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SWR2 Glauben „HIER STEHE ICH“ MARTIN ÖKUMENISCH BETRACHTET VON HOLGER GOHLA

SENDUNG 26.10.2014 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft

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GBLU 01 (0:38) – Lutherstube „Das ist quasi das historische Herzstück der Wartburg, das ist die Lutherstube, der Raum, in dem er am 4. Mai 1521 hier ankam und dann eben zehn Monate in unglaublich fleißiger Art in freiwilliger Schutzhaft verbrachte. Er hat das erste halbe Jahr für 13 theologische Schriften verwandt, für Modellpredigten, ist zweimal von hier nach geritten, um die Leute dort zu beruhigen, die inzwischen die Kirchen anzündeten, also ihn falsch verstanden hatten. Und dann hat er sein Griechisch aufpoliert und am 4. Dezember, also bei winterlichen Temperaturen, hat er dann hier in zehn Wochen das Neue Testament übersetzt.“ Bei dieser Mammutaufgabe fasst nicht weniger als 18 Dialekte zusammen, erläutert Hendrikje Döbert. Sie führt seit 37 Jahren Gäste durch die Wartburg bei Eisenach. GBLU 02 (0:26) – Bibelübersetzung „Da entstand in zehn Wochen a) unsere Schriftsprache, durch die wir laut Goethe erst zu einem Volk werden konnten, und b) gab es diese hervorragende Testamentsübersetzung. Zum ersten Mal war die direkte Verbindung gegeben zwischen den Gläubigen und dem Wort Gottes. Das war, salopp gesagt, der Startschuss für die dann einsetzende der katholischen Kirche und die Existenz der evangelischen.“ Wenige Monate zuvor weigert sich Martin Luther auf dem Reichstag in Worms, seine Kritik an den Missständen der Kirche damals zurückzunehmen. Vor allem der übliche Ablasshandel ist dem streitbaren Theologen ein Dorn im Auge. Für ihn sind das Seelenheil und damit die Rechtfertigung vor Gott weder käuflich noch durch gute Werke zu erwerben. Der mächtige Kurfürst Friedrich der Weise lässt Martin Luther nach Eisenach auf die Wartburg bringen. Dort lebt der Reformator zehn Monate inkognito als Junker Jörg. Aber nicht nur auf der Wartburg lassen sich Luthers Spuren noch heute verfolgen. Pünktlich zum 500. Jahrestag der Reformation am 31. Oktober 2017 werden sein Geburts- und Sterbehaus in , das Elternhaus in Mansfeld oder das in Wittenberg zu zeitgemäßen Museen ausgebaut.

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In Mansfeld etwa präsentiert die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt auch Kinderspielzeug. Es wurde bei Ausgrabungen beim Elternhaus gefunden. GBLU 03 (0:23) – Mansfeld Kinderspielzeug „Man hat zum Beispiel Ton genommen und hat kleine Kügelchen gemacht und diese ins Feuer geschmissen. Das können auch die Kinder getan haben. Und somit hatten sie Murmeln für sich bereitet. Und man steckte ein Messer unweit von sich entfernt in den Boden und versuchte nun, mit den Murmeln so nah wie möglich an das Messer heranzukommen oder sogar den anderen, der im Wege war, abzuschießen.“ Katrin Rühlemann präsentiert Besuchern auch Schmuck, der wohl aus dem väterlichen Hause stammt. Oder sie veranschaulicht Kindern, warum Martin Luther sich nicht gerne an seine Schulzeit erinnerte. GBLU 04 (0:35) – Mansfeld Schule „Es gab ja keine Tafeln, an denen der Lehrer etwas dranschrieb, es musste auswendig gelernt werden. Und sie waren ja dann auch sehr streng. Es gab Hiebe, wenn irgendwie ein Wort falsch dekliniert wurde. Oder selbst Luther hatte mal diese Eselsmütze – das ja natürlich auch nicht gerade schön ist vor den Mitschülern, da wird man ja auch gehänselt – ja aufgesetzt bekommen. Und das wollte Luther später abschaffen, denn er hat ja gesagt, jedes Kind, ob Junge oder Mädchen, soll in die Schule gehen, ob arm oder reich. Also er wusste ja, dass Schule Bildung ist und Bildung sehr wichtig ist.“ Keine halbe Autostunde von Mansfeld entfernt werden in Luthers Geburtshaus in Eisleben die Hintergründe für sein späteres Wirken dargestellt. Christian Philipsen leitet als Experte für mittelalterliche Kirchengeschichte derzeit alle Museen und Sammlungen der Stiftung Luthergedenkstätten, die inzwischen mit ihren modernen Präsentationen und zeitgeschichtlichen Zeugnissen aufeinander abgestimmt sind. GBLU 05 (0:24) – Eisleben Geburtshaus „Hier in Luthers Geburtshaus geht es um Luthers Geburtsstadt, um Eisleben. Es geht um die Frage, in welche Zeit wurde Luther hineingeboren, um die politischen, die kirchlichen, die sozialen Verhältnisse dieser Zeit um 1500. Wir

3 gehen der Frage nach, wie Luther erzogen wurde. Also die Hintergründe für das spätere Reformwerk. Das wird hier behandelt.“ Dazu wird auch der häusliche Familienraum inszeniert: Großer Kachelofen, Kinderkrippe, Truhe, Holztisch mit Schemeln und einem Stuhl. GBLU 06 (0:39) – Eisleben Familienalltag „Wir haben hier ein Interieur des Spätmittelalters nachgestellt. Man muss sich klarmachen, die Familie war auf dem Weg, sie kam kurz vorher aus Thüringen an, und ist bereits nach wenigen Monaten weitergezogen nach Mansfeld, also eine ganz einfache Einrichtung, die man auf den Wagen packen kann, um weiterzuziehen. Jedes dieser Möbelstücke basiert auf einem historischen Vorbild aus der Zeit um 1500, ist mit historischen Techniken von einem Restaurator mit dem Handwerk der damaligen Zeit nachgebaut worden. Wir wollen hier eine Bühne bieten, wo man in die Zeit eintauchen kann. Man muss dazu wissen: Die Inszenierung von Luther gehört in diesem Haus dazu.“ Denn, so Christian Philipsen, diese Inszenierung begann bereits sehr früh. GBLU 07 (0:30) – Inszenierung Geburtshaus 1693 wird das Haus wiedereröffnet als barocker Repräsentationsbau, als ein öffentliches Denkmal mit einem neuen Grundriss. Alles, was vorher da war, ist durch das Feuer zerstört, trotzdem damals unsere Vorfahren definieren einen Raum als Geburtszimmer und zeigen später, das wissen wir aus Reisebeschreibungen, dort auch ein Bett, eine Wiege, in der Luther gelegen haben soll, ein Bett, in dem er geboren worden sein soll. Das heißt schon damals hat man versucht, den authentischen Ort zu inszenieren. Wenige hundert Meter weiter, gegenüber der evangelischen Kirche St. Andreas, steht auch Luthers Sterbehaus. Die Ausstellung thematisiert nicht nur, was der Reformator theologisch über den Tod dachte oder wie er unter dem frühen Tod seiner 13-jährigen Tochter Magdalena litt. Sie präsentiert auch ein wichtiges Objekt im historisch nachgebildeten Sterbezimmer. GBLU 08 (0:27) – Luthers Bahrtuch Ein zentrales Objekt im Zentrum dieses Raumes ist authentisch, es ist das Allerheiligste oder die Reliquie des Hauses, das war der Anlass für die Gestaltung dieser Gedenkstätte, was wir hier sehen, in dieser großen Vitrine ist

4 das Bahrtuch von Luthers Sarg. Also das Tuch, mit dem sein Sarg auf der Reise von Eisleben nach Wittenberg bedeckt war und was dann in Wittenberg übergeben wurde. Am 18. Februar 1548 stirbt Martin Luther im Alter von 64 Jahren an einem Herzinfarkt. Das schreibt Sohn Paul als Arzt viele Jahre später in eine Bibel ein, deren Original ebenfalls in Eisleben zu sehen ist. Allerdings wird sein Leichnam in der Schlosskirche in Wittenberg begraben. An deren Tür soll der junge Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen angeschlagen haben. Historisch wahrscheinlicher ist, dass er an diesem Tag die Thesen zunächst verschiedenen wichtigen Personen zugeschickt hat. Geboren wird Martin Luther ebenfalls in Eisleben, am 10. November 1483. Im Alter von 22 Jahren tritt der älteste Sohn eines Bergmanns und Mitbesitzers mehrerer Gruben, in Erfurt ins Augustinerkloster ein. Zwei Jahre später wird er in der Klosterkirche zum Priester geweiht und hält dort auch seine erste Messe, die Primiz. GBLU 09 (0:31) – Augustinerkirche EF „Es gibt ein paar Elemente der Kirche, die noch aus der Erbauungszeit stammen und die damit auch Teile sind, die auch Martin Luther so hier im Kloster erlebt hat. Zum Beispiel ist dies der Altar, an dem Martin Luther am 2. Mai 1507 seine Primiz gefeiert hat. Natürlich gab es in dieser Zeit ein spätgotisches Altarbild hinten, aber es ist der Altartisch und auch der Eingang dann zur Sakristei.“ Augustiner-Pfarrerin Irene Mildenberger zeigt Gästen gerne auch das Dormitorium, den großen Schlafsaal der Mönche. In dessen Seitenwänden waren kleine Wohn- und Studierzellen eingebaut. GBLU 10 (0:43) – Lutherzelle in Erfurt „Schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wohl sind Menschen hierhergekommen auf den Spuren Martin Luthers und es wird erzählt, also er hatte nicht immer die gleiche Zelle, in der er wohnte. Aber die Tradition sagt, dass die letzte Zelle, die er im Kloster bewohnt habe, hier hinten an der Stelle sei. Es ist natürlich nicht mehr die originale Zelle, dieses obere Stockwerk ist im

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19. Jahrhundert abgebrannt nach einem Blitzschlag. Aber es ist der Ort, der schon eben seit dem späten 16. Jahrhundert gezeigt wird. Aus dem 17. Jahrhundert gibt es so etwas wie einen ersten Reiseführer, der diese Zelle beschreibt und alles, ja.“ Luthers zentrale Wirkungsstätte ist für viele Jahre Wittenberg, damals ein berühmter Universitätsstandort. Im so genannten Augusteum sind die Privaträume des Reformators noch heute teilweise im Original erhalten geblieben. Fasziniert führt Annett Schulz hindurch: BGLU 11 (1:03) – Lutherstube in Wittenberg (Schritte) „So, das ist also die Lutherstube. 1532 bekam Luther auch das Holz für die Einrichtung dieses Hauses geschenkt. Ein Raum, wenn man den betritt, an dem man sofort die Atmosphäre merkt. Man hat fast das Gefühl, der Luther wäre hier im Geiste noch anwesend. Also gerade in diesem Raum begegnet man ihm fast persönlich. Es war die gute Stube. Hier hat man sich tatsächlich versammelt, und auf diesen Bänken hat man gesessen, diskutiert, natürlich nicht nur über ernsthafte Themen. Denn das Schöne hier im Hause ist, man begegnet Luther nicht nur als dem Reformator, dem Bibelübersetzer, sondern als ganz normalen Menschen, als Freund, als Familienvater, als Verwandten, genauso hat er in diesem Raum gelebt. Und das spiegelt dieser Raum auch wieder. Also man hat hier gesessen, man hat getrunken, Luther selbst hat die Laute gespielt, das wissen wir heute. Er war auch einer der größten Liederdichter seiner Zeit. Einen Hund gab’s auch noch, einen Mischlingshund wahrscheinlich mit Namen Tölpel. Manchmal durfte sogar eine Frau, seine Frau an den Tischgesprächen teilnehmen.“ In Wittenberg wird derzeit groß gebaut und renoviert. Die Stadtkirche, in der Martin Luther predigte, ist bereits fast fertig. Allerdings fehlen der Gemeinde noch rund 300.000 EUR, um die Generalsanierung pünktlich zu beenden. Denn bereits zugesagte Fördergelder wurden reduziert. Für Gemeindepfarrer Johannes Block soll das Reformationsjubiläum 2017 GBLU 12 (0:22) – Stadtkirche Wittenberg „An erster Stelle Menschen, Bürger, Besucher(n) Grundinformationen geben: Was war Reformation, was hat Martin Luther eigentlich gesagt, geschrieben?

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Eine Art offenes Bildungsprogramm für tausende Mitbürger, aber auch für tausende von Besuchern. Also, lebendige reformatorische Gemeinde kennen lernen, das ist Stadtkirchengemeinde Wittenberg.“ Neben dem Taufbecken aus dem Jahr 1457, also noch vor der Entdeckung Amerikas, in dem auch Luthers Kinder getauft wurden, ist auch der Cranachaltar zu bewundern. GBLU 13 (0:25) – Stadtkirche Cranachaltar Das ist die Schatzkammer sozusagen der Wittenberg hier die Stadtkirche mit den Cranachwerken, vor allem der berühmte Reformationsaltar mit einem Bildprogramm darüber, was Reformation bedeutet. Wir sehen also in der Mitte die Abendmahlsszene, in der Predella unten, Altarsockel, eine Predigt- und Gottesdienstszene und rechts die Beichte und links die Taufe, also die Grundelemente evangelischer Kirche. Dabei stellt Lukas Cranach der Ältere Luther als Prediger auf der Kanzel dar. Unter den Zuhörern befindet sich dessen Frau Katharina von Bora. Luthers kongenialer Wegbegleiter in Wittenberg, Philipp Melanchthon, ist über den Tod Luthers tief bestürzt, wie Stefan Rhein, Vorstand und Direktor der Stiftung der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, beschreibt. GBLU 14 (0:21) – Vater der Reformation „Als Luther starb, hat Melanchthon tief ergriffen und betroffen von diesem Ereignis geschrieben: Wir haben unseren Vater verloren. Auch für das Teamwork der Reformation war Luther ganz ohne Zweifel der Primus inter Pares. Er war das Vorbild, er war der Mann, der die reformatorische Entdeckung hatte.“ Deshalb sei ein Reformationsjubiläum ohne Martin Luther 2017 undenkbar. Der evangelische Reformator könne noch heute Vorbild sein, auch in seinem privaten, familiären Leben. GBLU 15 (0:13) – Luther das Vorbild „Vorbild für Zivilcourage, Vorbild für Mut, allein sich auf sein Gewissen zu verlassen. Also sogar bei Jugendweihfeiern sind solche Botschaften, die von Luther kommen, immer noch ansprechend.“

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Stefan Rhein und sein Team sehen ihre Aufgabe neben Forschung und Ausstellungen auch darin, Luthers Person und seine Geschichte in Sachsen- Anhalt, aber auch in seiner unmittelbaren Heimat Eisleben und Mansfeld, als Standortfaktor zu etablieren. GBLU 16 (0:43) – Luthers Heimat „Das heißt für diesen Landstrich des Mansfelder Landes ist Luther wirklich eine Identitätsperson. Das hat touristische Aspekte, denn in Eisleben, aber jetzt auch in Mansfeld, ist natürlich unsere Aufgabe, möglichst viele Gruppen auch in diesen Landstrich zu bringen für Gastronomie, für Hotellerie, aber auch für den Einzelhandel. Das ist die eine Seite. Aber dieser Landstrich Mansfelder Land, der braucht auch ein geschichtliches Bewusstsein. Der braucht auch eine neue Identität. Und unter dem Stichwort Luthers Heimat versuchen wir, möglichst viele kirchliche und nichtkirchliche Akteure, Partner und Bürger zusammenzubringen, damit sie auch stolz sein können auf Ihre Heimat.“ Dabei soll Martin Luther beim anstehenden Jubiläum nicht erneut heroisiert werden. Vielmehr wollen evangelische und katholische Kirche dieses historische Datum 500 Jahre Reformation erstmals ökumenisch begehen. Doch im Vorfeld gibt es Streit. Beispielsweise fragen katholische Kirchenvertreter immer wieder, was da gefeiert werden soll, gar eine Kirchenspaltung? Bischof Gerhard Feige aus Magdeburg, Vorsitzender der Ökumene-Kommission der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, bringt wiederholt drei gemeinsame Ansätze ins Gespräch: GBLU 17 (1:18) – Katholischer Ansatz „Der eine ist: Wir haben in den letzten Jahrzehnten vieles erreicht. Wir sind uns dichter zueinander gerückt, wir verstehen uns besser. Wir erkennen das Wirken des Geistes auch gegenseitig in den anderen Kirchen auch an und diese Gemeinsamkeit im Glauben – uns verbindet mehr als uns trennt – das ist zum Beispiel ein Grund, sich zu freuen und zu feiern. Ein zweiter Grund ist: Worum ging es Luther damals? Wesentlich um den Bezug zu Christus. Und wenn das auch im Mittelpunkt einer solchen Feier stände, der Glaube, das Bekenntnis zu Christus und die Verkündigung dieses Glaubens, dann wäre das für uns ein zweiter wichtiger Punkt.

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Und ein dritter, den verbinde ich mit dem Begriff ‚ecclesia semper reformanda‘, die Kirche ist eine, die sich immer wieder erneuern muss. Das bringt die Reformation zum Ausdruck, das bringt das Zweite Vatikanische Konzil zum Ausdruck und das ist für uns eine Herausforderung für beide Kirchen, nicht irgendwie stehen zu bleiben, sich mit dem Status quo zu begnügen, sondern sich herausfordern zu lassen, nach einer größeren Einheit auch weiterhin konkret zu suchen.“ Der katholische Professor für Ökumene, Wolfgang Thönissen, leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts in Paderborn, nennt Martin Luther inzwischen bewusst einen katholischen Reformator: GBLU 18 (0:24) – Katholischer Reformator Der Titel ‚katholischer Reformator‘ heißt, der Reformator, also der durch den Bruch der Kirche groß geworden ist, der ihn vielleicht nicht provoziert hat, aber der mit ihm in Verbindung zu bringen ist. Dieser Reformator ist katholisch, das heißt er hat katholische Wurzeln und er hat auch katholisch gedacht. Das heißt für mich, beides zusammenzudenken, das Katholische und das eigentlich Reformatorische, das aus der Kirche herausgeführt hat.“ Mit dieser Spannung müsse sich auch seine katholische Kirche auseinandersetzen, meint Wolfgang Thönissen. Denn seiner Auffassung nach habe sie damals Fehler begangen: GBLU 19 (0:06) – Katholischer Fehler Wenn man das aus der heutigen ökumenischen Perspektive betrachtet, würde ich das so sagen: Ja, die Kirche hat einen Fehler gemacht. Weil sie Luthers theologische Anliegen damals nicht aufnimmt. In der Forschung bestreitet niemand heute Luthers katholische Prägung. Zu seiner Zeit ist die Kirche nicht allein handelnder Akteur. Auch viele Politiker greifen damals begierig den Gedanken der Reformation auf. Martin Luther spricht neben der Rechtfertigung vom allgemeinen Priestertum. Dadurch verliert der geistliche Stand seine bisherige herausragende Bedeutung. Volker Leppin, Professor für evangelische Kirchengeschichte in Tübingen. GBLU 20 (0:22) – Allgemeines Priestertum

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„Letztlich ist das, was sich mit dem Gedanken des allgemeinen Priestertums verbindet, ein Scharnier, an dem aus Theologie Geschichte geworden ist. Luther hat diesen Gedanken, es gibt keinen Unterschied zwischen Klerikern und Laien im Blick auf den Stand aus der Rechtfertigungslehre entwickelt und das wurde wiederum von städtischen Obrigkeiten, von Fürsten aufgegriffen, um Reformation durchzuführen.“ Schnell reklamieren die Anhänger der Reformation für sich politische Toleranz und damit verbunden Religionsfreiheit. Für Irene Dingel, geschäftsführende Direktorin des Leibnitz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, ist die Reformation eine notwendige Entwicklung. GBLU 21 (0:35) – Politische Toleranz „Das lässt sich sowohl in theologischer Hinsicht deutlich machen, aber lässt sich auch in Hinblick auf sonstige Entwicklungen, im Blick auf das Papsttum, im Blick auf die politischen Zusammenhänge jener Zeit deutlich machen. Wir können sehr schnell beobachten: Die reformatorisch Gesinnten fordern ein etwa auf dem Speyerer Reichstag 1529 mit ihrer Protestation, dass man ihnen ihre eigene Gesinnung zugesteht. Und das halte ich für einen enormen Fortschritt, dass man politische Funktionsträger darauf aufmerksam macht, dass Religion nicht etwas ist, was von politischer Seite her bestimmt werden kann, sondern dass Toleranz erfordert.“ Das anstehende Reformationsjubiläum und die Vorbereitungen dazu werden vom Staat finanziell und personell unterstützt. Für die Renovierung und den Ausbau der Luthergedenkstätten im Osten Deutschlands steuert selbst die Europäische Union Gelder aus dem Strukturfond bei. Astrid Mühlmann von der staatlichen Geschäftsstelle „Luther 2017“ in Wittenberg begründet das öffentliche Interesse am Thema Reformation über den wichtigen Wirtschaftsfaktor Tourismus hinaus. GBLU 22 (0:50) – Staatliches Interesse „Aber natürlich soll das Jubiläum genutzt werden, um die Bedeutung der Reformation losgelöst von den religiösen Aspekten auf die Gesellschaft einfach zu zeigen. Das 16. Jahrhundert war eine große Zeit des Umbruchs, in die auch die Reformation mit hineinwirkt, und die haben einen großen Einfluss

10 auch gehabt auf solche Dinge wie Politik, die Entwicklung der deutschen Sprache. Man muss sagen, ohne die Bibelübersetzung Martin Luthers hätte sich unsere deutsche Sprache so nicht entwickelt. Und was verbindet uns mehr als die Sprache, die wir gemeinsam sprechen. Wir wollen auch, dass die Menschen die Möglichkeit nutzen, Themen, die vor die Menschen vor 500 Jahren bewegt haben, die Luther, Melanchthon und die anderen Reformatoren bewegt haben, die aber eigentlich auch von großer Aktualität und Brisanz von uns heute sind, auch das sollte gezeigt werden.“ Dazu zählt für die stellvertretende Geschäftsführerin insbesondere auch GBLU 23 (0:32) – Aktuelle Relevanz „Die individuelle Freiheit. Wie weit darf ich eigentlich gehen, um meine eigenen Ansätze, meine Ideen, meinen Glauben auch durchzusetzen. Wie weit darf ich das von anderen verlangen, dasselbe zu glauben, mit welchen Mitteln darf ich das überhaupt machen? Natürlich sind die Mittel andere und die Worte, die wir wählen, sind vielleicht auch andere, aber die Grundsätze, die dahinter stecken, sind ja dieselben Fragen, die wir uns heute stellen. Nur weil etwas vor 500 Jahren relevant war, heißt es nicht, dass es für uns heute überholt ist.“ Luthers zentraler theologischer Ansatz, die Rechtfertigung allein aus Glauben, ist für Margot Käßmann, die Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Lutherjubiläum, immer noch sehr aktuell: GBLU 24 (0:27) – Käßmann aktuell „Die Idee von der Rechtfertigung allein aus Glauben, diese theologische Grundidee ‚Du bist frei von allem Leistungsdruck, weil Du sagen kannst, Dir ist Lebenssinn schon zugesagt‘, das ist ja das Entscheidende. Und ich denke, in unserer erfolgszentrierten Gesellschaft, bei der es immer um Erfolg, Geld, Schönheit geht, ist das auch heute eine befreiende Nachricht. Luther hat in seiner Zeit Gutenbergs Buchdruck, um seine Nachricht in die Welt zu bringen, wir müssen die Mittel unseres Jahrhunderts nehmen.“ Dazu gehört dann etwa auch ein LKW-Truck, der durch Europa rollt, um Ideen über die Reformation einzusammeln und als internationale Ausstellung

11 nach Wittenberg zu bringen. Denn gefeiert werden soll nicht nur in Deutschland. Der Lutherische Weltbund, kurz LWB, macht auch kräftig Werbung für das große Jubiläum. In Wittenberg lässt er seit fünf Jahren Bäume pflanzen im speziell angelegten Luthergarten. Die Reihen sind so angelegt, dass sie die so genannte Lutherrose nachzeichnen: In der Mitte eines Kreises befindet sich ein Kreuz, darum ranken sich fünf Blätter. Im Luthergarten sind von diesem Rund aus strahlenförmig verschiedenste Bäume angeordnet. Martin Luther wollte der Legende nach auch dann noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn die Welt einen Tag später untergehen sollte. Pastor Hans Wilhelm Kasch, Direktor des LWB- Zentrums in Wittenberg GBLU 25 (0:39) – Luthergarten Und so kam die Idee, dieses Lutherzitat als Folie zu nutzen, um hier in Wittenberg einen Garten zu pflanzen mit Bäumen von Kirchen aus aller Welt und gleichzeitig diese Kirchen zu bitten, auch zu Hause einen Baum zu pflanzen. Das ist sozusagen der zweite Teil des Projektes, um weltweit ein Netzwerk zu schaffen, dass die Bedeutung der Reformation für diese jeweiligen Kirchen auch nochmal unterstreicht. Den ersten Baum, eine Stadtlinde, pflanzte am 1. November 2009 die römisch-katholische Kirche. Kardinal Walter Kasper, damals der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, war in Wittenberg vor Ort. Auch die orthodoxe und die anglikanische Kirche, der reformierte Weltbund sowie der Weltrat der Mennoniten gehören zu den ersten ökumenischen Baumpaten im Wittenberger Luthergarten. Bis 2017 sollen an zwei Standorten insgesamt 500 Bäume gepflanzt sein als Zeichen ökumenischer Verbundenheit. Margot Käßmann, die Luther- Botschafterin der evangelischen Kirche, stellt noch einen anderen ökumenischen Aspekt in den Vordergrund: GBLU 26 (0:31) – Ökumenisches Fest „Feiern können wir sehr wohl mit den römischen Katholiken, dass wir hundert Jahre ökumenische Bewegung kennen. 1999 haben römische Katholiken und

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Lutheraner weltweit erklärt, so wie wir heute über Rechtfertigung aus Glauben sprechen, sind wir von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht mehr getroffen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.“ 500 Jahre Reformation haben nicht nur die kirchliche Landschaft in Deutschland verändert, sondern auch Europa und die Welt. Und dieser Veränderungsprozess hatte ebenso politische oder soziale Folgen. Der Beauftragte für Reformation und Ökumene der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Siegfried Kasparick in Wittenberg, sieht im Jubiläum die Chance einer gemeinsamen Neuentdeckung, auch für Nichtgläubige: GBLU 27 (0:25) – Neue Entdeckung „Das wissen die Leute gar nicht, wie sehr sie verbunden sind mit der Zeit der Reformation. Wenn Leute sagen, es ist gut, dass es die Kirchen gibt und dass sie nicht nur sagen, es ist schön, dass die große Welle vorbei ist. Und dass etwas von dem Impuls von Reformation, also was eigenes Denken angeht, was Gewissen angeht, was Bildung angeht, was Musik angeht, dass einige von diesen Impulsen weitergehen und Leute entdeckt haben, das ist etwas, was im Leben wirklich helfen kann.“ Auch wenn das Reformationsjubiläum in drei Jahren kein Lutherjubiläum sein soll, an seiner Person kommt niemand vorbei. Davon ist auch die Mainzer Expertin für abendländische Religionsgeschichte, Irene Dingel, überzeugt: GBLU 28 (0:40) – Identifikation mit Luther „Das Reformationsjubiläum, auf das wir zugehen, zeigt, dass Martin Luther immer noch eine große Identifikationsfigur für viele Menschen darstellt und zwar in ganz erheblich höherem Maße als wie das etwa bei Melanchthon oder Calvin der Fall ist. Das mag sicherlich auch damit zusammenhängen, dass er sehr volksnah geschrieben hat und dass man bis heute eben seine Schriften nach wie vor gern zusammenstellt und in der Öffentlichkeit publik macht. Ob das in jeder Weise historisch gerechtfertigt ist, ob man nicht auch einen Melanchthon oder einen Calvin oder einen Martin Bucer in den Vordergrund stellen müsste, ist eine andere Frage. Aber Tatsache ist, dass der Reformator Martin Luther eher wiedererkannt wird als all die anderen.“

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Weitere Infos: www.luther.de – Luther-Daten und Legenden www.luther2017.de – Lutherdekade und 500 Jahre Reformation www.martinluther.de – Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt

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