4|14 Einsichten und Perspektiven

Bayerische Zeitschriftfür Politik und Geschichte

LebeninderUtopieoder:AlsDeutschlandnochgeteiltwar/Inter- viewmitMartinGutzeit/ImOstenwasNeues?/NS-Strafjustiz/ Ein Gesprächmit Okwui Enwezor/SchottlandnachdemReferendum Einsichten und Perspektiven

Autorinnen und Autorendieses HeftesImpressum

Dr.Maximilian Becker ist Historiker undResearch FellowamWienerWiesenthalInstitut für Einsichten Holocaust-Studien (VWI). undPerspektiven Dr.Stephan Dreischer befasst sich an der TU Dresden mitden Forschungsschwerpunkten Parlamentarismusforschung, europäische Integration,Institutionenanalyse und Parteien. Verantwortlich: Monika Franz leitetdas Publikationsreferat der Bayerischen Landeszentrale fürpolitische MonikaFranz, Bildungsarbeit. Praterinsel 2, Katharina Kern arbeitetals wissenschaftliche Hilfskraft an der TU Dresdenund befasstsich mit 80538 München diskursanalytischenund ethnomethodologischenFragestellungen. UdoSeiwert-Fauti war langjähriger Journalist bei der ARD undist heute freiberuflicher Europa- Redaktion: undSchottland-Korrespondent. MonikaFranz, Siegfried Wittenburg ist als freier Fotografiker,Textautor, Herausgeber undPublizisttätigund UtaLöhrer zählt zu den renommiertesten Fotografenzur DDR-Geschichte. Alexander Wulffius hat Politikwissenschaften studiert und arbeitetimBereich Public Relations in Gestaltung: München. www.griesbeckdesign.de

Druck: alpha printmedien AG Darmstadt

Veranstaltungshinweis Titelbild: Dieses Schaufenster einesLampengeschäftes der Lernort Staatsregierung staatlichen Handelsorganisa- Der Informationstag „Lernort Staatsregierung“ informiert über Aufgaben undArbeitsweisen der tion (HO) in Rostock foto- Bayerischen Staatsregierung. In Gesprächen mitleitenden Beamten und–nach Möglichkeit–Mit- grafierte Siegfried Wittenburg gliederndes bayerischen Kabinettswird ein Beitraggeleistet,die Distanz zwischenJugend und Staat im April 1989:„Womöglich abzubauen. Schulklassenoder Schülergruppen allerweiterführenden Schulen in Bayern ab Jahr- nacheinem Wutanfall habe gangsstufe10haben dieMöglichkeit teilzunehmen. Die Bewerbung erfolgt durchdie Lehrkräfte di- ich im Stadtzentrum meiner rekt per E-Mail an: [email protected] Heimatstadt, immerhin eine Bezirkshauptstadt, eine Reihe Parlamentsseminar 2015 ausgewählterSchaufenster des DieseLehrerfortbildunggibt Gelegenheit, für dreiTage Gast des Bayerischen Landtags im „Maxi- sozialistischen Einzelhandels milianeum“ zu sein.Vermittelt wird der parlamentarische Betrieb in all seinen Facetten.Ebenso dokumentiert. DieAuslagen wird Einblickgewährt in dieorganisatorischen Abläufe der Verwaltung. zeigenProdukte der staatlich Termine: verordneten Konsumgüter- 123. Parlamentsseminar 10.–12.02.2015 produktion, dieauf Kom- 124. Parlamentsseminar 09.–11.06.2015 mando am Bedarfvorbeiher- 125. Parlamentsseminar 27.–29.10.2015 gestellt wurden.“ Weitere Informationenfinden Sie unter: Foto:SiegfriedWittenburg http://www.blz.bayern.de/blz/veranstaltungen/parlamentsseminare/index.asp

Die BeiträgestellenkeineMeinungs- Bundesratsseminar 2015 äußerungder Landeszentrale für In Kooperation mit dem Bundesrat in wird das Seminar „Bundesrat, Bundestagund Födera- politische Bildungsarbeit dar.Für die inhaltlichen Aussagen tragendie lismus im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland“ für Lehrerinnenund Lehrer Autorendie Verantwortung. allerSchularten mitFakultas Sozialkunde durchgeführt. Termin: 12.–16. Oktober 2015 DieLandeszentrale konnte dieUrhe- berrechte nicht bei allen Bildern dieser Ansprechpartnerin: Ausgabe ermitteln.Sie ist aberbereit, [email protected]; Tel.: (089) 2186 2175,Fax: (089) 2186-3175 glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren.

226 Einsichten und Perspektiven 4|14 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

Siegfried Wittenburg 228 Lebeninder Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

EinGespräch mit Martin Gutzeit 246 „Ichdenke, es will keiner zurück…”

Katharina Kern und StephanDreischer 254 Im Osten wasNeues? DieLandtagswahlen2014 in Sachsen, Brandenburgund Thüringen

MaximilianBecker 266 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besetzung Polens

AlexanderWulffius 274 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. EinGespräch mit Okwui Enwezor, Direktor am Hausder KunstinMünchen

Udo Seiwert-Fauti 284 United we stand, divided we fall ... – Schottland nach demReferendum Ländernotiz

Neuigkeitenaus derLandeszentrale 296 Vorschau 2015

298 Neue Publikationen der Landeszentrale

Einsichten und Perspektiven 4|14 227 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

25 JahreFall Leben in derUtopie der Mauer: Zeitzeugen oder:Als Deutschland nochgeteilt war berichten

VonSiegfried Wittenburg

Radfahrer,Rostock-Groß Klein,1981. Dieses Fotostammt aus einerSerie meiner ersten Veröffentlichung in einer Be- zirksfotoausstellung des Kulturbundes. Die„Neubauimpressionen“,die mein unmittelbaresLebensumfeld darstellten, lösten jahrelangheftige undkontroverseDiskussionenaus. Fortan stand ich unter staatlicherBeobachtung, ohnedass ich einen konkreten Anlass fürein offensives Vorgehen gegen mich lieferte. Mein Leben wurdezum Drahtseilakt. Alle Fotografien: Siegfried Wittenburg

228 Einsichten und Perspektiven 4|14 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

30. September 1989: Ankunftinder Freiheit Hier befindetsichübrigensein nur wenigeMonate alter el- ternloser Säugling.Seine Eltern schafftenesnur noch, ihn Wasmuss dasfür ein Gefühl für die Menschen in Bayern ge- überden Zaunzureichen.Der Sau-Stasi warschneller.“1 wesen sein,als an diesem TagSonderzügeaus derDDR in Hof einrollten! Besetzt mit etwa 4000 Flüchtlingen, die zu- Und erschilderte seineAnkunft in Hof: vor in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in „Wasdie Filmberichte vom Abend des 30.09.’89betrifft,ich Pragwochenlang unter katastrophalenBedingungen ausge- sah sieam01.10. auch,mussich nicht wiederholen. Eswar harrt haben mit demeinzigen Ziel, in die Freiheit zugelan- eine fahle Darstellung.Ich weiß wasich sage, denn ichwar gen!Wie es den Flüchtlingen ergangen ist,weiß ichrechtge- da drin in dem4000fachen Wahnsinn, 4Meter hochauf ei- nau, denn mein Freund Lotharwar dabei. An seinerFlucht nemmassiven Zierzaun, derbedrohlichschwankte.Man warich nicht ganz unbeteiligt.Erschrieb mirdirektaus der kann dasgar nicht beschreiben, ichjedenfallsnicht. […] BotschafteinenBrief,hockte auf einerTreppeund schil- Und als ich im Grenzbahnhof Hof aus der Unter- derteinwinziger Schrift auf einem Zettel, den ihm einStern- führung hochstieg,standen da hunderte Leute und klatsch- Reporteraus dem HotelInter-Continental mitgebracht hat- ten. Ja doch! Da hab ich mich auf eine Treppenstufe gesetzt, te,was umihn herum geschah. Dieser Brief erreichte mich und es warmir egal,dass ichweinte.Und die Rotzeliefmir erst im November, unmittelbarvor dem Fall derMauer. aus der Nase, und der Kehlkopf war ein voll gefressener Dochich konnte ihngar nicht erfassen,denn in Rostock,wo Klumpen Schmerz. Musskomisch ausgesehen habe,der ichlebte,waren wirgerade miteiner Revolution beschäftigt. Kerl aufder Treppe.Dabin ich36Jahre alt, habe nichts er- Die Welt stand Kopf!Soblieb der Brief liegen. Er fiel mir reicht,wie Mamatränenerstickt sagt –und ichfühle mich bei jedemUmzug während derfür mich folgenden„wilden sauwohl dabei. Fühlt Euch ganzliebumarmt! Lothar“2 Jahre“ in die Hände. Ichhütete ihn wie meinenAugapfel, wasebenso auf mein Fotoarchiv,meineBücher, meine 40 JahreDDR: Der Staat behandelte Schallplatten und meine Dokumente zutraf. Erst im Jahre Erwachsene wie Kinder 2011 lasich ihn nocheinmal genau durchund erkannte,dass dieser Brief heute wohl das einzige Zeitzeugendokument WashattemeinenFreund Lothar bewogen, in die Prager ist, dasdiese für diedeutsche Geschichte so bedeutenden Botschaft zu fliehen? Er warnicht derersteFlüchtling aus Wochen voninnen heraus dokumentiert. Lotharschrieb: meinemunmittelbaren Umfeld in Rostock, wo ichgeboren „Die erste Nacht hinter mir, ein Alptraum!Habe wurde und lebte.Die erste Schockwelle erreichtemich angestanden wegen Anmeldung, um Erbseneintopf, sonsti- schon im Frühjahr 1989,als die Nachrichten aus demWes- gen Lebensmitteln, Essbesteck undwas weißich.Aushän- ten berichteten, dasssichjungeLeuteinder Botschaft der digung eines nagelneuen Bundeswehrschlafrocksnach BundesrepublikDeutschland in Budapest gemeldethaben 1-stündigem Warten.Das Bundes-DRK ist restlos überfor- und die Ausreise in denWesten verlangten.Darunterwar dert.Diese LeuteopfernunentgeltlichihrenUrlaubfür uns. eine Studentin, die Freundin einesanderen Freundes, was in […] diesem Fall nicht Liebschaftbedeutet.Sie hießKathrin, er Ich kam als 200–250ster Ausreisewilliger.Inder hießThomas. Kathrin warein hübsches, lebenslustiges Nachtkamen schätzungsweise 300 bis400 weitere Leute zu Mädchen und musiziertenebenbeiineinerBand. Ihre Vor- unsund derZustrom will nicht enden. Die sind Einzelper- liebe galtder irischen Folkloreund siewar dieGeige. Noch sonen, Frauen(mit oder ohne Kinder), und Männer,die ih- wenigeWochenzuvor hatte siezur Vernissage inder Foto- re Ehepartner zurück lassen,Kumpels zu zweit oderzu galerie„Zebra“ musiziertund gesungen,die meine Freun- fünft. […] de und ichals Arbeitsgemeinschaft fürFotografieimKul- Hierleben derzeitSäuglinge, Hochschwangere, turhaus der WarnowwerftinWarnemünde betrieben. Familienmit bis zu 4Kindern. Viele Vorbestrafteund As- Wirhatten die Nase voll vonder ständigen Bevor- sis, jugendliche Dummköpfe,die es hier als fröhliches mundung, welche von unseren Fotografien in die Öffent- Abenteuer betrachten; Skins,die mit halbwegspink-nor- lichkeit gelangen durftenund welche nicht. Wirwaren ge- malenFrisuren ankamen,sich hier,wosie Morgenluft wit- radedabei,uns Bild für Bild voran zu kämpfen, um irgend- terten, gegenseitig die Haareabrasierten, bis nur nochein wann dorthin zu gelangen,wowir uns alserwachsene Hakenkreuzübrig blieb. […] Menschen nicht mehr wie kleine Mädchen oderJungen füh-

1Brief von Lothar Kosz, verfasst am 27.09.1989 ab 02.30 UhrinPrag, Botschaftder BundesrepublikDeutschland. 2Brief von Lothar Kosz, verfasst am 06.11.1989 nach seiner AnkunftinBremen.

Einsichten und Perspektiven 4|14 229 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Kampftag, Rostock 1984. Der 1. Mai wurdeals „Kampf- und Feiertagder Werktätigen“ mitstaatlich organisierten Massendemonstrationen begangen. Für das Erscheinen des vollständigenKollektivssorgte der staatlicheVorgesetzte. Mir wurdejedes Mal aufgetragen,ein Belegfoto für das Brigadetagebuch anzufertigen, was ich nur mit großerÜber- windung befolgenkonnte. So kam ich zu diesem Foto, auf dem zwei meiner IM abgebildet sind.

lenmussten. Mein Freund Thomasbekam einProblemmit zeichen gibt es nicht. DasderzeitigeProblemder SED war derAngelegenheit in Budapest, denn er war der Leiter des derStalinismus, der noch in den Köpfen und Kellern umher Studentenwohnheimes,woKathrin wohnte. Und er war irrteund in derPartei Reibung verursachte. Einfach formu- Mitgliedder SED. Er war noch in dem jugendlichenAlter, liert bedeutete dieses: Alt gegen Jung.Thomaswar jung und wo er meinte, dass dieSED von innen herausreformierbar gehörte somit zu uns, die wir ebenfalls jung waren. wäre, wenn er sich fürseineZukunft nur kraftvoll genug en- gagierte.Indiesem Sinne wäreersogarIMder Stasi gewor- Polen 1980 bis 1989: Das„Gespenst“ der den, wenn dasvon ihm gefordert wordenwäre, erzählte er Solidarnos´c´ mir. Inzwischen siehteresandersund sagt,dass er Doch zurück zu Lothar.Seine Vorliebe warund istheute Glückhatte,glimpflich davon gekommen zusein. Und er nochdie Aktfotografie.Nein, nicht mit posierendenNa- istganzstolz darauf, dasssogareine Fotografie vonihm in ckedeis, sondern richtige Bilder, wovon manohne rotzu einer Dresdner Untergrundzeitschrift erschienenwar.Tho- werden behauptenkann, dass es Kunstwerkesind. Nun, maswar Sachse, was heute noch zu hören ist, wenn er manchmal wurdendie Betrachterschonetwasrot, doch spricht. InunsererArbeitsgemeinschaftwar Thomasderje- Pornografie lehnt derAutor strikt ab.Das hatte sogar die nige,der alsMitgliedder Partei bei schwierigen Auseinan- Stasi durch ihrekonspirativeTätigkeiterkannt. Schon 1986 dersetzungen mitder Parteileitungandersargumentieren warLotharaufgefallen, alswir als„Betriebsfotozirkeldes konnte als ich, der ich zwarder künstlerischeund organisa- VEB Warnowwerft“, „HervorragendesVolkskunstkollek- torischeLeiter war,doch parteilos.Künstlermit Parteiab- tiv“und Träger der„Goldmedaille der 20.Arbeiterfest-

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Schrankenwärter,Huckstorf 1982. Agitationund Propaganda waren in der DDR allgegenwärtig.Sie war auf Ewigkeit angelegt, kam in die Jahre und triebinder Spätphase skurrile Blüten.DiesesSchild undden entsprechend ebenso ver- lotterten Bahnhof fotografierte ich 1982 undreichte dieSerie wiederumzueiner Ausstellung des Kulturbundes ein. Ich befürchtete, mit dem Staat Ärgerzubekommen.Drei Wochen später stellte ich das Gegenteilfest:Der Bahnhof war aufgeräumtund das Schild verschwunden.

spiele“den Auftrag erhielten, eineFotoausstellung zuge- war, setzten wir diesen in die Tatumund stelltenuns der stalten,die mit einem Freundschaftsbus ins„Bruderland“ Staatsmachtgegenüberbockig.Sehrbockig sogar,solida- derVolksrepublik Polen reisensollte. Ohne uns mitzuneh- risch bockig,so, wie Unmündigeebenseinkönnen. Aber men, natürlich, denn Polen war seit 1981 für DDR-Bürger auch geschickt. geschlossen, woraus auch zu erkennen ist,dass wir keine DerFreundschaftsbus fuhr nur nochmit dem Bürger waren, sondern irgendetwas anderes. harmlosenChor und derunpolitischen Folklore-Tanzgrup- Jenseitsder Grenze nach Osten ginggeradedas pe nach Polen, also ohne unsere Fotografienvom realsozia- „Gespenst“der Solidarnos´ c´ um und wir solltenden auf- listischen Menschendaseininder DDR. DieReaktion vom müpfigen Polenwohl zeigen, wie schön es ist, wenn die staatlichenKulturhausleiter, sagen wir vonKlaus, SED, war Menschendem Staat gegenüber so brav sindwie in der kurz und knapp: DDR.Dochdiese von unserwartete Aussage waruns wohl „Siegfried, du hastschweren politischen Schaden nicht gelungen.Sie war auchnicht unsere Absicht. Wir angerichtet.Absofortbistduals Zirkelleiterentlassen.Wei- dachtenebenhumanistisch, was der Zensor vonder SED, terhin erteile ichdir Hausverbot!“ sagen wir Peterzuihm, nicht nachvollziehenkonnte,weil Natürlichging ichmit weichenKniennach Hause. dieser stalinistisch dachte. Undesentwickelte sich einhef- Den Rest erledigte aufAntrag desstalinistischenSED-Flü- tiger Konflikt. Lothars Aktfotos wurdenzensiert,für diese gels die Stasi.Pikanterweise wardas abgebildete Fotomo- Veröffentlichung verboten.Und da wir Freunde waren und dell aufLothars Bildern eine Schauspielstudentin und eben- uns derinder DDR arg strapazierteBegriff„Solidarität“, so die hübscheTochterdes amtierendenStadtrats für Kul- was wiederum auf PolnischSolidarnos´c´heißt, nicht fremd tur,sagen wir Jürgen,SED,inRostock.

Einsichten und Perspektiven 4|14 231 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Fotoklub Konkret, Warnemünde 1986.1982 übernahmich nebenberuflich in meinem Geburtsort diekünstlerische und organisatorische Leitung des Betriebsfotozirkels des VEBWarnowwerft. Diejugendliche Fotogruppeentwickelte sich rasant und erhielt hohe Auszeichnungen. Die Stasi kommentierte: „W.sammelt ideologisch ungefestigte Jugendlicheum sich.“Diese Aufnahme entstand nachunserer „Feuertaufe“und zeigt den Kern der Gruppe,der sich mitpraktizieren- der Solidarität einer staatlichen Zensur widersetzte.

1986 –1989: Stalinismus stattGlasnost und Undweilwir derSED somit unbeabsichtigtgeholfenhaben, Perestroika die Stalinisteninihrer eigenen Partei zu entlarven,gar zu vertreiben, kamsie in Formeinerjungen,charmantenGe- Nach dieser Feuertaufe –zwei leitende Genossen derSED, nossin erneutauf uns zu mitdem Vorschlag, zum 40. Repub- derKlaus und derPeter,wurdenals Lügner enttarnt und likgeburtstag–obwohl die DeutscheDemokratischeRepu- versetzt–nanntenwir uns „Fotoklub Konkret“.Dieses blik gar keine Republik war, demokratisch war sieauch wiederum forderte eineBildsprache heraus,die sich nicht an nicht, dochdas nur am Rande –wiederumeine Fotoaus- den allgemeinen Kanon mitfröhlichen FDJlern,Aufmär- stellung zu gestaltenund zumFeiertag genau dortzuprä- schen der Kampfgruppen undstaatlich wohl behütetenKin- sentieren, wo Kathrin mit ihrerBandstatt Liederder FDJ dern anschloss. Wergenauer hinschaut,entdecktdas Kür- irischeFolkloredargebotenhatteund wir um die Freiheit zel „FKK“,was wiederumnicht nur auf Nackedeis zure- zurVeröffentlichung vonFotografieninihrer realsozialis- duzieren ist, sondern dieBegriffe Freiheit,Mensch und tischen Reinformkämpften. Kultur assoziiert. Lothar hatte öfter solche Ideen und es fiel Ich blieb, verständlichnach meinenErfahrungen, ihm nie schwer,uns Freunden dieseschmackhaft zu ma- zunächst skeptisch.Dochder weibliche Charmeder SED, chen.Ja, es machte sogar Spaß,spät am Abend nachunse- nennenwir ihn Jutta,lockte nebeneinerstattlichenmate- ren Klubabenden, wenn die IM längst nach Hause gegangen riellenPrämie mit einemweithin dehnbaren Ausstellungs- waren, um ihre Berichte zu verfassen,auf unverfängliche titel, den wir zunächst bestätigten, späteraberverwarfen, Artund WeiseamStammtisch subversiv tätig zu sein. weil er dochrechtinfantil daherkam.

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Sozialismus, Jena 1987. Den beginnenden Untergangspürteich ab 1987, als ich mitmeiner Frau undimTrabi eine Rundreise durch einen Teil der DDR unternahm. Das Reisen durchdiesenStaatwar aus freien Stücken,was Verpfle- gungund Übernachtung betrifft, ohnehin nicht möglich, docheskam noch viel schlimmer.

„Und baut wie wir am Leben“ schrecklichenNachrichten vomPlatz desHimmlischen Weil icheine ganze ReiheSchlupflöcher erkannte,die aus Friedens in Peking in den Gliedern, wo protestierende Ju- der engen ideologischen Zwangsjackehinausführten, was gendliche,unsere Gleichgesinnten, vonPanzern überrollt Thomasund Lotharauch so sahen, holten wir die Fotos aus wurden. unserenORWO-Kartons, dieinihrerGeschlossenheit bis- Als die Fotos an denWändenhingen, wurde es still hersonicht publiziert werden konnten,weil wir eben noch im Kulturhaus.Alle,die bisheretwas zu sagen hatten– nicht so weit waren, ohne Zensurzuveröffentlichen. Nur durchwegSED-Mitglieder –verkrochen sich,dennzur Ab- am Rande erwähne ich, dassmit Michail Gorbatschow aus nahme derAusstellung hatte sich Renatepersönlichange- dem Kreml in Moskau ein frischerWind namens Glasnost meldet. Renate wardie hauptamtliche Betriebsparteisekre- und Perestroika wehte undunserenMut beförderte. tärin, SED, des VEBWarnowwerftmit fast7000 Beschäf- tigten.Auf dieser Basisbesaß sieein Machtpotenzial, dem Juli 1989:Verschiedene Blickwinkel sich sogar die Betriebsleitung fügenmusste, geschweige denn derneueKulturhausleiter, SED, nennenwir ihn Die- Der Tagkam unddie Ausstellung nanntenwir „Blickwin- ter,und die künstlerischeLeiterindes Hauses, SED,nennen kel“.Die Einladungen an das Publikum warenverschickt, wir sieElisabeth,die uns als„Fotoklub Konkret“ im kultu- und währendwir unsere Bilderindie selbst gebautenRah- rellenSegmentder künstlerischen Fotografie nicht rechtge- meneinlegten –richtigeBilderrahmen waren im Sozialis- wachsen waren. mus Mangelware, doch das nur am Rande –steckten uns die

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Deutsches Haus, Königstein 1987. WährenddurchMichail Gorbatschow aus dem Kreml in Moskau in Formvon Glas- nostund Perestroika,Offenheit und Umgestaltung,ein frischer Wind wehte,proklamierte Erich Honecker einen „So- zialismusinden Farben der DDR“. DieMenschen waren irritiert, dennseit Jahrzehnten hieß es „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“. Nunwitzelte das Volk: „Von der Sowjetunionsiegen lernen will gelernt sein!“ Oder: „Frü- her standenwir vor dem Abgrund. Jetzt sind wir einenSchritt weiter.“

Es kam,wie vorhersehbar,zueiner heftigenDiskussion. Wenig später kletterteerinder Prager Botschaftüberden DasAuftragswerk, von der charmanten Seite derSED ini- Zaunund konnte sich anschließend keine Zigaretteanzün- tiiert undvom realistischen Flügelder SED,wie zumBei- den, weil er am ganzen Körperschlotterte. spielThomas,befürwortet,gefiel Renateüberhaupt nicht. Siehatte völligandereVorstellungen vom real„vegetieren- 9. November 1989: Der Fall der Mauer war den“Sozialismus,als unserFotomaterial, aus untrüglichen nochnicht die Freiheit Silberverbindungen bestehend, auf chemischemWege sicht- bar gemachthat. Wirparierten ihrer Wutund getrauten uns Wasmussdas fürein Gefühl für die Menschen gewesen sein, zu erwidern, dass sie doch aus dem Fenster schauen möch- alsandiesem Tagdie Schleusen geöffnetwurdenund die te, um der Realität insAuge zu blicken. In die Eckege- qualmendenTrabis,Wartburgs und Ladas nicht nur in drängt,bliebenihr als letzter Auswegzur Erhaltung ihrer Westberlin, sondern auch in Schleswig-Holstein, Nieder- dumpfen Macht Lothars neue Aktbilder,die sieohne jedes sachsen,Hessen und Bayern einrollten? MeinGefühl ken- Gespürfür die menschliche Würde und ihrerKunstgna- ne ich. Etwa zurgleichenZeit, alssichein Mitglied desSED- denlos verriss. VorWut schäumend brachte siewörtlich Politbüros bei einer Pressekonferenzauf Anfrage einesita- zum Ausdruck: lienischen Journalistenverplapperte, brachteich meinen „Wenn hier polnischeVerhältnisse eintreten, kleinenSohn zu Bett,umanschließend ins ZentrumRos- schrecken wir vorWaffengewalt nicht zurück!“ tocks zu fahren und in derMarienkircheden Worten des Wensie mit „wir“ meinte, blieb offen.DochThomaswur- Predigers, wir nanntenihn Jochen, zu lauschen,der den de leichenblass, wogegen Lothar trotzigund wortlos seine Menschen Mutzusprach.Anschließend drehten wirunsere Bilderabnahm und dabeiseineAngstmöglichstverbarg. Runde und lehrtenwie an jedemDonnerstagabendzur glei-

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Urlaubsfreude, Sellin 1987. Als Bewohner der Ostseeküste taten mirdie Werktätigen aus den Industriegebieten im Süden der DDRleid,wie sie selbst im Urlaub für kleine Freuden reglementiert wurden. Denn auchdie staatlichenFeri- enheime(FH) waren straff durchorganisiertvon der Strandkorbzuteilung bishin zum fest zugewiesenenPlatz mit manchmal unangenehmen Tischgenossen zu den Mahlzeiten im zentralen Urlauberrestaurant.

chen Zeitden ängstlich verbarrikadierten Stasileutendas Jetzt rolltendie Trabis,Wartburgs und Ladas nach Westen, Fürchten. Immerhin waren wir40.000 Menschen und und mit ihnennicht nur Jochenund Thomas–Kathrin und konntenuns endlich Bürgernennen. „Wir sind dasVolk“ Lothar warenjaschon im Westen –sondern auch Klaus, Pe- klang sehr selbstbewusst. ter, Dieter, Jürgen, Elisabeth, Jutta und Renate. Gut, Rena- Nach derabendlichen Runde,soum22.30 Uhr, tereistewohl etwasspäter. Siemussteerst ihreAngst vor hörte ich auf dem Ernst-Thälmann-Platz –damalsgab es demKlassenfeind überwinden. Doch Klaus habe ichals ei- vieledieser Namen,doch das nur am Rande –eineneinsa- nen der ersten gesehen. Und die Menschen im Westen ha- menRufer: „Die Mauer ist gefallen! Die Grenze istgeöff- benallenZonenkindern gleichermaßen zugejubelt und auch net!“ Kaum jemand hat hingehört,weil allein derGedanke demeine Bananezugesteckt, dermir dasAnrichtenschwe- daran Lichtjahreentfernt war.Auch ich fuhr nachHause, ren politischen Schadensvorgeworfenund mir eine „Ope- legtemichausgerechnet an diesem späten Abend schlafen, rative Personenkontrolle“der Stasi verpasst hat. Vielleicht obwohl meine Frau undich oftdie Spätnachrichten im mit demHintergedanken, nicht nur eine Banane, sondern Westfernsehen verfolgten. Diese waren so aufregend, dass für meinen Kopf ein paarTausendD-Mark für dasDevi- dasAdrenalin uns wochenlang den Schlaf raubte. Früh am senkonto derDDR zu erwirtschaften. nächstenMorgen weckte uns, wie üblich, das kleine Kind. Nungut, Renate habendie Rostocker Revolutio- Wirstellten, wie üblich, die Siebenuhrnachrichten an –und näre nochden Garausgemacht.Auchder Oberbürgermeis- brachen in Tränen aus, als wirdiesehörten. Doch ichsagte ter,SED,wurde davongejagt.Aberdannwar die Luft raus, auch: die behäbigeMasse warzugroß, die D-Mark wurde gewählt „So einMist! Wirsind dochmit der Revolution und bis ichwiedereinigermaßen festen Bodenunterden Fü- nochgar nicht fertig!Jetzt laufen dieLeutealle weg.“ ßenhatte, waren 20 Jahre vergangen.IndieserZeitwurde

Einsichten und Perspektiven 4|14 235 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Weltanschauung,Heiligendamm1988. Jetzt hatte ich es geschafft: Ich war Kandidat des Verbandes Bildender Künstler der DDRund fortan war es mir möglich, freiberuflich tätig zu sein. Ichwusste nur nicht, wie. Die Aufnahmeprüfung vor einerstaatlichenKommission, dieallerdings mit andersdenkendenKünstlerndurchmischt war,gelangmir mit der Serie „Ein Meer –das istHoffnung…“ Eigentlich hätten diese Fotografien verboten werden müssen, dennsie erzählen von der Sehnsucht der Menschennach Freiheit. Den spitz formulierten Titel „Weltanschauung“ erfand ich, weil von den Menschender DDReine „richtige“ Weltanschauung verlangtwurde, ohne dass sie sich die Welt anschauendurften.

alsHauptschuldiger füreine 40-jährigeDiktatur,davon28 dochnur eine Freiheit. Und es wareine friedliche,freiheit- mit Mauer und Schießbefehl, dieStasiverantwortlichge- liche und demokratischeRevolution, dann einStückAnar- macht. Dochdas ist nurdie halbe Wahrheit, nur ein Teil der chie und zu guter Letzt einProzess, derindie deutscheEin- Aufarbeitung. Es fehlen noch dieZwischentöne und die heit mündete.Drei historisch wichtigeEreignisse ineiner Grauzonen. Immernoch. rasantenZeit, die vonvielenMenschen bisherkaumdeut- Für viele Menschen der ehemaligen DDR wares lichdifferenziert wahrgenommenwerden. nur eine Wende, so, als wenn sie das Bierjetzt nur mit an- derem Geld bezahlen als vorher.Peinlich ist,dass derinden Nach1990: Die Härte der Realität allgemeinen Sprachgebrauch übergegangeneBegriff„Wen- de“von Egon Krenz geprägt wurde,dem verantwortlichen Wasinden ersten Jahren nach 1990 erfolgte,hat sich tiefer Wahlfälscherund Nachfolger Erich Honeckers. Während in die Erinnerungen derostdeutschen Bevölkerung einge- derRevolution gab es lustige Plakate: „Großmutter, warum brannt alsJahrzehnte Diktatur zuvor. Im Foto-Bildband hast du so große Zähne!“ Und „DerKrenzwert ister- „DDR-Ansichten“von ThomasHoepker, derals Stern-Fo- reicht!“Und „Zudumm zum Addieren –aberein ganzes tograf Anfang der 1970er Jahrevorwiegendstreng kontrol- Land regieren!“Für mich, und für viele andere ebenfalls, liertöstlichder Mauer fotografieren durfte,währendseine war es eine Revolution. Ichfühle mich heute frei. Und ich Frau schrieb,fandich im VorwortfolgendeWorte vonWolf blicke zurückohne Bitterkeit, was ich nur kann, weil eben BiermannineinemAbsatz, dervon „blühendenLandschaf- die Freiheit mein höchstes Gut ist. Es gibt viele Währungen, ten“handelt:

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Lothar Kosz, Rostock im August 1989. Nurwenige Tage, bevor meinFreundLothar Hals über Kopf in diePrager Bot- schaft flüchtete, fertigteich dieses Porträt an. Er sagtemir später,dass es ihmindieserZeit sehrschlecht ging. DieAuf- nahme entstand im „Café Rostock“, wo Ausreisewillige verkehrten. Ichwusste, dass er einenAusreiseantraggestellt hatte, was mirdie künstlerische Leiterin des Kulturhauses, SED, etwasratlos mitteilte. Sie wusste nicht,wie sie damit umgehen sollte.Ich sagte, dasssein Antrag mitSicherheit nichts mit unserem Freundeskreis zu tun hat und er bei uns gut aufgehoben sei. Außerdem sollteman sich mitden Gründen der Ausreisewilligen auseinandersetzen, dennsie ver- lassenihre Heimat dochnicht aus einerLauneheraus.Sie dachte darüber nach, konnte abernichts ändern.

„Mitdem verkümmerten Geist der Freiheit und beth warnocheine Weile in derKultur tätig,bis sie eben- mit dengeschundenenSeelen der Menschen dauert es of- falls in Rente ging.Jutta ging arbeiten und mir ausdem We- fenbar noch eine kleineEwigkeit länger,ich schätze min- ge. Jürgen wurde ganznormalabgewählt und ichhabege- destens drei Generationen.“ hört, dass er auf Teneriffa lebt. Und Renate musswohl je- Welche Befindlichkeitensich weiterhin im deutschen Volk, mand unterihren Klassenfeindengefundenhaben,der ihre mehrheitlichimostdeutschen,unter der Oberflächeverste- Fähigkeitengut bezahlt. Jedenfalls trug sieeinen schicken cken,erfuhrich erst später.Lothar ist freiund hatnie ge- Mantel und stieg in ein flottes Auto ein, als ichsie zufällig klagt,auchdann nicht,als er keine Arbeit hatte,jazeitwei- sah. Doch allenehemaligen SED-Mitgliedern, gleich,obsie se sogar HartzIVbezog. AlsFreunde sindwir enger zu- weiterhin Mitgliederbei derSED/PDS, PDS oderDie Lin- sammengerückt. Thomas hat sein Lehrerstudium für ke waren oder sind, ereilte das gleiche Schicksal: Sie verlo- Mathematik und Physik beendet undeine Fotoagentur ge- ren ihre Macht. Und somit hat sich ihr Lebenszielauf Dau- gründet. Er ist selbstständig und ein freier Mensch. Er ist er nicht erfüllt. NurThomasist eine Ausnahme,dennerwar mit seinem Beruf zufrieden undengagiert sichinder Ge- niemals aufMachterpicht. sellschaft. Kathrin ist Künstlerin in Berlin. Jochenist Bun- despräsidentgeworden.Klaus habe ich nie wiedergesehen. 19.Februar 2008: Über sieben Brücken Peterarbeitetenoch eine Weile in einemLager in einemder neuen Supermärkte, biserinRenteging. Dieter, derKul- Als ichandiesem Abend meine Krawatteanlegteund mein turhausleiter, stieg insImmobiliengeschäft ein und wenn er Jackettüberzog, sagteich zu meinerliebenFrau,meiner dort nicht versagthat, ist er heute sehr wohlhabend. Elisa- zweiten,die ausdem Westen in denOsten kam:

Einsichten und Perspektiven 4|14 237 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Einheitspartei,Rostock im Mai 1989. Der freieFall der DDRbegann.Abjetzt füge ich zu den Jahreszahlen der Fotos auch dieMonatehinzu, denn fast kein Tagwar mehrwie der zuvor. Diese Abbildung fertigte ich während der letzten Kommunalwahlen der DDR an, die von Bürgerrechtlernerstmalskontrolliert undvon Egon Krenz gefälschtwurden. Jeder wusste, dass sich etwaszusammenbraute und die abgebildete Dekoration in einemsozialistischen Gemüseladen sprach Bände.

„Es kannpassieren,dass sich ab heute erneut Thomas waren gekommen, und vieleandere Freunde auch. mein Leben verändert.“ Der halbe „Fotoklub Konkret“, dernur nochformalauf Wirgingen zur Eröffnungmeiner Fotografie-Ausstellung demPapierexistierte, vondem einigeMitglieder jetztauch „Grüßeaus der DDR oder Der Alltag in einemverschwun- weltweit unterwegs sind und alsgefragteKameraleuteFil- denenStaat“. Mit Unterstützungder Bundesstiftung zur me drehen, sah sich wieder. Doch esfandenkeine Umar- Aufarbeitungder SED-Diktatur konnte ichdie Bilderei- mungenstatt, sondern die Mitgliederder ehemalsmiteinan- nem Publikum vorstellen, die noch 20 Jahrezuvor derZen- der verschweißten Gruppe, als diesenocheinen gemeinsa- surzum Opfergefallen waren bzw.als es viel zu gefährlich men Gegner hatte,bliebenauf Distanz.Zuviele Höhen und war, dieseüberhaupt außerhalb einesvertrauten Insider- Tiefen habensichnach derRevolution und derdeutschen kreiseszuzeigen.Selbst im sehr offenen Kreisdes „Foto- Einheit abgespielt, die nochnicht verarbeitet waren.Die klub Konkret“ wäre es fahrlässiggewesen,diese aufden Menschen fragen sich noch heute,obsie allesrichtig ge- Tisch zu legen. Denn, wieich inzwischen weiß, schrieb je- macht haben. Doch es ist nicht mein Anliegen, den Men- mand sehr genaueBerichte. Er wurde von der Stasi dazu er- schenihreFehlervorzuwerfen,sondern ihnenbewusst zu presst und, meine Offenheit ausnutzend,raffiniert einge- machen, dasssie vonder SED alsSklaven gehalten wurden, schleust. Es war der Lebensgefährte der besten Freundin auch wenn es ihnendabei einigermaßen gutging bzw.sie meinerersten Frau.Und beste Freundinnenerzählensich sich ihr eingeschränktesLeben schön träumenkonnten. Sie sehr viel. waren 1990 alsGefangeneeinfach nicht in derLage, ihreSi- DerSaal war übervoll. DieMenschen ausOst und tuation objektiv einzuschätzen und in derplötzlichen und West drängelten sich vor den Fotografien, postierten sich im unerwartet erlangten Freiheit den ersten, perfekten Schritt Saal in Erwartung des prominenten Redners. Lothar und zu setzen.

238 Einsichten und Perspektiven 4|14 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Zum Lebensbaum,Rostock-Dierkow im Mai 1990.Die Revolutionwar geschafftund die Einheit Deutschlands auf den Weggebracht. Auf der Suchenach einem neuen Leben gingich durch ein Neubauviertel undsah nochmalsden Wahn des industriellen Wohnungsbaus der DDR. Den Straßenwurden Namenwie „Zum Lebensbaum“ verliehen, wo es wederBäumenoch Baumschulen gab, dieUmwelt geschundenwar unddie Zukunft in Beton gegossen schien.

Und Jochenhielt die Ansprache. Mit Wortgewalt, wie wir 7. Oktober 2008:Verschüttete Erinne- ihn heute alsBundespräsident kennen, redete ersichwarm rungen und fesseltedie Besucher mitseinen Gedanken zurFreiheit. In den folgenden Wochen riefen mich dieVeranstalter: Nach Rostock kamLeipzig,dannBaabe, Falkensee, Berlin, „Herr Wittenburg,können Sie bitte kommen? Es habensich ,Düsseldorf, Schwerin, Verden und vieleandere Schulklassen angemeldet.“ Ich ließ meine Arbeitliegen und Orte. Die Ausstellung, als Wanderausstellung gegen dasma- erlebte Jugendliche der 10., 11. und12. Klassen,die sich nipulierteBildgedächtnis derDDR-Bevölkerung konzi- brennendfür die Vergangenheitinteressierten, ja,ihreLeh- piert und dabeiflexibelinkleinenund großen Räumen ein- rer aufforderten, denAusstellungsbesuchdurchzuführen. setzbar,entwickelte sich erfolgreich,was ihreBesucherzah- Sie schriebenins Gästebuch: lenund ihreWirkung betrifft. Es sind heute über100.000 Menschen,Jung und Alt, ausOst und West,aus Europa, „Endlichbekommen wirdie Bilderzusehen,die Asien, Amerika und Australien, die sich anhand derBilder zu den Geschichtenunserer Eltern und Großeltern pas- in eine Welt hineinversetzen können, die in derEuropäi- sen!“ schen Union nicht mehr existiert. MeinLeben hattesich somit nach1990 ein siebtesMal ver- Damit nicht genug: Es sind begleitende Bücherent- ändert.Ich zähle die Veränderungen jetzt nichtmehr. Und standen, Kooperationenmit Museen und Verlagen.Und mit ich kann es nicht ertragen, wenn junge Menschen Fragen Hilfe weiterer Sponsoren konnte die Ausstellung 2012 und stellen und die Erwachsenen diesen ausweichen, aus Scham, 2014 erheblicherweitertund somit die Aussagekraft erhöht aus Unwissenheit oder aus anderenGründen. werden.Das Medieninteresse istenormund in einemder

Einsichten und Perspektiven 4|14 239 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

DerTriumphder Waschkraft, Greifswald im Juli 1990.Diese Aufnahme entstand unmittelbarzur Währungsunion, als die Mark der DDR gegendie D-Markeingetauscht wurde. Zum Spruchband an der Hauswand, so alt wie die DDR, gesellte sich wiederum ohne Nachzudenken der Werbeslogan eines westlichen Waschmittelriesen. Vonheuteauf morgen musste ich als Künstleroder was auchimmer für die Familie D-Markverdienen in einem „Markt“, der völligkollabiert war bzw.nie existierte. Das war die Herausforderung.

dreiweltweit größten Online-Magazine, SPIEGEL ON- mit! Es warder 1983 vonihm eingefädelteMilliardenkredit LINE EINESTAGES, erscheinen mehrmalsjährlichBei- für die „Not leidende“ DDR, woranerBedingungen für die träge mit Fotostrecken,die zehn bis 20 MillionenLeser auf Erleichterungen desAlltagslebensknüpfte.Dazu gehörten allenKontinentenerreichen undlebhaft biskontrovers dis- auch die Reiseerleichterungen für die Menschen inOst in kutiert werden.Das bedeutet, dass der Prozess derdeut- Richtung West,die die DDR-Regierung zähneknirschend schen Einheitnoch nicht beendet und der Traumvon einem umsetzen musste. DieserKredit magdie Existenz dieses Paradies auf Erden,wie auchimmer die Utopie des Kom- Staateseine kleine Weile verlängert haben–bis bei den ein- munismus genannt wird, noch lebendig ist. Denn: Ich er- gesperrten Menschen die Erkenntnis über ihre eigene Le- halte auchFotos und Nachrichtenaus Ländern,wodie benssituation reifte und sie den Mut und die Entschlossen- Menschen davonträumen, in einem Land wie die DDR le- heit fanden, zu handeln. benzukönnen, ohne sichbewusst zu sein,wie dasLeben dort undinOsteuropaohne eine persönliche Freiheit der 25.Februar 2013: FürFreiheit und Demo- Menschenwirklichwar.Wir solltendas niemalsvergessen. kratie Und nochetwas solltenwir nicht vergessen:Mir ist auseigenem Erleben bewusst geworden,dass derehemali- An diesem Datum wurde ich erneutaktiv,denndie jungen ge MinisterpräsidentBayerns, FranzJosefStrauß, wie erals Leute, die 1990 geborensind und vollkommeninFreiheit Charakter auch immer gewesen sein mag, eine wesentliche und Demokratieaufwuchsen,sind an diesem Tag23Jahre Bresche in die Mauer Deutschlands geschlagenhat. Das tei- altund seitfünf Jahren wahlberechtigt. Es istbereitsdie le ichhiermit als Mecklenburger meinen Lesern in Bayern zweite Folgegeneration, um an die WorteWolf Biermanns

240 Einsichten und Perspektiven 4|14 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war zu erinnern. Und wir,die eine oder zweiDiktaturen, die Menschen lächerlich. Ich habe nach demEnde derDDR deutsche Teilung und die deutsche Neugeburt erlebthaben, nie wiedersogelacht,aberauchnie wiedererlebt, dass fragen uns: mir das Lachen im Hals stecken blieb. Wissendiese jungenLeutedie Vorteile zu schät- Und ich konnte aus den Augenund vonden Reaktionender zen,die für ihr heutigesLeben selbstverständlich sind? Jugendlichenablesen:Ja, siewissen ihreheutige Freiheit Es isteine bangeFrage, diesich gesellschaftlichengagierte und die Demokratie zu schätzen und haltendie Menschen Menschen oft stellen, wissen sie doch, welchein sensibles in Ehren, die sich dafür eingesetzthaben.Man muss nurdar- Konstrukt eineDemokratie ist.Und bei jederverhaltenen übersprechen. z Beteiligung dermündigenBürger an freien Wahlenwerden sieaneineZeiterinnert,als es für einenWählergefährlich Zensur und Öffentlichkeit war, eineKabine aufzusuchen. Es sind mehrheitlichdie jungenStaatsbürger ZumAbschlussdieses Beitrags möchte ich eine kleine Kost- Deutschlands und Europas selbst, die nachAntwortensu- probe aus dem real existierendenSozialismus geben.Die chenauf die Frage,wosie auf dem Stimmzettelambesten Schriften, die in der DDR im Sinne des „wissenschaftlich ihr Kreuzmachen,umander gesellschaftlichen Entwick- begründetenMarxismus-Leninismus“veröffentlichtwur- lung teilhabenzukönnen. Denn es geht um ihre Zukunft. den, waren wie etwadie Tageszeitungen derSED aufGrund Oftladen siemich zu Veranstaltungen ein,umnach einer dergestanzten Worthülsen nicht lesbar,mit einemgesunden für sieverschwundenen Welt zu fragen. Das Fazit ist, dass Menschenverstandnicht erfassbar.Die Kommunikation ich meine Fotografienauf einemUSB-Stick speicherte und zwischen Obrigkeitund Untertan,indieser Reihenfolge, einen anschaulichenVortrag mit Geschichten aus eigenem fandimWesentlichenmittels derdirekten Sprachestatt. So Erlebenzuden Fotografien zusammenstellte. Die Regie- konnte die Obrigkeitbesser Andeutungen,Drohungen und rungdes FreistaatsBayern ludmich ein, um in manchen Untertöne mitschwingen lassen,dabei die Wirkung unmit- Wochen in denGymnasien vorzutragen. IcherlebeSchüle- telbarbeobachten und die Agitation geschickt lenken. Der rinnenund Schüler der 10.und 11.Klassen, wie sie90Mi- Untertan,auf diesem Gebiet ungeschult, geriet somitinei- nutenmeinen frei gesprochenen Worten lauschen und an- ne ausweglose Situation und es blieb ihm nichts weiterüb- schließend zu verstehen geben,dass sie gern noch länger zu- rig,als sich zu fügen. Dass in einerDiktatur auch eine Kom- gehört hätten. Die Organisatoren sindjunge Lehrerinnen munikation vonuntennach obenmöglichwar und dasSys- und Lehrer,die nochkleine Kinder waren, als der ersteSon- tementlarven konnte,zeigt folgendesBeispiel nach einer derzug aus der Prager BotschaftinHof ankam. Auchihre wahren Begebenheit ausmeinemLeben.Der Protagonistim Fragen sindnoch nicht beantwortet. bisherunveröffentlichtenManuskript „Morgen geht’s zum Es sind nicht die Gräueltaten der Stasi, sondern es istder Horizont“ heißt AlexanderFeyertag. Alltagder Menschen,dessen Schilderungdie Zwischentöne einer Diktatur zum Ausdruck bringen.Denndie jungen MORGENGEHT SZUM HORIZONT Menschen wollennicht hören, wie schrecklichalleswar,was (Auszug) ihreEltern undGroßeltern mehroder weniger bewusst er- lebten. Sie wollen die feinenStrukturen von menschen- von Siegfried Wittenburg feindlichen, doch gut getarnten Systemendurchschauen, umrechtzeitig Gefahrenzuerkennen undAuswegefinden Kapitel 101 zu können. Es geht um dieDemokratie als Gesellschafts- formüberhaupt, um die Freiheit von Andersdenkenden, um Das volkseigene TelefonanAlexanders Arbeitsplatz die grundsätzliche Möglichkeit, dasssich ein Parlamentaus klingelt. vielen gewählten Vertretern von Interessengruppenzusam- „Hier ist die Kreisleitung des Kulturbundes. Herr Feyer- mensetzt undsich mit den gesellschaftlichen Belangen in tag, Siewurdenvorgeschlagen,ehrenamtlichzur Wahl als Würdeauseinandersetzt. Und es ist mir wichtig,den jungen Stellvertreter desKreisvorsitzenden der Gesellschaft für Menschen mitteilenzukönnen, dassMut auchglücklich Fotografie im Kulturbund der DDR zu kandidieren. machtund Menschenwürde bereits darin zumAusdruck Ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Funktion ausübenwür- kommt, seinem Gewissen folgendden Schritt zu tun, derin den?“ demMoment möglichist, ohne gleich Kopf undKragen ris- „Stellvertreter für wen?“ kierenzumüssen. „Für Rudi Kramer. Er ist derKreisvorsitzende.“ Diktaturen und ähnliche Systeme,sobrutal sie „Ja, Rudi kenne ich. Darfich mir das nochüberlegen?“ sein können, sind im Grunde für den Geist einesfreien „Ja, natürlich. Kommen Siedoch bitte in dernächsten

Einsichten und Perspektiven 4|14 241 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Woche am Donnerstag zur Versammlung. Wirschicken schätzung. „Nur inhaltlichkannich nicht vieldamit Ihnen eineEinladung.“ anfangen.“ Dabei verziehen sich seine Mundwinkeletwas „Gut. Auf Wiederhören.“ nachuntenund seine Augen bekommeneinen hartenAus- Alexander legt auf undwendet sich an seinenKollegen,der druck. „Möchtestdunoch einenKaffee?“ das Gespräch mitgehört hat. BeimzweitenKaffee rücktRudi mit seinemAnliegen raus. „Ich sollFunktionärwerden,Erich.Was sagstdudazu?“ „Der Grund, warumich dichgerufen habe,ist der: Wirim „Na, das ist doch was.Dann hastdueine Funktion mit Kulturbund organisieren alle zwei Jahre eine Kreisfotoaus- Straße und Hausnummer und bist dochwer.“ stellung. Jetzt ist es wiedersoweit.“ AlsAlexseinerFrau Franziska von diesem Gespräch er- „Was gibt es zu tun?“, fragt Alex und schlürft seinen zählt,verzieht siedas Gesicht. Kaffee. „Den RudiKramer mag ich nicht.Der istmir nicht ge- „Die Organisationmusst du in diesemJahrübernehmen, heuer.“ denn ich bin verhindert.“ „Ich würde gern einmal probieren, wiesich die Rolle als Alexstellt seine Kaffeetasse ab und blickt Rudi überrascht Funktionärsoanfühlt“, überlegtAlex. an. „Nun, wenn du es brauchst!“ FranziskasAntwort klingt „Ich habe doch keine Ahnung,wie eine solche Fotoschau schnippisch. organisiert und durchgeführtwird. Waskommtauf mich „Die MitgliederimFotozirkel finden es auch gut. Mal se- zu?Und warumbist du verhindert?“ hen,was sichdaraus entwickelt. Vielleichtkannesnützlich Rudi wirdvertraulich. sein. Es ist ja keine Mitgliedschaftinder Partei“, versucht „Meine Tante ausdem Westen kommt zu Besuch. Ich habe Alex zu relativieren undnimmt an der Versammlung teil. eine kleine Wunschliste für mein Farblaborund meine „Na, Rudi, bist du jetztmein Chef?“, fragt Alex nach Fotoausrüstung.“ seinerWahl undlässtmitklingen, dass diese Angelegenheit Alex findetdiesesAnliegen merkwürdig,vor allem,weil für ihn mehr ein Spaß als eine ernste Angelegenheit ist. Rudi alssystemtreuer Genossebekannt ist. „Gehört es DochRudi spürtden Schalknicht, fühlt sich in seiner dann auch zu meinenAufgaben,die Jury zusammenzu- gesellschaftlichen Funktion wichtig und grinst. AmRevers stellen?“, fragterund bekommt dabeieine Idee. blinkt sein ovales Parteiabzeichen. „Ja“, erwidert Rudi knapp und freutsich, dass seine Stra- „Komme mich dochbitte in einerWoche besuchen. Wirha- tegieaufzugehen scheint. ben etwaszubesprechen“, sagt er undnenntseine private Alex dagegen kann so vielLeichtsinn diesesSED-Genossen Adresse. kaum fassen undhört sich sagen: Alex klingeltander Wohnungstür einesgepflegten Miets- „In Ordnung,ich übernehme das. Und wie sieht dasprak- hausesaus den fünfziger Jahren. Rudi serviert Kaffee. tisch aus?“ „Darf ich mir deine Bücher ansehen?“, fragt Alex. „Dasist „Die Organisationist ganz einfach.Viele Aufgaben von eine Macke von mir.“ derÖffentlichkeitsarbeitbis zurMontageder Ausstel- „Ja. Tu das.“ lungstafeln werden innerhalbdes Kulturbundesroutine- Alexbewundert etwas skeptisch dieordentlichsortierte mäßig durchgeführt. Die FotoschauwirdimFoyer der Bibliothekmit Fotobüchern aus der DDR-Produktion. Ein Mensa derUniversitätstattfinden, einem Ort mit vielen Bücherregal sagtviel über den Menschenaus, derdieses tausend jungenBesuchern.Täglich.“ besitzt. Bei Rudisind es stereotypische Jahrbücher, system- Alexanderspürt beidieserPerspektive,inderÖffentlich- konforme Ausgabenund sozialistische Prachtbildbände keit neue Akzente setzenzukönnen, eine gewisseAufre- von den sportlichen Erfolgen bei den Olympischen Spielen. gung in sichund wittert eine Chance. Alle vorwiegend in Farbe. Sie gleichensich seit den letzten „Na, dann übernehme ich das.“ fünfzehn Jahrenwie ein Ei dem anderen. Alexvermisst die ImFotozirkel beraten sie über die Zusammensetzung der Bildbände mit denstillen Aufnahmen, die auf Grund ihrer Jury. Seltenheit hohe Auflagenerreichen undoft vergriffen sind. „Wen willst du in die Jury berufen?“,fragt Lothar. Rudi führt Alexinseinen Hobbykeller undzeigt ihm stolz „Ehrlichgesagt,bereitet mir dasammeisten Kopfzerbre- sein Farblabor. chen“, sagt Alex. „Ich kann doch nicht vordergründig eine „Ich lege immerWert auf diemodernsteTechnik“, erzählt Oppositiongründen. Ich dachte,die eine Hälfte stellendie er.„Ich möchtedie Farbfotografie weiterausbauen.“ jungenWildenund die andere die üblichenFotofunktionä- „Farbfotografieinteressiert mich nicht. Die Welt der re. Und im Fall einer Pattsituation habe ichmeine Stimme. Schwarzweißfotografieist viel aufregender“, gibt Alex sei- Ich denke an denjungen Mann, dermeine Arbeitenauf ne Arbeitsweise preis. derInselUsedomverteidigthat. Unddannkenne ichnoch „Ja, ichmag deine Fotos sehr“, sagt Rudinicht ohne Wert- einenengagierten Maler,der immerbei den Vernissagenin

242 Einsichten und Perspektiven 4|14 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war derKunsthalle dabeiist. Dem traue ich zu, dass erauch derLeistungsgruppe desKulturbundes, derimmerdie Fotografienbeurteilen kann. Weiterhin habe icheinen Preise für die Hurrabilderbekommt,fragen.“ Grafikeraus der Altstadt im Auge. Damit wäre die Oppo- „Hört sich gut an“,meint Lothar. sition gegründet. Vonden Genossen werde ich diesen Alex machtsichandie Arbeit. Die Juroren sagenzu. harmlosenLeiter von der Volksmarine, den Leiterdes WenigeTage später gibt Alex die Namentelefonisch an Fotozirkelsvom Haus der Jungen Pioniere undden Leiter die Kreisvorsitzende desstaatlichenKulturbundesdurch.

Glossar: und Massenbewegung.Sie zwangdas kommunistischeRe- gime Polens innerhalb von zehn Jahren, zeitweiseauchaus SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands,1946 her- demUntergrund heraus, in die Knie. vorgegangen auseiner Zwangsvereinigung zwischen Kom- munistischerund Sozialdemokratischer ParteiDeutsch- Glasnost (russisch): Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit lands.Nach stalinistischem Muster im Sinne desMarxis- mus-Leninismus verstand sichdie SEDinder „Diktatur des Perestroika (russisch): Umbau, Umgestaltung,Umstruk- Proletariats“ alsführende Staatspartei der Arbeiterklasse turierung derDDR und übte ihre nicht demokratisch legitimierte Macht biszur Revolution 1989 aus. ORWO: OriginalWolfen. Aus derAgfa AGdurch Ver- staatlichung hervorgegangeneMarkeder Foto- und Filmin- VEB: Volkseigener Betrieb. Nach der Ideologiedes Marxis- dustrie derDDR mit Stammsitz in Wolfen/Bitterfeldals mus-Leninismus wurden nach dem Zweiten Weltkriegehe- VEBFotochemisches Kombinat. maligeprivate, „kapitalistische“, Betriebe unter Zwangs- enteignung in staatseigene, „volkseigene“, Betriebeumge- FDJ: DieFreieDeutscheJugendwar die einzigeJugendor- wandelt, um von der Arbeiterklasse selbst geführt zu ganisation in derDDR und hatte als „Kampfreserve der werden. Das vormals private Eigentum an den Produkti- SED“ die Aufgabe, denJugendlichenden Marxismus-Leni- onsmitteln, was nachder Theorie von Karl Marx alsUrsa- nismus zu vermittelnund diese zu „klassenbewussten So- chefür die Ausbeutung der Arbeiterklasse angesehen wur- zialisten“ zu erziehen. de,ging somit theoretisch in gesellschaftliches Eigentum über, um dasGemeinwohlimSozialismus vermeintlichzu Kampfgruppe: Eine Kampfgruppe im Sinne einerBe- fördern. triebskampfgruppe wareine paramilitärischeOrganisation vonBeschäftigteninden Großbetrieben, um die Herrschaft Solidarnos´c´ (Solidarität): In allen „sozialistischen“Staaten desProletariatsauchmit Waffengewalt (MPi, MG, Hand- der sowjetischen Hemisphäre in Osteuropa waren Massen- granaten,Granatwerfer) sicher zu stellen. In derRegel rück- organisationenmit dem Staat gleichgeschaltet.Dazu zähl- tesie mehrmals im Jahr in derFreizeituniformiert zu Übun- tenauchdie Gewerkschaften, dieinder „Diktatur desPro- genaus.Fast zwei Drittel derKämpferwaren Mitglieder der letariats“ ihreeigentliche Aufgabe, die Interessen derAr- SED und die Mehrheitwar ausKarrieregründeneiner beiterklasse zu vertreten, verloren haben, weildiese die Kampfgruppe beigetreten. herrschende Klasse ist,was wiederumein Trugschlusswar. Dashatte zur Folge, dass dieallgemeine Bevölkerung und IM: Informeller Mitarbeiterder Stasi.Diese Spitzelwurden besonders dieArbeiterklasse keine Möglichkeitenmehr ausder Bevölkerung angeworbenund bildetendas feinma- hatten, politischen Einfluss auszuüben, dennunabhängige schigeNetzder Totalüberwachung in der DDR. Ihre kon- Parteien undfreieWahlen existierten ebenfallsnicht. Auf- spirative Tätigkeit hatte oft mehrere Beweggründe:politi- grundder desolaten Wirtschaftslage wurden 1980 in der scheÜberzeugung,Mitteilungsbedürfnis,Geschwätzigkeit, kommunistisch geführten „Volksrepublik“ Polendie Le- Missgunst, gesellschaftliche Anerkennung,Erpressung bensmittelpreise erhöht, was an die Schmerzgrenze derBe- durch die Stasi allgemeinodernach kleinenVergehen. völkerungging.Umdem Staat dieStirn zu bieten, blieb der „Arbeiterklasse“ nur die Strategie,eine eigene und unab- OperativePersonenkontrolle: Auf Weisung derSED auf hängige Interessenvertretung zu gründen. Es war eigentlich Betriebs-, Kreis- oder Bezirksleitungsebenedurchgeführte unlogisch, durchStreiks die Produktion und somit auch die systematischeÜberwachung einerPersondurch dasMinis- Lebensmittelversorgung zu stabilisieren, doch einen ande- terium für Staatssicherheit, um sie nachdem Strafgesetz- renAuswegals dasStellender Machtfrage gab es nicht. So- buchder DDReinerstaatsfeindlichenTätigkeitzuüber- mit entstand die Solidarnos´ c´ als unabhängige Gewerkschaft führenund eine Verurteilung vorzubereiten.

Einsichten und Perspektiven 4|14 243 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war

Am Folgetag klingelt das volkseigeneTelefon. ichhabemir eben die Fotosangeschaut.Sokönnenwir „Herr Feyertag, dieJury ist bestätigt.“ diese Ausstellung nicht durchgehen lassen!“ „Wunderbar! Dann ladenSie bitte alle Juroren zum „So? Warumdennnicht? Es ist doch die Entscheidung der Donnertagabendinzwei Wochen ein.“ Jury!“, antwortet er und es dämmert ihm eine Ahnung. Gesagt,getan,und Alexander Feyertag fühlt plötzlich, wie Kurze Pause in derKreisleitung. sich ein Funktionärfühlt, wenn er bestimmenkann. „Die Gesamtaussage ist zu negativ“,hört Alexanderdie Am Abend, als dieJury tagt, liegen etwa 450eingesandte Leiterin sagen. „Müssen denn alle baufälligenWindmüh- Fotosauf demTisch, von denenetwa 150ausgewählt wer- len ausgestellt werden?“ densollen. DerLeiter des Fotozirkels der Volksmarine,ein „Wir habenkeine gefunden, die nicht baufällig sind. Die leiserund unauffälligerMann knapp über Fünfzig,meldet Amateure wolltenschöneWindmühlenfotografieren und sich. fanden wohlkeine.“ „Ich möchtedie beidenanderen Genossen entschuldigen. Pause. Sie sind leiderverhindert.“ „Unddiese tristenBildervon denHaltepunktender Alexander ist vondieserneuen Situation völlig überrascht S-Bahn. So siehtdoch nicht unsersozialistischesLeben und wundertsich, dass es unter SED-Genossenwohlnicht aus!“ üblichist, feste Zusagen einzuhalten. Sein Konzept ist so- „Die Jury wardafür.“ mit hinfällig und denjungenWilden ist ihre Kampfeslust Pause. sofort anzusehen. „Und habenSie aufdem einenFoto diesenSpruch nicht In der ersten Runde werden die technisch mangelhaften gelesen?“ Fotoseinstimmig aussortiert.Inder zweiten Runde stellt „Welchen Spruch denn?“ Alex typische Amateurbilder zur Diskussion,Nahaufnah- „Jemandhat seinenSpind aufder Arbeitfotografiert,mit menvon Insekten, Dampflokomotiven,Kindern, Jungen seinenArbeitshandschuhen und einem BildseinerFrau. Pionieren, Sonnenuntergängen undLandschaften. Weiter- An derInnenseite derTür ist mit einerReißzweckeein mit hin zeigt erEinsendungen, auf denendie Tristesse desLe- der Hand geschriebenerZettel befestigt.“Die Kreisvorsit- bensumfeldes der Bildautoren dargestellt wird: Baufällige zende liest vor:„‚Inden Menschen Unduldsamkeit gegen- Windmühlen, geschundene Wohnhäuserund einmutiger überdem Bösen und Gemeinenund Entschlossenheit zum Autorhat triste S-Bahnstationen fotografiert, mitüber- Kampf gegenjedeUngerechtigkeitwachzurufen – auch quellendenPapierkörben,weggeworfenen Schnapsflaschen dasist Humanismus!‘ Das kann man dochnicht veröffent- und alkoholisierten Menschen. lichen!“ Die jungen Wilden sind begeistert und der Genosse protes- „Ichkümmere mich.“ tiertleise. Alexruft denBildautoran. Es ist einerder jungen Wilden. „Das kannman doch nicht veröffentlichen!“ Wieaus derPistole geschossen kommt die Antwort: „Wir könnenjaabstimmen!“ ist die Antwort und der „Lenin. Gesammelte Werke. Band6.Seite 375.“ Genosse gibt seinen Kampf auf. Alex ruft wiederdie Chefin seinesChefs an: Am nächstenMorgen am Arbeitsplatz, Alex hatnoch nicht „Lenin. Gesammelte Werke. Band6.Seite 375.“ einmalseinen Kittel an, klingelt wiederumdas volkseigene Lange Pause. Telefon. „Aber könnenSie nicht die Fotosvon denbaufälligen „Kreisleitung Kulturbund.Guten Morgen Herr Feyertag, Windmühlenentfernen?“, fragtdie Kreisvorsitzende,

244 Einsichten und Perspektiven 4|14 Leben in der Utopie oder: Als Deutschland nochgeteilt war jetztsehrkleinlaut. „Leiten Sieeine Fahndungsmaßnahme ein. Stellen Siefest, „Das kannnur die Jury. Es istein demokratisches Verfah- ob und welche Grenzübergänge er benutzt. Wird die Kor- ren.“ AlexanderFeyertag genießt seinen Triumphund die respondenz überwacht?“, fragtBecker. Kreisvorsitzende kann ein leises Stöhnen nicht unterdrü- „Komplett.Doch Feyertag korrespondiert viel inenglischer cken.Alexberuft dienächste Jurysitzungein. Diesmal Sprache. Diese Briefe könnenwir leidernicht auswerten.“ kommenalle.Auch Gäste mit Parteiabzeichensind dabei. Becker kann einenleisen Seufzer nicht verhindern. Rudischäumt vor Wut. Ein Genosse zählt ihn an. „Sind die Kontaktpersonen bekannt?“fragt er weiterund „Während du deine Westtante angebettelt hast, ist hier seine Stimmewirdunangenehm. dein Parteiauftragaus dem Rudergelaufen.Rudi, wo ein „Das ist schwierigfestzustellen. Es handelt sichumBürger Genosse ist, ist die Partei. Merke dirdas! Undduwarst Japans, derUSA und Polens“,erklärt Unterfeldwebel nicht auf deinem Platz!“ Köhler kleinlaut. Becker denkt eine Weile nach. „Und wasmachen wirjetzt mitden Bildern?“, fragt Rudi „Hmh. Vielleicht findenwir Hinweise beieiner Woh- leise. nungsdurchsuchung. Haben Sie diese schonveranlasst?“ „DieJury entscheidet“,sagt Alex. „Wer dennsonst?“ „Wir habendiese Maßnahme beider entsprechendenAb- Die Jury entscheidet sich, ein Bildvon einer baufälligen teilung beantragt. Sobald Kapazitäten freisind, wirdsie Windmühle herauszunehmen. Die anderenFotografien, durchgeführt“,führtSenkpielaus. auch diestillen, entfalten einige Wochen langihreWirkung DerTon vonOberstleutnant Becker bekommt einen voreinemtausendfachen, jungen Publikum. Anflug vonÄrgernis und wirdlaut. „Na?“, spöttelt Franziska, „Wie istessoals Funktionärun- „Kapazitäten!Kapazitäten!Wie steht es mit denInforma- terSED-Genossen?“ tionsquellen im Kulturhaus, wenn Feyertag dort wieder „Es ist wie im Kindergarten. Ich habemein Amtniederge- tätig ist?“ legt. Es gibt in der Freizeit Besseres zu tun. Aber fürdie „DerKulturhausleiterist neu. Wirhaben noch keinen Präsentationdieser Fotos vor tausenden jungenLeuten hat Kontaktaufnehmenkönnen. Die Verbindungen zurBe- es sichgelohnt. Jetzthabe ich wieder mehrZeitfür dich!“ triebsparteileitung sind allerdingshervorragend.“ Alex nimmtseine Frau in den Arm. „Haben wir niemanden, derdirektaus diesemverdamm- tenFotozirkel berichtet?“, fragtBecker in einemscharfen Kapitel 123 Ton. Senkpielund Köhlerzuckenzusammen. Oberstleutnant Becker überfliegt den Zwischenbericht. „Noch nicht.“ „Aha, den Feyertag habensie also rehabilitiert und wieder Becker haut mit derFaust aufden Tischund dröhnt: alsZirkelleitereingesetzt. Washaben dieUntersuchungen „Dannkümmern Siesich, Genossen!“ sonst nochergeben?“ Senkpielund Köhlerverlassen denBesprechungsraumwie „Der Kontakt mit einem Studenten aus Hamburghat sich getretene Hunde. intensiviert“, berichtet HauptmannSenkpiel. „DerFeyertag muss die Bezirksleitung ganz schöngeärgert „Wie ist dieserKontakt zu Stande gekommen?“ hakt haben“,resümiert Senkpielund verschwindetinseinem Becker nach. Büro. „Das konnten wir noch nicht herausarbeiten“, teilt Köhlergehtnachdenklichdie Treppen hinauf, an denPor- Senkpiel mit. trätsvon Marx, Engelsund Lenin vorbei.

Einsichten und Perspektiven 4|14 245 „Ichdenke, es will keiner zurück…“ „Ich denke,eswill keiner zurück …“

Ein Gesprächmit dem Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen des Landes Berlin, Martin Gutzeit, am 28. November 2014 in Berlin

Interview vonMonika Franz 25 JahreFall der Mauer: Zeitzeugen berichten

MartinGutzeit Foto:Monika Franz

246 Einsichten und Perspektiven 4|14 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

Landeszentrale: Herr Gutzeit, wie man weiß, lagern die Stasi-Akten selbstbeim Bundesbeauftragten. Welche Auf- Martin Gutzeit wurde 1952 in Cottbus als Sohn eines Pfar- gaben haben Sieals Landesbeauftragterfür die Stasi-Unter- rers geboren. Da die Familie dem System distanziert ge- lagen des Landes Berlin? genüberstand, wurde er vomAbitur ausgeschlossen und Gutzeit: Die Volkskammer hat ja am 24.August 1990das arbeitete zunächst als Elektromonteur.1971 holte Martin ersteStasiunterlagen-Gesetz1 verabschiedet. Darinwar Gutzeit das Abitur an einer Abendschule nach. Er verwei- nochvorgesehen, dassdie Unterlagen aufgeteilt werden, das gerte den Wehrdienst total (d.h. er wurde auchnicht soge- heißt, die Unterlagen des Ministeriums für Staatsicherheit nannter „Bausoldat“) und studierte Theologie. Er wurde selbst sollteninBundeshand und das Material, dasBezirke Vikar in Berlin (bis 1982), warbis 1986 Pastor in Schwarz undKreise betraf, in dieVerfügungder neuen Bundeslän- bei Neustrelitz und arbeitete von1986 bis 1990 am Spra- derübergehen. DieseRegelung gingaber nicht in denEini- chenkonvikt in Berlin. gungsvertrag ein. Hans-Joachim Gauck wurde am 2. Okto- Insbesondere zusammen mit Markus Meckelengagierte ber1990 alsSonderbeauftragterfür die personenbezogenen er sichinder regimekritischen Opposition, nahm an den Unterlagendes ehemaligen Staatssicherheitsdienstesder sog.„mobilen Mecklenburger Friedensseminaren“ teil. DDR eingesetzt undhatteein Jahr Zeit einenneuen Ge- Am 24. Juli verfasste Gutzeit einen Initiativaufruf zur Grün- setzentwurfvorzuschlagen. Aus gutemGrundwurde darin dung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) bestimmt, die Unterlagen in einer Hand zu führen.Sokonn- und begründete die SDP in Schwante mit, wo er in den tensie schnellererschlossen undgeordnet werden. Vorstand gewählt wurde. Ab 7. Dezember 1989 vertrat er DenLandesbeauftragten hat man andere Aufgaben die SDP am Zentralen Runden Tischder DDR und gehörte zugewiesen, wie die Unterstützung der Arbeit desBundes- vonMärzbis Oktober 1990 der ersten frei gewählten beauftragten,den Auftrag, dieInteressender Länder zur Volkskammer der DDR bzw.inder Folge vonOktober bis Geltung zu bringen,und dann vor allemauch die Beratung Dezember 1990 dem ersten gesamtdeutschen von Verfolgten. Seit 1997 ist es auch explizitmeine Aufga- an. be,die politischeund historische Aufarbeitung der SED- Seit 1993 ist er Landesbeauftragter für die Unterlagen des Diktatur unterbesonderer Berücksichtigungdes Staatssi- Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in Berlin sowie cherheitsdienstes zu fördern.2 Mitglied des Beirats der Bundesbeauftragten für die Un- Landeszentrale: Wiesteht es um das Interesseandiesen Ak- terlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehema- ten? Lässt es nach einem anfänglichen Ansturm in denletz- ligen DDR (BStU). 1995 erhielt er das Bundesverdienst- tenJahren nach? kreuz. Gutzeit: Wirhaben immer noch eineziemlichgroße Nach- frage; letztesJahr war das mal etwas weniger,aberSie müs- Quelle: Helmut Müller-Enbergs/Jan Wielgos/Dieter Hoffmann/Andreas sen sehen –esgibt viele Leute, die habenerstmal Befürch- Herbst/Ingrid Krischey-Feix/Olaf W. Reimann (Hg.): Werwar werinder tungen davor, ihre Akten einzusehen und unternehmen DDR?, Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Band 1, 5Berlin 2010. nichts.Wennsie dann in Rentegehen,sagen sich viele: Jetzt will ich‘sauchmal wissen... Landeszentrale: Wieist es Ihnen persönlich gegangen,als die Archiveaufgingen?3 Biographie gibt es überhaupt nichts mehr,das gehterst los, Gutzeit: Ich hatte natürlich ein großes Interesse meine Ak- alsich 1982 in MecklenburgPastorwurde.Auchvom Spra- tenzusehen,weil ich schoninder Revolutionsphase längst chenkolleg, derkirchlichenAusbildungsstelleinBerlin, da mit diesen Fragen zu tunhatteund bei der Öffnung derAk- existiert vonkeinemwas... Das istbesenrein! tenselbst mit beteiligt war. Wirwussten natürlich, dassman Landeszentrale: KönnenSie rekonstruieren,wanndie Do- uns „bearbeitet“ hat, daswar klar.Insofern hatte ichschon kumente im Reißwolf gelandetsind? einInteresse,das im Einzelnen zu sehen. Gutzeit: Ich vermute,imFrühjahr 1990 istdas passiert.Die Landeszentrale: Wieviele Meter umfasst IhreStasi-Akte? Vernichtung vonAktenhat ja nicht mit dem15. Januar Gutzeit: Soviel ist das garnicht; über gewissePhasen meiner 19904 aufgehört, sondern istnochweitergegangen.

1„Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Datendes ehemaligen MfS/AfNS“. 2Vgl. das Gesetzund seine Novellen: http://www.berlin.de/lstu/wir-ueber-uns/lstu_gesetz.html [Stand: 02.12.2014]. 3Abdem 4. Dezember 1989 wurden vieleStasi-Dienststellengestürmt,am15. Januar 1990 dieStasi-Zentrale in Berlin, vgl. http://www.bstu. bund.de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/Chronik_der_Behoerde/wissen-wie-es-war_chronologie.html [Stand: 02.12.2014]. 4Wie Anm. 3.

Einsichten und Perspektiven 4|14 247 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

MartinGutzeit und Ibrahim Böhme (Erster und Zweiter v.l.) als Vertreter der SDP am „Runden Tisch“,Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin, 7. Dezember1989 Foto: ullsteinbild/ADN-Bildarchiv

Landeszentrale: Haben Sie „Ihre IMs“ kennengelerntund Als ichdannmit ihm seitdem 7. Dezember1989 am Run- sich mit Ihnen auseinandergesetzt oder war da eher Schwei- denTisch saß,ging es um die Auflösung desMinisteriums gen im Walde? für Staatssicherheit. Ich habe am 18.Dezember1989 einen Gutzeit: Nein,ich habemich zum Teil sehr intensiv aus- Antrag aufÜberprüfung der Teilnehmerdes RundenTi- einandergesetzt. Wirwussten ja, dasswir beobachtet wer- sches hinsichtlich einerMitarbeitimMfS gestellt. Kann man den. Zum BeispielIbrahim Böhme5 –den habendie [das nachlesen. Dann kommt‘s zur Abstimmung.Ich hebe die Ministerium fürStaatssicherheit], als wir in Mecklenburg Hand. Ibrahim Böhme bleibt nichts anderes übrig,als auch waren, schon 1984 bei uns angeklemmt. die Hand zu heben. Zehn Stimmenhaben dagegen ge- Landeszentrale: Wussten Sie, dass Böhme einSpitzel war? stimmt, derRest enthältsich. Welche Taktik habenSie ihm gegenüber eingeschlagen? Bei einfachen persönlichenSachen habe ichnicht Gutzeit: Ich habemich vielfachtaktisch verhalten.Als Böh- nachgekartet. Ich bin dagegen vorgegangen, wenn die Leu- me 1984 kam,waren wir, MarkusMeckel und ich, beide te öffentliche Funktionen hatten. BeiBöhme habich inmei- misstrauisch. Bei MarkusMeckel hat sich dieses Misstrau- nenUnterlagen dasParteiausschlussverfahren unterstützt. en später teilweise verloren, bei mirnicht. Ganz einfach.Letztlichhat dasfunktioniert.6

5Ibrahim Böhme (1944-1999), Mitbegründer und Vorsitzender der SDP,war früher Mitglied der SED undarbeiteteseit 1969 als IM der Stasi (IM-Namen „August Drempker“, auch „PaulBonkartz“,„Bernd Rohloff“), vgl. Helmut Müller-Enbergs/Jan Wielgos/Dieter Hoff- mann/Andreas Herbst/IngridKrischey-Feix/Olaf W. Reimann:Wer war wer in der DDR?, Ein Lexikon ostdeutscher Biographien,Band 1, 5Berlin2010, S. 146 f. Seit 1984 bespitzelteerimAuftragdes MfS unter anderem oppositionelle Kreise in Mecklenburg. Am 1. April 1990 legteeralle Parteiämter wegen des Vorwurfs der Stasi-Mitarbeitnieder; im Dezember1990 wurde er durch Reiner Kunze als IM enttarnt undimFolgenden im Juni 1992 aus der SPD ausgeschlossen. 6Böhme legte im April 1990 alle Parteiämter nieder, s. Anm. 4.

248 Einsichten und Perspektiven 4|14 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

AuchinMecklenburg hat einer meiner Pastorenkollegen, mittlung dieserGeschichte in derpolitisch-historischen Bil- einNachbar,mit dem ich häufig zusammenwar,Berichte dung;esgibt in diesem Zusammenhang ganz andere Dinge, verfasst;dahab ich danneben auch... ein entsprechendes die manimBlickhaben muss. Verfahren unterstützt unddie Unterlagen demOberkir- Landeszentrale: Wiesehen Siegewisse „Weichspül-“und chenrat in Schwerin zur Verfügunggestellt. Verharmlosungstendenzen in Blickauf die DDR,die den Landeszentrale: Man merktIhnen an, dassnach 25 Jahren diktatorischen Charakterder DDRherunterspielen und so ein gewisser Gleichmuteingetreten ist… mehr an „Errungenschaften“der DDRerinnern –wie die Gutzeit: Sie müssen ja sehen, wir hattenjaschon zu DDR- angeblichgrößere Freiheit der Frauen, oder ansentimental- Zeitendie Gelegenheit, uns damit auseinanderzusetzen.Wir harmlosen Dekor wie dasSandmännchenimFernsehen? wurden1989 nicht völligüberrascht. Es ging nicht nur da- Gutzeit: Die Debatte hörtnie auf.Dagegen müssen wirwas rum, dass manbespitzeltwurde,sondernessind auch akti- tun! Überden diktatorischen Charakter derDDR aufzu- veMaßnahmengewesen,mit denenman konfrontiert war. klären, ist mein gesetzlicherAuftrag. MeinEindruckist aber Landeszentrale: SindSie mal bedroht worden? optimistisch:Ich denke,eswill keinerzurück. Gutzeit: Meine Frauist bedrohtworden; die versuchten Landeszentrale: In derPresse wurde geschrieben,dass 2014 schon etwas, aberdawar ich unempfindlich. wiedereine Mauer gefallensei –nämlichdie vielapostro- Landeszentrale: Es ist immerhin ein Vierteljahrhundert her, phierte„Mauer in denKöpfen“.Was haltenSie davon? seitdie DDR und mit ihr die Staatssicherheituntergegangen Gutzeit: Naja. Da muss man noch weiterarbeiten, hier in ist–wie ordnenSie es heute ein, dassMenschen in großem Berlin sieht die Sache soaus:Hierleben Ost-und West- Umfang andere ausspionieren, um dadurch eigeneVorteile deutschesowieso zusammenineinerStadt. Da hatsichdas zu erlangen? Klima schon etwasentkrampft. Siemüssen aber sehen: Gutzeit: Vorteilhin oder her:Die persönlichenMotivatio- Wenn manJahrzehnte in unterschiedlichenWelten gelebt nensind unterschiedlich,das ist klar.Man muss diesen gan- hat, dann hinterlässt dasseine Spuren. zen Komplexals Teil einesdiktatorischen Systems sehen. Landeszentrale: Hatten Sie1989 einbestimmtes Bildvom DerStaatssicherheitsdienst hat das Bespitzelnnicht erfun- typischen Westdeutschen? den. Schonbei Aristoteles können Sie das nachlesen,wenn Gutzeit: Bei mir liefdas etwasanders. Ich bin in einemPfar- er die Tyrannis beschreibt.Dawerden auch Methodenbe- rerhaushaltaufgewachsen,wir hattenWestkontakte.Bei nannt.Das istschonetwas älter. meinerArt vonSozialisation und Leben waren mir die Landeszentrale: Das ist einesehr sportlicheHaltung... Westdeutschen so fern nicht. Als Student hatte ichamSpra- Gutzeit: Sportlichinsofern, als ich mich um die Abschaffung chenkollegauchmit Westlern Kontakt gehabt;übrigens dieserMethoden bemühthabe. Es gingumersatzloseAuf- nicht nur mit Westdeutschen,auchSchweizer oderHollän- lösung.Wir sind‘sjalosgeworden. Insofernkannich das der, mit denenich michintellektuell auseinandersetzen jetztentspannter sehen. konnte.Die üblichenStereotypenwerden Siebei mirnicht Landeszentrale: Sie haben auch viel mitLeuten zu tun, die finden. langfristig traumatisiert sindund es eigentlichnicht mehr Landeszentrale: Es wurde zumBeispielimmerwieder ein geschafft haben, ein normales Leben zu führen... angeblichhöherer moralischer Anspruch der Ostdeutschen Gutzeit: Dasist richtig. Damit haben wirinder Beratung zu apostrophiert. tun. Manchen Leuten wurde dieExistenz geraubt.... In sol- Gutzeit: Dasist nicht meine Welt und warsie auch nie. So chen Fällenarbeiten wirmit einerpsychologischen Ein- etwasversuchte man teilweiseherüberzuretten, dasspielte richtung zusammen,die wir mit finanzieren. auch 1989/90 beimanchen eine Rolle.Umdas zu verstehen, Landeszentrale: Welche Ergebnisseerwarten Siesichvon mussman einfach die Bildungs- und Informationsvoraus- derKommission, die derzeit über die Zukunft derBStU be- setzungen derMenschen in derDDR über die ganzenJahr- rät? zehnte sehen,die nicht vonVielfalt geprägt waren.Wenn Gutzeit: Wirsind uns im Grunde darüber klar,dass die Ar- man sich mit denInformationen, die wir heute zurVerfü- beit weitergehen muss. DieFrage ist,welcheneuen Aufga- gung haben, mit derden unterschiedlichenHandungssphä- ben aufuns warten. Das Land Berlin hat 1997 wie gesagt un- ren derDDR, der Wirtschaftetc.auseinandersetzt,stellt seren Aufgabenbereich erweitert;esgeht nicht mehrnur um man fest: Leute,mancheDingesind dochillusionärgewe- die Aufarbeitungder Stasi-Geschichte, sondernumdie Ver- sen.Für die nachwachsendenGenerationenist diese Ausei-

Einsichten und Perspektiven 4|14 249 „Ichdenke, es will keiner zurück…“ nandersetzung einfacher, aber es bleibtnoch vielzutun. Tonmit, alswären die Ostdeutschen in toto Opferwestli- Landeszentrale: Im November haben Sie uns zu derThea- cher Kolonialisatoren geworden… teraufführung „Das Endeder SED“ in Münchenbesucht. Gutzeit: Ja;und da mussman sagen:Die meistensind mit Es wurde vomPublikum angemerkt, dassesdochinMün- der DeutschenEinheit nicht so schlechtweggekommen, chen sehrruhig zu gehe, was die Wiedervereinigung betrifft- fahren Westautos und machen Urlaub auf Mallorca.Man- im Vergleich zu den aufwändigen Wiedervereinigungsfeiern chesind nochimmerbitterböse, aber vielesind auch schon in Berlin. Mit welchen Mittelnkönnen wir erreichen,dass wiederoffen. die DDR bzw. das Ende der DDR kein alleinigesBerliner Die wirklichen Systemunterschiedezwischen einer bzw. ostdeutsches Thema wird? Demokratie und soeinerDiktatur müssen klarvermittelt Gutzeit: DassinBerlinder Fallder Mauer seine besondere werden und im Bewusstseinverankert sein. Ich halte es für Aufmerksamkeitfindet, finde ich ganz normal, weil die sehrwichtig,das vorallemimGeschichtsunterrichtdeutlich Jahrzehnte der Teilung mit all seinen Auswirkungenvor al- zu machen. lemFamiliendort am meisten betroffen haben. Daskannein Schauen Sie: Wirhaben 1989 eine sozialdemokrati- Münchner nichtganz so nachvollziehen. schePartei etabliert.WennSie sich die strafrechtlicheEin- Landeszentrale: In Franken zum Beispiel bzw. derganzen schätzung der Hauptabteilung IXdes Ministeriums für deutsch-deutschen Grenze entlangwar dieTeilung doch Staatssicherheit(zentraleErmittlungsabteilung)ansehen – auch sehrschmerzlich spürbar… denken Sie an Mödlareuth. unser „Aufruf derInitiativgruppe SozialdemokratischePar- Gutzeit: Das Land Bayernhat sich das aucheiniges kosten tei in derDDR“ wurde als verfassungsfeindlichund als lassen, das MuseuminMödlareuth aufzubauenund die Ge- schwerer Fall staatsfeindlicherHetze [vgl.Abbildung]be- schichteamauthentischenOrt zu erklären. Es gibt entlang wertet.Dafürkriegten Sienormalerweise zehnJahre. derGrenze vieleGedenkstätten und-orte,für die entspre- Mirwar klar, dass die uns so einschätzen.Ich wur- chendeMitteleingesetzt werden. Ichdenke, die Geschich- de im September1989 vorgeladen –hieramAlexander- te derdeutschen Teilung –mitsamt dem KaltenKrieg! –ist platz/Rathaus Mitte –und drei Leute derAbteilung Inne- eine gesamtdeutsche Angelegenheit und kein Regionalpro- res/Stadtbezirk Mitte habenmir erklärt,wie der Aufruf der blem Ost. Initiativgruppe strafrechtlich bewertet wird. Doch in einem Landeszentrale: Wobei wir feststellen, für viele Jugendliche Punkt war ich mir ganz sicher:Diese Vorladung warei- erscheint derMauerfall so weitweg wiedie Schlacht bei Sa- gentlich lächerlich. Eigentlichhätten die sofortvor derTür lamis… stehen müssenund michmitnehmen... aber die kamen Gutzeit: Das ist mir klar.Wir müssen uns bewusst machen, nicht! Da hatte ichschon Zweifel, wie es eigentlichumdas dassfür uns heute 1989 so weit entfernt ist, wie im Jahr 1970 Regimesteht. Ich habe denengesagt: ‚Ich habe daszur derZweite Weltkrieg! Kenntnis genommen, bin aber eineranderen Rechtsauffas- Landeszentrale: Aber –selbst wennein Jugendlichernoch sung.‘ Dannhabeich denRaumwiederverlassen.[lacht] nicht so viel über diese Themen gelernthat –überdie Fa- Landeszentrale: Unddie? milie,die Erzählungder Großeltern undEltern,überbe- Gutzeit: Die habenmir nichts getan.Sie habendarüberei- stimmte Erinnerungsorteist (Zeit-)Geschichte dochimmer nen Vermerk gemacht–den habe ichheute noch. Er ist sach- irgendwie präsent. lich gehalten.Sie hattenvorhervermerkt,dass siesichauf Gutzeit: Ja, das stimmt. In meinerfrühen Jugendhaben die keine Diskussioneneinlassen würden. Daswolltensie nicht. älteren Leute in den fünfzigerund sechzigerJahren vom Landeszentrale: WiegehtesIhnenmit demGedanken, dass Ersten Weltkriegund Verdunerzählt. Aber die Erinnerun- dieselbenLeutehierherumlaufen? Dass SieIhnenimSu- gen sind sehrunterschiedlich. Wenn Sie manche Jugendli- permarktbegegnen könnten? che fragen, wer war Adenauer,ist eben auch nicht so viel da. Gutzeit: Dasist klar. Sehen Sie, wir habenmit denenschon Landeszentrale: ... einige denken,eskönnte derersteSED- am RundenTisch gesessen und darüberverhandelt, dass wir Generalsekretär gewesen sein… Neuwahlenabhalten. Teilweisehat man mitdenselbenLeu- Gutzeit: Ich halte es schonfür wichtig,das Geschichtsbe- ten in derVolkskammergesessen.Sukzessive habenwir den wusstseinklarzumachen.Aber einfach istdas nicht, es Kernder SED-Herrschaftdemontiert.Am1. Dezember kommt eben auch draufan, wie es in Familienweiterver- 1989 wurde derFührungsanspruch derPartei ausder Ver- mittelt wird. Dasist ja nicht nureine Aufgabe der Schule! fassung gestrichen.Insofern hatte ichdannkeinProblem Landeszentrale: Bei einigen Statements klingt bis heute ein mehr,denen im Supermarktzubegegnen.

250 Einsichten und Perspektiven 4|14 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

Vermerk der Staatssicherheitzur „strafrechtlichenEinschätzung“zur Gründung der SozialdemokratischenPartei in der DDR Quelle: BStU

Einsichten und Perspektiven 4|14 251 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

252 Einsichten und Perspektiven 4|14 „Ichdenke, es will keiner zurück…“

Landeszentrale: Die DDR-Regierung hatte die Rückende- keinergehtweg“ vertreten wurde –eine Reformder DDR ckung des GroßenBruders verloren… anzustreben und sienicht zu beseitigen? Gutzeit: Die Änderungder Rahmenbedingungen wardie Gutzeit: Daswar ausmeinerSicht illusionär. EineSicht, die entscheidendeVoraussetzung. Gorbatschow und seine Ad- sagte: Jetztkonntenwir endlichallesdas tun, waswir im- ministration habensich darauf eingestellt, den KaltenKrieg mer wollten. Vonder SDPdagegen strebtenwir ein freies, zu beenden. Wiesouveränwar Honecker? Die DDR hat demokratischesSystemmit Marktwirtschaftan, daswar mit sich zwar alssouveränen Staat dargestellt, diese„Souverä- denVertretern derReformthese nicht zu machen.Dazu ge- nität“ hing aber in letzter Konsequenzander sowjetischen hörten–dashattedie Kontaktgruppe derOpposition schon Führungsmacht mit400.000 Soldaten im Land –die sowje- am Samstag vorder Demonstration formuliert –auchfreie tischeBotschaft war die Schaltzentrale. Wahlen. So richtiggelandetsind vieleRedner vom4.11. Landeszentrale: Sie gelten ja als ein Vertreter derjenigen op- (z.B. auch Markus Wolf und GünterSchabowski)nicht. Das positionellenLinie, die in Blickauf eine mögliche Wieder- Volk derDDR hatte doch schon die ersten halbfreien Wah- vereinigung für einen „behutsameren“, „langsameren“Weg len in Polen miterlebt. Manwollte sich nicht mehr einhegen eingetreten sind. lassen.Esgab Äußerungen vonGorbatschow,bei denenuns Gutzeit: Am 10. November 1989 trafen wirWilly Brandt klarwar,dass er keine neue Breschnew-Doktrin herausge- und Hans-Jochen Vogel. Meineindiesem Gespräch doku- benwürde –das hätte dasEnde desEntspannungsprozes- mentierteZurückhaltung7 hatte den Hintergrund, dass ses bedeutet. wir alsOpposition noch garnicht handlungsfähig waren. Landeszentrale: Es waralsorelativwahrscheinlich, dass es Am 10.11. haben wirzunächst ein erstesPapierzum nicht zu bewaffnetenAuseinandersetzungen kommenwür- kommendenRunden Tisch verfasst.Was ich aufkeinenFall de –aberdie Gefahr,dass es zu einerEskalation kommen wollte,war,dass Modrow undKrenz dieVerhandlungen könnte,war nicht ganzvon derHandzuweisen. über dieweiteren Schrittevöllig in der Hand hatten. Zudem Gutzeit: Gorbatschow wollte dasnicht. Und ohne Zustim- warzudiesem Zeitpunktnoch völlig ungeklärt,was die mung derUdSSR hätte niemals einGeneral derDDR ge- Alliierten Siegermächte, ohne diedie beidendeutschen schossen. Staaten nicht handlungsfähig waren,für Standpunkte be- Wenn ichmir heute die große Übereinstimmung ziehenwürden. Insofernwar es sinnvoll,etwas auf Zeitzu ansehe, die wir in Deutschland haben, dann kann ichnur sa- setzen. gen:Esist ja so schlechtnicht. Wirmüssen überden Cha- Landeszentrale: WashieltenSie von dem Standpunkt, der rakterdieser Diktatur immer wiederdeutlicheWorte fin- auf der Massendemonstration am 4.11.1989z.B. vonChris- den; aber ansonstenwerden wir miteinanderleben. ta Wolf mit demSatz „Stelldir vor,esist Sozialismus und Landeszentrale: Vielen Dankfür dasGespräch. ❚

7Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/25-jahre-mauerfall/25-jahre-mauerfall-wollen-wir-nicht-erst-mal-miteinander-anstossen- 13256922.html [Stand:02.12.2014].

Einsichten und Perspektiven 4|14 253 Im Osten was Neues? Im Osten was Neues?

Von Katharina Kern und Stephan Dreischer

Foto: Katharina Kern

Im August und September 2014 fanden in drei ostdeutschen Ländern (Sachsen, Bran- denburg und Thüringen) Landtagswahlen statt. Die Ergebnisse der Wahlen sind in einem ersten Zugriff als durchaus heterogen zu beschreiben. Zum einen zeigt sich eine weitere Verfestigung langfristiger Muster bei der Stimmenverteilung auf die in den je- weiligen Ländern dominierenden Parteien (CDU in Sachsen und Thüringen; SPD in ); zum anderen gab es aber auch starke Verschiebungen innerhalb der Parteienlandschaft, darunter etwa der Erfolg der AfD in allen drei Bundesländern, das katastrophale Abschneiden der FDP oder größere Schwankungen bei den Wahlergeb- nissen der Linken. All dies sind Ergebnisse, die über die jeweiligen Länder hinaus mittelbar Auswirkungen auf die bundespolitische Ebene haben. Dass Anfang Dezem- ber mit Bodo Ramelow in Thüringen erstmals ein Vertreter der Linken – als Nachfol- gepartei der SED – das Amt eines Ministerpräsidenten übernimmt, wird dabei von vielen Beobachtern als politischer Dammbruch gewertet.

254 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Der Stellenwert von Landtagswahlen nis von Stadt- zu Landbevölkerung, das Ausmaß konfes- sioneller Gebundenheit und die konfessionelle Struktur, in Fragt man nach den möglichen Auswirkungen von Land- der Person des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsi- tagswahlen auf die Bundespolitik, so ist es sinnvoll, deren dentin liegende Gründe, die Dauer der Regierungszeit einer Stellenwert im bundespolitischen Kontext näher zu bestim- Partei oder aber eine Vielzahl soziostruktureller und -öko- men. Oftmals, und über viele Jahrzehnte zu Recht, galten nomischer Faktoren (Altersdurchschnitt, Erwerbslosen- Landtagswahlen als nationale Testwahlen oder auch, weil quote, Pro-Kopf-Einkommen etc.). über die gesamte Legislaturperiode des Bundestags ver- Zudem lässt sich ungefähr seit Beginn der 1990er streut liegend, als permanentes Stimmungsbarometer für die Jahre und in den ostdeutschen Ländern im Grunde seit de- Akzeptanz oder Ablehnung von Bundespolitik. Diesem ren Wiedergründung eine Aufweichung der starken Zu- Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass es eine hohe Ver- sammenhänge von Bundes- und Landesebene feststellen.3 flechtung zwischen Bundes- und Landesebene gebe1 und Eine solche Tendenz hat ihren Antipoden freilich in der po- die Themen der Bundesebene die Landespolitik überlager- tentiellen Auswirkung der Landtagswahlergebnisse auf die ten. Wahlen, die in dieser Weise von den Wahlen einer an- Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat,4 welche sich aufgrund deren Systemebene beeinflusst sind, werden nicht selten als von Regierungs(um)bildungen ändern können. „second-order-elections“ charakterisiert,2 da sie gegenüber Um nun konkrete Aussagen über den Stellenwert anderen Wahlen, wie etwa jenen zum Deutschen Bundestag, und die Wirkung der drei Wahlen in den Ländern Sachsen, als zweitrangig empfunden werden. Empirisch zeigt sich Brandenburg und Thüringen machen zu können, sind im das unter anderem daran, dass bundesweite Themen in den Folgenden eine Reihe von Fragen zu beantworten: Wo- Landtagswahlkämpfen eine wichtige Rolle spielen, dass es durch wurden die Wahlen in den jeweiligen Ländern ge- in der Regel zu geringerer Wahlbeteiligung kommt oder prägt? Welche Besonderheiten lassen sich dabei entdecken? dass der Wille zum Experimentieren bei den Wählern grö- Was sind die konkreten Ergebnisse der Landtagswahlen, ßer ist, weil sich ein Teil von ihnen bei Landtagswahlen auch und welche Folgen haben die Wahlen einesteils auf der je- für andere als potentielle Regierungsparteien entscheidet weiligen Landesebene und schließlich für die Bundesebene? („Denkzettel“; „Protestwahl“). Die Folge solchen Wähler- verhaltens ist häufig, dass die Wahlergebnisse bei den Land- Sachsen tagswahlen von den Abstimmungsergebnissen bei den Bun- destagswahlen in den entsprechenden Ländern abweichen Innerhalb der neuen Länder ist Sachsen das Land mit der und insbesondere die Regierungsparteien Stimmenverluste höchsten Wirtschaftskraft.5 Auch bei der Arbeitslosenquo- zu gewärtigen haben. Dieses Phänomen lässt sich vor allem te, ebenso wie bei der Pro-Kopf-Verschuldung liegt Sach- dann beobachten, wenn die Landtagswahlen in einem grö- sen im ostdeutschen Länderranking auf den vorderen Plät- ßeren Abstand zu den letzten Bundestagswahlen stattfin- zen.6 Hinsichtlich der persönlichen wirtschaftlichen Lage, den. Anders liegen die Dinge aber meist dann, wenn beide der Lebensqualität sowie der allgemeinen Zufriedenheit Wahlereignisse in zeitlich dichter Folge oder sogar parallel zeigt sich unter den sächsischen Bürgerinnen und Bürgern stattfinden; in diesen Fällen ist häufig ähnliches Abstim- ein positives Stimmungsbild. Die Mehrheit war zudem der mungsverhalten bei beiden Wahlen zu beobachten. Trotz- Meinung, ihr Land sei gut auf die Zukunft vorbereitet. Von dem wäre es irreführend, von einer vollständigen oder Wechselstimmung war hiernach wenig zu spüren. Die Um- weitgehenden Determinierung der Landtagswahlergebnis- fragewerte für die Sächsische Union, die seit 1990 ununter- se durch die Bundespolitik zu schreiben, denn offenkundig brochen Regierungspartei ist, waren durchgängig stabil und gibt es eine ganze Reihe von Einflussfaktoren, die auf der je- mit ca. 40 Prozent auf dem Niveau der Wahlergebnisse von weiligen Landesebene wirken, unter anderem das Verhält- 2009. Zwar hat die CDU – ähnlich wie Die Linke als zweit-

1 Zur Politikverflechtung siehe Fritz W. Scharpf: Föderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen, was kann man ändern? (= MPfG working paper 3/99), Köln 1999. 2 Siehe dazu Karl-Heinz Reiff / Hermann Schmitt: Nine second order elections: a conceptual framework for the analysis of European electi- on results, in: European Journal for Political Research, Vol. 8/1 (1980), S. 3-44. 3 Siehe Klaus Detterbeck: Zusammenlegung von Bundes- und Landtagswahlen? Die Terminierung von Wahlen und ihre Konsequenzen im europäischen Vergleich, Gütersloh 2006, S. 15. 4 So wäre es möglich gewesen, dass die auf Bundesebene regierende große Koalition, die vor den drei hier untersuchten Landtagswahlen nicht über eine eigene Mehrheit im Bundesrat verfügte, diese Mehrheit hätte erringen können. Dazu hätte es jedoch in allen drei Ländern zu einer Koalition aus CDU und SPD kommen müssen, was aufgrund der bereits feststehenden Koalition in Brandenburg (SPD und Linke) nicht passieren wird. 5 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/72903/umfrage/vergleich-der-wirtschaftskraft-der-bundeslaender/ [Stand: 02.11.2014]. 6 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2192/umfrage/durchschnittliche-arbeitslosenquote-nach-bundeslaendern/ [Stand: 02.11.2014].

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 255 Im Osten was Neues?

nen. Die Umfragen prognostizierten Ergebnisse bis zu 15 Prozent. Insgesamt war jedoch bei den im Parteienspek- trum mittig bzw. links angesiedelten Parteien wenig Bewe- gung zu erkennen. Einzig für die FDP zeichnete sich ab, dass sich in Sachsen der negative Bundestrend fortsetzen würde. Mehr Bewegung war hingegen im rechten bzw. rechtsextremen Spektrum zu erwarten. Nachdem die NPD im Wahljahr 2004 mit beinahe zehn Prozent und 2009 im- merhin noch mit 5,6 Prozent in den Sächsischen Landtag eingezogen war, bekam sie diesmal Konkurrenz von der AfD. Dies spiegelte sich auch in den Wahlkampfthemen wi- der. Die sächsische NPD versuchte, sich mit dem Slogan „Original wählen“ von der AfD abzugrenzen. Die AfD Die Spitzenkandidaten der AfD für die Landtagswahlen in Sach- setzte mit der Forderung nach strikten Einwanderungsre- sen und Brandenburg 2014, Alexander Gauland und Frauke geln oder Volksentscheiden über Moscheen mit Minaretten Petry (für Sachsen), geben eine gemeinsame Pressekonferenz, Themen auf ihre Agenda, welche in bisherigen Wahlkämp- Berlin, 1. September 2014. fen vorrangig von der NPD besetzt worden waren. Der Par- Foto: ullstein bild / Fotograf: Mathias Krohn teivorsitzende Bernd Lucke sprach etwa in Bautzen über kriminelle, der Prostitution nachgehende Zuwanderer, wel- che den Nährboden für Ausländerfeindlichkeit bildeten.11 stärkste Partei – seit der 4. Wahlperiode einen Negativtrend Die Vorsitzende der sächsischen AfD, Frauke Petry, ver- zu verzeichnen, deutliche Verluste waren jedoch nicht zu er- suchte, die Partei als konservative Volkspartei zu inszenie- warten. Insbesondere in den Bereichen „Wirtschaft“ oder ren. Damit hatte auch die CDU einen ernstzunehmenden „Arbeitsplätze“ wurde der Sächsischen Union – mit deutli- Wahlkampfgegner. Der Wahlkampf der Sächsischen Union chem Vorsprung auf SPD und Die Linke – zugetraut, Pro- richtete sich in erster Linie auf Bestandspflege. Aufgrund bleme am besten lösen zu können.7 Die überwiegende der günstigen wirtschaftlichen Lage verlagerte die Partei ih- Mehrheit der Sachsen wünschte sich Stanislaw Tillich wei- ren Themenschwerpunkt weg von der Arbeitsmarktpolitik terhin als Ministerpräsidenten. Die Umfragen ließen auf ei- hin zu „weichen Themen“ wie Bildung und Forschung so- ne hohe Wertschätzung seiner Person auch über die Partei- wie Familie und Kinderbetreuung. Der amtierende Minis- grenzen hinweg schließen.8 Immerhin 82 Prozent waren der terpräsident, Stanislaw Tillich, führte einen präsidialen Meinung, Tillich mache seine Sache gut – im Vergleich zu Wahlkampf, in dem er sich nicht mehr wie 2009 als „der 2009 ein Anstieg um 14 Prozent.9 Somit konnte dem amtie- Sachse“, sondern nun als „unser Ministerpräsident“ in Sze- renden Ministerpräsidenten auch keiner der Herausforde- ne setzte.12 Zudem entschied sich die CDU für eine Zweit- rer „gefährlich“ werden. Den Spitzenkandidaten der Lin- stimmenkampagne. Mit dem Themenplakat „Zweitstimme ken, Rico Gebhardt, kannten überhaupt nur neun Prozent für Stanislaw Tillich“, welche zudem als „Ministerpräsiden- der Befragten. Auch für den Spitzenkandidaten der SPD, tenstimme“ deklariert wurde, stellte sie sich diesmal deut- Martin Dulig, zeichnete sich im Vorfeld der Wahl kein gro- lich gegen eine Leihstimmenkampagne zugunsten der FDP. ßer Ansehensgewinn ab. Wechselstimmung gab es hiernach Einziger „Aufreger“ des ansonsten eher unaufgeregten lediglich hinsichtlich der Koalitionspräferenzen. Die Sach- Wahlkampfes der CDU war, dass Tillich bei Koalitionsaus- sen wünschten sich mehrheitlich die – im Wahljahr 2009 von sagen die AfD nicht von vornherein ausschloss. Der Wahl- der FDP abgelöste – SPD als kleinen Koalitionspartner.10 kampf der drittstärksten Partei in Sachsen, der SPD, war Die SPD hatte im Vorfeld der Wahl positive Prognosen und ebenfalls stark auf deren Spitzenkandidaten Martin Dulig schien sich aus dem „Zehn-Prozent-Loch“ befreien zu kön- zugeschnitten, der mit seiner „Küchentisch-Tour“13 eine

7 Forschungsgruppe Wahlen: Wahl in Sachsen. Eine Analyse der Landtagswahl vom 31. August 2014 (= Berichte der Forschungsgruppe Wah- len e.V.,Nr. 157), Mannheim 2014, S. 31 f. 8 Vgl. hierzu Viola Neu: Landtagswahl in Sachsen am 31. August 2014. Wahlanalyse, Berlin 2014. 9 Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 7), S. 27 f. 10 Ebd. 11 Thilo Alexe: Wer hat uns das eingebrockt? AFD Chef Bernd Lucke macht Wahlkampf in Sachsen. Es geht um Asyl, Kriminalität und den Aufbruch von 1989, in: Sächsische Zeitung vom 23.08.2014, S. 3. 12 Vgl. hierzu Horst Kahrs: Die Wahl zum 6. Sächsischen Landtag – Wahlnachbericht, in: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ Themen/wahlanalysen/LTW14_SN_Ka_Wahlnachtbericht.pdf [Stand: 11.11.2014].

256 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Ergebnis der Landtagswahlen 2014 in Sachsen Landesstimmen in Prozent

45 39,4 40,2 40 35 30 25 20,6 18,9 20 12,4 15 10,4 10 9,7 10 5,7 6,4 5,6 6,8 3,8 4,9 5,1 5 0 CDU LINKE SPD FDP GRÜNE AfD NPD Sonstige

Ergebnis 2014 in % Ergebnis 2009 in % Quelle: Statistisches Landesamt des Freistaats Sachsen, siehe: http://www.statistik.sachsen.de/wahlen/lw/lw2014/lw2014.htm ; Zugriff: 09.11.2014, eigene Darstellung.

Graphik: Dreischer/Kern

neue, bürgernahe SPD repräsentieren wollte. Die Themen- auslaufenden Solidarpaktmittel oder den Fachkräftemangel, plakate, wie „Geld für Schulen, nicht für Banken“ oder „Ar- aufgriff. beit fördern, nicht Lohndumping“ waren jedoch kaum kon- Am Wahlsonntag begaben sich nur 49,2 Prozent frontativ. Allenfalls die Forderung „Stellenabbau bei der der Sachsen zur Wahlurne – ein historischer Tiefststand. Al- Polizei stoppen“ richtete sich gegen konkrete CDU-Vorha- le Parteien – mit Ausnahme der AfD – verloren Stimmen an ben. Die Linke hingegen fuhr mit Großplakaten wie „25 das „Nichtwählerlager“. Die Gründe wurden retrospektiv Jahre CDU sind genug“ einen offensiveren Kurs. Bei den darin vermutet, dass die CDU den Termin auf den letzten Themenplakaten verband Die Linke bisherige Errungen- Ferientag legte. Andere – und wahrscheinlichere – Ursachen schaften mit vorhandenen oder zukünftigen Baustellen, in- sind jedoch die relativ hohe allgemeine Zufriedenheit, das dem sie etwa mit „Wirtschaftskraft und anständige Ein- Fehlen umstrittener und mobilisierender Wahlkampfthe- kommen“ oder „Leistungswille und Solidarität“ für einen men sowie die geringe thematische Profilierung der Partei- Regierungswechsel warb. Die Grünen versuchten mit ihren en.14 Die CDU wurde, wenig überraschend, mit 39,4 Pro- Plakaten gegen Massentierhaltung und für die Energiewen- zent erneut stärkste Partei in Sachsen, dennoch verlor die de, in erster Linie ihre mittlerweile gefestigte Stammwäh- Sächsische Union insgesamt 77.000 Wählerstimmen – da- lerschaft zu mobilisieren. Die Strategie der FDP war einzig von die Mehrzahl an die AfD. Das Ergebnis liegt leicht un- auf das politische „Überleben“ gerichtet. Mit dem Slogan ter deren Abschneiden bei der Bundestagswahl 2013, jedoch „Sachsen ist nicht Berlin“ hoffte der Landesvorsitzende der über den Ergebnissen bei Europa- und Kommunalwahlen, FDP Sachsen, Holger Zastrow, dass die sächsischen Wähle- welche im Sommer 2014 stattfanden. Blickt man auf die so- rinnen und Wähler nicht dem Bundestrend folgten. Dabei zialen Charakteristika der Wähler, so zeigt sich, dass sich konnte er jedoch kaum auf treue Stammwähler bauen, denn vor allem Wählerinnen über 59 sowie konfessionell Gebun- bereits in der zweiten und dritten Wahlperiode erreichten dene für die CDU entscheiden.15 Die Linke kommt auf 18,9 die Liberalen in Sachsen gerade einmal 1,7 bzw. 1,1 Prozent Prozent – ebenfalls ein leichter Verlust von 1,7 Prozent. Die der Wählerstimmen. Erschwerend kam hinzu, dass die FDP Schwäche, keine jüngeren Wähler zu mobilisieren, konnte mit Slogans wie „Diebe und Dealer stoppen“ kaum dezi- die Partei auch diesmal nicht überwinden. Die SPD wurde diert liberale Themen besetzte. Überraschend war, dass kei- von 12,4 Prozent der Sachsen gewählt, ein Zuwachs von ne Partei offensichtliche Zukunftsprobleme, wie etwa die zwei Prozent bzw. 15.000 Stimmen. Martin Dulig schaffte

13 Martin Dulig setzte im Wahlkampf auf Bürgernähe, indem er zu Gesprächen an seinem Küchentisch – welchen er bei jeder Wahlkampfstati- on aufbaute – einlud. 14 Vgl. Kahrs (wie Anm. 12). 15 Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 7), S. 48.

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 257 Im Osten was Neues?

Die neu gebildete sächsische Landesregierung: 1. Reihe v. l. Brunhild Kurth, Barbara Klepsch, Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Mar- tin Dulig, Dr. Eva-Maria Stange, Petra Köpping 2. Reihe v. l. Markus Ulbig, Thomas Schmidt, Sebastian Gemkow, Prof. Dr. Georg Unland, Dr. Fritz Jaeckel, 13. November 2014 Foto: Sächsische Staatsregierung/ Fotograf: Norbert Millauer es zudem, seinen Bekanntheitsgrad deutlich zu steigern. lerstimmen bekam. Letztere verpasste mit 4,95 Prozent Das Ergebnis der Grünen zeigte, dass sie sich seit 1990 ins- knapp den Wiedereinzug in den Sächsischen Landtag. Den- besondere bei den Unter-30-Jährigen eine feste Wählerba- noch bleibt die Partei alarmierend stark, was auf ein etab- sis erarbeiten und diese auch mobilisieren konnten. Sie zie- liertes rechtsradikales Wählerspektrum schließen lässt, wel- hen mit 5,7 Prozent in den Landtag ein. Leichte Verluste ches sich laut Umfragen vor allem aus den unteren Bil- könnten darauf zurückzuführen sein, dass insbesondere die dungsschichten rekrutiert.16 Damit fällt Sachsen insgesamt damalige Parteivorsitzende, Antje Hermenau, schwarz- besonders dadurch auf, dass sich viele Stimmen auf den grüne Koalitionswünsche äußerte. Die AfD zog mit der Rand des Parteienspektrums verteilen.17 Überdies setzt sich Wahl in Sachsen erstmals in ein Länderparlament ein und auch in Sachsen der Bundestrend fort, nach welchem die wurde mit 9,7 Prozent nunmehr die viertstärkste Kraft. Parteibindung sinkt und die Anzahl der Wechselwähler Dass Sachsen eine „AfD-Hochburg“ werden könnte, deu- steigt. tete sich bereits bei den Bundestags- und Europawahlen (6,8 Nach der Wahl nahm die CDU Sondierungsge- und 10,1 Prozent) an. Der Erfolg der Partei ist jedoch nicht spräche sowohl mit den Grünen als auch mit der SPD auf. nur auf Protestwähler zurückzuführen. Die AfD konnte Die Möglichkeit einer schwarz-grünen Regierung wurde je- viele Wechselwähler aus dem wertkonservativen und rech- doch kurz darauf aufgrund von inhaltlichen Differenzen so- ten Wählerspektrum überzeugen; aber genauso schaffte sie wie internem Widerstand bei den Grünen verworfen. Mitte es, 16.000 Wähler von der Linken abzuziehen. Außerdem Oktober präsentierten dann CDU und SPD ihren Koaliti- konnte sie als einzige Partei Nichtwähler mobilisieren. Es onsvertrag, der von den Mitgliedern der Parteien angenom- ist nicht zu übersehen, dass die AfD in jenen Regionen be- men wurde. Stanislaw Tillich wurde drei Wochen später er- sonders stark ist, in denen auch die NPD die meisten Wäh- neut zum Ministerpräsidenten gewählt.

16 Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 7), S. 49. 17 Vgl. hierzu Neu (wie Anm. 8).

258 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Brandenburg

Die Wahlen in Brandenburg fanden ebenso wie jene in Thü- ringen am 14. September 2014 statt. Von den knapp 2,1 Mil- lionen Wahlberechtigten unter den gut 2,5 Millionen Ein- wohnern des Landes gaben nur etwas über eine Million Wähler ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung sank damit auf 47,9 Prozent, was gegenüber der letzten Wahl aus dem Jahr 2009 einen Rückgang um fast 18 Prozent bedeutete und die zweitniedrigste Wahlbeteiligung an einer Landtagswahl in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt darstellt. Al- lerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die vorherige Wahl parallel zur Bundestagswahl 2009 stattfand, so dass die frü- heren Wahlen (2004, 1999) mit einer Wahlbeteiligung von jeweils um die 55 Prozent den geeigneteren Referenzmaß- stab bilden, hinter dem die Wahlbeteiligung des Jahres 2014 jedoch ebenfalls deutlich zurückbleibt. Bekanntermaßen haben Kandidaten, Sachthemen sowie, allerdings mit abnehmender Erklärungskraft, sozial- strukturelle Bedingungen und konfessionelle Bindungen ei- nen hohen Einfluss auf Wahlentscheidungen. Bei den Spit- zenkandidaten zeigt sich dabei häufig ein „Amtsinhaberbo- nus“ des aktuellen Regierungschefs gegenüber den Herausforderern. Das ließ sich auch in Brandenburg beob- achten. Obgleich der amtierende Ministerpräsident Diet- Plakatierung im brandenburgischen Wahlkampf mar Woidtke erst knapp ein Jahr diesen Posten inne hatte Foto: ullstein bild/Fotograf: Fabrizio Bensch und ihn obendrein vom – in Brandenburg höchst populären – Matthias Platzeck übernahm, war er den meisten Bran- denburgern deutlich besser bekannt (59 Prozent) als die bei- wichtiges politisches Thema handelte.20 Als bedeutsamer den Kandidaten der CDU und der Linken, Michael Schie- eingeschätzt wurden andere Themen. Das zentrale Problem rack (21 Prozent) und Christian Görke (13 Prozent).18 Zu- für viele Brandenburger ist die Arbeitslosigkeit, die im Ver- dem wünschte sich eine Mehrheit der Brandenburger gleich zu den beiden anderen Ländern am höchsten ist,21 sowieso die Weiterführung der Amtsgeschäfte durch den was angesichts der am schwächsten ausgeprägten Wirt- bisherigen Ministerpräsidenten.19 Diese Zahlen zeigen, dass schaftskraft22 kaum überrascht. Zwar verliert der Aspekt es die beiden anderen Spitzenkandidaten ohnehin schwer „Arbeitslosigkeit“ im Gegensatz zur Wahl des Jahres 2009 hatten, sich gegen den Amtsinhaber durchsetzen zu kön- spürbar an Bedeutung, aber dennoch rangiert er vor „Schu- nen, zumal im Land Brandenburg keine echte Wechselstim- le und Bildung“ auf dem ersten Platz, gefolgt von den Be- mung zu erkennen war. reichen „Verkehr“ und „Kriminalität“.23 Insbesondere das Das lässt sich auch an den Themen ablesen, die im letzte Thema hat während des Wahlkampfes eine stark emo- Wahlkampf und bei der Wahlentscheidung eine Rolle spiel- tionalisierende Wirkung entfaltet, weil die eingeleitete Poli- ten. Zwar waren viele Brandenburger (77 Prozent) der Mei- zeireform in Brandenburg zum Stellenabbau bei der Polizei nung, dass die Landesregierung beim Bau des Flughafens führte, was vor allem auch von der AfD mit der Forderung Berlin-Brandenburg total versagt habe, aber dennoch gaben aufgenommen wurde, wieder Grenzkontrollen einzufüh- nur zehn Prozent an, dass es sich bei dieser Frage um ein ren. Die CDU griff dieses Problem ebenfalls auf, indem sie

18 Forschungsgruppe Wahlen: Wahlen in Brandenburg. Eine Analyse der Landtagswahl vom 14. September 2014 (= Berichte der Forschungs- gruppe Wahlen e.V., Nr. 158), Mannheim 2014, S. 16. 19 Siehe ebd., S. 17. 20 Siehe Viola Neu: Landtagswahl in Brandenburg am 14. September 2014. Wahlanalyse. Berlin 2014, S. 5. 21 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2192/umfrage/durchschnittliche-arbeitslosenquote-nach-bundeslaendern/ [Stand: 2.11.2004]. 22 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/72903/umfrage/vergleich-der-wirtschaftskraft-der-bundeslaender/ [Stand: 12.11.2014]. 23 Siehe Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 18), S. 21.

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 259 Im Osten was Neues?

Ergebnis der Landtagswahlen 2014 in Brandenburg Landesstimmen in Prozent 35 31,9 33 30 27,2 25 23 19,8 18,6 20 15 12,2

7,2 7,1 10 6,2 5,7 6,8 5 1,5 0 SPD LINKE CDU FDP GRÜNE AfD Sonstige

Ergebnis 2014 in % Ergebnis 2009 in %

Quelle: Der Landeswahlleiter Brandenburg, siehe: https://www.wahlergebnisse.brandenburg.de/wahlen/LT2014/ErgebnisUeberblick.asp? sel1=1253&sel2=0651; Zugriff: 09.11.2014, eigene Darstellung.

Graphik: Dreischer/Kern

auf Plakaten beispielsweise fragte, warum nur jeder fünfte abschneidet als in der gesamten Bevölkerung, während die Einbruch aufgeklärt werde. Die FDP plakatierte recht anderen Parteien ähnliche (SPD) oder schlechtere bis deut- selbstironisch „Keine Sau braucht die FDP“. Der Slogan lich schlechtere Ergebnisse (Die Linke) im Vergleich zum wurde später durch Banner teilweise überklebt oder er- Gesamtergebnis erzielen. Hinsichtlich des Einflusses von gänzt, um Inhalte und Zielgruppen deutlicher zu machen. sozialstrukturellen Faktoren ist insbesondere auffällig, dass Die SPD setzte stark auf ihren Ministerpräsidenten Dietmar die AfD gerade in der älteren Bevölkerung unterdurch- Woidtke sowie auf die Themen soziale Gerechtigkeit, Bil- schnittlich erfolgreich ist, dafür aber bei Arbeitslosen, einer dung und Gesundheit, während sich die Grünen vor allem Gruppe, in der auch Die Linke überdurchschnittlich ab- als „ökologisch, gerecht, modern, weltoffen“ präsentierten. schnitt, gute Ergebnisse erzielt. Die CDU hat ihre Stärken Insgesamt verlief der Wahlkampf in Brandenburg, bei dem bei den Berufstätigen, wo sie 26 Prozent der Wähler erreicht die Parteien überwiegend auf Brandenburg-spezifische und ebenso wie die Grünen (7 Prozent) und AfD (14 Pro- Themen und weniger auf bundespolitische Aspekte setzten, zent) überdurchschnittlich abschneidet. SPD (28 Prozent) jedoch gedämpft. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass die genauso wie die Linke (16 Prozent) bleiben hier hinter ih- Zusammenarbeit zwischen SPD und Linken, anders als et- rem Gesamtergebnis zurück, anders hingegen bei den Rent- wa die zwischen CDU und SPD in Thüringen, relativ rei- nern, wo 41 bzw. 24 Prozent zu Buche stehen.25 Besonders bungslos erfolgte.24 auffällig ist zudem, dass die SPD nicht mehr in allen Alters- Üblicherweise spielen bei der Wahlentscheidung gruppen die stärkste Partei ist, sondern in der Gruppe der auch sozialstrukturelle und konfessionelle Gründe eine unter 45-Jährigen die CDU die meisten Stimmen auf sich nicht unwichtige Rolle. Da der Anteil der konfessionell Ge- vereinen kann. Und ebenso zeigen sich bei der SPD sowie bundenen in Brandenburg jedoch bei nur etwa 25 Prozent der AfD als einzigen im Landtag vertretenen Parteien grö- (darunter drei Prozent Katholiken) liegt, fällt dieses Krite- ßere Unterschiede zwischen dem Anteil männlicher und rium für die Erklärung des Wahlausgangs nur abgeschwächt weiblicher Wählerschaft. Während deutlich mehr Frauen ins Gewicht. Dennoch spielt es natürlich eine Rolle, und so als Männer die SPD wählen (35 ggü. 29 Prozent), ist es bei lässt sich beispielsweise festhalten, dass die CDU unter Ka- der AfD genau umgekehrt, ihr geben zehn Prozent der tholiken (36 Prozent) und Protestanten (30 Prozent) besser Frauen, aber 15 Prozent der Männer ihre Stimme.

24 Siehe Mechthild Küpper: Mit Gregor zur Sonne, zur Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. September 2014, S. 4. 25 Siehe Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 18), S. 38.

260 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Die Spitzenkandidaten der Landtagswahl in Branden- burg (v. l. n. r.): Ministerprä- sident Dietmar Woidke, Michael Schierack (CDU), Christian Görke (Die Linke), Alexander Gauland (AfD) und Axel Vogel (Bündnis ‘90/Die Grünen), Potsdam, 14. September 2014 Foto: dpa/Picture alliance/Fotograf: Ralf Hirschberger

Die neu gebildete branden- burgische Landesregierung: 1. Reihe v. l. Kathrin Schnei- der, Diana Golze, Christian Görke, Dr. Dietmar Woidke (Ministerpräsident), Prof. Dr. Dr. Sabine Kunst, Dr. Hel- muth Markov; 2. Reihe v. l. Günter Baaske, Karl-Heinz Schröter, Jörg Vogelsänger, Albrecht Gerber Foto: brandenburg.de

Das Ergebnis der Wahl in Brandenburg ist dahingehend we- zu nennen. Der erst im April 2013 gegründete Landesver- nig überraschend, dass die SPD, wie stets seit der Wiederer- band schafft es nach dem Erfolg bei den Wahlen zum Euro- richtung des Landes im Jahr 1990, stärkste Partei wird. Sie päischen Parlament (in Brandenburg 8,5 Prozent), ein Er- regiert mit wechselnden Koalitionspartnern und unter- gebnis von 12,2 Prozent zu erzielen und damit die viert- schiedlichen Ministerpräsidenten durchgängig seit 1990, hat stärkste Kraft im Landtag zu werden. Die Grünen haben aber bei der Landtagswahl 2014 ihr zweitschlechtestes Er- mit 6,2 Prozent ein um einen halben Prozentpunkt besseres gebnis erreicht und etwas mehr als ein Prozent der Stimmen Wahlergebnis aufzuweisen, was ihnen erstmalig den Wie- eingebüßt. Zugewinne verzeichnet hingegen die CDU, wel- dereinzug in den Brandenburger Landtag garantiert. Große che erstmals seit zwei Legislaturperioden wieder mehr als Verlierer der Wahlen sind die Linken und die FDP. Während 20 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Zudem steigt die die FDP nur noch auf einen Stimmenanteil von 1,5 Prozent Zahl der gewonnenen Direktmandate deutlich von vier auf kommt und damit aus dem Landtag ausscheidet, verliert die zehn. Neben der CDU ist die AfD als Gewinnerin der Wahl Linke mehr als acht Prozent. Sie fällt mit ihrem Ergebnis

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 261 Im Osten was Neues?

(18,6 Prozent) hinter die CDU zurück und büßt zudem 17 ihrer zuvor 21 Direktmandate ein. Bemerkenswert ist über- dies, dass die Brandenburger Vereinigte Bürgerbewegung / Freie Wähler mit einem Wahlergebnis von 2,7 Prozent drei Abgeordnete in den nunmehr aus sechs Fraktionen beste- henden Landtag in Potsdam entsendet, weil ihr der Gewinn eines Direktmandats im Wahlkreis Teltow-Fläming III ge- lingt. Welche Auswirkungen hatte all dies nun auf die Landespolitik? Vor der Wahl war der Anteil derjenigen, die sich eine Fortführung der bisherigen Koalition aus SPD und Linken wünschten, mit 44 Prozent annähernd so hoch wie der Anteil jener, welche eine Koalition aus SPD und CDU favorisierten (43 Prozent). Recht schnell entschied sich die SPD jedoch für eine Fortführung der Koalition mit der Lin- ken. Zwar war es zu Sondierungsgesprächen zwischen SPD und CDU gekommen, die jedoch im Wesentlichen ergeb- nislos blieben und in gegenseitigen öffentlichen Vorwürfen gipfelten.26 Am 5. November 2014 wurde Dietmar Woidtke (SPD) im Potsdamer Landtag im ersten Wahlgang zum Mi- nisterpräsidenten gewählt und das neue Kabinett vereidigt, dem drei Minister der Linken und sechs der SPD angehö- ren.

Thüringen

Unter den drei betrachteten Bundesländern ist Thüringen das Land mit der geringsten Wirtschaftskraft. Gleichwohl Plakatierung im thüringischen Wahlkampf war die durchschnittliche Arbeitslosenquote mit 8,2 Pro- Foto: Katharina Kern zent deutlich niedriger als in allen anderen ostdeutschen Ländern, was auch daran liegt, dass Thüringen an Hessen, haus,29 der 2003 die Amtsnachfolge Bernhard Vogels ange- Niedersachsen und Bayern grenzt.27 Im Vergleich zu 2009 treten hatte. Aufgrund der massiven Wahlverluste übergab sind die Thüringer nun insgesamt zufriedener mit der allge- Althaus schließlich sein Amt an Christine Lieberknecht. meinen sowie der individuellen wirtschaftlichen Lage.28 Seit Nach dem Personalwechsel prognostizierten die Umfragen 1990 ist die CDU die stärkste Partei in Thüringen. In der der CDU nun ein deutlich besseres Ergebnis. Auch bei der dritten und vierten Wahlperiode erlangte die Thüringer Bewertung der Regierungsarbeit schnitt sie nun besser ab Union die absolute Mehrheit und konnte ohne Koalitions- als bei der letzten Landtagswahl.30 Ihr Koalitionspartner, die partner regieren, was auch auf die Beliebtheit des ehemali- SPD, konnte seine Zufriedenheitswerte ebenfalls steigern. gen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel zurückzuführen Bei der Bewertung der Arbeit der Oppositionsparteien ge- war. Im Jahr 1999 erreichte die CDU immerhin 51 Prozent wann nur Die Linke deutlich an Ansehen. Die Wahlumfra- der Stimmen. In den folgenden zwei Wahlperioden verlor gen zeigten, dass die Linkspartei ihr Ergebnis zum fünften sie jedoch fast 20 Prozent ihrer Stimmen und fiel 2009 auf Mal in Folge steigern könnte. Im Wahljahr 1999 überholte 31,2 Prozent. Ein Grund für das schlechte Abschneiden war die damalige PDS mit einem Wahlergebnis von 21,3 Prozent der Ansehensverlust von Ministerpräsident Dieter Alt- erstmals die SPD, welche lediglich noch 18,5 Prozent der

26 Küpper (wie Anm. 24), S. 4. 27 Vgl. hierzu für das Jahr 2013: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2192/umfrage/durchschnittliche-arbeitslosenquote-nach- bundeslaendern/ [Stand: 11.11.2014]. 28 Forschungsgruppe Wahlen: Wahl in Thüringen. Eine Analyse der Landtagswahl vom 14. September 2014 (= Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e.V., Nr. 159), Mannheim 2014, S. 24. 29 Nachdem Althaus im Januar 2009 beim Skifahren mit einer anderen Skifahrerin kollidierte, welche an den Folgen ihrer Verletzungen ver- starb, wurde er zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Immer wieder gab es Medienberichte, nach denen sich – entgegen den Zusicherungen von Althaus – die Verhandlungen über die Schadensersatzzahlungen verzögerten. 30 Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 28), S. 13.

262 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Ergebnis der Landtagswahlen 2014 in Thüringen Landesstimmen in Prozent

40 33,5 35 31,2 28,2 30 27,4 25 18,5 20 12,4 15 10,6 7,6 5,7 6,2 10 3,6 4,3 3,5 4,8 5 2,5 0 CDU LINKE SPD FDP GRÜNE AfD NPD Sonstige

Ergebnis 2014 in % Ergebnis 2009 in % Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik, siehe: http://www.wahlen.thueringen.de/WahlSeite.asp ; Zugriff: 09.11.2014, eigene Darstellung.

Graphik: Dreischer/Kern

Stimmen – von vormals 29,6 Prozent – bekam. Diesen Vor- ringer Landtag werden kann. Dieser Erfolg zeichnete sich sprung konnte Die Linke seither kontinuierlich ausbauen bereits zur Bundestagswahl 2013 ab, als 6,2 Prozent der und sich als zweitstärkste Partei in Thüringen etablieren. Thüringer der AfD ihre Stimme gaben. Koalitionen aus SPD und der Linken waren rein rechnerisch Ein wichtiges Thema im Vorfeld der Landtagswahl bereits seit Mitte der 1990er Jahre möglich, scheiterten bis- waren die unterschiedlichen Koalitionsmöglichkeiten. Ei- lang jedoch an SPD-internem Widerstand und an der Frage ne Mehrheit war der Meinung, dass die CDU in der Regie- nach der Regierungsfähigkeit der Linken. Für die FDP zeig- rung bleiben sollte – was nicht auf eine echte Wechselstim- ten die Umfragen, dass sie an der Fünf-Prozent-Hürde mung hindeutete.32 Die relative Mehrheit der Thüringer scheitern würde. Die Oppositionsarbeit der FDP bewerte- sprach sich zudem für eine Fortführung der Koalition aus ten die Thüringer im Vergleich zu den anderen Parteien am CDU und SPD unter Christine Lieberknecht als Minister- schlechtesten.31 Bereits seit 2011 prognostizierte kein Um- präsidentin aus. Eine deutliche Ablehnung einer von der frageinstitut der Partei den Wiedereinzug in den Landtag. Linken geführten Koalitionsregierung mit der SPD und Tatsächlich war die FDP überhaupt nur zwei Mal – nämlich den Grünen war jedoch auch nicht festzustellen. Auf die 1990 und 2009 – im Landtag vertreten, was auf eine wenig Frage, ob man der Linken zutraue, Landesregierung und gefestigte Wählerbasis schließen lässt. Die Grünen hingegen Ministerpräsidenten zu stellen, antworteten immerhin 47 konnte sich über die Jahre insbesondere in den größeren Prozent mit Ja.33 Die SPD war sich ihrer Schlüsselposition Städten wie Jena und Erfurt eine solide Stammwähler- bewusst und hielt sich im Vorfeld der Wahl mit konkreten schicht erarbeiten, weshalb die Wahlumfragen das Land- Koalitionsaussagen zurück. Sie konnte entweder weiterhin tagswahlergebnis von 2009 bestätigten. Bisher gelang es in mit der CDU regieren oder erstmals mit der Linken ko- Thüringen keiner Partei, sich rechts von der CDU zu etab- alieren. Die Grünen-Spitzenkandidatin Anja Siegesmund lieren; zuletzt war die NPD mit 4,3 Prozent an der Fünf- hingegen sprach sich deutlich für einen Regierungswechsel Prozent-Hürde gescheitert. Einen ernstzunehmenden Kon- aus. Mit Blick auf die Wahlprognosen blieb der CDU so- kurrenten schienen die Parteien hingegen durch die AfD zu mit allein die SPD als möglicher Koalitionspartner. Aller- bekommen. Diese zeigte in den Wahlprognosen nicht nur, dings war das Verhältnis der Parteien durch einige Affären dass sie den Sprung in den Landtag schaffen würde, sondern belastet. Entgegen den Aussagen des CDU-Fraktionschefs auch, dass sie auf Anhieb zur viertstärksten Kraft im Thü- Mike Mohring, schloss Christine Lieberknecht ein Bünd-

31 Forschungsgruppe Wahlen (wie Anm. 28), S. 13. 32 Ebd., S. 17. 33 Ebd.

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 263 Im Osten was Neues? nis mit der AfD kategorisch aus. Der Wahlkampf war hier- und die Partei erzielte mit 12,4 Prozent der Stimmen ihr bis- nach stark auf die Auseinandersetzung der Spitzenkandi- her schlechtestes Ergebnis. Die Grünen ziehen mit 5,7 Pro- daten von CDU, Christine Lieberknecht, und der Linken, zent erneut in den Landtag ein. Auch sie bekommen Stim- Bodo Ramelow, ausgerichtet. Lieberknecht verlor im Vor- men von der SPD. Die AfD erringt erstaunliche 10,6 Pro- feld der Wahl aufgrund mehrerer Skandale, die an ihrer zent der Stimmen, obwohl die Umfragen der Partei kein Führungsfähigkeit zweifeln ließen, an Vertrauen. Die Mi- Ergebnis über zehn Prozent voraussagten. Tatsächlich nisterpräsidentin irritierte die Thüringer zudem mit der schaffte es die Partei, Wähler aus dem wertkonservativen Aussage, dass sie nicht unbedingt weiterhin Ministerpräsi- und rechten Lager zu überzeugen. Sie bekommt von der dentin sein müsse.34 Dennoch lag Lieberknecht im direkten CDU 18.000 Wählerstimmen, aber auch von den Linken Vergleich mit 49 Prozent vor Ramelow, der nur 39 Prozent wandern immerhin 16.000 Wähler zur AfD. Insgesamt kann der Befragten davon überzeugen konnte, ein besserer sie jedoch von allen Parteien Wähler einsammeln – am we- Ministerpräsident zu sein. Im Wahlkampf widmeten sich nigsten allerdings von den Grünen. In Thüringen bildete beide Parteien Themen wie dem Lehrermangel und der sich nun eine Koalition aus der Linken, SPD und den Grü- Drogenpolitik, wenngleich sie unterschiedliche Lösungs- nen an. Bodo Ramelow wurde am 5. Dezember 2014 zum vorschläge präsentierten. Tatsächlich waren es bildungspo- ersten Linken Ministerpräsident gewählt. litische Themen, welche die Thüringer als die dringendsten Probleme im Freistaat einstuften. Im Wahljahr 2009 be- Fazit setzte diesen Rang noch das Thema Arbeitslosigkeit. Die Stoßrichtung der Linken im Wahlkampf war darauf ausge- Folgt man der eingangs erwähnten Argumentation, dass richtet, sich als echte Alternative zu inszenieren. So er- Landtagswahlen zunehmend weniger durch Bundestags- munterte sie die Bürger mit dem Wahlspruch „Wann, wenn wahlen geprägt werden, so lassen sich auch im Vergleich der nicht jetzt“, den Regierungswechsel zu unterstützen. Die drei hier untersuchten Länder gute Gründe dafür finden. FDP hatte – wenig überraschend – nur das Ziel, „trotz mie- Recht unstrittig ist, dass „[d]ie stärkere Diversität regiona- ser Umfragewerte vorab, dann an den Wahlurnen doch ler Wahlergebnisse […] ein Produkt der nachlassenden Par- noch zu punkten“35 und die Fünf-Prozent-Hürde zu über- teibindungen in Westdeutschland sowie der auf schwachem springen. Mit Themenplakaten wie „Wir sind dann mal Niveau verharrenden Parteibindungen in Ostdeutschland weg! Genau wie der Mittelstand“ versuchte sie, die Wähler [ist]. Die Wähler verhalten sich weniger loyal als früher, sie von deren Wichtigkeit in der Parteienlandschaft zu über- sind stärker wechselbereit (volatil) und sie treffen ihre Ent- zeugen. Die AfD bediente im Wahlkampf viel „Anti-Estab- scheidungen eher nach den kurzfristigen Erwägungen von lishment-Rhetorik“36, indem sie sich gegen die „bedrängte aktuellen Themen und Kandidaten“.37 Hinzu kommt, dass Meinungsfreiheit“ und die „erstarrte Parteiendemokratie“ Landtagswahlen zunehmend emanzipiert von der Bundes- unter anderem mit den Mitteln der direkten Demokratie ebene sind und die Parteien versuchen, eine stärkere regio- zur Wehr setzen wolle. nale Identifizierung zu erreichen, um im zunehmenden Wie in Sachsen und Brandenburg, ist auch in Thü- Wettbewerb (national, europäisch, global) bestehen zu kön- ringen die Wahlbeteiligung gesunken. Die CDU bleibt mit nen. Das hat zur Folge, dass landesspezifische Themen für 33,5 Prozent stärkste Partei und gewinnt immerhin 34 der die Wahlentscheidungen wichtiger werden. In der politi- 44 Wahlkreise – insbesondere im ländlichen Raum und dem schen Realität der drei hier untersuchten Wahlen zeigt sich, katholischen Eichsfeld. Die Linke ist mit ihrem bisher dass beide Ansätze nützliche Erklärungen für das Wähler- stärksten Ergebnis von 28,2 Prozent abermals zweitstärks- verhalten liefern. So lässt sich übereinstimmend eine stark te Partei in Thüringen und folgt mit einem Abstand von nur regional orientierte Wahlkampfführung feststellen, die jene fünf Prozent auf die CDU. Die Linkspartei schaffte es, ins- Themen abbildet, welche auch die Bürgerinnen und Bürger besondere von der SPD jene Wähler abzuziehen, die den für das jeweilige Bundesland als wichtig einstufen. Diese Regierungswechsel unterstützen. Nicht zuletzt deshalb, waren in allen drei Ländern erstmals eher „weiche“ Themen weil die SPD keine Koalitionsaussagen machen wollte, ent- wie Bildung, Lehrermangel oder Familie. Dafür traten schieden sich die Wähler für das eine oder das andere Lager Wirtschaft und Arbeitslosigkeit – die Großthemen der letz-

34 Vgl. http://www.welt.de/politik/deutschland/article132199022/Wird-in-Thueringen-jetzt-Geschichte-geschrieben.html; [Stand: 11.11.2014]. 35 Jens Voigt: „Wir sind dann mal weg“ - Thüringer FDP will auch mit Wahlplakaten die Verlustängste der Thüringer wecken, in: Thüringer Allgemeine Zeitung vom 04.08.2014, S. 3. 36 Lenz Jacobsen: Gleich drei Alternativen für Deutschland, in: Die Zeit; http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-07/afd-thueringen- sachsen-brandenburg-landtagswahl [Stand: 11.11.2014]. 37 Detterbeck (wie Anm. 3), S. 20.

264 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Im Osten was Neues?

Die Parteivorsitzende der Linken, Susanne Hennig- Wellsow (l.), Grünen-Chef Dieter Lauinger und SPD- Vorsitzender Andreas Bause- wein stellen den gemeinsamen Koalitionsvertrag am 20.11.2014 in Erfurt vor. Foto: picture alliance/Fotograf: Martin Schutt

ten Wahlperiode – mehr und mehr in den Hintergrund. Bewegung gab es jeweils an den Rändern des Parteienspek- Bei vielen Themen überschnitten sich die Forderungen der trums. Die AfD konnte in allen drei Ländern – in Branden- Parteien. In Thüringen setzten sich sowohl die CDU als burg und Thüringen sogar mit einem zweistelligen Ergeb- auch Die Linke für die Einstellung von mehr Lehrern ein. nis – in den Landtag einziehen. Der Erfolg dieser Partei in In Sachsen waren sich die Parteien darüber einig, dass den drei ostdeutschen Ländern deutete sich bereits bei der Grenzkriminalität und Drogenhandel stärker bekämpft Bundestagswahl an. Die Partei schaffte es zudem als einzi- werden müssten. Sucht man nach den Gründen für die ge- ge, Nichtwähler zu mobilisieren und bekam die meisten ringe Wahlbeteiligung, so scheint hier die These, nach der Wählerstimmen von ehemaligen FDP-, CDU- und Linke- die fehlende Unterscheidbarkeit der Parteien ein Grund da- Wählern. Die AfD konnte auch Stimmen aus dem rechten für ist, der Wahl fernzubleiben, einige Erklärungskraft zu Lager einsammeln. Nicht zuletzt deshalb schaffte es keine haben.38 der Rechtsaußen-Parteien, die Fünf-Prozent-Hürde zu Ebenso kann die in allen drei Ländern gestiegene überspringen. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass sich der soziale und wirtschaftliche Zufriedenheit ursächlich dafür Bundestrend hin zu einer größeren Personalisierung des sein, dass am Wahlsonntag prozentual weniger Bürgerinnen Wahlkampfes in den jeweiligen Ländern fortsetzt. Zum Teil und Bürger ihre Stimme abgaben. Von großen politischen gab es sogar aufwändig inszenierte Rededuelle zwischen Kontroversen und Wechselstimmung war jedenfalls wenig den Spitzenkandidaten.39 zu erkennen. Tatsächlich bekam jeweils diejenige Partei In Sachsen und in Brandenburg führen auch nach die meisten Stimmen, welche auch schon 1990 das beste dieser Wahl dieselben Parteien die Regierungskoalition an. Wahlergebnis erzielte: In Thüringen und Sachsen ist das Die Sächsische Union musste sich nach der Wahlniederlage die CDU, in Brandenburg die SPD. Die Grünen konnten der FDP „notgedrungen“ einen neuen Koalitionspartner sich in allen drei Ländern etablieren und ziehen in suchen und fand diesen in der SPD. Die SPD in Branden- Sachsen zum dritten Mal und in Brandenburg und Thürin- burg entschied sich für die Fortsetzung einer Koalition gen zum zweiten Mal in Folge in den Landtag ein. In allen mit der Linken. In beiden Ländern bleiben die Ministerprä- Bundesländern widmete sich die Partei mit Klimaschutz, sidenten im Amt. Thüringen hingegen vollzieht einen Tierschutz oder gesunder Ernährung explizit „grünen“ Regierungswechsel, bei dem die Linke 24 Jahre nach der Themen und schaffte es so, ihre – insbesondere in den gro- Wiedervereinigung erstmals einen Ministerpräsidenten ßen Städten lebende – Stammwählerschaft zu mobilisieren. stellt. Insofern kommt tatsächlich aus dem Osten etwas Auf Stammwähler konnte die FDP in keinem der Bundes- Neues, was durchaus kontroverse Folgen für künftige länder bauen und scheiterte überall an der Fünf-Prozent- Koalitionsentscheidungen auf Landes- und Bundesebene Hürde. haben könnte. ❚

38 Vgl. hierzu Christian Junge: Parteien ohne Eigenschaften. Zur Diffusion organisationaler Identität von CDU und SPD und der Perspektive ihrer Mitglieder, hg. v. Oskar Niedermayer et. al.: Die Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen 2009, S. 129-158. 39 So etwa zwischen dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und dem Kandidaten der Linken, Rico Gebhardt, in Brandenburg gab es sogar zwei Duelle.

Einsichten und Perspektiven 4 | 14 265 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

Deutsche Gerichte in den „eingegliederten Ostgebieten“ 1939–19451

VonMaximilianBecker

Gebäudedes Amtsgerichtsimwestpreußischen Neustadt (Wejherowo) Abbildung: Postkarte aus dem Verlag WaldemarEngler, Neustadt, Westpreußen

1Der vorliegende Aufsatzist dieKurzfassung einesKapitelsder Doktorarbeit von Maximilian Becker: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliedertenOstgebieten 1939-1945 (= Quellen undDarstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 101), München 2014.

266 Einsichten und Perspektiven 4|14 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

DerdeutscheKrieg gegen Polen bedeutete auch eine Aus- bezirkenKönigsberg, Danzig,Posen und Kattowitz gehör- dehnung derJustizhoheit des „Dritten Reiches“: Bereits am ten. Darüberhinaus unterstandender Justiz zu diesem Zeit- 5. September1939, nurfünf Tage nach dem Angriff der punkt 24 größere Gefängnisse und Zuchthäuser,5 die teil- Wehrmacht, erließGeneraloberst Walther von Brauchitsch weiseüberAußenlager und Außenarbeitsstellen verfügten. alsOberbefehlshaber des Heeres eine Verordnung,die es Zudemexistierten mehrere Dutzendkleinere Gerichtsge- denArmeekommandeuren erlaubte, zivile Sondergerichte2 fängnisse beiden Amts-und Landgerichten.6 Eine polnische einzurichten. Nochamselben Tagwurde in Bromberg Justiz bestandinden „eingegliederten Ostgebieten“–an- (Bydgoszcz)ein erstes Gericht errichtet,das wenigeTage dersals im Generalgouvernement–nicht.7 später seineArbeitaufnahm. WeitereSondergerichte folg- Die „eingegliederten Ostgebiete“solltennach dem ten. Nach der militärischen NiederlagePolens und einer WillenHitlers eingedeutschtwerden.Diese Germanisie- kurzenPhase,inder dieWehrmacht eineMilitärverwaltung rungspolitik wurde vorallemmit Gewalt umgesetzt:Über einrichtete, wurde der westliche Teil Polens am 26.Oktober 800.000 Menschen –daruntermindestens583.800 Juden 1939 als„eingegliederteOstgebiete“ durch dasReich an- und 250.000 Polen–verloren ihr Leben,8 mehr als780.000 nektiert.3 Die Gerichtsbarkeitwurde weiterausgebautund Polenwurdenaus ihren Wohnungen vertrieben,weitere in die Reichsjustizverwaltungintegriert. 1942 bestandenin 730.000 Menschen alsZwangsarbeiter verschleppt.9 Die den„eingegliederten Ostgebieten“ 150 Amts-, 17 Land-4 polnischeBevölkerung unterlag zahlreichen Diskriminie- und 13 Sondergerichte, diezuden vier Oberlandesgerichts- rungen,die alle Lebensbereicheerfassten.Juden wurden seit

2Sondergerichte bestandenim„DrittenReich“seit 1933. Ursprünglich fürpolitische Delikte zuständig,wurdenihre KompetenzenimZwei- ten Weltkriegauch auf die nichtpolitische Kriminalität ausgedehnt. Sie urteilten nacheinem vereinfachten Verfahren, dieRechteder Ange- klagten waren erheblich eingeschränkt.Urteile von Sondergerichten waren sofort rechtskräftig, reguläre Rechtsmittel waren nicht zugelas- sen. Zu den Sondergerichten gibteseine Fülle einschlägiger Studien, siehe etwa:Strafjustiz im totalenKrieg. Ausden Akten des Sonderge- richts Bremen 1940 bis1945, bearb.v.Hans Wrobel, hg. v. Senator fürJustiz,Bremen 1991; Hans-Ulrich Ludewig, Dietrich Kuessner: „Es sei also jeder gewarnt“. Das Sondergericht Braunschweig 1933–1945 (= Quellen undForschungen zur BraunschweigischenLandesge- schichte, Bd. 36), Braunschweig 2000; JustizimDritten Reich.NS-Sondergerichtsverfahren in Rheinland-Pfalz. EineDokumentation (= Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz,Bd. 1), Frankfurt am Main 1994. 3Zuden „eingegliederten Ostgebieten“ gehörten dieneu errichteten Reichsgaue Danzig-Westpreußen undWartheland, das der preußischen ProvinzSchlesien (am 1. April 1941 in Ober-und Niederschlesien geteilt) einverleibte Ostoberschlesien sowie der Ostpreußen zugeschlage- ne, neuerrichtete RegierungsbezirkZichenau und die gleichfalls Ostpreußen eingegliedertenKreise Soldau undSudauen. 4Handbuch der Justizverwaltung. Bearbeitet im Büro des Reichsjustizministeriums, Berlin1942, S. 74–78, 146–148, 150–152, 167, 171, 173, 218–224. 5Besondere Vollzugsanstalten in den eingegliedertenOstgebieten, in:Blätterfür Gefängniskunde 70 (1939/40) H. 5/6, S. 302. 6Aufbau des Gerichtswesens im Warthegau, [ca. 1940], in:BArchFilm 72715; Jolanta Adamska: Organizacja wie˛zien iaresztówsa˛ dowych na ziemiachpolskichwchodza˛cych wskład IIIRzeszy wlatach 1939-1945 [Die Organisation der Haftstätten undGerichtsgefängnisse in den insDritte Reich eingegliederten polnischen Gebieten 1939-1945], in:Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich wPol- sce29(1979), S. 98–136, hier S. 106. 7Umfassend zur Organisation der Justiz im Generalgouvernement Andrzej Wrzyszcz: Okupacyjnesa˛ downictwo niemieckie wGeneralnym Gubernatorstwie 1939-1945. Organizacja ifunkcjonowanie [Die deutsche Besatzungsgerichtsbarkeit im Generalgouvernement. Organisati- on und Funktion], Lublin 2008. 8Mateusz Gniazdowski:Zuden Menschenverlusten, diePolen während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschenzugefügt wurden. Eine Geschichte von Forschungen und Schätzungen, in: Historie.Jahrbuch des Zentrumsfür Historische Forschung Berlin der Polnischen Aka- demie der Wissenschaften 1(2007/2008), S. 65–92, hier S. 86, 89; Czesław Łuczak:Szanse itrudnosci bilansu demograficznego Polskiwla- tach 1939–1945 [Chancen undSchwierigkeiten der demografischen Bilanz Polensinden Jahren 1939-1945], in:Dziejenajnowsze 26 (1994) H. 2, S. 9–14, hier S. 13; Ingo Loose: Wartheland, in:Das „Großdeutsche Reich“und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“Gebieten (= Wissenschaftliche Reihedes Fritz Bauer Instituts, Bd. 17), hg. v. Wolf Gruneru.Jörg Osterloh, Frankfurt am Main /New York 2010, S. 229–258, hier: S. 258; Andreas Schulz: Regierungsbezirk Zichenau,in: Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“Gebieten (= Wissenschaftliche Reihedes Fritz Bauer Instituts, Bd. 17), hg. v. Wolf Gruneru.Jörg Osterloh, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 261280, hier: S. 279–280; Sybille Steinbacher: „Musterstadt“ Ausch- witz, in:Das „Großdeutsche Reich“und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“Gebieten (= Wissenschaftli- che Reihedes Fritz Bauer Instituts, Bd. 17), hg. v. Wolf Gruneru.Jörg Osterloh, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 283–309, hier S. 328; Grzegorz Berendt: ydzi na terenie WolnegoMiasta Gdanska wlatach 1920-1945. (Działalnosckulturalna, polityczna isocjalna) [Die Juden in der Freien StadtŻDanzig 1920-1945. (Kulturelles,politisches und sozialesLeben)] (= GdanskieTowarzystwo Naukowe, WydziałI Nauk Społecznych iHumanistycznych, Bd. 102), Gdansk 1997,S.287–288. 9Zuden Bevölkerungsverschiebungen in Polen sieheZwangsumsiedlung,Flucht und Vertreibung 1939–1959. Atlas zur Geschichte Ostmit- teleuropas, Lizenzausgabe, Bonn2009.

Einsichten und Perspektiven 4|14 267 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

Bezirke der Sondergerichte in den eingegliederten Ostgebieten nach dem Stand vom 25. Juli 1942 Karte: eigene Darstellung nach: Diemut Majer: „Fremdvölkische" im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 28), Boppard am Rhein 1981, nach S. 1034; Angaben nach Holger Schlüter: „…für die Menschlichkeit im Strafmaß bekannt…“. Das Sondergericht Litzmannstadt und sein Vorsitzender Richter (= Juristi- sche Zeitgeschichte NRW, Bd. 14), o.O. [2007], S. 82–86, und Allgemeinverfügung des Reichsministers der Justiz 11. März 1940, in: Deutsche Justiz, S. 323 – 324f.

268 Einsichten und Perspektiven 4 | 14 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

1940 in Gettos und Zwangsarbeitslager deportiert,ehe sie re Sonderstraftatbestände,bei denenin„minderschweren ab demHerbst 1942 systematisch ermordet wurden.10 Po- Fällen“ anstelle derTodes- auch Gefängnis-oderZucht- lenund Judenwurdenenteignet, ihr Besitz sollte an„Volks- hausstrafen verhängt werden konnten, betrafenunterande- deutsche“ vergeben werden,11 dieaus den osteuropäischen rem Verstöße gegen dasVerbot, Waffen aller Artzubesit- Staatenindie „eingegliederten Ostgebiete“ umgesiedelt zen,und Aufruf zum„Ungehorsam“ gegendie Besatzer. wurden. Bis 1941 kamen auf diese Weise etwa eine halbe Die Auslegung,was als„Gewalttat“, „Waffe“oderAufruf Million Menschen mit deutschenWurzeln ins annektierte zum„Ungehorsam“ zu verstehen war, bliebgroßteils den Westpolen; bis Kriegsendeverdoppeltesich ihreZahl. Doch Gerichtenüberlassen.Der Handlungsspielraumder Richter nur einkleinerTeil wurde angesiedelt. Diemeisten lebtenin wardamit sehrweit.Die Verordnung hob denVerfol- „Umsiedlerlagern“, bissie 1944 vor der RotenArmee flie- gungszwangauf; die Staatsanwaltschaften mussten Ermitt- hen mussten.12 lungsverfahren nur nocheinleiten, wenn espolitisch op- Die deutsche Justiz war Teil der „Germanisie- portun erschien.15 rung“. Die Gerichte urteilten ausschließlich nach demdeut- Im Dezember1941 wurde die Einführungsverord- schen Strafrecht, das bereits am 5. September 1939 im be- nung durch die Polenstrafrechtsverordnung ersetzt,die den setzten Poleneingeführt wordenwar unddas polnische Höhepunkt des rassistischenSonderrechts markierte. Die Rechtersetzte.13 Im Zivilrechtwar dieLage komplizierter, Verordnung bestätigte die „besonderen Strafvorschriften“, dochauchhiergalt prinzipiell das deutscheRecht,das aber ergänzte siejedochumzentraleBestimmungen und ermög- erst im Herbst 1941 formal in Kraftgesetzt wurde.Straf- lichte die Verhängung derTodesstrafefür jedesDelikt, und Zivilrecht wurdennur bei Deutschendirekt angewen- „wenndie Tatvon besonders niederer Gesinnung zeugt det –für Polen galt beidesnur „sinngemäß“,was jederzeit oderbesonders schwerist.“ DerHandlungsspielraumder Abweichungen vom geschriebenen Gesetzerlaubte.Diese Richter wurde damit nocheinmalerheblicherweitert,daes „sinngemäße Anwendung“war Teil des Sonderrechtsre- ihnenüberlassen bliebzuentscheiden, wann eine Tatauf ei- gimes, dem Polenund Juden in den „eingegliedertenOst- ne besonders boshafte Einstellung desTäters hindeutete. gebieten“ unterlagen.Basis des Sonderrechts war dasPrin- Diesgilt auch fürdie beidenwesentlichenBestimmungen zipder „rassischen Ungleichheit“, das den Gleichheits- derPolenstrafrechtsverordnung:IneinerGeneralklausel grundsatzseit1933 ersetzte. Juden spielten trotz dergroßen wurde eine allgemeine Gehorsamspflicht gegenüberDeut- jüdischen Minderheit–1939 lebten etwa597.000 Judenin schen sowie die Verpflichtung normiert,„alles zu unterlas- den„eingegliederten Ostgebieten“ –vor Gericht kaum eine sen, was […] dem Ansehen des deutschen Volkes abträglich Rolle,weildie Polizei Verstöße von Juden in derRegel ei- ist“.16 Für eine Verletzung derGehorsamspflicht selbstwar genmächtig sanktionierte. keine Sanktion vorgesehen.Sie bildete aber gleichwohl die Im Sommer1940 ergingen mitder „Verordnung Grundlage desPolenstrafrechts.17 EinerzweitenGeneral- überdie Einführungdes deutschen Strafrechts“14 „beson- klausel,die denzentralen Inhalt derersten,nämlich das dere Strafvorschriften“für die polnische und jüdische Be- „Ansehen oderdas Wohl desDeutschen Reiches oderdes völkerung, diefür „Gewalttaten“ gegenDeutscheund deutschen Volkes“, wiederholte,und für dessen „Schädi- Brandstiftung ausschließlich dieTodesstrafe vorsah.Weite- gung“als Regelstrafedie Todesstrafevorsah,kam erhebli-

10 Zur Ermordung der Juden in den eingegliederten Ostgebieten sindinden letzten Jahren zahlreicheStudien erschienen. Siehe v.a. Michael Alberti: DieVerfolgung undVernichtungder Juden im Reichsgau Wartheland1939–1945 (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen undStudien, Bd. 17), Wiesbaden 2006, Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen InstitutsWarschau,Bd. 21), hg. v. Jacek Andrzej Młynarczyk u. JochenBöhler,Osnabrück 2010, unddie ent- sprechendenBeiträge in Das „Großdeutsche Reich“und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“Gebieten (= Wissenschaftliche Reihedes Fritz Bauer Instituts, Bd. 17), hg. v. Wolf Gruneru.Jörg Osterloh, Frankfurt am Main/New York 2010. 11 Götz Aly: „Endlösung“. Völkerverschiebungund der Mordanden europäischen Juden,Frankfurt am Main 1998. 12 Isabel Heinemann: „Volksdeutsche" Umsiedler in Deutschlandund in den von Deutschland besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg, in: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom17. Jahrhundert biszur Gegenwart, hg. v. Klaus J. Bade, PieterC.Emma, LeoLucassen u. Jochen Oltmer, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007,S.1081–1087. 13 Verordnung des Oberbefehlshabers des Heeres über Einführung des deutschen Strafrechts. 5. September 1939, in:Hitlerowskie „prawo“ okupacyjne wPolsce. Wybór dokumentów,czçscI:Zimie „wcielone“[NS-BesatzungsrechtinPolen. Dokumentensammlung, Teil I: „Ein- gegliederte“ Gebiete] (= Documenta occupationis,Bd. V), hg. v. Karol MarianPospieszalski, Poznan1952, S. 44. 14 DieVerordnung war notwendig geworden,weil nach der Aufhebung der Militärverwaltung dieGeltungdes Strafrechtsangreifbargewor- den war. 15 Verordnung über dieEinführung des deutschenStrafrechts in den eingegliedertenOstgebieten 6. Juni 1940, in:RGBl. I, S. 844–846; Ger- hardWerle: Justiz-Strafrecht undpolizeiliche VerbrechensbekämpfungimDritten Reich,Berlin/New York 1989, S. 368–369. 16 Art.I,Abs. 1Verordnung über dieStrafrechtspflegegegen Polen undJuden in den eingegliedertenOstgebieten, 4. Dezember 1941, in: RGBl.I,S.759–761. 17 Roland Freisler: Das deutschePolenstrafrecht. II,in: Deutsche Justiz 104(1942), S. 25–33, hier: S. 27 f.

Einsichten und Perspektiven 4|14 269 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

Gebäude des Sa˛dOkre˛gowy (Bezirksgericht) in Bydgoszcz (Bromberg),von 1939–1945 Sitzdes Sondergerichts Foto: Maximilian Becker

270 Einsichten und Perspektiven 4|14 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens cheRelevanzals strafverschärfende Bestimmung zu.18 Sie Sondergerichtenverhandelt wurden. Die übrigen Fälle ge- ließ jedesVerhalten eines Polen oder Juden,für daskeine an- langtenmeist vordie Amtsgerichte, da die Zuständigkeit der dere Norm Sanktionen vorsah,strafbar werden.19 Zudem Strafsenate derOberlandesgerichte auf wenigeDelikte be- konntendie Gerichte jederzeit von der Strafprozessord- schränkt warund die Strafkammern derLandgerichteinden nungabweichenund das Verfahren „nach pflichtgemäßem „eingegliederten Ostgebieten“ praktisch bedeutungslos wa- Ermessen“selbstbestimmen, waren also quasi völlig frei ren.27 Gleichwohl sind die Amtsgerichte bislang kaum un- vonjeder verfahrensrechtlichen Bindung, wenndieszuei- tersuchtworden; diesgilt sowohl für das„Altreich“ als auch nerschnellenund harten Verurteilungdes oder derAnge- für die „eingegliederten Ostgebiete“. Die Amtsgerichte ver- klagtennotwendig war.20 folgtenüberwiegendKriminaldelikte, warenaberauchbei Die Sanktionspraxis der Gerichte in deneingeglie- sog. Kriegswirtschaftsdeliktenund minderschweren politi- derten Ostgebieten war durch eineVielzahl von Todesur- schen Sachen wie manchenÄußerungsdeliktenzuständig. teilen und einem deutlichen Übergewicht langjähriger Siekonntenmaximal fünf JahreGefängnis oderzweiJahre Haftstrafen gekennzeichnet.21 Vonder drakonischen Straf- Zuchthaus und vorallemkeine Todesurteileverhängen. praxisbesonders betroffen waren polnischeAngeklagte,die Schwerpunkte derTätigkeit derSondergerichte häufiger zumTode und zu längeren Haftstrafenverurteilt waren vor allemallgemeine Kriminaldelikte,Äußerungsde- wurdenals Deutsche.22 Insgesamtlassen sich mehrals 3.700 likte und Kriegswirtschaftsverbrechen.Zuletzteren zählte Todesurteile nachweisen, die von Gerichtender „eingeglie- insbesondere dasals „Schwarzschlachten“kriminalisierte derten Ostgebiete“ zwischen 1939 und1945 verhängt wur- und aufgrund derLebensmittelrationierung verbotene den.23 Da diese Zahlen unvollständig sind, kann realisti- Schlachten vonVieh. DabeibestandenUnterschiedeinder scherweise von etwa5.000 Todesurteilen ausgegangenwer- Bestrafung polnischer und deutscher Angeklagter; aller- den,von denenzwischen 90 und 99 Prozent vollstreckt dingswaren diese trotz des Sonderrechts und einerausge- wurden.24 prägt antipolnischen Haltung vieler Richter indiesenFällen Die Gerichte verhängtenjedoch nichtnur über- meist nicht sehrgravierend. Dochgab es auch Fallgruppen, durchschnittlich viele Todesurteile; sie sprachenauchüber- in denendie Diskriminierung derPolenüberdeutlichwur- proportionalviele Angeklagte frei. Der weitaus größte Teil de.Diesgilt besonders für Körperverletzung: Währenddas derAngeklagten wurde jedochzuHaftstrafen verurteilt.25 SondergerichtLeslau (Włocławek) einenPolenwegen einer Das eigentliche Rückgrat der StrafjustizimNationalsozia- „Gewalttat“ gegen einenDeutschen zumTode verurteilte, lismus stelltendie Amtsgerichte dar,die maximalzweiJah- weil er einenBeamten desArbeitsamtesmit seinem Gum- re Zuchthaus oderfünf JahreGefängnisverhängen konn- mistiefel getretenhatte,28 erhielt eindeutscher Gutsverwal- ten.26 Im Warthegau erhoben dieStaatsanwaltschaften1941 ter vomAmtsgerichtimoberschlesischen Krenau (Chrza- insgesamt40.500 Anklagen, von denen lediglich2.000 von nów) 1943 lediglich eine Geldstrafe von 200RM, weilerei-

18 Art.I,Abs. 3Verordnung über dieStrafrechtspflegegegen Polen undJuden in den eingegliedertenOstgebieten, 4. Dezember 1941, in: RGBl.I,S.759-761. 19 Gerd Weckbecker: Zwischen Freispruch undTodesstrafe.Die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Sondergerichte Frankfurt/Main und Bromberg, Baden-Baden 1998,S.432. 20 Art.XII der Verordnung über dieStrafrechtspflegegegen Polen undJuden in den eingegliedertenOstgebieten, 4. Dezember 1941, in: RGBl.I,S.759-761. 21 Jan Waszczynski:Zdziałalnosci hitlerowskiego Sa˛duspecjalnego wŁodzi (1939–1945) [Aus der Tätigkeit des nationalsozialistischen Son- dergerichts in Litzmannstadt (1939-1945)], in: Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich wPolsce24(1972), S. 14–104. 22 So erhielten Polen in Danzig-Westpreußen bezogen auf ihren Anteilanden Verurteilten fast zwölf Mal häufiger als Deutschedie Todesstra- fe, vgl. Edmund Zarzycki: Eksterminacyjna idyskryminacyjna działalnoschitlerowskichsa˛ dów okre˛guGdansk-Prusy Zachodnie wlatach 1939-1945 [Die Ausrottungs- undDiskriminierungstätigkeit der nationalsozialistischen Gerichte im ReichsgauDanzig-Westpreußen 1939- 1945], Bydgoszcz 1981, S. 21, 29, 51, 74, 126. 23 Becker (wie Anm. 1), S. 181 f. 24 1943 wurden im Warthegau 589 Menschen zum Tode verurteilt und nur acht Gnadenerweiseerteilt,vgl. der Tagder Freiheit1943. Der gro- ße Rechenschaftsberichtvon Gauleiter und ReichsstatthalterArthur Greiser,Posen1943, S. 29. 1944 wurden von 291 zum Tode Verurteil- ten sechs begnadigt, vgl. Der Tagder Freiheit1944. Der großeRechenschaftsberichtvon Gauleiter und ReichsstatthalterArthur Greiser, Posen 1944, S. 34. Vonden 338 Todesurteilen, die das Sondergericht Brombergaussprach, wurden33durcheine Begnadigung abgewandelt, vgl. Weckbecker (wie Anm. 19), S. 750. 25 Waszczynski (wie Anm. 23), S. 74. 26 Lothar Gruchmann:Justiz im DrittenReich 1933–1940. Anpassung undUnterwerfung in der Ära Gürtner(=Quellenund Darstellungen zur Zeitgeschichte,Bd. 28), ³München 2001,S.1134. 27 Waszczynski (wie Anm. 21), S. 49. 28 Zarzycki(wie Anm. 22), S. 86.

Einsichten und Perspektiven 4|14 271 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

Amtseinführungdes Oberlandesgerichtspräsidenten in Posen HellmutFroböß (1884–1956) (rechts im Bild, mitzum Schwur erhobener Hand) durchReichsjustizminister FranzGürtneram2.April 1940 im Thronsaal des Posener Schlosses Quelle: Ostdeutscher Beobachter vom 3. April 1940, S. 3 ne polnischeAngestellte als Hurebeschimpft und mit einem Alleine durch dasSondergerichtBrombergergingen bis En- Ochsenziemer heftighatteverprügeln lassen.29 de 1939 innerhalbvon nur dreieinhalb Monaten100 Todes- Auchfür verbotenen Waffenbesitz –ein Delikt, das urteile;bis 1945 urteilte es in diesen Fällen gegen545 Ange- nur von Polenbegangen werden konnte –verhängten die klagte, vondenen 247 zumTode und 206 zu Haftstrafen ver- Sondergerichteoft die Todesstrafe.30 Quantitativ machte urteilt sowie 84 freigesprochen wurden.31 Die Bromberger Waffenbesitz jedochnur einenkleinenTeil derRechtspre- Urteilspraxis war hier besondersexzessiv, nirgends sonst chungaus. Nochextremer war dieRechtsprechung man- wurde diese ZahlanTodesurteilenerreicht, dochauchdas cher Gerichtebei der Verfolgung der Übergriffevon Polen Posener GerichtverhängteharteSanktionen. So verurteilte aufVolksdeutsche oder deren Eigentum während des es am 25. Oktober1939 denerst 18-jährigen Bruno F. alsju- deutsch-polnischenKrieges im September 1939 aus, den gendlichenSchwerverbrecher zumTode,weilerzusammen sog. „Septemberverbrechen“. 1939/40 war diesdie wich- mitanderen Jugendlichenvor denGehöftenmehrerer tigsteAufgabe der Sondergerichte in Brombergund Posen. „volksdeutscher“ Bauern randaliert,eine Fensterscheibe

29 Korrespondenz zwischen dem Landrat in Krenau, dem OberstaatsanwaltinBeuthen-Kattowitz, dem Regierungspräsidenten in Kattowitz undder Zweigstelle Kattowitz der „Reichsland“ 13. Januar–7. Dezember 1943, in:APKat 119/2884. 30 Weckbecker (wie Anm. 19), S. 551; Holger Schlüter: „…fürdie Menschlichkeit im Strafmaßbekannt…“. Das Sondergericht Litzmannstadt undsein Vorsitzender Richter (= JuristischeZeitgeschichteNRW,Bd. 14), o.O.[2007], S. 98. 31 EdmundZarzycki: Działalnosc hitlerowskiego sa˛duspecjalnego wBydgoszczy wlatach 1939–1945 [Die Tätigkeitdes nationalsozialisti- schen SondergerichtsinBromberg 1939–1945], ²Bydgoszcz 2000, S. 55. Nach Weckbecker (wie Anm. 19), S. 451, wurden von 557 Ange- klagten 225 zum Tode verurteilt. 95 Personenwurdenfreigesprochen, vgl. ebd., S. 517f, 532f.

272 Einsichten und Perspektiven 4|14 Strafjustiz und die nationalsozialistische Besatzung Polens

Teil derVerurteiltenhattelediglichRadio gehörtund im Freundeskreisüberdie Sendung diskutiert.Fälle, beidenen „besondere militärische Belange“ berührtwaren,34 verhan- delte dasReichskriegsgericht. Untergrundtätigkeit oder Hilfe für polnischeWiderstandsorganisationenwurden durch denVolksgerichtshof abgeurteilt.35 Insgesamt istdie Relevanzder Strafjustiz für die Besatzungsherrschaftganzerheblich, wie schon alleine die Fallzahlenbelegen.Zielwar es, die Germanisierungspolitik strafgerichtlich abzusichern, durchdie Verfolgung von Gegnern,vor allemaberdurch die Sanktionierung von Handlungen,die sich gegen das„Wohl desdeutschen Vol- kes“richteten. Speziellzähltenhierzu die „Septemberver- brechen“und „Gewalttaten“gegen Deutsche, aber letztlich ließsichnahezu jede Handlung hierunterfassen.Verbre- chen vonPolengalten generellals „Unbotmäßigkeit“ ge- genüberder „Autoritätdes Reiches“36 Dochwar die Justiz hierbei nicht alleine:Teile derStrafjustiz überdie polnische Bevölkerung hatte die Gestapo usurpiert, derenStandge- richte nach1942 mehrere tausendTodesurteileverhängten. Für kleinere Vergehen konnte die Gestapoab1942 auch La- gerstrafen zwischen drei und sechsMonatenverhängen,oh- ne die Justiz einzuschalten.37 Gerichtsurteile waren jedoch weit besserals diese Polizeimaßnahmen geeignet, derBe- satzung Legitimität zu verleihen. Durch dieGerichtsver- handlungen konnte demonstriert werden,dass vermeintlich Guillotineinder UntersuchungshaftanstaltPosen,zwischen1940 Recht, Gesetzund Gerechtigkeit herrschten. Die Gerichte und1942 zentrale Hinrichtungsstättedes Warthegaus waren deshalb bis zum Ende derBesatzungein wichtiger Foto: Staatsarchiv Poznan 4807/1290 Teil desHerrschaftsapparates. ❚

eingeschlagenund ein paarFlaschenSaft entwendethaben sollte.32 Extrem war auch dieUrteilspraxis beiWider- standsdelikten, die von den Strafsenaten der Oberlandesge- richte verfolgt wurden.1942 war hier der Höhepunkt er- reicht. Meist handelte es sich bei den Angeklagten um Po- len: Nur relativwenige Deutscheengagierten sich im besetzten PolenimWiderstand. Alleine das Oberlandesge- richtPosenurteilte im August 1942 über 77 Polen, vonde- nen 26 zumTode verurteiltwurden. Die übrigenerhielten Haftstrafen zwischen einem undacht Jahren.33 Dabei han- delte es sich ausschließlich um wenig gravierende Taten. Ein

32 Betrifft: 16 polnischeTodesurteile, in: IfZ MA 1563/3 (NG-211). 33 Fälle in: IPN GK 74/7. 34 Schreiben des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof an den Präsidenten des Reichskriegsgerichts, 13.Juni 1941,in: IPN GK 49/8 35 Becker(wie Anm. 1), S. 190–192. 36 Klinge:Bemerkungen zur Begriffsbildung im Polenstrafrecht,in: Deutsche Justiz 10 (1942), S. 324–326, hier S. 325. 37 Becker(wie Anm. 1), S. 141–164.

Einsichten und Perspektiven 4|14 273 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München VonKunstweltenund perfektenVerbrechen

Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

VonAlexanderWulffius

Okwui Enwezor Foto: Maximilian Geuter

274 Einsichten und Perspektiven 4|14 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

Okwui EnwezorempfängtamBesprechungstisch in seinemBüroimHausder Kunst, vorsicheinenkleinenSteinkrug mit seinemLieblingsgetränk, heißemGinger Ale. Derweltgewandte und weitgereisteAusstellungsmacher arbeitetschließlichseitdrei Jahren in München. Wieerwartet stilvoll gekleidet(die elegante Garderobe gehörtzu seinengern zitierten Markenzeichen,und da wollenwir keine Ausnahme machen), istEnwezorein aufmerksamer,konzentrierter Gesprächspartner. Er isteloquent, prä- zise, bestimmt, manspürt, wie er seine GedankenbeimSprechen entwickelt und nach denBildern sucht, die seine Sichtweiseambesten erklären.Und Enwezors Blickist weit, er räumt historischen,politischen und gesellschaftlichenFragen in seinerArbeit alsKurator viel Platz ein. Er hatden Fokus derGegenwartskunstwegbewegt vonden traditionellenSchwerpunktenEuropa und Amerika,indemerKunstaus Afrika,Asien und Arabienzeigt und sich intensiv mit Themen wie Postkolonialismus und Globali- sierung auseinandersetzt.

Einerbreiten Öffentlichkeit in Deutschlandwurde Okwui afrikanischerKunstund Fotografie.ImOktober2014 wur- Enwezor 2002 als künstlerischer Leiter der Documenta 11 de Enwezorfür seine kuratorischeArbeitmit dem Ver- bekannt. In Kassel verwirklichte er seine Vorstellungen ei- dienstordender Bundesrepublik Deutschland ausgezeich- nerKunst im globalen Zeitalterineinem großenMaßstab. net. KommendesJahr wird er dieBiennale von Venedig leiten, Seit2011 istOkwui EnwezorDirektor desHaus die andere der beiden weltweit bedeutendsten Ausstellun- derKunstinMünchen. DerMuseumsbau an derPrinzre- gen. Unterden vielen Biennalen, dieesinzwischengibt, ist gentenstraße 1, errichtet als riesiger Showroom für das, was Venedig immer noch die Biennale,und es wirdspannend Hitler unter „deutscher Kunst“ verstand, hatsichvon der seinzusehen,mit welchen Ideen Okwui Enwezor dieserso einstungeliebtenHinterlassenschaftder Nazizeitzueinem altenwie immerwiederneuen Großschau internationaler der wichtigsten und dynamischsten Orte für zeitgenössi- Kunstseinen Stempel aufdrückt. sche Kunst der Welt entwickelt –sicherdie glücklichste Me- Auf demGebiet der zeitgenössischen Kunstzählt tamorphose, die sich für ein Gebäude denkenlässt.Das Okwui Enwezor zu den profiliertesten undangesehensten Hausder Kunstbietet, wie auch Okwui Enwezorsagt,Räu- Akteuren überhaupt. Geboren undaufgewachsenist er in me, die sich dank ihrer Proportionenund derenormenDe- Nigeria. Mit18Jahren zog Enwezor nach New York,stu- ckenhöhe geradezu perfektfür Ausstellungen eignen.Und dierte dort Politikwissenschaft und wurde ein bekanntes in diesen Räumenläuft einvielseitiges, interdisziplinäres Gesicht in der Kunst- wie Clubszene von Manhattan. 1993 Programm. Unter der Leitung Okwui Enwezors bekam gründete er die Zeitschrift Nka: JournalofContemporary afrikanischeKunstein größeres Gewicht, danebensind na- African Art,die er noch heute herausgibt. Afrikanischer türlichauchEinzelausstellungen mit den heavyweight Kunst widmete sichauch 1996 seine erste Ausstellung am champions derzeitgenössischen Kunstzusehen,2014 etwa GuggenheimMuseum, In/Sight: AfricanPhotographers MatthewBarney und GeorgBaselitz.München-spezifisch 1940-Present.Seit den neunziger Jahren hat Okwui Enwe- war die Ausstellung ECM–eine kulturelle Archäologie zor auf der ganzen Welt gearbeitet, unter anderem alsLei- überdas legendäre MünchnerPlattenlabel. Mitden Kapseln terder Biennalen von Johannesburg, Sevilla und Gwangju hatOkwui Enwezorein neuesAusstellungsformatfür jün- (Südkorea) unddes Projekts Meeting Points6in sechsara- gere Künstlerentwickelt, und die Archiv Galerie zeigt die bischenStädten. Danebenwar er Dozent an Universitäten wechselhafte Geschichte desHauses anhand historischer in denUSA undist als Autorund Publizisttätig. In Mün- Exponate.Das Hausder Kunst, oft als–behäbiger –Super- chen hat Okwui Enwezor 2001 eineals wegweisend gelten- tankerander Südspitzedes Englischen Gartensdargestellt, de Ausstellung in der Villa Stuckorganisiert, TheShort istinseinemInneren eben ziemlichflexibel, und mit denDi- Century. Unabhängigkeits-und Befreiungsbewegungen in rektorenverändert sich auch dasGebäude.Okwui Enwe- Afrika 1945-1994.Einem weiterenbayerischenMuseumist zorhat beiseinemAmtsantritt ein neuesvisuellesErschei- er engverbunden: Im beschaulichen Neu-Ulm stehtmit der nungsbild eingeführtund denschweren Vorhangaus der WaltherCollection eine herausragend bestückte Sammlung Mittelhalle entfernt– die ehemaligeEhrenhalle istjetzt so

Einsichten und Perspektiven 4|14 275 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München offenund monumentalwie bei ihrerEröffnung.Seit2012 Ein Jahrzehntspäterist mein Statement nicht zwangsläufig wirdhiereine jährlichwechselndeAuftragsarbeitgezeigt. falsch, aber esverlangt nach einertieferen Reflexion darü- Wasman vonall dem haltensoll? Der Slogandes Hausder ber, ob es immernochmöglichist,soüberdieseFragestel- Kunstlautet Stretch Your View. lungen nachzudenken. Und ichglaube,dass die Verschie- Im Gespräch mit Alexander Wulffius spricht bungen innerhalbder zeitgenössischen Kunstmittlerweile Okwui Enwezor dannauch sehr offen überseine Sichtauf in einemtotalenGegensatzzudem stehen,was wirdamals die gegenwärtigen Entwicklungen der Welt und der Kunst, eigentlichsagen wollten. Oder wasich mitmeinemState- über seine Motivation, ein Museum wie das Hausder Kunst ment sagen wollte.Vor zwei Tagen gab es inNew York ei- zu leiten, und überdie Erkenntnisse,die einemglobalplay- ne Auktion beiChristie’s,und diese Auktion endete beiei- er der Kunstweltenunterwegsbegegnen.1 nem Erlös von 900MillionenDollar. So etwas hatesnoch nie gegeben.Die kritischen Fragen,die wir an die Kunst PermanentTransition stellenwollen, sind einvollkommenerGegensatzzudieser Realitätvon Kapitalund Warenwert. Wulffius: Herr Enwezor,zur Vorbereitung aufunser Ge- Wulffius: WiedenkenSie also heute darüber, angesichtsder spräch habeich in meinem Kurzführer der Documenta11 Unordnung in derWelt? gelesen. In Ihrem Vorwort schreiben Sie, dieAusstellung sei Enwezor: Wirmüssen bedenken, dass im Jahr 2002 der11. konfrontiert mit einer„unruhigen Zeit fortwährender kul- Septemberschon hinteruns lag. Wirhatten also einenMo- tureller,gesellschaftlicher undpolitischer Konflikte,Verän- ment des Innehaltens gehabt. Und wenn Sie den Katalog der derungen,Übergänge, Umbrüche undglobalerKonsolidie- Documenta aufschlagen, nicht den Kurzführer, sehen Sie rungen“, unddie AussichtenzeitgenössischerKunstseien aufden ersten zwanzigoderdreißig Seiten nur dokumenta- entsprechend„schwierigund heikel.“ Das war2002, und rischeBilder, sozusagen Berichte aus einerWeltimÜber- mandenkt, wie stabil die Welt des Jahres 2002wirkt –ver- gang, gesammeltinvielenTeilender Welt. Die Ausstellung glichenmit heute. war eingewickelt in die globalen Veränderungen und Über- Enwezor: Ich findeessehr interessant, darübernachzuden- gänge. Man kann so eine Ausstellung nicht vonden Ereig- ken, welchenZustand der Welt die Documenta11reflektiert nissen trennen, die sieumgeben. Eine Ausstellung istimmer hat, und womit sie auchselbst konfrontiert war, nämlich mit der Welt verstrickt, da gibt es diese produktiveReibung. demEnde des schrecklichen 20.Jahrhundertsund dem Und ichdenke,esbestehtheute eine Notwendigkeit, dass scheinbar hoffnungsvollen Beginndes neuen Jahrtausends. Kunst–oderbesser gesagt dasAusstellungsmachen,weil DemVersprechen einer weltweiten Konsolidierung,einer vorallemdarinmeine Expertiseliegt –zum Schauplatz die- neuenKultur der Netzwerke,die zusammenarbeiten, und ser Fragestellungen wird. Viel diagnostischer,vielintensiver einerAusweitung von Kunst und Kultur übervormals har- und viel reflektierender. te Grenzen hinaus,jenseits ideologischer Fronten. Es gab WasKunstund Politik betrifft –ich mag diese bi- die Vorstellung,dass Kunst unddie Künstleretwas Wichti- näre Sichtweisenicht, diese binäre Dimension. Damit un- ges undEntscheidendes dazubeitragen können, die globa- terstellt man, dass die eine Sachesichvon deranderen un- le Landschaftneu zu erschaffen undzuformen. DerBeginn terscheidet. Daserscheint zwar aufden ersten Blick richtig, derDocumenta11 war wirklichgeprägt vondiesem Den- aber ichmöchte lieberderen enge Verflochtenheit mitei- ken, von der Möglichkeit einerkommendenglobalen Polis. nandersehen.Ich habe ja nichts gegen diese Auktion in Jedenfalls habenviele Menschen so darüber gedacht. New York mit den 900MillionenDollar. An zweiAbenden Waseine Ausstellung wie die Documenta so au- wurdensogar mehrals 1,5 Milliarden erzielt, fast zwei Mil- ßergewöhnlich macht, ist, dasssie erlaubt, jede Art von Am- liarden! bition in sie hineinzupacken, die man möchte. Wirhatten Wulffius: Waswurde beidieser Auktion denn verkauft? die Ambition zur Spezifizität, zur Vollständigkeit, zur Syn- Enwezor: Gemälde, Skulpturen, was auch immer. Dinge,die these. Das alleskann man erreichen. Ob man damit wirk- den Geschmacksmacherneine gewisse Art vonKomfort licherfolgreich ist,steht auf einemanderen Blatt, abersoein verschaffen.Auchbestimmten Zuhältertypen(lacht). Das Projekt verlangt es, ambitioniert zu sein.Daraufmussten ist eine Welt, die ichals die der„Ich-auchs“ bezeichnen wir in gewisser Weise antworten. Um dieseAusstellung zu möchte.Alle reichen Menschen wollendieselben Waren machen,haben wiruns für eineneher diagnostischen als ei- kaufen. Dasist eine Bestätigung und zugleich Bekräftigung nenprognostizierenden Ansatz entschieden,dabei aber dereigenen Ansichten. schonineinemantizipierenden Sinn. Mein Text hatsoein Ich bin mir nicht sicher,obich IhnendamitEin- Antizipieren vorausgesetzt. sichtenund Perspektivenbiete,aberich finde es interessant,

1Das Interview wurde am 14. November 2014 im Haus der Kunst auf Englisch geführt.Übersetzung ins Deutsche durchden Autor.

276 Einsichten und Perspektiven 4|14 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

Georg Baselitz, Okwui Enwezor undUlrichWilmes, HauptkuratoramHaus der Kunst (v.r.n.l.), beimAufbau der Baselitz-Ausstellung „Damals, dazwischenund heute“, September 2014 Foto:Maximilian Geuter

dasGespräch mitsolchenFragestellungen zu beginnen. Enwezor: In einerPeriode despermanenten Übergangs. Das Weil ichmeineigenes Statement überdenkenmuss, und weil ist der Begriff, den ich verwende:permanenter Übergang. die zeitgenössische Kunst in so einem Gegensatzsteht zur Ich glaube,das erfasst am besten die Mechanismen derVer- Realität, die sie umgibt. Die Ausstellungen auch. Ich hoffe, änderungen,die wir erleben.Nehmen wir zumBeispiel das dass ichhierkeinen zu eigenwilligen Standpunkt habe,aber 19. Jahrhundert.Die Industrielle Revolution hatdie Bezie- vieleAusstellungenentfernen sichimmer weitervon den hungenzwischen Technologie und Gesellschaft,zwischen Turbulenzen,die derzeit die Welt erschüttern. Trotzdem Produktion auf der einenund Handwerk aufder anderen glaubeich,dass dieKunst eine Menge beizutragenhat.Zeit- Seite, zwischen der Depersonalisierung desArbeiters und genössischeKunsthat dieKraft dazu.Die konzeptuelle,äs- derSubjektivierung desHandwerkers fundamentalverän- thetische,politische, ethische und repräsentativeKlarheit, dert.Dazu eintechnologischer Fortschritt,der uns im All- uns ein Bild zurückzugeben. Ein Bild, das uns dazuzwingt, tageinenKomfortbeschert,den man sich in früheren Pha- die Welt in weniger reduzierten Begriffen zu denken. So wie sen derGeschichte niemals hätte vorstellenkönnen. All dies die reduziertebinäreSicht auf Kunst und Politik. warvon vielen anderen Veränderungen begleitet,auchpo- Wulffius: Macht Kunst Sinn? Schafft sie Sinn? litischen Veränderungen:dem Kampf für die Rechteder Ar- Enwezor: Nun,das hängt wohl davonab, was Sie mit Sinn beiterund für die Gleichberechtigung der Frauen, für die meinen. Macht denn überhaupt irgendetwas Sinn? Dasist Bürgerrechte.Diese Bewegungen zielten alledaraufab, ei- eine philosophische Frage. ne gerechtere Gesellschaftzuschaffen.ZuBeginn waren es Wulffius: Entwederalles ergibt Sinn, oder nichts. immerWunschträume, aber siestehen für die Selbstver- Enwezor: Ja. Macht Kunst also Sinn? Natürlichmachtsie wirklichung vieler unterschiedlicherGesellschaften.Und Sinn.Die Frage ist:Was ist ihrWert? Undich denke,der dann kommendie Brüche: Revolutionen, Kriege, Genozi- Warenwert von Kunst undihr notwendiger,intrinsischer de,Naturkatastrophen, menschliche Katastrophen. So et- kulturellerWert sindnicht dasselbe. Wirkönnennicht sa- waskönnenwir nicht voraussagen. gen,dass einer dieser Werte dem anderen überlegen wäre, Es istein bisschen klischeehaft,bei solchen Fragen aber wir müssen den kulturellen Wert von Kunsterklären aufKarl-Marx-Zitatezurückzukommen, oder? Ich finde es und begründen. Dann können wir nachihremSinn suchen, abersehrinteressant. Ganz zu Beginn vom Achtzehnten und damit nach ihrer Bedeutung in unseren Leben. Brumairedes Louis Bonaparte steht, dassHegel –ich para- Wulffius: Siehaben den Begriffder Turbulenzgenannt. Ist phrasiere jetzt–gesagt hätte,historischeEreignisse kämen Turbulenz eingeeigneterer Ausdruck, unsere Gegenwart zu immer zweimal wieder.Und Marx sagt,Hegel hätte etwas beschreiben, als beispielsweiseGlobalisierung? Befinden vergessen:Sie kommenbeimersten Mal alsTragödie und wir uns eher in einerPeriode der Differenzierung,oder–der beim zweiten Mal alsFarce. Wirsolltenuns fragen,obMarx Krise? damit Rechthatte. Wasgegenwärtig im Nahen Osten pas-

Einsichten und Perspektiven 4|14 277 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

Die Archiv Galerie,ein 2013 eröffneter Ausstellungsraum, zeigt Exponate aus der bewegtenGeschichte des Hauses, das von 1933 bis 1937 als „Haus der Deutschen Kunst“erbautwurde. Der Entwurfstammt vom Architekten Paul Ludwig Troost.Nach 1945 nutztezu- nächst die US Army das Haus, ab 1947 fandenwiederKunstausstellungenstatt, in durchviele Umbautenstarkveränderten Räumen. Chris Dercon,Direktor von 2003 bis 2011,begann miteinem „kritischenRückbau“, der das Gebäude schrittweise wiederinseinen ur- sprünglichen Zustandversetzt. Okwui Enwezor führt diesen Prozessfort, ab 2016 wird das Haus der Kunst zudemunter der Leitung des britischen Architekten David Chipperfield umfassend saniert werden. Foto:WilfriedPetzi

siert,wirdniemand als Farce bezeichnen wollen. Es istein- Enwezor: Zunächst einmaldenke ich, dass derBegriff fach zutiefsttragisch.Sind wir also, in einersichwiederho- „Kunstwelt“ eine Fiktion ist. Wirhaben Kunstwelten. Da- lendenGeschichte, bei der Farce angelangt?Ich bin mir da nebengibt es einKunstsystem, und dasist sehrspezifisch – nicht so sicher.Leben wirdann in einer Periode derKrise? einSystemmit allseinendazugehörenden Industrien, den Auf jedenFall in einer des permanenten Übergangs. Der Ausstellungen,Galerien,Auktionen, Biennalen. niemals zu endenscheint.Wann undanwelchem Punkt er- Wenn Siemichalsonach demKunstsystemfragen, reichen wir denn die stabileGesellschaft, vonder alle Welt dann würde ichsagen,dass sich tatsächlichsehrvielverän- spricht?Gibt es das überhaupt,oder ist es einfachnur eine dert hat. Daskannman messen,das kann manauchsehen. verträumte Idee?Das klingt jetzt vielleicht einbisschen apo- Die Zahlder Ausstellungen,die rund um die Welt touren, kalyptisch,aber ich glaube, dassessich genau so verhält. ist exponentiell gewachsen. Die Auktion in NewYorkist Doch ich habe letztlich auchkeineAntwort. auch für die Expansion desKunstsystems wiederein gutes Beispiel, genausowie die vielen Museen,die derzeit überall Kunstwelten und Kunstsystem auf der Welt gebautwerden,und die Biennalen, die gegrün- detwurden. Schauen Siesichdie vielen kommerziellen Ga- Wulffius: Permanenter Übergang –gab es dengenauso in der lerien an, die eröffnen und wiederschließen. Dasallesist das Welt derKunst? Hatsich die Kunstwelt stark verändert,seit Kunstsystem. DerKonsolidierungskursinden Museen,das Sieindenfrühen 1990ern Ihre Karriere als Kurator began- DenkeninKategorien wie Box-Office und Blockbuster, das nen?War siestärker auf den Westen zentriert alsheute? istdas Kunstsystem. Und dieses System ist auch ineinem

278 Einsichten und Perspektiven 4|14 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

DieMittelhalle ist seit 2012 die „Galerie der Freunde Haus der Kunst“.Imjährli- chen Wechsel wird unter dem Titel „DerÖffentlichkeit“ eine eigens für den Ortent- wickelte Auftragsarbeit ausge- stellt. In der Saison 2014/2015 ist es die Installation„The Present Moment“ von Anri Sala. Foto: Jens Weber,München

Zustand des Übergangs, gleichwohl hat es sehr spezifische, hinein zu kommen, esgibt da eine konstante Migration in stabile Attribute. Der Markt wächst und expandiert, unter beide Richtungen.Das machtdie Dynamik derglobalen anderem weil er nicht zwischen Gut und Schlecht unter- Kunstlandschaft aus:die Beziehungen zwischen Kunstwel- scheidet, zwischen Qualität und Nicht-Qualität. Manwür- tenund Kunstsystem. de Ihnen vielleicht erzählen, dass diese Unterscheidungen gemachtwerden.Der Markt ist aber vor allem an Kapitali- Blindheit und Einsicht sierunginteressiertund daran, Güter zu bewegen. Wulffius: Hat sich dieZahl der Spieler im Kunstsystem auch Wulffius: Spielt es denn innerhalbdes Kunstsystems noch vergrößert? eine Rolle,woman herkommt? Ist derAustausch vonIde- Enwezor: Tatsächlich sindmehr Konsumenten aufverschie- en,von KunstheuteinirgendeinerWeise vongeographi- denenEbeneninden Markt eingestiegen, bis hinauf zur schen odersozialenFaktoren abhängig? höchsten. Ich kannIhnen versichern, dassauf der Auktion Enwezor: Es spielt dochimmereine Rolle,woman her- in NewYork viele derjenigen, die dieseKunstwerkegekauft kommt. Ich glaube nicht, dass wir in einemUtopia leben, in haben,aus Ländernkamen,die vor zwanzig oder dreißig dem das nicht wichtig ist. Worüberwir aber sprechen soll- Jahren nicht am Kunstmarkt beteiligt waren. Daszeigt uns, ten,sind die unterschiedlichenZugangsebenen.Jedünner dass es eine massive Expansionvon Reichtum überall auf die Luft wird, desto wichtigerwirdes, wo du herkommst. der Welt gibt.Wir können uns fragen, wo dieserReichtum Dann bestimmt dein Stammbaumüberden Zugang(lacht). herkommt –erkommt vor allemaus natürlichen, fossilen Werhat dichwem vorgestellt? WelchenStellenwert hatdei- Rohstoffen. In Russland, zum Beispiel, sind dasÖl, Gas, ne Arbeit? Zu Beginn meinerLaufbahn wardie häufigste Bergbau,allesDinge,die dazubeitragen, unsere Umwelt zu Frage, die an mich gerichtetwurde:Ist es nicht einbisschen zerstören.Auchhier gibt es alsoVerbindungen zumKunst- eingeschränkt, sich ausschließlich auf Afrika zukonzen- system.Das System hat sich so ausgeweitet, dass es heute trieren?Dabei istAfrika ein riesiger Kontinent! Ist daseine auch eineArt Wirt fürparasitäre Elementeseinkann–man Einschränkung?Diese Frage wird heute nicht mehr so ge- hängtsichanund sucht, was man braucht. stellt. Es gibt aber immernochunterschiedliche Grade, Zu- Die Kunstwelten habendagegen einen bestimmten gangzufinden. Kontext hinsichtlich der Produktion, der Kreation, derBe- Ich denke,das spielt auch eine Rollebei deneige- deutung.Künstlerbenutzen dieInstrumente derKunst, um nenkuratorischen Zielen,wennman Ausstellungen macht. ihreeigenen Beziehungen zu den Orten zu verhandeln, an Als Kuratoren müssen wir uns eingestehen,dass wirnicht denen sieleben undarbeiten.Manchmal schaffen es Kunst- nur mit Sicherheitenoperieren,sondern mit dem, wasPaul welten, ausihrenUmfassungen heraus und ins Kunstsystem de Man2 Blindheit und Einsicht nennt. Wirsind keine Pro-

2Paul de Man (1919–1983),belgisch-amerikanischer Literaturwissenschaftler undPhilosoph.

Einsichten und Perspektiven 4|14 279 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

Zwischenden Säulen der Nordfassade vom Haus der Kunst hat Ai Weiwei anläss- lich seinerAusstellung 2009 die Installation„Bamboo and Porcelain“eingerichtet. Okwui Enwezorversteht den politischen Aktivismusvon Ai Weiwei –dieserwar 2011 in Pekingfestgenommen und drei Monateinhaftiert worden und darfChina seithernicht mehr verlassen–vor allem als Arbeiteines Bürgers, nicht einesKünstlers. Foto:AlexanderWulffius

pheten. Wirhaben alleeinen großen Vorrat an Unwissen- Enwezor: Ja,genau.Wennwir einmalall die neutralisieren- heit im Gepäck, Unwissenheit gegenüber vielenTeilender denEffekte von Kunst ausblenden, die beruhigendenLü- Welt und denverschiedenen Kunstwelten.Eskommt also gen, die wir uns selbst erzählen, dieses „letztendlich zählt aufdie eigeneHingabe und das Interessean, seine eigene doch nur die Kunst“,danndenke ich, dass die Geopolitik Praxiszuhinterfragen undherauszufordern.Das istes, was derKunstschon Einflussdaraufhat, waswir als wichtig, be- einen voranbringt unddie Grenzendessen, wasman schon deutsam, ausstellungswürdig erachten. Werbekommt eine weiß, überwinden lässt.Dann können wirunseren Gedan- Ausstellung,wer bekommt welchenRaum,wer bekommt kenraumeinenwenigerweitern,umneue Ideen hereinzu- denKatalog?Natürlichzählt die Kunst, aufvielenEbenen. lassen, um Zugangzuneuen Ideen zu finden,umein biss- Aberfür Institutionenund Kuratoren isteswichtig, diese chen Unordnung in die Räumezubringen, in denenwir es Geopolitik zu reflektieren. unsschonzugemütlich gemachthaben. HierimHausder Kunstberuhtunser Wert nicht Es spielt übrigens auch eineRolle, wo die Künstlerher- nur darauf, ob unsere Ausstellungen schön sind. Wirhaben kommen. Wirhaben es dabei miteiner Politik der Ressour- hierhervorragende Mitarbeiter,die unsere Ausstellungen cenverteilung zu tun. Das giltjetzt keineswegs füralle großartig aussehen lassen.Und wir habenphantastische Künstler, aber wennman Ausstellungen macht,erlebtman, Räume dafür.Aberwennwir uns unser Programmansehen, dass Künstler aus „entwickelten Ländern“ Ansprüche stel- müssen wir uns auch tiefergehende Fragen stellen:Sind wir len, die zum Teil in überhaupt keinemVerhältnis zu dem wirklichkritischgenug?Blickenwir genau genug aufdie Kontext stehen,indem ihre Arbeit letztlichgezeigt wird. übrigeWelt? Fordern wir dasheraus, dessen wiruns ei- Ich sehe solche Erfahrungen als einen Missbrauch vonPri- gentlichtodsichersind? Verschiebenwir unsereeigenen vilegien, unddie Politik der Ressourcenverteilung hat einen Komfortzonen bis zum entscheidendenPunkt? Sind wir in Einflussdarauf,wie Künstlersich in diesem Systembewe- derLage, unser Publikum dabeimitzunehmen? Sich diesen gen.Also: es spielt in vielerlei Hinsichteine Rolle, wo man Fragenachtsam und aufmerksam zu stellen,die eigenen herkommt, und wir wären dumm, das nicht zuglauben. Es Grenzen zu verlassen –das istwirklichunser Wert alsIn- braucht ja Selbstvertrauen, um eine Behandlung zuverlan- stitution. Nicht alleine attraktiveAusstellungen.Die Geo- gen,von derman weiß, dass andere sie auch bekommen. politik der Kunst hat viele Ebenen, die alle wichtig sind –re- Man mussumseineeigene Macht wissen, um Ansprüche zu gionale und globale Fragen,Gender-Fragen, inhaltliche stellen und sicher sein zu können, dassdieseauchernst ge- Fragen, und wir wollen all das in unsere Ausstellungen ein- nommen werden. Wenn man ein berühmterKünstlerist, bringen. kann manvon einem Museumverlangen, wasimmerman Wirzeigen in dieser SaisonimHausder Kunstei- will –und wir fügenuns meistens. ne ganze Reihe jüngerer Künstler. Tilo Schulz wurde in Ost- Wulffius: Ist es das, was Sie die„Geopolitik der Kunst“ deutschland geboren,inLeipzig,Victor Man inRumänien, nennen? wo er auch aufgewachsen ist. AnriSalastammt aus Alba-

280 Einsichten und Perspektiven 4|14 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München nien, Mohamed Bourouissa aus Algerien.Wir müssen das radikalstenund mutigsten Arbeitenimmeraus offenenGe- nicht extra betonen unddabei gleich dieGeopolitik der sellschaften kommen. Wirmüssen mit der Selbstzufrieden- Kunstsehen,aber sie ist einfach in den Biographiender heit umgehen, die daraus erwächst,ineineroffenenGesell- Künstlerenthalten. Wirhoffen, dassunserPublikum diese schaftzuleben.Danndenkenwir,man müsse Politik von Verbindungen herstellt.Die Künstlersprechenalle fließend derKunsttrennen. In Ländern,indenen man seine Meinung die Spracheder zeitgenössischen Kunst,dieses ganze Voka- nicht äußern darf,sagt niemand, dass manKunstvon Poli- bularbasiert nicht auf Nationalitäten oder auchnur Regio- tik trennenmüsse. Es gehtdannumdie Politik desEngage- nen, aber trotzdemeröffnen sie unsneue Blickwinkelauf mentsselbst, um die Absicht, etwas mit Kunstpräzise aus- die Geopolitik derKunst. Sie kommen aus verschiedenen zudrücken, auch ohne dabeipolitisch zu sein. Dann wirdes Weltenund operieren in diesem einenSystem. SogarGeorg wirklichinteressant. Es gibt in Syrien einanonymesKol- Baselitz isteinmalemigriert, von Ost- nachWestdeutsch- lektiv,Abou Naddara, ausDamaskus.Sie drehen ihreVi- land –unsere Ausstellung mit ihm ist sehr interessant. Nun, deos inmitten einersichauflösenden, kollabierendenGe- ichweißnicht, wie weit die Öffentlichkeit über solche Din- sellschaft,immerinFormkurzer Dokumentarfilme.Man ge wie die Geopolitik derKunst nachdenkt. Wirkönnten brauchtnur ins Internet zu gehen,dakannman sich viele das…[überlegt]als das perfekte Verbrechen betrachten.Es Filme vonihnenanschauen.3 Es gibt solche Menschen inal- istsehrsichtbar, aber niemandsieht es!Ich möchte die lenRegimen,SchriftstelleroderKünstler–Leutewie Ai Künstlerjetzt nicht fürdieseArgumentationausnutzen, Weiwei. MeinerAnsicht nach tuterdas, wasertut, nicht als aber es istwichtig,solche Verbindungen zu sehen.Wir ha- Künstler, dassage ichganzehrlich. Er tut es als Bürger. Wir beneine Generation an Künstlern, die aus der Phase eines werden demAktivismus vonAiWeiweinicht gerecht,wenn bedeutendenglobalenÜbergangs kommen, dasist dochfas- wir dasnicht anerkennen. Ich bin sehrinteressiert an die- zinierend.Darüber werdeich ein Editorial schreiben! Über sem Verhältnis von Kunst und bürgerlichenRechten.Des- dasperfekte Verbrechen [lacht]. halb seheich die Art, wie Ai Weiweisichder Welt darstellt, als die Arbeit einesBürgers, nicht einesKünstlers. Obwohl Kunst und Bürgerrechte er natürlichein Künstlerist. Wulffius: Siehaben voreiniger Zeitgeschrieben,dass der Wulffius: Vomperfekten zum echten Verbrechen: Wasbe- ArabischeFrühling,aberauchFälle vonpolitischer Repres- deutetes, Teil einerKunstwelt in Ländernzusein, in denen sion, wie zumBeispielgegen Ai Weiwei, zu größerem poli- politischeoderästhetische Statements insGefängnis führen tischen Aktivismus in derKunstszenegeführthaben.4 Ein können?OderzumindestzuRepression?Gibt eseinenZu- weiteres Themasind die schlechten Bedingungen derAr- sammenhang zwischen Kunst undDemokratie? beiterinLändern wie denVereinigtenArabischen Emira- Enwezor: In einer Sache binich mirsicher: Die Ära der Dis- ten, wo ja das Guggenheim und der Louvre neue Zweig- sidentenkunstliegt hinter uns. Ganzunabhängig davon, wo museen bauen. Ist dasKunstsysteminden letzten Jahren man lebt, glaube ich, dassdenkendeMenschen immerdie in ernster geworden? Gibt es mehrpolitisches Engagement? ihren Gesellschaften herrschenden Vorstellungen heraus- Enwezor: Schwerzusagen,wie will mandas messen?Wahr- fordern, aufeigene Gefahr.Das ist ein Risiko,das denken- scheinlichdocheherweniger Engagement. Wirsind in einer de Menschen eingehen.Und das ist es,was Künstler, PhaseeinesInterregnums.Das dünne Häutchenüberder Schriftsteller, Intellektuelle von unsunterscheidet. Da geht Wunde istnochnicht gerissen.Wie beieinerBlase,die man es wirklichumeine Suche nachWahrheit,nach Einsicht, die auf der Hand hat, darüber ist dieses weiche Häutchen, und Menschen dazu bringt,sich selbst Risiken auszusetzen. Es das ist noch nicht aufgeplatzt. Aber vermutlichwirdesbald gibt dieseZusammenhänge auchinnerhalb demokratischer soweit sein. DasKunstsystemist geradeineinem sehr in- Gesellschaftenmit stabilen Regimen, und solchen mit un- flationären Zustand. Die Rhetorik der Warenwirtschaftist demokratischen, illiberalenRegimen. Wirmüssen uns fra- auch inflationär. DasGuggenheim gehtnach AbuDhabi gen,wie wir überdie freie Meinungsäußerung –die viel- wegen Geld. Dasmag vielleicht zynisch klingen.Ich habe leicht gar nicht so frei ist –imVerhältnis zu unserer eigenen geradeeinenArtikelgelesen überdie Avery FisherHallin Gesellschaftdenken, undauch im Gegensatz zuanderen New York.Das istdie Spielstätte derNew Yorker Philhar- Gesellschaften. Werentscheidetdarüber? Werurteilt? moniker im Lincoln Center. Die Philharmonikerwollenihr Ich denke so darüber: wennder Raum,den den- Gebäude renovieren und erweitern,und dafür brauchen sie kende Menschen zur Verfügunghaben,eng ist, werden sie viel Geld. Deshalbsoll derNamevon Avery Fisherver- Wege finden, daraus auszubrechen. Ich findenicht, dass die schwinden, entgegen derAbmachung,die Avery Fisher

3Abounaddara Films, vimeo.com/user6924378[Stand: 19.11.2014]. 4Okwui Enwezor:Spring Rain, in: Artforum Summer2011.

Einsichten und Perspektiven 4|14 281 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

1972 mit denPhilharmonikerngetroffen hat, alserihnen mendenBiennale vonVenedig für die Giardini konzipie- 10,5 MillionenDollar spendete.5 Damals eine Menge Geld. ren.7 Und nun soll das Gebäude umbenannt werden,wennje- Enwezor: Oh,ich glaube,das ThemaVenedigist momentan mand nochmehr Geldspendet. Das Lincoln Centerwird noch nicht so interessant. derFamilie von Avery Fisher dieNamensrechte für15Mil- lionenDollar abkaufen. Istdas zu glauben?Die bezahlen Politik der Entmachtung die Familie dafür,dass sie ihren Namen von diesem Gebäu- de entfernenkönnen. Wulffius: Gut, dann frage ich nachZensurund politischem Wulffius: Ist es einePrivatperson, diedasovielGeldspen- Druck.Sie habenindem schon erwähntenArtikelinArt- det, odereine Firma? forum auchgeschrieben,dass Zensurkeineswegs aufnicht- Enwezor: Das wurde nochnicht gesagt. Aber diese15Mil- demokratische Staatenbeschränkt ist, sondern auch inwest- lionenDollar werden gezahlt. Die Institutionen habendas lichenLändern vorkommt. Eigeninteresse, ihre Optionen zu rationalisieren.Wenndas Enwezor: Durchaus. Guggenheimnach AbuDhabi geht, sieht es vielleicht so aus, Wulffius: Ausgehendvon Ihrer Erfahrung alsKurator in alswürde eseinen Geistder Aufklärung mitbringen,aberes westlichenLändern,was sind die sichersten Wege, um geht vor allemumEigeninteresse und um Rationalisierung. Schwierigkeitenzubekommen? Religion und religiöseGe- Trotz derArbeitsbedingungen dort. Das Guggenheim oder fühle, Gewalt, Obszönität? Wo lauern diegrößtenGefah- derLouvrekennen doch diese Bedingungen.Die wissen, ren? dass manche der Ansicht sind, die gesamte Golfregion sei im Enwezor: In München? Nichtpopulärgenugzusein(lacht). Grunde eineinziger massiver Archipel Gulag für billige Ar- Wulffius: Aberist die Idee vonder Freiheit desWortesdenn beitskräfte. im Westen gefährdet?Oderhaben wir vergessen,dass wir Wulffius: Dasist es ja auch,was zum BeispielinDubaikei- diese Freiheit verteidigen müssen,und dass es sich lohnt, da- nen gutenEindruckhinterlässt. Wenn man durchdie Stadt für zu kämpfen? fährt, hatman das Gefühl, 80 Prozent der Menschen aufden Enwezor: Ich weiß nicht, ob diese Freiheit wirklichinGe- Straßen sindMänner… fahrist.Ich gebeIhnenein Beispiel. Ich binamerikanischer Enwezor: …die aus Südasienkommen, aus Bangladesch, aus Staatsbürger,nigerianischer auch,und ichkomme gerade Indien, und die in Dubai vollkommenungeschütztsind. ausden USA zurück.Dortwaren letzte Wochedie Kon- Auf deranderen Seite die ganzenLuxusgeschäfte.Aberdas gresswahlen, und das Interessante an diesenWahlen ist,dass betrifft wirklichnicht allein die Kunstwelten oder das die Republikanersie gewonnenhaben.Sie habengewonnen, Kunstsystem. Es betrifft die ganze globale Industrie mit all weil ihreKampagneauf etwasabzielte,das ich eine Politik ihren Facetten. Allerdingsgibt es auchgute Dinge über Du- dersozialenEntmachtung nennenwürde.Was bedeutetes, baizusagen.Esist wegen der unglaublich vorteilhaftengeo- jemandemden Mund zu verbieten, perGesetzzuverord- graphischen Lage eineechteDrehscheibe. Das Epizentrum. nen, dass manetwas nicht tun darf, zu verhindern,dass man Man kommt von dort aus an jeden Ort der Welt, und zwar seine vollenRechteals Bürger ausübt? Die Politik derso- mit einem Direktflug.Das findeich phantastisch. zialen Entmachtung umfasst dasWahlrecht,die Bürger- Wulffius: Obwohldie Fluglinie EmirateskürzlichIhr Ge- rechte, Frauenrechte,wennesumden ZugangzuVerhü- päck verloren hat. tungsmitteln geht oder um das Recht aufAbtreibung,und Enwezor: Siehaben es ja wiedergefunden [lacht].Eshat so weiter. In denUSA gibt es eine Koalition ausrevisionis- michallerdings Geldgekostet,weil ich mirauf die Schnelle tischen Politikern,Kirchen und verschiedenen anderen einneues Outfitkaufen musste. konservativen Kräften,die aufsolchenThemenaufbaut. Wulffius: Immerhin hat es der Vorfallins Wall Street Jour- Nunglaubensehrviele Wähler, in einer Art Fieberder nalgeschafft.6 Selbsttäuschung und desSelbstbetrugs, eine Politik derso- Enwezor: MeineGüte, ja. Ichhattenicht gewusst,dass sie zialen Entmachtung würde dasLandbesser machen.Ich das Porträt übermich ausgerechnetmit dieser Geschichte selbstglaube in diesem Zusammenhang nicht daran,dass die beginnen würden. Abersoetwas weiß man ja vorher nie. Frage derfreien Meinungsäußerung entscheidend ist. Esist Wulffius: Mirscheint jetzt einegute Gelegenheit, nachdem die Natur bestimmterArten vonPolitik, dass manvor al- „Garten der Unordnung“ zu fragen,den Siebei derkom- lemseinenpolitischen Gegner entmachten will,für denei-

5Avery Fisher (1906-1994) war ein New Yorker Unternehmer undMusikmäzen. 6How Okwui Enwezor Changed the Art World,Wall Street Journal, 8. September 2014, http://online.wsj.com/articles/how-okwui-enwe- zor-changed-the-art-world-1410187570 [Stand:19.11.2014]. 7Die Giardini sind der Hauptschauplatz der Biennale von Venedig.Inder Parkanlage befinden sich der italienische Pavillon mitder zentra- len Ausstellung unddie Länderpavillons, die von Kuratorenaus den jeweiligenLändern bespieltwerden.

282 Einsichten und Perspektiven 4|14 VonKunstwelten und perfekten Verbrechen. Ein Gesprächmit Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst in München

Haus der Kunst,November 2014 Foto: Alexander Wulffius

genen Vorteil. Wieerreichtman in diesem Kontext eine of- defreiheit wäre eine so riesige Sache. Dabei ignorieren wir fene Gesellschaft?Wir habendie Illusion davon. Und wir die vielen Dinge, die rund um diese Erlaubnis passieren.Die können konsumieren, so vielwir möchten. Diejenigen, die Erlaubnis zur freienRedegehtnämlicheinhermit ihrenei- diesePolitik finanzieren, wie die Koch-Brüder, habenSie genen Beschränkungen.Die Polizei in denUSA,zum Bei- von ihnen schoneinmal gehört? spiel, istvollständig militarisiert.Schauen Sie, was inFer- Wulffius: Ja. Zwei Milliardäre, diedurchihre Spendenpoli- gusonpassiert ist. tisch sehreinflussreich sind.8 Wulffius: Die Kleinstadt in Missouri, in der ein schwarzer Enwezor: DemMetropolitan MuseumofArt in New York Teenager voneinemPolizistenerschossen wurde und in der hatDavidKoch, einerder beiden Brüder,65MillionenDol- es daraufhin zu schweren Krawallengekommenist. largespendet,umdie Treppen unddie Außenanlagenzure- Enwezor: Die Art, wie dieseAusschreitungenbeantwortet novieren. Dafür heißt derPlatz vor dem Museum jetztDa- wurden, zeigt die Militarisierung derStaatsgewalt in den vidH.KochPlaza. Er spendete auchdem New York State VereinigtenStaaten. So etwas siehtman nicht einmalinChi- Theater 100 Millionen Dollar,und jetztist es dasDavidH. na häufig. KochTheater. DieselbenLeute, diedieseschmutzigePoli- Wulffius: ZumAbschlussmöchte ichdochnocheinmal auf tik betreiben,benutzen jetzt dieKultur,umdie Hässlichkeit die Biennale 2015 zurückkommen. Sie wird „All the World’s ihres Tuns zu überdecken. Für mich gibt es keine von hö- Futures“ heißen. Sind Sieeheroptimistisch oderpessimis- hererEbene abgesegnete Freiheit des Wortes, fürdie wir tisch hinsichtlichunserer allerZukunft(e)? kämpfenmüssten. Die Frage ist doch: Wergibt mir dieses Enwezor: Ich bin in Hinblickauf die Welt wederoptimis- Recht? Warum muss ich dafür kämpfen? Braucheich je- tisch nochpessimistisch,aberich möchte mit Antonio manden, dermir sagt, dassich frei sprechen darf?Benötigen Gramsci antworten: Pessimismus des Intellekts,Optimis- Siedafüreine Erlaubnis? mus desWillens! Wulffius: Im besten Fallmuss ich darüber nicht nachdenken. Wulffius: Herr Enwezor, vielen Dankfür dieses Gespräch! Enwezor: Genau! Warum braucht es eineErlaubnis?Weil ❚ wir glauben, es bräuchteeine Erlaubnis,denken wir,die Re-

8David undCharles Koch sind die Erben des Mischkonzerns Koch Industries. Sie finanzieren mit ihrenSpendenunter anderemdie „Tea Party“, eine ultrakonservativeBewegung innerhalb der Republikanischen Partei.

Einsichten und Perspektiven 4|14 283 Ländernotiz Schottland Ländernotiz: Schottland Serie: Länder notizen

Quelle: http://www.freemapviewer.com/de/map/Karte-Schottland_1051.html

284 Einsichten und Perspektiven 4|14 „United we stand, divided we fall.“ „United we stand, divided we fall ... – Schottland nach dem Referendum

VonUdo Seiwert-Fauti

10. November2014. Am Vormittaggibt die katalonischeRegionalregierung in Barce- lona bekannt, dass sich 2,25 Millionender 5,2 MillionenstimmberechtigtenKatalanen in einer‚Befragung‘für die Unabhängigkeit derRegion vom„Mutterstaat“Spanien ausgesprochen haben. Dassind immerhin 80,8 Prozent. Zu denBefürwortern gehört auch Josep Guardiola,der für die Unabhängigkeit Kataloniens kämpfende Trainerdes FC Bayern München. Weitere 10,1 Prozentstimmtenfür einKatalonien, dasmit noch mehr Autonomie derRegion im Königreich Spanienbleibensollte.VierProzentvo- tierten für einenkomplettenVerbleib Kataloniens in Spanien.

DieseVolksbefragung war zweimal auf Antragder spani- fest,dass eine Nichtberücksichtigung in diesenDebatten die schen Regierung vom spanischen Verfassungsgerichtshof aktuelle politischeEntwicklung im VereinigtenKönigreich für verfassungswidrigerklärt worden,ein ursprünglich für vonGroßbritannienund Nordirland keinesfallsmehrdar- den 9. November2014 geplantes Unabhängigkeitsreferen- stelle.Das Managementder BBC sowie anderer großer dum für rechtswidrig. DiekatalonischeRegionalregierung Fernsehgesellschaften hatte Wochen vorher entschieden,zu um PräsidentArturMas hatte sich vor diesem Hintergrund denlandesweitausgestrahltenTV-Debattennur die großen entschieden,die Befragung nicht selbst, sondern durch un- Parteien Conservatives, Labour,Liberal Democrats–die abhängige Bürgergruppen durchführen zu lassen.Mehrals aktuellen britischenRegierungsparteien -sowie –erstmals 40.000 Freiwilligehatten sich dafür gemeldet.Reinstaats- –auchdie rechte Anti-Europa-Partei UKIP desParteifüh- rechtlichgesehen hat das Ergebnis der katalonischen „Stim- rers Nigel Farrage einzuladen. Alle anderen bleibenbislang mungslage-Umfrage“ keinerlei Auswirkungen,moralisch außenvor.Der Brief soll dasjetzt grundlegendändern.Zur aber ganzsicherlich ohne Zweifel.1 Einschätzung:Imbritischen Unterhaus hat UKIPbislang 10. November 2014. Am frühen Nachmittag veröf- nur einenMP(MemberofParliament), nämlicheinen Über- fentlichendie walisische National-Partei Plaid Cymru, die läuferder Konservativen,und die ScottishNationalParty schottischeNationalpartei Scottish National Partyund die sechsAbgeordnete!2 britannienweitenGrünen einen gemeinsamen Brief an Ro- Die Beispiele ausGroßbritannienund Spanien zei- na Fairhead,die neue Vorsitzendedes BBC Trust, derKon- gen sehrdeutlich: Obwohl sich beim Unabhängigkeitsrefe- trollinstitution derbritischen Rundfunk- undTV-Gesell- rendum im September2014 in Schottland 54 Prozentder schaftBBC.Indiesem Brief fordern sie die öffentlich- Schottenfür einenVerbleib im UnitedKingdom entschie- rechtliche Radio- und Fernsehgesellschaft auf, alle dreiPar- denund die Katalanenineinervom Staat Spanien nicht an- teieninden anstehenden TV-Debatten zur Unterhauswahl erkanntenVolksbefragung eindeutig für die Unabhängig- im Mai 2015 in Großbritannienzuzulassen und ebenfalls keit stimmtenund „gezwungenermaßen“trotzdemweiter einzuladen. Die dreiParteien stellen unmissverständlich im Königreich Spanienbleibenmüssen,gehtdie Unabhän-

1http://www.spiegel.de/politik/ausland/volksbefragung-katalonien-stimmt-fuer-unabhaengigkeit-von-spanien-a-1001951.html [Stand: 21.11.2014]. 2Vgl. http://www.broadcastnow.co.uk/broadcasters/greens-snp-and-plaid-cymru-challenge-tv-election-debate-plans/5079845.article [Stand: 21.11.2014]. Vgl. http://www.itv.com/news/wales/update/2014-11-10/letter-calls-for-plaid-cymru-to-take-part-in-tv-debate/[Stand: 21.11.2014].

Einsichten und Perspektiven 4|14 285 Ländernotiz Schottland

Länderdaten:

Ländername: Schottland (englischund in Scots Scotland, schottisch-gälischAlba, lateinisch-keltischCaledonia) Klima: gemäßigt; in den Atlantikregionen Erwärmung durchden Golfstrom Lage: Schottland besteht aus dem nördlichen Drittel der größten europäischen Insel Großbritannien sowie mehre- ren Inselgruppen. Südlichgrenzt es an England. Es teilt sichindrei geografische Regionen auf: die Highlands, die Schottland alleine, sondern dem Vereinigten Königreich Central Lowlands und die Southern Uplands. insgesamt zugute –ein Umstand, der die politische Dis- Landesfläche: 78.772 km² kussion um die Unabhängigkeitsbestrebungen Schott- Hauptstadt: Edinburgh lands befeuert. Bevölkerung: 5.313.600Einwohner; 68 Einwohner pro km² •Whisky: Der Exportvon schottischem Whiskystieg 2011 Landessprachen: Englisch, Schottisch-Gälisch, Scots gegenüber dem Vorjahr um 23 Prozent und erreichte erst- Religionen, Kirchen: ChurchofSotland: 42 %; bekenntnis- mals die Markevon 4,2 Milliarden Pfund. Wichtigster Ab- los: 28 %; Römisch-katholisch: 16 %; andere: 14 % nehmer waren die USA, gefolgt vonFrankreichund Singa- Unabhängigkeit: Schottland ist ein Landesteil des Vereinig- pur. ten Königreichs Großbritannien und Nordirland. In den •ErneuerbareEnergien: Bis 2020 sollen nachPlänen der letzten Jahrzehnten ist in Schottland eine starkeBewe- Regional-Regierung in Schottland bis zu 100Prozent des gung für eine Auflösung der Union mit England und damit erzeugten Stroms aus erneuerbarer Energie stammen. Im die Abspaltung vomVereinigten Königreichentstanden. Jahr 2013 wurden etwa46%des Strombedarfs Schott- Das Land hat bereits durchden Prozess der innerbritischen lands ökologischproduziert. Dabei entfielen 66 %auf Wind Devolution weitgehend Autonomiestatus innerhalb des (On/Offshore), 26 %auf Wasser-und Pumpspeicherkraft- Vereinigten Königreichs inne und seit 1999 ein eigenes werkeund 8%auf Sonstige (vor allem Biomasse und Pho- Parlament in Edinburgh. Im Rahmen eines Referendums tovoltaik). Besondersdie Windenergie hat für die Zukunft am 18.September 2014 votierte das wahlberechtigte Volk weiterhin hohe Wachstumschancen. bei einer historischhohen Wahlbeteiligung von85%mit •Medien und Software: Der sogenannte Kreativsektor 55 %der abgegebenen Stimmen jedochgegen die Auflö- (Creative industry), bestehend aus Literatur,Film, Mode, sung der Union. Software und Computerspielen, trug 2010 mit einem Um- Regierungsform: Parlamentarische Monarchie; 1999 wurde satz von4,8 Milliarden Pfund zur schottischen Wirtschafts- das schottische Parlament eingerichtet, das sichaus 129 leistung bei. Diese Branchen beschäftigten 2011 rund gewählten Abgeordneten (MSP) zusammensetzt. Mit dem 64.000 Menschen. „Scotland Act 1998” wurde dem schottischen Parlament •Landwirtschaft: Mehr als drei Viertel der Fläche Schott- die Befugnis übertragen, zu vielen Bereichen der schotti- lands werden für die Landwirtschaftgenutzt; zu etwaglei- schen Innenpolitik Gesetzein„devolved matters” zu erlas- chenTeilen für Weidewirtschaftund Anbau vonNutzpflan- sen. Politische Angelegenheiten Schottlands, die sichauf zen. Am meisten angebaut werden Gerste, Weizen, Hafer Großbritannien oder international auswirken, bleiben der und Kartoffeln, daneben Gemüse und Obst. In den High- Verantwortung des britischen Parlaments vorbehalten lands, den Inseln und den Southern Uplands dominiertdie („reserved matters”). Hierzu gehören die Außen-, Verteidi- Schafzucht; generell spielt auchdie Rinderzucht eine gro- gungs-, Einwanderungs- und Sozialpolitik. ße Rolle. Schottisches Fleischund schottische Zuchtrinder Staatsoberhaupt: Königin Elisabeth II. genießen einen guten Ruf. Die Milchwirtschafthat eine un- Regierungschefin: Nicola Sturgeon (Scottish National tergeordnete Bedeutung. Die jährlichen Erlöse der Land- Party) wirtschaftbetrugen im Jahr 2011 746Millionen Pfund. Wirtschaft: Bruttoinlandsprodukt: £150 Mrd. (€ 177Mrd., $235 Mrd.) •Ölförderung: Der Wert der Ölreserven in der Nordsee vor (Schätzung 2013) Schottland wurde 2013 auf mehr als vier Billionen Pfund Pro-Kopf- Einkommen: £28.326 (€ 33.425, $44.378) (Schät- geschätzt. Allerdings kommen die Steuereinnahmen nicht zung 2013)

Daten: de.wikipedia.org/wiki/Schottland; www.scotland.org; www.visitscotland.com

286 Einsichten und Perspektiven 4|14 „United we stand, divided we fall.“

drei Monatenvor demReferendum in Alba,wie Schottland auf Gälisch heißt, schienplötzlicheine Dauer-Party, oder besser schottisch:Dauer-Ceilidh-Stimmung im Norden des VereinigtenKönigreiches ausgebrochen zu sein. Menschen, die nie vorher daran gedachthatten,sichinund mit derPo- litik zu beteiligtenund zu beschäftigen, diskutierten plötz- lichinallerÖffentlichkeit, unter Freunden, mit Bekannten und auchmit Touristen, wie siedie Zukunft desLandesse- hen.Ansonsteneherzurückhaltende Schottenjeglicher Al- tersklasse trugenplötzlichdeutlichsichtbarihre„YES“- Kampagnenanstecker,fuhren aufAutos ihre„YES“-Auf- Nicola Sturgeon nach ihrer Ernennung zur SNP-Parteivorsitzen- kleber spazieren, trugen „YES“-T-Shirts undmachten da- den,14. November 2014 mit allenklarund deutlich, dass sieFÜR die Unabhängig- Foto: ullsteinbild -Reuters /Fotografie: Cathal McNaughton keit des Landessind und waren.Es„YES“-Teüberall:an Häusern,inGeschäften,anAnzügen,auf Autos,anöffent- lichenGebäudenund ganzbesonders zahlreich und deut- gigkeitsbewegunginbeiden Ländern auch in Zukunft in- lichimInternet.Die in Glasgowresidierendeund vomehe- tensiv weiter. maligen BBC Scotland–Nachrichten/Aktuell-ChefBlair Wieso das?, fragen jetzt sicherlich viele.Eigentlich Jenkins angeführte Ja- oder „YES“-Kampagne waroffen- wardochnach der55,3 Prozent-zu-44,7 Prozent-Niederla- sichtlich in der öffentlichen Wahrnehmung zu einerwah- ge derschottischenUnabhängigkeitsbewegung am18. Sep- ren Volksbewegung geworden. tember2014 allesklar.DeutschlandsAußenministerFrank- Ganz anders die Lage beider sich zuerst „Better WalterSteinmeier hatdoch den Briten zu diesemErgebnis Together“ und später dann „No Thanks“„nennendenPro- gratuliert undauch in der EU-Zentrale in Brüssel warman Union-Aktion, in der sich alldiejenigen versammelten,die hoch erfreutüber diesen Wahlausgang. Es bliebdochalles Schottland unbedingtinder Union mit England, Walesund beim Alten, business as usual auch in Zukunft. Wenigstens Nordirland behaltenwollten. aufdiesem GebietkeineProblememehr mitdem United 14 Tage bin ichvor demReferendum durch schot- Kingdom. tischeStraßengewandert und gefahren,umendlichmal Drei Monatenach dem Schottland-Referendum ist „No Thanks“-AufkleberoderBekenntnisse dieser Rich- einekaumglaubliche Tatsache festzustellen: Die Wahlnie- tung zu sehen und zu finden. Nichts,wirklichnichts. Nach derlage der „Ja zur Unabhängigkeit“-Bewegunghat diese in langer Recherche und Suche habe ich dann einen einsamen einem kaumerwarteten Ausmaß beflügelt undnochweiter „NO“-AufkleberaneinemZimmerfenster an derEdin- in Gang gesetzt, während dievermeintlichen Gewinnervor burgher Dalkeith Road gefunden. Einen, währendrundum und in allerÖffentlichkeit von einem Desaster ins andere ei- einblaues„YES“-Aufkleber–und Bekenntnismeer wogte. len. Schottland schienzueinemwirklichen„Ja-Land“ gewor- Wahr ist leiderauch, dassvon dieserNachge- den zusein, in demesnur nochumdie Prozent-Höhe des schichte desReferendums in den deutschen und deutsch- Sieges und damit die Unabhängigkeit ging.Die schweigen- sprachigen Medien kaumbis nichts zu lesen ist: Die de Mehrheit, die silent majority,inSchottland waröffent- „tourism journalists“are gone, dieschnell mal angereisten in lich wenigeTage vordem Referendum nicht bis kaum sicht- Schottland „eingefallenen“ Reporter sindweg. Die zumeist bar. in Londonresidierenden Korrespondenten sind wiederin Die zahlreichen, nahezu täglichveröffentlichten vertrauter politischer Umgebung, Schottlandspielt im poli- Meinungsumfragenzeigten allerdingsein ganzanderes tisch-aktuellenJournalismus kaum bis garkeineRolle mehr. Stimmungsbild: Hier lag„NO“ immervorne.Anfang 2014 Für vielekönnte es ein bösesBerichterstattungserwachen betrug derAbstand zwischen „NO“ und „YES“ noch22 geben,dennnichts(mehr)ist seit dem Tagdes Referendums Prozentpunkte, in den Wochen vordem Referendum wur- in Schottland und auch im Vereinigten Königreich ruhig de es dann immerknapperund enger.Nach einerAufhol- und entschieden. jagd für„YES“ lautetendie unterschiedlichenUmfragen In Schottlandgilt aktuell das Nachwahlmotto “The kurz vor dem entscheidenden Tagnur noch54/52 zu 48/46, winners look like losers, thelosers look like winners!“ immerpro „NO“! Um diesesehrüberraschende,aber tatsächliche Zustands- Plötzlichsprachen vieleUmfrageexperten vonei- beschreibung der aktuellen SituationinSchottland zu ver- nem „momentum“,womit in diesem Fall mehr oderweni- stehen,muss man einenBlick zurückwerfen. In denletzten ger Trendgemeint war. DerTrendsah geradedie Wochen

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EineFrau auf dem „short walktofreedom“-Marsch, Edinburgh,18. September 2014 Foto: ullsteinbild -Reuters / Fotografie: PaulHackett

vor dem Referendumplötzlich„YES“ in einerunglaubli- besten Wege die Schottenindie Unabhängigkeit ihres Lan- chen Aufholjagd, was sich auch an den schottischen Haus- deszuführen. türen bemerkbar machte. KeinTag verging ohne einen Bisheute istnicht klarund auch nochnicht jour- „YES“-Aufkleber,ohne eine „YES“-Broschüre in den nalistischuntersuchtworden, ob dieser Tweet desAnti-Eu- Briefkästen. Tausende von Freiwilligenzogen fürein „Ja“ ropäers und Anti-Euro-Kämpfers Rupert Murdochwirk- durch Schottland und kämpftenTür an Türfür die Unab- lich die Realitätdarstellte oderdocheherein Mittelzum hängigkeit. Zweck war, um endlichdas Londoner No-Establishment, Verblüffend anders sah es bei „NO“ aus. Dievon die Politiker in London und in derbritischenRegierung auf- denParteien Scottish Labour,Scottish Conservatives und zuwecken. ScottishLiberal Democratsunterstützte Pro-Union „No Währenddie „YES“-Anhänger aufUnabhängig- Thanks“-Kampagne musste wirklichtief in die unterstüt- keitswolke Sieben schwebtenund Glasgower Pubs halbleer zenden Parteikassen greifen, um überhaupt bezahlte „Frei- tranken, mussdiese Umfrage in LondonerRegierungskrei- willige“ zu gewinnen. sen wie eine Bombe eingeschlagen haben. Premierminister An einem SamstagabendimSeptember2014 pas- DavidCameronhattesichbis dahin in derschottischen De- siertedanndas, was vieleBeobachter in Schottland alsletzt- batte kaum bemerkbargemachtund hatte auspolitischen lichwahlentscheidendsehen.Der US- australischeMedien- und guten GründenSchottland gemieden.Jetzt mussteer zar Rupert Murdoch (Besitzer von Sky TV,Sky News, Sky gegen seinensehroffensichtlichen Willenindas Landder Sport ,The Times,Sunday Times und The Sun) twitterte ei- „YES“-Anhänger und seinerVorfahren: SeinVater ist ne Meldung, die für den Sonntageine Sensation voraussag- Schotte und wurde in Huntly in Aberdeenshire geboren. te.Zitat: „Das Londoner Establishment wird in denGrund- Umdie Lage Schottlands zehnTage vordem Refe- festen erschüttert werden“3.Allen Journalistenund poli- rendum zu verstehen,sind folgende Hintergründe wichtig: tisch Interessierten war klar,was das zu bedeuten hatte und 1. SeitJahren verfügen die britischen Konservativen inganz sich dannauch bestätigte. Schottland übernur eineneinzigen Unterhaus-Abgeordne- Eine neue SundayTimes-Umfragezum Referen- ten. Es istderzeitder Schotte DavidMundell. Erhat seinen dumhatte „Schockierendes“ herausgefunden:Zum ersten Wahlkreisinder schottisch-englischen Grenzregion Dum- Mal,sokonnten die als konservativ und ganz sicher „Pro friesand Galloway. Seitdie ehemaligekonservative Pre- Union“ bekanntenLeser der Murdochzeitung am Sonntag- mierministerinMargaret Thatcher 1989 die Schottenmit der morgen lesen,lag die„YES“-Campaign mit52Prozentzu in Schottland sehr berüchtigten Kommunalsteuer Poll Tax 48 Prozentvorne.Sie war danach alsotatsächlichauf dem gequält hat,4 wirkenKonservativeauf Schottenwie das ro- 3https://twitter.com/rupertmurdoch/status/508271651235299328[Stand: 21.11.2014].http://www.thedrum.com/news/2014/09/09/ murdoch-tweets-spark-scottish-sun-yes-independence-speculation [Stand:21.11.2014].

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politischeschottischeSupergau.Mit einemerdrutschartigen Sieg erreichte die SNPimScottishParliament eine absolute Mehrheit! Aus 46 Labour-Abgeordnetenwurden37, von16 Liberaldemokraten bliebenfünf übrig,die Konservativen stelltennoch15(-2),die Grünenerreichtengleichbleibend zweiAbgeordnete.Das kaum glaubliche Ergebnis desJah- res 2011 bedeutete für die ScottishNationalPartymit 69 Abgeordneten ein Plus von 22 Sitzen! Dieses Wahlergebnis warder Auslöser für die SNP, endlichDAS wichtigsteParteiziel derSNP,die Unabhän- gigkeit Schottlands,inAngriff zu nehmen. Vordiesem Hintergrund wirdklar, warum der Murdoch’sche „YES liegtvorne“-Tweet in London ganzbe- sonders in No.10 Downing Street, dem Sitz desbritischen Der schottische Regierungschef Alex Salmond,der am Tagnach Regierungschefs, alle Alarmglockenschrillen ließ.Bis zu der Niederlage im Referendumseinen Rücktritt erklärte diesem Tweet hatte DavidCameronden „NO“-Kampf in Foto: ullsteinbild -Reuters /Fotografie: Dylan Martinez Schottland dem„No Thanks“-Aushängeschild, demehe- maligen Labour Wirtschaftsminister, demEdinburgher Alistair Darling,überlassen.Einermehrmalsvom schotti- te Tuch aufden Bullen.Imschottischen ParlamentinEdin- schen Regierungschef AlexSalmond, SNP,vorgeschlagenen burgh sind dieKonservativen gerade mal mit 15Abgeord- direkten TV-Diskussion hatte Cameronmehrmalseine Ab- netenvertreten. sageerteilt. Bei allenTV-AuftrittenmussteCamerons Dar- 2. Die „YES“-Kampagnewurde/wirdvon der schottischen ling ran,obwohl DavidCamerondafürverantwortlichist, Regierungspartei Scottish National Party(einersozialde- dass dasReferendum staatsrechtlich überhaupt stattfinden mokratisch ausgerichteten Partei),den schottischen Grü- konnte. nen,den sehrlinkenSozialistender Scottish SocialistParty Am 15.Oktober2012 hatte er gemeinsam mitFirst sowie vielen schottischen Bürgerbewegungen,darunter Minister Salmond in der schottischenHauptstadt Edin- auch der Aktion „Deutschefür Unabhängigkeit“,5 unter- burgh das „Agreementbetween the UnitedKingdomGo- stützt und getragen. Sie alle habenihre Wurzelnausschließ- vernmentand the Scottish Government on areferendum on lichinSchottland. independencefor Scotland“7 unterzeichnet. Genaujener 3. Die „No Thanks“-Kampagne hingegen wurde/wirdmas- DavidCameron, deramTag nach derWahl2011 inSchott- sivvon denimVereinigten Königreich regierendenPartei- land im BBC-TV versprochen hatte „mitallenFasern seines en Conservatives und Liberal Democratssowie –zur Über- Körpers und seinesHerzens“ fürden VerbleibSchottlands raschung vieler schottischer Labourwähler –auchvon der in derUnion zu kämpfen. Oppositions-Labour Partei im Unterhaus unterstützt. Ge- Dersamstägliche Murdoch-Tweet zündete zehn meinsameArm-in-Arm-Auftritte von Labour-und konser- Tage vordem Referendum denpolitischen Großangriff aus vativen Politikern aus Schottlandwie England für ein „NO“ Englandauf Schottland. Am Montagdaraufverkündeten und für die Union habeninSchottlandspäterzueinemtie- die ParteiführerCameron(Conservatives), Nick Clegg (Li- fenParteienzerwürfnis, oder genauer gesagt zu einerPar- beraldemokraten )und Ed Milliband (Labour)inLondon, teienkriseder schottischen Ableger der LondonerPartei- massivaneinemTag in Schottland aufzutreten.Das taten sie zentralen geführt. denn auch,nur nicht gemeinsam,sondern an drei verschie- 4. 2007 hatte die Scottish National PartySNP zumersten denenOrten in Schottland. Mal im bis dahin von Labour undLiberal Democrats re- Warumdas? Die Erklärung für dasdenndochlie- gierten Schottland einensolchenZuwachs erreicht, dass ber getrennte Auftreten der „BetterTogether“-Kämpferist sie eine Minderheitenregierung in Schottland stellenkonn- einfach:Am9.Mai 2015 wirdinLondon dasUnterhausneu te –auchgetragen von der Scottish Labour Party. 2011 er- gewählt und Labour könnte durchausdie Konservativen eignetesichdann bei den schottischen Parlamentswahlen ablösen.GemeinsameAuftritte mit demGegner –ausge- für Labour,Konservative undauch Liberaldemokratender rechnetinSchottland –konntendanur schaden.

4Vgl. http://www.bbc.co.uk/scotland/history/modern_scotland/the_poll_tax/[Stand: 22.10.2014]. 5Vgl. https://www.facebook.com/GermansForScottishIndependence [Stand: 22.10.2014]. 6Vgl. http://www.bbc.co.uk/news/special/election2011/overview/html/scotland.stm [Stand: 22.11.2014]. 7Vgl. http://www.scotland.gov.uk/About/Government/concordats/Referendum-on-independence[Stand: 22.11.2014].

Einsichten und Perspektiven 4|14 289 „United we stand, divided we fall.“

Ed Milliband, Nick Clegg and David Cameron bei einer Zeremonie zum Volkstrauer- tag in London Foto:ullstein bild -Rex Features /Fo- tograf:Rupert Hartley

Mit dieseminteressanten Auftrittsbild der drei„Musketie- haushalt sicher seinwürde.WennSNP und Ja-Kampagne re“ ausLondon (so viele schottische Zeitungen) spieltensie gedachthatten,das sei jetztdochhoffentlichendlichalles, der„YES“-Kampagneeigentlich voll in die Hände.Viele sahensie sich bald sehrbitterenttäuscht. Eskam noch Schottenempfindenbis heute dieses Engagement aus Eng- schlimmeraus Richtung London. land mehr als „Bitter together“ undmachen auch keinen Wieheute nicht nur die Schottenwissen, arbeitete Hehl daraus. hinter den LondonerKulissen eine geballteWirtschafts- Immerhin,die Aussagen der dreiLondonerwaren macht für die Union und ein „Nein“ in Schottland. Eine eindeutig und die Drohungen deutlich.Die wichtigsten Ar- E-Mail aus dem LondonerWirtschaftsministerium, also gumentesahen so aus: ausdem Ministerium desbritischen Schatzkanzlers George •Wir werden auf gar keinen Fallnach einem „Ja“ akzeptie- Osborne (Conservatives), soll Bankengedrängt haben, ren,dass das Pfunddie gemeinsame Währung bleibt, wie es sich massivindie Unabhängigkeitsdiskussion in Schott- Alex Salmond in seinen Reden und in den TV Debattenan- land einzubringen und sich zu outen. Sogeschah es denn gekündigthatte. auch. •Wir werden diebei nach einem „Ja“ dannunabhängigen Im Stundentakt meldetensichwenige Tage vordem SchottenanunserenStaatsschuldenbeteiligen.[Dieseliegen entscheidendenReferendumstaginSchottland zuerst die derzeitbei mehr als eineTrillion Pfund]. beidenbritischen BankenRoyalBankofScotlandund •London wird nicht garantieren, dassdie angesammelten Lloyds BankzuWort. Beide kündigtenan, siewürdenihre gemeinsamenRenten undPensionen in Zukunft sicher sind. Hauptquartiere ausSchottland nach London verlegen, Als „icing on thecake“, als absoluter Höhepunkt folgte wenn Scotlandfür ein„Ja“stimmen sollte.Was spielteesda dann nochdie viele Schotten ins Identitätsmark treffende nochfür eine Rolle,dass die Lloyds Bankbereitsvor Jahren Feststellung: ihren Hauptsitz nach London verlegt hatte und die Royal •Ölund Gas mit seinen jährlichen70–80 Milliardenein- BankofScotlandRBS zumZeitpunkt derE-Mailnochin- nahmen (von denen30Mrd. das Budget der schottischen tensiv in ihrem Edinburgher Aufsichtsrat diskutierte, was Regierungbilden) für denbritischen (!)Haushalt–geför- eigentlich bei einem „Ja“geschehen sollte.Man musssich dert zu mehr als 95 Prozent vor SchottlandsNordseeküste das vorstellen: Die E-Mail aus dem Amt des Schatzkanzlers und damit aufschottischem Hoheitsgebiet –würdeningut wurde in einemMoment an Journalisten„geleakt“, alsdie 30–40 Jahren zum Erliegen kommen. EdinburgherRBS darübernochüberhaupt nichts entschie- Mitdieser Argumentation trafen die drei„No denhatte. Das Ergebnis dieser Beratungen war bereits vor Thanks“ „Musketiere“ die JA-Bewegung an sehrempfind- Ende derinternen Diskussioneninder Öffentlichkeit be- lichenStellen. Diese hatte überMonate hinwegunterHin- kannt! weis aufsteigende Öl-Einnahmenund gleich bleibende För- Hintergrund: Nach massiven VerlustenimJahre derung übermindestens die nächsten60–80 Jahre versucht, 2008 (Bankencrash)und Finanzhilfender Regierung im ihreLandsleutevon der Unabhängigkeit zuüberzeugen Umfang von45Mrd.Pfund hält der britische Staatderzeit und vor allem davon zu überzeugen, dassdamit derStaats- nochimmer84Prozentder RBS-Anteile.Der Britische

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Vordem Referendumin Glasgow Foto:ullstein bild -Reuters / Fotograf: Dylan Martinez

Staat stehtindiesem Fall der schottischen Unabhängig- men, darunterauchdie „Macht“ alleine überdie zuerhe- keitsdebatte für die Regierungskoalition von Konservativen bendenSteuern in Schottland zu entscheiden. und Liberaldemokraten im Londoner Unterhaus. Heute sind sich nicht nur die vielen Umfrageex- Selbst deutsche Stimmen reihten sich in diese An- perten darübereinig:Diese geballte politischeund wirt- tikampagne ein. Mitten in dieser Anti-Unabhängigkeitsof- schaftliche Offensiveaus London ,getoppt mit dem„Vow“ fensive meldete sich zur Überraschung vieler Schottenund hat letztlich viele „Ja“-Sympathisanten sounterDruck ge- EU-Ausländer in Schottlanddie FrankfurterDeutsche setzt,dass siesichwirklichinder Wahlurne dochnochda- BankzuWort. David Folkerts-Landau, der Chefvolkswirt zu entschlossen, anstelle von „YES“lieber„NO“ zuwäh- derDeutschen Bank,wurde in der GlasgowerZeitung Dai- len. Sicherheitund Vertrautesstatt „unsichere“ Unabhän- ly Record –die derPro-Union-Scottish Labour Partysehr gigkeit! nahesteht –mit einer neuen Studiezitiert. Titel des internen Dies gilt nachmeinenRecherchen auch für viele seitlangem Reports:„Falsche Richtung“. Im Vorwort schrieb Folkerts- in Schottland lebende und arbeitende EU-Ausländer, die als Landau, dass es„Zeiten gebe, in denen grundlegende poli- schottischeWohnsitzbürger (residents)ebenfalls beim Re- tischeEntscheidungennegative Folgen hätten,die weit über ferendum mit abstimmen durften. Allerdingshaben viele dasgingen,was sich Wähler undPolitiker vorstellenkönn- „YES –EUler“, die ichkenne,mittlerweile ihreBankkonten ten“.8 Die Abstimmung überdie schottische Unabhängig- beider RoyalBankofScotland gekündigt, zu derauchdie keit seiein solcher Moment.9 Bank NatWestgehört. Dasalleswar aber noch immer nichtsalles, was Klarist,gegen diese massive „LondonerOffensi- Londoninder Offensive gegen ein „YES“ in Schottland in ve“hattedie „Ja“-Bewegung und die sieunterstützenden – denKampfeinzubringen hatte. Zwei Tage vordem Refe- im Vergleich zu denLondonerParteien –kleinen schotti- rendumschlugen dieLondoner Unionsparteieninder Glas- schenParteien wie die ScottishNationalParty, die noch gowerZeitung „Daily Record“noch einmalunerwartet – kleinere GreenParty, die nochwinzigere Scottish Socialist und aus heutigerSicht –entscheidend zu. Die Zeitung ver- Party und die vielen „YES“-Bewegungen –nichts mehr ent- öffentlichte auf der Titelseite „The Vow“, das Versprechen, gegenzusetzen. Sie wurdenregelrechtinletzter Sekunde oderbesser: die Versprechungen der drei britischen Partei- überrollt. führer Nick Clegg, DavidCameronund Ed Milliband, was Nach Jahrhunderten derSchlachtenzwischen in Schottland allespassieren könnte undsollte,wenndie Schottland und England –auchimFußball –ist mangeneigt Schotten„NO“ wählen würden.Das wichtigste Verspre- zu sagen:Wiedereinmalhat dasenglischeGroßheer gegen chen:Nach einem „NO“ sollteSchottlandnochmehrEnt- die kleinenrebellischen SchottenimNordengewonnen. scheidungsmacht fürdas Edinburgher Parlamentbekom- Wieder einmalwurde dennördlichenNachbarn jenseitsdes

8Vgl. Handelsblattvom 13.9.2014. 9http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken/vor-dem-referendum-deutsche-bank-warnt-schottland/10696190.html [Stand: 23.11.2014].

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Anhänger der „NO“-Bewegungfeiern den Sieg in Glasgow. Premierminister David Cameron, London, 19. September 2014 Foto: ullsteinbild -Reuters /Fotograf:Dylan Martinez Foto: ullsteinbild -Reuters /Fotografin:Suzanne Plunkett

Tweed sehrdeutlich gezeigt,woimVereinigtenKönigreich warman sehrzufrieden, dass sich Schottland für einenVer- die Macht angesiedelt ist: in London und letztlichebendoch bleib im UnitedKingdom entschiedenhatte. nicht in Edinburgh! PremierministerDavidCameronkommentierte Am sehr frühen Morgen des 19. Oktober2014 wur- denschottischen Referendumentscheidso: de im Edinburgher AusstellungszentrumRoyalHighland „ThepeopleofScotlandhavespoken.Itis aclearre- Showground das fürviele wirklichunerwarteteErgebnis sult.Theyhavekept ourcountryoffournationstogether. Li- dieses demokratischen undvon England, Wales, Nordirland kemillions of other people, Iamdelighted. AsIsaid during und Schottland staatsrechtlich so gewollten Referendums the campaign,itwould have broken my heart tosee ourUni- verkündet:55,3 Prozent für„Nein“und „nur“ 44,7 Prozent tedKingdomcome to an end. AndIknowthatsentiment für „Ja“oder in Zahlen ausgedrückt: 1,167Mio wählten wasshared by people, notjust across ourcountry, but also „YES“, zwei Millionen sprachen sich für„No Thanks“aus. around the world… because of what we’ve achieved toget- Nur in denStädtenGlasgow und Dundee und in den Wahl- her in the past and what we can do together inthe future. So kreisen North Lanarkshire undWest Dunbartonshiregab nowitistime forour UnitedKingdomtocometogether, and es eine„YES“-Mehrheit.Inder schottischenHauptstadt to moveforward. Avitalpart of that will be abalanced sett- Edinburgh stimmten gar 63 zu 38 Prozent fürNein!10 lement –fairtopeopleinScotland andimportantly to Die Schlagzeilen der Zeitungen an diesem sehrre- everyoneinEngland, Walesand Northern Irelandaswell. nerischenFreitag sprachen fürsich: „Scotland says„No Let us first rememberwhy we hadthis debate –and why it Thanks“ titelte die EdinburgherZeitungThe Scotsman.Die wasright to do so.The Scottish NationalPartywas elected Glasgower TageszeitungThe Herald meinte „It's No go:a in Scotlandin2011 andpromisedareferendum on indepen- record84.6% turnoutsees Scotland reject independenceby dence. We could have blocked that, we couldhaveput it off 55%–45%“. DieEdinburgher Abendzeitung Edinburgh but just as with other big issues, it wasright to take -not duck Evening News stelltekurz und bündig fest:„Endofa -the big decision. Iamapassionate believerinour United Dream”. Kingdom–Iwantedmore than anything forour United Am Sonntag daraufschaute dieGlasgowerSonn- Kingdomtostay together.11 tagszeitung Sundayherald -die einzige schottische Zeitung, Deutschlands AußenministerFrank-Walter Stein- die sichfür die „YES“-Bewegung ausgesprochenhatte– meier meldete sich bei einem UN Besuch ausNew York zu durchihrenChefkommentar IanMacWhirter,ebenfalls ein Wort:„DasWahlergebnis sprichteine eindeutigeSprache: „YES“-Anhänger,indie Zukunft: „The realresult of there- Die Menschen wollenein starkes Schottland in einemstar- ferendum? The death of theUKstate“. kenGroßbritannien. Ich glaube,dass daseine gute Ent- Die Erleichterung in London und Brüssel war scheidung für Schottland, Großbritannien und auch für überaus deutlich aus den Reaktionen herauszuhören und Europa ist. Deutschland hofft auf eine weiterhin enge und herauszulesen. In Brüssel undinder britischen Regierung vertrauensvolle Zusammenarbeit.“12

10 http://www.theguardian.com/politics/ng-interactive/2014/sep/18/-sp-scottish-independence-referendum-results-in-full [Stand: 22.11. 2014]. 11 https://www.gov.uk/government/news/scottish-independence-referendum-statement-by-the-prime-minister.de [Stand: 22.11.2014]. 12 http://www.london.diplo.de/Vertretung/london/en/__pr/Latest__News/09/Steinmeier-Indyref.html [Stand:21.10.2014].

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DavidCamerons Genugtuung dürfteandiesem Freitag- nachmittag noch größer gewordensein.AmNachmittag trat Schottlands FirstMinisterAlex Salmond in seinem AmtssitzBute HouseamEdinburgher GeorgeSquare überrsachendund unerwartet vor die Kamerasund Mikro- fone dermeist schottischen Medien: Er übernahmdie Ver- antwortung für die Niederlage undverkündetezum No- vember2014 seinen Rücktritt als schottischer Regierungs- chef.13 Es gibtbis heute keinenZweifel. Der Schock über die deutliche Referendumsniederlage saßund sitzt bei „YES“– immer noch –sehr tief. Diesogenannte „schwei- gende Mehrheit“ der „NO“-WählerinSchottland feierte zwar am Wahlmorgen zuerstüberschwänglich, aber an- Alistair Darlingvon der „NO-Campagne“ sonstenherrscht dort wieschoninden Wochen vorher mehr Foto: ullsteinbild -Reuters /Fotograf:Dylan Martinez oderweniger genießerischeRuhe. Manhattedas gesetzte Ziel erreicht. Schottlandblieb in der Union des United Für die „No Thanks“-Parteien hingegen scheint derRefe- Kingdoms.Das wars dann! rendum-Sieg zu einempolitischen Desaster zu werden.Im Dasgilt auch fürdie deutschenMedien,die recht- ehemaligen Labourland Schottland –das schottischeParla- zeitigzum Wochenendewiederaus Edinburgh und Schott- ment wurde maßgeblichdurch die Labourpartydurchge- land verschwandenund seither Schottland wieder mehr als setzt und installiert–sind alleine in Glasgowmehrals 10.000 Reise-und Tourismusland sehen undendlich wiedergerne Mitgliederaus derPartei ausgetreten.Zuletzttrat dann auch überenglische bzw.Londoner Ereignisseberichten.Schott- nochdie bisherige Scottish Labour Parteiführerinzurück. land istnicht oderkaum mehrauf der Medienagenda. Siewarf derbritischen (!) Labour Partei vor, siehabeden Sie alle wären sehr überrascht, wenn sieaktuell in Kontakt zu Schottland komplett verloren und verstehedie Schottland unterwegswären. Sie müssten sich dann alle die Entwicklung in Schottland nicht mehr.Man könne, so Jo- Frage stellen: Wars das wirklich mitSchottlandund derUn- hannLamont, die schottischeParteirichtung nicht mehr in abhängigkeit? Die klareAntwort: Nichts wäreaus heutiger London-Westminsterbestimmen.ScotLabour müsse allei- Sichtfalscher! ne in Schottland diese Richtung entscheidenkönnen, man In Schottland hat seit dem Wochenende nach dem fühle sich vonLondon alleine verlassen. „NoThanks“ zu ReferendumimSeptember 2014 einevollkommenuner- London Labour und „YES“ zurUnabhängigkeit derschot- wartete und unglaubliche neue Bewegungeingesetzt,die tischen Labour Partei,lauteteausgerechnetdie Forderung beiden im Mai 2015 anstehenden britischen Unterhaus- derjenigen Politikerin, die sich vor dem Referendum für ei- wahlensogardas politische Gleichgewicht in Großbritan- ne Union Schottlands mit dem UK eingesetzthatteund vie- nienganzneu beeinflussen könnte. le Labour Wählervor alleminGlasgowdadurch aufge- Die Zahlendieser neuenUnabhängigkeitsbewe- brachtund zumAustritt gebrachthatte, alssie ArminArm gung sprechenfür sich: Seit dem 19.Oktober 2014, demTag mit den Konservativen,den Tories, vorEinkaufszentren bei nach dem Referendum,sind mehr als 60.000 Menschen neu „No Thanks“-Wahlkundgebungen zu sehen war. in die Scottish National Party eingetreten. Innerhalbweni- Einwenig schottischeund englischePolitikge- ger Wochen stieg die SNP-Mitgliederzahl von rund 22.000 schichte.Die Labour-/sozialdemokratischen UK-Premier- auf zuletzt nahezu 86.000! Dieschottischen Grünenver- ministerTony Blair, Gordon Brown und Ex-Nato-Gene- zeichneten einen Zuwachs von mehrals 7.000neuen Mit- ralsekretär Lord GeorgeRobertsonsind/waren alleMit- gliedern undkommen jetztauf mehr als 9.000Parteimit- glieder der schottischenLabourpartei.GeradeGordon glieder. Brown hatte sich zuletztmassivund überdeutlichinden Re- Die Scottish National Partyist mitdiesemnach wie ferendumskampf eingebracht. vor anhaltendenMitgliederzuwachs zur drittgrößtenPar- Die Wahlvoraussagen für Schottland für die Un- teiimVereinigtenKönigreichgeworden,weit vorden bri- terhauswahlinLondon im Mai 2015 spiegelndie Situation tischen Liberaldemokraten (44.000 Mitglieder).Anfang in Schottland derzeit klar und deutlichwider.Würde in Oktober 2014 hat sich gar eineneue Internetinitiativege- Schottland in diesen Wochen fürdas Unterhausabge- gründet.Ihr Name ist Programm: „100.000 for SNP“. stimmt, käme die ScottishNationalParty aufnahezu 60 Ab-

13 Vgl. http://www.bbc.com/news/uk-scotland-29284169 [Stand: 22.11.2014].

Einsichten und Perspektiven 4|14 293 „United we stand, divided we fall.“ geordnete. Bislang hat sie im Unterhaus sechs MPs.Die In deraktuellenDiskussion spielt „TheVow“ zunehmend KonservativePartei würde ihren einzigen MP in einem eine entscheidende Rolle.Umden Schottennach dem schottischen Wahlkreis verlieren. Promintente Labour- „NO“-Vote mehrMachtfür dasschottischeParlamentzu Unterhausabgeordnete wieGordon Brown oder „No übertragen,hattePremierCameronamTag nach demRefe- Thanks“-Campaign-AnführerAlistair Darling sowie viele rendum denschottischen Lord Smith of Kelvin gebeten,ei- andere prominente Labourpolitiker würden ihreschotti- ne neue Komisssion anzuführen, die die versprochenen schen Sitze verlieren. Derzeitkönnen auchdie schottischen neuenMachtverhältnisse festlegenund klären soll.Inder Grünenmit Sitzen im House of Commonsrechnen. „Smith Commission“sitzen Vertreter allerschottischen Par- Wären in diesen Wochen Wahlen zumschottischen teien. JederSchotte hatte die Möglichkeit seine Vorstellun- Parlament (siestehen2016 an),würde die SNP ihreabsolu- gen perInterneteintrag mitzuteilen. In dennächsten Wo- te Mehrheitmit zwischenfünf und zehn zusätzlichen Ab- chen will Lord Smith nach eigenen Angaben versuchen,sehr geordnetennoch ausbauen. Die Grünensteigernnach allen detailliert die Bereichefestzulegen,indenen dasschottische aktuellenUmfragenihre Sitzevon zweiauf zuletzt15, die ParlamentneueMachterhalten soll, also nochmehrMacht „No Thanks“-Parteien,allen voran Labour,sacken deutlich vonLondon aufEdinburgh übertragen wird.14 und nahezu abstrafendab. VieleSchottenzweifeln allerdingszunehmend da- DieseEntwicklung scheint sichinLondonerpoli- ran,obdas DIE Erfüllung des „Vow“,des Versprechens, tischen Kreisen erst ganz langsam herumzusprechen.Wenn seinkannund wird. Immermehrsehen die Smith-Kom- es dennsokommenwürde,wie alle unabhängigenUmfra- mission alsLondonerMachtinstrument, um die Schotten gender verschiedenen Umfrageunternehmen es aktuellaus- und ihreVorstellungen in Schach zu haltenund so beiden sagen, könnten Konservative oder Labour nur dann eine anstehendenUnterhauswahlen2015 die bisherigen Macht- Regierungbilden, wenn sie mitder Scottish NationalParty verhältnissebeizubehalten. eineKoalition bildeten. Für die Politik im ScottishParliament istbereitsei- Da Konservativeund SNPeher wie derTeufel und ne neue Weiche gestellt. Am 24. September kündigte Nico- dasWeihwasser zueinander stehen, geht das große Zittern la Sturgeon, MemberofScottishParliament MSP,aus Glas- eher in derLondoner Labour Parteizentrale um. Da weder gowan, siewerdeals bisherige stellvertretende Minister- David Cameron noch Ed Milliband mit der anti-europäi- präsidentin Schottlands für die Nachfolgevon Alex schenUKIPPartei von Nigel Farrage koalieren wollen, die Salmond alszukünftigeFirst Ministerinkandidieren.Inih- in denUmfragen derzeitauf 15–17Prozentkommt, wäh- rerGlasgowerKandidatenredeließsie keinenZweifelda- rend Labour undConservatives wechselweisebei 38–40 ran,wosie in Zukunft die Schwerpunkte ihrer Arbeitsieht: Prozentvorne liegen, wäredie SNPinLondon plötzlichein „IfIamelected to lead, Ipledgetoday thatthe SNP gesuchterKoalitionspartner –am19. September Referen- andthe Scottish Government will be full, active,genuine dumsverlierer,acht Monate später vielleichtentscheidend andconstructive participants in thatprocessofchange, whe- beider RegierungsbildunginLondon! rever it happens-in Holyrood,inmeeting roomsand, most Es könnte für die Schotten sogar nochentschei- importantlyofall, in discussions across Scotland. There will dender unddamitschöner werden. In vielen„Ja“-Unter- be no sitting on thesidelines. Butlet mebeequally clear what stützerorganisationen undauch in der Führung derScottish Ibelieve Scotlandexpects of that process inreturn. The deal NationalParty wird einefür die britische Politik ganz neue on more powers must be onethatmaximises devolutionin Ideezunehmend positiv diskutiert. Beiden Unterhaus- substancenot just in rhetoric. That is whatIbelieve the ma- Wahlen im Mai2014 könnte schottlandweit zumersten Mal jority of people of this countrynow want.“15 eine so genannte „Ja“-Bewegung („YES“-Movement)an- Am 14. November 2014 wurde NicolaSturgeon treten.Unterdiesem Dachkönnten sich–so die Diskussi- von den Delegierten desSNP Parteitages in Perth perdon- on –alle die Unabhängigkeit Schottlands befürwortende nernderAkklamation und mit standing ovations zuroffi- schottischen Parteien undmöglichst viele Unabhängig- ziellen SNP-Kandidatin für das Amt des FirstMinistersge- keitsbefürworter aus möglichst vielen „Ja“-Bewegungen wählt. Am 19.11. 2014 wurde sievon derSNP-Mehrheitim vereinigen. schottischen Parlamentzur neuenschottischen Minister- Mitdieser neuen Entwicklunginder schottischen Politik- präsidentin gewählt. In einemTVInterviewmit BBC szene stellt sich immer mehrauch die Frage,was diese für Breakfastund am Ende ihrer Wahlredeals neue Parteifüh- die innerschottische Zukunft bedeuten kann und wird. rerin machte Ms Sturgeon noch einmalein unmissverständ-

14 Vgl. https://www.smith-commission.scot/ [Stand:23.11.2014]. 15 http://www.theguardian.com/politics/2014/oct/29/nicola-sturgeon-scottish-veto-eu-referendum [Stand 23.11.2014].

294 Einsichten und Perspektiven 4|14 „United we stand, divided we fall.“ lichesZieldeutlich: „I hope Scotland will becomeaninde- ropaparlamentarier Hugh Kerr bestätigtfühlen. Er forder- pendent countryinthe future despite a'No' result in Sep- te beim SNP-ParteitaginPerth einsofortiges neuesUnab- tember'sreferendum.“16 hängigkeitsreferendum in Schottland, sollte dasUKin sei- Ausgerechnet dieimUnited Kingdom mehr als ner Mehrheit im Jahr 2016 für einenEU-Austritt stimmen. heiß diskutierte Europafragekönnte dieses neue Referen- Zufällig wäredas auch dasJahr, in deminSchottland das dum sehr schnell möglich machen. Seitdem DavidCameron neue Parlamentgewählt wird. verkündet hat,nach einem 2015 Unterhaus-Wahlsiegder Wiepasst diese vonSchottland ausgehende neue Konservativen ein Referendumüber die zukünftigeEU- Bewegung in Richtung Unabhängigkeit nun zu Europa und Mitgliedschaft abzuhaltenund als er dann auchnochver- auch zu Deutschland? Wasbedeutet sie? In Katalonienwie kündete, das UK werde nach seinem Wahlsiegdie Europäi- in Schottland wird auchnach dendortigen Umfragen/Re- sche Konvention für Menschenrechte in Straßburgverlas- ferendenmehrals deutlich, dass offensichtlichinder EU,in sen,die Europäischen Menschenrechtsgerichtsurteile aus ganzEuropa (im Europa der47–Europarat –und der56– Straßburg nicht mehr bindend anzuerkennen und damit aus OSZE) derUnabhängigkeitswille vieler Regionenimmer dem Europarat austreten,hat er der Scottish NationalPar- intensiverwirdund wohl kaum nochaufzuhaltenist.Eige- tyund derUnabhängigkeitsbewegung ganz neue Munition ne Sprache, eigeneIdentitätund vorallemeine ganz andere geliefert. Schottland, daran hat die schottische Regierung Identitätals die jeweiligen Nationalstaaten,zudenen diese auch währendder Referendumskampagne nieeinenZwei- Regionengehören,werden denUnabhängigkeitswillen felgelassen,WILL in der EU und in Europa bleiben. Mit auch in anderen Staaten neuentstehenlassen.Die Färoer In- dem Austritt aus dem Europarat und der Menschenrechts- seln und Grönland, die ja mehr oder wenigerschon umfas- konvention geht Cameron ans „schottische Eingemachte“. sendautonom sind, wollennach wie vorrausaus Däne- Die Verfassungfür das Scottish Parliament legteindeutig mark.Nochist es im spanisch-französischen Baskenland fest,dass Schottland denEntscheidungen des Gerichts in nochsehrvielruhiger alsinKatalonien. AuchinKorsika StraßburgFolge leisten wird und die Europäische Men- oderinder Bretagneist derzeitvon Unabhängigkeit keine schenrechtskonvention eineganz wesentlicheGrundlage Rede. Dochall daskönnte schon sehrbaldwieder in der po- desParlaments ist.17 Londongeht erneutauf Konfronta- litischen Diskussion um Autonomie und Unabhängigkeit tionskurszuEdinburgh. Vondort gibt es auchschon ein- wiederauftauchen. ZurZeitplant die französischeRegie- deutigeReaktionen. rung in Pariseine komplette Neugliederung ihrer Départ- Die neue SNP-Parteiführerinund schottische Mi- ments. So soll zumBeispieldas Elsass mit Lothringenund nisterpräsidentin Nicola Sturgeon hat in mehreren Reden derChampagnezueinemneuen Départmentwerden.Die währendihrerderzeitigen Transparenz-Tourdurch Schott- elsässische Hauptstadt Straßburghat bereits eine Großde- land –zwölf Live-Auftritte in komplettausverkauftenHal- monstration mit rund 10.000 Menschen fürden Erhaltder len, darunterder 12.000 Hydra ArenainGlasgow –und in eigenständigen Region Elsass erlebt. ihrer Abschlussrede vor dem SNP-Parteitag in Perthange- In ItalienherrschtderzeitimVergleich dazu noch kündigt, dasSchottland bei einem EU-Austrittsreferendum relativeRuhe.Südtirol lebt offensichtlichganzgut mit der getrennt von England abstimmen wolle, damit derWille derzeitigenSituation, in anderen italienischen Regionen Schottlands proEuropa deutlichwäre. Alle Umfragen in brodelt derUnabhängigkeitsvulkannur leicht. Die Situati- Schottland bestätigendas deutlichePro-Europa-Feeling on in Osteuropa liefert aktuell ein hohes Maßan„Unab- und Verhalten derSchotten! hängigkeits-Sprengstoff“. Derdeutsche Politikwissenschaftler Roland Sturm Die neue Regierung in Belgien scheint für denMo- von der Universität Erlangen-Nürnberg hat beieinerTa- ment die Auseinandersetzungenzwischen Flamen, Wallo- gung derLandeszentralefür politische Bildung Baden- nen und –nicht zu vergessen –den Deutschsprachigen in WürttemberginBad Urach eineVoraussagefür die nächs- Belgien einwenig beruhigtzuhaben. tenJahre gewagt. Er siehtdurchdie EuropafrageimUK ei- Vordiesem Hintergrund dürfenwir Deutsche uns ne Verfassungskrise auf das United Kingdom zukommen, sehr glücklich schätzen, dasstrotz einer derzeit angedach- nicht zuletzt durch Schottlands sehr andere Europaansich- tenrigidenLänder-Neugliederung sich bishernochkeine ten. Prof. Sturm darf sich durch den schottischen SNP-Eu- separatistischen Bewegungen manifestiert haben. ❚

16 http://www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-29336482[Stand23.11.2014]. 17 Vgl. http://www.scottish.parliament.uk/ [Stand:21.11.2014].

Einsichten und Perspektiven 4|14 295 Neuigkeiten aus der Landeszentrale

Neuigkeiten aus der Landeszentrale Vorschau 2015

Die folgende Übersicht zeigt eine Auswahl der geplanten Veranstaltungen und Publikationen der Landeszentrale (Stand: November 2014). Die Ankündigungen weiterer Projekte finden Sie zu gegebener Zeit unter www.politische-bildung-bayern.de.

GeplanteVeranstaltungen:

(Arbeits-)Titel Veranstaltungsdatum und -ort

Parlamentsseminare: 123. Parlamentsseminar 1/15 Di. 10.2. bis Do., 12.2.2015 124. Parlamentsseminar 2/15 Di. 9.6. bis Do., 11.6.2015 125. Parlamentsseminar 3/15 Di. 27.10. bis Do., 29.10.2015 LernortStaatsregierung ganzjährig Zeitzeugengespräche Mauerfall ganzjährig Workshop &Podiumsgesprächzur Flüchtlingsproblematik ganzjährig in Europa Kooperationen im Rahmen der bayerisch-tschechischen ganzjährig Bildungszusammenarbeit (z.B. Projekt „Grenzge- schichten“) Zeitzeugengespräche mit Sinti und Roma –mit Begleitung ganzjährig durchStudierende Fortbildung der Regionalbeauftragten für Demokratie und ganzjährig Toleranz Argumentationstraining gegen Politikverdrossenheit ganzjährig Claude Lanzmann „Der Letzte der Ungerechten“ –Filmprä- 18.Januar 2015 sentation und Diskussion „Perspektivwechsel“ –eine Kooperation mit Gemeinsam ganzjährig Mensche.V. Musik ausTheresienstadt April 2015 70 Jahre Kriegsende -Gedenkfeier in Würzburg Mai 2015

296 Einsichten und Perspektiven 4|14 Neuigkeiten aus der Landeszentrale

(Arbeits-)Titel Veranstaltungsdatum und -ort

Gedenkstättenpädagogisches Seminar für Förderschul- Mai 2015 referendare Der Große Frieden? Juni 2015,Ingolstadt Der Wiener Kongress und die Europäische Ordnung Fragen an Europa: Entfremdet vereint? Juni 2015,Fraueninsel Das Vereinigte Königreichund Europa Bundesrat, Bundestag und Föderalismus im parlamentari- Mo. 12.10. –Fr. 16.10.2015,Berlin schen System der Bundesrepublik Deutschland Umweltbildung konkret –aktuelle Fragen zur Umweltbil- Oktober 2015 dung im Spannungsfeld zwischen Politik und Schulalltag (Fachtagung für Umweltfachberater) Fachgespräch–Rechtsextremismus reloaded (in Koopera- Oktober/November 2015 tion mit dem Bayerischen Bündnis fürToleranz) Fachgesprächzur Kooperation mit den Gedenkstätten und Oktober/November 2015 Dokumentationszentren –Strukturen und Reformen GeplantePublikationen:

Titel Deutschland und die böhmischen Länder Parteien in Bayern nachLandtags- und Europawahl 2013 Russlands Außen- und Energiepolitik Unsere Soziale Marktwirtschaft Geschichte des modernen Bayern Der Nah-Ost-Konflikt MedienlandschaftDeutschland Deutschland und der Vatikan Das Bild der Gesellschaft Ehrenamt HandbuchBayern in Europa 4Hefte „Einsichten und Perspektiven“ 3Themenhefte demokratie.elementar fußball.elementar Handreichung zumThema Planspiele im Politikunterricht Wandzeitungen zu Gesellschaft&Politik

Einsichten und Perspektiven 4|14 297 Neue Publikationen

Neue Publikationen der Landeszentrale

achtenden Änderungen im seinfür Menschen mit Be- tion; auch beiProtestbe- Alltagund in denwirt- hinderung lebbarsein wegungen wieOccupy schaftlichen Verhältnissen. kann. Um Wut, um Ver- stehtsie mit Symbolenund Und er wagteinenAus- zweiflung und um die gro- AktionenPate. Wasist ei- blickinder Frage einer ße Freude überwinzige gentlich eine Revolution? möglichenWiedervereini- Erfolgegehtesindiesen Welche Revolutionengab gungmit Südkorea. schonungslos ehrlichen es und gibt es? Waswaren Porträts, die durch die Ex- ihreZiele,und wie haben pertenstimmenaus den siegeendet? Washaben einzelnenLebensbereichen heutigeund frühere Revo- ergänzt werden.Sie alle lutionengemeinsam und zeigen uns,woran die Pra- wastrennt sie? Wieso gibt xisder Inklusion scheitert es eine digitale odersexuel- „Nordkorea. und wie sieimKleinenge- le Revolution? Innenansichten lingt. Dafür brauchtes DasLesebuchversammelt einestotalen nicht nur denMut derBe- zurAntwortauf diese Fra- Staates“ troffenen, sondern die Un- gen zahlreicheTextevon terstützung allerBeteilig- Autorinnenund Autoren, ten. Minka Wolters Buch die vonden ganzunter- Nordkorea undseinedik- enthält zahlreiche Impulse, schiedlichenUmstürzen tatorischen Machthaber wie dieses Zusammenspiel der Verhältnisse erzählen, aus der Kim-Familie wer- „Besonders nor- funktionierenkann. die das20. und 21. Jahr- den gefürchtet und ver- mal. WieInklusion hundert prägten.Ein Lese- lacht. Gefürchtet, weil das gelebtwerden buchimbesten Sinne:mit Regime mit Atomkrieg kann“ historischenO-Tönen, zur droht und die Bevölkerung angenehmen Lektüre, zur in einem der letzten staats- historischen Information ozialistischen Systeme der „Besonders normal“ und zumbesseren Ver- Erdeunterjocht. Verlacht, schlägt eineBrückezwi- ständnis derGegenwart. weil aufwestlicheBetrach- schen den aktuellenund tervor allem die Selbstdar- gesellschaftspolitischen In- stellung kurios wirkt. Aber klusionsdebatten und der daswirddem Land kaum Frage nach derpraktischen gerecht. Rüdiger Frank, Umsetzung.Minka Wol- einer der besten Kenner tershat vieleBetroffene Nordkoreas, der regelmä- undMenschen ausihrem ßigdorthin reist, versucht Umfeldintensiv begleitet: „Revolutionen. in diesemBucheine Annä- Sie erzählen von derEnt- Einhistorisches herung an das abgeschotte- scheidung fürein behin- Lesebuch“ te Land, aus dem nur we- dertes Kind währendder nig verlässliche Nachrich- Schwangerschaft,vom In- ten dringen. Aus seiner klusionsalltagimKinder- Die Revolution istzurück reichenErfahrung heraus garten,inder Schule,an in derWeltgeschichte: erklärteerGeschichteund der Universitätund am Ar- aufdem Maidan-,dem Selbstverständnis, die beitsplatz.Und sieberich- Taksim- oderdem Tahir- Machtstrukturenund die ten,wie eine Partnerschaft, platz,inFormder Rosen-, seit einigerZeit zu beob- ein selbstbestimmtesDa- Safran-oderTulpenrevolu-

298 Einsichten und Perspektiven 4|14 Neue Publikationen

„Jahrhundert- aufgabeEnergie- wende. EinHandbuch“

Die Energiewende stößt den größten technologi- schen undökonomischen langen Auseinanderset- „Europlakat – zunächst für sich und ist Veränderungsprozess der zung, ob und wie die Ener- EU-Politik ver- zugleich Teil einesGe- nächsten Jahrzehnte an. Es giewende realisiert werden stehen“ samtüberblicks.Die Ge- gehtumvielGeld –für die soll. Ekardts Buchist die setzgebung der Europäi- Industrie,aberauch für die ideale Navigationshilfe schenUnion kann anhand Bürger, und in Form von durch dieVielfalt der Mei- DievierteiligeWandzei- derPlakate und desimbei- Stromtrassen, Biogasanla- nungenund Informatio- tung „Europlakat–EU- gefügten Glossar skizzier- gen, Windrädern oder nen. Er erklärtund disku- Politik verstehen“wurde ten Beispiels erläutert wer- Pumpspeicherwerken tiert dietechnischen vonder Bayerischen Lan- den. rückt uns die Energiewen- Grundlagen,die rechtli- deszentrale für politische de auf die Pelle.Soviel Zu- chenund politischenRah- Bildungsarbeitund der stimmung die Energiewen- menbedingungen,aber Europäischen Akademie de erfährt, so vielKritik auch diemöglichenund Bayern speziellfür bayeri- wirdihr zuteil. Die ver- notwendigen Verhaltensän- scheMittelschulenkonzi- schiedensten Szenarien, derungenimAlltagdes piert.Sie vermitteltAuf- Forderungen undVor- Einzelnen. Das Handbuch bau, Aufgaben und Akteu- schläge prallenaufeinan- für alle, diesich mit dem re dervierwichtigsten der.Klarist nur: Wirste- Thema beschäftigenmüs- politischen Institutionen hen erst am Anfang einer sen undwollen, aberkeine derEuropäischen Union. Fachleutesind. Dabeisteht jedesPlakat

Einsichten und Perspektiven 4|14 299 Eine normale Republik? DerNeubeginn in Europa Der SED Staat 409 Seiten, München 152 Seiten, München 1134 Seiten, München

Stasikinder Besessen nachFreiheit Der Sound des Untergangs 318 Seiten, Berlin 209 Seiten, München Tonmitschnitte aus den letz- ten Sitzungen des SED Zen- tralkomitees

Diese undanderePublikationenkönnen Sie bei derBayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeitbeziehen. Praterinsel 2, 80538 München,Fax: 089 -2186-2180, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de