17.Juni1953Journalisten-Reader der bpb Geschichten aus der Geschichte

Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung

in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Geschichten aus der Geschichte

Inhaltsverzeichnis 02 Gedenkstätte Lindenstraße 54 22

Editorial 03 Berlin-Ost und –West: Berthold L. Flöper, bpb Schaufenster der Systeme im Kalten Krieg 24 Dr. Michael Lemke Redaktionen leisten politische Bildung 04 Thomas Krüger, Präsident bpb Aus den Arbeitsgruppen 26

Recherche-Fundgrube www.17juni53.de 06 Arbeitsgruppe 1 Der 17. Juni 1953 – Thema in Ost und West 26 Der 17. Juni 1953 im Geschichtsbild 08 Deutschlands gestern und heute Arbeitsgruppe 2 Prof. Dr. Christoph Kleßmann Die 50er Jahre in Ost und West 27

Der 17. Juni 1953 in der Erfahrung 12 Arbeitsgruppe 3 der Bevölkerung und der Machtelite Westintegration – Ostintegration 28 Dr. Stefan Wolle 50 Jahre Westintegration – Perspektiven 30 für das Verhältnis USA/Europa Peter Bender

Die Tage von Potsdam 33 im Urteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Impressum 35

Zeitzeugengespräch 15

Von der DDR-Planungskommission 16 zum ZDF-Magazin Fritz Schenk

Knapp am Todesurteil vorbei 17 Richard Baier

Zeitzeugen sind keine Augenzeugen 19 Dr. Alexander von Plato

02 Geschichten aus der Geschichte

Editorial 17. Juni 1953 – vor 50 Jahren blickte die Welt auf Deutschland: In der DDR vollzog sich der erste Massen- aufstand im Sowjetimperium. Ein Gedenktag mit politi- schen Implikationen, der nach Behandlung in den Medien drängt. Die einen sehen darin ein Schlüsselereignis der mühsamen Geburt unseres freiheitlichen Gemeinwesens – die anderen ein Datum, das politisch missbraucht wurde und die Gräben des Kalten Krieges offen hält.

Der Workshop in Potsdam wollte aber nicht nur diskutie- ren, was wir heute mit diesem Datum anfangen. Die Bun- deszentrale für politische Bildung hatte sich vorgenom- men, mit der Auseinandersetzung über dieses Schlüsselereignis den Blick auf die gesamten 50er Jahre zu lenken – als einer dramatischen Zeit des Wiederauf- baus, des kulturellen Wandels und der politischen Kon- frontation der feindlichen Blöcke, in der die beiden Staa- ten im geteilten Deutschland auf Gedeih und Verderb eingebunden waren.

Den Medien bietet sich in der Rückschau auf die politi- sche Bühne und den Alltag jener Zeit eine Fülle von The- men und Geschichten, die zu erzählen sich lohnt. Berthold L. Flöper, Journalistenprogramm der bpb

Dr. Hans-Hermann Hertle Zentrum für Zeithistorische Forschung

03 Geschichten aus der Geschichte

Thomas Krüger Redaktionen leisten politische Bildung

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bil- Der 2002 in zweiter Auflage erschienene Band dung/bpb, Thomas Krüger, erinnerte an den hohen Geschichte der Reihe „Themen und Materialien für Jour- Stellenwert der Geschichte im Journalistenpro- nalisten“ und die Modellseminare haben die Vielfalt der gramm seines Hauses. Ein kollektives Bild der Ver- thematischen Möglichkeiten aufgezeigt und mit prakti- gangenheit entsteht unter vielfältigen Einflüssen: schen Informationen bei der redaktionellen Arbeit gehol- Geschichtswissenschaft, Schule, Erwachsenenbil- fen. Krüger erinnerte an den Weg dorthin, der inzwi- dung wirken daran mit. Aber ohne die Medien geht schen selbst Geschichte ist: Auf dem historischen das alles nicht. Deshalb wird die Bundeszentrale für Hintergrund der re-education stand die Arbeit der bpb in politische Bildung sie bei ihrem Bemühen um den 50er Jahren im Zeichen der Auseinandersetzung mit lebendige Darstellung von Geschichten aus der dem Kommunismus. In dem Maße, wie sie sich aus den Geschichte weiterhin nach Kräften fördern und Niederungen der Ideologie befreite, habe die Arbeit der unterstützen. Bundeszentrale eine starke Differenzierung „Heute, mehr als ein Jahrzehnt erlebt und vielfältige Dimensionen entwickelt. nach der Wiedervereinigung Deutschlands, ist es uns wieder Ein kollektives Bild der Vergangenheit entsteht selbstverständlich: Beschäftigung unter vielfältigen Einflüssen: Geschichtswissen- mit der Vergangenheit hat mit schaft, Schule, Erwachsenenbildung wirken Lebenssinn und Identität zu tun. daran mit. Ohne die Medien aber geht das nicht. Menschen wie Nationen müssen Spätestens die umfangreiche und eindrucksvolle wissen, wer sie sind und wie sie Berichterstattung über die Ereignisse des Jahres dazu geworden sind.“ 1945 bewies, dass Historisches aktuell sein und Thomas Krüger, Präsident der verbreitete Publikumsbedürfnisse befriedigen Bundeszentrale für politische Bildung kann. Sie zeigte, wie hervorragend viele Redak- tionen es schaffen, ihren Lesern Ereignisse, Lebenssituationen und Arbeitswelten zurückliegender Jahrhunderte einfühlsam und lebendig zu präsentieren.

Thomas Krüger, geboren am 20.06.1959, Facharbeiter Die Redaktionen leisten damit ein wichtiges Stück politi- für Plast- und Elastverarbeitung, Studium der Theologie, scher Bildung. Deshalb wird die Bundeszentrale für politi- Vikar in Berlin und Eisenach, 1989 Gründungsmitglied sche Bildung sie dabei weiterhin nach Kräften fördern der SDP in der DDR, Mitglied der Volkskammer in der und unterstützen. Dabei passe man sich dem aktuellen DDR, 1990 - 1991 Erster Stellvertreter des Oberbürger- Bedarf an. Denn nicht nur die Medien, auch die Journali- meisters Ost-Berlins, 1991 - 1994 Senator für Jugend sten haben sich in den nunmehr fast drei Jahrzehnten und Familie in Berlin, 1994 - 1998 Mitglied des Deut- des Weiterbildungsprogramms deutlich verändert: Heuti- schen Bundestages; seit Juli 2000 Präsident der Bun- ge Journalisten brauchen knappe, präzise, auf ihren deszentrale für politischen Bildung. redaktionellen Bedarf zugeschnittene Information. Des- Bundeszentrale für politische Bildung, Berliner Freiheit 7, halb werde man zunehmend kurze Workshops anbieten, 53111 Bonn, Telefon 018 88 515-284, Fax 018 88 515- die in dichter Folge hochkarätige Information bieten. 293 Für solche anspruchsvollen Veranstaltungen komme man

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nicht ohne Partner aus, die auf dem jeweiligen Feld eine mit der Geschichte des 17. Juni 1953 auseinander zu originäre Kompetenz haben. Die Zusammenarbeit mit setzen“. dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) hat hier Modellcharakter. Der Workshop zum 17. Juni 1953 ist für Sind die Ereignisse von damals nur vergangen oder tragen die bpb eine der ganz wichtigen Veranstaltungen des sie eine Bedeutung, eine Lehre, eine Botschaft für Gegen- Jahres 2003 – neben einer Reihe weiterer Aktivitäten wart und Zukunft? Krüger äußerte sich überzeugt, dass wie der Themenausgabe der Zeitschrift „Das Parlament“ Letzteres richtig ist. Er stimme darin mit den Worten des und dem Kooperationsprojekt www.17Juni53.de, bei Bundesinnenministers Otto Schily überein: „Die Aufständi- dem man mit dem Deutschlandfunk und dem ZZF schen vom Juni 1953 waren keine Theoretiker und haben zusammenarbeitet. keine Programmschriften verfasst. Sie gingen auf die Stra- ße und skandierten ‚Kollegen, reiht euch ein, wir wollen Der Workshop wird erweisen, so Krüger, ob nach 50 freie Menschen sein!’ Das war der Kern des Programms.“ Jahren immer noch gilt, was DDR-Dissident Heinz Brandt Und das ist zugleich der Kern dessen, worum es in der 1953 feststellte: „Der 17. Juni ist nicht erzählbar. Drüben Demokratie geht. Die Handelnden des Juniaufstands nicht, und hier (in der DDR) schon gar nicht. Jede Seite haben ein Beispiel freiheitlicher Gesinnung und vorbildli- ist an ihrer speziellen Legende, keine an der Wahrheit chen Mutes gegeben. Ihre Haltung und ihr Beispiel bleiben interessiert.“ Krüger hofft, dass der Workshop diesen auch für uns im wiedervereinten demokratischen Deutsch- Satz widerlegen könne, dass „wir überzeugende Antwor- land für Gegenwart und Zukunft verpflichtend. ten finden auf die Frage, welchen Sinn es hat, sich heute

Das bietet die bpb zum 50. Jahrestag des 17. Juni

Werner Maibaum: Geschichte der Deutschlandpoli- machen deutlich, dass die Justiz in der DDR ein willfähri- tik, Bonn 1998 Vor dem Hintergrund neuer Ergebnisse ges Instrument der SED-Führung bei der Sicherung ihrer der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte Herrschaft gewesen ist. Bestellnummer 3951 und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ schildert Jens Gieseke: Die DDR-Staatssicherheit. Bonn 2000 der Autor in sieben Kapiteln chronologisch die Entwick- Die Staatssicherheit wuchs in den Jahrzehnten der DDR- lung von der bedingungslosen Kapitulation und damit Geschichte zu einer Großbürokratie. Die Geheimpolizei dem Ende des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 bis zur überwachte jeden, den sie für einen möglichen Gegner Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Bestellnummer des Regimes hielt, und entwickelte sich international zu 3952 einem der erfolgreichsten Nachrichtendienste für Spiona- Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der ge und Spionageabwehr. Bestellnummer 3954 DDR 1949–1989, Bonn 1998 Deutschland in den 50er Jahren. Informationen zur Die umfangreiche Monographie untersucht Opposition politischen Bildung Heft 256 und Widerstand in der DDR – vom Protest gegen die Die DDR und die Bundesrepublik waren in feindliche Staatsgründung bis hin zu den Friedensbewegungen der Blöcke integriert und bildeten gegensätzliche Wirtschafts- Kirche. Sie setzt sich mit den Formen der politischen und Gesellschaftsordnungen heraus – trotzdem blieben Gegnerschaft im SED-Staat und ihrer bisherigen Behand- sie in einem scharfen Konkurrenzverhältnis immer aufein- lung in der Geschichtsschreibung auseinander. Bestell- ander bezogen. Ihre Geschichte seit 1949 wird in diesem nummer 1346 Heft im Zusammenhang dargestellt. Bestellung per Fax Falco Werkentin: Recht und Justiz im SED-Staat, 089-5117-292 oder per E-Mail: infoservice@franzis-onli- Bonn 2000 ne.de Die Verfassung stand nur auf dem Papier: Zahlreiche bis- Eine Themenausgabe der Zeitschrift „Das Parla- her kaum bekannte Beispiele politischer Prozesse ment“ ist in Planung.

05 Geschichten aus der Geschichte

Kooperationsprojekt von bpb, ZZF und DeutschlandRadio erschließt Arbeitsmaterial zum Jahrestag des Aufstandes Recherche-Fundgrube www.17juni53.de

Eine ausführliche Chronik, Fotos in Hülle und Fülle, lokale Das DeutschlandRadio hat sein gesamtes Archiv zur Polizeiberichte, Wochenschaufilme, zeitgenössische Verfügung gestellt: Darin findet sich nicht nur die Reden und Hörfunkbeiträge, wissenschaftliche Arbeiten – gesamte Hinterlassenschaft von RIAS, sondern auch und das alles übersichtlich präsentiert auf einer Website. Mitschnitte des DDR-Hörfunks aus Jahrzehnten, ins- So viel Service hat es aus Anlass eines historischen gesamt ein größerer Bestand als der des Archivs des Gedenktages noch nicht gegeben – obwohl ein Vorbild Ostrundfunks. existiert: die „Chronik der Mauer“ aus Anlass des 40. Jahrestages des Mauerbaus. 2001 hatte es dazu ein Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich wie ähnliches Kooperationsprojekt gegeben, wenn auch weit- ihre Vorläuferin, die „Bundeszentrale für Heimat- aus bescheidener. Daraus haben wir gelernt, berichtet dienst“, dem Thema in den Jahrzehnten immer wie- Stefan Lampe, der für das DeutschlandRadio das Ange- der mit Publikationen gewidmet. Vieles davon, darun- bot betreut. Er leitet die Redaktion Deutschlandradio ter selbst schon historische Zeitdokumente aus den Online Köln und präsentierte das Projekt mit vielen Onli- 50er Jahren, findet sich direkt als Download nutzbar ne-Beispielen. „Eine der Hauptlehren war es, noch früher auf dieser Seite. anzufangen.“ Ein Jahr Vorlauf nutzte das Team aus DeutschlandRadio, bpb und ZZF für eine gründliche Auf- Die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Zentrums für arbeitung der Materialberge. Zeithistorische Forschung brachten ihren fachwissen- schaftlichen Sachverstand sowie ihre Archiv- und Ergebnis: Den Kollegen fielen wenig Wünsche ein, die Quellenkenntnisse ein. diese Internet-Fundgrube nicht sowieso schon erfüllt. Schon jetzt zeigen 10.000 Zugriffe im Monat, dass die Wertvoll für Tageszeitungen sind die vielen, zum Teil bis- Seite breit genutzt wird. So etwas kann niemand alleine her unbekannten Fotos: Auf dem recht spärlichen Foto- leisten – es ist nur möglich, wenn drei kompetente Stellen material, das früher zur Verfügung stand, liegen Bildrech- ihr Know-how und ihre materiellen Möglichkeiten zusam- te, die von den Inhabern recht teuer vermarktet wurden. menwerfen. Das hat sich geändert: Auf der Seite finden sich viele Bil- der aus dem Archiv der Gauck-Behörde, die auch die Rechte daran besitzt. Es sind Bilder von Fotografen, die damals verhaftet wurden und deren Fotos in den MfS- Archiven verschwunden waren.

Das Bildmaterial steht auf der Seite nicht in druckfähiger Tipp: Auflösung zur Verfügung. Das Originalmaterial und die Fotos aus dem Archiv der Gauck-Behörde sind kosten- Druckrechte müssen über die jeweils angegebene Quelle günstiger als die bekannten Motive. Die Behörde verfügt angefordert werden. über die Rechte daran. Es handelt sich um Bilder von Fotografen, die damals verhaftet wurden und deren Fotos Kontakt: Stefan Lampe, DRadio Online, Raderberggürtel in den MfS-Archiven verschwunden waren! 40, 50968 Köln, E-Mail: [email protected], Telefon 0221 - 345 1855, Fax 0221 - 345 1869

06 Geschichten aus der Geschichte

Weitere Websites mit Informationen zum 17. Juni 1953

Deutsches Historisches Museum, Berlin: Evangelische Akademie Thüringen: http://www.ev-akade- http://www.dhm.de/ mie-thueringen.de/projekt/17juni/17juni.htm

Internetseite von Karl-Heinz Pahling, einem Streikführer Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssi- des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953: cherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati- http://www.volksaufstand1953.de/ schen Republik: http://www.bstu.de/ddr/juni_1953/index.htm VEREINIGUNG 17. JUNI 1953 e.V. (Nachfolger des Komi- tees 17. Juni): http://www.17juni1953.de/ Der Juni-Aufstand 1953 im Industrierevier Bitterfeld-Wol- fen (private Homepage): http://www.paper.olaf- Konrad-Adenauer-Stiftung, Online-Publikation zum 47. freier.de/btf.htm Jahrestag: http://www.kas.de/publikationen/2000/zeitge- schichte/17_juni/volksaufstand1953.html sowie eine Der Volksaufstand in Ostberlin 17. Juni 1953 (private umfangreiche Bibliografie: Homepage): http://jump.to/1953 http://www.kas.de/db_files/dokumente/7_dokument_dok _pdf_841.pdf

07 Geschichten aus der Geschichte

Christoph Kleßmann Der 17. Juni 1953 im Geschichtsbild Deutschlands gestern und heute

Der renommierte Zeithistoriker beschäftigte sich Mielke-Frage von 1989: „Bricht jetzt wieder ein 17. Juni weniger mit dem historischen Ereignis selbst als aus?“ Unbestritten sind die prägenden Wirkungen des mit der Frage, wie der 17. Juni im kollektiven Aufstands auf die Sicherheits- und die Sozialpolitik der Gedächtnis weiter wirkte. Er zeichnete die unter- SED-Führung: schiedlichen Blickwinkel in Ost und West nach und zeigte die Quellen auf, aus denen sich Rückschlüs- den hypertrophen Unterdrückungsapparat der se auf das deutsch-deutsche Verständnis dieses hätte es in dieser Übersteigerung ohne den 17. Juni Ereignisses ziehen lassen. wohl nicht gegeben.

Im Geschichtsbild der DDR-Führung war der 17. Juni die Besorgnis der SED-Führung, die Unzufriedenheit als traumatisch besetztes Datum präsent. Berühmt die der Massen nie wieder so weit kommen zu lassen, hat zu einer wirtschaftspolitisch unvernünftigen Sub- ventionierung der Nahrungsmittel und des täglichen Bedarf geführt.

Das Ereignis wurde von der SED im Osten tabuisiert. For- melhafte Verschwörungstheorien wurden ständig wieder- holt, die Aufständischen wurden mit den Schlägern und Mordbanden der SA verglichen. So etwas wie eine Erin- nerungskultur lässt sich daher nur im Westen verfolgen. Auch Stefan Heyms Buch „Sieben Tage im Juni“, ein Ver- such, dieses Geschichtsbild zu durchbrechen, konnte nur im Westen gedruckt werden.

Im Westen verlor das Gedenken mit den Jahren schnell an Substanz. Mit der Tiefe der Teilung schwand das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Bundespräsident Lübke mahnte 1963, der nationale Gedenktag des deutschen Volkes sei nicht gedacht für Prof. Dr. Christoph Kleßmann ist Professor für Zeitge- Entspannung, Erholung, Vergnügen. Der Aufruf half schichte an der Universität Potsdam. Seit dem 1. April wenig. Der Feiertag erfuhr eine Trivialisierung, mancher- 1994 leitet er außerdem das Zentrum für Zeithistorische orts wurden Gedenkveranstaltungen wegen mangelnder Forschung in Potsdam. Teilnehmer abgesagt; Publizisten und Politiker fordern Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V., Am bald die Abschaffung des Feiertages und schlagen vor, Neuen Markt 1, 14467 Potsdam Tel.: 0331-28991-57 den 23. Mai als Tag der Verfassung zum Nationalfeiertag Fax: 0331-28991-60, E-Mail: [email protected] zu machen.

08 Geschichten aus der Geschichte

„Im Westen war der 17. Juni ein ‘prekärer National- durch Annäherung“ zu propagieren. Seit dieser Zeit wird feiertag’: Er wurde dort gefeiert, wo nichts von den die deutsche Frage zunehmend eher als europäisches Ereignissen stattgefunden hat; die Menschen fuh- Problem behandelt. ren ins Grüne, statt den Reden zu lauschen.“ (Christoph Kleßmann) Der Wandel in der Betrachtung und Bewertung des 17. Juni lässt sich, so Christoph Kleßmann, mit Hilfe unter- Nicht erst die sozialliberale Koalition bringt das vorläufige schiedlicher Quellen nachvollziehen: Ende der staatlichen Gedenkrituale: 1967 findet die letzte Gedenkstunde des Bundestags statt, im Jahr darauf hält Bundeskanzler Georg Kiesinger nur noch eine Fernseh- 1. Darstellungen in Schulbüchern, die zwar der Ent- ansprache. 15 Jahre später, 1982, führte die neue wicklung der Geschichtswissenschaft hinterherhinken, CDU/FDP-Bundesregierung die Feierstunden im Parla- aber etwas darüber aussagen, welche Rezeption zur ment wieder ein. 1990 hält Manfred Stolpe die letzte offi- jeweiligen Zeit gewünscht war; zielle Rede zum 17. Juni. 2. Auswertung von Befragungen: umfassende Analy- Wenig bekannt ist: Teile der Studentenbewegung mit sen dazu liegen nicht vor. Allensbach fragte im Juli Dutschke an der Spitze bewerteten den 17. Juni als 1953, ob der Aufstand Sinn gehabt habe; 58 % der Modell für gewaltlosen Widerstand. Eine große Rolle Befragten antworteten mit ja, 19 % mit nein. spielte dieses Thema aber im Geschichtsbild der APO und der westdeutschen Linken nie. 3. Reden von Politikern: In ihnen spielte der Aufstand in den ersten Wochen danach fast überall eine Rolle, Bewertungswandel bis hin zur Bundestagswahl des Jahres 1953. Im „Die Inhalte der Darstellung und die Bilder des 17. Juni Wahlkampf wurden Augenzeugenberichte verbreitet, haben sich nur wenig verändert – die Gewichte und die bei denen, so Kleßmann, der zeittypische Antikom- Beurteilung haben sich dagegen erstaunlich verschoben.“ munismus als rotes Band auszumachen sei. Vor allem In der ersten Bundestagsdebatte ging es hoch her, als die FDP habe sich mit geradezu „kultischen Inszenie- Adenauer den Bogen zur Westintegration zu spannen rungen“ hervorgetan. versuchte. Die Ereignisse bewiesen, so der Kanzler, wie notwendig diese sei. Wehner betonte dagegen die Wie- Forschungskonsens dervereinigung als vorrangiges Ziel – allerdings zu einem Anknüpfend an Fragen aus dem Publikum lieferte Chri- freiheitlichen und sozialistischen Gesamtdeutschland. stoph Kleßmann auch Einschätzungen zu den Ursachen bemühte sich, den und der Entwicklung des 17. Juni in die Tradition des „Mit zunehmender Entfernung von den Ereignissen Aufstandes. Die Normerhö- Freiheitskampfes der Arbeiter- verschwand die sozialistische Komponente der hungen und der Terror der bewegung einzuordnen. Die Interpretation des 17. Juni und auch die nationale SED gegen den Mittelstand Forderung nach Anschluss an wurde immer dünner.“ (Christoph Kleßmann) bewirkte eine „Krisenkonstel- die Bundesrepublik sei nir- lation“. Die Ziele des Auf- gends zu erkennen gewesen, argumentierten die Sozial- standes sind nicht auf soziale Faktoren zu reduzieren, so demokraten. die neueren Veröffentlichungen; politische Forderungen standen im Vordergrund. In der historischen Forschung In den Bundestagsdebatten der 50er-Jahre ist nach Kleß- herrscht ein breiter Konsens über die Ursachen des 17. mann oft eine geschichtspolitische Aufladung der Reden Juni, der inzwischen als Volksaufstand betrachtet wird. festzustellen. Vergleiche mit dem 20. Juli 1944 als Auf- Die Arbeiter waren zweifellos die Auslöser der Aktionen. stand gegen die totalitäre Diktatur sind nicht selten. Ab Deshalb war die Unterstützung für den Aufstand in den Mitte der 60er-Jahre verstärkt sich die Tendenz, „Wandel traditionellen Zentren der Arbeiterbewegung besonders

09 Geschichten aus der Geschichte

groß, in den neuen Industriestädten (z. B. Eisenhütten- Führung behauptete. Es gab keine aktive Beteiligung des stadt) fand er zunächst deutlich geringere Resonanz. Westens, schon gar keine Schlüsselrolle westlicher Agen- Zunehmend waren aber auch ten und Provokateure. die Landbevölkerung und der „Es gab eine breite Widerstandsbasis, das Potenzial Mittelstand am Geschehen zu einem Volksaufstand war vorhanden. Es konnte Unbestritten ist, dass der beteiligt. In wieweit sich auch sich aber durch den Einsatz der Panzer nicht mehr amerikanisch geführte Radio- Partei- und Gewerkschafts- entfalten.“ (Christoph Kleßmann) sender RIAS, gegen den sich funktionäre engagiert haben, heftige Polemik der SED rich- ist noch umstritten. tete, eine wichtige Kommunikationsrolle spielte: Dieser Kleßmann schilderte, wie sehr die Alliierten und die West- Sender verbreitete die Nachrichten von den Ereignissen berliner Politik alles vermieden, was die Situation hätte in der gesamten DDR. Die Redaktion weigerte sich aber anheizen können. Der Aufstand entwickelte sich spontan aufgrund der nicht kalkulierbaren Lage, einen Aufruf zum und keinesfalls vom Westen aus gelenkt, wie die DDR- Generalstreik zu senden.

Der 17. Juni als Gedenktag Literatur zum Thema: Conze, Werner, Der 17. Juni – Tag der deutschen Ein- Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, Ber- heit und Freiheit, am Main 1960. lin1996, S. 58-60.

Ebert, Hildtrut (Red.), Verlorene Inhalte, verordnetes Krämer, Martin, Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Denkmal. Beiträge zum Wettbewerb "17. Juni 1953", und sein politisches Echo in der Bundesrepublik hrsg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Deutschland, Bochum 1996. Berlin 2000. Roth, Heidi, Der Umgang mit dem 17. Juni 1953 in Fricke, Karl Wilhelm, 1999: Zur Geschichte und histo- der DDR und der Bundesrepublik. Sachsen im Ver- rischen Deutung des Aufstands vom 17. Juni 1953, gleich zu Berlin und der DDR, in: Symposium zum Denk- in: Heidi Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln, S. mal für die Ereignisse des 17. Juni 1953. Dokumentation, 13-100. Berlin 1996, S. 30 - 37.

Fritton, Matthias, Die Rhetorik der Deutschlandpolitik. Wilke, Manfred, Aspekte des 17. Juni 1953 für die Eine Untersuchung deutschlandpolitischer Rhetorik der deutsche Nationalgeschichte, in: Symposium zum Regierungen der Bundesrepublik Deutschland unter Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953. Dokumen- besonderer Berücksichtigung von Reden anlässlich des tation, Berlin 1996, S. 46 - 48. Gedenkens an den 17. Juni 1953, Stuttgart 1998. Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik und deutsche Hettling, Manfred, Umstritten, vergessen, erfolgreich. Frage. Der 17. Juni im nationalen Gedächtnis der Der 17. Juni als bundesdeutscher Nationalfeiertag, in: Bundesrepublik (1953-1989), in: Geschichte und Deutschland Archiv 33 (2000) 3, S. 433-446. Gesellschaft 28 (1998) 3, S. 382 - 411.

Kleßmann, Christoph: Welche Perspektiven bieten Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesre- sich heute auf den 17. Juni 1953? In: Symposium zum publik Deutschland, Darmstadt 1999.

010 Geschichten aus der Geschichte

Schriften von Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte Wiederaufbaugeneration vor Augen zu führen. 1945-1956, Bonn: bpb 1991 Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955- Das Buch bietet eine zusammenfassende, problemorien- 1970, Bonn 1988 (=Schriftenreihe der Bundeszentrale für tierte Darstellung der gesamtdeutschen Nachkriegsge- politische Bildung, Band 265) schichte unter Verwendung neuerer Forschungsergebnis- se. Die Einbeziehung von zeitgenössischen Berichten und mit Bernd Stöver (Hg.), 1953 - Krisenjahr des Kalten Fotografien, die neben der „großen Politik“ auch den All- Krieges in Europa, Die Deutschlandpolitik der SED tag der ersten Nachkriegsjahre illustrieren, eröffnet die 1949-1961, Reihe Zeithistorische Studien Band 16, Möglichkeit, sich die Lebensumstände der Kriegs- und Köln/Weimar/Wien 1999

Potsdamer Neueste Nachrichten / PNN

011 Geschichten aus der Geschichte

Stefan Wolle Der 17. Juni 1953 in der Erfahrung der Bevölkerung und der Machtelite

In der Erfahrungswelt der SED-Führung spielten die Das Studium der Akten nach 1989 machte den Verdacht Ereignisse des 17. Juni eine Schlüsselrolle. Hierfür zur Gewissheit: Wolle spricht von einem geradezu „para- gibt es viele Quellen und Hinweise in Akten, in Fil- noiden Verhältnis der DDR-Obrigkeit zum 17. Juni“. Jähr- men und in der Literatur. Welche Rolle die Erinne- lich wurden die Staatsorgane an diesem Datum in erhöh- rung an die Ereignisse in den Köpfen der Menschen te Alarmbereitschaft versetzt. Man rechnete stets mit spielte, so Stefan Wolle, darauf gibt es keine defini- „neuen Provokationen des Gegners“ oder mit Losungen tive Antwort. Verfügbar sind nur bruchstückhafte wie der, am 17. Juni krank zu feiern. Jahr für Jahr wie- individuelle Erinnerungen und Erfahrungen. Der Ein- derholte sich die hysterische Furcht der Führung. Überall druck des Historikers: Der 17. Juni war auch in der vermutete die Staatssicherheit getarnte Versammlungen, Bevölkerung immer präsent. Volk und Machtelite z. B. hinter organisierten Wanderausflügen oder betriebli- zogen allerdings gegensätzliche Schlussfolgerun- chen Dampferfahrten. Gezielt schickte das MfS zu die- gen. Die Herrschenden fürchteten, ein solcher Tag sem Datum Spitzel in Biergaststätten und Vereine. könne sich jederzeit wiederholen – die Menschen dachten, eine erneute Konfrontation wäre sinnlos. Ein weiteres Beispiel für den „neurotischen Sicherheits- wahn“: In Berlin-Köpenick versammelte sich wohl zufällig ein Kleingärtnerverein, da dessen Siedlung aufgelöst wer- den sollte, an einem 17. Juni. Der einzige SED-Genosse im Verein wurde daraufhin wegen „politischer Nachlässig- keit“ zur Rechenschaft gezogen.

„Aber das war ja nicht nur Neurose – es gab ja rea- len Anlass zur Sorge, wie die Ereignisse 1956 in Posen (Polen) und in Ungarn zeigten. Diese Sorge vor oppositionellen Stimmungen im Volk stand im Widerspruch zu der offiziellen Darstellung, dass der 17. Juni als ausschließliches Werk feindlicher Agen- ten, Krawallmacher und Provokateure aus dem Dr. Stefan Wolle, geboren 1950 in Halle/Saale, Studium Westen zu betrachten sei.“ (Stefan Wolle) der Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, bis 1989 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der Sicherlich gab es am 17. Juni auch die jugendlichen DDR in Berlin, 1989 Teilnahme an der Stasi-Auflösung, Rowdies aus dem Westen, denn die Grenzen waren offen Mitarbeiter der Gauck-Behörde, 1991-1996 Assistent an und jeder konnte mit der S-Bahn hinfahren. Eine Rolle für der Humboldt-Universität, 1996-1998 Stipendiat der den Verlauf der Ereignisse spielten sie nicht. Die entspre- DFG, seit 1998 Referent in der Stiftung zur Aufarbeitung chenden Klischees jedoch, Kammgarnanzüge und der SED-Diktatur. Kreppsohlen, galten künftig als Merkmal des Klassenfein- Neue Str.1, 15345 Eggersdorf, Telefon 030 - 83870-881, des. Die Kleidung wurde bewusst zitiert und diente der Fax 030 - 83870-736 politischen Zuordnung in Literatur und Film. Hermann

012 Geschichten aus der Geschichte

Kants Buch „Das Impressum“, in dem das thematisiert Russen den 17. Juni in erster Linie als Aufstand gegen wurde, lag bis zu Ulbrichts Tod auf Eis. sich selbst als Besatzungsmacht. Und ein solcher musste in jedem Fall niedergeschlagen werden. Eskalation wollte niemand „Die DDR-Führung tat mit ihren Anschuldigungen den Warnsignal an die Führung Aktivitäten des Ostbüros der SPD und des Kaiser-Mini- Was die Herrschenden über den 17. Juni dachten, ist steriums (damals gängiger Name für das Ministerium für durch Akten und andere Zeugnisse gut belegt – was die gesamtdeutsche Fragen, das von Jakob Kaiser geleitet große Masse der Leute mit dem Datum verband, lässt wurde) zu viel Ehre an.“ Das Gegenteil sei richtig: Die sich nur aus einzelnen Indizien und Erlebnissen rekon- SPD war, so schildert Wolle den 17. Juni, mit Lautspre- struieren: Im proletarischen Milieu, so Wolle, blieb der 17. cherwagen entlang der Sektorengrenze in West-Berlin Juni präsent als Tag eines großen Sieges: „Damals haben unterwegs – keineswegs um zu Aktionen aufzurufen. Sie wir es denen da oben mal richtig gezeigt.“ Der Aufstand versuchte zu deeskalieren: „Wir gratulieren Euch zu dem wurde als Warnsignal an die politische Führung gesehen, Erfolg, aber jetzt geht friedlich nach Hause! Folgt den nicht zu weit zu gehen. Anweisungen der Besatzungsmacht!“ Eine Wiederholung allerdings erschien völlig chancenlos Die Angst des Westens: Unruhen, die auf den Westen und damit sinnlos. So wurde nur im Kreise von Gleichge- übergreifen, könnten zum Vorwand für die Sowjetunion sinnten und hinter vorgehaltener Hand über die Ereignisse werden, Westberlin zu überrollen! gesprochen. Die Inhaftierten, die in DDR blieben, durften über ihre Erlebnisse gar nicht reden, auch nicht innerhalb Die Situation verschärfen wollte offenbar auch die andere der eigenen Familie. In der Haft waren viele von ihnen Seite nicht. Die sowjetischen Panzer, so die Meinung gefoltert worden, haben Monate in Dunkelhaft und in Wolles sowie der anwesenden Zeitzeugen, bewegten Handschellen verbracht. Diese Angst wirkte nach. sich relativ vorsichtig und mit Bedacht – die Protestieren- den wurden nicht überrollt, wie es manche dramatischen Die DDR-Führung hatte vor dem 17. Juni 1953 alle Fehler Fotos nahe legen. Die meisten Schüsse gingen in die Luft gemacht, die sie machen konnte. Danach aber hatte sie – offenbar wurde teilweise auch mit Platzpatronen gelernt. Zum einen reagierte sie künftig ohne Zögern mit geschossen, denn es fehlten jegliche Einschusslöcher in Härte und Drohgebärden – man ließ es nie wieder so weit den Häuserwänden. Ausnahmen gab es aber auch: in kommen wie 1953, sondern erstickte jeden Protest im Jena und Magdeburg wurden Opfer in Kauf genommen. Keim. Drohungen wurden noch 1989 angewandt, als das DDR-TV Bilder vom Pekinger Studentenaufstand zeigte – Die Streikenden vermieden ihrerseits nahezu jede Provo- alle verstanden die Warnung. In dieser Situation setzte kation der Besatzungsmacht – deren Symbole wurden, die Kirche als oppositioneller Schutzraum deshalb nicht anders als drei Jahre später in Budapest, nicht angegrif- auf „explosives Wegsprengen“ des Systems, sondern auf fen. An der sowjetischen Kommandantur marschierte der Evolution. Zug fast schweigend vorbei. Viele hingen wohl auch der Illusion nach, dass sich die Armee der Arbeiter- und Bau- Zum anderen aber bemühte die SED sich in der Folge- ernmacht gegen die SED-Führung auf die Seite der zeit, mit sozialpolitischem Entgegenkommen die Unzufrie- Arbeiter schlagen könnte. denheit der Massen in Grenzen zu halten, die den 17. Juni erst möglich gemacht hatte. Dass sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung erschossen worden sind, ist nach allen Recherchen auch 1989 war ganz anders in sowjetischen Archiven wohl eine Legende, die ein 1989 herrschten im Vergleich zu 1953 ganz andere Vor- sowjetischer Offizier in die Welt gesetzt hat. Es gab zwar aussetzungen: Die politischen Rahmenbedingungen hat- einzelne Deserteure – im Allgemeinen aber sahen die ten sich dramatisch verändert. Es gab in der DDR Ansät-

013 Geschichten aus der Geschichte

ze einer begrenzten Öffentlichkeit und auch programmati- sche Diskussionen in der Kirche. Kerne von Netzwerken Offene Fragen: existierten, die sich dann schnell zu politischen Parteien Wer gab den Befehl, die Panzer in Marsch zu setzen? formten. Feindbilder und die Angst vor dem Klassenfeind Die Entscheidung fiel in Moskau, aber wer traf sie? waren abgebaut. Gorbatschow traute man es einfach Nach übereinstimmender Aussage der anwesenden nicht zu, Panzer rollen zu lassen. Und die abschrecken- Fachleute lässt sich das bis heute nicht eindeutig beant- den Bilder von an den Laternen baumelnden Kommuni- worten. Die Machtverhältnisse in Moskau waren nach sten – Ungarn 1956 – erzeugten bei den SED-Mitgliedern dem Tode Stalins noch nicht endgültig geklärt. und Funktionären keine Todesfurcht mehr.

Ebenfalls ein wichtiger Unterschied: Die Bewegung ging Damals rechnete die DDR-Führung mit einer Krise – die nicht von den Betrieben aus – an Streik dachten die Sicherheitskräfte waren darauf vorbereitet. Wolle nannte Demonstranten nie. Vielleicht war das eine Lehre aus mehrere Gründe, warum es nicht zu wirklichen Protesten 1953. 1989 kam der Protest kam: zum einen hatten die zwar nicht aus den Betrieben, „Die Revolution 1989 fand am Feierabend oder am meisten DDR-Kritiker die wohl aber spielten die Arbeiter Wochenende statt, und am nächsten Tag gingen die DDR bereits verlassen. „Wer eine große Rolle, das wurde in Menschen zur Arbeit. Es herrschte ein großer Wille wirklich weg wollte, war der Diskussion klargestellt. Man zur Gewaltlosigkeit, vielleicht bei manchen auch bereits weg!“ Zum anderen operierte zwar aus dem eine Konsequenz der Erinnerung an 1953.“ glaubten viele die Menschen, Schutzraum der Kirche heraus, (Stefan Wolle) dass die Mauer nicht von aber die soziale Basis waren Dauer sein und bald ver- nicht die Kirchenmitglieder allein. „So viele Menschen hat- schwinden würde. Viele waren auch überzeugt, dass die ten die gar nicht.“ Amerikaner schnell etwas dagegen unternehmen würden.

Die Erinnerung an 1953 spielte im Denken der Opposition der späten 80er Jahre keine große Rolle. Die Ereignisse wurden nur sehr allgemein reflektiert. Es gab auch keiner- lei personelle Kontinuität. Die nach dem 17. Juni 1953 Bücher von Stefan Wolle: Inhaftierten hielten sich von der politischen Bühne fern "Ich liebe Euch doch alle!". Befehle und Lageberichte und waren 1989 in der Opposition nicht gefragt. des MfS, Berlin 1990; Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993; Die heile Und wie war es beim Mauerbau 1961 – im anderen gro- Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR, Berlin ßen Krisenjahr der DDR-Geschichte? 1998.

014 Geschichten aus der Geschichte

Zeitzeugengespräch

Der eine gehörte als Spitzenfunktionär zu den Aktivposten der SED, der andere geriet als „Vorgang Reporter“ ein Jahr nach dem 17. Juni 1953 in die Mühlen der DDR- Justiz: Fritz Schenk, bis 1957 Büroleiter von Bruno Leuschner, dem Chef der DDR- Planungskommission. Und Richard Baier, damals freier Mitarbeiter bei RIAS. Entsprechend unterschiedlich, aber wortgewandt erzählten sie ihre Geschichte. Für viele Teilnehmer war die Konfrontation mit der erzählten Erinnerung ein Höhepunkt des gesamten Workshops

Die Zeitzeugen Fritz Schenk (links) und Richard Baier (rechts) wurden befragt von Michael Bechtel.

015 Geschichten aus der Geschichte

Fritz Schenk Von der DDR-Planungskommission zum ZDF-Magazin

Einer wie er musste aus dem 17. Juni nichts lernen. Fasziniert waren aber alle von seiner Darstellung des 17. DDR-Kritiker, sagt er, war er schon immer. Seine Juni aus der Innenansicht der Macht, lebendig erzählt: Arbeit an höchster staatlicher Stelle tat er jahrelang Die Stalin-Note von 1952 als „unterschwelliger Schock“ gut, aber mit kritischer Distanz, sich der Absurditä- für die Funktionärsschicht in der DDR, man machte sich ten der Planwirtschaft voll bewusst. Um nicht alles Sorgen wegen einer möglichen Wiedervereinigung. Es den Kommunisten zu überlassen, um zur Stelle zu gab tosenden Beifall auf der zweiten Parteikonferenz sein, wenn alles zusammenbricht. „Ich habe dop- 1952, als Ulbricht den planmäßigen Aufbau des Sozialis- pelzüngig gelebt“, bekennt er, „wie der Großteil der mus verkündete. „Ich war entsetzt, welche Euphorie das SED-Mitglieder. Der Mangel wurde permanent hin- Wort Kommunismus auslöste.“ und hergeschoben.“ Fritz Schenk, viele Jahre spä- ter im Westen als präsentationsgewandter Modera- Schenk schilderte den nach Stalins Tod verkündeten tor des ZDF-Magazins neben Gerhard Löwenthal neuen Kurs: die DDR sollte liberaler werden, doch gleich- prominent geworden, provoziert geradezu kritische zeitig sollten die Reste der Privatwirtschaft in Staatsei- Nachfragen zu seiner Biografie. gentum übergehen. Resultat war die Flucht besonders qualifizierter Menschen, der Exodus erreichte im Frühjahr 1953 einen Höhepunkt. Es herrschte eine schlechte Ver- sorgung auf jedem Gebiet. Der Mangel an Heizmaterial wurde mit Tricks auf dem Papier behoben: Den Briketts wurde Wasser zugesetzt, um das nötige Gewicht zu erzielen. „So haben wir gemogelt“, sagt Schenk.

Am 16. Juni arbeitet Schenk im Haus der Ministerien. 150 bis 200 Demonstranten versammeln sich vorm Ein- gang, wollen Grotewohl und Ulbricht sehen. Doch von der Staatsführung ist nur Fritz Selbmann im Haus. Er sagt: „Das ist doch eine Sache ohne Führung!“ Selbmann stellt sich auf einen Tisch und will zu den Demonstranten sprechen. Niemand hört ihm zu, er wird vom Tisch her- untergeschüttelt. Gegen 3 Uhr nachmittags ist der Platz Fritz Schenk, geboren 1930 in Helbra, Ausbildung in der dann leer. Schenk arbeitet bis in den späten Abend. Auf grafischen Industrie, Betriebsleiter im Meißener Druck- dem Weg nach Hause sieht er, wie Trupps unterwegs haus, 1952 bis 1957 Sekretär der Staatlichen Planungs- sind, die mit Farbe an Mauern schreiben: „Generalstreik“ kommission. Nach der Flucht in die Bundesrepublik freier oder „Morgen geht´s los“. Journalist, Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit im Gesamtdeutschen Institut Bonn, von 1971 bis 1988 Ko- Moderator des „ZDF-Magazin“, zuletzt als Chef vom „Alle im Haus waren sehr froh, dass die sowjeti- Dienst in der Chefredaktion des ZDF. schen Panzer da waren. Wir hätten Einiges abge- Anschrift: Am Niddatal 7, 60488 Frankfurt/Main, Telefon kriegt, wenn es den Demonstranten gelungen wäre, 069-764721 das Haus zu stürmen.“ (Fritz Schenk)

016 Geschichten aus der Geschichte

Am nächsten Morgen erwacht er früh vom Gerassel der Kapitalisten, die heute die Straßen füllten und jetzt russischen Panzer. Wegen der demonstrierenden Massen zusammengeschossen werden?’ Er erhielt keine kommt er nur auf Umwegen zum Haus der Ministerien. Antwort und hatte wohl auch keine erwartet.“ Vor dem Haus ein Panzer, Volkspolizei sichert das (Fritz Schenk) Gebäude, dahinter sind die männlichen Angestellten zu einer Gegendemo angetreten. Die Anführer des Aufruhrs hält Schenk für „tragische Leute“: Es sei klar gewesen, dass die Russen das nicht „Dann peitschten Maschinengewehrsalven durch zulassen. „Das Bitterste“, berichtet er, „waren die Schreie die Luft, Panzer kamen die Leipziger Straße heraus der im Haus der Ministerien inhaftierten Demonstranten. mit dröhnenden Motoren, rasselnden Ketten und In den Etagen darüber saßen Altkommunisten, die das quietschenden Rädern – doch alles wurde übertönt KZ überlebt hatten, „bis in die Knochen geschockt“. Alle von den Panikschreien der vielen tausend wehrlo- waren froh über die Erklärung von einem faschistischen sen Menschen, die die stählernen Kolosse vor sich Putschversuch. hertrieben. Diesmal herrschte in unserem Raum besonders lange Schweigen. Leuschner und die meisten anderen waren blass geworden. Nach einer Weile murmelte jemand vor sich hin: ‚Der Marxis- Bücher von Fritz Schenk mus-Leninismus kennt in unserer heutigen Gesell- Magie der Planwirtschaft, 1960, Im Vorzimmer der schaft zwei Hauptklassen, die sich feindlich gegen- Diktatur, 1962, Das rote Wirtschaftswunder, 1969, überstehen: die Arbeiterklasse und die Klasse der Kommunistische Gipfelbeschlüsse, 1973, Mein dop- Ausbeuter. Das sozialistische Lager, geführt von der peltes Vaterland. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Sowjetunion, dem auch wir angehören, vertritt die geborenen Sozialdemokraten, 1984 – letzteres Werk gilt Interessen der Arbeiterklasse. Kann mir jemand gewissermaßen als eine Fortsetzung von Wolfgang Leon- sagen, wessen Blut heute geflossen ist? Waren das hardts „Die Revolution entlässt ihre Kinder“.

Richard Baier Knapp am Todesurteil vorbei

Er erzählt still und bescheiden seine Leidensge- als Spionagesender bekämpft werden, betonte Baier schichte. Seine Arbeit für den RIAS wurde ihm zum später gegenüber dem DDR-Spionagechef Markus Wolf. Verhängnis, obwohl er nach der Maxime handelte, „Alles war aus dem Moment geboren, es gab keine die ihm vorgegeben war: „Was Sie sehen, das geplanten Aktionen“, sagt Richard Baier, der 1955 plötz- berichten Sie, keine Meinung einstreuen, nichts lich auf offener Straße in Ost-Berlin verhaftet wurde, weil weglassen, nichts hinzufügen.“ Baier unterstreicht er sich gegenüber einem ehemaligen Kollegen offen über die Bedeutung des RIAS als wichtigstes Informati- den 17. Juni geäußert hatte. onsmedium für die Menschen in der DDR. Ein Vierteljahr saß er im „U-Boot“ in Hohenschönhausen: „Die Vernehmungen fanden nur nachts statt, tagsüber Es sei alles unterlassen worden, was die Russen provo- durfte ich mich nicht hinsetzen.“ Baier wurde im so zieren könnte; trotzdem musste der RIAS von SED-Seite genannten RIAS-Prozess zu 13 Jahren Zuchthaus verur-

017 Geschichten aus der Geschichte

„Eines Tages wurde ich meinem Verteidiger vorge- stellt, Friedrich Wolf, der später Honecker verteidig- te. ‚Morgen ist Ihr Prozess’, sagte der. Dann schwieg er die gesamte Verhandlung über.“ (Richard Baier)

„Ich wurde erst 1961 entlassen und nicht bei der Amne- stie 1960; so konnte ich mich nicht mehr nach West-Ber- lin absetzen.“ Baier arbeitete für die Konzert- und Gast- spieldirektion und die DEFA. Nachdem er einen unlieb- samen Film positiv bewertet hatte, erhielt er Berufsverbot und arbeitete in verschiedenen anderen Berufen. 1982 wurde er erneut verhaftet, wegen „öffentlicher Herabwür- digung der DDR“. Danach bewirtschaftete Baier als Gastronom das Alte Rathaus zu Potsdam, wo er 1989 Talkrunden veranstaltete – mit aufmerksamen Zuhörern als Gäste: „Die Stasi war zugegen bis zur letzten Stun- de“, sagt Baier.

Nach der Öffnung der Mauer kehrte er in seine Heimat- stadt Kassel zurück: „Dort habe ich zum ersten Mal seit Richard Baier arbeitete als freier Journalist für den 30 Jahren meine Mutter wiedergesehen.“ Nie hatte Baier RIAS. 1955 wurde er verhaftet und zu 13 Jahren Zucht- mit seiner Familie über die Haftzeit in der DDR sprechen haus verurteilt, 1961 nach Potsdam entlassen, musste er dürfen. wegen seiner regimekritischen Haltung 1983 erneut ins Gefängnis. Seit 1990 lebt er wieder in seiner Geburts- stadt Kassel. Der RIAS-Prozess Eine Darstellung des Prozesses findet sich in dem Buch von Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann „Konzen- teilt. Ein Mitangeklagter hatte weniger Glück: Joachim trierte Schläge. Staatssicherheitsaktionen und politische Wiebach wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auf Prozesse in der DDR 1953 – 1956, Berlin 1998, Seite persönliche Anordnung Walter Ulbrichts. 169 – 180.

018 Geschichten aus der Geschichte

Alexander von Plato Zeitzeugen sind keine Augenzeugen

Für Zeitzeugen muss man sich viel Zeit nehmen – Vor allem vor einer Illusion warnte Alexander von Plato: mehr als Journalisten üblicherweise für ein Inter- Ereignisse lassen sich nur schwer durch die Berichte von view zu opfern bereit sind. Erst das wachsende Ver- Augenzeugen rekonstruieren. Wichtig sei die Unterschei- trauen und die gemeinsame Erinnerungsarbeit, wo dung zwischen Augenzeugen und Zeitzeugen: Augenzeu- möglich unterstützt durch zusätzliche Stimuli, gen werden auf bestimmte Ereignisse hin befragt, an erschließen das Gedächtnis von Zeitzeugen. Der denen sie beteiligt waren; Zeitzeugenbefragungen sind Geschäftsführende Direktor des Instituts für dagegen viel allgemeiner, auf das gesamte Leben der Geschichte und Biografie in Lüdenscheid warnte Personen bezogen. „Wer nach einer Lebensgeschichte auch vor dem allzu naiven Umgang mit den Berich- fragt, erhält eine andere Interpretationsbasis für Themen“, ten von Zeitzeugen. Auf das menschliche Gedächt- so von Plato. nis ist nicht viel Verlass – aber die Verarbeitung und die Um- und Neuinterpretation von Erinnerungen im Soziale Kompetenz ist für eine lebensgeschichtliche Befra- Verlaufe eines Lebens sind selber von höchstem gung eine entscheidende Fähigkeit. Ideal ist es, als „naiver Interesse. Kundiger“ in ein Gespräch hineinzugehen. Aus dem Gespräch ergeben sich oftmals Fragestellungen, an die zuvor niemand gedacht hat. Im Hinterkopf zu behalten ist die Frage: Als was wird man als Interviewer gesehen? Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Antworten.

Je länger eine Personen befragt wird, desto besser ist sie in der Lage, sich an früher zu erinnern. Das hat mit wachsendem Vertrauen zum Frager, aber auch mit der Funktionsweise des Gehirns zu tun – Stichwort Gedächt- nisaktivierung. Je umfangreicher und verzweigter das Gespräch, desto mehr erinnerte Inhalte erbringt es. Sti- muli, zum Beispiel der Rückgriff aufs Fotoalbum oder Briefe, sind notwendig, um den Erzähldrang anzuregen. Umfassendes Nachfragen ist wichtig.

Am besten ist es, die Leute für Interviews zu Hause zu besuchen,

das Umfeld in das Gespräch einzubeziehen,

jede Gelegenheit zu nutzen, um weitere Quellen zuzu- ziehen, etwa private Fotoalben, Briefe, Memoiren. Dr. Alexander von Plato, Institut für Geschichte und Fotoalben atmen den Geist der Zeit und fördern Biografie, Liebigstraße 11, 58511 Lüdenscheid, Telefon manchmal Widersprüche zu den mündlichen Äuße- 02351-24580, Fax 02351-39973 rungen zu Tage.

019 Geschichten aus der Geschichte

Weitere praktische Tipps zum Zeitzeugeninterview: auch Widerständler. Platow zitierte das Beispiel eines Per „Oral History“ zur „Instant History“? Zeitzeugen Hardliners, der davon sprach, zwei Mal habe der Westen befragen fordert hohen methodischen Aufwand. Interview versucht, die DDR zu liquidieren: 1953 und 1961. Auf mit Professor Dr. Lutz Niethammer, in: Geschichte. Ein Nachfragen gibt der Mann zu, 1953 an einer Protestver- Arbeitsbuch für Journalisten (= Themen und Materialien sammlung in Stralsund teilgenommen zu haben. Sein für Journalisten Bd. 5), Bonn: bpb 2. überarb. Aufl. 2002, Vater war in den Westen gegangen. Er selbst hatte dann Seite 122 ff. die Sorge, seine Stellung als Minenräumer beim Militär zu verlieren – so ist seine Haltung zu erklären.

Plato geht in seiner Arbeit von einer Theorie des „kollekti- Generell ist Vorsicht angebracht bei subjektiven Erinne- ven Gedächtnisses“ aus: subjektive Erfahrungen werden rungszeugnissen. Der Interviewer muss lernen, auch bei auf Kollektive bezogen, die sich durch gemeinsame Spra- durch den Befragten selbst che, einheitlichen sozialen aufgezeichneten Erinnerungen „Es geht darum, dass man lernt, dass die Leute Hintergrund und gemeinsa- zwischen den Zeilen zu lesen. einem etwas erzählen wollen – aber auch darum, me Interessen auszeichnen. Denn Zeitzeugen suchen häu- sich nicht alles erzählen zu lassen.“ In Deutschland, so Platow, fig nach Rechtfertigungsgrün- (Alexander von Plato) ist das jedoch nicht so ein- den, um ihre Biografie zu legiti- heitlich wie in anderen Län- mieren. Tonbandprotokolle als objektivierbare Quelle, dern – in verschieden langen Zeitabschnitten bestehen sollten ungeschnitten genutzt werden, um den Kontext unterschiedliche Kollektive. Das sei letztlich ein Spiegel- eines bestimmten Zitats kontrollieren zu können. bild der Zerrissenheit von Erfahrungen statt der Einheit- lichkeit: In nur zwei bis drei Generationen haben die Men- Interviews mit Zeitzeugen, so von Plato, bringen wenig schen fünfmal tiefgreifende Systembrüche erlebt. Wissen über Abläufe und Ereignisse, aber viel über die Verarbeitung der Geschichte(n). Was kommt dabei zum „Das kollektive Gedächtnis ist zu unterscheiden von der Vorschein? Gab es Freundschaftsverluste? Gab es bio- kulturellen Erinnerung: Damit ist gemeint, dass sich ein grafische Wendepunkte: Auf- oder Abstieg der Karriere? Kollektiv über Generationen hinweg darauf einigt, was Im Fall DDR galt ein Karrierebruch als wesentlicher gültig ist und was welche Bedeutung hat. In der kulturel- Grund, sich nicht mit dem Staat zu identifizieren (und len Erinnerung leben z. B. seit dem 19. Jahrhundert die umgekehrt: die Karriere bot die Grundlage für Einver- Heldentaten von Hermann, dem Cherusker. Jede kollekti- ständnis und Zustimmung zum System). ve Erfahrung dagegen stirbt mit den Zeitzeugen.“

Theorie des kollektiven Gedächtnisses Besonders tragisch ist der „Tod vor dem Tode“: wenn 1987 führte das Institut für Geschichte und Biografie nämlich Zeitzeugen nicht mehr gehört werden, nicht Befragungen in der DDR durch: 25 genehmigte Gesprä- mehr anerkannt sind (wie eben die Zeitzeugen des 17. che wurden geführt, dazu rund 130 inoffizielle. Auskunft Juni zu DDR-Zeiten); besonders dann, wenn das, was gaben Menschen aller Schichten, vom Arbeiter bis in die diese Menschen vertreten haben, „in der Geschichte Eliten, Repräsentanten der Parteilinie, Angepasste, aber gestorben ist“.

020 Geschichten aus der Geschichte

Institut für Geschichte und Biographie Das Institut für Geschichte und Biographie (eine wissen- Zur Zeit sind etwa 1 500 lebensgeschichtliche Interviews schaftliche Einrichtung des Fachbereichs Erziehungs-, mit Männern und Frauen aus Ost- und Westdeutschland Sozial- und Geisteswissenschaften der Fernuniversität archiviert, davon etwa 150 als Videointerviews. Die älte- Hagen) ist auch für Journalisten interessant: Sie führt sten Interviews wurden Anfang der 80er Jahre geführt. lebensgeschichtliche Forschungsprojekte durch, produ- Schwerpunkte sind Gespräche mit Betriebsräten, ziert wissenschaftliche Filme und betreibt ein Archiv für Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen, mit Flüchtlin- subjektive Erinnerungszeugnisse unter dem Namen gen und Menschen mit traumatischen Erfahrungen wie "Deutsches Gedächtnis". KZ- oder Lagerhaft, nationalsozialistischer oder stalinisti- scher Verfolgung, Verschleppung u. a. sowie Interviews Bekannt wurde es auch durch die Veranstaltungsreihe aus der DDR. "Lüdenscheider Gespräche" und die "Zeitschrift für Bio- graphieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanaly- Außerdem werden schriftliche Dokumente archiviert, zur sen – BIOS". Das Institut ist Sitz des Sekretariats der Zeit etwa 600 (Auto-)Biographien, Tagebücher und Briefe, International Oral History Association. darunter Teile des "Kempowski-Archivs", sowie eine Sammlung von 75 000 Schulaufsätzen aus den 50er Im "Deutschen Gedächtnis" werden subjektive Erinne- Jahren zu sozialen und gesellschaftspolitischen Themen, rungszeugnisse aller Art archiviert: Ton- und Videointer- das so genannte Roeßler-Archiv. views mit Zeitzeugen, Briefe, Fotos, Tagebücher, Biogra- phien, Autobiographien u.ä. Materialien aus eigenen Internet: Projekten bilden den Grundbestand, der durch Forschun- http://www.fernuni-hagen.de/INST_GESCHUBIOG/ gen Dritter, aber auch durch Zusendungen einzelner bio- graphischer Dokumente ständig ergänzt wird.

021 Geschichten aus der Geschichte

Führung durch das ehemalige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Potsdam Gedenkstätte Lindenstraße 54

Auf der Straße Potsdamer Idylle – ein Fassade im ihm vorging. Heute arbeitet sie in der Fördergemeinschaft holländischen Stil aus der ersten Hälfte des 18. "Lindenstraße 54" mit, macht Führungen und forscht Jahrhunderts, die zum Vorbild für das danach über die Geschichte des Hauses. In ihrem Einführungs- erbaute „holländische Viertel“ der Stadt wurde. Hin- vortrag stellte die Historikerin und SPD-Kommunalpoliti- ter der Toreinfahrt und von außen nicht sichtbar: ein kerin die Geschichte des Gebäudes dar – seine Karriere gepflasterter Hof, vergitterte Fenster, Videokame- vom Wohnsitz des Kommandanten der Garnison Pots- ras, „Freigängerzellen“ ohne Dach, klassische dam zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Stasi- Gefängnisarchitektur des 19. Jahrhunderts. Der Gefängnis. Gegensatz kann kaum brutaler sein. Lindenstraße 54, das war die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.

Selbst viele Anwohner der Straße wollen nicht gewusst haben, was sich hinter der denkmalwürdigen Fassade tat. Gabriele Schnell kann das kaum glauben. Als Neu- bürgerin vor vielen Jahren nach Potsdam zugezogen, war sie mit dem Kinderwa- gen ahnungslos vor diesem Haus stehen geblieben. Sofort trat ein Mann heraus, der sie fürchterlich anschnauzte, sie solle wei- tergehen – ob Sie denn nicht lesen können. In der Tat stand es auf großen Gabriele Schnell, Fördergemeinschaft "Lindenstraße Schildern zu lesen – vor der 54", Ungerstr. 32, 14471 Potsdam, Tel 0331-903686 Lindenstraße 54 war das Stehenbleiben verboten. Besonders eindrucksvoll während der anschließenden Führung durch den Zellentrakt: Zeitzeuge Richard Baier, Seither hat das Interesse an der 1983 über Monate in diesem Gefängnis verhört wor- diesem Haus Gabriele den war, schilderte aus eigenem Erleben, wie die Gefan- Schnell nicht mehr losgelas- genen konspirativ in getarnten Fahrzeugen „zugeführt“ sen. Monate dauerte es, bis wurden, wie sie über Wochen und Monate isoliert blieben sie herausbekam, was in und im Ungewissen gehalten wurden über ihr weiteres

022 Geschichten aus der Geschichte

Richard Baier, begleitete die Gruppe bei ihrem Besuch im Stasi-Gefängnis Lindenstraße, wo er selbst monatelang in Untersuchungshaft saß.

Schicksal. Viele Teilnehmer bezeichneten den Besuch Kontakt: dieser Gedenkstätte im Nachhinein als den oder jeden- Gedenkstätte "Lindenstraße 54" des Potsdamer Muse- falls einen der Höhepunkte des Workshops. ums, Lindenstraße 54-55, 14467 Potsdam, Tel.: 0331 Die Anlage ist heute politische Bildungs- und historische 289 68 03, Fax: 0331 289 68 05 Dokumentationsstätte zur politischen Justiz des NKWD Verkehrsverbindungen: S-Bahn, Linie 7 Potsdam-Stadt, und der "Staatssicherheit" der DDR. (Vorträge und Füh- Tram 98 bis Doriusstraße, 5 Min. Fußweg bis Lindenstra- rungen) ße

023 Geschichten aus der Geschichte

Berlin-Ost und –West: Schaufenster der Systeme im Kalten Krieg

Berlin war der Mittelpunkt von Auseinandersetzun- Schaufenster“ auszustatten, zu demonstrieren, welches gen auf drei Ebenen: der internationalen Politik, der System den Menschen mehr zu bieten hat. Deutschlandpolitik und der innerstädtischen Systemauseinandersetzungen. Auf Berlin schaute Ein Beispiel: Im Sommer 1951 veranstaltet die DDR die die Welt, und so war es für die Politik in West und dritten Weltfestspiele der Jugend als Bekenntnis zur Ost wichtig, die jeweilige Stadthälfte zu einem neuen Ordnung. Nach West-Berlin floss daraufhin reich- „attraktiven Schaufenster“ auszubauen. Welches lich Geld, um Gegenveranstaltungen zu starten: Kino, System hat mehr zu bieten? Sport, Konzerte in der Deutschlandhalle. Als sogar junge Leute im Blauhemd zum Feizeitvergnügen in den Westen Dr. Michael Lemke, wechselten, musste der Osten dagegenhalten. Zentrum für Zeithistori- sche Forschung Pots- Nach der destabilisierten Lage in Folge des 17. Juni dam, Am Neuen Markt 1953, so der Referent, hätten die USA nach Wegen 1, 14467 Potsdam gesucht, wie sie Ost-Berlin weitere Schmach zufügen konnten. Die Antwort waren „Als Fleischwerdung des Westens gingen Millionen Lebensmittelpakete: 6,9 Mil- Ostdeutsche in West-Berliner Kinos – die noch pri- lionen Pakete wurden an vat betriebenen Kinos im Osten gingen pleite. West- Ostberliner ausgegeben. Die Berliner besuchten dagegen gerne Aufführungen in SED unternahm zunächst den vorzüglichen Ost-Berliner Theatern. Es gab eine nichts, griff dann zu repressi- unglaubliche Durchlässigkeit der Sektorengrenzen, ven Maßnahmen und ließ die der Klein- und Schwarzhandel florierte; West-Berli- Pakete einkassieren. Dabei ner gingen zum Schneider in den Osten.“ kam es zu dramatischen (Michael Lemke) Szenen auf manchen Bahn- höfen, zu Schlägereien mit West-Berlin fand sich plötzlich abgeschnitten von seinem Vopos, die Pakete konfiszieren wollten. Einbehaltene „Speckgürtel“, dem als einheitlich wahrgenommenen Nahrungsmittel nutzte die SED zu einer eigenen Propa- Lebensraum Brandenburg und der dort angesiedelten ganda-Aktion: Sie verteilte die Leckerbissen an arbeitslo- Industrie. Daher war eine Verlagerung auf Dienstleistun- se Westberliner. gen und „Nichtproduktives“ wie Kultur notwendig. Damals war zunächst durchaus nicht erkennbar, dass Damals nahmen die Menschen Berlin noch als einheitli- Westberlin zu einem „Leuchtturm der Freiheit“ entwickelt chen Lebensraum wahr. In beide Richtungen gab es eine werden konnte. Bei 320.000 Arbeitslosen (1950) erschien große Zahl von Grenzgängern: Zwischen 55.000 und das als ein schwieriges Unterfangen. Möglich wurde es 65.000 wechselten täglich in den Westen, rund 25.000 in nicht aus eigener Kraft, sondern mit sehr viel Hilfe von den Osten (offizielle Zahl). So lebten z. B. Ärzte oder außen – zum Beispiel den Marshallplan-Geldern. Werkleiter im Westen, arbeiteten aber im Osten. Im Westen kamen 25 bis 30 Prozent der Studenten aus Der Begriff „Schaufenster“ tauchte dabei sehr früh auf. Er dem Ostsektor und den angrenzenden Gebieten. signalisierte den Willen beider Stadthälften, „attraktive Im weiteren Verlauf der 50er-Jahre erstreckte sich der

024 Geschichten aus der Geschichte

Wettbewerb zunehmend auch auf den Städtebau (Bei- spiel: Tiergarten und Zoo), Prestige-Objekte wurden gebaut, es gab Konkurrenz bei Ausstellungen etc. Insgesamt blieb bei aller Separierung auch ein Stück Ein- heit der Stadt erhalten. Zum Beispiel gab es eine enge Zusammenarbeit von Feuerwehr und Polizei. Über den Mauerbau hinaus, als man sich zunehmend entfremdete, verklammerten die S-Bahn und das Problem der zu klä- renden Abwässer der Millionenstadt die beiden Stadthälf- ten – ein „einmaliges Nachkriegsgebiet“ (Lemke).

Bücher von Michael Lemke Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus, Die Deutschlandpolitik der SED 1949-1961, Köln/Weimar/Wien 2001, Reihe Zeithistorische Studien Band 17.

Michael Lemke (Hg.), Sowjetisierung und Eigenstän- digkeit in der SBZ/DDR (1945-1953), Köln/Weimar/Wien 1999. (Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen der DDR-Geschichte, Bd. 2)

Märkische Allgemeine 025 Geschichten aus der Geschichte

Arbeitsgruppe 1 Der 17. Juni 1953 – Thema in Ost und West

Leitung: Bernd Serger, Badische Zeitung, Freiburg die Rolle des RIAS, gerade in den Aufstandstagen, als nur dieser Sender die Kommunikation aufrecht Thesengeber: Burghard Ciesla, ZZF Potsdam, Am erhielt, d.h. das Wissen darüber, was an verschiede- Neuen Markt 1, 14467 Potsdam nen Orten der DDR passierte.

Die Gruppe hatte zu Beginn Schwierigkeiten, ihr Thema Sogar der Alkohol soll indirekt eine Rolle gespielt haben – in den Griff zu bekommen. Sie konnte sich nicht recht insofern, als kurz zuvor die Preise dafür erhöht worden entscheiden, ob sie sich mit dem 17. Juni als Thema in waren, was viel böses Blut geschaffen haben soll. Ost und West unmittelbar nach den Ereignissen befassen sollte oder mit dem Thema heute in Ost und West. Dies In einem zweiten Teil diskutierte die Gruppe über Umset- war nicht vorgegeben – also entschied man sich, sich mit zungsmöglichkeiten in den Medien. Aufhänger zu finden, Hilfe des Zeithistorikers Burghard Ciesla vorwiegend wei- hieß es, ist im Allgemeinen nicht schwierig: Häufig helfe ter über das Jahr 1953 zu informieren – mit einem deutli- es schon, die eigene Zeitung der Tage nach dem 17. Juni chen Schwerpunkt auf den lokalen Gegebenheiten in anzuschauen – das gelte in Ostdeutschland genauso wie Potsdam am 18. Juni. im Westen.

Dabei kamen, so Bernd Serger, interessante Aspekte zur Im Westen könne man außerdem Sprache, die vorher in der Diskussion noch keine Rolle gespielt hatten, zum Beispiel Schulbücher auswerten,

die Rolle des Koreakrieges, der in Ost und West Zeitzeugenaufrufe drucken, erhebliche Kriegsangst geschürt hatte. Es war nicht auszuschließen, dass eine Berlinkrise zu einer bewaff- gezielt Flüchtlinge ansprechen, die 1953 gekommen neten Ost-West-Konfrontation führen konnte. sind,

die Rolle der Kirche, die unter erheblichem Druck Kommunisten interviewen, die damals am Ort poli- stand und mit sich selbst beschäftigt war – ganz tisch aktiv waren. anders als 1989. So stand sie den Ereignissen des 17. Juni recht indifferent gegenüber. überlebende Mitglieder des „Komitees unteilbares Deutschland“ ausfindig machen. die Rolle der Reparationsleistungen, die an die Sowjetunion erbracht wurden. Sie waren sehr viel Weitere Idee: In manchen westdeutschen Städten, als härter als die Reparationen Westdeutschlands an die Beispiel wurde Speyer genannt, gibt es bis heute Mahn- Westmächte und trugen dazu bei, dass es wirtschaft- male, die direkt an die Opfer des 17. Juni 1953 erinnern lich nicht vorwärts ging. – hier lässt sich rekonstruieren, wie diese damals zustan- de gekommen sind. die Rolle der von der DDR anerkannten Oder-Neiße- Grenze, die vor allem in Grenznähe für Unruhe sorg- Wünschenswert ist eine Berichterstattung, welche die te. Partnerstädte in Ostdeutschland einbezieht. Ideal wäre

026 Geschichten aus der Geschichte

das in einer einzigen Ausgabe zu leisten – quer durch alle Bundespräsidenten erwähnt, der in diesem Jahr dem Ressorts, oder aber als Serie. Thema gewidmet ist. Hier kann sich die Zeitung bei Teil- nehmern am jeweiligen Ort einklinken und so eine ganz Schließlich wurde der Schülerwettbewerb Geschichte des andere Perspektive gewinnen.

Arbeitsgruppe 2 Die 50er Jahre in Ost und West

Leitung: Sandra Daßler, Tagesspiegel, Berlin schlechte Zeiten. Der Vergleich der Lebensverhältnis- se zwischen Ost und West spielte bei den Menschen Thesengeber: Andreas Ludwig, Dokumentationsstelle wie in der politischen Propaganda (bis in die 80er für Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, Tel. Jahre hinein) eine große Rolle. 03364/417355 4. Ungleiche Lebensverhältnisse und politische Gän- In seinen einleitenden Thesen umriss Andreas Ludwig vier gelung – in den 50er-Jahren noch direkte politische Themenkomplexe, „die möglicherweise sensibel für das Repression – bestimmten die gegenseitige Wahrneh- Besondere der Zeit machen können“. mung der Deutschen in Ost und West. Diese wurde, so Ludwig, zunehmend eindimensional: Für die Bun- 1. Die 50er-Jahre sind noch weitgehend Nachkriegs- desbürger wurde die DDR ein zunehmend fremdarti- geschichte – es ging in Ost wie West um die Über- ges Land, für die DDR-Bürger die Bundesrepublik windung der wirtschaftlichen, sozialen, aber auch zunehmend ein durch Medien vermitteltes Paradies. mentalen Folgen des Nationalsozialismus und des Nach 1989 zeigten sich die Fehleinschätzungen und Krieges. Dies galt auf gesellschaftlicher Basis ebenso die mangelnden Kenntnisse über die jeweils andere wie für jeden einzelnen Menschen. Die Probleme Hälfte Deutschlands in voller Schärfe. waren zunächst überall die gleichen – aber die Vor- aussetzungen für ihre Lösungen waren ungleich und Die sich daran anschließende Diskussion zeigte, dass entwickelten sich zunehmend auseinander. gerade Letzteres bis heute nachwirkt: Unkenntnis der Situation in der DDR – ungläubiges Staunen der Kollegen 2. Die 50er-Jahre sind geprägt durch den Kalten aus dem Westen über die Zustände, Lebens- und Krieg zwischen Ost und West, zugespitzt in Deutsch- Arbeitsumstände. Wie konnte man unter solchen Bedin- land. In Politik und Medien galt der jeweils andere gungen überhaupt journalistisch arbeiten, wurden die aus Staat als Feind. Inwieweit hat sich das im täglichen dem Osten stammenden Kollegen gefragt. Diese reflek- Leben der Menschen widergespiegelt? tierten ihre Erfahrungen durchaus unterschiedlich. Es gab keine Zensur, sagten die einen – sie war gar nicht not- 3. Die 50er-Jahre sind ein Stück Konsumgeschichte wendig, denn wir hatten die Schere im Kopf und wussten – an der Nahtstelle der Unterscheidung gute Zeiten / genau, was wir schreiben konnten und was nicht. Es gab

027 Geschichten aus der Geschichte

sehr wohl eine harte Zensur, entgegneten andere ost- deutsche Kollegen – sie setzte genau dort ein, wo solche Anregende Lektüre zum DDR-Journalismus Grenzen hin und wieder überschritten wurden. Zum Thema Journalismus in der DDR gibt es zwei wirk- Die Diskussion darüber gab der Arbeitsgruppe den Cha- lich gute belletristische Bücher: rakter einer deutsch-deutschen Begegnung, wie sie offenbar auch zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung Zur frühen DDR der dritte Teil von Erwin Strittmatter: Der hilfreich und notwendig ist. Wundertäter. Das Buch beschreibt auf sehr satirische Weise die Arbeit eines Lokalredakteurs in den 50er Jah- Daneben spielte die Erörterung der Umsetzungsmöglich- ren - mit einem Propagandasekretär namens Wummer keiten für Themen um den 17. Juni eine untergeordnete und einer nicht linientreuen Ärztin, die zur großen Liebe Rolle – aber sie fand durchaus statt. Neben die auch in des Helden wird. den anderen Gruppen diskutierte Zeitzeugensuche stellte die Gruppe die Idee, sehr stark mit Visualisierung zu Zu den Zwängen von Journalisten in den späteren DDR- arbeiten: Es müsste sehr spannend sein, zeitgenössische Jahren ist das Buch Flugasche von Monika Maron sehr Fotos einerseits von Zeitzeugen interpretieren zu lassen. zu empfehlen. Beide Bücher beschreiben den DDR-Jour- Andererseits sollten Historiker herangezogen werden, um nalismus sehr kritisch, aber auch aus den inneren Zwän- das Ganze in den zeithistorischen Kontext einzuordnen. gen der DDR heraus. (Sandra Daßler)

Arbeitsgruppe 3 Westintegration – Ostintegration

Leitung: Jost Lübben, Nordsee Zeitung, Bremerhaven alternative Vorstellungen der zeitgenössischen Politik, ins- besondere solche der sozialdemokratischen Opposition. Thesengeberin: Dr. Manuela Glaab, Centrum für ange- Daran entzündete sich in der Gruppe die Diskussion: wandte Politikforschung (CAP), Maria-Theresia-Str. 21, 81675 München, Telefon: 089 - 21801300, Telefax: 089 – 21801329 Umstrittene Fragen: Wer hat damals auf wen reagiert? Adenauer auf die Politik Manuela Glaab kritisierte den Titel der Gruppenarbeit: der Sowjetunion? Oder war die Währungsreform im Osten, „Ostintegration“ hätte in Anführung geschrieben werden die Gründung der DDR, der Aufbau der Volksarmee stets müssen, denn Integration sei eine freiwillige Angelegen- nur eine Reaktion auf die Politik der Bundesrepublik? Gab heit. Davon könne hinsichtlich der Eingliederung der DDR es die Möglichkeit zu anderen Weichenstellungen? in das sowjetische System für die Mehrheit der Bevölke- rung keine Rede sein. Zu kurz kam nach Meinung der Teilnehmer die Frage, wie In ihrer Darstellung beschränkte sie sich auf die Westinte- die große Politik in der Bevölkerung der beiden Teile gration: Sie stellte die Politik Adenauers dar und erörterte Deutschland reflektiert wurde.

028 Geschichten aus der Geschichte

Für den Westen ist das recht eindeutig zu beantworten. „herunterbrechen“ auf Alltagserfahrungen und erlebte Die Bevölkerung bestätigte Adenauers Politik 1957 mit Geschichten: der absoluten Mehrheit, was es seither nie wieder gege- ben hat. Manuela Glaab konnte zudem Umfragedaten im durch Aufrufe Zeitzeugen suchen Zeitverlauf präsentieren: Anfang der 50er-Jahre stand die Wiedervereinigung noch an erster Stelle der politischen in Schulen gehen und schauen, was dort zu diesem Werte und Ziele. Zwanzig Jahre später war das über- Thema gemacht wird haupt kein Thema mehr. Die Westdeutschen zogen ganz offensichtlich gesicherten Wohlstand und Freiheit politi- im Osten ist es wichtig, verschiedene konträre Zeit- schen Wiedervereinigungskonzepten vor, die in der welt- zeugen zu finden politischen Lage als unrealistisch galten. im Westen sind die Flüchtlinge von damals eine inter- Für den Osten ist man auf Mutmaßungen angewiesen, essante Zeitzeugen-Gruppe. weil es keine Umfragedaten gibt. Nach Einschätzung der ostdeutschen Teilnehmer war es den Menschen in der Unverzichtbar sind Hintergrundinformationen auf dem DDR zu Beginn der 50er-Jahre egal, ob sie Westintegrati- neuesten Stand der Wissenschaft nach dem Motto: „17. on bekommen hätten oder einen neutralen Status: „Wir Juni – Mythen und Wahrheiten“. wollten nur raus aus dem Einflussbereich der Russen.“ Gesamtfazit der Gruppe: Der 50. Jahrestag des 17. Juni In der Diskussion über journalistische Umsetzungswege 1953 bietet große Chancen, um das Interesse der Men- zeigte sich ein Gegensatz zwischen der Betrachtungs- schen zu wecken und gute Geschichten zu schreiben. weise der Thesengeberin Manuela Glaab und der journa- listischen Erfahrung: Die Wissenschaftlerin plädierte dafür, dass die Darstellung von Geschichte als solche immer Wichtige Frage an Zeitzeugen (Flüchtlinge) im interessant sei. Die Journalisten waren sich schnell einig, Westen: dass man das Interesse der Leser an diesen Themen nur „Haben Sie darunter gelitten, dass sich im Westen schon über Personen wecken kann. Man muss die Ereignisse bald niemand mehr für Ihre Geschichte interessiert hat?“

029 Geschichten aus der Geschichte

Peter Bender 50 Jahre Westintegration – Perspektiven für das Verhältnis USA/Europa

Einen Abriss der Geschichte von 50 Jahren Westin- Lieber sich den Amerikanern oder Briten ergeben, lieber tegration mit dem Blick in die Zukunft lieferte der die Westmächte als Besatzung – nur nicht die Sowjetuni- Journalist Peter Bender. Er entwickelte den Bogen on. Das war die Reaktion der Deutschen schon in der von einer „Westneigung“ der Deutschen schon Endphase des Krieges. Die Bindung an den Westen während des Krieges bis hin zur „Westbindung" in wurde durch den Korea-Krieg seit 1950 noch verstärkt. einer Zeit der aktuellen Konfrontation zwischen Es gab die Furcht, in ähnlicher Weise überrannt zu wer- Deutschland und den USA über die Frage eines den. Zwar hinkte damals der Vergleich, da im Westen möglichen Irak-Krieges. Deutschlands Truppen standen. Aber, so Bender: „Angst kommt aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf.“

„Was immer Amerika tut – die Welt muss es hinneh- men. Keine Nation erträgt eine solche Machtfülle, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Seele. Mehr als aufgeklärten Imperialismus bringt kein Staat zustande, der derart übermächtig ist.“

Nach 1945 waren die Deutschen auch moralisch geschlagen; sie wollten im Grunde keine Deutschen mehr sein, flohen vor allem, was ihnen vorher wichtig war: Macht, Militär, Geschichte. Durch die Integration in ein sich zusammenschließendes Westeuropa mussten sie nur noch zur Hälfte Deutsche sein; in der DDR trat die Geschichte vor der Idealisierung des Sozialismus in den Hintergrund. Peter Bender hat die deutsche Nachkriegsgeschichte seit den frühen fünfziger Jahren publizistisch in zahlrei- Die beiden deutschen Staaten wurden nicht um ihrer chen Beiträgen begleitet und interpretiert. 1923, geb. in selbst willen gegründet, sondern als Bastionen der jewei- Berlin, Studium der Alten Geschichte, seit 1954 Journa- ligen Vormacht. Viele Deutsche wurden zu eifrigen Ver- list, 1961-68 Westdeutscher Rundfunk, 1968/69 Interna- fechtern – der Demokratie im Westen / des Kommunis- tionales Institut für Strategische Studien (London), 1973- mus im Osten; so meinten sie, ein wenig ihre 75 ARD-Korrespondent in Warschau, als Beobachter der Vergangenheit vergessen machen zu können. Vorbereitungskonferenz der KSZE war Bender 1973 in Helsinki (Dipoli) dabei. Im Westen ersetzte der Antikommunismus als Ideologie Dr. Peter Bender, Haydnstr. 15, 14199 Berlin, Telefon den Nationalsozialismus; mit dem Wehrbeitrag West- 030-8235970 deutschlands zielte Adenauer auf die Souveränität der

030 Geschichten aus der Geschichte

Bundesrepublik. „Adenauer machte das uralte Geschäft – allem in Westdeutschland Widerstand gegen die Nachrü- Soldaten gegen Souveränität.“ Der wirtschaftliche Auf- stung der NATO mit nuklearen Mittelstreckenraketen. Im stieg mit Wohlstand und Demokratie wurde um den Preis Verlauf dieses Konflikts, so Bender, wurden die Raketen der weiteren Vertiefung der deutschen Teilung erreicht. immer unwichtiger. Honecker schlug vor, beide deutsche Adenauer war überzeugt: ein neutralisiertes Deutschland Staaten sollten mäßigend einwirken auf die jeweiligen würde unweigerlich in den Machtbereich der Sowjetunion Mächte. Aus Sicht der USA musste die Stationierung von hineingezogen werden. Wer Raketen durchgesetzt wer- damals eine andere Politik woll- „Es ist ein ‘Schwindel erregender Zustand’, alleinige den, damit die NATO intakt te, war damit nicht unbedingt Weltmacht zu sein; bei dieser ‘Fast-Allmacht’ ist von blieb. Es gab Interessens- gegen die Westbindung. Auch den USA nicht mehr zu erwarten als ‘aufgeklärter konflikte mit den USA, aber in der CDU/CSU rangen die Imperialismus’.“ nie eine Hinwendung zum Gaullisten gegen die Atlantiker (Peter Bender) Osten. – letztere setzten sich durch. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts war der Feind ver- Adenauer hatte die Unterstützung der Mehrheit: So etwas schwunden, damit das stärkste Band zu den USA zerris- wie in der DDR wollte man nicht –außerdem herrschte sen. „Alles Wesentliche in Europa seit 1945 war zwischen Angst vor dem Krieg. Insbesondere der Blick auf Berlin Moskau und Washington entschieden worden.“ Auch die reichte aus: das war nur durch die Supermacht USA zu deutsche Einheit hatten Georg Bush und Gorbatschow verteidigen. „Die große Mehrheit wollte die eigene Sicher- geregelt. Um Europa nicht durcheinander zu bringen, heit, auch wenn es gegen die deutsche Einheit ging.“ sollte das größere Deutschland klein und innerhalb des westlichen Bündnisses gehalten werden. Die Bundesrepublik entwickelte wegen ihrer Wirtschafts- kraft sehr gute Beziehungen zur DDR und zu den Ost- Die NATO allerdings hatte ihren Gründungszweck verlo- blockstaaten. Willy Brandts zog dann die Kon- ren. Die Frage wird trotzdem kaum offen gestellt: Wozu sequenzen aus dem unmöglichen Zustand, dass es zwei brauchen wir die NATO noch? Statt dessen diskutiert die deutschen Staaten ohne Beziehungen zueinander gab. Politik die Frage: Was müssen wir tun, damit die NATO Amerika, aber auch die anderen Westmächte misstrauten weiter gebraucht wird? dieser „Ostpolitik“. Wenn die Deutschen erst anfangen, fragte man sich, in Richtung Osten zu gehen – wo hören Denn es ist offensichtlich: den Krieg gegen den Terror sie damit wieder auf? führen die Amerikaner alleine, da lassen sie sich nicht hereinreden. Die anderen dürfen nur Hilfstruppen stellen. Doch das Misstrauen war unberechtigt: Aus den USA Wer nicht auf der Seite Amerikas ist, ist gegen Amerika. kam die gesellschaftliche Moderne – es gab bis in die Für die USA ist die NATO nach Meinung von Peter Ben- 60er-Jahre hinein eine enge Gefühlsbindung der Men- der nur noch Mittel zu dem Zweck, in Europa als ihrem schen zu den Amerikanern. Dann gab es bei der jünge- Brückenkopf nach Eurasien zu bleiben. Es sei ein Irrtum ren Generation einen Bruch: Die Supermacht wurde zu glauben, die Europäer müssten Wohlverhalten zeigen, wegen des Vietnam-Krieges, wegen einer gewissen Ent- um die Amerikaner in Europa zu binden. „Es geht nicht täuschung über die Rassenpolitik und die Armut in den darum, die USA in Europa zu halten – sie bleiben aus USA, aber auch wegen ihrer Marktallmacht zunehmend eigenem strategischem Interesse in Europa.“ kritisch gesehen. Die Bindungen lockerten sich, die Euro- päer entwickelten eine gewisse Arroganz gegenüber den Die Europäer ihrerseits brauchen die NATO, denn sie Amerikanern. werden mit ihren eigenen Problemen nicht fertig. „Solan- ge Europa nicht Herr seiner eigenen Angelegenheiten Nach den Ostverträgen galt jedenfalls die „deutsche wird, wird es nicht Herr seiner selbst sein, sondern Vasall, Frage“ als erledigt. Anfang der 80er-Jahre gab es vor Protektorat der USA bleiben. Die Peinlichkeit, dass die

031 Geschichten aus der Geschichte

alte Welt zur Lösung der Konflikte auf dem Balkan die neue Welt braucht, sollte sich nicht wiederholen.“ Ostmitteleuropäische Staaten dagegen behalten ihr Miss- trauen gegen Moskau und orientieren sich deshalb eng an den USA. „Polen hat Deutschland in der Rolle des treuesten Vasallen der USA abgelöst.“ Heute fehlt in der Welt die Gegenmacht zu den USA: „Kein Regime erträgt diese Stellung, ohne sich zu verän- dern.“ Es ist ein „Schwindel erregender Zustand“, so Bender, alleinige Weltmacht zu sein; bei dieser „Fast-All- macht“ ist von den USA nicht mehr zu erwarten als „auf- geklärter Imperialismus“. Was soll Europa tun? „Gegen Macht gibt es keine Argumente, sondern nur den Aufbau eigener Kraft.“

Doch auch die Amerikaner wissen, dass ihnen nicht allzu viel Zeit bleibt. Und diese wollen sie für eine Neuordnung der Welt in ihrem Sinne so gut wie möglich nutzen. Alle strategischen Analysen deuten in diese Richtung: Der Irakkrieg, daran anknüpfend die Neuordnung der gesam- ten arabisch-islamischen Welt im Sinne von westlich ver- standener Freiheit und Demokratie sind Teil dieser globa- len Strategie. Eine „multipolare Welt“ ist erst in fernerer Zukunft abseh- bar, dominiert von Staaten anderer Kulturen (China, Indien); in dieser Welt brauchen die USA dann vielleicht Europa wieder als Verbündeten. Niemand kann heute abschätzen, wie lange das amerikanische Zeitalter dau- ern wird.

Bücher von Peter Bender Offensive Entspannung, 1964, Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR, 1968, Die Ostpolitik Willy Brandts, 1972, Deutsche Parallelen, 1989, Unsere Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt von ihr?, 1992, Die "Neue Ostpolitik" und ihre Folgen – vom Mauerbau bis zur Vereinigung, 1995

Potsdamer Neueste Nachrichten / PNN 032 Geschichten aus der Geschichte

Die Tage von Potsdam im Urteil von Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Höhepunkt – der Besuch des Gefängnisses! Schlusspunkt setzen konnte. Er hat z.B. geschichtliche Wieder einmal ein sehr gutes Seminar von der Bundes- Abläufe sehr interpretatorisch und somit wenig exakt zentrale! Höhepunkt war der Besuch des Gefängnisses! geschildert, die von ihm so genannten Analysen waren Nicht so gut gefallen haben mir einzelne Beiträge der mehrheitlich persönliche Wertungen, seinen Hegemonial- Referenten – es wäre doch schöner gewesen, wenn zeichnungen der USA (und des Römischen Reiches) und etwas mehr Visualisierung vorhanden gewesen wäre. So den Interessen-Definitionen fehlten Wirklichkeitsbezüge, haben wir uns zwar fast drei Tage mit dem Thema 17. sie waren ideologiebeladen und unfair... Und weil wir ihn Juni beschäftigt, doch Bilder davon haben wir nicht gese- als journalistisches Urgestein lange kennen, wäre es rich- hen! Ich im Nordwesten werde mich in meiner Berichter- tig gewesen und sicher ein Gewinn geworden, ihm einen stattung mehr den 50er-Jahren als Ganzes in Ost und Co-Referenten zur Seite zu stellen. West widmen! Gerd Backenköhler, Konrad Freytag, Freier Mitarbeiter n-tv Delmenhorster Kreiszeitung, Harpstedt Viel Hintergrundinformation Höhepunkt – die Zeitzeugen Von dem Workshop habe ich eine Menge Hintergrundin- Ein Höhepunkt war sicher der Abend mit den beiden formationen zu den 50er Jahren und dem 17. Juni mitge- Zeitzeugen Schenk und Baier. Ich habe ein Interview mit nommen. Besonders beeindruckt haben mich die Zeit- Andreas Ludwig (Eisenhüttenstadt) zum Alltag in Ost und zeugengespräche und der Besuch im Gefängnis. Dort West in den 50er Jahren verabredet. Ich möchte in hätte ich gerne mehr Zeit gehabt. Toll wäre natürlich auch unserer Zeitung in Kooperation mit dem Stadtarchiv ein Zeitzeuge gewesen, der sich an dem Aufstand betei- Fotos drucken, die markante Orte der Stadt in den 50er ligt hat. In Stade könnte ich mir vorstellen, etwas in der Jahren zeigen und eine Perspektive aus der Gegenwart Schule zu machen: Wie wird das Datum dort behandelt? daneben stellen. Dazu gibt es ein kleines Erklärstück. Was können Schüler heute daraus lernen? Thema: was war damals, was ist heute? Beispiel: In den Michaela Lehmann, Freie Journalistin, Stade 50er Jahren gab es im Hafen Bremerhavens Barackenla- ger, in denen Flüchtlinge lebten. Während der NS-Zeit Gesamtüberblick über die deutsch-deutsche lebten dort Zwangsarbeiter. Heute stehen hier Windräder. Geschichte All das geschieht. Ich plane außerdem eine kleine Serie Ich habe viel über ein Thema erfahren, das mir aus ver- über Flüchtlinge, die in den 50er Jahren fast ein Viertel schiedenen Gründen nur in einigen historischen Daten und der Bevölkerung Bremerhavens stellten, außerdem möch- Vorgängen bekannt war. Der Workshop hat auch dazu te ich ein Schulprojekt mit dem Thema 17. Juni 1953 beigetragen, meinen Gesamtüberblick über die deutsch- oder 50er Jahre anschieben. deutsche Geschichte anzureichern, vor allem, weil ich Jost Lübben, Nordsee-Zeitung, Bremerhaven mich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema "Stasi" beschäftige. Highlights waren die Zeitzeugen, der Besuch Denkanstöße mitgenommen im "Lindenhotel" und eigentlich auch alle Referenten, Ich fand die Seminarbedingungen angenehm und das wenngleich ihre Temperamente unterschiedlicher Natur Programm recht interessant und anregend. Für die Arbeit waren. Norman Dankerl, Freier Journalist, Amberg in "meinem" Sender n-tv jedenfalls habe ich drei sehr nützliche Denkanstöße mitgenommen. Wie bereits münd- Viele Anregungen für Themen zu den 50er Jahren lich angedeutet, muss ich allerdings auch einen ernsten Mein umfangreiches Vorwissen über die DDR wurde ver- Kritikpunkt anbringen: es war m. E. der Seminarqualität tieft. Ich erhielt viele Anregungen für Themen zu den 50er abträglich, dass Dr. Peter Bender den inhaltlichen Jahren in der Zeitung. Es hat mich gefreut, mit wie viel

033 Geschichten aus der Geschichte

Einsatz und Mitteln das ZZF die Vergangenheit der DDR USA – Europa, andererseits der anekdotenreiche Vortrag aufarbeiten kann. Für mich war der Auftritt von Fritz des Historikers Michael Lemke über die Schaufenster der Schenk beim Kamingespräch hoch interessant, aber Systeme – das war nicht nur informativ, sondern auch auch schockierend. Zweifelsohne ist er ein Mann mit unterhaltsam. Gefallen hat mir auch der Vortrag zum Zeit- einer großen Kenntnis der Zusammenhänge, aber für zeugen als Quelle, mit diesen Anregungen lässt sich doch mich auch ein Beispiel dafür, wie ein Zeitzeuge seine Ver- gleich praktisch in unserem Job etwas anfangen. Die gangenheit verdrängt.... Gruppenarbeit war bei uns (Gruppe 1) eher Referat als Die Führung durch die Lindenstraße 54 vergegenwärtigte "Aktion". An dieser Stelle könnte ich mir – gerade bei so mir, dass ich über die ehemalige DDR noch längst nicht viel Theorie – mehr Ideen zur journalistischen Umsetzung genug weiß. Die Gruppenarbeit (Gruppe 2) war sehr vorstellen. Die Highlights: Ganz klar: Die Zeitzeugen – vor ergiebig, weil sich Kollegen aus Ost und West austau- allem Richard Baier – und der Besuch der Gedenkstätte schen konnten. (Es gipfelte in einem „Pfui“ vom Kollegen Lindenstraße. Die Bilder sind noch heute in meinem Kopf. Rau, als ich erzählte, dass wir 1976 per Fluchthilfe Ange- Vielleicht eine Idee für Sie: Erwähnen Sie doch in Ihrer hörige in den Westen brachten). Sehr gut vorbereitet Seminarausschreibung, wann es sich lohnt, Bildaufnah- waren der Gruppenleiter und der Themengeber. men zu machen. Vielleicht hätten dann noch mehr Teil- Der Vortrag von Stefan Wolle (Jhg. 1960) machte mir nehmer eine Kamera mitgenommen. Ich zum Beispiel. deutlich, wie schwierig es ist, Geschichte aus Quellen zu Konkrete Ideen zur Umsetzung wachsen gerade. Zum interpretieren. Der 17. Juni 1953 und der Fall der Mauer Beispiel: Zeitzeugenaufruf, Zeitzeugen-Portraits; Zeitzeu- 1989 sind meiner Meinung nach nicht so einfach mitein- gen zu bestimmten Punkten erzählen lassen; Podiums- ander zu vergleichen... Der Vortrag von Dr. Peter Bender veranstaltung mit einem Zeitzeugen und einem Historiker; am Ende war ein Höhepunkt und gelungener Abschluss Wie hat unsere Zeitung vor 50 Jahren über das Ereignis des Workshops, wenngleich ich als Zuhörerin mit ihm berichtet? Wie wird an Schulen mit dem Thema umge- nicht immer einer Meinung war. gangen? Ist es (noch) Thema in den Geschichtsbüchern? Trotz Kommunalwahlkampf in Schleswig-Holstein (2. Geschichte mit Lehrern; Der 17. Juni in Literatur und März) habe ich bereits mit dem Lokalchef das Thema 17. Kunst; Gibt es Denkmäler im Verbreitungsgebiet, die wir Juni und SHZ angerissen. Wir wollen in Flensburg einen vorstellen können? Beteiligen sich Schulen in unserem Vorschlag zu dem Thema machen und werden uns ein Verbreitungsgebiet an dem Schreibwettbewerb 17. Juni Konzept ausdenken, das wir landesweit (16 Zeitungen) von der bpb? Etc. etc. auf den Schleswig-Holstein-Seiten verwirklichen können. Iris Dietz, Wetzlarer Neue Zeitung, Wetzlar Außerdem plane ich auf unseren Lokalseiten eine Folge: „17. Juni und dann kam der Entschluss: jetzt gehen wir Zu wenig Zeit im Knast in den Westen.“ Zeitzeugen und Bilder finde ich sicherlich Was besser gemacht werden kann? Das ist bei den Ver- durch einen Aufruf in der Zeitung. Die Idee wurde mir in anstaltungen der bpb eigentlich kaum möglich, ist doch der Arbeitsgruppe 2 vermittelt. Marianne Dwars, alles immer super organisiert, sind erstklassige SHZ Schleswig-Holstein Kurier, Neumünster Gesprächspartner vor Ort, etc. Dieser Workshop hat mir einen Überblick über den 17. Crash-Kursus in Sachen deutsch-deutscher Juni gegeben. Eine Zeit, die in der DDR nicht erwähnt Geschichte wurde, wie überhaupt die Geschichtsstunden eher über Zuallererst ein großes Lob an die bpb für dieses Seminar, die damalige Sowjetunion nach Stalin angereichert waren von dem ich meinem Mann noch bis in die Nacht zum und später mit staatsbürgerkundlichen Dingen, als Samstag erzählt habe. Der Workshop war für mich ein Geschichte der 40er, 50er und 60er Jahre. Sehr beein- Crash-Kursus in Sachen deutsch-deutscher Geschichte, druckt haben mich die Augenzeugenberichte ehemaliger die durch die unterschiedlichen Referenten von allen Sei- politischer Inhaftierter, zwei kamen ja auch zum jetzigen ten beleuchtet wurde. Zum Beispiel die streitbaren The- Museum im ehemaligen Stasi-Knast. Unvorstellbar sen des Schlussreferenten Peter Bender zum Thema eigentlich, mit dem Wissen, zu Unrecht nur für sein Den-

034 Geschichten aus der Geschichte

ken, eingesperrt worden zu sein. Der Besuch des Stasi- Umsetzung? Zuerst einmal schreibe ich eine Ideenliste für Museums gehört für mich zu den Highlights – verbunden die Kollegen beim Münchner Merkur (Zentral- und Lokalre- mit Bedauern, dass dafür so wenig Zeit eingeplant war... daktionen). Zum Termin plane ich mindestens zwei Son- In der Berichterstattung will ich das Thema auf die lokale derseiten im Tölzer Kurier, für die ich in den nächsten Ebene hinunterbrechen. Anregungen dazu gab es in den Tagen per Redaktionsanfrage Zeitzeugen suche (sind ja Workshops. Allerdings habe ich erkennen müssen, dass genug Leute aus der ehemaligen DDR hier zugezogen). in meinem Bereich am 17. Juni 1953 wenig gelaufen ist. Dazu durchforsche ich das Tölzer-Kurier-Archiv nach der Ich werde aus unserer Lokalzeitung heraus noch einmal Berichterstattung von damals. Am liebsten wäre mir dazu Nachforschungen machen, vielleicht stoße ich noch auf noch ein Ost-West-Vergleich (auch der Schlagzeilen von interessante Dinge. vor 50 Jahren) durch ein Kooperationsprojekt mit einer ost- Außerdem bietet ein solcher Workshop immer die Gele- deutschen Zeitung. Der Partner fehlt mir allerdings noch. genheit, mit Kollegen des Medienbereiches aus allen Joachim Braun, Münchner Merkur, Bad Tölz Gegenden der BRD zusammenzutreffen. Mich hat erstaunt, welches Bild doch die "Westler" von den Ossis Fragen auf höherem Niveau bzw. vom Leben in der damaligen DDR haben. Es wurde Ich hatte vorher viele Fragen und hinterher noch mehr, in den Diskussionen auch deutlich, wie subjektiv manche aber die dann auf einem weit höherem Niveau. Mir ist dort Erfahrungen vom Leben in der DDR doch sind. allerdings endgültig klar geworden, dass eine Antwort zum Marina Hube, Freie Journalistin, Rudolstadt Charakter des 17. Juni nicht "schwarz-weiß" gegeben werden kann. Ich fand die gesamte Veranstaltung gut Fundierte Einsichten in die Ereignisse des 17. Juni strukturiert. Von den Referenten möchte ich keinen her- Ich verdanke dem Workshop fundierte Einsichten in die vorheben, sie haben sich sinnvoll ergänzt. Bender war ein historischen Ereignisse des 17. Juni und deren Bewer- weiser Schlussakkord. Unangenehm berührt hat mich als tung, die weit über das hinaus gehen, was wir auf dem Ostdeutsche die Art der Darstellung von Fritz Schenk. Die Gymnasium (17. Juni = Tag der Deutschen Einheit = Website www.17juni53.de ist äußerst nützlich. In unserer schulfrei) gelernt haben. Ich habe zum ersten Mal an Redaktion (Nordkurier Neubrandenburg) liegen inzwischen einem derartigen Workshop teilgenommen und fand ihn konzeptionelle Vorstellungen für Leseraktion, Beiträge, durchweg positiv; Highlights waren für mich die Zeitzeu- Interviews vor, die ihre entscheidenden Impulse durch gen, der Eröffnungsvortrag, der Abendvortrag am Don- den Workshop bekommen haben. Für die hoch interes- nerstag und der Workshop (Alltag der 50er Jahre in Ost santen Tage in Potsdam möchte ich mich bedanken. und West)... Christine Stelzer, Nordkurier, Neubrandenburg Jochen Paul, Hubert Burda Media, München Konkrete Anregungen zur Umsetzung Spannende West-Ost-Begegnung Der Workshop hat einen Überblick gegeben über den 17. Ich fand den Workshop sehr interessant, nicht zuletzt Juni, das Thema wurde in historischen Zusammenhän- wegen der auch nach über zwölf Jahren noch spannen- gen dargestellt – vor allem im letzten Referat am Freitag. den West-Ost-Begegnung. Dank der „Umerziehung“ und Das war aus meiner Sicht einer der Höhepunkte der Ver- der "Gehirnwäsche" (Sandra Daßler) weiß ich nun ja anstaltung, wie auch das letzte Referat am Donnerstag auch, was wirklich geschah, damals in der DeDeeR ... (Teilung Berlins etc.). Ich erhielt zudem konkrete Anregun- Und tatsächlich waren mir auch die Hintergründe des 17. gen zur Umsetzung des Themas, eine große umfassende Juni nicht wirklich klar (wobei ich das bei Bedarf sicher- Serie – wie von einigen Kollegen angeregt – plane ich lich hätte nachlesen können). Höhepunkte waren der allerdings nicht. Ein Seite-3-Beitrag, der die Ereignisse Besuch im "Lindenhotel", die beiden so gegensätzlichen um den 17. Juni beleuchtet und der darstellt, wie mit Zeitzeugen (auch wenn ich sie selber nicht "verwerten" dem Tag in Ost und West umgegangen wurde und wel- kann) und genannte Kollegen-Gespräche. Zu mäkeln hab che Schwierigkeiten man auf beiden deutschen Seiten ich nichts. mit dem Tag hatte, erscheint mir angemessen. Eva Prase, Freie Presse, Chemnitz 035 Geschichten aus der Geschichte

Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Bonn

in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam

Vom 12. bis 14. Februar 2003 in Potsdam

Tagungsort: Altes Rathaus Potsdam Am alten Markt • 14467 Potsdam

Seminarleitung: Berthold L. Flöper, Bundeszentrale für politische Bildung, Hans-Hermann Hertle, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Michael Bechtel, Freier Journalist, Bonn

Impressum:

Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Fachbereich Programme für besondere Zielgruppen (FBC) Journalistenprogramm • Berliner Freiheit 20 53111 Bonn • Tel.: 01888-515558 E-Mail: [email protected] • www.bpb.de Redaktion: Michael Bechtel ([email protected]) Berthold L. Flöper (vwl.) Titel und Layout: Marc Tulke ([email protected])

Märkische Allgemeine 036