geschickt verstrickt globale Superpower besteht aus tausend Welten, die dition lange Zeit bestimmend. Vollends emanzipiert ist, dass man bei der ersten Lektüre fast neben- und übereinander liegen. Durch eine Zeitreise hat sich amerikanische Kunst erst im 20. Jahrhundert. nicht alles mitbekommen kann, eignet werden sie noch einmal potenziert: 300 Jahre ameri- Edward Hoppers Bilder wie das «Hodgkin’s House» von sich das Hörbuch wunderbar, um ein kanischer Kunst sind in diesem Band versammelt und 1928 wurden zu Ikonen eines modernen Verlorenheits- zweites Mal durch das Buch zu streifen führen uns die Geschichte des Landes vor Augen. Auf gefühls. Selbst wer glaubt, die US-Kunst zu kennen, und noch mehr Geheimnisse aufzuschlüs- den ältesten Bildern halten Künstler erste Begegnun- wird hier Entdeckungen machen. Gerhard Mack seln. Doch zum Glück bleiben selbst dem gen mit dem neuen Kontinent und seinen Bewohnern Barbara Schaefer, Anita Hachmann (Hg.): Es war einmal gründlichsten Leser einige Fragen unbe- fest. Ein Aquarell zeigt Ende des 16. Jahrhunderts die in Amerika. Wienand 2018, 576 S., 600 Abb., Fr. 65.–. antwortet. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Eveline Haslers jüngstes Buch macht aus der Schweizerin Mentona Moser eine repräsentative Figur für die Frühzeit des Sozialismus Wieeine Millionärstochter Kommunistinwurde

Eveline Hasler: Tochter des Geldes. ONE YST

Nagel & Kimche 2019, 288 S. um Fr. 36.–, KE /

E-Book 26.–. RIES O MIRK Von Charles Linsmayer

1895, als ein Römer Fotograf sie fragt, ob sie von einem Prinzen träume, antwortet Mentona Moser, Tochter einer Millionärin und ausnehmend attraktiv: «Nein, ich träume von einer gerechteren Welt!» Wie die für Rousseaus Visionen begeis- terte Berner Patrizierin Julie Bondeli («Tells Tochter»), die ins Irrenhaus getrie- bene Zürcher Juristin Emily Kempin-Spyri («Die Wachsflügelfrau») oder die Elf- jährige, die 1652 in Luzern hingerichtet wurde, weil sie behauptet hatte, Vögel machen zu können («Die Vogelmacherin») wird aus der teilnahmsvollen und doch klaren Optik von Eveline Hasler nun auch die längst vergessene Schweizer Sozial- revolutionärin Mentona Moser zur Sym- ptomfigur für die Höhenflüge und Defizite einer Epoche. Sie ist die Tochter eines früh verstorbenen Schaffhauser Industriellen, der in ihrem Vornamen sein feudales Feriendomizil an der Côte d’Azur verewigt haben wollte. Mentona trotzte der Mutter, die auf Schloss Au am Zürichsee Hof hielt, eine Ausbildung als Krankenpflegerin und Sozialarbeiterin ab, lernte in den Slums Versierte Erzählerin: bürgerin der DDR in einem Ostberliner mersonntagmorgen des Jahres 1921 an den von London das Elend der Armen kennen, Eveline Hasler, Pionierheim und erhielt ein Ehrengrab auf bürgerlichen Kirchgängern vorbei zum bekämpfte in Zürich Analphabetismus fotografiert am dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Greifensee pilgern lässt, wo sie sich in 17.Mai 2016 in Ronco und Tuberkulose, scheiterte zweimal mit im Tessin. Berlin-Lichtenberg. Badekleidern unbeschwert im Wasser und der Gründung von Waisenhäusern – eines Gekonnt wie stets fährt Eveline Hasler in der Sonne tummeln. davon in der Sowjetunion! – und zog, von von Elena Duse bis , von der Mutter und vom Ehemann im Stich Auguste Forel bis Ferdinand Hodler und Ehrenbürgerin der DDR gelassen, als mittellose Gelegenheits- – natürlich! – von Robert Grimm, Fritz Plat- Auch Mentona Moser legt sich in die Son- arbeiterin einen behinderten Sohn auf. ten, Hermann Greulich, Lenin, Clara Zet- ne, «glücklich, den lauen Wind über den Durch den Tod der Mutter schliesslich kin und Rosa Bloch bis das sonst bedeckten Körperteilen zu spüren. doch noch reich geworden, lief sie zu den ganze entsprechende Personal der Epoche Ein Wind voller Versprechen, kam er wohl Kommunisten über, lernte in Russland auf, fokussiert aber immer wieder trick- vom Osten?» Bevor die genügsamen Aus- den Stalinismus fürchten und war bei den und einfallsreich auf diese kuriose linke flügler, begleitet von italienischen Gast- Berliner Genossen engagiert, als Hitler an heilige Mentona. Anders als ihre Schwes- arbeitern und ihrem Lied «La bandiera die Macht kam und sie gerade noch in die ter Jenny, die als Zoologin und Para- rossa trionferà» («Die rote Fahne wird Schweiz entkommen konnte. psychologin Furore machte, konnte sie siegen») in die Stadt zurückwandern, hält einer Lernschwäche wegen nicht studie- Fritz Platten, der 1942 von den Bolsche- Sie glaubte an Utopien ren und widmete sich darum in England, wiken in Russland ermordet werden sollte Die Schweizer Sozialistin wollte, wie sie der Schweiz und Russland ganz der Praxis. und der eine der berührendsten Figuren selber sagte, «das Ende des namenlosen Wobei sie in die tiefsten sozialen Niede- dieses Buches ist, eine auf Karl Marx grün- Elends» herbeiführen, «das aus allen Tei- rungen ihres Jahrhunderts hinabstieg, wo dende «Bergpredigt», die nicht nur eine len der Welt dem horchenden Auge ent- ihr Platz doch eigentlich bei den Reichen soziale, sondern auch eine grüne Utopie gegengellt, aus Fabriken, Hütten armer und Privilegierten gewesen wäre. verkündet. Bauern und versklavter Eingeborenen, Streng historisch wäre einiges nach- Die bereits leicht verwirrte Mentona aus Verbrechervierteln und Zucht- prüfenswert, aber von der Empathie, der Moser aber lässt die Autorin in der Schluss- häusern». Mit dem Zynismus der oberen Leidenschaft her liefert das Buch, das szene des Buches, bei einem Besuch ihres Zehntausend war sie ebenso intim ver- ganz klar ein Roman ist und keine his- Enkels 1970 in Ostberlin, von Clara Zetkin traut wie mit den Grabenkämpfen der torische Analyse, eine erzählerische und Rosa Bloch bis zu Fritz Platten und Linken, für die sie als Funktionärin zum Rehabilitation des vielgeschmähten Kom- Wilhelm Pieck die Protagonisten des kom- Einsatz kam. Aber allen niederschmet- munismus als eine (damals) für viele munistischen Aufbruchs nochmals zu ternden persönlichen Erfahrungen zum glaubwürdige und mit ehrlicher Hingabe einer imaginären Kaffeerunde einladen, Trotz glaubte Moser bis zuletzt unbeirrbar angestrebte Heils- und Glücksvision. als hätte die revolutionäre Illusion, von an die kommunistische Utopie. Von Wil- Charakteristisch dafür ist jene Szene, der Wirklichkeit längst auf brutale Weise helm Pieck in den 1950er Jahren «heim- in der Eveline Hasler die Zürcher Kommu- widerlegt, in ihrem Kopf nicht den ge- geholt», starb sie 1971 97-jährig als Ehren- nisten und ihre Familien an einem Som- ringsten Schaden genommen. ● 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Belletristik Krimi des Monats Kurzkritiken Heisse Thomas Meyer: Meyers kleines Marko Dinić: Die guten Tage. Spuram Taschenlexikon. Salis, Zürich 2019. 160 S., Zsolnay 2019. 240 Seiten, Bauhaus um Fr. 20.–. um Fr. 30.–, E-Book 21.–.

Susanne Kronenberg: Tod am Bauhaus. Gmeiner 2019, 280 Seiten, um Fr. 20.–, E-Book 12.–.

Von Jürg Zbinden Mit dem Roman «Wolkenbruchs wunder- Die Rückkehr ist nicht freiwillig. Der Er- Hundert Jahre Bauhaus: Wenigstens liche Reise in die Arme einer Schickse» ist zähler in «Die guten Tage» fährt nur des- hundert Gründe für die Kriminalautorin der Schweizer Thomas Meyer (*1974) zum halb zurück nach Belgrad, weil seine ge- und Innenarchitektin Susanne Kronen- Bestsellerautor avanciert. Die Verfilmung liebte Grossmutter beerdigt wird. Am berg (Bild), dem Jubiläum anhand eines des Buchs füllt seit Monaten die Kinosäle. liebsten würde er nie wieder einen Fuss in Mordfalls Reverenz zu erweisen. Der Nun legt der Autor unter dem hübschen sein verhasstes Herkunftsland setzen, wo achte Fall der Wiesbadener Privatdetek- Titel «Meyers kleines Taschenlexikon» und «die Fäuste der Männer regieren», wo die tivin Nora Tann führt diese nach Wei- ohne Nennung des Autors auf dem Titel- «Schlächter unter uns weilen, wie ein mar, Wohnsitz der deutschen Geistes- bild ein Büchlein vor, das «rund 150 Stich- schlechter Witz, wie ein Monster unter grössen Friedrich Schiller und Johann wörter von A bis Z und ihre schmählichen dem Bett». Doch nun sitzt der junge Mann Wolfgang Goethe und das Erstdomizil Bedeutungen» behandelt. Man hat es im stickigen Bus und rechnet ab – mit Ser- des von Walter Gropius 1919 begründe- schnell gelesen, denn es enthält pro Seite bien und mit seinem Vater, dem «Stachel- ten Staatlichen Bauhauses. nur ein Stichwort. Manche der Einträge schwein», einem opportunistischen Büro- Eigentlich wollte Nora Tann in Wei- sind originell, andere bloss banal. Dass der kraten, der sich mühelos vom Kommunis- mar einige ungetrübte Ferientage mit Akkusativ ein «in der Schweiz beinahe ten zum Milošević-Anhänger gewandelt ihrem Freund Timon, der beim hessi- ausgerotteter Kasus» ist, wird allenfalls hat. Marko Dinićs Debüt ist ein wütender schen Landeskriminalamt angestellt ist, noch einen müden Lacher provozieren. Monolog eines um seine Zukunft betroge- verbringen. Timon ist bereits in Weimar, Dass «bio» ein «Gaukelbild von Tieren» nen Sohnes, ein Abgesang auf Chauvinis- um eine kleine Erbschaft anzutreten, bezeichnet, «die gern eingesperrt sind und mus und Nationalismus, ein düsterer Anti- aber als Nora sich mit ihm treffen will, freiwillig in den Tod gehen», ist schon Heimatroman. Dinić (*1988) übersetzt die bleibt er wie vom Erdboden verschluckt. wesentlich origineller. Fazit: Das ideale Wut in eine lebendig-derbe, vorwärtsdrän- Die Kulturstadt ist in Aufruhr, denn ein Geschenk für Leute, die keine Zeit haben. gende Sprache, die einen mitzieht. Politiker wurde erschossen. Bald ge- Manfred Papst Martina Läubli schieht ein zweiter Mord, der Nora Tanns Sorgen um Timon potenziert. Susanne Kronenberg verwebt in ihrem Krimi ebenso geschickt wie unter- Elisabeth Wandeler-Deck: Tagumtagkairo. Lisa Elsässer: Erstaugust.Edition Blau, haltsam die Geschichte der Bauhäusler, Edition Howeg, Zürich 2019. 132 S., Zürich 2019. 160 S., um Fr. 26.–. insbesondere der marginalisierten zahlreiche Abbildungen, um Fr. 44.–. Frauen – namentlich die Fotografin Lucia Moholy und die Designerin Alma Siedhoff-Buscher – mit stets aktuellen Themen wie Habgier und blindem Fana- tismus. Dabei interessiert einen die Auf- klärung der beiden Morde bald weniger als das Schicksal des unauffindbaren Timon. Ist auch er nicht mehr zu retten, verliert Nora Tann abermals einen Mann, der ihr nahestand? Im Rollenspiel auf Leben und Tod wir- ken überdies mit: zwei Kater verschiede- Zwei Monate verbrachte die Zürcher Auto- Die 1951 geborene Urnerin Lisa Elsässer, nen Temperaments, ein immens wert- rin Elisabeth Wandeler-Deck gegen Ende die seit vielen Jahren in Walenstadt lebt, voller Kandinsky und ein undurch- des Jahres 2007 in Kairo. Jeden Tag ihres ist eine stille Lyrikerin und Prosaistin. Sie sichtiger Journalist. Eigentlich jam- Aufenthalts dokumentierte sie akribisch war Bibliothekarin und Buchhändlerin, merschade, dass die «Tatort»-Reihe mit einem Text und einer Fotografie. Bild bevor sie – schon in ihren reiferen Jahren mit Ulrich Tukur als Felix Murot und Text stehen daher in einem lebendi- – am stilbildenden Deutschen Literatur- schon einen hessischen Krimi- gen Dialog. Die tapfere kleine Edition institut in Leipzig studierte und den nalhauptkommissar hat, Howeg hat es nun gewagt, das Projekt, das Schritt ins Leben als freie Schriftstellerin denn Nora Tann war vor ursprünglich nur fürs Internet gedacht wagte. Ihre Texte zeichnen sich durch ihrem Ausstieg aus dem war, in eine Buchform zu bringen – und Exaktheit und Empathie aus. Liebe und Polizeidienst exakt in der- sogar in eine überaus anmutige: kleine Hoffnung, Angst und Tod sind ihre The- selben Position. Vielleicht Auflage, Klappenbroschur, Fadenheftung, men. Sie behandelt diese eindringlich, sollte man Herrn Murot alle Exemplare signiert. Der bibliophile aber ohne falsches Pathos. Besondere den Laufpass geben und Band erscheint rechtzeitig zum 80. Ge- Sensibilität beweist sie, wenn sie in Kind- Frau Tann reinstallieren. burtstag der Autorin, die uns auch als heiten schlüpft. In der Titelgeschichte

G Oder wäre am Ende gar improvisierende Musikerin vertraut ist. ihres neuen Buches geht es um ein aufs BER Platz für zwei? Wolfgang Malte Fues, der von 1994 bis Land verschicktes Kind, das auf Post war- CAM

D 2011 als Extraordinarius für Neuere Deut- tet und den ersten August als «erst Au- BA sche Literaturwissenschaft sowie Medien- gust» versteht. Herzerreissend! In einer IES,

RL wissenschaften an der Universität Basel anderen Geschichte lernt eine Frau im -MA wirkte, hat ein erhellendes Nachwort zu Sprachkurs in London nur ein einziges DIO dem schönen Band beigesteuert. Wort, aber ein wichtiges. «Bugs» heisst es. TOSTU

FO Gundula Ludwig Manfred Papst 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Sachbuch Manchmalschneidet sieGrimassen b

Kinderbuch Die Baslerin Kathrin Schärer illustriert und erzählt Geschichten für Kinder. Ihre humorvollen Tierfiguren erobern aber auch die Herzen Erwachsener

berührt – und zwar viele. Kathrin Schärers Bücher von Kathrin Schärer (Auswahl): Bücher werden regelmässig zu Best- Nur noch eins. Erscheint im Herbst 2019. sellern, so 2018 die Tiergedichte mit dem Am Sonntag, als das Ei aufging. «Hamster Hugo», die in Zusammenarbeit Text: Lorenz Pauli. Atlantis 2019 mit dem Autor Franz Hohler entstanden. Am liebsten ass der Hamster Hugo «Gmögige» Figuren müssten es sein, Spaghetti mit Tomatensugo. sagt Schärer. Sonst könne sie sie nicht Text: Franz Hohler. Hanser 2018. zeichnen. Für Kinder brauche es «sympa- Stummel. Text: Max Bolliger. Atlantis thische Figuren, mit denen sie sich iden- 2018. Fell und Feder. Text: Lorenz Pauli. tifizieren können». Schärer erfasst ihre Atlantis 2017. böse. Text: Lorenz Pauli. Lebens- und Erfahrungswelt sehr genau Atlantis 2016. Rigo und Rosa. Text: Lorenz – mit einem liebe- und humorvollen Blick. Pauli. Atlantis 2016. Beim Unterrichten als Kunstlehrerin und bei Lesungen beobachtet sie die Kinder Von Katrin Werner gern. «Es ist ihre Offenheit, die mich fas- ziniert, ihre Phantasie und ihr Witz.» Mäuse, Hasen, Igel. Katzen und Hühner. Werden Kinder zum Weitererzählen er- Tiere, die in ihrem Miteinander, im Ge- mutigt, «entwickelt sich oft eine unge- spräch und im Spiel die grossen Fragen ahnte Dynamik». Um diesen kreativen der Kindheit verhandeln – und dabei ein- Prozess anzuregen, enthalten fast alle von fach wahnsinnig herzig aussehen. Die Schärers Werken Hinweise auf alternative 50-jährige Basler Kinderbuchillustrato- Entwicklungsmöglichkeiten, auf paralle- rin und Autorin Kathrin Schärer hat le und neue Geschichten. Auch das Nach- eine Welt erschaffen, an der man sich denken über das Geschichtenerzählen ist nicht sattsehen kann. Eine Welt, die Schärer wichtig. So wird bereits in «Johan- na im Zug» (2009) der Produktionsprozess eines Bilderbuches zum Thema. Was macht eine Geschichte aus? Wie entstehen die Zeichnungen dazu? Tusche, Farbstifte, Skalpell Schärer arbeitet mit zwei unterschied- lichen Techniken. Bei der ersten zeichnet sie mit Tusche einen Hintergrund und fügt schemenhaft die Tiere ins Bild ein. Mit fetthaltigen Farbstiften schafft sie diese aus. Durch den Kon- trast von feiner Tusche und sattem Farbstiftauftrag rücken die Tiere ins Zentrum des Bildes. Der Nachteil an dieser Tech- nik zeigt sich, wenn etwas misslingt und die Zeichnerin von vorne beginnen muss. In ihrer zweiten Arbeitsweise zeichnet sie die Figuren auf braunes Papier. «Mit weis- sem Farbstift lässt sich so ein Hasenfell zum Leuchten bringen.» Im Anschluss schneidet Schärer die Tiere mit einem Skalpell aus und klebt sie auf den vorbereiteten Hintergrund. Diese Technik erlaubt es, die Figuren so lange zu verschieben, bis die Komposition einer Doppelseite stimmig ist. Die Illustratorin bezieht auch stets wieder neue Materia- lien mit ein. Einst hat sie Pastellpigmente geschenkt bekommen. «Viel zu kitschig», 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 n beimZeichnen

RI ein «mächtiges Leopardenbrüllen» von Kathrin Schärer produktive Dynamik in ihrem gemeinsa-

SCHO sich gibt, weil sie ihren Freund, den Leo- zeichnet Tiere mit men Schaffen und die freundschaftliche ER parden, tot glaubt, können wir die Dimen- Charakter: Den Bär, Verbundenheit schnell heraus. Wenn die der zu zählen versucht NSPET sion ihrer Verzweiflung allein an ihrer beiden zusammen ein Werk gestalten, gibt HA Körperhaltung und Mimik ablesen. Ihr (oben rechts) in «Am Pauli meistens die Geschichte vor, wobei Sonntag, als das Ei Elend ist augenfällig. Und wenn das Pferd aufging», oder die er bereits während des Schreibens an ihre im Bilderbuch «böse» (2016) mit dem Huf Freunde Leopard und künftigen Bilder denkt. Manchmal verhilft auf die Maus tritt, steht Schwein, Hund Maus in «Rigo und sie ihm auch mit Zeichnungen zu neuen und Huhn das Entsetzen ins Gesicht ge- Rosa» (links unten). Ideen. schrieben. «Wenn ich die Geschichte erhalte, muss Den richtigen Blick zu finden, dauere ich sofort anfangen zu illustrieren», sagt «ewig», sagt Schärer. Sie habe einen Schärer. Möchte sie lieber ein anderes Tier «suchenden Strich» und «gümmele» viel. zeichnen, schreibt Pauli die Figur um. «Es ist verrückt. Wenn ich bei einem Auge Wenn er sich diese anders vorgestellt hat, auch nur eine kleine Wimper anders setze, zeichnet er sie neu. Aber nicht nur Bild erhält das Tier schon einen ganz anderen und Text spielen zusammen. «Wir haben Ausdruck.» Sie versucht, den Blick der denselben Sprach- und Bildwitz», sagt Figur vor ihrem inneren Auge zu haben. Schärer. Was heute ein unzertrennliches Zuweilen ertappt sie sich dabei, wie sie Arbeitspaar ist, musste sich zuerst finden. Kathrin Schärer Grimassen schneidet. Haltungen probiert Es war Schärer, die sich bei Pauli eine ers- sie aus. Manchmal muss auch ihr Freund te Erlaubnis für die Illustration eines Lied- dachte sie. Durch Ausprobieren fand sie Modell stehen – als Hirsch oder Maus. textes ergatterte. Daraufhin bekam sie das heraus, dass sich diese besonders eignen, «Manchmal habe ich die Sorge, dass mir Angebot für ein Buch. Aber ihre Bilder um Schatten zu malen, für feine Anpas- die Figuren entgleiten.» Denn während seien «noch katastrophal schlecht» gewe- sungen im Ton und sanfte Übergänge. des Zeichenprozesses entwickeln sich die sen. Der Auftrag ging an jemand anderen. Schärers neuste Entdeckung sind Stem- Tiere, verändern ihr Äusseres. Oft korri- Erst mit dem Bilderbuch «Wie weihnach- pel. So finden sich im Kinderbuch «Stum- giert die Illustratorin die Zeichnungen telt man?» (2001) fand ihre gemeinsame mel. Ein Hasenkind wird gross» (2018) – später nach. Karriere ihren Anfang. Gerade eben haben die Illustration zu einer Geschichte des Schärer und Pauli «Am Sonntag, als das Ei bekannten, 2013 verstorbenen Schweizer Es braucht Action aufging» veröffentlicht. Drei Geschichten Kinderbuchautors Max Bolliger – in der Essenz eines guten Kinderbuches ist für Erstleserinnen und Erstleser. Wiese, in der sich das Hasenkind tummelt, neben den Figuren auch eine spannende Ein langjähriger Begleiter von Schärer neben grob skizzierten Blumen auch fili- Geschichte, oder, wie Schärer sagt, ist auch Hans ten Doornkaat, Lektor beim grane Farnhalme und Blütenköpfe. «Action». Für diese sorgt zumeist Lorenz Verlag Atlantis und Mitarbeiter von Die Stempel entstehen durch die com- Pauli. Mit dem Berner Kinderbuchautor «Bücher am Sonntag». Er war es, der vor putergestützte Bearbeitung von Stichen hat die Zeichnerin bereits über zwanzig fast zwanzig Jahren, als sie mit ihren ers- aus früheren Biologiebüchern. Auch an- Werke veröffentlicht. Wenn sie über ihre ten Zeichnungen mutig an die Frankfurter dere Effekte werden digital erzeugt. Im Zusammenarbeit spricht, spürt man die Buchmesse reiste, das Potenzial ihrer Bil- Bilderbuch «Fell und Feder» (2017) wur- der erkannte. Von ihm habe sie sehr viel den Hund und Huhn, die im Theater die über das Bilderbuchmachen erfahren. Geschichte ihrer Freundschaft aufführen, SchweizerKinderbücher «Nur noch eins», ein Pappbuch, von durch eine kreisrunde Aufhellung ins inBologna Schärer gezeichnet und beinahe ohne Scheinwerferlicht gestellt. In einem neuen Text, ist gerade im Druck. Wenn ein Werk Buch entsteht Regen, indem gezeichnete fertig ist, räumt die Künstlerin auf. Ein Striche gescannt und anschliessend im Vom 1. bis 4. April haben Schweizer Kin- trauriger Moment sei das, wenn die übrig Bild platziert werden. Aber die Handarbeit derbücher einen grossen Auftritt in gebliebenen Schnipsel Erinnerungen her- zieht Schärer vor, am Computer werde sie Bologna. Die Schweiz ist Gastland an der vorrufen. Die herausgefallenen Bilder «schnell müde – und wütend». internationalen Kinderbuchmesse. An werden «outgesourct» und Teil ihrer spo- Das besondere Potenzial von Bildern der Ausstellung «Ein ABC der Schweiz» radischen Ausstellungen. Ihre Originale liege darin, so die Illustratorin, dass sie wirken 26 Illustratorinnen und Illustra- verkauft die Künstlerin bei solchen Ge- Stimmungen unmittelbar zeigen würden. toren mit, neben Kathrin Schärer etwa legenheiten auch – nicht immer ohne Ab- Und gerade im Darstellen von Gefühlen Lika Nüssli, Hannes Binder, Mirjana Far- schiedsschmerz. und Gefühlslagen ist Schärer eine Meiste- kas oder Anna Sommer. Auch viele Auto- Wenn Kathrin Schärer gerade nicht an LAG

rin. Niemand schafft es wie sie, Tieren ren sind zu Gast. Organisiert wird der VER ihren Zeichnungen sitzt, hat sie es gern S eine solch ausdrucksstarke Mimik und Auftritt vom Schweizerischen Buch- TI gemütlich und liebt gutes Essen. Sie mag

Gestik zu verleihen. Wenn die Maus Rosa händler- und Verleger-Verband. Bologna ATLAN es, Hörbücher zu hören und im Liegestuhl / im Kinderbuch «Rigo und Rosa» (2016) – ist weltweit die wichtigste Fachmesse R die Sonne zu geniessen. In den Ferien war für das Kathrin Schärer und Autor Lorenz für den Lizenzhandel von Kinder-, sie schon lange nicht mehr. Wegfahren tue SCHÄRE

Pauli 2017 den Schweizer Kinder- und Jugend- und Bilderbüchern. (läu.) RIN sie sowieso nicht so gern, sagt sie. Aber

Jugendmedienpreis erhalten haben –, KATH «reisen in Bildern», das schon. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Schon lange vor dem Brexit-Entscheid haben sich die Briten mental abgeschottet. Daran ist auch die Kultur mitschuldig. Es fehlt an kreativer Auseinandersetzung mit der Welt – und an Humor, Inschreibt A.GrL. Kennedyossbritannien hatdieKunstversagt

Es ist, als ob wir alle die Grippe hätten. Undenk- mit einem der 27 Länder um uns herum wird zu Je mehr unser Gefühl bares kreist in unseren Köpfen und macht uns einer komplexen und mühsamen Angelegenheit. schwindlig, verursacht Kopfschmerzen und Frös- EU-Bürger, die in Grossbritannien leben – unter für andere Länder und teln – Grippesymptome, zu denen auch eine un- ihnen sind viele Künstlerinnen und Künstler – endliche Müdigkeit gehört. Der Brexit macht uns müssen erleben, dass ihre Aufenthaltsbewilli- Kulturen verarmte, müde – und wir sind seiner längst müde. Wir sind gung auf der Kippe steht. Ihre Wahlheimat ist zu desto wichtiger erschöpft von der unablässig geschürten Angst Feindesland geworden, manche haben unser und Verwirrung, von immer neuen Beweisen da- Land darum bereits verlassen. nahmen wir uns selbst. für, dass unserer System korrumpiert, beschädigt und in Auflösung begriffen sei. Im öffentlichen Kultur und Bildung unter Druck Kunst und Geisteswissenschaften stehen unter Diskurs versichern wir uns jeden Tag, dass jeder Wir sind jetzt schon in jederlei Hinsicht arm und ständigem Druck, weil sie als unprofitabel und Einzelne von uns wenigstens ein bisschen ab- werden weiter verarmen, weil die bereits kleinen unnütz gelten. Ausgerechnet jetzt, wo der Mangel scheulich sei. Egal, wie wenig das auf einen zu- Kulturbudgets mit der wachsenden Wirtschafts- an künstlerischer und empathischer Auseinan- trifft, man legt sich trotzdem jeden Abend mit krise weiter schrumpfen werden. Unternehmen dersetzung mit der Welt unseren sozialen Zusam- dem Gefühl schlafen, man habe sein Land im wie Arts Emergency versuchen, einen Bereich der menhalt so sehr bedroht wie seit Generationen Stich gelassen, und deswegen werde dieses Land Kunst mit Crowdfunding zu unterstützen. Die nicht mehr. Es scheint, als ob wir einander immer am nächsten Morgen noch ein bisschen unbarm- «National Campaign for the Arts» setzt Budget- schlechter verstehen würden, dass wir uns weder herziger sein. kürzungen ins Verhältnis zur wirtschaftlichen in andere einfühlen noch uns das Leben ausser- In der Kunst Trost zu finden, wird immer un- Bedeutung von Kunst – sie generiert Jobs und halb unseres eigenen Landes vorstellen können. wahrscheinlicher. Mehr noch nach dem Brexit, Steuereinnahmen – aber trotzdem gibt es immer Sprachen, die Zugezogene sprechen, sehen wir egal, wie er ausfallen wird. Denn seinetwegen mehr Verluste. als Seuchen, die unser ohnehin schon marodes werden internationale Zusammenarbeiten Aber die Kultur- und Kunstszene hat schon Schulsystem weiter zersetzen, als bedrohliche schwieriger oder ganz unmöglich. Die europäi- lange vor dem Brexit einen kapitalen Fehler be- Geheimsprachen sogar. Alles Fremde ist für uns sche Filmförderung beispielsweise, von der unser gangen. Sie ist mitschuldig daran, dass Grossbri- zu etwas Unvorstellbarem geworden. Filmschaffen abhängig ist, wird lange genug weg- tannien anfing, sich mental von der Welt zu fallen, um für die Branche den Todesstoss zu distanzieren. Seit den 1980er Jahren ist die sonst Kollaps der Medien bedeuten. Britische Künstlerinnen und Künstler schon armselige Anzahl von aus anderen Spra- In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren werden nicht mehr wie bisher nach Europa reisen chen übersetzten Büchern unter fünf Prozent war es für jemanden wie den damaligen Journa- oder dort arbeiten können. Selbst etwas Simples gesunken und verharrt dort. Filme und Fernseh- listen Boris Johnson kein Problem, mit bizarren wie eine Künstlerresidenz oder ein Buchvertrag sendungen aus anderen Ländern waren nur Verleumdungen über die EU Karriere zu machen. schwer erhältlich und das Interesse daran ent- Die britsche Öffentlichkeit hatte mangels Infor- sprechend klein. Kinofilme mit Untertiteln hatten mation keine Ahnung, wie dieses von ihm be- A. L.Kennedy den Ruf, etwas für Angeber zu sein. Je mehr unser schworene «Everywhere Else» aussehen könnte. Gefühl für andere Länder und Kulturen verarmte, Aber dank solchen Phantasien konnten sich die Alison Louise Kennedy wurde 1965 in Dundee, desto wichtiger nahmen wir uns selbst. Wir eng- Briten den anderen überlegen fühlen. Schottland, geboren. Mit 25 veröffentlichte sie lische Muttersprachler sind berühmt dafür, kaum Der Kollaps unseres Mediensystems fiel mit ihren ersten Erzählband, es folgten zahlreiche andere Sprachen zu beherrschen. Johnsons verblüffendem Erfolg zusammen. Der Romane, Essays und Erzählungen. Heute gehört Seit Margaret Thatchers Regierungszeit ist die Redaktionen schwächende Personalabbau, A. L. Kennedy zu den bekanntesten britischen unser Bildungssystem stetig schlechter gewor- sinkende Einnahmen und die Übernahme durch Autoren, ganz bestimmt ist sie die eigenwil- den. Miserabel ausgestattete Grundschulen füh- einige wenige rechtsgerichtete Besitzer bilden ligste. Schonungslos blickt sie ins Leben und in ren zu überlasteten Mittelschulen und schliess- eine toxische Mischung. Expats wie der Australi- den Kopf ihrer oft etwas absonderlichen Figu- lich zu Universitäten, die mehr Wert legen auf sche Medienmogul Rupert Murdoch, die millio- ren. Im neusten, eben auf Deutsch erschienen Profit denn auf Bildung. Dazu kommt ein wach- nenschweren Barclay-Brüder und Viscount Rot- Roman «Süsser Ernst» verbindet sie eine – fast sendes Misstrauen den Experten und Fakten hermere besitzen den Grossteil der britischen romantische – Liebesgeschichte mit einer viel- gegenüber. Unsere Fähigkeit, Sachverhalte zu Printmedien, und Londons grösste Tageszeitung schichtigen Analyse des Niedergangs Grossbri- verstehen, hat gelitten. Unsere akademischen «The Evening Standard» gehört dem russischen tanniens. Das Buch ist auch eine Hommage an Einrichtungen und Medien loben seit Jahrzehnten Millionär Alexander Lebedev. Die Folge ist, dass London, wo die Autorin heute lebt. (läu.) die Wichtigkeit alles Rationalen und Fakten- sich die Medien zunehmend auf billige Klatsch- A. L. Kennedy liest am 1. April im Literaturhaus basierten, während sie Kreativität kleinreden. geschichten, Angst-Storys und Regierungs-PR kon- Zürich, am 2. April im Literaturhaus Basel. Dabei ist die Kraft der Imagination die Basis für zentrieren. Dass es in den 1990er Jahren für engli- Veränderungen und Empathie. sche Zeitungen überhaupt möglich war, über ▲ 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 S GE IMA TTY GE / TI CIU RIC RTO ROBE A. L. Kennedy ist nicht nur profilierte Schriftstellerin, sondern tritt auch als Stand-up-Komikerin auf. Zugleich kritisiert sie von Hass angetriebene Comedy. (Edinburgh, 17. August 2016) 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 den gesetzeswidrigen Einmarsch in den Irak in auf Sendung und wurde 1994 wegen eines Kom- ERS Jubel einzustimmen, sagte viel darüber aus, wie mentars über die Söhne des Medienmoguls REUT / sehr sich ihre Funktion als vierte Gewalt bereits L Robert Maxwell auf 10 000 Pfund verklagt. Juris- zersetzt hatte. Investigativjournalisten verliessen HAL tische Massnahmen oder Drohungen haben dazu die Zeitungen oder arbeiten unter grossem Spar- NEIL beigetragen, die Satire braver zu machen. druck. So waren es Journalistinnen und Journalis- ten, die auf eigene Faust und oft unbezahlt arbei- Kreativität der Strasse teten, die die Gesetzeswidrigkeiten des Brexit Betrachtet man den Zustand der Comedy allge- aufdeckten. mein, stellt man fest, dass es immer weniger kri- Billig produzierte Inhalte werden von der Rech- tische Inhalte gibt und stattdessen mehr Wohl- ten wie angeblich Linken rezykliert, was die Qua- fühlprogramm. Manche Liveshows mögen expe- lität der Berichterstattung nur weiter sinken lässt. rimentell und wagemutig, lebensbejahend und Ausserdem kann man von Zeitungen, die sich politisch geblieben sein. Solche Programme im dieselben Werbeportale teilen, nicht erwarten, grösseren Rahmen aufzuführen, ist aber mühsam dass sie in Grundsatzfragen jemals anderer Mei- geworden, und zwar wegen Auflagen, die jedes nung wären. Die Überprüfung von Fakten und Risiko vermeiden sollen. Comedy muss «kom- andere Grundregeln des Journalismus existieren merziell» sein – was immer das bedeutet. nicht mehr, und als Kolumnisten werden jene Grossbritannien fehlt der verbindende Humor. eingestellt, die den aggressivsten Ton anschlagen. Und das in einer Zeit, in der Rechtsextreme ihre Die öffentliche Diskussion in Grossbritannien Propaganda als «humorvoll» und «scherzhaft» zu macht uns anfällig für immer giftiger werdende verkaufen versuchen. Solche von Hass angetrie- Gerüchte, Lügen und Ideologien. Widerstand Das Satiremagazin «Private Eye» ist zahm geworden. bene Comedy lebt wieder auf. Ausgerechnet jetzt, gegen Online-Propaganda gibt es wenig. Wirre wo wir so dringend über das Allzumenschliche an Debatten über Moral, Menschenrechte, Redefrei- lichen würde, ist heute noch unwahrscheinlicher uns selbst und anderen lachen sollten. Jetzt, wo heit und ausgewogene Berichterstattung zeugen als im 19.Jahrhundert. Auch darum, weil Theater- wir uns über das absurde Gerede von unfähigen von einem grundlegenden Missverständnis in Be- tickets absurd teuer sind und es in ländlicheren Staatschefs lustig machen sollten, sind kindische zug auf die Verantwortung des Journalismus und Gegenden kaum mehr Bühnen gibt. Scherze über Burkas, Hassreden und soziale Spal- die Bedeutung von nationalem und internationa- Das Bühnendrama «The Romans In Britain», tung das Einzige, was wir hinbekommen. Dabei lem Recht. Die Berichterstattung im Fernsehen ist das 1980 im Nationaltheater aufgeführt wurde, hat sich unser Land immer für seinen Sinn für unter Druck geraten, und die BBC – lange die Ziel- übte indirekte Kritik an der britischen Nordirland- Humor gerühmt, für seine international erfolg- scheibe von rechten Gegnern – ist selber immer politik. Es wurde dann so erfolgreich mit Vorwür- reichen Exporte wie «Monty Python» und «Father weiter nach rechts gerutscht. Zuerst durch den fen der Obszönität gegen das Stück gehetzt – sogar Ted». Doch heute gibt es in England keine Sen- Versuch, seine ideologischen Gegner zu besänfti- eine Untersuchung wurde eingeleitet –, dass man dung mehr, die es mit den satirischen US-Produk- gen, und schliesslich durch eine Übernahme von seither mit radikalen Mainstreamproduktionen tionen «The Daily Show» oder «Last Week To- rechter Rhetorik durch die Nachrichtenredaktion. viel vorsichtiger geworden ist. Erst jetzt werden night» aufnehmen könnte. Moderator von Letz- britische Bürger wieder warm mit politikkriti- terer ist ironischerweise der Brite John Oliver. Kampf gegen politische Kunst scher Kunst. Zuvor waren sie während Jahrzehn- In einer Zeit, in der es von Ungerechtigkeiten Schon lange bevor die Digitalisierung die Medien- ten froh, wenn solche als obszön abgetan und nur so wimmelt, findet die notwendige kreative landschaft umwälzte, bedrohte wirtschaftlicher verhindert wurde. Klagen haben auch satirischen Auseinandersetzung mit unserer Welt auf der und politischer Druck das Fernsehen wie auch die und investigativen Wochenzeitschriften wie dem Strasse statt: Wir tun unseren Widerwillen bei Bühne. Alte Sender haben schon früher bewiesen, «Privat Eye» übel zugesetzt. Solche Magazine Demonstrationen kund, er widerspiegelt sich auf dass sie Veränderungen nicht mögen und sich waren Anti-Establishment, intelligent, sie richte- Plakaten, Postern, Aufklebern, im Onlineaktivis- davor fürchten, Rechtsaussen-Politiker zu ver- ten sich an ein junges Publikum, akzeptierten mus und in Songs, in Zeichnungen, Graffitis und ärgern. Und die Vorstellung, dass ein kleines unkonventionelle Lebensstile – und sogar Frauen. sehr vielen Witzen. Besonders unter Millennials, Theaterensemble auf Tournee gehen, Kritik üben Nachdem Sonia Sutcliffe, die Frau des Massen- der Generation, der wir so vieles weggenommen oder andere Sichtweisen auf ein Thema ermög- mörders Peter Sutcliffe in «The Yorkshire Ripper», haben. Auch wir älteren Künstlerinnen und das Magazin «Private Eye» auf 600 000 Pfund Künstler haben unsere Lektion gelernt aus den Schadenersatz verklagt hatte, ist die Publikation Protesten gegen den Irakkrieg. Auf die Strasse zu Uns fehlt der verbindende zahmer geworden. Obwohl das «Eye» nie so ext- gehen und gewaltfrei zu protestieren, bringt am Humor. Und das in einer rem war wie etwa das Untergrundmagazin «Oz», meisten. In der Realität und jenseits dessen, was galt es trotzdem als Aufsichtsorgan über lokale die Medien uns erzählen, stellen wir mit Gegen- Zeit, in der Rechtsextreme und nationale Politiker, es gab Recherchen zu demonstrationen Gruppen von besoffenen Nazi- Ereignissen wie dem Anschlag von Lockerbie. Der sympathisanten in den Schatten. Wir haben noch ihre Propaganda als derzeitige Herausgeber, Ian Hislop, der meistver- nicht aufgegeben. Aber wir sind müde. Unsere «humorvoll» zu verkaufen klagte Mann Englands, füllt sein Magazin heute Köpfe dröhnen. Wir sind es leid. l mit wenig kontroversen Inhalten. Das satirische versuchen. Newsquiz «Have I Got News For You» ging 1990 Übersetzung aus dem Englischen: Denise Bucher

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16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Kolumne Lukas Linder Mein Leben als Mensch Kurzkritiken Sachbuch Alle nach Abbas Khider: Deutsch für alle. Irina Scherbakowa (Hg.): Ich glaube an Valencia! Das endgültige Lehrbuch. Hanser 2019. unsere Kinder. Briefe aus dem Gulag. 128 S., um Fr. 20.–, E-Book 14.–. Matthes & Seitz 2019. 222 S., um Fr. 30.–.

ährend ich triumphal meinen Gourmet- Burger zerschnitt, hörte ich die Frau am WNebentisch sagen: «Was hat Valencia denn so zu bieten?» Gute Frage, dachte ich und begann sinnierend zu kauen. Im Timbre der Fragestellerin hatte Valencia die Gestalt eines altersschwachen Tore- Als Abbas Khider noch im Irak lebte, «Ich habe euch mehr geliebt als das Leben» ros angenommen, der beharrlich das kannte er genau drei deutsche Wörter: – mit Fischgräten hat Anatoli Koslowski, rote Tuch schwingt, obwohl der Stier Hitler, Scheisse und Lufthansa. Nach sei- Offizier der Roten Armee, diesen letzten längst verstorben ist. Aus ihr sprach die ner Flucht nach Deutschland erweiterte Satz an seine beiden Kinder Nina und En- Illusionslosigkeit einer Zeit nach Kolum- sich sein Wortschatz, und «mehr als ein gels auf ein Stück Stoff gestickt. Andere bus: Die Welt ist entdeckt, dem Men- verfluchtes Jahrzehnt» später hat Khider Väter schickten ihren Kindern Zeichnun- schen bleibt nur noch, Pauschalreisen nicht nur deutsche Literatur und Philoso- gen, gepresste Pflanzen, selbst gereimte zu buchen. phie studiert, sondern in dieser sperrigen, Märchen, selbstgemalte Postkarten. Die Es gibt keine Entdecker mehr, es gibt unmöglichen Sprache auch vier Romane russische Germanistin und Menschen- jetzt nur noch Touristen. Und statt Ge- geschrieben. Sein neustes Buch widmet rechtlerin Irina Scherbakowa präsentiert heimnisse gibt es Gourmet-Burger. er nun der deutschen Sprache selbst – und Briefe von 14 Vätern an ihre Kinder aus Natürlich bringt das auch gewisse Vor- den Kämpfen, die er mit ihr ausgefochten dem Stalinschen Gulag. Angereichert mit teile mit sich: wo häufiger vegan geges- hat. «Diese Sprache ist nichts weniger als Lebensläufen, Fotos und Erinnerungen sen wird, gibt es weniger Skorbut. Doch ein Ungeheuer», schreibt der 46-jährige der Frauen und Kinder zeigen sie 14 er- bleibt das merkwürdige Gefühl, dass Autor und erlaubt sich ein paar Vorschläge schütternde Familienschicksale. Alle diese man sich, wohin man auch reist, irgend- zur Vereinfachung deutscher Grammatik: Väter waren gebildet, als Architekten, wie nicht von der Stelle bewegt. Akkusativ und Dativ? Abschaffen! Bei Ingenieure, Lehrer engagiert am Aufbau Wenn ich in einer neuen Stadt an- Abbas Khider kommt alles, selbst das der jungen Sowjetunion. Alle wurden sie komme, laufe ich als Erstes in eine will- Schlimmste, im Kleid der Komik daher. grundlos verhaftet, nur zwei kamen zu- kürlich gewählte Richtung drauflos, und Deshalb ist dieses Buch wohl als Liebes- rück. Einziger Trost: dass diese Zeugnisse zwar ohne auch nur einmal Google- erklärung zu lesen. So lustig war ein den Weg in das Archiv der Gesellschaft Maps zu konsultieren. Dabei komme ich Lehrbuch jedenfalls noch nie. Memorial in Moskau gefunden haben. mir richtig subversiv vor. Gefährliche Martina Läubli Kathrin Meier-Rust Musik begleitet meinen Weg, und mein Mienenspiel erinnert an Iwan den Schrecklichen. Trotzdem sitze ich zwan- zig Minuten später in irgendeinem Star- Lee Crutchley: Tagebuch für Schlaflose. Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess. bucks, trinke schlechten Kaffee und ver- Übersetzt von Ruth Keen. Kunstmann Übersetzt von Anne Emmert. Berenberg suche herauszufinden, wo ich bin. 2019. 192 S., um Fr. 18.–. 2019. 330 S., um Fr. 35.–, E-Book 25.–. In Santiago de Chile habe ich mich einmal in ein urtypisches Lokal gesetzt, das nur von einheimischen Quartier- bewohnern besucht wurde. Nachdem ich drei Stunden lang ignoriert worden war, verliess ich es mit dem Gefühl einer authentischen Erfahrung. Was ist zu tun? Alle nach Valencia? Wenn nach Freud Melancholie das Gefühl einer verpassten Chance bedeu- tet, dann sind all die Selfies, die dieser Tage geschossen werden, im Grunde In der Schweiz hat etwa ein Drittel der Sollten die letzten Nachlassdokumente nichts anderes als Fratzen der Melan- Bevölkerung Schlafprobleme. An sie rich- von Franz Kafka dem Staat Israel gehören cholie: Wir kommen rechtzeitig fürs tet sich das «Tagebuch für Schlaflose» des (wo er nie war) oder Deutschland (wo sei- Frühstück, aber zu spät fürs Leben. britischen Autors Lee Crutchley: Ein Buch ne drei Schwestern im Holocaust starben) Vielleicht aber wollen diese Fratzen voller Fragen, Skizzen und Leerräume, oder der damals 82-jährigen Erbin der ja noch etwas anderes sagen: Die Welt das in langen nächtlichen Stunden zum Papiere? Diese Frage verhandelte der mag entdeckt sein, doch was ist mit Nachdenken anregen soll. «Warum bist du Oberste Gerichtshof Israels im Sommer mir? Menschheit! Was hast du denn hier?», heisst es da, oder: «Was versteckt 2016 in letzter Instanz. Der in Israel so zu bieten? sich unter deinem Bett?» Der Autor leidet lebende US-Autor Benjamin Balint sass seit seiner Kindheit unter Schlaflosigkeit. damals im Gerichtssaal. Sein nun auf Er weiss, was es heisst, wenn der Weg zum Deutsch vorliegender Bericht versteht es Schlaf blockiert ist und die Gedanken end- meisterhaft, den Prozess mit allen rele- los kreisen. Er weiss aber auch, dass die vanten Themen zu verflechten: mit Kafkas Nacht nicht nur Gelegenheit bietet, um Leben und Sterben, mit dessen Freund- sich seinen Ängsten zu stellen, sondern schaft zu Max Brod, der den Nachlass-Kof- auch, um kreativ zu sein. Das «Tagebuch fer 1939 nach Israel brachte und seiner für Schlaflose» animiert deshalb dazu, Sekretärin schenkte; mit dem ambivalen- Lukas Linder, 35, lebt in eigene Sternbilder zu zeichnen oder Briefe ten Verhältnis Kafkas zum Judentum und Basel und Lodz und ist G an sich selber zu schreiben. Zu notieren, dem nicht minder ambivalenten des Lan- Autor zahlreicher Thea- BER

IEN durchzustreichen, zu zeichnen. Ob dieser des Israel zu Kafka. Eine ebenso sorgfäl- terstücke. Sein Debüt- ME roman «Der Letzte mei- liebevoll gestaltete Band ein gutes Buch tige wie erhellende Darstellung der kafka- ist, hängt also ganz von einem selbst ab. esken Nachlasskämpfe um Kafkas Erbe. ner Art» erschien 2018 INIQUE

bei Kein & Aber. DOM Martina Läubli Kathrin Meier-Rust 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch

Geisteswissenschaft Ein Philosoph und ein Soziologe erkunden, was unsere GeDesellschaftenrzusammenhälMet nsch, dassozialeTier

und Wilhelm von Humboldt. Letzteren einer neuen Form von Kooperation, in der Volker Gerhardt: Humanität. Über den Geist zitiert Gerhardt nämlich mit der Berufung beispielsweise Mitglieder einer Jagd- der Menschheit. auf einen «Geist», der alle Menschen glei- gemeinschaft irgendwann in der Lage C.H. Beck 2019. 320 S., um Fr. 43.–, chermassen beseelt. waren, sich gegenseitig auf ferne, nicht E-Book 34.–. Mit seiner These, dass jede Kultur in sichtbare Beutetiere aufmerksam zu ma- Heinz Bude: Solidarität.Die Zukunft einer ihrer Sprache eine eigentümliche «Welt- chen und darüber zu beraten, ob und wie grossen Idee. ansicht» darbiete, hatte Humboldt, wie deren Verfolgung aufzunehmen sei. Hanser 2019. 170 S., um Fr. 26.–, kaum ein anderer Denker um 1800, zu- Der amerikanische Verhaltensforscher E-Book 19.–. nächst die Vielfalt und Unterschiedlich- Michael Tomasello hat in zahlreichen Ver- keit menschlicher Lebensformen hervor- suchen gezeigt, dass Menschenaffen diese Von Manfred Koch gehoben, dann aber sofort betont, dass es Fähigkeit der «shared intentionality» – ge- doch einen gemeinsamen Geist gebe, da meinsame Absichten zu entwickeln und «Oh Humanität! Oh Blödsinn!» Nietzsches sich prinzipiell alle mit allen verständigen sie in enger Kooperation gezielt zu verfol- Ausruf scheint aktuell in einer Zeit, in der könnten. Ganz verstehen werden wir – gen – nicht haben. Die «Wir-Intentionali- ein bösartiger Nationalismus fröhliche Individuen wie Kulturen – einander zwar tät» ist also ein, wenn nicht das auszeich- Urstände feiert. Der Appell an Menschen- nie, aber das nie zu beseitigende Missver- nende Merkmal der Gattung Mensch. So liebe und internationale Verständigung stehen ist, wie Humboldt nahelegt, ja ge- bestätigt der Evolutionsanthropologe wirkt demgegenüber hilflos, wie ein Relikt rade das Interessante am menschlichen Tomasello empirisch, was der philosophi- aus ferner Vergangenheit. Der Berliner Zusammenleben: Es bleibt der Stachel, sche Anthropologe Humboldt schon vor Kooperation und Philosoph Volker Gerhardt lässt sich da- der die Bemühung um Übereinstimmung 200 Jahren dem Menschen attestierte: ein Anerkennung sind die durch nicht beirren und präsentiert im reizvoll und lohnenswert macht. herausragendes Verständigungsgeschick. Basis für unser Zusammenleben. Untertitel seines Buchs über «Humanität» Gerhardt referiert alle Formeln, mit (Wandskulptur in sogar einen noch altmodischeren Begriff: Sprechen und teilen denen traditionell die Sonderstellung des Cotonou, Benin) den «Geist der Menschheit». Ist das, fragt Fast stärker noch als Humboldt unter- Menschen im Tierreich bestimmt wurde: sich der Leser angesichts der Putins, streicht Volker Gerhardt das Verbindende das politische, schöpferische, werkzeug- Trumps und Erdogans dieser Welt, derzeit im Menschengeist und setzt sich damit ab machende, spielende, verneinende Tier. nicht eher ein Poltergeist, der in verschie- von philosophischen Strömungen, die im Obenan steht für ihn aber nach wie vor das denen Ausführungen die Schlüsselstellen Zeichen der Postmoderne seit bald fünfzig «animal rationale», das vernünftige Tier. der Macht besetzt? Und ist – fast ebenso Jahren «Differenz» und «irreduzible Viel- Er übersetzt es mit «das Tier, das seine deprimierend – der wirklich menschheits- heit» als höchste Werte verkünden. Schon Gründe hat». Denn tatsächlich macht dies vereinigende Geist nicht der algorithmi- in unserem Innersten, so Gerhardt, sind wir ja die menschliche Freiheit aus: in einer sche von Silicon Valley? Gemeinschaftswesen. Was ich bin, fühle gegebenen Situation nicht instinktiv Auf die heutige Lage der «Menschheit» und denke, ist mir selbst nur im Medium reagieren zu müssen, sondern auf Distanz geht Gerhardt nur am Rande ein. Aber einer Sprache erschlossen, die ich mit ande- gehen, Optionen wahrnehmen und über- man spürt auf jeder Seite die tiefe Besorg- ren teile. Meine Identität formt sich im Um- legen zu können, welche Gründe für die nis des Autors über das Verblassen huma- gang mit Mitmenschen, auf deren Anerken- eine oder die andere Entscheidung spre- nitärer Ideale im 21. Jahrhundert. Sein nung ich angewiesen bin. Kurz: Mensch- chen. Auch hier sind Individuelles und Buch will ein Gegengewicht setzen, nicht liches Bewusstsein, wie individuell auch Allgemeines immer schon ineinander durch Diskussion des Tagesgeschehens, immer, ist in sich bereits «soziomorph». verwirkt. Es sind meine Gründe und sondern durch eine grundsätzliche Besin- Diese fundamentale Gruppenbezogen- Motive, die ich indessen den anderen, die nung auf das, was den Kern des Mensch- heit scheint dem Homo sapiens in der von meinen Handlungen betroffen sind, seins ausmacht. Es handelt sich um einen biologischen Evolution einen Überlebens- verständlich machen muss. Beitrag zur philosophischen Anthropolo- vorteil verschafft zu haben. Menschliches Die Vernunft kann übrigens auch, wie gie in der Tradition von Immanuel Kant Denken und Sprechen entstand wohl aus Gerhardt sogleich aufzeigt, auf Distanz zu 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 AGO IM / KY WS BO GRA UTE sich selbst gehen. Es gibt gute Gründe da- wer’s nie gekonnt, der stehle/ weinend analysiert Bude die Kräfte, die in der für, nicht alles begründen und rational sich aus diesem Bund.» «merkwürdigen Periode des Neoliberalis- ordnen zu wollen. Vernunftkritik gehört mus» die alten Solidargemeinschaften zu einer richtig verstandenen, ihre eige- Wunsch nach Solidarität zersetzt haben. Brillant ist vor allem die nen Grenzen reflektierenden Vernunft. Wer nach der philosophischen Lektüre Darstellung der schönen neuen Arbeits- So sympathisch Gerhardts Plädoyer für wieder mehr Bodenhaftung wünscht, welt, die ganz auf das «Psychogramm des den Gemeingeist auch ist, ihm haftet ein sollte das gleichzeitig erschienene Buch Selbständigen» zugeschnitten ist. Ge- Hautgout von wirklichkeitsfremdem Idea- des Soziologen Heinz Bude lesen. Es meinschaftsarbeit ist nun das projekt- lismus an. Das zeigt sich vor allem am handelt von der beängstigenden Auf- bezogene Wirbeln von «Teams», in denen Schluss, wo er Kants kategorischen Impe- lösung sozialer Bindungskräfte in der jeder Einzelne, mit seinen kurzfristigen rativ zu retten versucht. «Die Person», spätmodernen «Gesellschaft der Singula- Kollegen in gläsernen «Co-Working-Spa- heisst es da, sei «aus eigener Logik der ritäten» (so hat sie Budes Kollege Andreas ces» zusammengespannt, die anderen Humanität verpflichtet». Das klingt dann Reckwitz getauft). Und es beschwört ein weniger unterstützen als wetteifernd zu doch, als bliebe uns, da wir nun einmal tiefsitzendes Verlangen nach «Solidarität» kreativen Leistungen anstacheln soll. der Gattung Mensch angehören, nichts als womöglich letzter verbliebener Gegen- Auch Bude bringt an diesem Punkt anderes übrig, als vernünftig zu sein und kraft. Michael Tomasello ins Spiel und erinnert moralisch zu handeln. Aber Bude geht von sehr viel nüchter- daran, wie viel Menschliches wir verspie- Skeptiker, die nach 300 Seiten immer neren anthropologischen Prämissen aus. len, wenn wir uns derart zu konkurrieren- noch nicht an die Ratio und die «alles um- Es gibt für ihn «keinen moralischen den Affen machen lassen. «Niemand», fassende Kraft der Liebe» glauben, werden Zwang» und «keinen in der menschlichen resümiert er, «muss solidarisch sein, man verabschiedet: «Wem das nichts sagt, dem Natur angelegten Hang zur Solidarität». Es muss nur eine Ahnung davon haben, was kann man es auch nicht erklären.» Unwill- gibt nur die Hoffnung auf ein Wieder- man verliert, wenn man vergisst, was wir kürlich denkt man hier an die Verse aus erstarken der Einsicht, dass wir Wesen uns schulden.» ● Schillers «Ode an die Freude» über den- sind, die als blosse Einzelkämpfer ihr jenigen, der dem «Seid umschlungen, Lebensglück nicht finden werden. In kur- Heinz Bude liest am 2. April um 19 Uhr im Millionen» nicht so recht trauen will: «Und zen, geschliffen formulierten Kapiteln Literaturhaus Zürich aus «Solidarität». 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Gesellschaft Erica Fischer will wissen, was Genderbewegte gegenwärtig umtreibt Alte Feministintrifftjunge Feminist*innen

A andere Gruppen richten. Dazu gehören EP Erica Fischer: Feminismus revisited. / präzise Begrifflichkeiten, Sternchen und Piper 2019. 320 S., um Fr. 28.–, LAT VA Unterstriche, die im Gespräch mit der mus- E-Book 20.–. AN

YO limisch-queeren Bloggerin Hengameh Yaghoobifarah exzessiv ausdifferenziert Von Janika Gelinek werden: nicht als «Gendergaga», sondern als das bis in feinste Verästelungen der Die «Ode an den Feminismus» auf der Sprache hinein zum Ausdruck gebrachte Website des «Missy Magazins» beginnt so: Ideal einer Gemeinschaft, die buchstäblich «Feminismus, klar. Haste gehört. Findste auf Zuschreibungen verzichtet. gut. Beyoncé ist Feministin und Emma In seinen besten Abschnitten statuiert Watson und so. Also, was kann daran nicht das Buch eine offene Gesellschaft, deren geil sein? Geht das überhaupt? Ungeiler- Vordenker*innen selbstverständlich diver- weise geht das. Weil unter dem Deckman- se ethnische und kulturelle Hintergründe tel des Feminismus auch grosser Mist haben und ebenso selbstverständlich für passiert. Nämlich immer dann, wenn die Ermächtigung Benachteiligter eintre- Menschen ausgeschlossen werden: Mi- ten. Ohne intersektionalen Ansatz sei grant*innen, Rom*nja, Schwarze Men- Feminismus heute nicht mehr denkbar, so schen und Menschen of Color, muslimi- Fischer, also «ohne verschiedene Diskri- sche und jüdische Menschen, Menschen minierungsformen zu berücksichtigen». mit Fluchterfahrung – und jep, es geht Feministinnen am internationalen Frauentag in . (8.3.2019) Doch das wird von Fischer kaum theo- noch weiter – Menschen mit Behinderung, retisch reflektiert, sondern entsteht im Menschen ohne akademischen Back- «patriarchalen Kapitalismus». Hier setzen Erfahrungsaustausch, im Wechsel von ground, Menschen mit wenig Kohle, Sex- auch die Feminist*innen vom «Missy Autobiografie und Gesprächsprotokollen, arbeiter*innen, trans Menschen, queere Magazin» an, «deren Denken, Handeln wodurch man zuweilen mehr über die Menschen, dicke Menschen, Menschen und Leben meinen Blick für aktuelle Kon- Lebensgeschichte von Nora aus Nieder- ausserhalb des sogenannten Westens.» flikte und Genderthemen geschärft österreich oder die Schwierigkeiten der So könnte auch eine Zusammenfassung haben», wie Erica Fischer schreibt – auch sexuellen Orientierung von Parisa erfährt, von «Feminismus revisited» lauten. Der im Unterschied zu der fast in gleicher Auf- als man sich gewünscht hätte: Nicht alles grösste Vorzug des Buchs ist die unbefan- lage erscheinenden «Emma», dem femi- ist exemplarisch, und Fischers eigene Bio- gene, lebendige Neugier, mit der sich Erica nistischen Organ der Generation vorher. grafie, die sie ohne Scham und Dünkel Fischer (75), Autorin unter anderem von So erklärt die Kulturwissenschafterin teilt, erweist sich als ein zu lockerer roter «Aimée & Jaguar», der man nach Jahr- Mithu M. Sanyal: «Der Feminismus war Faden, um alle Fragen von gendergerech- zehnten in der Frauenbewegung wahrlich unglaublich wichtig für mich, weil er mir ter Kindererziehung bis zu zeitgemässen nichts über Feminismus beibringen muss, ein Erklärungsmuster geliefert hat, warum Prostitutionsgesetzen in einen systemati- den Biografien, Theorien und der Sprache die Welt so funktioniert hat, wie sie funk- schen Zusammenhang zu bringen. Doch der jungen Feminist*innen annähert. tionierte. Deshalb war alles, was mir wider- den strebt Fischer auch nicht an. Ihr geht In teilweise sehr persönlichen Gesprä- fahren ist, für mich das Ergebnis des Patri- es um eine doppelte Bestandsaufnahme: chen lotet Fischer aus, was Frauen von archats. Ganz häufig war es aber Rassismus des eigenen Lebens und dessen, was Femi- heute unter Feminismus verstehen: dass und gar nicht Sexismus.» Moderner Femi- nist*innen heute umtreibt. «Den» Femi- der längst kein Frauenthema mehr ist, nismus wird damit zu einem Instrument, nismus bekommt man nicht mit der Lek- sondern ein Instrument gegen die vielfäl- Machtstrukturen zu verstehen, ob sie sich türe, aber einen inspirierenden Einblick tigen ungerechten Machtstrukturen des nun gegen Frauen, Migrant*innen oder ins Kaleidoskop seiner Möglichkeiten. ●

Geschichte Hermann Kurzke, der Biograf von Thomas Mann und Georg Büchner, erzählt von der verschwiegenen NS-Karriere seines Vaters MeinPapa,HitlersHelfer

dient. Von Hitler bekommt er für seinen Biografie von Georg Büchner überaus er- Hermann Kurzke: Was mein Vater nicht Einsatz 1941 das Kriegsverdienstkreuz. giebig erprobt hat. Er nähert sich seinem erzählte. Geschichte eines «Mitläufers». Herbert Kurzke hat von all dem bis zu Vater nicht nur auf Grundlage der ge- C. H. Beck 2019, 240 S., um Fr. 35.–, seinem Tod 1982 nie erzählt. Doch er hin- fundenen Schriftstücke, sondern auch E-Book 25.–. terlässt – womöglich beabsichtigt – einen mithilfe fiktiver Gespräche und innerer Schrank voller Akten und Dokumente aus Monologe. Das Vorgehen ist selbstver- Von Holger Heimann jener Zeit. Auf dieser Grundlage rekon- ständlich nicht ohne Risiko. Aber der struiert nun sein Sohn, der bekannte Ger- Balanceakt gelingt. Herbert Kurzke hatte Glück. Die meisten manist und Biograf Hermann Kurzke, die Hermann Kurzkes Psychogramm eines Männer seines Jahrgangs mussten an die Rolle seines Vater im Dritten Reich. Ent- Mitläufers unter den Bedingungen der Front. Aber der 1910 geborene Kurzke standen ist die «Geschichte eines ‹Mit- Diktatur verdankt dem klugen, tastenden wurde in der Hauptstadt gebraucht. Er läufers›», so der Untertitel seines Buches. Vielleicht mindestens ebenso viel wie der wird als «uk» eingestuft, ist also unab- Hermann Kurzke tritt dabei nicht als An- peniblen, gründlichen Recherche. Herbert kömmlich, denn der begabte Physiker kläger oder Richter auf, sondern eher als Kurzke, der später in der Bundesrepublik arbeitet an der Perfektionierung deut- ein Detektiv. Er will nicht verurteilen, als Manager bei den Farbwerken Hoechst scher Waffensysteme. Herbert Kurzke sondern verstehen, was seinen streng Karriere machte, wird so als unpolitischer entwickelt Bombenzünder und erforscht katholischen Vater, der nie der NSDAP Tüftler kenntlich, der vor allem unbescha- den maximalen Effekt von Detonationen. beigetreten ist, dazu gebracht hat, sich det durch den Krieg kommen wollte. Doch Von 1935 an gehört der Wissenschafter, widerspruchslos in den Dienst der Nazis dieses Buch zeigt mit liebevoller Unerbitt- dessen geplante Universitätskarriere ge- zu stellen. lichkeit gleichwohl einen Mann, der dem scheitert ist, zu einer geheimen Abteilung, Hermann Kurzke bedient sich dazu Naziregime zwölf Jahre gedient hat, ob- die der deutschen Rüstungsforschung einer Methode, wie er sie bereits in seiner wohl er nie Soldat war. ● 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Autobiografie In Ruth Schweikerts Krankheitsbuch «Tage wie Hunde» ist noch nicht aller Tage Abend – trotz Todesangst SelbstporträtmitTumor

Ruth Schweikert: Tage wie Hunde. EN APH

S. Fischer 2019. 199 S., um Fr. 28.–, OGR E-Book 19.–. PHOT Z NZ / Von Gunhild Kübler RAMP CK

Ruth Schweikert hat schon immer nah an ANNI ihrer Biografie erzählt. Darauf wies Peter Bichsel in einer schönen Laudatio hin, als die Autorin 2016 den Kunstpreis der Stadt Zürich entgegennahm. In ihrem Familien- Roman «Wie wir älter werden» gebe es zwar gar kein erzählendes Ich, sagte er, und doch höre er selber dauernd eines reden – letztlich die Stimme der Autorin. Deren couragiertes und engagiertes Pro- gramm heisse: Welt, ich werde dich auf- schreiben, «stinkfrech alles aufschreiben» (das Zitat stammt aus einer von Ruth Schweikerts ersten Geschichten). In ihrem neusten Buch «Tage wie Hunde» ist sie sich selbst so nah wie nie zuvor. Jetzt sagt sie Ich auf annähernd 200 Seiten, und die Lizenz dazu gibt ihr der Stoff: Sie hat einen Angriff erlebt, der aus dem eigenen Körper kam. Im Frühjahr 2016 erfuhr sie nach einer Biopsie, dass sie an einer hoch aggressiven Form von Brust- krebs erkrankt war, dem gefürchteten triple negative breast cancer. Plötzlich wurde es zugig im eigenen Ich. Da ist sie 51 Jahre alt, vielgefragt als Autorin von Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken, Dozentin am Literaturinstitut Biel, Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim, Schreibcoach für Jugendliche im Jungen Literaturlabor Zürich. Sie schreibt, publiziert, geht auf Lesereisen, ergreift öffentlich das Ruth Schweikert hat Schreiben als Gegenwehr, Selbstbehaup- der Mitpatienten, auch von bereits Ver- Wort, plant gemeinsam mit ihrem Mann sich ihrer Krankheit tung, Selbstsorge, ja sogar als Versuch storbenen wie Werner Morlang oder Roger einen Film. Und sie ist Mutter von fünf schreibend gestellt einer Selbsttherapie. Berühmte Krebs- Willemsen. Es ist der Krebs, der dafür sorgt, und ein Söhnen, von denen der jüngste erst neun beeindruckendes bücher sind auf diese Weise entstanden: dass Ruth Schweikerts gesamte private und Jahre alt ist. Buch geschaffen. Fritz Zorns wütende Abrechnung mit dem berufliche Lebenswelt unter Abschieds- (Zürich, Milieu seiner Herkunft in «Mars»(1977); licht gerät. Alles kann darin aufleuchten – Schreiben als Gegenwehr 21. Oktober 2016) Wolfgang Herrndorfs wie mit zusammen- ein Besuch im Lieblingsrestaurant; ein Die alarmierende Diagnose teilt Schwei- gebissenen Zähnen erzählter Bericht von Veloausflug mit dem jüngsten Sohn; Erin- kerts Leben in ein Vorher und Nachher. seinem Ableben in «Arbeit und Struktur» nerungen an berührende Lektüren; teil- Aufraffen soll sie sich jetzt («Nicht ge- (2013); Peter Esterhazys verzweifelt-ver- nahmsvolle E-Mails von Freunden und schlagen geben!!!»). Arztbesuche stehen spieltes «Bauchspeicheldrüsentagebuch» Kolleginnen; der Flügelschlag eines gelben an. Die Schulmedizin, Dr. Nett, Dr.Schnell, (2017), in dem er versucht «das Unheil am Falters auf dem eigenen Notizbuch und Dr. Schreck, Dr. Schön usw., verordnet Schlafittchen zu packen», wohl wissend, sogar noch die Bagger auf der Baustelle sofortige Operation, monatelange Chemo- dass der Tod nicht zu packen ist und schon beim Spital, die sie am Morgen vor ihrer therapie und anschliessend Bestrahlun- gar nicht «am Schlafittchen». Operation lärmen hört wie zum Trost: gen. In zwei Kliniken mit alternativen Die genannten Autoren haben ihren «Hier wird an der Zukunft gebaut.» Heilmethoden möchte sie sich davon Krebs nicht überlebt. Bei Ruth Schweikert erholen. war die Behandlung erfolgreich. Für sie Platz für das Unsagbare Unablässig kreist bei alledem die Mühle kam noch nicht aller Tage Abend. Etwa Ruth Schweikerts eindrucksvolles Selbst- ihrer Selbstbeobachtung: «Wird 2017 mein zwei Jahre nach der Diagnose kann sie sich porträt als Krebspatientin rückt dadurch, Todesjahr?» Doch im selben Augenblick, als gesund bezeichnen, wenn sie auch anders als sonst in Krebsbüchern üblich, in dem sie Einsitz nimmt in diesem «Ge- ahnt, dass sie sich nun der Unsicherheit vor einen vorwiegend hellen, über- dankenkäfig», weiss sie auch schon, «dass anvertrauen muss. Auch darüber legt sie raschend lebensfrohen Hintergrund. Zu- ich darüber schreiben würde – auch wenn in ihrem Buch Rechenschaft ab, wenn dem kommt im gut überschaubaren Er- ich noch keine Ahnung hatte, wie, unter auch inzwischen leicht genervt («woher zählraum dieses Buchs ihre mittlerweile welchen Umständen und welche Form diese Selbstverpflichtung zu Genauigkeit geradezu ausgepichte Erzähltechnik mit- dieser Text dereinst haben könnte; diese und/oder Wahrhaftigkeit, woher und tels Short Cuts zu ihren schönsten Wirkun- sofortige, unmittelbare Gewissheit ging wozu dieser als Bekenntniseifer maskierte gen. Sie lässt das Gesamtbild komplex und jedem Gedanken voraus». Lange Schreib- Geständniszwang?»). Jetzt vermisst sie tiefenscharf werden, indem sie Platz erfahrung hat sie gelehrt, dass auch ihre den Krebs als «inneres Gegenüber». schafft für eine Vielzahl von Stimmen – für mit dieser speziellen Situation verbun- Doch bleibt er ja durchaus präsent. die laut konstatierenden «stinkfrechen» dene angstvolle Scham sich auflösen wird Nach wie vor lenkt er ihre Aufmerksam- ebenso wie für die nachdenklicheren, lei- in lustvoller Selbstvergessenheit beim keit, macht sie hellhörig für Dutzende von sen. Und sogar Platz für das Unsagbare geduldigen Aufzeichnen von Satz um Satz. Geschichten überlebender oder sterben- und fürs Verstummen. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Migration Davide Enia erzählt von den Menschen auf Lampedusa, die täglich versuchen, Geflüchtete zu retten. Oft sind sie Totengräber DerersteTote wareinKind

kene, 300 oder einer: Da ist jemand, der Davide Enia: Schiffbruch vor Lampedusa. den Tod feststellen, eine andere, die For- Übersetzt von S. Van Volxem und mulare ausfüllen, einer, der die Toten O.M.Roth. Wallstein 2019. 238 S., um beerdigen, eine, die aufräumen muss – Fr.30.–, E-Book 20.–. und da sind viele, die Pizza-Snacks und Stofftiere an die überlebenden Kinder Von Gina Bucher verteilen. Von jenen, die erste Hilfe leis- ten, kommen viele zu spät. Bei Rettungs- Davide Enias literarische Reportage einsätzen sei Koordination alles, sagt der «Schiffbruch vor Lampedusa» berührt, Rettungsschwimmer. unabhängig davon, wie man zur Flücht- Und die Inselbewohnerin Paola be- lingssituation im Mittelmeer steht. Aufs schreibt Lampedusa als ständigen Ver- Wesentliche reduziert, dokumentiert der kehrsunfall mit Toten und Verletzten. italienische Autor seine Begegnungen auf Enia trifft auf Lampedusa auf Menschen, Lampedusa mit jenen, «deren Seelen ein die an Kriegsheimkehrer erinnern. Und Migranten in Seenot rufen um Rettung, nachdem ein Boot mit etwa 500 Personen vor Lampedusa gek einziger Friedhof» sind, weil sie die Folgen die doch alle sagen: Wir sind keine Hel- der europäischen Migrationspolitik er- den. Alle haben sie während ihrer Einsätze Onkel Beppe, anzurufen, weil er Angst vor leben: Die Ärztin Gabriella, die von ihrem ihr Trauma davongetragen und nagen dem Verlust eines geliebten Menschen schlimmsten Einsatz erzählt; der Kapitän ratlos an der Wirklichkeit. Nicht alle ste- hat. Und der Sohn wagt nicht, dem Vater der Küstenwache mit der Ausstrahlung hen deswegen politisch links. Sie stellen Fragen zu stellen. eines Kriegers, der seine Gefühle zu unter- dem Autor Gegenfragen, ohne eine Ant- Dass der Autor seine eigene Geschichte drücken versucht; der Rettungstaucher, wort zu liefern: «Wenn drei von vier unter- mit den Geschehnissen auf Lampedusa der um ein Kind weint; die Gerichtsmedi- gehen: Wen rettest du dann?» kombiniert, ist keineswegs unpassend, zinerin, die vom Salzwasser deformierte Enia, selbst in Sizilien geboren, reist sondern vielmehr klug: Enia illustriert mit Tote beschreibt; Vincenzo, der Totengrä- nicht unbeschwert nach Lampedusa. Er dem eigenen Schmerz sanft und doch ein- ber, der sich an das erste Flüchtlingsboot kennt die Insel aus seiner Kindheit und dringlich die Tragödie auf dem Mittel- von 1996 erinnert. Oder Dottore Bartolo, erinnert sich an seinen Onkel Beppe, der meer. Die Distanz zwischen denen und der beim Bootsunglück vom 3.Oktober ihm das Schwimmen beibrachte und von uns wird aufgehoben, indem er das Leben 2013 hoffte, der erste Tote in den gesta- dem er jetzt Abschied nehmen muss, weil der Geflüchteten mit unseren Erfahrun- pelten Säcken möge kein Kind sein. Doch er an Krebs erkrankt ist. Begleitet wird gen gleichberechtigt erzählt: Warum sollte es war ein Kind, nur wenige Monate alt. Davide Enia von seinem schweigsamen der Abschied von zwei Menschen hier Was die Europäer aus Schlagzeilen er- Vater, einem pensionierten Kardiologen, schlimmer sein als von zwei Menschen fahren, erleben die Bewohner von Lam- der lieber fotografiert als spricht. Der Vater dort? Abschiednehmen ist ein globales pedusa aus nächster Nähe. Ob 20 Ertrun- getraut sich nicht, seinen Bruder, Enias Phänomen und tut weh, immer und über-

Gesellschaft Utopien beginnen früher, als wir denken. Harald Welzer ermutigt zu einer spielerischen Annäherung an eine be DieZukunftisteinLego-Spiel

faltbaren Handys, selbstfahrenden Autos blem lösen, bevor man beginnen kann, Harald Welzer: Alles könnte anders sein. und Kühlschränken mit Innenraum- Dinge zu verändern, ist komplett blödsin- S. Fischer 2019. 320 S., um Fr. 30.–, kamera gibt es kaum ein Konsumprodukt, nig.» Es geht auch kleiner. Machbarer. E-Book 22.–. das nicht mit diesem Begriff belegt wird. Jetzt. Und nicht am Sankt-Nimmerleins- Stets wird mit Quantensprung gemeint, Tag. Welzer benennt 17 Lebensbereiche, Von Gregor Szyndler «dass jetzt aber etwas ganz Gravierendes, in denen konkret utopische Änderungen Disruptives, Grundstürzendes eingetreten möglich sind. Er tut dies mit 17 Legostei- In einer Zeit, in der «Alternativlosigkeiten» ist!» Das Vertrackte: Der Begriff bezeichnet nen (sie heissen u. a. «Wirtschaft», «Auto- zum Aufkommen gefährlicher Alternati- in der Quantenphysik «die kleinstmög- nomie» und «Fähigkeiten»), die «ausein- ven führen, Weltpolitik in Tweets erstarrt liche Zustandsveränderung, die zu einem andergenommen werden und neu kom- und Populismus immer stärker wird, ist ‹Sprung› in einem System führt». Aua. Da biniert werden können». Die Möglichkeit es unabdingbar, ein wachsames Auge auf will man das Grösstmögliche preisen, der Weiterentwicklung des zivilisatori- die Sprache zu werfen. Das tut der Sozial- himmelt aber das Kleinstdenkbare an. Wie schen Projekts liegt in der Re-Kombina- psychologe und Publizist Harald Welzer bezeichnend – und wie versöhnlich stim- tion des Vorhandenen. in seinem neuen Buch – um so zu einer mend: Haben doch kleinstmögliche Zu- Die lapidare Gravitas gewisser Lego- Utopie für freie Menschen zu gelangen. standsänderungen zu Unrecht den Ruf des steine darf nicht über das hinweg- Die Widersprüche und Untiefen des Langweiligen. Vielmehr sind sie der Be- täuschen, was sich hinter dem Wort Zeitgeists zeigen sich nirgends deutlicher reich des tatsächlich Änderbaren. Wo «Lego» verbirgt. Nämlich dänisch «leg» als im Sprachgebrauch. Ein geradezu phä- sonst sollen Utopien beginnen? und «godt»: «Spiel gut». Auch darum geht nomenal falsch verwendetes, durch den In seinen sprachkritischen Passagen es: eine Gesellschaftsutopie darf Spass irreführenden Gebrauch umso tröstliche- versprüht Welzer Lust und Zuversicht: machen. Es soll gespielt werden. Diese res Unwort ist laut Welzer der «Quanten- «Die Vorstellung, man müsse erst mal den Verspieltheit gibt dem Buch Schwung. So sprung». Was wird heute nicht alles Kapitalismus abschaffen, die weltweite freut man sich über die refrainartig in den «Quantensprung» geschimpft – zwischen Ungerechtigkeit beseitigen, das Klimapro- Text gewobene Abneigung gegen «über- 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 S

GE Kulturgeschichte Der Schriftsteller Michail Schischkin erzählt IMA

TY kenntnisreich und packend von der Kultur Russlands GET / H RAT MCG

T WarumHeidiinder RIS CH Sowjetunionverbotenwurde

witsch sprechen. Auch die Schweiz nimmt Michail Schischkin: Tote Seelen, lebende der Autor des (leider vergriffenen) Bandes Nasen. Petit Lucelle 2018. 1068 Seiten. «Die russische Schweiz» wieder höchst E-Book Fr. 39.– Zu beziehen über inspirierend ins Visier: Gründlich wird da www.schischkin.net. anhand von russischen Quellen der Schweizer Suworow-Kult demontiert – es Von Kathrin Meier-Rust gab keine Schlacht an der Teufelsbrücke, und Suworow war durchaus kein tragi- Ein in doppelter Hinsicht einzigartiges scher General, sondern ein besonders Projekt ist anzuzeigen. Zum einen ist es blutiger Feldmarschall der Zaren. Das Ka- ein Werk, das nur als E-Book gelesen wer- pitel zu Wilhelm Tell dagegen kreist um den kann, weil es sich um einen multi- die denkmalmässigen Merkwürdigkeiten medialen Hypertext handelt, der nebst eines Landes, das eine grüne Wiese ver- Bildern auch Audio- und Filmdateien ent- ehrt und die Söldner eines fremden Herr- or Lampedusa gekentert ist. (24. Mai 2017) hält. Weil Michail Schischkin keinen Ver- schers mit dem Denkmal eines sterben- lag für dieses Pionierunternehmen gewin- den Löwen würdigt. all. Durch das Erzählen von Enias eigener nen konnte, hat er das Buch mithilfe sei- Und während wir auf drei kurzen Seiten Geschichte schmerzen die Geschichten ner IT-kundigen Frau Evgenia Schischkina erfahren, wie Johanna Spyris «Heidi» in der Geflüchteten umso mehr. Auch weil im Selbstverlag herausgebracht. Zum der Sowjetunion sofort verboten wurde, der Autor betont, dass er die Geschichte Anderen aber ist es die überaus lebendige, entfalten sich in den zugehörigen Anmer- der Geflüchteten nicht erzählen kann: kenntnisreiche und persönliche Einfüh- kungen wieder grossartige Kleinromane: «Unsere Worte erfassen ihre Wirklichkeit rung eines russisch-schweizerischen über das tragische Schicksal der Dichterin nur unzureichend.» Schriftstellers der Gegenwart in das his- Marina Zwetajewa (die Heidi als Kind Unterbrochen werden die beiden Per- torische Universum seiner Herkunfts- liebte), über Lenins Frau Nadeschda Krup- spektiven durch Exkurse, die zwar zum kultur. skaja als Oberpädagogin und -zensorin der Teil beschwerlich sind – dafür aber Raum In «Tote Seelen, lebende Nasen» ergän- Sowjetunion und über das sowjetische geben, um Luft zu holen, wenn die Ge- zen sich Form und Inhalt aufs Erstaun- Heidi-Pendant in Gestalt des Kinder- schichten immer schlimmer werden. lichste. Mit einem Klick auf die im Text helden Pawlik Marosow, der seine eigenen Davide Enia verwebt geschickt zwei Er- genannten Personen, Werke, Orte oder Eltern aus Liebe zur Partei verrät. zählflüsse zu einer grossen Geschichte, so Themen erschliessen sich in sage und «Tote Seelen, lebende Nasen» erhebt poetisch wie brutal, mithilfe der trösten- schreibe 500 «Anmerkungen» weit mehr keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder den Kraft der Literatur: Wie sich Men- als blosse Porträtbilder oder Jahreszahlen. gar Wissenschaftlichkeit. Doch Michail schen voneinander verabschieden müs- In diesen Anmerkungen – der Autor be- Schischkins grossartiges digitales Buch sen, weil der Tod sie scheidet. l zeichnet sie ganz richtig als «Klein- offenbart den Reichtum und die Tragik Lenins Frau romane» – finden sich russische Schick- jener Kultur mit «erhöhtem Blutdruck», Nadeschda Krupskaja sale, literarische Traditionen und Diskus- die in Russland immer als «heilig galt», (l.) wachte als sionen ebenso wie die im Text erwähnten weil sie eine Arche für die Menschen- Oberzensorin über die ung an eine bessere Zukunft Gedichte, Musikstücke und Lieder, würde darstellte. l Sowjetunion. Schlüsselszenen aus Oper, Ballett und Film. Neben dem historischen Hinter- grund verweisen sie oft auch auf die Zu- kunft der Sowjetunion. Solche Linien ziehen sich zum Beispiel von Puschkins Tod im Duell direkt zur Dissidenten-Pro- donnerte» SUV oder über die Abqualifi- testaktion von 1968 auf dem Roten Platz zierung von Managerheftchen als Porno- in Moskau. magazine unserer Zeit. Mit leichter Feder In 16 Kapiteln oder Essays widmet sich entwirft Welzer eine Utopie für alle, die in Schischkin einerseits einzelnen Schrift- positiver Stimmung in die Zukunft gehen stellern und Komponisten und anderseits wollen. Das gelingt über weite Strecken allgemeinen Themen, etwa «Dichtern und auf süffige und illustrative Weise. Zaren». Gerade die subjektive Sicht des Jedoch wünschte man sich von einer Autors schlägt originelle Schneisen – besseren Zukunft, von schnell daher ge- wenn er etwa Gogols Werk nicht als Satire, schriebenen Kalauern wie «Sofortismus sondern als «russisches Totenbuch» be- der unverzögerten Bedürfnisbefriedi- greift. Wenn er die Frauengestalten der gung» oder Neologismen wie «Bequemis- Turgenewschen Romane als «Turgenew- mus» verschont zu werden. Solcherlei Mädchen» bezeichnet, weil Turgenew sich sprachlicher Unfug mag im Internet all- in ihnen selbst dargestellt habe. gegenwärtig sein, zwischen zwei Buch- Durch alle Kapitel hindurch jedoch ist deckel lässt er das Buch an seiner Länge das Unglück präsent, als Mensch «mit kränkeln. Auch kulturkritische Binsen- einer Seele und Talent» (Puschkin) im weisheiten zu «Tatort», Papst Franziskus Russischen Imperium geboren zu werden, oder Passagen à la «Unter uns: Der ganze einem Imperium, das seinen Dichtern nur Zivilisationsprozess ist mühselig, lang- die Wahl liess zwischen Verfolgung, Emi- wierig und oft rückfällig» blähen dieses gration und Hofgesang. Im Kapitel «War- anregende Buch unnötig auf. Es bleibt der ten auf die Exekution» lässt Schischkin Quantensprung der kleinstmöglichen eine reine Zitatencollage aus Briefen und Schritte. Das ist ja auch schon etwas. l Memoiren für Prokowjew und Schostako- 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Geschichte Der Reporter Bartholomäus Grill besucht Schauplätze deutscher Kolonialgeschichte in Afrika. Sein Buch geht nicht über Altbekanntes hinaus Kolonialismuskritikohne Tiefgang

einen für seine brutale Art bekannten Deutschland immerhin zur viertgrössten Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. deutschen Oberbefehlshaber erinnert. Kolonialmacht. Unser rassistisches Erbe. Siedler 2019. Dieser Mann ist nicht der Einzige, der in In Grills Buch tritt das für Kolonialsys- 304 S., um Fr. 34.–, E-Book 30.–. positiven Erinnerungen an die ehema- teme bekannte Personal auf: Kriegsherren ligen Herrscher schwelgt. Grill stellt uns wie Carl Peters (der «Inbegriff des sadisti- Von Ina Boesch weitere Menschen vor, die das Täter-Op- schen Herrenmenschen» in Ostafrika) oder fer-Schema auf den Kopf stellen, wie den Paul von Lettow-Vorbeck (der in China, Am Anfang steht eine Kindheitserinne- kamerunischen Gendarmen, der stolz ist Ostafrika und Südwestafrika sein Unwe- rung. Der kleine Bartholomäus entdeckt auf seinen Namen Adolf, «wie Adolf Hit- sen trieb und den Bestseller «Heia Safari» auf dem Estrich seines Grossvaters eine ler». Der gewiefte Journalist ergänzt sei- schrieb, den Grill auf Grossvaters Estrich Kiste mit Büchern und Broschüren zu nen Streifzug durch die ehemaligen deut- fand), aber auch Politiker, Kaufleute und Deutschlands Kolonien und betritt damit schen Kolonien in Afrika mit einem Ab- Missionare. Man begegnet unbekannten fasziniert eine «untergegangene Welt», stecher nach Neuguinea und nach China, und bekannten Protagonisten, vor allem der Grossvater Grill bis zu seinem Tod wo die Deutschen ebenfalls kurze Zeit aber viel altbekanntem Material. nachgetrauert hatte. Mit diesem Fund be- herrschten. Ihre Streukolonie machte Etliche Geschichten hat der Autor be- gründet der frühere «Zeit»- und heutige reits früher veröffentlicht und nun für das

«Spiegel»-Korrespondent Bartholomäus O Buch neu aufbereitet. Noch sehr präsent OT

Grill in seinem neuen Buch «Wir Herren- PH ist die Genozid-Debatte, die Bartholo- SZ menschen» seine Faszination für Afrika. / mäus Grill 2016 im «Spiegel» losgetreten RL Diese persönliche Geschichte ist wie hat. Während die Mehrheit der Historike- SCHE gemacht für einen Einstieg in ein Sach- rinnen und Historiker überzeugt ist, dass buch, das auf Grills jahrzehntelangen Er- die Militärs und die Verwaltung im dama- fahrungen in Afrika beruht, und er kann ligen Deutsch-Südwestafrika die Herero solche Geschichten gut erzählen, beruhen als «Volk» vernichten wollten, zweifelt sie doch häufig auf dem Augenschein. Auf Grill die These vom Genozid an. seiner «Reise in die deutsche Kolonial- Im Buch lässt der Autor uns nochmals geschichte» berichtet der Reporter farbig an den Gesprächen mit einem revisio- von Orten und Gebäuden mit der Patina nistischen namibischen Hobbyhistoriker der damaligen Zeit und rollt anhand teilnehmen, ohne indes überzeugender zu dieser Schauplätze deren Geschichte auf. sein. Er verpasst die Chance zur selbst- Er weiss auch Abenteuerliches zu berich- kritischen Differenzierung, wie er auch ten und nimmt uns mit auf die Suche sein Versprechen nicht einlöst, das er des Schädels eines afrikanischen Wider- am Anfang vollmundig äussert: «Die standskämpfers, der verloren ging, oder Leitgedanken von Edward Said, Stuart auf eine halsbrecherische Flussfahrt. Hall, Achille Mbembe und anderen post- Vor allem aber ermöglicht uns Grill Be- kolonialen Philosophen waren meine gegnungen mit Menschen, die auf die eine Wegweiser auf der Reise in die koloniale oder andere Weise in die deutsche Kolo- Vergangenheit.» Statt sich an diesen nialgeschichte involviert waren, etwa mit Leuchttürmen zu orientieren, zog es der Afrikanern, die noch deutsche Kolonial- Autor leider vor, seinen eigenen, nämlich herren gekannt haben. So lernen wir einen journalistischen Navigationskriterien zu ehemaligen Askari kennen, einen schwar- folgen – und vermied dabei Tiefgang und zen Soldaten, der sich mit Wehmut an Der Kolonialbeamte Carl Peters (r.) galt als «Inbegriff des Herrenmenschen». Analyse. ●

Politik Die Philosophin Martha Nussbaum zeichnet nach, wie die Angst den Blick vernebelt Fürchtet euchnicht!

nicht allzu sehr auf die Angst zu hören. hass, in den USA zum Beispiel bei den Martha Nussbaum: Königreich der Angst. Weshalb, zeigt Martha Nussbaum in ihrem rechtsextremen Demonstrationen in Übersetzt von Manfred Weltecke. WBG neusten Buch «Königreich der Angst». Charlottesville vor rund zwei Jahren. Es Theiss 2019. 304 S., um Fr. 45.–. Die Philosophin reagiert damit auf die gibt jedoch auch Emotionen, die der E-Book 28.–. zunehmende gesellschaftliche Spaltung Demokratie förderlich sind. Wer sich wie in den USA, die spätestens seit der Wahl Martin Luther King nicht von Rachegelüs- Von Florian Oegerli Trumps deutlich zutage getreten ist. ten, sondern von der Hoffnung auf eine Nussbaum sieht den Grund dafür in einem bessere Welt leiten lässt, weitet seinen Man liegt im Dunkeln, ohne fliehen zu allgegenwärtigen Ohnmachtsgefühl. Denn Blick. So erlebt er die anderen nicht mehr können. Arme und Beine zappeln nutzlos wer sich ohnmächtig fühlt, der sehnt sich als Bedrohung, sondern als Mitstreiter durch die Luft, und wenn man schreit, nach Macht und möchte sich, genau wie und Mitmenschen. geschieht lange Zeit nichts. die Brexitbefürworter, «die Kontrolle zu- «Königreich der Angst» setzt sich zu Was wie ein Albtraum klingt, beschreibt rückholen». Teilen aus alten, umgeschriebenen Tex- die Erfahrung eines jeden Säuglings. Im Der kindliche Wunsch, die anderen zu ten von Martha Nussbaum zusammen. Gegensatz zu den meisten tierischen sind beherrschen, verengt jedoch den Blick Das stört jedoch insofern nicht, als die menschliche Babys komplett hilflos, wes- und macht aus Mitbürgern Feinde. Schon Autorin ihr Buch als Debattenbeitrag halb die Angst zu ihren frühsten Emotio- in der Antike griffen Demagogen deshalb verstanden haben will. Und als solcher ist nen gehört. Sie treibt allerdings auch Er- gerne auf die Ohnmacht zurück, um die dieser Band nicht nur so wichtig wie aktu- wachsene um. Anders als Babys haben die Demokratie zu untergraben. Vermischt sie ell, sondern er kann einem auch die Angst jedoch keine Entschuldigung dafür, ihre sich mit Wut, Ekel oder Neid, entsteht eine nehmen, sich vertiefter mit dieser profi- Umwelt mit ihrem Geschrei zu tyrannisie- besonders gefährliche Mischung. Die ent- liert liberalen Denkerin auseinander- ren. Im Gegenteil sind sie gut beraten, lädt sich oftmals in Fremden- und Frauen- zusetzen. ● 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Wirtschaft Elizabeth Anderson analysiert Bedingungen in US-Unternehmen DiktaturamArbeitsplatz

Elizabeth Anderson: Private Regierung. ERS REUT Übersetzt von Karin Wördemann. / G

Suhrkamp 2019. 260 Seiten, UN YO M

um Fr. 38.–, E-Book 30.–. JI

Von Michael Holmes

2016 und 2019 streikten über 150 Millio- nen Inderinnen und Inder für bessere Arbeitsbedingungen. Die Weltmedien schenkten den grössten Protesten der Ge- schichte kaum Beachtung. Arbeitsrechte sind out. Elizabeth Anderson, Moralphilo- sophin an der University of Michigan, nimmt in ihrem faszinierenden und fak- tenreichen Buch «Private Regierung» populäre Ideologien unter die Lupe, die uns blind machen für Menschenrechts- verletzungen am Arbeitsplatz. Mit Scharfsinn entzaubert sie den Mythos, freie Märkte würden die Freiheit der Arbeiter garantieren. Sie zitiert zahl- reiche Berichte, die ernste Missstände in amerikanischen Unternehmen belegen. Millionen Arbeitnehmender werden an- geschrien, gedemütigt, schikaniert, ihrer Rechte beraubt. Sie werden für flüchtige Bemerkungen bestraft, müssen Windeln tragen, um Toilettengänge zu vermeiden oder schuften bis zum Zusammenbruch. 25 Prozent aller Arbeiter und Arbeiterin- nen in den USA betrachten ihre Arbeits- stelle als Diktatur. Druck und Drogentests Andersons Thesen sind ketzerisch: Ent- In Chicago demons- Viele Wirtschaftswissenschafter meinen, Unternehmen zwinge, gute Arbeitsbedin- fesselte Märkte erzeugten autoritäre trieren Mitarbeitende dass man aufgrund des Kündigungsrech- gungen anzubieten. Arbeitermitbestim- Unternehmensstrukturen, die – bittere vor dem Hauptsitz tes nicht von Autoritarismus am Arbeits- mung gefährde die Produktivität. von McDonald’s für Ironie! – kommunistischen Diktaturen höhere Löhne und platz sprechen sollte. Das sei so, entgegnet Andersons differenzierte Erwiderung glichen. Die Unternehmensspitze ent- bessere Arbeitsbedin- die Autorin, «als sage man, Mussolini sei auf ihre Kritiker bildet den krönenden Ab- werfe Produktionspläne, welche die gungen. (25. Mai 2016) kein Diktator gewesen, denn die Italiener schluss des Buches. Wir hätten grossen Untergebenen bedingungslos ausführen hätten doch auswandern können». Märkten und Industriebetrieben viele müssten. Die Autorität vieler Arbeitgeber In einem fesselnden Geschichtsdiskurs Fortschritte zu verdanken. Doch sie recht- sei rechenschaftsfrei und undemokra- zeigt Anderson, dass radikale Aufklärer fertigten keine rechtsfreien Räume im tisch. Die private Willkürherrschaft im wie die Levellers, Adam Smith und Betrieb. «Das Mass an Respekt, Status und Betrieb greife in sämtliche Lebensberei- Thomas Paine davon träumten, dass die Autonomie», das die Unternehmen auf- che vieler Angestellter ein. So wurden laut Marktwirtschaft alle Arbeiter aus Abhän- grund der Konkurrenz den Arbeitern ent- Studien Millionen von Personen unter gigkeit und Monopolherrschaft befreien gegenbrächten, sei «ungefähr proportio- Druck gesetzt, politische Anliegen zu würde. Vor der Industriellen Revolution nal zu ihrem Marktwert». Die meisten unterstützen. Und die Hälfte aller Arbeit- hätten die Märkte selbständige Arbeit Studien zur Arbeitermitbestimmung fän- nehmenden in den USA wurde anlasslos sowie Kleinbetriebe mit flachen Hierar- den einen steigernden oder neutralen Ein- auf Drogen getestet. chien gefördert. Seitdem dominierten fluss auf die Produktivität. Elizabeth Andersons tiefgehende Aus- jedoch Grossbetriebe mit zahlreichen Die Autorin nennt viele gute Gründe, einandersetzung mit den wichtigsten Ein- Lohnarbeitenden. Heute würden liberale warum die Vertragsfreiheit durch starke wänden gegen ihre These ist nicht völlig Ideen missbraucht, um deren Entrechtung Gewerkschaften, staatliche Schutzmass- überzeugend, aber immer lehrreich. Sie zu rechtfertigen. nahmen und ein Mitbestimmungsmodell zeigt, dass bedeutende Unternehmens- nach deutschem Vorbild ergänzt werden ökonomen die betriebsinterne Zusam- Keine rechtsfreien Räume sollte. 85 Prozent aller amerikanischen menarbeit als zentrale Planwirtschaft Das Buch enthält auch vier kritische Arbeiterinnen und Arbeiter wünschen beschreiben. Ronald Coase bezeichnet Essays von namhaften Denkern. Die His- sich mehr Mitbestimmung. Aber die Wirk- Firmen als «Inseln vorsätzlicher Macht». torikerin Ann Hughes legt dar, dass bereits samkeit all dieser Massnahmen hängt Dennoch sind viele Ökonomen überzeugt, vor der Industrialisierung viele Lohn- stark von der Gesamtproduktivität, der dass freie Eintritts- und Austrittsbedin- arbeiter unter schlechten Arbeitsbedin- Beschäftigungsquote und dem Bildungs- gungen genügen, um autoritäre Herr- gungen litten. Der Literaturprofessor niveau eines Landes ab. Dem Buch fehlt schaftsstrukturen zu minimieren. David Bromwich gibt zu bedenken, dass ein Kapitel über diktatorische Arbeits- Anderson unterstreicht, dass ein Job- die Industrialisierung das Leben der bedingungen in armen Ländern. wechsel für gering qualifizierte Arbeiter Arbeiterinnen und Arbeiter dramatisch Elizabeth Andersons kluge Reflexionen mit hohen Kosten verbunden ist und dass verbessert hat. Der Philosoph Niko Kolod- führen uns eindringlich vor Augen, war- viele Probleme ganze Regionen oder Be- ny betont, auch selbständige Arbeit sei um wir die Rechte von Arbeitnehmenden rufszweige betreffen. So klagen 90 Pro- häufig hart und belastend. Der liberale nicht als nebensächlich abtun dürfen. Ihr zent der Kellnerinnen über sexuelle Be- Ökonom Tyler Cowen ist deutlich optimis- Buch zeigt, dass wir offene Debatten über lästigung. Wohin sollen sie wechseln? tischer als Anderson, dass der Wettbewerb Demokratie am Arbeitsplatz brauchen. ● 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Sport René Stauffer legt eine fundierte Biografie des Tennisstars vor. Doch Überraschendes vermag auch der Kenner nicht zu erzählen BeiFederergibt es keinedunklenSeiten

«religiöse Erscheinung». Die meisten die- Teil, in dem Stauffer aufzeigt, mit welcher René Stauffer: Roger Federer. Die Biografie. ser Publikationen beleuchten Federer und Akribie und Detailversessenheit Federer Piper 2019. 352 S., um Fr. 35.–. seine Karriere aus verschiedenen Perspek- seine Karriere geplant und vorangetrieben tiven. Doch nur ein Buch darf für sich be- hat. Stellvertretend dafür steht etwa die Von Daniel Germann anspruchen, den Werdegang des Weltstars Episode, in der er die Kindermädchen für von seinen Wurzeln an nachzuzeichnen: seine Kinder persönlich evaluiert und sie Man würde denken, es gebe keinen jenes des Journalisten René Stauffer. Verträge unterschreiben lässt, in denen sie Aspekt, keine Facette, nicht die kleinste Stauffer kennt Federer seit dessen früher sich verpflichten müssen, keine Bezie- Kleinigkeit der Persönlichkeit Roger Fede- Jugend. 2006 brachte er die erste Biogra- hungen einzugehen, da es ihr Job er- rer, die nicht schon ausgeleuchtet, be- fie, «Das Tennis-Genie», auf den Markt, fordert, zum Teil wochenlang unterwegs schrieben und mehrmals rezitiert worden die in zehn Sprachen übersetzt und mehr- zu sein. wäre. Auf dem internationalen Buchmarkt mals überarbeitet wurde. In der Detailtreue, in der René Stauffer gibt es mittlerweile gegen fünfzig Publi- Nun erscheint Stauffers zweites Werk die Person Roger Federer nachzeichnet, kationen in allen Weltsprachen über den «Roger Federer». Das Buch greift zwar in wird deutlich, wie viel Arbeit und Auf- Schweizer Tennisstar. An seiner Erfolgs- vereinzelten Passagen auf die erste Bio- opferungswille hinter der Leichtigkeit geschichte versuchten sich Hobby-Philo- grafie zurück, ist aber mehr als nur eine stehen, mit der Federer auftritt. Wenn sophen und Erfolgsschriftsteller. Der ver- überarbeitete Neuauflage. Grundsätzlich dem Buch etwas fehlt, dann sind es Brü- storbene amerikanische Autor David Neues gibt es naturgemäss nicht mehr zu che in der anscheinend perfekten Per- Forster Wallace bezeichnete ihn in einem erzählen. Doch lesenswert ist für sattel- sönlichkeit. Aber offensichtlich gibt es Essay in der «New York Times» einst als feste Federer-Kenner vor allem der vierte die tatsächlich nicht. ●

Das amerikanische Buch Indianer sein ist ein Projekt

Mitte Januar kamen zehntausend Ur- meist erst nach 1924 Staatsbürger wer- einwohner zu dem ersten «Indigenous den konnten, zeigt die damalige Recht- People’s March» nach Washington. losigkeit von Indianern. Dort sprachen Deb Haaland und Sha- rice Davids, die bei den Wahlen 2018 Und doch: Wie Treuer in einer histori- als erste Indianerinnen Mandate im schen Übersicht von der letzten Eiszeit amerikanischen Kongress gewonnen an zeigt, sind die Ureinwohner ausser- haben. So erreicht eine erstaunliche ordentlich anpassungsfähig. Sie ver- Entwicklung die breite Öffentlichkeit: mochten sich selbst von Epidemien zu Amerikas Ureinwohner erleben eine erholen, die über 90 Prozent der Bevöl- historische Renaissance. Stämme und kerung vernichtet hatten. Auch wenn Individuen experimentieren als Unter- ihr Widerstand von 1890 bis 1950 pri- nehmer. Andere weiten indigene mär im puren Überleben bestand, fan- Rechte aus und kämpfen in Rückbesin- den verschiedene amerikanische nung auf ihre Traditionen gegen Alko- Stämme den Weg an Gerichte und be- holismus, Übergewicht oder Diabetes. wahrten so zumindest Land und Ver- Nun findet diese vitale Szene in David tragsrechte. Treuer einen Chronisten, der als Mit- A EP

glied der Ojibwe in Minnesota seit den / Später brachten ihr Heroismus im 1990er Jahren über Indianer schreibt DS Dienst der US-Streitkräfte in den Welt- OL

und sich selbst aktiv für Stammeskul- YN kriegen und eine indigene Variante der RE

turen einsetzt. AEL Bürgerrechtsbewegung eine Revision in Washington. Ausgerechnet der weit- MICH Mit The Heartbeat of Wounded Knee: hin verpönte Richard Nixon hat als ers- Native America from 1890 to the Pre- Zwei Vertreterinnen wohner traten von der Bühne der Ge- ter Präsident die katastrophalen Folgen sent (Riverhead 2019, 512 Seiten) ge- des Nansemond- schichte ab und versanken im Elend der Bundespolitik für Ureinwohner lingt Treuer eine bewegende und lehr- Stammes warten auf karger Reservate. offiziell anerkannt und deren Voll- den Beginn des reiche Kombination aus Historie, machten über ihr Land und ihre «Indigenous People's Reportage und Autobiografie. Der March»inWashington. Treuer macht dagegen einen schwa- Lebensweise deutlich erweitert. Autor hat einen Doktortitel in Ethnolo- (18. Januar 2019) chen, aber doch beharrlichen indiani- gie und zuvor in Princeton bei der schen «Herzschlag» aus. Zwar brachten David Treuer leuchtet aber auch Schat- Nobelpreisträgerin Toni Morrison die Europäer die «Apokalypse» verhee- tenseiten aus, etwa eigennützige Klan- Creative Writing studiert. Literarisch render Seuchen, Gewalt und brutaler Chefs. Hier wird klar: das Zerstörungs- ist Treuers Ansatz insofern, als sein Entrechtung über die Ureinwohner, werk der Europäer ist noch längst nicht Titel dem Weltbestseller «Begrabt deren Zahl von 1500 bis 1900 von etwa überwunden. Aber die «First Nations» mein Herz an der Biegung des Flusses» fünf Millionen auf 237000 kollabierte. haben Imponierendes geleistet. Die von Dee Brown aus dem Jahr 1970 Die Regierung betrieb schon vor Woun- Komplexität ihrer Aufgabe wird auch widerspricht. Brown hat das Massaker ded Knee eine systematische Zerstö- am Autor selbst deutlich. Treuer ist als am Wounded Knee Creek in South rung von Stammesorganisationen und Sohn einer Ojibwe und eines jüdischen Dakota vom 29. Dezember 1890 als tra- -kulturen. Sie gipfelte in der Zwangsein- Flüchtlings aus Österreich «gemisch- gisches Schlusskapitel beschrieben: weisung indianischer Kinder in staat- ter» Herkunft. Dies gilt besonders bei Nachdem die 7. U. S. Cavalry rund 250 liche Internate, wo viele Missbrauch, Stämmen östlich des Mississippi für Männer, Frauen und Kinder des Hunger und Schikanen erlitten. Gleich- sehr viele Mitglieder. Gerade für sie ist Lakota-Stammes niedergemacht hatte, zeitig führten Verwalter ein korruptes Indianersein nicht zuletzt ein intellek- erlosch der indianische Widerstand Regime in Reservaten, die nur selten tuelles und spirituelles Projekt. ● gegen die weissen Eroberer. Die Urein- eine Lebensgrundlage boten. Dass sie Von Andreas Mink

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. März 2019 Agenda Kunst Der Surrealist Max Ernst ging aufs Ganze Agenda April2019

Zürich Freitag, 5. April, 21 Uhr

Carolin Emcke: Ja heisst S

ja und... LABE AS

Lecture Performance. RE ND Schauspielhaus Pfauen, A Rämistrasse 34

Freitag, 5., und Samstag, 6. April Literatur der Jenischen, Sinti und Roma. Performances, Lesungen und Musik. Kosmos, Lagerstrasse 104

Dienstag, 9. April, 19.30 Uhr Dževad Karahasan: Ein Haus für die Müden. Moderation: Katrin Eckert. Fr. 20.–. Literaturhaus, Limmatquai 62

Montag, 15. April, 19.30 Uhr Ruth Schweikert: Tage wie Hunde. Moderation: Karen Roth. Fr. 20.–. Literaturhaus, Limmatquai 62

Mittwoch, 17. April, 19.30 Uhr Clemens Setz: Der Trost runder Dinge.

S Fr. 30.–. Kosmos, Lagerstrasse 104 RI TTE LI O

PR Basel «Castor und Pollution» heisst dieses provozierende gelbe Himmel wird durchzuckt von schwarzen Blitzen. Donnerstag, 11. April, 19 Uhr Bild. Der vor allem als Surrealist bekannte Maler Max «Castor und Pollution» sei bis 1974 nicht dokumentiert Abbas Khider: Deutsch Ernst (1891–1976) hat es 1923 geschaffen. Der anzüg- worden, schreibt Werner Spies. Von 1975 bis 2002 Pro- für alle. Moderation: liche Titel spielt auf das Zwillingspaar Castor und Pol- fessor für Kunstgeschichte in Düsseldorf und von 1997 Felix Münger. Fr. 18.–. lux aus Ovids Metamorphosen an, zugleich mit «Pollu- bis 2000 Direktor des Centre Pompidou in Paris, gilt er Literaturhaus, tion» aber auch auf Onanie. Der eine Zwilling ist un- als einer der namhaftesten Ernst-Kenner. Spies geriet Barfüssergasse 3 sterblich, der andere sterblich: Das deutet auf das aber ins Zwielicht, als er 2010 sieben Fälschungen von Motiv des Doppelgängers hin. In einem sonderbaren Wolfgang Beltracchi als echt ausgab. Manfred Papst Bern Boot üben die beiden Männer verschiedene Formen Werner Spies: Max Ernst und die Geburt des Surrealis- des Saugens, Lutschens oder Pfeifens. Der schwefel- mus. C. H. Beck 2019, 224 S., 47 Abb., um Fr. 32.–. 3.–6. April: Berner Lesefest Aprillen Mit Lisa Halliday, Patrick Savolainen, Michelle Steinbeck, Luna Al-Mousli, Bestseller März 2019 Adolf Muschg, Christina Viragh, Meral Kureyshi, Heinz Helle, Annette Hug, Andri Beyeler und anderen. Schlachthaus Theater, Rathausgasse Belletristik Sachbuch 20/22, www.aprillen.ch

Simon Beckett: Die ewigen Toten. Gabriel Palacios: Wer tut dir gut? Sonntag, 7. April, 11 Uhr 1 Wunderlich. 480 Seiten, um Fr. 33.–. 1 Allegria. 224 Seiten, um Fr. 20.–. Doris Knecht: weg Moderation: Luzia Stettler. Aufzeich- Julian Barnes: Die einzige Geschichte. Michelle Obama: Becoming. nung der SRF-Sendung 52 Beste Bücher. 2 Kiepenheuer & Witsch. 304 S., um Fr. 32.–. 2 Goldmann. 544 Seiten, um Fr. 34.–. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3 Andrea Camilleri: Das Nest der Schlangen. Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der 3 Lübbe. 272 Seiten, um Fr. 33.–. 3 Menschheit. Pantheon. 528 Seiten, um Fr. 23.–. Bücher am Sonntag Nr.4 T. C. Boyle: Das Licht. Silvia Aeschbach: Glück ist deine Entscheidung. erscheintam 28.4.2019 4 Hanser. 384 Seiten, um Fr. 35.–. 4 MVG. 176 Seiten, um Fr. 15.–. Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per E-Mail: Michael Robotham: Die andere Frau. Stephen Hawking: Kurze Antworten auf grosse [email protected]. Oder sind – solange Vorrat 5 Goldmann. 480 Seiten, um Fr. 24.–. 5 Fragen. Klett-Cotta. 255 Seiten, um Fr. 25.. – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8021 Zürich, erhältlich.

Elena Ferrante: Frau im Dunkeln. Bas Kast: Der Ernährungskompass. ANZEIGE 6 Suhrkamp. 188 Seiten, um Fr. 32.–. 6 C. Bertelsmann. 320 Seiten, um Fr. 30.–. NAGEL & KIMCHE Michel Houellebecq: Serotonin. John Strelecky: Folge dem Rat deines Herzens. 7 Dumont. 330 Seiten, um Fr. 34.. 7 C. Bertelsmann. 144 Seiten, um Fr. 20.–. Eveline Hasler,mit ihrer wunderbaren Unmittel- Gian Maria Calonder: Engadiner Abgründe. Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat barkeitdes Erzählens, 8 Kampa. 224 Seiten, um Fr. 21.–. 8 finden. Kailash. 288 Seiten, um Fr. 24.–.–. spürt dem wechselvollen Leben und Wirken einer Marc Elsberg: Gier. Wie weit würdest du gehen? Eveline Hasler: Tochter des Geldes. einzigartigen Frau nach. 9 Blanvalet. 448 Seiten, um Fr. 36.–. 9 Nagel & Kimche. 200 Seiten, um Fr. 32.–. Mentona Moser – Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten. Yotam Ottolenghi: Simple. Das Kochbuch . die reichste 10 Luchterhand. 192 Seiten, um Fr. 30.–. 10 Dorling Kindersley. 320 Seiten, um Fr. 40.–. Revolutionärin Europas ISBN 978-3-312-01114-8 Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 19. 03. 2019. Preise laut Angaben von www.buch.ch. 31. März 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Lesewelten

Cary Grant im Film «The Bachelor and the Bobby -Soxer», (1947).(Archive Photos / Getty Images)