Ulbricht, Chruschtschow Und Die Mauer
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Einleitung: Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer Als eine Gruppe von Studenten der West-Berliner Freien Universität im Herbst 1960 nach Israel reiste, wurde den jungen Leuten in Jerusalem eine mehrere Meter hohe Mauer gezeigt, welche den jüdischen und den arabi- schen Teil der Altstadt voneinander trennte. Auf diese aus Stein und Zement gefertigte Mauer war zusätzlich eine hölzerne Wand gesetzt, die verhindern sollte, daß sich Kinder beider Parteien mit Steinen bewarfen. Unter den Ber- liner Studenten kam eine kurze Diskussion auf, ob eine solche Mauer auch in ihrer Heimatstadt denkbar sei, doch sie verwarfen diesen Gedanken so- gleich wieder: „Die Vier-Sektoren-Stadt war nach unserer Meinung viel zu groß für eine rigorose Teilung nach Jerusalemer Vorbild - in Berlin doch nicht, der in hundertjähriger technischer Entwicklung gewachsenen Metropole mit ausgedehnten Gewässern und Forsten, mit einer riesigen Kanalisation, mit einem Netz von unterirdischen U- und S-Bahn-Tunneln, bewohnt von Kindern, die keine Neigung hatten, sich gegen- seitig mit Steinen zu bewerfen, wie halt Angehörige zweier verfeindeter Volksgrup- pen."1 Für wahrscheinlicher hielten es die West-Berliner damals, daß die Sowjet- union versuchen könnte, das Ausfliegen von Flüchtlingen aus dem Westteil der Stadt zu unterbinden, oder daß die DDR mit sowjetischer Hilfe die Kontrollen an den Grenzen zwischen den Westsektoren und dem Ostteil der Stadt sowie dem angrenzenden DDR-Bezirk Potsdam verschärfen würde. Die zweite Lösung schien realistischer, hätte erstere doch die Berlin- Garantien der Westmächte und die erst kurz zuvor vom amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy bekräftigten „three essentials" (Anwesenheit der westalliierten Schutzmächte, freier Zugang - zu Lande, zu Wasser und unkontrolliert durch die Luft -, Lebensfähigkeit der Stadt)2 verletzt und da- mit eine militärische Eskalation der seit Ende 1958 schwelenden Berlin- Krise gefährlich nahe gebracht3. Doch kam es anders, als die Israel-Reisen- den vermuteten. Die östliche Seite verschärfte nicht nur die Zutrittskontrol- len nach West-Berlin, sondern unterbrach die Kontakte zwischen beiden Hälften der Stadt und ihrem Umland sowie bald darauf zwischen beiden 1 Rexin, Eine Mauer durch Berlin, S. 645. 2 Vgl. zu den „three essentials'" allgemein Loth, Helsinki, S. 81-84. 3 Vgl. Rexin, Eine Mauer durch Berlin, S. 646. 10 Einleitung deutschen Staaten durch den Bau von Grenzbefestigungsanlagen, als deren Chiffre über Jahrzehnte, bis zum Untergang der DDR, die Berliner Mauer stand. In den letzten vierzig Jahren ist der Mauerbau Gegenstand einer Vielzahl von essayistischen, populärwissenschaftlichen und akademischen Veröf- fentlichungen geworden4. Noch 1990 stellte - trotz der damals bereits fast unübersehbaren Anzahl von Publikationen - der Historiker Gerhard Kei- derling ebenso lapidar wie treffend fest: „Unsere Kenntnisse über die inter- nen Entscheidungsprozesse in den Führungen der UdSSR, der DDR und des Warschauer Paktes sind nach wie vor so gering, daß sie keine sicheren Urteile erlauben."5 Erst im letzten Jahrzehnt konnte die Forschung ver- stärkt auf frei werdende Dokumente aus den Archiven der ehemaligen Vier Mächte, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zurückgreifen. Da- durch wurde es möglich, Positionen, Entscheidungen, Handlungsweisen und Reaktionen der beteiligten Seiten besser zu rekonstruieren. Die seitdem einsetzende Aufarbeitung der zweiten Berlin-Krise 1958-1962 (nach der er- sten, in der Luftbrücke kulminierenden Krise 1948/49) stellte den Mauer- bau in den Kontext der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen im Kalten Krieg6, der Deutschlandpolitik Bonns, Ost-Berlins und Moskaus7, der öko- nomischen Abhängigkeiten Ost-Berlins von Moskau8 oder der Geschichte des DDR-Grenzsystems von ihren Anfängen bis zum Ende9. Im „Jahr 40" der Mauer erschien eine Monographie, die vor allem die Haltung des We- stens auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise ausgiebig beleuchtete10, wäh- rend auf einer gemeinsamen Tagung des Zentrums für Zeithistorische For- schung (Potsdam) und des Cold War International History Projects (Wa- shington) in Berlin auch die östliche Seite ausführlicher berücksichtigt wurde. Inzwischen ist es möglich geworden, sowohl das politische Kalkül und Verhalten der KPdSU- sowie der SED-Führung, der NVA- und der So- wjetarmee-Generalität als auch Detailfragen wie die Datierung und Initia- tive im Entscheidungsprozeß zur Grenzschließung quellengestützt genauer zu analysieren. Noch bis vor kurzem war selbst die jüngere Forschung über viele Einzel- heiten der Ereignisse, die zum Mauerbau führten, nicht informiert. So nahm 4 Vgl. schon Anfang der achtziger Jahre die Übersicht von Haupt, Die Berliner Mauer. 5 Keiderling, Berlinkrise und Mauerbau, S. 195. 6 Vgl. Beschloss, Powergame; Ausland, Kennedy, Khrushchev, and the Berlin-Cuba Crisis; die britische Perspektive bei Gearson, Harold Macmillan and the Berlin Wall Crisis. 7 Vgl. Lemke, Berlinkrise; zur Einordnung in größere Zusammenhänge auch ders., Einheit oder Sozialismus; Harrison, The Bargaining Power; Zubok, Khrushchev and the Berlin Cri- sis; ders./Pleshakov, Inside the Kremlin's Cold War; Schmidt, Dialog über Deutschland. * Vgl. Steiner, Politische Vorstellungen. 9 Vgl. Lapp, Gefechtsdienst im Frieden; Koop, „Den Gegner vernichten"; Schultke, „Keiner kommt durch". 10 Vgl. Steininger, Der Mauerbau. Einleitung 11 sie beispielsweise noch an, die Entscheidung über die in Berlin zu ergreifen- den Maßnahmen sei in den Gesprächen zwischen dem Kreml und der SED- Führung erst sehr spät gefallen. „In der zweiten Juli-Hälfte liefen die techni- schen Vorbereitungen in Ost-Berlin an", konstatieren etwa Bernd Bon- wetsch und Alexei Filitow, aber: „Das muß jedoch nicht heißen, daß der Mauerbau zu diesem Zeitpunkt zwischen Chruschtschow und Ulbricht be- reits beschlossene Sache gewesen ist."11 Bonwetsch und Filitow betrachten es als „ziemlich sicher", daß die eigentliche Entscheidung erst während der Konferenz der osteuropäischen Parteichefs Anfang August 1961 getroffen wurde. Sie vermuten sogar ein spätes Datum, den sitzungsfreien Vormittag des 5. August, als eigentlichen Termin12. Außer acht gelassen wird hier un- ter anderem, daß eine logistische Leistung wie die Abriegelung Berlins nicht innerhalb von zwei Wochen vorzubereiten gewesen wäre. Freilich behauptet auch Erich Honecker in seinen Memoiren, daß erst auf dem Treffen der östlichen Militärallianz vom 3. bis 5. August der ostdeut- sche Vorschlag einmütige Zustimmung fand, „die Grenzen der DDR gegen- über Berlin-West und der BRD unter die zwischen souveränen Staaten übli- che Kontrolle zu nehmen"13. Doch fiel Honecker zufolge zu diesem späten Zeitpunkt lediglich der formale und mit den anderen Ländern des War- schauer Paktes offiziell abgestimmte Entschluß. Zum Termin der faktischen Entscheidung innerhalb der SED-Führung und der Zusage Chruscht- schows ist damit nichts gesagt. Die folgende Darstellung und Dokumentation, die auf einschlägigen Vor- arbeiten der beiden Verfasser beruht14 und diese zusammenführt, widmet sich einmal mehr dem Mauerbau 1961, und zwar auf der Grundlage von so- wjetischem und ostdeutschem Archivmaterial. Dabei sollen eine Reihe von Fragen beantwortet oder zumindest weitere Schritte zu ihrer Klärung beige- tragen werden: Wer entschied letztlich über den Mauerbau, Ost-Berlin oder Moskau? Seit wann bereiteten beide Staaten die Schließung der Grenzen in Berlin aktiv vor? Gab es hierbei gemeinsame Planungen? Wer leitete die Umsetzung der für die Abriegelung Berlins getroffenen Maßnahmen? In- wieweit waren die sowjetischen Streitkräfte an der Vorbereitung des 13. Au- gust beteiligt? Die westliche Seite wird nur insoweit berücksichtigt, als dies zum Verständnis der Vorgänge unbedingt erforderlich ist. 11 Bonwetsch/Filitow, Chruschtschow und der Mauerbau, S. 158. 12 Vgl. ebenda, S. 158 f., S. 170. Dieser Auffassung folgen - allerdings ohne eigene Forschung zum Thema - auch Eisenfeld/Engelmann, 13. 8. 1961: Mauerbau, S. 44. 13 Honecker, Aus meinem Leben, S. 203. 14 Vgl. Wagner, Stacheldrahtsicherheit; Uhl, Die militärischen und politischen Planungen. 12 Einleitung Das Berlin-Problem in den fünfziger Jahren Pläne zur Abschottung des Schlupflochs West-Berlin hatten die SED-Füh- rung bereits über die gesamten fünfziger Jahre hinweg beschäftigt. Versor- gungsprobleme von ostdeutschen Ortschaften in der Randlage West-Ber- lins, die sich bei einer Sperrung der Sektorengrenze unter anderem in der Energie- und Wasserversorgung ergeben hätten, führten bei der Staatlichen Plankommission (SPK) und der Landesregierung Brandenburgs zu der Überlegung, diese Verflechtungen zu beseitigen. Der SPK-Vorsitzende Heinrich Rau machte Walter Ulbricht im August 1951 darauf aufmerksam, daß „mit relativ wenigen Mitteln und in verhältnismäßig kurzer Zeit jegli- che Abhängigkeit von den Westsektoren Berlins beseitigt werden" könne15. Im Februar 1952 legte Ulbricht dem Chef der Sowjetischen Kontrollkom- mission (SKK), Armeegeneral Wassili I. Tschuikow, ein Papier vor, dessen zehn Punkte darauf abzielten, die vielfältigen Kontakte zwischen West-Ber- lin und seinem Umland so weit als möglich zu reduzieren16. Angeblich ent- wickelte der seinerzeitige MfS-Chef Zaisser schon damals ein Szenario, die ungeliebte Stadthälfte durch die Errichtung einer Mauer zu isolieren17. Das Politbüro setzte im September 1952 eine zentrale Kommission zur Bekämp- fung der „Republikflucht" ein, der lokale Pendants auf Kreis- und Betriebs- ebene folgten. Die Politbüro-Kommission leitete dreierlei Maßnahmen ein: erstens Propagandaaktivitäten,