Editorial

Liebe Opernfreunde!

Und neues Leben blüht aus den Ruinen, schrieb ich einst. Dass jenes Theater, das seit über hundert Jahren meinen Namen trägt, nun von der Staats- oper Unter den Linden wachgeküsst und zu neuem Leben erweckt wird, erfüllt mich mit tiefster Freude. Obzwar ich ein vollkommener Laie im Musikfache bin und nie ein Instrument zu lernen das Vergnügen genoss, so darf ich Ihnen doch versichern: Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper. Denn: Das Schöne blüht nur im Gesang. Und bitte verstehen Sie es nicht als Affront, wenn Sie mir im Schiller Theater nicht persönlich begegnen werden. Es verhindern mich Gründe, die zu beeinflussen nicht in meiner Macht stehen. Besonders freue ich mich, dass mein Don Karlos in der Fassung des von mir hochgeschätzten Giuseppe Verdi zu erleben sein wird. Lassen Sie sich also verführen und über- raschen, denn: Das Überraschende macht Glück!

In diesem Sinne Ihr auftakt GEMEINSAM MUSIK ATMEN und Jürgen Flimm im Gespräch

Jürgen Flimm: Lieber Daniel, das ist ja eine unge­ mengearbeitet und großen Erfolg gehabt. Jetzt wohnte Situation: Seit 1992 bist du Generalmusik­ freue ich mich sehr, mit ihr die beiden Berg- direktor der Staatsoper, und nun musst du umziehen, Opern zu machen. Lulu kommt ja ein Jahr später. mit der Kapelle und allen. JF: Was denkst du denn: Wenn wir wieder zurück­ Daniel Barenboim: So groß ist der Unterschied kehren in das neue alte Opernhaus – wird das für hoffentlich nicht. Ich freue mich auf das Schiller dich anders sein? Du kennst ja jeden Zentimeter. Theater, das ja ein berühmtes Haus gewesen ist. Wirst du dich wieder so wohlfühlen wie jetzt? Ich sehe den Wechsel als Herausforderung. DB: Ich hoffe es. Vielleicht sogar mehr. Die akusti- JF: Es heißt, das Haus sei viel zu klein für Wagner. schen Verbesserungen werden ganz deutlich zu DB: Nein, man dirigiert doch immer für die Akus- hören sein, da habe ich große Hoffnung. Die be- tik, in der man musiziert. sondere Schwierigkeit mit der Akustik in einem JF: Hast du eine Lieblingsstelle im Ring? Opernhaus liegt in der Abstimmung zwischen DB: Das kann ich so nicht sagen. Ich bin wieder Musik und Text. Die Musik braucht eine längere sehr neugierig auf das ganze, große Werk, das ist Zeit für den Nachhall, während die Akustik auf immer wieder ein tolles Abenteuer. der Bühne trockener sein muss, damit der Text JF: Joneleit und Schlingensief – wie kamst du zu verständlich wird. Wagner hat das in Bayreuth diesen beiden? dadurch gelöst, dass der Klang vom Orchester DB: Als ich 2006 den Ernst von Siemens Musik- nicht direkt in den Zuschauerraum geht, sondern preis erhielt, habe ich im Rahmen der Preisverlei- zuerst auf die Bühne, sich dort mit den Stimmen hung Mémoriale von dirigiert – ein mischt, und der Zuschauer den Klang dann be- Stück für Flöte und kleines Ensemble. Jens reits homogenisiert hört. Das werden wir nicht Joneleit erhielt in jenem Jahr einen der Kompo- erreichen können. Aber ich glaube, dass unser nisten-Förderpreise und hatte zu diesem Anlass Haus die richtige Größe hat, und wenn die Akus- ebenfalls ein Stück für Flöte und Ensemble kom- tik verbessert ist, können wir uns auf viele gute poniert, das Elan heißt. Dieses Stück habe ich Opernabende freuen. auch dirigiert und fand es wirklich sehr interes- JF: Es ist doch ganz selten, dass sich ein Dirigent von sant. Daraus entstand die Idee, ihn mit einer Oper deinem Rang so fest an ein Haus bindet. zu betrauen. Und ist ein DB: Jimmy Levine tut das seit 39 Jahren an der Met so überaus begabter Mann – mit ihm wollte ich in New York. unbedingt arbeiten. Darauf freue ich mich sehr. JF: Aber sonst? Warum machst du das? Du könntest JF: So wie auf Andrea Breth und den Wozzeck? doch durch die ganze Welt reisen und alles dirigie­ DB: Mit Sicherheit! Für mein Treffen mit Andrea ren, was überhaupt Geige spielen kann. Breth muss ich mich bei dir bedanken, denn du DB: Früher war das absolut üblich. Man spricht so warst es, der uns in Salzburg zusammengebracht oft über die Macht des Dirigenten, aber es ist doch hat. Das war ein großer Moment für mich. Wir so: Ein Dirigent bestimmt vielleicht, wann ein haben bei Eugen Onegin ganz wunderbar zusam- Konzert beginnt und in welchem Tempo gespielt auftakt

wird – aber den Rest muss das Orchester können nicht meine Sache. Aber er ist drangeblieben und und wollen. Dass das Orchester so spielt, wie der hat mich überzeugt, einen Versuch zu machen – Dirigent es möchte, das kann jeder Berufsdiri- bei ihm in der Festspielsituation. Dabei könne ich gent. Die wirkliche Musik fängt an, wenn das Or- lernen und dann weitersehen. Genauso ist es ge- chester versteht, wie der Dirigent denkt, und be- kommen. reit ist, auf ihn einzugehen. Und ein Dirigent JF: Aber die erste Oper, die du gesehen hast, war muss auch verstehen, was wichtig für das Orches- auch Don Giovanni, oder? ter ist. Wenn man diese gemeinsame Sprache fin- DB: Als Kind, ja. Als Elfjähriger in Salzburg, Furt- det, dann ist es, als ob der Dirigent und das Or- wängler dirigierte. Mit Siepi als Don Giovanni. Ich chester eine gemeinsame Lunge hätten, als wenn war völlig fasziniert von Furtwängler. Ich durfte sie zugleich die Musik atmeten. Wenn man diese bei den Proben neben dem Cembalo sitzen und Einheit gefunden hat, so wie ich mit der Kapelle, habe überhaupt nicht auf die Bühne geschaut. dann will man nicht unbedingt woanders dirigie- JF: Hast du eine Lieblingsoper? ren, weil man das so schnell nicht erreichen DB: Nein. Die letzte Oper, die ich dirigiert habe, kann. Man kann natürlich tolle Konzerte und war Carmen an der Scala. Deshalb ist Carmen jetzt Aufführungen auch als Gast dirigieren. Aber am sozusagen meine Lieblingsoper. Aber wenn ich schönsten musiziert man zu Hause. nun wieder Tristan dirigiere, wird sie es sein. JF: Du bleibst also erst mal hier in Berlin? JF: Ein berühmter Kollege von dir hat gesagt: Im DB: Ich werde an dem Tag gehen, an dem das Or- Tristan ist er der Allerbeste. Ist Tristan dein Lieb­ chester das Gefühl hat, jetzt reicht es, jetzt wie- lingsstück von Wagner? derholt er sich, oder wenn ich das Gefühl habe, DB: Das kann ich so nicht sagen. Denn wenn ich ich habe nichts mehr mitzuteilen. Dann muss ich den Ring dirigiere und denke, Tristan ist mein gehen. Aber sonst gibt es keinen Grund für mich. Lieblingsstück, werde ich den Ring als Tristan diri- JF: Was war denn deine erste Oper als Dirigent? gieren. Das ist vielleicht auch so ein beruflicher DB: Das war Don Giovanni in Edinburgh. Verteidigungsmechanismus. Ich versuche nur JF: Wie alt warst du da? Stücke zu spielen und zu dirigieren, von denen DB: Ich war 32. Ich bin überhaupt nicht mit der ich in dem Moment, in dem ich sie aufführe, das Oper aufgewachsen. In Argentinien, wo es ein Gefühl habe, das ist mein Lieblingsstück. Wenn tolles Haus gab, das Teatro Colón, war ich zu jung. ich also während Carmen gedacht hätte, Tristan ist Dann war ich in Israel, und die Oper in Tel Aviv mein Lieblingsstück, wäre das nicht gutgegangen. war damals nicht so gut – jetzt ist sie sehr gut. Ich habe erst als erwachsener Mensch angefangen, wirklich in die Oper zu gehen. Ich hatte nie im Leben gedacht, dass ich dirigieren würde – ich wollte Klavier spielen! Dann dachte ich, die Kla- vierkonzerte von Mozart muss ich vom Flügel aus dirigieren. Danach habe ich Kammerorchester dirigiert, mit dem English Chamber Orchestra »Wir wollen, dass zum Beispiel habe ich jahrelang gearbeitet, und dann kamen die ersten Sinfonieorchester. In das Schiller Theater Edinburgh gab es dann Peter Diamond, den Leiter der Festspiele, der ein sehr erfahrener Mann war. den ganzen Tag Der sagte: So wie du Mozart spielst, musst du Don Giovanni dirigieren. Ich habe gesagt: Nein, das ist etwas bietet.« Daniel Barenboim »Der Wind wirkt nur, wenn auch ein Segel JF: Gibt es eine Oper, die du noch nie dirigiert hast und unbedingt noch machen möchtest? da ist.« Jürgen Flimm DB: Ja, viele, sehr viele. Falstaff zum Beispiel habe ich nie dirigiert. Ich würde auch sehr gern Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann dirigieren und Il trovatore – mit Anna Netrebko! JF: Gibt es ein Stück, das du als Pianist nie gespielt DB: Vielleicht erlaubst du als Intendant mir, mal hast und noch spielen willst? eine Wiederaufnahme des Barbiers von Sevilla zu DB: Was Stücke aus der Vergangenheit angeht, so dirigieren. habe ich vieles von Schumann nicht gespielt. Aber JF: Schon erlaubt – bitte schön! Dann könntest du wichtig ist natürlich auch die zeitgenössische Mu- die Ruth noch mal treffen, da würde sie sich sicher sik. Ich bin sehr froh, wenn die Komponisten, die sehr freuen. Hast du mit ihr mal gearbeitet? mir am meisten zu sagen haben, Elliott Carter DB: Nein, aber ich habe sie gekannt. Ich saß neben und Pierre Boulez, neue Stücke für mich schrei- ihr in der Premiere des Don Giovanni von Harry ben, die ich entweder spielen oder dirigieren Kupfer in der Komischen Oper. Das muss 1988 kann. Ich wünsche mir, dass sie wieder ein gro- gewesen sein. Ich hatte ein paar sehr interessante ßes Klavierstück schreiben oder ein großes sinfo- Gespräche mit ihr. Ihre Arbeit hat mich fasziniert, nisches Stück. Bei Boulez haben wir alle noch die sowohl ihr Barbier als auch Pelléas et Mélisande. Hoffnung, dass er eines Tages doch die Oper JF: Die Aufführung haben wir noch, die wollen wir schreibt, die er immer für uns schreiben wollte! ja auch zeigen. Sie hat bei mir am Hamburger Tha­ Er ist ein großer Theatermann, denn er sieht die lia Theater dreimal inszeniert. Eine sehr interessan­ Musik als etwas sehr Theatralisches. Ich werde te und bewundernswerte Regisseurin. alles tun, ihn weiter zu animieren, diese Oper zu DB: Ich glaube, wir haben großes Glück, dass du schreiben. Das wäre für mich ein Geschenk. – dich auch für jüngere Regisseure interessierst Aber nun würde mich interessieren: Du hast ja und für Neue Musik, und dass du frischen Wind Erfahrung mit Theater-Sanierungen – wie stehst in unser Haus bringst. du zum Schiller Theater? JF: Aber der Wind wirkt nur, wenn auch ein Segel da JF: Das Schiller Theater finde ich besonders toll, weil ist. Dirigierst du weiterhin Konzerte? Und spielst du es brutal geschlossen wurde, und jetzt küssen wir auch Klavier im Schiller Theater? dieses alte Sprechtheater mit der Oper wieder wach. DB: Ich hoffe es. Wir wollen ja beide, dass das DB: Hast du das Gefühl, dass man im Schiller Haus nicht erst abends um sieben Uhr aufmacht, Theater von der Regie her alles machen kann, was sondern den ganzen Tag etwas bietet. man sich wünscht? JF: Das muss sein, das braucht dieser Ort. Und Char­ JF: Ja. Wir werden uns umstellen müssen, und es lottenburg braucht das auch. Es gibt ja viele schöne wird eine Zeitlang dauern, bis wir in den Spielplan Theater dort... Denkst du, dass die Oper als Kunst­ hineinkommen. Aber wir können alles machen, was form so bleiben kann, oder muss man andere For­ wir wollen. Es ist ja eine neu ausgestattete Bühne. men ausprobieren? DB: Aber wenn ich dich richtig verstanden habe, DB: Ich glaube, man muss vieles versuchen. Ich bin passen einige Stücke, die für die Staatsoper ge- sicher, wenn Pierre Boulez eine Oper schriebe, macht wurden, nicht hinein. würde er sie nicht als konventionelles Theater JF: Neue Stücke können wir machen und eine große schreiben, sondern als etwas Experimentelles, wo Zahl von Repertoirestücken. Besonders schön ist, die Musiker zum Beispiel nicht nur im Orchester- dass wir den alten Barbier von Ruth Berghaus mit­ graben sitzen. Ich freue mich sehr über deine Idee, nehmen. So bleibt die Ruth noch ein wenig bei uns. ein Festival mit zeitgenössischem Musiktheater auftakt »Wir können im Schiller Theater alles machen, was wir DB: Al gran sole bringst du auch nach Berlin. JF: Die Inszenierung aus Salzburg, die sehr schön wollen. Es ist ja eine war. Nach Frankfurt kamen immer wieder Anfragen, unter anderem von Götz Friedrich. In Hamburg habe neu ausgestattete ich Hoffmanns Erzählungen inszeniert, und auf­ grund einer Inszenierung in Salzburg rief mich Bühne.« Jürgen Flimm Nikolaus Harnoncourt an und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm in Amsterdam Così fan tutte zu machen. Und dann hast du mich an einem sehr schö­ nen Bayreuther Abend gefragt: Haben Sie mal Shakespeare inszeniert? Ich sagte: Jede Menge. Na, dann müssen wir reden, sagtest du. Dann bist du zum Ende der Spielzeit zu initiieren, wo wir sehr weggegangen und kamst wieder zurück. Als hättest interessante Stücke zeigen und auch einige Kon- du es dir am Fahrstuhl überlegt. Wollen Sie mit mir an zerte aufführen werden. Im nächsten Sommer der Staatsoper Otello machen?, hast du mich gefragt. werden wir ein Werk von Elliott Carter zur deut- Es wurde eine tolle Arbeit. Ich war es nicht gewöhnt, schen Erstaufführung bringen, und Patrice Ché- dass ein Dirigent sich neben mich ans Regiepult setzt reau wird in Strawinskys Geschichte vom Soldaten und über das Bühnenbild und die Inszenierung re­ alle drei Rollen gestalten. Auch ein großes Stück det. Das war mir neu, aber sehr angenehm. Du bist von Boulez, Dérive 2, das selten gespielt wird, wer- einer der wenigen, die sich auch das Szenische an- den wir geben. Und vielleicht auch ein paar mo- gucken und ob alles zusammen funktioniert. derne Klassiker wie Schönberg. Aber sag mal, wie DB: Es gibt ja Dirigenten, die keine Oper dirigie- bist du eigentlich vom Schauspiel zur Oper gekom- ren. Das verstehe ich, das sinfonische Repertoire men? Du hast doch im Schauspiel angefangen. ist breit genug. Aber was ich nicht verstehe, sind JF: Ja, ich war sehr lange Schauspielregisseur. In Dirigenten, die Oper dirigieren und sich für das Köln habe ich sechs Jahre das Schauspiel geleitet, in Szenische nicht interessieren. Dafür ist es viel zu Hamburg 15 Jahre das Thalia Theater. Ganz früh viel Arbeit. Zu sehen, wie auf der Bühne der Text habe ich eine Anfrage bekommen aus Frankfurt von zur Musik kommt und wie man beides zusam- Gielen und Zehelein, ob ich nicht Nonos Al gran sole mensetzt, wie man einen Satz, seinen Sinn, jede inszenieren wollte. Das war 1978, da hatte ich gera­ einzelne Silbe mit dem Klang des Tons zusam- de als Regisseur meine ersten großen Erfolge. Und menbringt, das ist faszinierend. Das habe ich von das habe ich gewagt, weil ich Nono so verehrt habe. Dietrich Fischer-Dieskau gelernt. Ich kannte ihn schon aus Köln, auch Bernd Alois JF: Ich habe dann sehr viele Opern inszeniert, bis an Zimmermann. Ich bin ja in Köln aufgewachsen, und die Met. Das war immer sehr schön. Opern sind ja beim WDR gab es eine sehr intensive Beschäftigung keine Welt, die mir fremd ist. Die ist mir sehr nahe. mit der Neuen Musik. Eine Konzertreihe hieß »Musik Das Schauspiel ist auch eine feine Sache, aber die der Zeit«, da war ich oft. Zimmermann habe ich in Musik hebt es noch mal in ganz andere Regionen. Köln kennen gelernt, ich hatte zur Neuen Musik im­ Und damit vielen Dank, Herr Generalmusikdirektor, mer ein gutes Verhältnis. Ich habe noch solch einen für dieses schöne Gespräch. Packen von Programmheften von damals. Und dann DB: Es war mir ein Vergnügen, Herr Intendant. habe ich mich mit Nono beschäftigt, das war sehr schwer, denn die Partitur kann ein Laie ja kaum le­ sen. Aber es wurde eine sehr schöne Aufführung. Vielleicht eine der besten, die ich je inszeniert habe. Metanoia –über das denken hinaus–

Volle Kraft voraus: Die Staatsoper im Schiller Theater startet mit einer Uraufführung. Nietzsche und Pollesch, Joneleit, Barenboim und Schlingensief – für die Eröffnungspremiere der Saison haben sich spannende Künstlerpersönlichkeiten zusammengefunden. Metanoia – über das denken hinaus – Der Komponist als utopist Jens Joneleit schrieb die Musik zu Metanoia – über das denken hinaus – . Nun freut er sich auf Christoph Schlingensief und hofft auf offene Ohren beim Publikum

an kann seinem Glück auch auf die seinem Leben. Aber dass er nun die erste Saison Sprünge helfen. 2006 erhielt Jens Joneleit der Staatsoper im Schiller Theater eröffnen darf, M einen der Komponistenpreise der Ernst mit einer Oper, die Daniel Barenboim dirigiert, von Siemens Musikstiftung. Im Vorfeld erfuhr er, das lässt ihn dann doch strahlen wie ein Kind vor dass der Preis für das Lebenswerk an Daniel dem Weihnachtsbaum: »Das ist einfach kolossal.« Barenboim gehen würde, den er schon lange Schnell kam die Idee auf, Christoph Schlingensief bewunderte, und dass der beim Festakt Boulez’ ins Boot zu holen und einen Text von René Mémoriale dirigieren würde. Flugs schrieb Joneleit Pollesch zur Grundlage zu nehmen, der auf ein fünfminütiges Werk für dieselbe Besetzung, Nietzsche basiert und, weil in Prosa und zu lang, schickte es Barenboim nach Berlin, und der setzte von Joneleit und dem Dramaturgen Jens Schroth es tatsächlich aufs Fest-Programm. Zwei Jahre komponierfähig geschliffen wurde. »Natürlich ist später erhielt Joneleit dann einen Wink von der so ein Projekt eine riesige Herausforderung, aber Staatsoper, ob er kurzfristig nach Berlin kommen das ist doch wunderbar. Ich habe als Komponist könne – er wohnte noch in seiner hessischen das große Privileg, das zu machen, was ich am Heimat. Kurz vor zehn Uhr morgens war Joneleit besten kann. Heute nicht arbeitslos zu sein, ist ein in der Philharmonie, wie er erzählt. Barenboim Geschenk.« leitete eine Probe und hatte wenig Zeit. »Setzen Jens Joneleits Lebensweg ist der beste Beweis, dass Sie sich, Sie müssen gut sitzen, sagte er mir. Ich sich Beharrlichkeit auszahlt. Er war Schlagzeuger gebe Ihnen einen Auftrag für ein Orchesterwerk. in Punk-Rock-Bands und entwickelte bereits eige- Ich war völlig perplex, sagte: Das ist toll, und griff ne Stücke, als ihn seine Eltern eines Abends ins nach meinem Mantel. Da sagte er: Was machen Sinfoniekonzert mitnahmen, zu Strawinskys Sie denn? Ich hab doch noch mehr. Sie schreiben Petruschka. »Das war das Schlüsselerlebnis. Mit so doch noch eine Oper für uns. – Ja, so war das.« einem Orchester zu arbeiten, für so einen Riesen- Jens Joneleit ist ein stattlicher Mann von 40 Jah- apparat zu komponieren, muss Spaß machen, hab ren, der so wirkt, als könne ihn nichts so leicht ich mir gedacht.« Er frischte seine alten Musik- erschüttern. Bedächtig und trocken erzählt er aus schulkenntnisse auf, und als er wenig später im Metanoia – über das denken hinaus –

Urlaub auf Usedom im Dauerregen festsaß, ging Aber hat moderne Musik wirklich das Zeug, er kurzentschlossen in ein Musikgeschäft, kaufte »populär« zu werden? »Die moderne Musik wird sich Notenblätter und komponierte seine erste populär werden!«, sagt Joneleit im Brustton der Sinfonie. »Ich hatte mal einen Film über einen Überzeugung. »Komponieren hat viel mit Utopien Komponisten gesehen, der mit Feder und Tinten- zu tun. Eine Partitur ist eine Utopie, die ich an glas komponierte. So habe ich’s dann auch ge- andere weitergebe, damit sie sie realisieren. Und macht. Das dauerte natürlich länger, aber es hat dann muss es den Hörer geben, der sie aufnimmt. Spaß gemacht. Und draußen war ja Dauerregen.« Wichtig ist, dass eine Synergie entsteht zwischen Joneleit grinst. »Die Sinfonie hab ich später ver- allen Beteiligten. Deshalb müssen wir in einen worfen, obwohl sie spielbar ist.« Dialog treten. Wenn die Veranstalter kluge Nach Abitur und Zivildienst ging Joneleit in die Programme machen und wir – der Komponist, USA, um Malerei zu studieren. Aus den geplanten die Musiker und das Publikum – in einen wirk- zwölf Monaten wurden 14 Jahre. Und neben das lichen Dialog treten, dann werden wir das Publi- Kunst- trat bald ein Kompositionsstudium. Auch kum dazu bringen, hochmoderne Musik gut zu als freischaffender Komponist und Maler blieb finden. Davon bin ich überzeugt. Der Schritt von er in Wisconsin – von wo aus er immer wieder Barenboim und Flimm, mit einer neuen Oper die die vier Stunden nach Chicago fuhr, um Daniel Saison zu eröffnen, ist ein sehr gutes Zeichen.« Barenboim mit dem Chicago Symphony Orchestra Und dann schwärmt er von Musikern wie Daniel zu erleben. Barenboim, die ein Werk wie Schönbergs Varia- Die Weite der Prärie hat ihn geprägt und auch tionen für Orchester op. 31 auswendig dirigieren, das amerikanische Musikleben. »Nicht der Stil, denen diese hochkomplexe Musik in Fleisch und sondern die Haltung. Es ist nichts Verwerfliches, Blut übergegangen ist, und die sie nun mit Spon- ans Publikum zu denken, wenn man komponiert. taneität und Interpretationsideen zum Leben er- Im Gegenteil: Mir ist es wichtig, das Publikum wecken können. direkt anzusprechen. Und nicht nur ein Kon­ Mehr als ein halbes Jahr hat Jens Joneleit, der strukt aufzubauen, an dem ich mich als Kompo- inzwischen in Berlin lebt, an seinem dritten nist nur selber erfreuen kann.« Das heißt aber Musiktheaterwerk gearbeitet. »Wie die alten Kollegen« hat er zunächst ein Particell, einen Klavierauszug, geschrieben und es später ausgear- »Mir ist es wichtig, das Publikum beitet für Orchester in der »klassischen« T r i s ­t a n - direkt anzusprechen.« Besetzung, Chor und fünf Gesangssolisten. Definierte Rollen hat er nicht vorgesehen, um Christoph Schlingensief größere Freiheiten zu nicht, dass Joneleit seinen Hörern gibt, was sie lassen. »Die Musik gibt am Anfang unheimlich kennen. »Sie müssen schon offene Ohren mitbrin- Gas und wird die Leute in einen Taumel verset- gen. Meine Musik ist extrem eruptiv und kont- zen. Das gepaart mit den szenischen Ideen rastreich. Mir ist es wichtig, dass der Hörer die von Christoph Schlingensief wird eine enorme kompositorischen ›Eingriffe‹ direkt spüren kann. Energieentladung geben.« Jens Joneleit beugt sich Daher ist Kontrastierung und Differenzierung für nach vorn und grinst verschmitzt. »Ich bin sehr mich das wichtigste.« gespannt, was da entstehen wird.« Arnt Cobbers Werkstatt Die Grenzen des verstandes Zwei Frauen haben sie hinter sich gelassen

1856, vier Jahre nach dem Tod ihres Vaters, der Maria Maddalena Pazzi war eine Verrückte, die Richter der East India Company in Bengalen mystische Visionen hatte. Sie hat nicht »gespro- ­gewesen war, wollte Miss Donnithorne heiraten. chen« – die Worte sind aus ihr förmlich herausge- Einen Marineoffizier. Die Braut war festlich schossen, wie bei einem Maschinengewehr, und gekleidet, die Festtafel gedeckt. Die Hochzeits- dann verfiel sie plötzlich in langes Schweigen. gäste hatten sich versammelt, und die Kutschen Das sind nicht mehr einzelne Wörter, es entsteht warteten darauf, die Gesellschaft zur Kirche zu ein Wortschwall, ein Fluss von Wörtern. Fluss im fahren. Nur einer fehlte: der Bräutigam. Miss Sinne von Fließen, aber auch von beeinflussen. ­Donnithorne sollte ihn nie wieder zu Gesicht Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schreiben bekommen. Wohin er verschwunden war, ist bis könnte, diesen Anfang mit dem Atemrhythmus. heute ein Rätsel. Ist es das eigene Herz, was man da hört, oder der Wie unsere Heldin mit diesem Schlag fertig- Atem – man weiß es nicht. geworden ist? Allem Anschein nach hat er ihr den Die Askese ist ja nichts anderes als das Schweigen. Verstand geraubt. Sie wurde zur Einsiedlerin. Die Alle Sprach- oder Erlebnisformen, wenn sie be- Vordertür ihres Herrenhauses war mit einer schränkt werden, verändern sich, verlieren ihre Kette gesichert, sodass sie nur einige Zoll breit Normalität. Es reicht ein einziger Klang, um zu ver- geöffnet werden konnte. Wenn es unumgänglich stehen, was der Klang und was das Schweigen ist. war, dass die Herrin des Hauses mit einem Besu- Salvatore Sciarrino cher sprach, wurde die Unterhaltung durch die fast geschlossene Tür geführt. Als sie starb, LINKS: Sarah Maria Sun sang die fand man das Hochzeitsmahl auf ihrem Esstisch Maria Maddalena bereits 2004 in Stuttgart. stehen – zerfallen zu Staub. Selbst die Tischtücher RECHTS: Hanna Dóra Sturludóttir waren morsch und zerfallen. gastiert als Miss Donnithorne an Als ich an ihre Türe klopfte, wurde sie einen Spalt der Staatsoper. weit geöffnet, und es erschien eine ältliche Bedienstete, die mich fragte, was ich wünschte. Hinter ihr sah ich Miss Donnithorne, groß, statt- lich, ganz in weiß gekleidet, im Flur oder der Halle stehen. Sie trug bis zum Tag ihres Todes ihr Brautkleid – so heißt es zumindest. Ihre Beerdi- gung war ihr erster Ausflug seit dreißig Jahren. Randolph Stow Guy Cassiers inszeniert den Ring

Mit einer ganz eigenen Handschrift hat sich der flämische Regisseur und ­Theaterleiter international einen Namen gemacht. Nun deutet er as lin a zum ersten Mal Wagners Ring des Nibelungen. Den Anfang machen in dieser Spielzeit Das Rheingold und Die Walküre. FOTO: Alex S Das Rheingold Die Liebe In den zeiten des Umbruchs Guy Cassiers und Erwin Jans über Das Rheingold

n einer mythischen Landschaft, die von Göt- ist, tendiert man mehr und mehr zum Virtuellen, tern, Zwergen, Riesen, Drachen und Helden zum Nichts, zu Vergessen und Verschwinden. I bevölkert ist, entwirft Wagner das allego- Oder aber man lässt zu, sich von heiligen Wahr- rische Bild einer Zeit, die gar nicht so verschieden heiten leiten zu lassen, die weit außerhalb von von unserer ist, in der vertraute Sicherheiten und einem selbst liegen, indem man Sprache (oder der Glaube an Beständigkeit mehr und mehr ver- Gesetze, Religion) zu wörtlich nimmt oder sich loren gehen, während neue Bedeutungsinhalte einem Objekt unterwirft (Gold, Schwert, Öl). Ver- überhaupt erst noch aufkommen müssen. Was unsicherung, Verdächtigungen, ideologischer mich inspiriert hat, sind all jene Fragen, die vom Starrsinn, Konservatismus, Angst und Gewalt umfassenden Globalisierungsprozess evoziert sind typische Reaktionen in Zeiten von Umbrü- werden: das proklamierte Ende von Politik und chen und Veränderungen. Und gleichzeitig gibt es Geschichte, die Flut von nicht mehr zu verar- die Sehnsucht nach einem Erlöser, einem Guru, beitenden Informationen und Bildern, die welt- einem Helden, einer integren Persönlichkeit: ein anschaulichen Verwerfungen, die Bedrohung Politiker, der über allen politischen Streit erha- durch Fanatismus und Fundamentalismus und ben ist, ein reiner, nicht korrumpierbarer Führer die Suche nach Sicherheit und Spiritualität. als Inkarnation der Hoffnung auf eine bessere In einer Wirklichkeit, die gleichermaßen verwir- Zukunft. rend und unverständlich ist, wundert es nicht, Obwohl die Figuren nur Illusionen hinterher- dass sich Menschen an primäre, scheinbar stabile jagen, mindert das nicht ihre Hingabe und ihre Identitäten klammern: ethnische, religiöse, terri- Leidenschaft. Im Gegenteil: Ambition, Machtgier, toriale und nationalistische. Um die ungesicherte Geiz, Liebe, Verlangen, Neid, Verzweiflung, Identität eines »Wir« gegenüber den »Anderen« Treue – der Ring umfasst das gesamte Spektrum zu schützen, wird ein Feindbild entworfen: Der menschlicher Gefühle. Und Schein-Werte werden Andere wird seiner Menschlichkeit beraubt und erfolgreicher durchgesetzt und mit größerem in einen unpersönlichen Gegner verwandelt. Ent- Eifer verfolgt als das, was wirklich wertvoll ist. fremdung wird zum Normalzustand. Vielleicht ist es ja genau diese besondere Vorliebe, Die Idealvorstellung entfernt sich immer mehr die die Figuren des Rheingolds zu echten Zeitgenos- von der Realität. Da das ideale Ziel unerreichbar sen von uns macht. Die Walküre wotan im Götterhimmel – ratlos Guy Cassiers und Erwin Jans über Die Walküre

ie Walküre kann als kritische Allegorie auf zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen die patriarchalischen Werte der Bour- eine neue Kategorie, die des »Virtuellen«, etabliert D geoisie des 19. Jahrhunderts gelesen wer- hat? Was bedeutet heute sauberes Wasser, wo den, die Wagner für die fatale Stagnation der euro- Wasser nur sauber ist, wenn es zuvor durch eine päischen Gesellschaft verantwortlich machte. In Kläranlage gelaufen ist – wenn Wasser und Luft der Walküre spielt sich der schwere Konflikt über zu Rohstoffen geworden sind? Siegmunds Schicksal vor dem Hintergrund des kosmischen Kriegs zwischen Wotan und Albe- LINKS: Die schwedische Sängerin richs Nibelungen-Armee ab. Wotans Schicksal hat Iréne Theorin ist in Berlin in ihrer Paraderolle, sich in einem Netz von Interessen, Verträgen und der Brünnhilde, zu erleben. Beziehungen verfangen. RECHTS: Von den Riesen zum Gott war es Letztlich ist »Schicksal« ja nur die Summe unserer für ihn nur ein kleiner Sprung: René Pape sang Entscheidungen, die wir im Sinne unseres Verlan- erst Fafner, dann Fasolt in Bayreuth. gens nach Macht und Besitz treffen. Wotan fällt Nun gibt er sein Debüt als Wotan. viele falsche politische Entscheidungen und sieht sich dann in schlecht durchdachten Plänen gefan- gen, bis er den Punkt erreicht, wo ­sinnvolles Agieren überhaupt nicht mehr möglich ist. Und an einen solchen Punkt zu kommen, ist vielleicht die größte Angst des modernen Menschen. o Die Spannung zwischen Natur und Kultur, zwi- udi t

s S schen unverdorbenem Leben und seiner Zerstö- rung durch Götter und Menschen bildet den Kern enny’ h, L sowohl des Rings als auch von Wagners Denken. at wr Für Wagner liegt Erlösung in der Rückkehr zur o Na Natur, eine Bewegung, die er als Spiritualisierung nric

: E und als Ablehnung des Materiellen interpretiert. otos

F Was aber meinen diese Begriffe heute, wo sich Die Walküre Der Süssholz- raspler »All-Vater« Wotan

ls Politiker, der durch Verträge über eine Göttergesetz«. Wer Siegmunds und Sieglindes neue Weltordnung herrschen will, schei- Mutter ist, erfahren wir nicht: »ein Menschen- A tert Wotan. Aber als »All-Vater«, vulgo weib« – mehr verrät weder die Sage noch Wagner. zeugungskräftiges Mannsbild, ist er ein voller Nur Siegfried nutzt diese Bezeichnung später Erfolg. Von ehelicher Treue hält er nichts. Als noch einmal, als er über seine Mutter Sieglinde seine Frau Fricka ihm klar macht, dass seine nachsinnt, die bei der Geburt gestorben ist. Dass Herrschaft bedroht ist, wenn er als der Gesetz- Wotan schon beim ersten mahnenden Auftritt geber sich nicht an sein eigenes Ordnungssystem der Urmutter Erda vom Drang getrieben wird: t

gebunden fühlt, raspelt er Süßholz: »Um dich Die muss ich haben!, ist nicht zu übersehen; am er a zum Weib zu gewinnen, mein eines Auge setzt liebsten wäre er ihr gleich hinterhergelaufen. llew

ich werbend daran«. Das ist gelogen. Wotan hat Das hat er dann gründlich nachgeholt, übrigens t Ca dem weisen Riesen Mimir das Auge verpfändet, ohne auf Erdas Einwilligung Wert zu legen. Er : Brech weil er auch einmal aus dem Weisheitsbrunnen zeugte mit ihr nicht nur seine Lieblingstochter ts an der zweiten Wurzel der Weltesche Yggdrasil Brünnhilde (»Deines Wunsches Braut«, wie ech n; R a ll

trinken wollte. Weise geworden ist er aber nicht. Fricka bissig bemerkt), sondern auch deren o Was Sex angeht, ist Wotan ein Herumtreiber – acht Schwestern, die Walküren. Dem Heervater cr

zum Beispiel unter dem Pseudonym »Wälse« in- Wotan die Nornen anhängen zu wollen, die ja k kim / s soo mitten der Menschen, bei welcher Gelegenheit er auch Erdas Töchter sind, wäre freilich ungerecht. - a i ku

Siegmund und Sieglinde zeugt und so die Voraus- Erda selbst nennt sie »Urerschaff’ne«. Die Nornen a n: d o

setzung für den Inzest schafft, aus dem Siegfried, sind, auch was Wotans Klan angeht, gewisserma- i at der »freie Held«, hervorgehen wird, der den Unter- ßen exterritorial. Nur mit seiner Ehefrau Fricka r st

gang verhindern soll, indem er »sich löse vom hat Wotan keine Kinder. Hermann Schreiber illu der Das StaatsoperN- Internationale Chor Opernstudio 84 Sängerinnen und Sänger Sechs junge Sängerinnen und Sänger sorgen für vokale Weltklasse sind die Stars von morgen

Das Internationale Opernstudio der Staatsoper Unter den Linden besteht seit 2007. Geleitet wird es vom Sängercoach Boris Anifantakis; die künst- lerische Gesamtleitung liegt bei Daniel Baren- boim. Die Arbeit des Opernstudios, das durch die Liz Mohn Kultur- und Musikstiftung finanziell unterstützt wird, verfolgt zwei grundlegende ­Ziele: Zum einen erhalten die Stipendiaten Gele- genheit, auf der Bühne der Staatsoper in kleinen und mittleren Partien aufzutreten, wodurch sie unmittelbar in den Opernbetrieb eingebunden Schubert veröffentlichte gerade sein opus 1, den sind. Zum anderen werden sie von erfahrenen Erlkönig, und Beethoven hatte sich noch nicht ent- Lehrern in Fächern wie Partienstudium, Ensem­ schieden, ob er eine neunte Sinfonie schreiben blesingen, szenischem Unterricht, Bewegungs- sollte, da gründete sich in Berlin ein professionel- und Improvisationstraining sowie Stimm- und ler Opernchor. Auf 189 Jahre Arbeit auf der Opern- Fremdsprachen-Coaching unterrichtet und neh- bühne und auf dem Konzertpodium kann der men an Meisterkursen und Workshops teil, die Chor der Staatsoper Unter den Linden im Jahr vor allem von Mitgliedern und Gästen der Staats- 2010 zurückblicken. 84 Sängerinnen und Sänger oper gehalten werden. aus der ganzen Welt – aus Korea und Amerika, Zu Beginn der Spielzeit 2010 / 2011 wird das Opern­ Österreich und Ungarn, Berlin und allen Teilen studio in Kooperation mit dem Opernfestival Gut Deutschlands – bilden heute den Staatsopernchor, Immling mit der Oper La finta giardiniera von der an allen großen Produktionen, die die Staats- Mozart im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten oper erarbeitet, beteiligt ist. Chordirektor ist seit des Schiller Theaters aufführen. 1998 Eberhard Friedrich, ein international aner- Interessenten für das Opernstudio können sich kannter Wagner-Spezialist, der auch den Chor ab September 2010 für die Spielzeiten 2011 / 2012 der Bayreuther Festspiele leitet. 2009 wurde der und 2012 / 2013 bewerben. Nähere Informationen Staatsopernchor mit dem Europäischen Chorpreis finden Sie unter www.staatsoper-berlin.de > ausgezeichnet. Künstler > Opernstudio. DIE DURCH MYTHOS GEBANNTE FURCHT: WO OPER SICH MIT KINO TRIFFT

Elisabeth Bronfen ist Professorin für Anglistik an der Universität Zürich. Sie forscht in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse, Film und Kulturwissenschaften. Neuere Publikationen sind Die Diva: Geschichte einer Bewunderung und Liebestod und Femme Fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film. illustration: dai kua-sook kim / scrollan Essay

reffend hat Hans Blumenberg ein- sie am Ende der Handlung glücklich aufzulösen, mal behauptet: »Geschichten wer- verflüchtigt sich ebenfalls jene beunruhigende den erzählt, um etwas zu vertrei- Fremdheit, die, von mythischen Gestalten ver- ben. Im harmlosesten, aber nicht körpert, eine für uns begreifbare Form ange- T unwichtigsten Falle: die Zeit. nommen hat. Weil Geschichten eine Lösung für Sonst und schwererwiegend: die Furcht«. Er- die Konflikte anbieten, von denen sie handeln, scheint meist das bedrohlich, was man nicht be- sind wir auch von jenem Unerklärlichen erlöst, greifen kann, weil es einem fremd ist, besteht das uns überhaupt dazu verführt hat, uns auf die die magische Bannung des mythischen Erzäh- magische Kraft des Erzählens einzulassen. Nicht lens darin, diesem Unerklärlichen eine besänfti- also nur auf Grund der dargebotenen Inhalte gende Vertrautheit hinzu zu dichten. Furcht bieten mythische Geschichten Lösungen für Un- wird immer dann erträglich, wenn sie zu einer erklärliches. Allein schon die Bewegung in eine Gestalt verdichtet verarbeitet werden kann. Da- narrative Formalisierung, mit Hilfe derer das bei ist nicht nur entscheidend, dass dank einer Unbegreifliche eine begreifbare Gestalt erhält, im Zuge des Erzählens gewonnenen Verkörpe- entpuppt sich als Erlösung von Furcht. Egal wie rung eine als bedrohlich empfundene Kraft ver- schrecklich die Handlung einer mythischen Ge- ständlich wird. Ausschlaggebend ist ebenfalls, schichte auch sein mag, wie entsetzlich die von dass die Gestaltungen, die dem Unbegreifbaren ihr entfalteten Bilder – der Umstand, dass Furcht eine erklärende Form verleihen, innerhalb einer durch eine Erzählung abgelöst werden kann, hat Handlungsabfolge angesiedelt sind. Die magi- eine beruhigende Wirkung. Das konkrete Ereig- sche Besänftigung von Furcht, die dem Erzählen nis, auf das eine Erzählung sich bezieht, mag von Geschichten unterstellt wird, zehrt nämlich unbegreiflich sein und auch dem Verstand unzu- ebenfalls davon, dass mythische Gestalten kon- gänglich bleiben. Die mythischen Gestalten wie fliktreiche Ereignisse auslösen, deren Auflösung auch die von ihnen ausgeführten Handlungen sie zugleich bewirken. Sie sind nie statisch zu hingegen nehmen ihre sinnstiftende Kraft da- verstehen. Sie bringen eine narrative Bewegung her, dass sie als Erzähltypen unserem kulturel- mit sich, die uns zum Verständnis dessen, was len Bildrepertoire längst vertraut sind. Der Aus- wir nicht begreifen, bewegt. Auf eine Formel ge- gang des Schreckens, sogar die Stufen, die zur bracht lässt sich behaupten: Im Zuge des mythi- Auflösung der narrativen Spannung führen, sind schen Erzählens wird undefinierbare Furcht in vorgegeben. In eine vertraute narrative Hülle eine von Akteuren ausgetragene Spannung um- gepackt, verflüchtigt sich das bedrohlich Frem- gesetzt. Als Verkörperungen dessen, was man zu de. Die Erzählform an sich birgt Sicherheit. begreifen sucht, weil es einen auf unerklärliche Weise ergreift, treffen die Figuren des Mythos irkt die Unheil abwehrende Macht der Entscheidungen und tragen damit Konflikte aus, Erzählung dann am offensichtlichs- deren Klärung am Ende der Geschichte einer W ten, wenn sie sich dem Tod widersetzt, Sinnstiftung dient. Was ihnen widerfährt, ist so bietet die Zerstörung des Krieges ihr die größ- eine Botschaft für uns. te Herausforderung. Als Antwort auf das unbe- greifliche Gemetzel des Ersten Weltkrieges hat er Akt der Verdichtung verleiht jedoch Walter Benjamin festgehalten: »Der Tod ist die einer nebulösen Furcht nicht nur Kon- Sanktion von allem, was der Erzähler berichten D turen. Die Wette des mythischen Er- kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.« zählens besagt auch: Zusammen mit der narrati- Wie also steht es dann mit jenen schicksalhaften ven Spannung, die jede Geschichte erzeugt, um Gestalten, die nicht nur an der Entscheidung Essay

beteiligt sind, wer eine Schlacht überlebt und Bestandteil mythischer Geschichten nachträg- wer im Kampf sterben wird, sondern ebenfalls lich immer wieder als Helden abrufbar macht. dazu beitragen, dass einige als Helden in unser Die Walküren also verwalten die Bewegung in kulturelles Erzählrepertoire eingehen dürfen. In jenen ästhetischen Denkraum, in dem laut Aby Wagners Ring verdichtet sich die schreckliche Warburg die über eine ästhetische Formalisie- Furcht der Kriegsgewalt, die jeden willkürlich rung gewonnene Distanz eine pathosträchtige und somit sinnlos treffen kann, in eben solche Ergriffenheit begreifbar und tradierbar werden mythischen Gestalten, durch die die Zufälligkeit lässt. Das Eingreifen der Walküren in die des Todes einen erbauenden Sinn erfährt. Durch Schlacht ist zugleich ausschlaggebend für die die Luft kommen die Walküren angeflogen, um Entscheidung, welche Erzählung vom Tod autori- sich auf dem Schlachtfeld jene gefallenen Krie- siert wird. So stellen sie in mehrfachem Sinn ger herauszusuchen, die sich aufgrund ihres eben jene magische Umwandlung von unerklär- Kampfesmutes einen Platz in der mythischen licher Furcht in eine sinnträchtige Gestaltung Heimat Walhalla verdient haben. Noch bevor ihr dar, von der mythische Geschichten zehren. Sie Lied sich im Bühnenraum verbreitet, wissen wir: verleihen dem kontingenten Gesetz, dass in der Von ihrem Schutz hängt ab, wer die Schlacht Schlacht auf grausame Weise gestorben wird, überleben darf und wer dem Tod erliegen wird. eine schöne weibliche Verkörperung, die zudem Zugleich kündigt ihr Erscheinen nicht nur Blut- eine Kohärenz stiftende narrative Logik entfal- vergießen, sondern auch Gerechtigkeit an, set- tet. Verführerinnen und Richterinnen zugleich, zen sie doch jene göttliche Vorentscheidung blenden sie jegliches Unbegreifbare des Todes durch, dank derer das chaotische Gemetzel des aus und überführen realen Kriegsfuror in einen Krieges eine Gesetzmäßigkeit erfährt. So sehr anderen, wesentlich gebändigteren Pathos; in uns also die Tode einzelner Krieger erschüttern, eine ästhetische Ergriffenheit, die aus der Ge- folgt ihr Opfer – wann immer Walküren im Spiel walt eine gewaltige Formalisierung gewinnt. sind – einer schicksalhaften Logik. Die Leichen auf dem Schlachtfeld bezeugen das Walten einer ie nachhaltig die Walküren zu Träge- übermenschlichen Vorsehung. rinnen unseres kulturellen Gedächt- W nisses geworden sind, bezeugt beson- in Tod, aus dem die mythische Gestal- ders anschaulich das erstaunliche Nachleben, tung eines geopferten Helden geboren welches sie in Francis Ford Coppolas Apocalypse E werden kann, ist weder willkürlich Now erfahren haben: In jener berüchtigten noch sinnlos; er ist vorbestimmt. So hält dem Schlachtszene, in der auf begeisternde und zu- Blutvergießen, für das die hehren Walküren ein- gleich beunruhigende Weise die unsaubere stehen, die Fairness, mit der sie das strenge Schnittfläche zwischen militärischem Spekta- Kriegsgesetz der Götter durchsetzen, die Waage. kel, Unterhaltungskino und Oper aufflackert. Das Vertrauen darauf, dass sie als Schiedsrichte- Tief unter der aufgehenden Sonne erscheinen zu rinnen über dem entfachten Kriegsfuror walten, Wagners Walkürenritt die US-Militärhubschrau- vertreibt aus diesem die Furcht; er ist grausam, ber, mit denen Lt. Col. Kilgore den Strand eines aber begreiflich. Zudem schafft der Umstand, nordvietnamesischen Dorfes angreift, um dieses dass sie nach der Schlacht gewisse Krieger aus- Kriegsgebiet zu sichern. Er will dort mit seinen zeichnen, noch eine weitere Sinnstiftung: In das Truppen surfen. Dem verwunderten Capt. Willi- Unbegreifbare des Kriegsgemetzels führen sie ard, den er zugleich dort absetzen soll, erklärt jene Unterscheidung ein, die auserwählte Krie- der Luftkavallerist, die Musik würde selbst die ger von anonymen Toten absetzt und als festen Hügel in Furcht versetzen und deshalb seine Essay

Jungs beglücken. Der aus der Luft ertönende fällenden Gegner ergreift, auch wenn – und das Klang der Walküren Wagners soll den Feind zu- ist die entscheidende Differenz – wir vor der erst vor Ehrfurcht fesseln, damit das darauf fol- Leinwand keinem eigentlichen Angriff ausge- gende Salvenfeuer ihn erlegen kann. Zugleich setzt sind. Die Möglichkeit zum Krieg auf der setzt Coppolas Opernliebhaber auch jene Kriegs- Filmleinwand entpuppt sich stattdessen als Mög- logik Napoleons ein, die behauptet, die Möglich- lichkeit einer vielschichtigen Bewegung. Hand- keit, Krieg zu führen, sei die Möglichkeit der Be- lung, Musik und Bild gehen nahtlos ineinander wegung. Erwartungsvoll sitzen die Angreifer, über, greifen alles in sich auf, um die gefährliche vom Gesang der mythischen Gestalten angetrie- Faszination einer fürchterlichen Verheerung zu ben, und betrachten, wie unter ihnen die ange- entfalten. griffenen Bauern in Bewegung geraten. Vor dem Blutvergießen, dass die Stimmen der Wagner- ie gänzliche Hingabe an den Genuss Partitur ankündigen, flüchten die Vietnamesen der Gewalt bleibt uns verboten. Die in den Dschungel oder stürzen zu ihren Waffen. D Kämpfer auf beiden Seiten mögen sich Bald wird die bombastische Musik mit dem Klang gänzlich der verheißungsvollen Macht der Wal- der Maschinengewehre und Bomben verwoben, küren ergeben, wir aber sind ergriffen und be- während die Bauern, vom Kugelhagel getroffen, greifen zugleich. Mehr noch: Kilgore und seine mit einer letzten tödlichen Bewegung zu Boden Lufkavallerie mögen sich als Wiederkehr nordi- fallen. scher Schicksalsgöttinnen verstehen. Coppola hingegen belebt diese Pathosformel ebenso sehr ls wäre auch sie eine Walküre, bewegt mit den realen Klängen des Krieges, als er diese sich aber auch die Kamera und um- dank des Einsatzes von Wagners Musik in eine A kreist beide Fronten. In das schreckli- Filmhandlung einfügt, um seiner Filmgeschich- che Blutbad, das sich vor unseren Augen entfal- te mythischen Status zu verleihen. Die umlau- ten, bindet sie uns dadurch affektiv ein, dass wir fenden Drehflügel der Hubschrauber fügen in zwischen beiden Seiten der Schlacht in der die opernhafte Inszenierung ein Stück histori- Schwebe gehalten bleiben. Die Bilder, die die Ka- sche Authentizität ein, die der extrem rhythmi- mera durch ihren Flug hervorbringt, sind wie sierten Visualisierung dieses Angriffes die Waa- die Kämpfer von der Musik vorangetrieben; am ge hält. Der Einbruch dieses Stücks realer Schneidetisch nämlich sind nicht nur die Bewe- Erinnerung widersetzt sich der vermeintlichen gungen der angreifenden US-Soldaten der Wag- Sicherheit, die das mythische Erzählen, auf das ner-Partitur angeglichen worden, sondern über- Coppola setzt, verspricht. Er macht das Erzählen, haupt die gesamte Bildmontage, mit der dieser das uns die Zeit und die Furcht vertreiben soll, Angriff visuell festgehalten wird. Deshalb wer- brüchig. den wir von dieser Bildbewegung einer entfessel- ten und zugleich fesselnden Gewalt auf wider- n der Verschränkung mit dem Walkü- sprüchliche Weise bewegt. Darin besteht die von renritt lassen die gewaltigen Filmbilder Coppolas Kamera vertretene Vorstellung von I von Apocalypse Now eine unsaubere Fairness. Die gewaltigen Filmbilder offenbaren Schnittfläche zwischen Oper und Kino sichtbar einen Akt fesselnder Gewalt, in dem sich reale werden, vertrauen beide doch auf ihre Fähigkeit, Zerstörung in eine ästhetische Formalisierung ungeachtet aller Realität, auf die sie verweisen aufheben lässt. Das von den Klängen der Walkü- mögen, die Gefühle zu bewegen. Zugleich spielt ren angekündigte Blutvergießen wird als eine die Art, wie Film und Oper uns affizieren, nicht Intensität inszeniert, die uns ebenso wie den zu die Ergriffenheit gegen ein Begreifen aus. Die re- Essay

ale Gewalt des Krieges, die sowohl Wagners Wal- gießen, Schicksal und Gerechtigkeit kreisenden küre als auch Coppolas Vietnam-Spektakel als Erzählungen stiften auf eine ganz spezifische Fluchtpunkt dient, lässt sich nur in einer Forma- Weise Kohärenz für gesellschaftliche Widersprü- lisierung von dessen Pathos begreifen. Nicht also che, die in Wirklichkeit unlösbar sind. Es lohnt allein der Umstand, dass sowohl die Oper wie sich an das Bild zu erinnern, welches der Anthro- auch der Unterhaltungsfilm sich gerne eines my- pologe Claude Lévi-Strauss aufruft, um das Funk- thischen Erzählens bedienen, um in der Verarbei- tionieren my thischer Sinnstif tung auf den Punkt tung einer vertrauten Gestaltung ein größtmögli- zu bringen: Aus dem Blickwinkel derer, die an ches Publikum zu erreichen, erklärt die Nähe der einem Ort gemeinsam wohnen, ergibt sich kein beiden Medien. Sie rufen uns auch dazu auf, über einheitliches Bild davon, wie ihr Zusammenle- das Zusammenspiel von rauschhafter Ergriffen- ben strukturiert ist, sondern nur partikulare, heit und Besonnenheit nachzudenken, setzen wettstreitende und widersprüchliche Einzelan- sich doch in der Oper wie im Film große Emotio- sichten. Die Vogelperspektive hingegen lässt so- nen in eine Körpergestik um, deren Intensität die fort das Gesamtmuster erkennen. Diese Außen- musikalische wie visuelle Formalisierung die perspektive, die keine statische sein muss, kann Waage hält. Man nimmt an dem Spektakel teil, aufgrund der Distanz alle Einzelheiten gleichzei- lässt sich von den Bildern und Klängen überwälti- tig erfassen. gen. Zusammen mit den großen Gefühlen, die sich auf der Bühne oder der Leinwand ausbreiten, uf ein mythisches Erzählen übertra- genießt man aber auch die ästhetische Form, gen heißt dies: Das Erzählen stellt eine durch die sie begreifbar und somit uns überhaupt A Ordnung her, die im Alltag nie erfah- erst zugänglich werden. Man pendelt zwischen ren werden kann, weil man in die inkommensu- dem authentischen Anspruch des Pathos und die- rablen Kontingenzen, die es zu klären gilt, un- ser streng kalkulierten Formalisierung hin und weigerlich verstrickt ist. Für das Kino hingegen her. Doch wenn die gewaltige Fähigkeit zur Bewe- lässt sich diese Außenperspektive an der Bewe- gung sowohl von Oper als auch von Film auf einer gung der Kamera festmachen, mit der verschie- ebenso gewaltigen Berechnung davon basiert, dene Positionen gleichzeitig – in der Überblen- wie jede Sekunde des dargebotenen Spektakels dung oder als Montage – auf der Leinwand zu erscheinen hat, beruht die Nähe der beiden erscheinen können. Sie stellt eine Verbindungsli- Medien auch auf dem entgegengesetzten Sog: Auf nie her, die den Betroffenen nur nachträglich, einem Entzug in ein Reales, welches nicht mehr über den Schritt nach außen, in den Kinosaal, sprachlich kodiert, sondern reiner Affekt ist, oder zugänglich wird. Unüberschaubare Kontingenz reines ästhetisches Zeichen. wird somit in eine komplexe Kohärenz über- führt. In der Bewegung der Kamera kann man ehren wir also ein letztes Mal zu der aber auch eine Analogie zur Vielstimmigkeit der Behauptung zurück, das Erzählen wür- Opernpartitur behaupten. Dort ergeben einzel- K de in so schwerwiegenden Fällen wie ne Stimmen, teilweise miteinander harmonisie- dem Krieg die Furcht vertreiben helfen, so ergibt rend, teilweise nicht zusammenklingend, eine sich noch eine weitere Nähe zwischen Oper und Vielstimmigkeit, die über jede Partikularität Film. Indem sie den nordischen Walküren ein hin­ausreicht. Wir begreifen sie als Einheit, des- Nachleben in der Moderne verschaffen, suchen halb ergreift sie uns. Wagner wie Coppola die Komplexität des politi- schen Streits im Rückgriff auf eine mythische Geschichte zu reduzieren. Doch die um Blutver- The Rake’s Progress Im Gefängnis der Oper Krzysztof Warlikowski inszeniert Strawinsky

Interview: Arnt Cobbers

Herr Warlikowski, die Oper ist ein Gefängnis, haben die Sänger, das Orchester, der Chor usw. Und es ist Sie mal gesagt. selten, dass alles passt. Das ist auch so. Man hört dauernd: Das war schon War The Rake’s Progress Ihre Wahl? immer so, so macht man das, so kann man es Ich sollte Rake’s Progress schon einmal an einem nicht machen usw. Ich komme nie dahin, wo ich anderen Haus machen, da steckten schon zwei das Potential einer Musik oder einer Geschichte Jahre Vorbereitung drin, aber dann wurde nichts auch nur annähernd ausschöpfen könnte, es ste- draus. Um so dankbarer war ich, als ich die Anfra- hen immer Mauern davor. ge aus Berlin bekam. Ich liebe diese Oper. Es ist Warum begeben Sie sich immer wieder in dieses eine moderne Oper, aber sie ist auch sehr klas- Gefängnis? sisch. Russisch, aber auch amerikanisch. Sie spielt Weil es eine Herausforderung ist. Man macht etwas nach dem Krieg, aber es ist, als habe es den Krieg nicht, weil es einfach ist. Sondern weil es schwie- nie gegeben. Es ist eine handfeste Geschichte, rig ist. Ich hasse es, wie Oper meist gemacht wird. aber zugleich eine Metapher und ein Mythos. Was Die Oper ist noch immer geprägt vom bour­geoisen immer es ist, ist es nicht. The Rake’s Progress ist ein Geschmack des 19. Jahrhunderts. Natürlich hat sehr ungewöhnliches Werk – bis heute. sie sich verändert nach dem Zweiten Weltkrieg, Hatten Sie Einfluss auf die Besetzung? aber nicht genug. Ich habe in meinem Leben we- Ingo Metzmacher und ich haben sehr vieles ge- nige gute Opernproduktionen gesehen. Ich dach- meinsam besprochen und entschieden. Das gibt te, ich kann der Oper etwas geben. Und die Oper es selten, meist bekommt man eine Besetzung gibt mir etwas. Das brauche ich von Zeit zu Zeit. vorgesetzt. In dieser Oper steckt so vieles. Es ist Es ist ein großer Kampf, Oper zu inszenieren. Der eines der verlockendsten Werke überhaupt. bringt mich jedes Mal an meine Grenzen. Weil Es gab berühmte Inszenierungen von Ingmar Berg- man es mit einem ­Riesenapparat zu tun hat, in man, von Ken Russell, von Peter Mussbach und Jörg dem alles zusammenpassen muss, der Dirigent, Immendorf in Salzburg. The Rake’s Progress

Und gerade ist die berühmte Inszenierung von sind und nur noch übers Bühnenbild schreiben. Robert Lepage, Rake’s Progress im Supermarkt, Und nicht über das Stück, von dem sie nichts durch Europa getourt. Ich mag es, gegen Bilder verstanden haben. Es gibt so viele Paradoxa in der anzugehen, die in den Köpfen der Zuschauer ste- Oper. cken. In Paris habe ich A Streetcar named Desire Eröffnet die Oper andere Möglichkeiten als das (Endstation Sehnsucht) gemacht, und es war hart, Sprechtheater? sich gegen die Filmbilder durchzusetzen. Aber Zunächst einmal ist die Oper Teil des Theaters, Rake‘s Progress ist auch nicht wie Verdi. An der Met das bei den Griechen mit der Formulierung ganz hat Luc Bondy Scarpia ohne Kerzenleuchter auf- tiefer, existenzieller Fragen begonnen hat, etwa treten lassen, und es gab einen Riesenaufschrei. von Schuld, wenn der Sohn die Mutter erschlägt. Blasphemie! Da sind wir wieder beim Gefängnis. Wir haben heute die Oper aus unserem wirk- Werden die Gefängnismauern irgendwann lichen Leben verbannt. Es heißt, die Leute gingen eingerissen sein? in die Oper, um zu träumen, um in eine künst- Es wird immer Widerstände geben. Sonst wäre es liche Welt versetzt zu werden. Ich glaube das auch nicht interessant. Grenzenlose Freiheit ist nicht. Die Oper kann sogar tiefer wirken als das langweilig. Als ich angefangen habe, Theater zu Sprechtheater. Wenn ich die Iphigenie mache, machen, waren 30 Leute im Saal, dann wurden es möchte ich etwas sagen über jemanden, der im 40, dann 100, dann 500. Ich versuche mich immer Krieg geblieben ist. Wenn ich Janácˇeks Die Sache wieder auf meine Anfänge zu besinnen, als ich Makropoulos mache, geht es mir um die Frage der mich gegen alle Widerstände durchsetzen muss- Ewigkeit. Man kann in der Oper berühren durch te. Das mobilisiert alle Kräfte in mir. einfache Gesten, die im Sprechtheater oder im Kehren Sie immer wieder zum Sprechtheater Film simpel oder sogar lächerlich wirken wür- zurück, weil Oper so anstrengend ist? den. Durch die Musik und das Singen sind wir in Beides ist anstrengend. Aber ich brauche beides. einer anderen Welt, wo man Dinge berühren und Im Theater reduziert man die ganze Zeit. Und zeigen kann, wie es im Sprechtheater oder im am Ende steht ein einziger Schauspieler auf der Film nicht möglich wäre. Bühne und redet. In der Oper beginnt man ganz Sie arbeiten zum ersten Mal in Berlin, haben Sie woanders – und reduziert von da aus. Es sind ganz eine besondere Beziehung zur Stadt? unterschiedliche Seiten ein und derselben Sache. Ich habe eine sehr spezielle Beziehung zu Berlin. Meine erste Erfahrung in der Oper war schreck- Ich bin nur 100 Kilometer entfernt geboren – in lich. Es war eine Probe zu Don Carlos. Wir haben Stettin. Mein Lieblingsautor ist Alfred Döblin, der uns drei Stunden unterhalten. Und dann hieß es: auch aus Stettin kam. Er gab mir eine Berlin- Alles klar, jetzt proben wir. Wie um alles in der Mythologie aus Vorkriegszeiten an die Hand. Welt sollen wir in drei Stunden irgendwohin Wenn ich hier bin, denke ich immer an Döblin. kommen?! Aber darum ging es ihnen nicht. Sie Man spürt hier noch diese Vergangenheit, als wollten wissen, wie sehen die Kostüme aus, wie Berlin das Herz von Mitteleuropa und ein großer das Bühnenbild? Im Sprechtheater diskutiert man Schmelztiegel war. Ich bin gern in Berlin. wochenlang, bevor man auf die Bühne geht. Die Oper ist solch ein Kosmos – und wir reduzieren RECHTS: startet durch: sie auf Kostüme und Bühnenbild. Wenn ich clever 2006 sprang die gebürtige Wienerin an der Staatsoper bin, arbeite ich mit einem Bühnenbildner, der als Frasquita in Carmen ein, in der Saison 2010/11 solche Räume baut, dass die Kritiker erschlagen singt sie Hauptpartien in zwei Neuproduktionen. werkstatt Kasteiung, Ekstase, Askese Eine schlichte Predigt brachte die junge Adlige dazu, ihr Leben Gott zu weihen und in die tiefsten mystischen Abgründe zu tauchen. Aus den Briefen der Louise du Néant formte Brice Pauset 300 Jahre später ein Monodram für Stimme, Klavier und Elektronik.

Eines Tages verbrachte ich drei Stunden in Seiner Ich hatte mich für meine Andacht in einen Gegenwart, ich empfand eine Wonne, die zu be- Beichtstuhl zurückgezogen, als mir die heilige schreiben mir unmöglich ist; ich hatte mich, Madeleine erschien, die meinem Herrn Jesus die ­allein mit meinem göttlichen Gatten, in mein Füße küsste. Ich ward von einer solch maßlosen Gebet eingeschlossen, und es schien, als sprächen Eifersucht auf sie ergriffen, dass ich in ein wir ganz offen miteinander von Angesicht zu An- Gekreisch ausbrach, das Euch wie Wahnsinn gesicht. Er erläuterte mir Seine Pläne mein Schick- erscheinen muss. Gebt mir Euren Platz, sagte ich sal betreffend; Er gab mir zu verstehen, dass mein zu ihr; ich will ihn auch besitzen. Dies war nicht Tod nicht so bald bevorstünde, sondern Er mich das erste Mal, dass mir solches widerfuhr. Sie am Leben erhalten werde, um mich Schmerzen zog sich jedoch nicht zurück und so ergriff ich erleiden zu lassen, die ich kaum ertragen könne, mein Kruzifix, küsste meinerseits seine Füße es sei denn, Er erwiese mir besondere Gnade. Dies und sprach zu ihr: Er gehört mir ebenso wie wiederholte Er mehrmals. Ja, sagte Er, mein liebes Euch. Ich starrte Ihn unverwandt an, und Trä- Kind und meine Gattin, ich will mit dir verbun- nen schossen mir in die Augen; ich versprach den sein durch die großen Leiden, die ich für dich Ihm, tausendfach Buße zu tun wie Madeleine, plane, sei beharrlich... Ihm zum Wohlgefallen... Ich gehöre mir nicht mehr; mein Herz, meine Seele, mein Körper und alles, was ich bin, ist Eigen- Salome Kammer verkörperte tum Gottes... die Louise du Néant bereits Ich werde allerorts schreiend verkünden: Liebe, bei der konzertanten Uraufführung Liebe, ich will nur noch von der göttlichen Liebe 2008 in Paris leben... Ich schloss mich in meinem Kerker ein und, da mein geliebter Herr mir kein Versöhnungs- zeichen schickte, nahm ich ein großes Kreuz in meine Arme, warf mich auf die Knie, betrachtete es starr und sagte: Oh gutes Kreuz, oh geliebte Gattin meines Herrn! Ich muss auf die Seite gefes- selt werden, die Er frei gelassen hat – für mich hat Er sie frei gelassen... Antigona TRAGÖDIE MIT HAPPY END René Jacobs erfüllt sich einen lang gehegten Wunsch: Er dirigiert Tommaso Traettas Antigona

chon lange habe ich den Wunsch, dieses bereut sein Urteil und vergibt den vermeintlichen Stück zu machen. Traettas Antigona ist ge- Verbrechern – schließlich kann der Mensch sich Swiss eine der interessantesten Opern der Zeit. auch aus eigenem Antrieb heraus bessern. Die Uraufgeführt 1772 am Hof der Zarin Katharina Zarin, der die Oper gewidmet ist, scheint mit die- der Großen in St. Petersburg, ist das Werk eines ser Lösung jedenfalls ganz zufrieden gewesen zu der besten Beispiele für eine Reformoper aus dem sein. Geist der Aufklärung. Der Süditaliener Tommaso Was Traettas Werk so interessant macht, ist ne- Traetta hat wesentlich dazu beigetragen, dass die ben der hohen Qualität des Textes die sehr ex- Kunstform Oper neue Wege gegangen ist – hin zu pressive und abwechslungsreiche Musik. Alle fünf einer wirklichen Darstellung der Menschen und Protagonisten haben musikalisch reichhaltige, ihrer Gefühle, weg von den barocken Archetypen mitunter formal sehr fortschrittliche Arien und und der barocken Emblematik. Ein »Fortschritt«, Orchesterrezitative zu singen, außerdem gibt es aber wie jeder Fortschritt auch mit Verlust ver- Ensembleszenen. Vor allem aber hat der Chor un- bunden… gewöhnlich viel zu tun: Nach Art der griechi- Als studierter Altphilologe hat mich die Wir- schen Tragödie handelt er selbst, kommentiert kungskraft des griechischen Theaters schon im- aber manchmal auch die Handlung. Gerade in mer fasziniert. Traetta und sein Librettist Marco den Chören zeigt es sich, dass Traetta zu seiner

nez Coltellini haben sich sehr eng an Sophokles’ Tra- Zeit ein ausgesprochen »moderner« Komponist a

ro Y gödie gehalten – bis auf das Ende. Sie entschieden gewesen ist, zum Teil sogar moderner als Gluck. a sich für einen optimistischen Schluss: Kreon, der Nur Mozart ist weiter gegangen, aber Antigona

Foto: Alv Gegenspieler Antigonas, kommt zur Besinnung, kündigt bereits Idomeneo an. Antigona

BEJUN MEHTA Veronica Cangemi Er ist zwar ein Großneffe von Zubin Mehta, doch Sie begann als Cellistin im Sinfonieorchester ihrer er stammt nicht aus Indien, sondern aus North Heimatstadt Mendoza. Doch als sie den Nationalen Carolina. Als Knabensopran stand Bejun Mehta oft Argentinischen Gesangwettbewerb gewann, eröffnete auf der Bühne. Dann lenkten ihn der Stimmbruch sich eine andere Perspektive. Inzwischen hat Veronica und andere Interessen erst einmal in andere Cangemi auf den großen Bühnen der Welt mit allen Richtungen: Er studierte Germanistik, arbeitete als Dirigenten zusammengearbeitet, die in der Alten Plattenproduzent und wartete als Bariton vergeblich Musik Rang und Namen haben. Denn dort fühlt sie auf den Durchbruch – bis er seine Countertenor- sich, trotz gelegentlicher Ausflüge zu Beethoven, Stimme entdeckte. Mit 30 debütierte er an der New Mahler oder Strauss, am wohlsten. Für RenÉ Jacobs York City Opera in Händels Partenope. Heute gehört war sie bereits Scarlattis Griselda (an der Staatsoper er unbestritten zu den Größten in seinem Fach. Unter den Linden), die Cleopatra in Händels Giulio 2010 sang er an der Staatsoper Unter den Linden Cesare und Glucks Euridice. Nun singt sie die den Ottone in Händels Agrippina. Titelrolle in Traettas Antigona. Werkstatt »Agitprop sozus age n« Hans Werner Henze und der Cimarrón

»Am 27. März besuchten Enzensberger und ich nach Castros Revolution – landete er zum ersten den angeblich schon über hundert Jahre alten Mal auf der Karibikinsel, wo ihn der Nationalrat ­Cimarrón, Herrn Esteban Montejo, einen langen, für Kultur höchstpersönlich empfing. Mehrere schlank und hoch aufgerichteten Kerl mit dun- Wochen zog Henze mit dem Tonbandgerät über kelbrauner Haut wie aus Leder, einen Freund von die Insel, um Revolutionsmusik aufzunehmen Romeo y Julieta, der edlen Habana-Zigarre, der und ihre Autoren kennen zu lernen. Auch den uns großartige und vorwiegend lustige Geschich- jungen Ethnologen Miguel Barnet besuchte er, ten aus seinem früheren und auch aus seinem der gerade seine langen Gespräche mit einem heutigen Leben erzählte. Früher, 1895, ist er, noch angeblich 107-jährigen Cimarrón, einem entlaufe- als entlaufener Sklave, in der Schlacht von Mal nen Sklaven, zu einer Lebensgeschichte in Ich- Tiempo in einer Horde nackter, mit großen Mes- Form verdichtet hatte – ein Buch, das für die sern bewaffneter Cimarrónes mitgeritten, um die ethnologische Forschung wegweisend werden soll- te. Den Sommer über formte Henzes Freund Hans Magnus Enzensberger daraus einen Lieder-Zyklus »Ich habe das feierliche Gefühl, aus 15 Prosatexten, und am 10. Dezember begann einen Schritt ins Neuland zu tun.« Henze, wieder nach Kuba zurückgekehrt, die Kompo­sition: »Heute früh das erste Stück von El Cimarrón skizziert, mit dem unbeschreiblich Spanier zu überfallen und zu massakrieren und feierlichen Gefühl, einen Schritt ins Neuland zu dadurch Cubas Unabhängigkeit zu erkämpfen. tun. Instrumentales Theater soll es werden – aber Heute sitzt er hochdekoriert bei Militärparaden wie das im einzelnen aussehen wird? Graduell auf der Ehrentribüne, und Fidel ist ein Duzfreund werde ich es herausfinden müssen. Es schwebt von ihm. Es gefällt ihm, dass ich Musik zu seiner mir ein leicht transportables Straßentheater vor, Autobiographie schreiben will, er findet es ganz Agitprop sozusagen, aber immer nur indirekt be- natürlich. Ich merke mir den Tonfall seiner Stim- zogen aufs Tagesgeschehen.« Bis Ende Januar hat- me, seinen Singsang. Er spricht von den Geistern te er den Vokalpart fertiggestellt, in seinem Haus so, als ob sie wirklich existieren. Sein Stimmum- bei Rom komponierte Henze bis Mai das »Rezital fang geht oben und unten weit über die lächerli- für vier Musiker« zu Ende. Die Uraufführung im chen zwei westlichen Oktaven hinaus.« So fasste Sommer 1970 auf Benjamin Brittens Festival in Hans Werner Henze seine Tagebuch-Notizen von Aldeburgh wurde ein voller Erfolg, anschließend 1969 später in seinen Erinnerungen zusammen. ging das deutsch-kubanisch-japanisch-amerika- Sein Oratorium Das Floß der Medusa hatte er 1967 nische Ensemble auf Festival-Tournee quer durch zur Trauerallegorie für den ermordeten Ché Europa. Noch zwei weitere Male hat Henze selbst Guevara erklärt, zwei Jahre später – zehn Jahre El Cimarrón inszeniert. Arnt Cobbers werkstatt

Erik Satie Was ich bin

Jeder wird Ihnen sagen, ich sei kein Musi- Wissen Sie, wie man Töne reinigt? Das ist ker. Das stimmt. eine ziemlich schmutzige Angelegenheit. Schon zu Beginn meiner Laufbahn habe Das Spinnen der Töne ist sauberer. Sie ein- ich mich sogleich zu den Phonometrogra- zuordnen, ist sehr knifflig und verlangt phen gezählt. Meine Aufzeichnungen sind gute Augen. Und damit sind wir auch rein phonometrisch. Ob man nun den Fils schon bei der Phonotechnik. des Étoiles oder die Morceaux en forme de Was die häufig so unangenehmen Tonex- poire, En Habit de Cheval oder die Saraban- plosionen angeht, so werden sie durch des nimmt: Immer wird man feststellen, Watte in den Ohren eigentlich ganz or- dass der Entstehung dieser Werke keinerlei musi- dentlich gedämpft. Und damit wären wir bei der kalische Idee zugrunde liegt. Vielmehr dominiert Pyrophonie. ein rein wissenschaftliches Denken. Um meine Pièces Froides zu schreiben, bediente Überhaupt macht es mir mehr Spaß, einen Ton zu ich mich eines Kaleidophon-Aufzeichners. Das messen, als ihn zu hören. Mit dem Phonometer in dauerte sieben Minuten. Ich rief meinen Diener der Hand arbeite ich frohgemut und sicher. und spielte sie ihm vor. Was habe ich nicht schon alles gewogen und ge- Ich glaube sagen zu können, dass die Phonologie messen! Den ganzen Beethoven, den ganzen Verdi der Musik weit überlegen ist. Sie bietet mehr Mög- etc. Das ist schon recht kurios. lichkeiten. Der finanzielle Ertrag ist sehr viel grö- Das erste Mal, als ich mich eines Phonoskops be- ßer. Ihr verdanke ich meinen Reichtum. diente, untersuchte ich ein B von mittlerer Größe. Auf alle Fälle kann ein halbwegs geübter Phono- Ich versichere Ihnen, nie habe ich etwas derart meter mit dem Motodynamophon leicht mehr Widerwärtiges gesehen. Ich rief meinen Diener Töne aufzeichnen, als es der geschickteste Kom- und zeigte es ihm. ponist im gleichen Zeitraum mit gleichem Auf- Auf der Phonowaage erreichte ein schlichtes, wand vermag. Dank dessen habe ich so viel ge- ganz gewöhnliches Fis das Gewicht von 93 Kilo- schrieben. gramm. Es stammte von einem sehr dicken ,­ Die Zukunft gehört deshalb der Philophonie.

an dem ich Maß nahm. (aus den Memoiren eines Gedächtnislosen, 1912) zeichnung: erik satie »Gestern war Grosskampftag« Bei der Uraufführung von Alban Bergs Wozzeck am 14. Dezember 1925 in der Staatsoper Unter den Linden ging es hoch her. deutsche Zeitung, berlin 15. dezember 1925

»Wozzeck« von Bewußtsein nach Hause gehen, len, haben die Darsteller nur Alban Berg sich durchgesetzt zu haben. kurze Stich- und Schlagworte Uraufführung in der Staatsoper Ein trügerisches Bewußtsein! zu bringen, die eine schauspie- Das wird sich in den folgenden lerische Entfaltung von vorn- Vorstellungen schon zeigen. herein ausschließen. Einige Die Musik von Alban Berg ist Kraftausbrüche, von denen das Gestern war Großkampftag in wahrhaft entsetzlich. Von dem tierische Auftreten des Tambour- der Staatsoper. Es galt den Fron- in Jahrhunderten errichteten majors (Herr Soot) gegen- talangriff der Atonalen gegen Harmoniegebäude ist kein Stein über dem Soldaten Wozzeck am die altehrwürdige Musikfestung auf dem anderen geblieben. Die Schluß des zweiten Aktes (er Unter den Linden. Die »Univer- Unsauberkeit und Verantwor- erdrosselt den wehrlosen Unter- sal-Edition« hatte den heiligen tungslosigkeit der Polyphonie gebenen im Schnapsrausch) der Krieg erklärt und bis in die bricht selbst den Schönberg- ekelhafteste ist, vermögen an Dachstuben hinein mobil ge- schen Weltrekord. Wer nach dem Gesamteindruck nichts zu macht. Der »General« Kleiber Melodie, nach Seele, nach Aus- ändern. Dergleichen leisten die kommandierte die Schlacht. druck, nach Formen und Geset- Spieler auf kleinstädtischen Er hat sie nicht verloren. Für zen fragt, macht sich lächerlich Schmieren genau so. handfeste Unterstützung seiner und wird nicht für voll genom- Da zwischen den einzelnen Sze- Ziele war gesorgt. Der Kleiber- men. Das Orchester quiekt, nen, die wie Kientoppbilder vor- Klüngel behielt die Oberhand wiehert, grunzt und rülpst. Herr überziehen, kaum zwei Minuten gegenüber einem Zischen, das Kleiber fühlt sich als Herr und Pause sind, mußte alles Deko- in keiner Weise organisiert war Beschützer einer Bestialität, die rative auf Andeutungen be- und nur ehrlicher Entrüstung dem Publikum als Genialität schränkt bleiben. Es werden im- entsprang. Nach dem ersten Akt aufgeschwatzt werden soll. Dank mer schnell ein paar Kulissen war der Beifall sehr lau und un- seiner starken Rustikalität und zusammengestellt, deren Aus- sicher. Nach dem zweiten such- seiner ungewöhnlichen Routine führung der Schludrigkeit der ten kompakte Gruppen den Er- brachte er mit den Darstellern, Musik vollkommen entspricht. folg zu erzwingen und es kam zu die sich f ür das unsagbar schw ie - Die Regie des Herrn Professor den üblichen Standardszenen, rige Werk in monatelangen Dr. Hörth war gut. Die Fabrik- die von Erstaufführungen der Proben selbstlos und dennoch marke der Staatsoper, der un- Staatsoper unter Herrn Kleibers umsonst aufgeopfert haben, heimlich große Mond, den man Leitung ja nicht mehr zu tren- eine in technischer Beziehung in jeder neuen Vorstellung sieht, nen sind. Denn auch heftiges vorzügliche Darstellung zustan- fehlte auch diesmal nicht. Daß Zischen drang durch das Haus, de. Von einer wirklich schöpfe- es gestern eine Sonne war, ist ebenso einige Pfiffe. Der Kom- rischen Leistung kann weder belanglos. ponist erschien, der Dirigent beim Träger der Titelrolle, Herrn Über das Werk selber, das ich ebenfalls. Nach dem letzten Akt Leo Schützendorf, noch bei der als eine Katastrophe unserer zeigte sich der Komponist, auf eigens für die Rolle der Maria Musikentwicklung empfinde, die Instinkte der Masse bauend, herangeholten Siegrid Johansen wird ein Artikel in der nächsten mit dem kleinen Kind an der gesprochen werden, geschweige Ausgabe ausführlich handeln. Hand, das mitgespielt hatte. Es denn bei den übrigen Marionet- Paul Zschorlich war rührend! Aber der Wahr- ten der Handlung von Georg heit die Ehre: Er errang sich ei- Büchner. In den fünfzehn Sze- nen äußeren Erfolg, konnte wie- nen, die fast ausschließlich im derholt erscheinen und mit dem Dunkeln oder im Zwielicht spie- wozZeck

Thüringer Allgemeine Zeitung 16. Dezember 1925

Alban Berg: er verdient. Schutzlos seinen Ge- eine Tonart (Zwischenspiel in »Wozzeck« danken und der Verachtung der D-Moll) und eine gleichmäßige Uraufführung in der Staatsoper Welt preisgegeben, symbolisiert Achtelbewegung. er den Typus des unterdrückten, Aus der Fülle der Schönheiten resignierten Proletariers, der seien nur erwähnt: das zweite nichts besitzt als die Liebe zu und das letzte Zwischenspiel so- Es ist schwer, der seltsamen seinem Heim. Marie, die Gelieb- wie die über alle Begriffe geniale Vollendung und Einmaligkeit te, betrügt ihn mit dem Tam- Szene im Wirtshausgarten, wo dieses Werks in den Grenzen ei- bourmajor. Wozzeck erfährt es, Mord, Angst, Trunkenheit und ner Kritik gerecht zu werden. und nun, da er nichts mehr zu geile Gier einen gespenstischen Kaum je wurde einer Oper ein verlieren hat, verdichtet sich in Reigen miteinander tanzen. Buch unterlegt, dessen literari- seinem Gehirn der Gedanke, Die Aufführung des unglaublich scher Wert so völlig den musika- Marie zu töten. Er ersticht sie schwierigen Werks war dank lischen Deutungsmöglichkeiten mit einem Messer. Zum Tatort Erich Kleibers musikalischer entsprach wie das geniale Frag- zurückgekehrt, sucht er die Leitung und F. L. Hörths Regie ment Georg Büchners. Aus den Waffe im Teich und findet dabei nahezu vollendet. Leo Schützen- 25 Szenen des ursprünglichen den Tod. Das letzte Bild zeigt dorf, der die Titelrolle mit her- Wozzek wählte Alban Berg die sein Kind in ahnungslosem, lus- vorragender Musikalität, pracht- 15 wesentlichen, komponibels- tigem Spiel auf der Gasse. voller Stimme und erstaunlicher ten Stücke, und das Ergebnis Als Schüler Arnold Schönbergs schauspielerischer Sicherheit dieser Wahl wurde eine Hand- hat Alban Berg eine Anschauung verkörperte, hätte man eine lung, die in Sprache, Gedanke, mit auf den Weg bekommen, stimmlich etwas bessere Part- Bild und Aufbau allein schon die es ihm unmöglich machen nerin als Sigrid Johanson (Marie) von packender Wirkung sein mußte, eine Oper der üblichen gewünscht. Unter den anderen könnte. Daß es Berg gelang, zu Form zu schreiben. Die musika- Rollen war besonders der Haupt- diesem Buch eine Musik zu lische Gestaltung des Wozzecks mann durch Waldemar Henke schreiben, die seine Weise nicht zeigt denn auch eine Strenge glänzend vertreten. nur nicht beeinträchtigt, son- des Aufbaus, die in der Opern- Die Bühnenbilder Aravantinos’ dern noch unerhört steigert, die literatur ein Unikum darstellt. bewiesen seine Hilflosigkeit mo- Latentes aufdeckt und geheims- Obwohl die Gesamtwirkung des dernen Werken gegenüber, selbst te Psychologien enthüllt, ohne Werkes rein dramatisch ist, liegt wenn er, wie hier, fast erstaun- sich des Wichtigsten: dramati- jedem Akt, ja jeder Szene ein lich sich über den Rahmen sei- scher Konzeption und musikali- formales Prinzip zugrunde, das ner Phantasie hinaussteigert. scher Einheit zu begeben, be- völlig konsequent durchgeführt Der Abend bildete nicht nur die weist eine Genialität, die ihn wird. So besteht der erste Akt größte Sensation dieser Saison, unmittelbar neben die bedeu- aus fünf thematisch verbunde- sondern auch ein Ereignis von tendsten Musikdramatiker der nen »Charakterstücken«, die ein- Bedeutung für die Geschichte Gegenwart stellt. zeln betrachtet, wiederum als der Musikdramatik überhaupt. Kurz sei die Handlung angedeu- Suite, Rhapsodie, Militärmarsch, Das Publikum war, einigen Un- tet: Wozzeck ist ein armer Teu- Passacaglia und Andante kom- entwegten zum Trotz, die schon fel, der als Soldat durch Dienste poniert sind. Den zweiten Akt in der Generalprobe die Gast- beim Hauptmann und einem bildet eine Symphonie in fünf freundschaft des Theaters gröb- verrückten Arzt für seine Ge- Sätzen. Der dritte besteht aus lich mißbraucht hatten, von liebte und sein Kind ein paar sechs Inventionen: über ein The- dem Werk hingerissen. Groschen über die Löhnung sau- ma, einen Ton, einen Rhythmus, H. H. Stuckenschmidt DIE INSZENIERTE MUSIK Regisseure haben sich in der Oper die Deutungshoheit der Interpretation erobert

WOLFGANG SCHREIBER war 24 Jahre lang Redakteur und Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung. Seit 2002 arbeitet er als freier Publizist in München und Berlin. illustration: dai kua-sook kim / scrollan essay

Wenn aber die guten Leute da droben singend sich Hatte die führende Kunstanschauung des 19. Jahr- begegnen und bekomplimentieren, Billets absingen, hunderts, der Historismus, zum geschlossenen die sie erhalten, ihre Liebe, ihren Hass, alle ihre Lei- Werk und der integralen Darbietung von Texten denschaften singend darlegen, sich singend herum- gefunden, so dass auf der Theater- oder Opern- schlagen, und singend verscheiden, können Sie sagen, bühne nur ein »Spielleiter« benötigt wurde, so dass die ganze Vorstellung oder auch nur ein Teil verlor im 20. Jahrhundert die Geschlossenheit des derselben wahr scheine? Ja, ich darf sagen: auch nur Kunstwerks an Bedeutung, somit auch der Vor- Schein des Wahren habe? rang der Werktreue. Doch die Diskussion dazu ist Johann Wolfgang Goethe älter, wie zwei Beispiele zeigen: Im Aufsatz Shake- speare und kein Ende ist es Goethe selbst, der das Der Weimarer Theaterdichter Goethe referiert »Vorurteil« kritisiert, »dass man Shakespeare auf den Disput zwischen einem Kenner und einem der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen Liebhaber der Oper: Der intellektuell beschlagene müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer »Anwalt« eines Künstlers und ein von der Opern- daran erwürgen sollten«. Goethe nennt die Phra- kunst ergriffener »Zuschauer« reden aufeinander se, kein Jota dürfe bei einer Shakespeare-Vorstel- ein. Dieser beruft sich auf sein Vergnügen an der lung geändert werden, schlicht »sinnlos«. Und Oper, der Anwalt widerspricht nicht, zweifelt auch Nietzsches Betrachtung Vom Nutzen und aber ernstlich am Wahrheitsgehalt des Ganzen. Nachteil der Historie für das Leben kann für Theater und Oper Geltung beanspruchen: »Nur insoweit Historismus oder die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr die- Gegenwärtigkeit nen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, Goethes Opernkontroverse stammt und eine Schätzung derselben, bei der das Leben aus der Zeit, als das Musiktheater verkümmert und entartet.« Vom Historismus gibt I noch nicht richtig zerlegt war in es eine innere Verbindung zum Glaubensprinzip seine Instanzen: Textautor, Komponist, Regisseur, »Werktreue«, das Züge einer kulturkonservativen Dramaturg, Dekorateur, Dirigent, Darsteller. Aber Ideologie tragen kann. Ihrer Vorherrschaft ging das Bohren nach dem »Schein des Wahren« und es beim Theaterexperiment der Berliner Kroll- »Richtigen« erschien offenbar so dringlich wie Oper Ende der zwanziger Jahre an den Kragen – heute: Braucht die Oper, um glaubwürdig, fes- erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg. selnd, dabei interessant und unterhaltend zu wir- ken, mehr die ästhetische Ehrfurcht vor Text und Triumph des Musiktheaters Partitur oder mehr die erzählerische Spontanei- Vielleicht wäre die oft totgesagte Oper tät und Zeitnähe? Sollen auf der Opernbühne his- II eines Tages tatsächlich sanft entschla- torische Mythologie oder moderne Psychopatho- fen – an der konsumierbaren Faszination des rein logie herrschen, illusionistische Ausstattung oder Musikalischen, am Edelmut des visuell Dekorati- nackte Seelenpein, Pathosritual oder Alltagsan- ven und somit, nach Goethe, am fehlenden mutung – mehr Wiedergabe oder mehr Interpre- »Schein des Wahren« –, hätte nicht ein Mann tation? Die Fronten sind klischeebesetzt: Dem rechtzeitig den Theateraspekt alles Opernhaften scheinbar gehorsamen Dienst am Werk stehen neu belebt: mit der Idee eines »realistischen Mu- vermeintliche Willkür und Selbstherrlichkeit der siktheaters«. Der Regisseur und Theaterprinzipal Regisseure gegenüber. Beim gegenwärtigen »Re- Walter Felsenstein gilt als deren Erfinder, prakti- gietheater«, zuweilen »Regisseurstheater« ge- ziert seit 1947 an der Komischen Oper Berlin. nannt, entzünden solche Fragen in der Regel ei- Felsenstein konnte auf seinen Erfahrungen mit nen ungestümen Disput. dem Schauspiel aufbauen. Neu formuliert hatte essay

den Anspruch ans Musiktheater schon die Berli- Dialogtext auf der einen, Gesangslinie, Klang und ner Kroll-Oper. Im Laboratorium Kroll-Oper des Handlungsmacht der Musik auf der anderen Seite Dirigenten Otto Klemperer wurde in den bloß richtig erfassen und umsetzen. Die »Jünger« aus vier Jahren seines Bestehens seit 1927 ein Opern- dem Umkreis Felsensteins jedenfalls trugen die modell erzeugt, das von der Neuen Sachlichkeit Erkenntnisse und die Techniken szenischer Inter- in Bühnenbild, Dramaturgie und Regie inspiriert pretation in die Zukunft, entwickelten sie eigen- war. Die Kroll-Oper im Verwaltungsgefüge der ständig weiter – allen voran Joachim Herz, Götz Preußischen Staatsoper bedeutete eine Art Fort- Friedrich und Harry Kupfer. Was die konventio- entwicklung dessen, was der Schweizer Theater- nelle alte Opernkunst noch zu bieten hatte, dafür revolutionär Adolphe Appia realisiert hatte: Bilder gab es jetzt ein verächtliches Etikett: Kostümier- auf der Theaterbühne, die die Handlung interpre- tes Konzert. tieren statt sie naturalistisch zu illustrieren. Bau- hauskünstler wie LászlÓ Moholy-Nagy und Oskar Primat der Interpretation Schlemmer schufen für die Kroll-Oper antinatu- Die Naivität, das Kunstwerk als ein ob- ralistische Opernszenarien in kantig geometri- III jekthaftes, in sich geschlossenes, gleich- schen Bühnenformen, die der Oper etwas We- sam unangreifbares Text- und Zeichensystem an- sentliches zurückgaben: ihre Archaik, ihre zusehen, dem man nur zur dienenden Darstellung mythische Dimension im Dienst der Musik. verhelfen müsse, ist von vorgestern. Die Theater- Walter Felsenstein pochte auf das Theatermäßige wissenschaftler, Theaterkünstler und auch das der Oper, das lebendige Spiel der Darsteller, auf Publikum wissen, dass ein solches »Werk« Fiktion den »singenden Menschen«. Alle Elemente von ist, dass es im Don Giovanni, im Tristan oder der Theater und Musik wurden auf der Bühne vereint Aida um komplexe Text- und Klangstrukturen, zum Tanzen gebracht – für ein Musiktheater als verästelte Charakterbeziehungen und Bedeu- »Gesamtkunstwerk« aus Text und Poesie, Instru- tungsebenen geht. Um sie auf der Bühne in Ge- mentalmusik und Gesang, Raum, Licht und Bild, stalten und Bilder zu verwandeln, bedarf es der Körper und Kostüm. Und nicht nur die seelische Strukturanalyse der Werke, ihrer Sinndeutung – Dramatik in Musik und Gesang soll im Opern- der Interpretation. Tatsache ist allerdings, dass haus das menschliche Erleben, oder die Erschüt- Interpretation notwendig subjektiv und offen terung, auslösen, sondern die vielschichtige sze- bleibt, dass sie nie abgeschlossen sein kann, dass nische Interpretation der Werke ist es, die in ihrer sie perspektivisch und selektiv ist. Für Günther erzählerischen, darstellerischen, bildhaften Kom- Rennert, den fieberhaften Interpreten und Regis- plexität auf der Bühne zum Bild werden muss. seur des Operntheaters nach dem Zweiten Welt- Das »Musiktheater« hat die Oper vor dem allzu krieg, war es ausgemacht, dass bei den bedeuten- schönfärberischen Genuss des Musikalisch-Kuli- den Werken der Oper Buchstabe und Geist sich narischen gerettet und sie als jenes triebhafte häufig im Widerspruch befinden. Er glaubte we- »Kraftwerk der Gefühle« kenntlich gemacht, das der an »Werktreue« noch an »endgültige Lösun- sie von Beginn an, seit Monteverdis Orfeo, war. gen« auf der Bühne, nur an »Teilergebnisse«. Den- Das bedeutete zunächst: Amalgamierung der noch ersann er mit seiner Arbeit an Mozart und Prinzipien des Schauspiels, der Charakterdarstel- Janá ˇcek, an Verdi und Wagner, Rossini und Strauss lung, mit denen der Oper – die Triumphe von immer »neue szenische Möglichkeiten und Wir- Bühnenbild, Raum und Licht kamen später. Bis kungen«. Den inneren Kompass für den Regisseur heute entdecken zumal die jüngeren Schauspiel- nannte er das »intuitive Kalkül«. regisseure das Musiktheater für sich, aber nicht Das Potential und die Deutungsangebote großer alle können die Unterschiede von Libretto und Kunstwerke lassen sich nicht ausschöpfen oder essay

nach Rezepturen ordnen. So kann dann auf der Bedeutsam dazu, dass der früher nur material- Grenze zwischen kreativem Weiterdenken der haft zuarbeitende, nun in die Deutungshoheit Inhalte und Formen einerseits und Akten der Sub- eindringende Dramaturg sich fest am Opernhaus jektivität oder Eigenmächtigkeit andererseits die etablierte: Mit dem Handwerk der Literatur- und Gratwanderung der spekulativen Interpretation Kunstwissenschaft ausgerüstet, der historischen, beginnen. »Das offene Kunstwerk« des Umberto philosophischen und soziologischen Bild- und Eco wäre der Titel, der den Zielen des Regiethea- Textkritik, begann die Dramaturgie, die Opern- ters in seinen gelungenen Beispielen heute zu- werke nach ihren ästhetischen, sozialen, psycho- kommt. Große Regisseure suchen eigentlich im- logischen, politischen Bezugs- und Bedeutungs- mer gerade das ästhetische Risiko, um dem ebenen zu befragen. So wurden beispielsweise Kunstwerk auf Augenhöhe der eigenen Gegenwart, die Barockopern von Monteverdi bis Rameau und nicht bloß rückwärts dienend, zu begegnen. Händel als utopische, musikalisch faszinierende Modelle vom Menschen wiederentdeckt, so lie- Unerhörte Seelen-, Bilder- ßen sich die tragischen Widersprüche in den Mo- und Zeichenwelten zart-Figuren hinter aller klingenden Schönheit IV Ab den fünfziger Jahren war es die abs- aufdecken, erschienen die politisch-moralischen trakte Kunst, die in Deutschland in die Bühnen- Konflikte der Verdi-Menschen durch szenische räume und Theaterbilder eindrang: am spektaku- Kontur und Wucht gegenwärtig und wurden mit lärsten in der mythischen Raumleere und den Magie aufgeladen. In Wagners Opern und Musik- archaischen Symbolzeichen, mit denen Wieland dramen kam hinter dichten Mythosschleiern die Wagner das Neu-Bayreuth schuf. In den siebziger tiefe Menschlichkeit personaler Verluste zum Jahren musste auffallen, dass ausgerechnet die Vorschein: an zentraler Stelle im Konfliktleid und Regisseure, die sich mit der Oper neu auseinan- Erlösungswunsch von Mann und Frau. derzusetzen begannen, aus jenen Sphären ­kamen, Ob Fidelio, Butterfly oder Carmen, ob Boris Godu- in denen das Opernwesen wurzelt: Sprechtheater, now und J e n ˚u f a oder Wozzeck und Die Soldaten – die Musik, Choreographie, Architektur, Raum- und Oper hat zum Überleben den scharfen Blick hell- Lichtkunst, Malerei. Der Film als die genuine wacher Interpreten dringend benötigt, die Durch- Kunsterfindung des 20. Jahrhunderts musste zu arbeitung der Lebenserkenntnisse, um die es im den alten Disziplinen hinzustoßen. Die Künstler Theater wie in der Oper fundamental geht: die dieser Bereiche haben mit der Zeit lernen kön- menschheitsalte Auseinandersetzung zwischen nen, dass der Realitäts- und Wahrheitsbegriff des Mann und Frau, alle nur möglichen Ohnmachts- Musiktheaters zwar von Libretto, Handlung und erfahrungen der »Helden« und Kollektive, die Ge- Erzähltechnik ausgeht, aber in seinem Kern und waltmechanismen der Herrschenden gegen die Wesen von musikalischen Zusammenhängen be- Verlierer, die innerlichen Alltagserfahrungen im stimmt wird. Ob Günther Rennert oder Rudolf Klassenbewusstsein der Kleinen und Armen, die Noelte, Peter Stein, Klaus-Michael Grüber oder Realitätsdefizite und Sinnverluste aller Menschen Jürgen Flimm – oder aber Patrice Chéreau, dessen – und die leidvolle, jedoch großartige und wun- moderne Mythosinterpretation in Wagners Ring dervolle Sehnsucht aller nach seelischer Gebor- den epochalen Widerhall fand –, die Stücke des genheit. traditionellen Repertoires wurden einem bei- All das fand seinen ersten gegenwärtigen Höhe- spiellos präzisen Umgang mit Libretto, Partitur, punkt in den späten siebziger Jahren in Frankfurt Stoff- und Rezeptionsgeschichte ausgesetzt und in am Main. Die Städtische Oper wurde von 1977 an eine neu erkennbare, an die Außenwelt »an- von dem Dirigenten Michael Gielen wesentlich schließbare« Bilderwelt transportiert. geprägt. Das Haus entwickelte sich, mit Klaus essay

Zehelein als Dramaturgen, zum Modell einer Nachfolger Nikolaus Bachler treibt das »Regiethe- energisch betriebenen, weithin ausstrahlenden ater« mit einer Riege jüngerer Schauspielregisseu- Opernreform. Zu den ersten Neuinszenierungen re auf die Spitze, allerdings mit sehr unterschied- zählte Al gran sole carico d’amore von Luigi Nono, lichen Ergebnissen. inszeniert von Jürgen Flimm. Wie er kam aus Die drei großen Berliner Opernhäuser – Staats- dem Schauspiel Hans Neuenfels, der Busonis Dok- oper, Deutsche Oper, Komische Oper – spiegeln tor Faust, Schrekers Die Gezeichneten und, Frank- die Zeitnähe und die Vitalität, die Chance und die furts berühmteste Regiearbeit damals, Verdis Krisen der Oper wider, kontrovers zumal durch Ägyptenoper Aida inszenierte – die Archäologie die Opernregie. Der beharrliche, unterschiedlich als Kunstmetapher, Tragödie zweier Völker als wirkungsvolle Kampf um die beste Ästhetik, um Satire, Heldentum als Dubiosität. Die »Ost-Regis- Innovation und Tradition, um die Künstler, die seurin« Ruth Berghaus, aus der Tanzschule Gret Politik und das Publikum ist hier immer auch der Paluccas in Dresden stammend, wurde neben Kampf um die Geist- und Bausubstanz einer vehe- Neuenfels die bestimmende Regiehandschrift menten Opernhistorie und -gegenwart Berlins. dieser Jahre in Frankfurt. Mozarts Entführung Dass die neue provisorische Ära der Staatsoper im oder Berlioz’ Die Trojaner, Janá ˇceks Sache Makro- West-Berliner Schiller Theater mit einer Opern- poulos, Parsifal und Der Ring des Nibelungen – Ruth novität, einer Uraufführung, beginnt, setzt ein Berghaus und ihre hochartifiziellen Inszenierun- Zeichen modernisierten Opernbewusstseins. Ob gen der Körper prägte die »Ära Gielen« mit am das beherrschende Thema des Opernregiethea- stärksten. Mit plastischen Szenenmetaphern setz- ters in Zukunft relativiert erscheinen mag? te sie kühl die Zeichen menschlicher Bindungen oder Verluste. Werktreue gegen Anfang der achtziger Jahre startete der Bühnen- Regietheater bildner Herbert Wernicke in München, wo noch V Die alte Frage nach dem Primat von Mu- Jean-Pierre Ponnelle wirkte, mit Opernregie: Hän- sik oder Wort in der Oper hatte sich in den letzten dels Oratorium Judas Maccabäus und der Fliegende Jahren in einen Disput über den Primat von Werk Holländer verstörten durch ungewohnt scharf- oder Aufführung, eben Regie, verwandelt. Es war kantige Interpretation und kühne Bilderwelt der Schriftsteller Daniel Kehlmann, der den Streit Publikum und Kritik. Auch der Maler Achim Frey- um das sogenannte »Regietheater« mit seiner er begann in München mit Opernregie: durch Rede bei den Salzburger Festspielen 2009 krönte eine in archaischen Bildern aufregend span- – und verschärfte. Nicht nur Peter Konwitschny, nungsreiche, modern-krasse Iphigenie auf Tauris. der Regisseur mit dem radikal-ästhetischen Frei- Nach der Frankfurter Gielen-Ära führte Klaus heitsanspruch, nimmt für sich längst, und be- Zehelein die Stuttgarter Staatsoper für andert- rechtigterweise, die Rolle eines Autors, eines halb Jahrzehnte an die Spitze brisanter Opern- Kunstwerkschöpfers in Anspruch – und trifft auf kunst in Deutschland. In Brüssel gelang es dem den Protest der Traditionalisten der Werktreue. Flamen Gerard Mortier, energisches Regietheater Konwitschny hat es sich im Zusammenhang mit weithin ausstrahlen zu lassen – und seine brillan- seiner Dresdner Csárdásfürstin von einem Ge- ten Opernideen füllten mit überraschender richtsurteil bestätigen lassen. Demnach gehört Durchschlagskraft die Nach-Karajan-Ära bei den seine das Werk nicht bloß zeigend darbietende, im Kern konservativen Salzburger Festspielen. An sondern selbstständig interpretierende Regie zum der Bayerischen Staatsoper München leitete der Bestand des auf der Bühne erscheinenden Wer- Brite Peter Jonas eine in Deutschland noch nie kes, als eigenständige, nicht willkürlich zu verän- dagewesene Barockoper-Renaissance ein. Sein dernde Kunstschöpfung. Bei einer Tagung in der essay

Akademie der Künste Berlin im Februar 2010 gab rasanten Videofilmschnitten bis zum Boulevard Konwitschny seine Haltung zur Werktreue er- heroischen Konsumtrashs. So werden Monte­ neut zu erkennen: »Es ist ein Missverständnis, verdi, Händel und Mozart, Verdi und Wagner zu dass es unsere Aufgabe sei, es so zu machen, wie Schöpfern des magischen Gegenwartstheaters im die Autoren sich das vorstellen. Das kann man 21. Jahrhundert. manchmal gar nicht wissen, oder es steckt nur im Werk selbst. Das Werk verändert sich aber mit der Schluss: Souverän auslegen Zeit.« Dass die Oper gerade im 21. Jahrhundert Die Maxime dahinter: Die Partitur ist nicht das VII Magie ausüben kannn, verdankt sie – Werk, die Partitur ist nur die Notation des Wer- über die Macht der Musik der großer Meister hin- kes. Alles steht in den Noten, sagt , aus – dem Interpretationsfuror der Opernmacher, nur nicht das Wesentliche. Das »Werk« als unan- zumal der Regisseure. Der »Schein des Wahren«, tastbar fixierte Größe bleibt Fiktion, eine Schimä- den Goethes »Anwalt« in Frage stellt, hat sich auf- re. So gibt es denn keine Alternative zum »Regie- gelöst in die Vielzahl von Modellen der Interpre- theater«, ob ausgeübt mit Genialität oder tation und Regie. Man könnte mit dem Zynismus Unbegabung, getragen vom Gelingen oder Miss- spielen, den Goethe zusätzlich zur Verfügung brauch und Scheitern, es entscheidet sich auf den stellt: »Im Auslegen seid frisch und munter / legt Bühnen. ihr’s nicht aus / so legt was unter.« Oder aber an ein hintersinniges Wort über den Wert der Texte Operntheater aus dem denken, den der Schriftsteller Ingo Schulze in ei- Geist der Musik nem Brief an den Herausgeber der Blätter des VI Prima la musica, poi la parola – es gilt Deutschen Theaters Berlin 2006 schrieb: »Ich Mozarts Brief an den Vater von 1781, wonach freue mich darüber, dass Sie den Text ernst neh- »schlechterdings die Poesie der Musick gehorsa- men und dass Sie ihm vertrauen, dass Sie zugleich me Tochter seyn« muss. Und deshalb die Regie im souverän mit der Vorlage umgehen. Dass Sie den Musiktheater der überwältigenden Macht der Mu- Mut haben, die Bilder langsam entstehen zu las- sik zu folgen hat. Der Opern- und Theaterregis- sen und nicht auf Teufel komm heraus ›spielen‹ seur Hans Neuenfels bekennt sich sogar zu einer zu wollen.« Angst vor der Überwältigung durch die Musik – er wünsche nicht »von der Gewalt der Komposi­ tionen fortgeschwemmt« zu werden. Und will doch bei seiner Arbeit »mitgerissen werden, die Musik bis zum letzten auskosten«. Das Libretto sei für ihn, sagt Neuenfels, lediglich informativ, »die Hauptsache ist, dass es den Komponisten zur Mu- sik verführt hat«. Und die Musik verführt ihrer- seits die Künstler der Regie dazu, ihre ganze Phantasie zu gebrauchen, um durch die Musik hindurch die richtigen und wahren Bilder zu fin- den. »Schauspiel inszenieren«, so Konwitschny, »heißt: komponieren. Oper inszenieren heißt: Musik inszenieren.« Wie weit das jetzt gehen darf? Von leergefegten Räumen des reinen Ge- dankens bis zum Designpop knalliger Bilder, von Candide CANDIDE ODER DER OPTIMISMUS

n Westfalen lebte auf dem Schloß des Frei- siebzehn Jahre alt, rotwangig, frisch, mollig und herrn von Thunder ten Tronck ein Jüngling, appetitlich. Der junge Baron war offenbar in I dem die Natur den sanftmütigsten Charakter allem der echte Sohn seines Vaters. Der Haus- mit auf die Welt gegeben hatte. Jede Regung lehrer Pangloß war das Orakel des Hauses, und seiner Seele spiegelte sich auf seinem Antlitz der junge Candide nahm seine Lehren mit der wider. Er war arglosen Gemütes und hatte gesun- ganzen Vertrauensseligkeit seines jugendlichen den Menschenverstand, und aus diesem Grunde Alters und seines Charakters auf. wurde er wohl auch Candide genannt. Die lang- Pangloß lehrte die Metaphysico-theologico- jährigen Diener des Hauses vermuteten, er wäre cosmologie. Er wies in vortrefflicher Weise nach, der Sohn einer Schwester des Herrn Baron und daß es keine Wirkung ohne Ursache gäbe, daß in eines biederen, gutmütigen Landjunkers dieser besten aller Welten das Schloß des aus der Nachbarschaft. Das Fräulein Herrn Baron das schönste aller Schlösser hatte jedoch diesen Junker um keinen und die Frau Baronin die beste aller Baro- Preis heiraten wollen, weil er nicht mehr ninnen sei. als einundsiebzig Ahnen nachzuweisen »Es ist erwiesen«, so dozierte er, »daß die vermochte, während der Rest seines Dinge nicht anders sein können als sie Stammbaums durch die Unbilden der Zeit sind, denn da alles zu einem bestimmten verlorengegangen war. Zweck erschaffen worden ist, muß es not- Der Herr Baron war einer der einflußreichsten wendigerweise zum besten dienen. Bekanntlich Edelleute Westfalens, denn sein Schloß hatte sind die Nasen zum Brillentragen da – folglich eine Tür und ein Fenster, und der große Saal haben wir auch Brillen; die Füße sind offensicht- war sogar mit Wandteppichen geschmückt. Aus lich zum Tragen von Schuhen eingerichtet – also seinen Hunden konnte man im Notfall eine Meu- haben wir Schuhwerk; die Steine sind dazu da, te zusammenstellen; seine Stallknechte waren um behauen und zum Bau von Schlössern zugleich seine Jäger, und der Dorfpfarrer war verwendet zu werden, und infolgedessen hat gleichzeitig Schloßkaplan. Sie redeten ihn alle unser gnädiger Herr ein wunderschönes Schloß. mit »Euer Gnaden« an und lachten pflichtschul- Der vornehmste Baron der ganzen Provinz muß digst, wenn er Witze machte. eben auch das schönste Schloß haben. Und da die Die Frau Baronin wog an die dreihundertfünfzig Schweine dazu da sind, gegessen zu werden, so Pfund und erfreute sich infolgedessen eines essen wir das ganze Jahr hindurch Schweine- beträchtlichen Ansehens, das sie durch die fleisch. Also ist es eine Dummheit, zu behaupten, Würde, mit der sie das Haus repräsentierte, noch alles auf dieser Welt sei gut eingerichtet; man zu steigern wußte. Ihre Tochter Kunigunde war muß vielmehr sagen: alles ist aufs beste bestellt.« Voltaire OPER HEUTE - EIN DINOSAURIER

JÜRG STENZL ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Salzburg. Zuvor war er u.a. Künstlerischer Direktor der Universal Edition Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Musik des Mittelalters und des 20./21. Jahrhunderts. illustration: dai kua-sook kim / scrollan essay

alten wir fest: Glücklicherweise repertoire ist ein Museum, auch dort, wo in zeit- gibt es nirgendwo auf der ganzen genössischen Gebäuden gespielt wird. Welt so zahlreiche Opernhäuser wie im deutschen Sprachgebiet. om umfangreichen Opernschaffen des H Dort steht das Repertoire der zwei- 20. Jahrhunderts gilt genau dasselbe: ten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts, von V Claude Debussys Pelléas et Mélisande, Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice (1762) nicht zu reden von Paul Dukas’ Ariane et Barbe- bis zu Giacomo Puccini, fraglos im Mittelpunkt. Bleue, Alban Bergs Wozzeck und Lulu oder Igor Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind zudem ausge- Strawinskys Bühnenwerken bis zu The Rake’s Pro- wählte ältere Werke, von Claudio Monteverdis gress sind die Ausnahmen, die nichts beweisen Orfeo und seiner Incoronazione di Poppea bis zu und gegen Richard Strauss in der Statistik nicht Georg Friedrich Händels Opern, zunächst in »mo- zählen. Wer kennt Strawinskys Geschichte vom dernisierenden« Bearbeitungen, in der zweiten Soldaten, jenes Werk, das, wie Ferruccio Busonis Jahrhunderthälfte immer häufiger in einer der Arlecchino oder Sergej Prokofjews Die Liebe zu den »historischen Aufführungspraxis« verbundenen drei Orangen, den herkömmliche Opern, Wagners Praxis beinahe repertoirefähig geworden. Das ist Musikdramen eingeschlossen, ein radikal neues jedoch, alle »Ausgrabungen« eingerechnet, nur musikalisches Theater (bei Strawinsky mit ge- ein minimaler Bruchteil dessen, was überliefert ringstem Aufwand) entgegen gestellt hat? Wo ist ist; viele der ehemals erfolgreichsten und opern- Gian Francesco Malipieros Orfeide, wo sind Darius historisch wirkungsvollsten Werke sind heute Milhauds freche Opéras-minute, wo sein Panto- unbekannt: Wer hat je eine Aufführung von Nic- mime, Tanz und Film einschließender, grandio- colò Piccinnis La buona figliola (1760) gesehen und ser in Berlin 1930 uraufgeführter Christophe gehört, deren Libretto von keinem Geringeren als Colomb geblieben? Das gute schlechte Gewissen Carlo Goldoni stammt und die auch dreißig Jahre vermochte auch in Deutschland nicht, die weni- nach ihrer Uraufführung (nach Mozarts Tod) als gen geistreichen, heiteren Opern des 20. Jahrhun- »die vollkommenste unter allen italienischen ko- derts wie Paul Hindemiths Neues vom Tage (1929), mischen Opern auf allen Theatern Italiens und Die Verlobung im Traum (1933) des in Auschwitz Europas« galt. Wer kennt Gioacchino Rossinis ermordeten Hans Krása oder den Goldenen Bock Tancredi (1813), den hinreißenden Le Conte Ory des exilierten Ernst Krenek auf ihre Wirkung im (1828) und seinen Guillaume Tell (1829), der die 21. Jahrhundert zu überprüfen. Und wenn wir französische wie die italienische Operngeschich- schon von radikalen Werken reden: Bernd Alois te im 19. Jahrhunderts ebenso nachhaltig geprägt Zimmermanns Die Soldaten überfordern offen- hat wie Giacomo Meyerbeers Les Huguenots (1836). sichtlich auch die »großen Häuser«, und Mauricio Die französische Oper seit Jean-Baptiste Lully und Kagels Staatstheater ist seit seiner Uraufführung Jean-Philippe Rameau ist, sieht man von Carmen 1971 in vierzig Jahren kein zweites Mal zur Auf- (aber nicht als »opéra comique« mit gesprochenen führung gelangt; von Karlheinz Stockhausens Texten aufgeführt) und Charles Gounods Faust Licht-Zyklus harren gleich mehrere Teile ihrer (und eben nicht Margarete) ab, inexistent. Kom- Uraufführung. men französische Opern, Jules Massenets Manon und Werther eingeschlossen, auf die Bühnen, un gab es Zeiten im letzten Drittel des muss man feststellen, dass es des französischen 20. Jahrhunderts, sie sind längst passé, Gesangsstils mächtige Sänger kaum mehr gibt; N in denen sich größere Häuser ihre Massenets Werke werden »all’italiana« gesungen, »Opernstudios« leisteten, leisten konnten. (Einer dirigiert und gespielt. Das dominierende Opern- der erfolgreichsten derartigen Aufträge war 1979 essay

Wolfgang Rihms »Kammeroper« Jakob Lenz.) Ganz ponisten, Ferruccio Busoni beispielsweise, aber offenbar bedurfte es eines wenigstens räum- auch noch John Cage mit seinen Europeras, haben lichen Abschieds vom großen Museums-Haus, um die Bestandteile des Alten belassen, jedoch das wirklich neue Wege zu gehen. Doch sie sind theatralische Erzählen entweder überhaupt liqui- längst zu »Installationen« versandet, bei denen diert oder aber in antitraditioneller Weise grund- den an der bildenden Kunst Interessierten das sätzlich, beispielsweise mit einer Collage, ver- Klingende und den Musikinteressierten das origi- tauscht. Zu den kühnsten Vorgehensweisen nelle Sichtbare behagt. Wenn hingegen im »gro- zählen jene, die den »Stoff« rundweg nur als Mu- ßen Haus« ein neues Werk gewagt wird, so ist es sik komponiert haben, auf »Rollen« verzichteten fast immer eine so genannte »Literaturoper«, und und die szenische Realisierung frei gegeben ha- sei sie auch von Hans Werner Henze oder Aribert ben. Weder in Luigi Nonos »azione scenica« (was Reimann: »Literaturoper«, im peripheren Russ- sowohl »szenische Aktion« wie »szenische Tat« land entstanden (Aleksandr Dargomyžskij, Mo- bedeutet) Intolleranza und Al gran sole carico dest Mussorgskij), durch Debussy, Dukas und d’amore noch in Helmut Lachenmanns Das Mäd- Strauss nach Mitteleuropa verfrachtet, ist offen- chen mit den Schwefelhölzern gibt es in der Partitur sichtlich jener Typus »moderner Oper«, der den irgendeine Angabe für das Theatralische; Mau- Strukturen der Opernhäuser im deutschen ricio Kagel in seinem Staatstheater und Cage in Sprachgebiet entspricht: Ein Schauspieltext, er- den Europeras haben dagegen das Szenische un- heblich gekürzt, gibt die Dramaturgie vor, der mittelbar als Teil der Musik »auskomponiert«. Der sich der Komponist ohne Zwang unterwirft. Bergs Regisseur darf zu Hause bleiben – ein flammen- Wozzeck und Lulu und Zimmermanns Die Soldaten der Protest gegen ein »Regietheater« erübrigt sich. sind, obwohl auf Texten des Schauspiels beru- Dass sich die gegen das »Regietheater« heftig Pro- hend, paradoxerweise keine »eigentlichen Litera- testierenden (sie verstehen mit »Regietheater« ein turopern«, weil ihre Dramaturgie umfassend und Generelles, nicht dessen Epigonen) auf ein kreativ bis ins Detail durch ein spezifisch musikalisches neues Musiktheater einlassen, darf man aus- Konzept bestimmt ist. schließen. Sie folgen dem Sprichwort »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht!« und sind die iese »eigentlichen Literaturopern« be- wahren Museumswächter, die Partei für den De- ruhen auf einer dramatischen Schau- korations-Schlendrian ergreifen. D spiel-Erzählung, an die sich der Opern- besucher glaubt halten zu können, auch dann, isher richtete sich der Blick vornehm- wenn er vom tragenden Text nur Teile versteht. lich auf die Werke. Doch wenn die Re- Die Idee von Strawinsky und dem Romancier B gisseure ins Blickfeld geraten, ist ein Charles Ferdinand Ramuz, ein Kunstmärchen, weiterer Blick zurück in die Mitte des 20. Jahr- eine Geschichte des Soldaten inmitten eines Welt- hunderts unumgänglich: Die jungen Komponis- kriegs (wie es der Untertitel des Werks präzise ten nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in der benennt) »lesen, spielen und tanzen« zu lassen, Avantgarde-Zentrale Darmstadt und anderswo hieß zunächst: das, was bisher »Oper« (oder »Mu- trafen, hatten kein Interesse an der Oper. Sie sikdrama«) war, in seine Bestandteile zu zerlegen, lehnten zwar jegliche Form von »Neoklassik« ab, vieles auszuscheiden (allen voran das Singen, aber waren aber ausgerechnet mit Igor Strawinsky, auch Chor und Orchester) und Neues hinzuzufü- dem unbestrittenen Meister jeder »Neoklassik«, gen (den epischen Erzähler, die Eigenständigkeit einer Meinung: »Musik ist unfähig, andere als einer Musik für nur sieben Instrumente, den Tanz musikalische Probleme zu lösen.« Sicher, Texte und die kurzen Schauspielszenen). Andere Kom- wurden gleichwohl verwendet, aber es ist alles essay

andere als Zufall, dass es sich in einem der zentra- in den frühen sechziger Jahre eine Schwerpunkt- len Werke, dem Marteau sans maître von Pierre verlagerung in der Neuen Musik zum Klanglichen Boulez, um surrealistische Lyrik handelte. Eine vollzog und sich gleichzeitig die Grenzziehungen avantgardistische musikalische Moderne im her- zwischen den verschiedenen Künsten immer kömmlichen Opernhaus gab es nicht, allerdings mehr auflösten, schlug die Stunde eines neuen eine szenische, die – wie zuvor bereits in der Ber- Musiktheaters außerhalb der Opernhäuser: Györ- liner Kroll-Oper 1927-31 unter Otto Klemperer – gy Ligetis Aventures & Nouvelles Aventures (1966) wesentlich »Museums-Opern« des Repertoires be- und besonders Mauricio Kagels »instrumentales traf. (Die szenische Realisierung etwa von Theater« mit so programmatischen Werken wie Strawinskys Oedipus Rex war eher eine Ausnah- Sur scène, kammermusikalisches Theaterstück in me; der heftigste Protest galt den Wagner-Auffüh- einem Akt für Sprecher, Mime, Sänger und drei rungen.) Diese szenische Opernmoderne löste Instrumentalisten (1959/60), und Journal de théâ- vergleichbare Proteste wie die neuen Werke von tre, eine Sammlung von Situationen für Instru- Boulez, Stockhausen, Nono und Cage aus, selbst mente, Darsteller und Requisiten (1960/65). In ein wenn es sich nicht um dasselbe Publikum handel- »richtiges« Opernhaus kam ein Komponist wie te. Die wirkungsvollste Persönlichkeit dieser sze- Ligeti erst zwischen 1978 und 1982 in Stockholm, nischen Moderne war ausgerechnet Wieland Hamburg, Bologna und Paris mit seinem Le Grand Wagner, der sich zunächst im Bayreuther Natio- Macabre und Kagel, wie erwähnt, 1971 in Ham- nalheiligtum an den Werken seines Großvaters – burg. und gleich am Parsifal – vergriff. Wie jetzt endlich durch Ingrid Kapsamer dargestellt wurde, vollzog b Opern-Museum oder »Neues Musik- Wieland Wagner gerade keinen Bruch, sondern theater«: Es gibt sie, auch im »Zeitalter griff Errungenschaften der Moderne vor 1930 O der technischen Reproduzierbarkeit«, auf, die Psychoanalyse, den szenischen Expressio- nur in der konkreten szenischen Realisierung. nismus, die abstrakte Malerei, den Ausdrucks- Ein musikalisches Theaterwerk bleibt auch dann tanz und die Wiener Moderne, besonders die Büh- ein bloßes Fragment, wenn auf Tonträgern auch nenbilder Alfred Rollers in der Wiener Hofoper die letzte Note aus der kritischen Gesamtausgabe während der Direktion Gustav Mahlers. enthalten ist. Musiktheater ist immer aktuelles Theater. Wenn es durch ein Bildmedium nur ab- ezeichnenderweise war es Luigi Nono, gefilmt, nicht diesem anderen Medium entspre- ein Komponist, der in seinem Schaffen chend umgestaltet wird, bleibt es Schein-Theater, B dezidiert politisch »Stellung bezog«, nicht einmal ein Theater-Ersatz. Eine – unmög- den es schon in den fünfziger Jahren ins Theater liche – detailgetreue Rekonstruktion der Don trieb. Er war bereits ein »Musikdramatiker«, als er Giovanni Uraufführung am 29. Oktober 1787 in (noch) nicht für das Theater arbeiten konnte und Prag mit echter Ölbeleuchtung, gemalten Pros- sowohl Instrumentalmusik wie »engagierte« Vo- pekten und jenen Singenden, denen die Partien kalmusik auf der Basis jüngster historischer Do- in die Gurgel geschrieben wurden, wäre heute kumente komponierte. Dass sich ein so eminen- ein absurdes Kuriosum, einmal abgesehen von ter Theaterkomponist wie Hans Werner Henze unseren ganz anders gestimmten Ohren und Hör- früh von Darmstadt verabschiedete, ohne ein Re- horizonten. Wer »partiturgetreue« Realisierun- negat zu werden, änderte nichts daran, dass er gen alter Opern, die Richarde Wagner und Strauss weiterhin als »Neutöner« galt, auch dann, als sich eingerechnet, fordert, gibt sich als theatralisch seine früheren Komponistenfreunde der Avant- ahnungslos zu erkennen: Er fordert vom musika- garde schroff von ihm abgewandt hatten. Als sich lischen Theater eine »Dienstleistung«, die die Hör- essay

und Seherfahrungen, in denen »das Subjekt sich emphatisch erhöht, widerspiegelt und befriedigt«; er scheut aber vor jeder Erweiterung zurück, vor dem, »was dem menschlichen Geist aufgegeben ist, seit er von sich weiß: nämlich weiterzugehen, ins Unbekannte vorzudringen und so sich selbst zu erfahren« (wie es Helmut Lachenmann vor ei- nem Vierteljahrhundert formuliert hat). Die Fra- ge ist in einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft ohne Unterlass zu stellen, ob solche kritische Offenheit denen, die über die öffentli- chen Gelder zu entscheiden haben, ein grundle- gendes, gar ein existentielles Bedürfnis ist; dieses Wirklichkeitsverständnis greift über alle Kunst hinaus in jeden, also auch in den politischen Be- reich selbstverantworteter menschlicher Exis- tenz.

omit wir wieder am Anfang, bei der »In- stitution Musiktheater heute« gelandet W sind und über Intendanten sowie deren Werkkenntnisse ebenso wie vor allem über das Publikum, dessen Seh- und Hörweisen und die Konditionierungen von Kindsbeinen an sprechen müssten. Man stelle sich vor, es gäbe in einer Ge- sellschaft, die täglich vor dem Bildschirm sitzt, eine kritische schulische Filmerziehung (die etwa der Werbung nicht »einfach so« auf den Leim geht) und in derselben Gesellschaft, die sich rund um die Uhr mit gezielten Wirkungen beschallen lassen muss, eine gründliche schulische Musiker- ziehung, die das Hören entwickelt: Das ist eine heute vergleichbar illusorische Vorstellung wie die von Finanzverantwortlichen, die öffentlich eingestehen, was sie angerichtet haben – und wo- für andere bezahlen müssen, so dass für die Wege zu einer kritischen und demokratisch aufgeklär- ten Gesellschaft »bedauerlicherweise die Mittel fehlen« … Peter Eötvös’ Oper Tri Sestri erlebt seine Berliner Erstaufführung in einer Produktion der Bayerischen Theaterakademie August Everding in Kooperation mit der Staatsoper Unter den Linden. Es singen und spielen die Studenten und Absolventen der Theaterakademie. Tri Sestri »Es funktioniert fantastisch« Peter Eötvös über seine Oper Tri Sestri, die er 1996 / 98 nach dem Stück von Anton Tschechow schrieb. Rosamund Gilmores Inszenierung, die im Februar 2010 im Münchner Prinzregententheater Premiere hatte, kommt 2011 ins Schiller Theater.

Herr Eötvös, wie sind Sie zu dem Stoff der Drei Schwestern gekommen? Kent Nagano hatte bei mir eine abendfüllende Oper bestellt, bereits zehn Jahre vor der Premiere. Es sollte meine erste große Oper sein, bis dahin hatte ich nur 1976 eine Kammeroper mit dem Titel Radames geschrieben. Ich hatte die Idee, eine Oper über einen Schön- heitswettbewerb zu schreiben. Das war eine reale Geschichte aus Ungarn: Das Mädchen, das den Wettbewerb gewonnen hatte, wurde im Anschluss so ausgenutzt, dass sie Selbstmord beging. Das hat mich beschäftigt, und mir gefiel die Vorstel- lung von vielen schönen Frauenstimmen auf der Bühne. Ich habe in Köln den Dramaturgen Claus Henneberg besucht und ihn gebeten, aus dieser Geschichte ein Libretto zu entwickeln. Doch er sagte, er könne kein Libretto schreiben, sondern nur eines bearbeiten. Er hat mir dann viele Stücke vorgeschlagen, ich habe vieles gelesen, und schließlich hatte mein Sohn die Idee: Wieso machst du nicht Tschechows Drei Schwestern? Da hat es bei mir geklingelt. Tri Sestri

Ihre Oper ist sehr stark von Dreierverhältnissen bestimmt: Es geht um drei Schwestern, die Oper hat drei Sequenzen, jede Sequenz spielt zu einem Drittel im Garten und zu zwei Dritteln im Salon. »Mir gefiel die Die Dreieckskonstellationen habe ich aus dem Vorstellung von Drama abgeleitet, die sind von Tschechow vorge- geben. Aber natürlich ist die Drei auch eine beson- vielen schönen dere Zahl. Sie ist archaisch, wie im Märchen. Al- Frauenstimmen les, was wichtig ist, erscheint zu dritt. Die Drei auf der Bühne.« enthält die permanente Rotation. Die Zwei bedeutet dagegen immer einen Dia- log, das ergibt eine vollkommen andere Situation. Zwei Schwestern, das wäre viel enger, viel einfacher. Erst bei Drei be- ginnt die Rotation. Meist wird Tschechows Drama als melan- cholisches Stück gesehen. Er selbst betonte stets die Komik des Stücks. Gibt es für Sie in dem Werk eine komische Komponente? Ja natürlich! Tschechows Stücke sind kei- ne Tragödien. Das wäre langweilig. Die Langeweile verkörpert Mascha mit ihrem Pfeifen. Gleichzeitig ist es ihre Form der Revolte. Es ist die größte Unanständigkeit, wenn eine Frau in der Gesellschaft pfeift. Sowohl Ushio Amagatsu, der Regisseur der Urauffüh- rung, als auch Rosamund Gilmore kommen aus dem Tanztheaterbereich. Sehen Sie eine Nähe der Musik und des Stoffes von Tri Sestri zum Tanz? Es geht nicht um Tanz, sondern um die Fähigkeit, Bewegung zu spüren. Diese Regisseure haben das Gefühl im Körper, während andere meist nur optische Erfahrungen haben. Es ist köstlich, was Frau Gilmore macht. Wie sie zum Beispiel die Beine behandelt, das ist unglaublich. Sehr lustig. Sehen Sie es als Problem an, dass junge Leute dieses Stück, das ja eine gewisse Lebensmüdigkeit thematisiert, aufführen? Nein, überhaupt nicht. Es funktioniert fantastisch. Interview: Johanna Jordan und Valeska Stern Foyer

Schlaflos in Charlottenburg

Bevor Sie nachts schlaflos durch Kreutzersonate von wassernixen Berlin wandeln – machen Sie Eine literarisch-musikalische und zwergen lieber einen Abstecher ins Reise mit Tolstoi, Beethoven Nacht- und Schauerliteratur Schiller Theater! Künstler des und Janácˇek, unternommen mit dem Pianisten Michael Hauses und Gäste widmen sich von Hans-Jürgen Schatz und Abramovich. Musik von dem Thema »Nacht« mit ihren Musikern der Staatskapelle Maurice Ravel sprichwörtlich dunklen, aber Berlin Mo 13 Dez 2010 | 22.30 Uhr auch mit ihren magischen Mo 08 Nov 2010 | 22.30 Uhr Seiten. Dann verwandelt sich das Foyer des Schiller Theaters Weitere Veranstaltungen und in einen Nachtsalon, in dem Termine finden Sie in den Monats- vieles entdeckt werden kann: spielplänen und im Internet. Literatur und Musik, verbunden mit Sekt oder Selters. Und das nicht nur für Charlottenburger Schlafwandler. Schlaflos Konzertantes Nachtstück mit Leslie Malton und dem Gaede-Trio. Musik von Johann Sebastian Bach Di 16 Nov 2010 | 22.30 Uhr Kinderchor- konzerte

Sie sind zwischen 6 und 16 Jahren alt. Sie kommen aus allen Stadtbezirken Berlins. Und alle teilen sie eine Leiden- schaft fürs Singen: Die jungen Sängerinnen und Sänger des Kinderchores treten nicht nur auf der großen Bühne auf, sondern beweisen auch in zwei Foyer-Konzerten ihr Können. So 31 Okt 2010 | 11 Uhr So 22 Mai 2011 | 11 Uhr

Wunderhorn Mark Scheibe und Gäste … und sonst

Normalerweise können Sie sich Das Foyer ist der Ort für be- bei uns auf sorgfältig vorberei- sondere Veranstaltungen: etwa tete und monatelang geprobte für erhellende Einführungs- Abende verlassen. Hier aber vorträge zu den Premieren, erleben Sie die Künstler der für Podiumsdiskussionen und Staatsoper wie noch nie. Ohne Symposien, für Lesungen Netz und doppelten Boden, mit Musik oder für historische spontan, ja waghalsig stürzen Betrachtungen über die sie sich auf Arien, Tangos, Chan- Berliner Theaterlandschaft. sons und Lieder, die ihrem hochkulturellen Umfeld brutal Symposion Mein Schiller entrissen werden. Machen Sie » und sich gefasst auf ein musikali- das Judentum« Schauspieler, Regisseure, sches Abenteuer, das zu später Sa 16 | So 17 Okt 2010 Sänger und Wissenschaftler Stunde im Foyer dem mondä- präsentieren »ihren« Schiller: nen Vergnügen entschlossen Berlin in den 50ern mit Balladen, Briefen, ästhe- Vorschub leistet. Postkonzer- Reflexionen über die Geschichte tischen Schriften, Liedern und tanter Champagnerrausch nicht der Staatsoper und des Schiller anderem mehr. Entdecken Sie ausgeschlossen. Jede letzte Theaters. Mit Misha Aster und ein Jahrhundertgenie in vielen Donnerstagnacht im Monat um Detlef Giese sowie Musikern Facetten. Den Startschuss für halb elf – immer wieder neu der Staatskapelle Berlin. die Reihe gibt Jürgen Flimm. und überraschend. So 14 Nov 2010 | 11 Uhr

28 Okt | 25 Nov | 30 Dez 2010 27 Jan | 24 Feb | 31 März 28 April | 26 Mai | 30 Juni 2011 jeweils 22.30 Uhr JUNGE STAATSOPER Schnittstelle Figaro Musiktheater für Jugendliche

Hinter dem Schiller Theater liegt das Oberstufenzentrum Körperpflege, wo auch Friseure ausgebildet werden. Das post theater, ein international und interdisziplinär arbeitendes Team mit Künstlern aus New York, Tokio und Berlin, bringt 48 angehende Friseure, Musiker des Jugend­zentrums Spirale, Sänger des Opernchores und 96 Zuschauer in einen Dialog. In Einzel-Sessions werden Dienstleistungen rund um das Haar des Zuschauers besprochen und durchgeführt. Wird aus der Frisierkabine eine Therapiecouch oder ein Beichtstuhl? Und wenn ja, für wen?

junge staatsoper

Musiktheater- akademie für Kinder

Die erste Kinder-Uni für junge Opernfans Was macht eigentlich ein Dirigent? Kann man es Die Studiengebühr beträgt 20 € pro Kind, Ge- auf der Bühne gewittern lassen? Wie lange dau- schwister zahlen eine ermäßigte Gebühr von ert es, bis alle Kostüme fertig genäht sind? Und 10 €. Die Studenten immatrikulieren sich am Tag singen die Sänger wirklich so laut, dass alle Zu- der ersten Vorlesung. Sie erhalten dann einen schauer es hören können? Diese und andere Fra- Studienausweis und ein Studienbuch, das sie gen werden in der Musiktheaterakademie für Kinder nach jeder Vorlesung von den Künstlerprofesso- geklärt. Kinder lassen sich von der Bühnenwelt ren signieren lassen können. faszinieren und tauchen ein in die Musik und ihre Geschichte(n). Sie wollen aber auch wissen, Gibt es mehr Bewerbungen als Studienplätze vor- wie alles gemacht wird und wer die Menschen handen sind, entscheidet das Los. sind, die das Theater zu ihrem Beruf gemacht Anmeldeschluss: 1. Juni 2010 haben. In der Akademie stellen sich künstleri- sche, technische und »unsichtbare« Berufe vor Staatsoper Unter den Linden und geben Einblicke in ihre Arbeit. Op|erleben Jeweils am ersten Sonntag im Monat verwandelt Musiktheaterakademie für Kinder sich die Werkstatt des Schiller Theaters in einen Unter den Linden 7 Hörsaal. Künstler und andere Experten des 10117 Berlin Musiktheaters weihen junge Studenten im Alter von 9 bis 13 Jahren in ihre Betriebsgeheimnisse ein. Sie erklären und zeigen, was sie in der Oper tun, woher ihre Ideen kommen und wie sie diese umsetzen. Die Kinder können Fragen stellen und herausfinden, wie eine Oper entsteht. Die erste Vorlesung hält Generalmusikdirektor Daniel Barenboim, dem die Arbeit mit und für Kinder schon immer ein besonderes Anliegen war. Die acht Vorlesungen sind in ein Winter- und ein Sommersemester aufgeteilt. Die Anzahl der Stu- dienplätze ist begrenzt. Interessierte Kinder be- werben sich bitte schriftlich mit Geschichten Die Akademie ist eine Kooperation mit der oder Bildern, die von Neugier und Begeisterung Roland Berger Stiftung, die begabte Kinder mit für die Oper erzählen. schwierigen Lebensumständen fördert. junge staatsoper grusswort Vorlesungsverzeichnis

»Nur Künstler und Kinder sehen das Leben wie es WinterSemester ist«, hat der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal einmal festgehalten. Richtig ist jedenfalls, dass Das Ohr des Orchesters sowohl Künstler wie auch Kinder einen jeweils Daniel Barenboim, Dirigent und Pianist ganz eigenen Blick auf die Welt haben. Und zwei- Mit sieben Jahren gab er sein erstes öffentliches fellos passiert etwas Besonderes, wenn sich beide Konzert in Buenos Aires, bald spielte er in den begegnen, um voneinander zu lernen. großen Konzertsälen der ganzen Welt. Als Diri- Die Musiktheaterakademie für Kinder schafft dafür gent hat er bei vielen Orchestern genau hinge- Gelegenheiten, denn hier stellen sich Künstler hört, um ihren Klang in Opern und Konzerten den Fragen junger Menschen und können so ihre zu formen. Aber nicht nur das: Mit den Musikern eigene Profession selbst noch einmal mit ganz der Staatskapelle hat er einen Musikkindergar- anderen Augen erkennen. Bei den Kindern wie- ten gegründet und schaut dort regelmäßig vor- derum wird Neugier geweckt, sie werden als Zu- bei, um die Musik der Kinder zu hören. Daniel schauer und Zuhörer ernst genommen und auf Barenboim hat viel zu erzählen, und wenn ein lehrreiche Weise für das Musiktheater begeis- Klavier in der Nähe ist, wird er vielleicht auch tert. Der Blick hinter den Vorhang und die Kulis- darauf spielen. sen der Staatsoper Unter den Linden dient dabei So 26. September 2010 | 11.00 Uhr weit mehr als nur der musikalischen Bildung der Mädchen und Jungen. Sie lernen hier etwas Spiel (nicht) mit dem Feuer Wichtiges für ihr Leben, denn die Auseinander- Jonathan Dürr, Pyrotechniker setzung mit Kunst, Musik und Theater weckt Prinz Tamino ist auf der Flucht vor der dreiköpfi- Kreativität und Lernfreude, stärkt soziale Fähig- gen Schlange, die aus den Nüstern Feuer speit. keiten und damit die Persönlichkeit. Ich wün- »Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren!« singt sche daher allen Beteiligten, den künstlerischen Tamino – und sieht dabei, wie im Verborgenen Professoren und ihren jungen Studentinnen und der Pyrotechniker sein Handwerk des Feuerle- Studenten, interessante Begegnungen und Erfah- gens ausübt. Ob brennender Drachenatem, lo- rungen, viele Fragen und Antworten und vor al- derndes Höllenfeuer oder stimmungsvolles Ker- lem viel Freude beim gemeinsamen Lernen. zenlicht, für alles findet er eine »zündende« Lösung. So 3. Oktober 2010 | 11.00 Uhr

Der unsichtbare Erzähler Michael Thalheimer, Regisseur Als Schauspieler kann er Texte genau lesen und interpretieren. Und als ausgebildeter Schlagzeu- ger kann er auch Noten lesen. Michael Thalhei- mer lässt in seinen Inszenierungen gern allein die Musik sprechen. Wie er es schafft, trotz »lee- Prof. Dr. Norbert Lammert rer« Bühne beim Zuschauer die vielfältigsten Bil- Präsident des Deutschen Bundestages der auszulösen, wird er in seiner Vorlesung ver- und Schirmherr der raten. Musiktheaterakademie für Kinder So 7. November 2010 | 11.00 Uhr junge staatsoper

Watt ihr volt Voll stoff Olaf Freese, Lichtgestalter Birgit Wentsch, Kostümbildnerin Mit Hilfe von Spots und Farbfolien verzaubert Ob als grazile Ballettschwäne auf dem See, als Olaf Freese eine bemalte Kulisse in einen Mär- Hofdame im 18. Jahrhundert oder als Harlekin in chenwald oder eine Hotellobby. Und er sorgt da- der barocken Komödie: Die passenden Kostüme für, dass die Wolfsschlucht im Freischütz schön für die Darsteller entwirft Kostümbildnerin Birgit düster und unheimlich wirkt. Außerdem wird er Wentsch. Sie weiß alles über die Schwierigkeit verraten, was im Theater ein »Verfolger« ist. von dutzenden paillettenbesetzten Tüll-Lagen, So 5. Dezember 2010 | 11.00 Uhr komplizierte Reifröcke oder die Herstellung von silbern schimmernden Rüstungen zu berichten. So 3. April 2011 | 11.00 Uhr SommerSemester Der Koch der Klänge Allzeit bereit zum Singen Ali N. Askin, Komponist , Sängerin Er hat als Assistent von Frank Zappa gearbeitet, Früher sang sie als Pfadfinderin am Lagerfeuer, fürs Fernsehen komponiert und für die Musik heute ist sie ein Star auf der Opernbühne und im zum Film Leroy den Deutschen Filmpreis für die Konzertsaal: Wie die Sopranistin Annette Dasch beste Filmmusik erhalten. Nun hat Ali N. Askin es schafft, in jeder Lebenslage die schönsten und eine Kinderoper geschrieben, in der er den höchsten Töne hervorzubringen und ihre Rollen Soundtrack für das Erwachsenwerden zu finden mit Leben zu erfüllen, wird sie in ihrer Vorle- versucht. Wie er dabei klassische und moderne sung verraten. Und dabei natürlich auch Kost- Klangerzeuger und Stile nutzt und verbindet, proben aus ihrem Repertoire geben. wird er in seiner Vorlesung zeigen. So 6. Februar 2011 | 11.00 Uhr So 8. Mai 2011 | 11.00 Uhr

Auf Du und Du mit Hall und Schall Christoph Koch, Toningenieur Kommt man ins Tonstudio der Staatsoper, fragt man sich: Wer soll all die vielen Tasten und Reg- ler auseinander halten und auch noch bedienen? Es ist der Toningenieur. Wie er Klänge sampelt, Geräusche unterlegt, Töne mixt oder mit Hall und Schall umgeht, demonstriert Christoph Koch mit Mischpult, Lautsprecher und vielen überraschenden Sounds. So 6. März 2011 | 11.00 Uhr junge staatsoper op|erleben

op|erleben bietet vielfältige Aktivitäten zur Vor- Operatiefer Eingriff – bereitung auf einen Opernabend. Neben dem Jugendklub Blick auf Probebühnen und in Werkstätten eröff- nen alle Veranstaltungen die Möglichkeit, selbst Tief in die Opernwelt eingreifen können Jugendli- kreativ zu werden: in Kompositionswerkstätten, che zwischen 14 und 20 Jahren in einem eigenen im Jugendklub oder in den Workshops für junge Jugendklub. Gemeinsam entsteht ein Musikthea- und erwachsene Operngänger. Alle Veranstal- terstück, an dem man sich sehr unterschied- tungen werden von Musiktheaterpädagogen ge- lich beteiligen kann: Während einige selbst mit- leitet. spielen, erarbeiten andere im Backstageklub das Programmheft oder das Bühnenbild. Natürlich wird auch die Musik selbst gemacht, und wenn Kompositionswerkstatt Zeit ist, schaut man bei den Profis auf der großen Bühne vorbei. Aber auch wer einfach nur Leute mit Jens Joneleit treffen will, um sich für die Vorstellung zu verab- Jugendliche entwickeln eigene Kompositionen, reden, findet hier Gleichgesinnte.Jeden Mi 17-19 Uhr unterstützt vom Komponisten der Uraufführung Metanoia. Die Werke werden von Mitgliedern der Staatskapelle Berlin in einem Konzert urauf- Workshops geführt. Beginn: Oktober 2010 Die Workshops richten sich sowohl an junge als mit Ali N. Askin auch an erwachsene Besucher. In den Proberäu- Kinder zwischen 10 und 12 Jahren entwickeln men der Oper werden die Teilnehmer selbst zu eigene Kompositionen, unterstützt vom Kompo- Darstellern: Denn indem man in die Rollen der nisten der Oper Eisenhans!. Die Werke werden Opernfiguren schlüpft, lernt man ein Stück viel von Mitgliedern der Staatskapelle Berlin in ei- besser kennen. In jedem Workshop entstehen In- nem Konzert uraufgeführt. Beginn: April 2011 terpretationsansätze, die das Verständnis der ak- tuellen Inszenierung erhöhen. Und nebenbei er- fährt man, was es bedeutet, auf der Bühne zu Aufführungsbegleitende stehen. Projekte Für Kinder in den Ferien An den Produktionen Schnittstelle Figaro, Der Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren können in den gestiefelte Kater und Eisenhans! werden sich Kinder Ferien in die faszinierende Welt der Oper eintau- und Jugendliche aus Berliner Jugendeinrich- chen. Sie werden selbst zu Darstellern und lernen tungen beteiligen und ihren Blick auf die The- spielend die Berufe im Opernhaus und Ausschnit- matik gestalten. te aus Werken der Opernliteratur kennen. Termine siehe folgende Seite junge staatsoper

Herbstferien 13 | 14 | 18 | 21 Okt 2010 Für Senioren Winterferien 31 Jan, 02 | 04 Feb 2011 An vier Nachmittagen lernen eingefleischte Osterferien 18 | 21 | 26 | 27 April 2011 Opernfans und mutige Opernneulinge ein Werk jeweils 14 – 16 Uhr | Kosten: 3 € kennen. Lebhafte Diskussionen über das Stück und die Inszenierung sind erwünscht! Für Kinder und Eltern 18 Nov 2010 | 16 -18 Uhr – The Rake’s Progress Kinder und Eltern (bzw. Großeltern oder Paten) 07 April 2011 | 16 -18 Uhr – Don Carlo bereiten sich gemeinsam auf den Besuch einer jeweils 4 x donnerstags | ab 60 Jahre Familienvorstellung vor. Durch die spielerische Kosten: 35 € (für je 4 Termine) Erfahrung im Workshop wird die Oper lebendig und verständlicher. Erwachsene und Kinder füh- Für Schulen len sich in die Figuren ein, setzen Szenen um, Kostenlose Workshops hören Musik und singen. – zur Vorbereitung auf den Opernbesuch 16 Okt 2010 Il barbiere di Siviglia (Schülertickets 10 €) zu folgenden Werken: 06 Nov 2010 Tosca Candide, Il barbiere di Siviglia, Die Entführung aus 27 Nov 2010 Die Zauberflöte dem Serail, Don Carlo, Eisenhans!, Elektra, L’elisir 18 Dez 2010 Die Zauberflöte d’amore, Metanoia, Il turco in Italia, La traviata, 08 Jan 2011 Così fan tutte Tosca, The Rake’s Progress, Tri Sestri, Wozzeck, Die 12 Feb 2011 L’elisir d’amore Zauberflöte. 12 März 2011 Il turco in Italia – zur Vorbereitung auf die Orchesterproben für 30 April 2011 Eisenhans! Sinfoniekonzerte und Opern 11 Juni 2011 Die Entführung aus dem Serail 01 Nov 2010 Die Entführung aus dem Serail Samstags 10 -13 Uhr (8 -10 Jahre) 23 Nov 2010 III. Abonnementkonzert 14 -17 Uhr (11 -14 Jahre) | Kosten: 5/3 € 13 Jan 2011 Antigona 20 Jan 2011 IV. Abonnementkonzert Für Erwachsene 18 Feb 2011 V. Abonnementkonzert Egal, ob es die eigene Lieblingsoper oder ein un- 23 März 2011 Wozzeck bekanntes Werk ist: Indem man in die handeln- 09 Mai 2011 VII. Abonnementkonzert den Figuren schlüpft, gewinnt man eine neue 19 Mai 2011 Elektra Sicht auf das Werk. Schritt für Schritt werden die Teilnehmer des Workshops in leichten Übun- gen in die Lage versetzt, Erfahrungen zu ma- Probenbesuch chen, die grundlegend für den Beruf des Opern- sängers sind. Spaß am eigenen Spiel und den Alltag im Opernhaus: Proben! Arbeitslicht, Stars Mut zu falschen Tönen sollte man mitbringen. in Jeans, Zurufe vom Inspizienten, Anweisungen 09 Okt 2010 Metanoia vom Dirigenten in deutscher oder fremder Spra- 30 Okt 2010 Tosca che. Wie Opern des Repertoires mit Orchester 04 Dez 2010 The Rake’s Progress geprobt werden, können Schulklassen vom 15 Jan 2011 Die Fledermaus 1. Rang aus mitverfolgen. 05 Feb 2011 La traviata 28 Okt 2010 Tosca 19 März 2011 Così fan tutte 27 Nov 2010 Die Zauberflöte 09 April 2011 Wozzeck 11 Jan 2011 Die Fledermaus 07 Mai 2011 Don Carlo 08 Feb 2011 La traviata 02 Juli 2011 Tri Sestri 03 März 2011 Il turco in Italia jeweils 14 – 18 Uhr | Mindestalter 15 Jahre 23 Mai 2011 Elektra Kosten 13/10 € junge staatsoper

Einführungsgespräch 09 + 10 Mai 2011 | Aufbaukurs II – mit Vorstellungsbesuch Spielleitungstraining 16 + 17 Juni 2011 | Aufbaukurs III – Die Oper ist bekannt, aber wie geeignet ist die Konzeptentwicklung zu einer Inszenierung für Schüler? Das Thema oder der Szenischen Interpretation von Komponist sind unbekannt, aber deshalb viel- candide leicht umso aufregender? Um das herauszufin- 10 - 17 Uhr | Kosten pro Kurs 35/10 € den, erhalten Lehrer eine Einführung, bei der ein Thema der Oper erörtert wird, das Jugendliche Anmeldung für alle Schüler- und Lehrerworkshops beschäftigt. Im Anschluss wird die Vorstellung über op|erleben | Telefon +49-(0)30-20354-489 besucht. Telefax +49-(0)30-20354-594 06 Okt 2010 Metanoia [email protected] 02 Nov 2010 Tosca Details, Termine und weitere Angebote finden Sie 15 Dez 2010 The Rake’s Progress unter www.staatsoper-berlin.de 12 Jan 2011 Die Fledermaus 01 Feb 2011 Antigona 07 März 2011 Il turco in Italia KINDERCHOR der 17 Mai 2011 Don Carlo Staatsoper 15 Juni 2011 Il barbiere di Siviglia Singen, Tanzen und Verkleiden – rund 90 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren gehö- Musiktheaterpädagogische ren dem Kinderchor der Staatsoper an, den Vin- Fortbildung zenz Weissenburger leitet. In den wöchentlichen Proben eignen sich die jungen Sänger nicht nur Zu sechs Inszenierungen bieten wir zweitägige musiktheoretische Grundkenntnisse und Erfah- Basiskurse an, um Lehrende in pädagogischen, rungen im Umgang mit ihrer Stimme an, son- sozialen und künstlerischen Berufen für die Ver- dern lernen innerhalb der Chorgemeinschaft mittlung von Musiktheater fit zu machen. Die auch Opern- und Chorwerke kennen. Neben Büh- Szenische Interpretation von Musiktheater ist nenauftritten in Opernvorstellungen wie Un ballo eine wissenschaftlich fundierte Methode, die in maschera, La bohème, Carmen, Tosca, Der Rosenka- eine interaktive Auseinandersetzung mit der valier oder im Ballett Der Nussknacker gastierten Musik, der Handlung und den Figuren der Oper die Chorkinder der Lindenoper im Berliner Dom, gewährleistet. Nach dem Besuch von zwei Basis- in Hamburg, Dresden und im Baltikum. Nach- kursen und zwei Aufbaukursen (fakultativ auch wuchs ist immer willkommen. Wer Interesse am Aufbaukurs III), kann die Fortbildung mit dem Singen auf der Opernbühne hat, melde sich! Zertifikat »SpielleiterIn für Szenische Interpreta- www.staatsoper-berlin.de tion« von Musiktheater (nach ISIM) abgeschlos- sen werden. 07 + 08 Okt 2010 | Basiskurs I – Das Rheingold 02 + 03 Dez 2010 | Basiskurs II – the Rake’s Progress 07 + 08 Feb 2011 | Basiskurs III – La traviata 06 + 07 April 2011 | Basiskurs IV – Wozzeck 24 + 25 Juni 2011 | Basiskurs V – Tri Sestri 03 + 04 März 2011 | Aufbaukurs I – Methoden der Szenischen Interpretation OPER IST UNTEILBAR

ALEXANDER KLUGE ist promovierter Jurist und Kritischer Theoretiker, Filmemacher und Schriftsteller. Seit 1988 hält er als Produzent die Fahne der Kultur im deutschen Privatfernsehen hoch. 2003 erhielt er den Büchner-Preis. illustration: dai kua-sook kim / scrollan essay

Mein Vater war Theaterarzt am ist dieser Gott Ahnvater der Musik, aber auch der Stadttheater Halberstadt. Es gab Vorausahnung und außerdem der Mathematik. keine Opernpremiere, die er nicht Fixiert auf unsere gewohnte Realität (die nicht besuchte. Von Beruf war er Arzt durchweg sich als real erweist) und die Erwachse- I und Geburtshelfer. So geschah es nenintelligenz, die ihre eigene Sprache besitzt, gelegentlich, dass eine dringende Geburt gemel- unterschätzen wir, was ein Mensch (und ein Kind det wurde, während er in der Oper saß. Ich hatte ist zunächst »unverfälschter Mensch«) aus der dann, als Kind, die Aufgabe, ihn als laufender Evolution an Erbe mitbringt: das sind die Fähig- Bote zu benachrichtigen und aus der Oper heraus- keiten der MATHEMATIK (von Wenigen wirklich zuholen. Das Hineinschleichen in den geheimnis- angewandt, aber es ist die Sprache des Kosmos), vollen Raum und die Bewegung zu seinem Sitz- die Sprache der MUSIK (eine Intelligenzform ohne platz hin in der Reihe 2, umgeben von Tönen und Sinnzwang, aber von großer Vielfalt und Ordnung) verwirrt von der Handlung auf der Bühne, von und schließlich die GEFÜHLE und die RATIO- der ich nichts verstand, sind meine ersten Eindrü- NALITÄT. Erst das seltene Zusammenspiel dieser cke, es geht um Licht und es geht um Töne. Ich Fähigkeiten zeigt das Potential, das Menschen, habe nichts von solcher Oper verstanden, aber also Kinder, besitzen. Die Oper vereinigt einen diese »Einblicke« waren entscheidend dafür, dass schönen Bissen dieses Potentials (leider unter Aus- ich zeitlebens nicht nur Opern höre, sondern in lassung der Mathematik). Es ist positiv, Kindern literarischen Produkten und in Filmen auf den diese abendländische Errungenschaft frühzeitig Attraktor Oper zu antworten versuche. nahe zu bringen. Dazu kann die Oper auch neue Von Pestalozzi, dem großen Schweizer Pädago- Formen entwickeln (siehe Abschnitt V dieses Tex- gen, berichtet man eine Geschichte: dass er Ost- tes). Ist die Oper bereit, Fragmente zu bilden, ihre schweizer Kindern, die ausschließlich Deutsch Chitinhülle zu öffnen, den Blick auf ihre Einzel- sprachen, französische Texte von Diderot aus der heiten zu gewähren – entgegengesetzt zum klas- Encyclopedie vorlas. Vermutlich war den Kindern sischen, hermetischen Kanon –, entsteht Berüh- die Thematik fremd, die Sprache unbekannt. rungsfläche: Das brauchen Kinder. Sie sind an der Dennoch erklärten anschließend die Zwölfjähri- Haut orientiert, nicht am Ganzen. gen den Achtjährigen, um was es sich handelte. Theodor W. Adorno, der größte Liebhaber der Mu- Man sieht, Kinder verstehen mehr als wir mei- sik unter den Philosophen, sagt: Musik ist Ver- nen. Sie raten mit allen ihren Sinnen. Einer Ver- trauenssache. Man muss auf ihre intim wirkende trauensperson wie Pestalozzi lauschen sie das Un- Macht vertrauen, d.h. auf ihre Verwurzelung in bekannte ab. Oft, glaube ich, verstehen Kinder den Menschen, auch in solchen, die nicht daran mehr als wir Erwachsene von der Welt. glauben. Man muss konsequent auf das Ohr und Das gilt besonders für die Musik. Wir sollten Kin- die Intelligenz von Kindern vertrauen, die, wie der so früh wie möglich mit ihr in Berührung gesagt, mehr verstehen als die Lehrer meinen. bringen. Das gilt vor allem für das Musiktheater, Man soll also Oper und Musik nicht an die Kinder das Sinnzusammenhang (die sogenannte »Hand- anpassen. Auch nicht die Kinder an die Musik. Die lung«) und das geheimnisvolle Imperium des Hö- Begegnung muss unmittelbar sein, dann ge- rens, nämlich die Musik, zusammenbringt, also schieht das Wunder. zwei verschiedene Areale unseres Gehirns und unserer Sinne zum Zusammenwirken veranlasst. Meine erste Oper, die ich besuchte, war Apoll, das sehen wir in der ersten Oper der Opern- Puccinis Tosca. Zu jenem Zeitpunkt – es geschichte, Monteverdis Orfeo, im Finale, ist der Va- II war schon Krieg – hatten meine Eltern ter des legendären Musikenthusiasten Orpheus. So eines Tages beschlossen, mich in das Stadttheater essay

zu schicken. Es wurde aber in jener Woche rum herablassender, pädagogischer Rabatt nicht Margarete von Gounod gegeben. Nein, sagte mein erforderlich. In einer gut komponierten, kinder- Vater, da können wir den Jungen nicht hinschi- nahen Oper wie Humperdincks Hänsel und Gretel cken, da geht es um Abtreibung. Vielleicht aber habe ich leichter geweint. Meinen Wunsch nach wird er sich an der Musik orientieren, meinte »mehr Opern hören« hat das nicht gesteigert. meine Mutter, er wird die problematischen Stel- Ich glaube, dass der Ernst, den die Opern aus- len gar nicht bemerken? Das ist zu gefährlich, strahlen können – sogar wenn es sich um soge- antwortete mein Vater, der insgesamt strenger nannte »Komische Opern« handelt – sich auf den dachte, wenn er auch die Musik mehr liebte, das Kinderverstand überträgt, nämlich einen Attrak- schieben wir auf, demnächst kommt Tosca. So sah tor erzeugt, der mit keinem der Attraktoren, die ich als Erstes statt der zensurierten Faust-Oper in den neuen Medien stecken, identisch ist. Die die wohl dramatischste italienische Oper, in der Wahrnehmung dieses Ernstfalls ist unabhängig an einem einzigen Tag alle Protagonisten anein- von dem Verständnis des Ernstfalls. Kinder ver- ander sterben. Für den Kinderverstand wenig auf- stehen auch, was Tod ist, ohne dass man ihnen bauend. Ich habe nach diesem Einstand in mei- das erklärt oder dass sie Einzelheiten begreifen. nem Leben nicht aufgehört, Opern anzuhören Sie besitzen ein unverstelltes, direktes Ahnungs- und in meinem Beruf später die Operngeschichte vermögen. Die Musik und das handlungsbezoge- mit den Mitteln des Films und der literarischen ne Musiktheater antworten darauf. Also soll das Erzählung zu paraphrasieren versucht. Solche Verhältnis von Kindern und Oper nicht durch Zuneigung entsteht nicht allein durch die Musik, Kompromisse, sondern als eine gegenseitige Her- sondern auch durch die Beobachtung, dass Ande- ausforderung verstanden werden. Die Kinder be- re Musik lieben, d.h. durch die Autorität meines stehen sie sehr wohl. Vaters. Sie beruht auch nicht auf dem einmaligen Erlebnis der Tosca (inzwischen habe ich 20 Erzäh- Öffentlich aufgeführte Opern gibt es lungen darüber und mehrere Filmszenen entwi- seit etwa 400 Jahren. Der Verfasser des ckelt), sondern vor allem dadurch, dass gewohn- III Imaginären Opernführers Xaver Holtz- heitsmäßig mein Vater an jedem Sonntag um 15 mann zählt insgesamt 80.000 Opern, von denen Uhr im Rundfunk eine Oper hörte, während er die meisten unbekannt sind. Gäbe es die Kenntnis dazu seine Arztrechnungen schrieb. Das war eine von allen, sagt er, würde sich zeigen, dass sie ge- bunte Mischung aus Die lustigen Weiber von Wind- meinsam eine einzige große Partitur bilden, eine sor, Die Meistersinger von Nürnberg, Rigoletto, auch Landschaft der Empfindungen der Menschen, die Die Hochzeitsnacht im Paradies, eine Berliner Ope- die Moderne hervorgebracht haben. So begleitet, rette, dann aber die Schwergewichte Carmen, nach Holtzmann, die Geschichte der Oper die Otello, Samson und Dalilah – Findlingsblöcke jen- bürgerliche Gesellschaft und die darauf folgende seits des Kinderverstandes und nur durch die vä- nachbürgerliche industrielle und digitale wie ein terliche Autorität im Realismus befestigt. Man Vexierspiegel, in dem alle Merkwürdigkeiten, Irr- merkt hier: Im freien Gelände kann Liebe zur tümer, Tugenden und Sünden abgebildet sind: Oper, Liebe zur Musik sozusagen, spontan nicht wie im Facettenauge des Teufels, beschrieben in entstehen oder nicht sich äußern, wenn nicht Andersens Kindermärchen Die Schneekönigin. eine Bezugsperson oder aber ein öffentliches Wenn Kinder dieser musikalischen Sammlung Opernhaus zur Verfügung stehen, die das Gefäß von Erfahrungen begegnen, treffen sie notwen- bilden, in dem sich die Zuwendung entwickelt. Es dig auf einen »Punkt außerhalb der Erde«, einen muss ernsthafte Orte und Personen geben, um Punkt außerhalb der Alltagswelt, von der sich den Kinderwunsch zu binden. Dagegen ist wiede- ihre Phantasie, auch ihr Selbstbewusstsein, in essay

Bewegung setzt. Es ist gleich, was sie davon »ver- könnte, dass Musikpädagogik oder die Überre- stehen«, es ist wichtig, dass sich ihr unverbildetes dungskunst des Fernsehens die Stelle findet, die Ahnungsvermögen damit auseinandersetzt: Es ein Kind in der Tiefe beeindruckt. Moderne Kin- entsteht sinnliche Flexibilität. Es geht nicht dar- der wissen, wann sie überredet werden sollen um, was das nützt, es geht darum, dass es sinn- und kennen ihre Gegenwehr. Deshalb: keine Ki- lich reicher macht, dass es befähigt, glückliche Ka-Oper. Nur das Beste und daher Komplexeste Momente zu erleben. der Oper ist gut genug für uns Kinder. Offenbar ist die Menschheit – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – in der Evolution nur übrig In einigen Opern geht es um den Ver- geblieben, weil sie auf drei höchst verschiedenen lust von Kindern oder um deren plötzli- Gebieten sich orientiert: in der Rationalität, in IV ches Wiederauftauchen. Beides wirkt der Religion und in der Kunst. Man findet diese erschütternd. In Verdis großem Werk Simon Trias, die kein Unternehmensberater erklären Boccanegra, das in der Staatsoper Unter den Lin- kann, in allen Einzelformen des Fortschritts. In den in einer großen Aufführung mit Plácido der Kunst aber prüft sich für die erwachsenen Domingo und Daniel Barenboim zu sehen war, Kinder das Vertrauenswürdige primär über das steht die wiedergefundene Tochter, die sich zu- Ohr. Und wenn ich selbst auf Herz und Hand ge- gleich als Enkelin des mächtigsten Rivalen Si- fragt werde, ob ich dabei mehr auf die Sprache mons erweist, im Mittelpunkt. Man wird ihre und das Bild (die mein Berufswerkzeug sind) oder klare und hohe Stimme im Ensemble »pace« nicht auf die Musik vertrauen würde, antworte ich: auf vergessen. Auch in Rigoletto beschützt ein Vater die Musik und auf die Musik in der Sprache. sein Kind. Es ist auffällig, wie emotionsstark Ver- Der Schweizer Bildungsforscher Jean Piaget, nach di schon vor dem Abschied Rigolettos von Gilda wie vor der beste von Allen, hat die Welterfah- den Abschied des Vaters, Soldaten und Musikers rung von Kindern in seinen Untersuchungen stu- Miller von seiner Tochter Luisa komponierte. Man diert. Lange Zeit, sagt er, sind Kinder tätig, ma- könnte die beiden verwandten Partiturstellen chen Erfahrungen, und lernen und verstehen nacheinander spielen und erhielte so eine Diffe- dabei gar nichts. Plötzlich aber, in Brüchen und renz und eine starke Konsonanz. Auch Wagners Stufen, schießt in ihnen – wie in einer chemi- Siegfried ist ein Kind-Held. So wie seine Beschüt- schen Lauge das Kristallgitter – blitzartig das zerin und Geliebte Brünnhilde außer ihrer Eigen- »Verständnis« zusammen. Sie leben und lernen in schaft, eine gewaltige Götterbotin zu sein und die Stufen. Und in jeder dieser überraschenden und Zukunft zu gewährleisten, ein getreues Kind ist. blitzartigen Stufen gehen Elemente der früheren Bewegend in Pfitzners Palestrina ist der überle- Stufe ein. bende Beobachter: Palestrinas Sohn. Die Kette der Auf die Begegnung mit der Oper angewendet: emotionalen Momente, in denen es um Kinder Opern sind in der Regel für Erwachsene geschrie- geht, scheint eine Nachricht davon zu geben, wie ben und komponiert. Sie überfordern schon durch wichtig es in den älteren Formationen der Gesell- ihre Programmlänge den Horizont des Kindes. schaft, also für die Vorfahren, die jeder von uns Gleichzeitig weiß ich aber keinen besseren Rat hat, war, dass das Geschlecht sich fortsetzt. Nicht als: Wir müssen bei der Oper das Wagnis einge- Geld, sondern die Einheirat und dann die Kinder hen, dass Kinder sie von sich aus verstehen. Eine sind das wahre Gut, der wirkliche Reichtum. Man Überforderung und ein Missverständnis können wird daran erinnert, dass tiefe emotionale Er- eher die Wurzel eines tiefen Eindrucks sein, einer schütterung nicht auf gegenwärtigen Gefühlen Begegnung, wie Adorno, Proust sie erlebten, oder bloß beruht, sondern dass diese eine reiche Wir- das Kind Mozart vorfand, als dass man erwarten kung von Obertönen und Echos aus der Vergan- essay

genheit herbeirufen. Nach meiner Beobachtung sind in ihren Proportionen etwas zu groß für Kin- sind Kinder für solche Wahrnehmung offen. der. Der Grund dafür liegt auch darin, dass die Auch der Rosenkavalier Octavian und die ganz Rivalität unter den großen Komponisten und Lib- junge Frau, die er gewinnt, sind wohl eher Kin- rettisten das Genre der Oper immer erneut gestei- der. Den Gegenpol zu solchen glücklichen Kin- gert haben. Eine solche Zuspitzung zur Tragik der dern sehen wir in der erschütternden Szene der Finali der dritten oder fünften Akte fordert im- Marie in Alban Bergs Wozzeck, wenn sie ihrem mer größere, aufgeteiltere Handlungsräume und Kind die Geschichte vom Mond erzählt. Dies wäre die Progression der Musik zuletzt das geschulte dann schon der Übergang zu der anfangs dieses Ohr. Mit anderen Worten: Wo noch ist die Musik Textes erwähnten Oper Margarete und des The- naiv? Wo kann man in die Hochkunst der Musik, mas der Kindestötung. Das Thema Kindestötung in die Oper, mit einfachen Sinnen einsteigen? hat bei Robert Schumann in seiner Komposition Man hat als Kind zunächst kein Aufmerksam- von Fragmenten des 5. Aktes von Goethes Faust keitsbudget für drei oder mehr Stunden. Wenn es im »Chor der ungeborenen Kinder« ihren Höhe- deshalb darum geht, zwischen der Opernwelt punkt. Das wäre aber bereits für Jugendliche un- und Kindern eine größere Nähe und Berührungs- ter 12 Jahren nicht zugelassen. fläche zu schaffen und man andererseits die diffi- zile und reiche Substanz der Oper nicht durch Im Zeitalter der Aufklärung werden Vereinfachung und Hör-Rabatte beschädigen will, Kinder noch wie winzige Erwachsene so bleibt ein anderer Weg: Man weiß, dass bei V gemalt. Der Prinz, der später Friedrich Kunstwerken der Antike eine große Zuwendung der Große wird, steht als kniehoher Offizier ne- sich auch auf Fragmente richtet. Ein Bruchstück ben dem mächtigen Oberschenkel des autoritati- aus alter Zeit blieb erhalten und fasziniert die ven Vaters, der mit seinen Herren im Tabakskolle- Phantasie, die das Unvollständige ohne Weiteres gium raucht. Dies ist bis zur Klassik die Haltung ergänzt. Man kann – angesichts der Überzahl der der Erwachsenenkunst zu den Kindern. Sie wer- unbekannten Opern – auch ohne die Opernge- den darauf orientiert, so rasch wie möglich er- schichte zu entreichern, Fragmente aus Opern wachsen, d.h. wirklich zu werden. Kindern vorführen. Ich denke dabei auf keinen Unsere inzwischen differenziertere Einstellung Fall an sogenannte »Hits«. Vielmehr sind Neben- zum Kind in Mittel- und Westeuropa entsteht erst handlungen, unbekanntere Stellen, die aber ei- in der zweiten Hälfte der bürgerlichen Gesell- nen in sich geschlossenen Eindruck vermitteln, schaft. Sie ist eine moderne Errungenschaft. Wie besonders geeignet, dass Kinder sich mit ihnen Marcel Proust von sich selbst als Kind schreibt, beschäftigen. Sie müssen ja zunächst diese »Edel- das wäre selbst für Johann Wolfgang Goethe, der steine« sich aneignen und könnten eine ganze über Kinder schreibt (Die beiden Nachbarskinder, Kette solcher Stücke zu sammeln beginnen. Sieg- Märchen), aber nicht über sich selbst als Kind, fried kommt zu Anfang des dritten Aufzugs der nicht möglich. Götterdämmerung zu den Rheintöchtern, die ihn In die Oper, deren Genre zur Hochkunst neigt, ist auffordern, den Ring in den Rhein zu werfen. die differenzierte Darstellung der kindlichen Er- Dies würde den Fluch beenden und die weitere fahrung wenig eingedrungen. Das Melodram des Handlung von Glück begleitet sein lassen. Leich- Prinzen in Mozarts ZaÏde oder die Suche nach der ten Sinns wäre Siegfried einen Moment lang be- Stecknadel im Figaro haben eher mit der Welt von reit, den Ring abzustreifen und fortzuwerfen. Als Kindern zu tun als das Kind als dramatisches Ins- die Rheintöchter zu schnell insistieren, wird er trument in den Opern des 19. und 20. Jahrhun- trotzig und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. derts. Die Opern, könnte man generell sagen, Richard Wagner findet hier neue Töne. Sie unter- essay

scheiden sich in vieler Hinsicht von der Komposi- In diesem Kontext könnte man auch die Oper tionsnorm, der er folgte, bevor er seine Arbeit für selbst als Kind betrachten. Eine glückliche Zeit so viele Jahre unterbrach. Und sie unterscheidet besaß sie, als sie erfunden wurde: in den »Dramen sich auch von dem Gefüge der Leitmotive und mit Musik« von Claudio Monteverdi oder Fran- Musiken, die das Riesenwerk beenden. Es wäre cesco Cavalli. Immer wieder hat sie sich später besser, wenn ein junger Mensch mit dieser in sich von ihrer Erstarrung erholt, unerwartete Wen- geschlossenen Szene umgeht, sie dafür zwölf oder dungen, auch neue Einfachheit für sich in An- achtzehn Mal, am Klavier oder von verschiedenen spruch genommen. Eines der Premierentheater Dirigenten dirigiert oder auch unverändert wie- Giuseppe Verdis, das La Fenice (dreimal abge- derholt hört, also mit ihr vertraut wird, als dass brannt und immer erneut aufgebaut) erinnert in er gleich vom Gesamtwerk quasi überwältigt seinem Namen an den sagenhaften Vogel Phönix, wird. Eigentlich braucht jeder moderne Mensch, der in einer Flamme verglüht, aber stets wieder- der außer der Kunst noch die Medien und die geboren wird. Das wäre das Emblem der Oper, der Wirklichkeiten aushalten muss, die anders sind ja in der Konzentration der Kunstformen kein als im 19., im 18. oder 16. Jahrhundert, solche anderes Genre an Vielfalt des Ausdrucks gleich- »Lagunenstrände«, d.h. Perspektiven auf die Oper, kommt. die ihm zugänglich sind. Ein Mensch lebt heute amphibisch, wenn er zwischen der Welt der Kunst und der Außenwelt wandert. Ich vergleiche hier die Realität, wie sie sich auch in den Informationsmassen des Internet reprä- sentiert (das Wirkliche sind aber nicht die Masse der Daten, sondern die Masse der Fakten drau- ßen), mit einem Ozean: und die Welt der Kunst als den festen Boden, auf den wir gelegentlich (wie unsere Vorfahren) kriechen.

Die wahre Oper bildet eine Gegenwelt. Sie muss deshalb auch keine Berüh- V I rungsangst haben, wenn sie in dieser Welt, also z. B. in den neuen Medien, in anderer Gestalt in Erscheinung tritt und dort ihre »gehei- ligten Gärten« absteckt: ihren »hortus conclusus«. (Ein solcher Garten kennt Ruhe und Nebensa- chen. Er ist nicht zu verwirklichen durch einen Schönheitswettbewerb der Opern: Wer ist die Schönste im ganzen Land? Die Zauberflöte oder Traviata? Nur aus Hauptsachen und Abstimmun- gen entstehen keine Gärten.) Orchestermusiker – ein Traumberuf ? Ja, zumindest wenn man in der Staatskapelle Berlin spielen darf, sagen Susanne Schergaut, Claudia Stein, Dominic Oelze, Fabian Schäfer und Axel Wilczok

rchestermusiker, denkt man, ist ein Staatskapelle. »Natürlich sind wir privilegiert, dass Traumberuf. Zugegeben, man muss früh wir unser Leben mit Musik verbringen dürfen. O anfangen, ein Instrument zu lernen. Man Und es stimmt, wir müssen nicht jeden Tag acht muss viel üben. Und einen guten Tag beim Probe- Stunden in unserer Arbeitsstelle sein. Aber wenig spiel erwischen. Aber hat man es dann ins Or- zu tun haben wir nun wirklich nicht!« Was aber chester geschafft, ist alles prima: Abends sitzt macht ein Orchestermusiker den ganzen Tag? man im Orchestergraben oder auf der Bühne und Zum Beispiel proben. Zunächst muss man fest- macht das, was man am liebsten macht: Musik. halten, dass quantitativ nicht alle Musiker gleich Den Rest des Tages geht man Golfen oder Tennis belastet sind. Während ein Geiger am Abend häu- spielen. Oder? fig Tausende Noten spielt, bewegt sich die Zahl »Für mich ist es wirklich ein Traumberuf«, sagt der zu spielenden Noten für den Schlagzeuger Susanne Schergaut, seit 27 Jahren Geigerin in der oft weit darunter. In seiner 7. Sinfonie zum Bei- spiel gesteht Anton Bruckner dem Schlagzeuger te Spielzeit macht mir da wenig Sorgen. Boulez, genau einen Beckenschlag zu. Dominic Oelze, Strawinsky, Henze und Joneleit sorgen für reich- einer der sechs Schlagzeuger und Pauker der lich Bewegung und halten einige Herausforde- Staatskapelle und seit elf Jahren dabei, ist darü- rungen bereit.« ber gar nicht glücklich. »Man hat genau eine Ähnlich geht es den Kollegen an der Harfe oder Chance und keine weitere Gelegenheit, um ein zu am Englischhorn. Wenn man nach einer langen früh, zu spät, zu laut oder zu leise wieder gut zu Pause »kalt« einsetzen und auf den Punkt eine machen. Im Orchestergraben ist es auch manch- lyrische Melodie aus nur acht Tönen spielen muss, mal so. Wenn man immer wieder nach längeren ist die psychische Belastung groß. Ein einziger Pausen seine Konzentration hochfahren muss, ist nicht ganz gelungener Ton – und der vielleicht man hinterher komplett hinüber. Da spiele ich nur, weil das Rohrblatt nicht perfekt ansprach –, lieber zweieinhalb Stunden durch. Unsere nächs- kann dem Englischhornisten den Abend ver- staatskapelle berlin

stehen und liegen lassen und üben – die Stunde ausnutzen, bis sie wieder aufwachen.« Generell scheint die Staatskapelle ein elternfreundliches Umfeld zu bieten, es gibt erstaunlich viele Väter und Mütter. Die Anforderung, an wirklich jedem Arbeitstag auf den Punkt topfit zu sein, gibt es so bei nur sehr wenigen Berufen. Ob Claudia Stein kaum geschlafen hat, weil ihre kleinen Zwillinge krank waren und sie wach gehalten haben, inter- derben. Gelegenheit, einen Patzer wieder gut zu essiert in der Vorstellung niemanden. Die Solo- machen, hat er oder sie nicht. Bläser prägen den Klang eines Orchesters und Ganz unterschiedlich ist auch die Belastung des tragen mit ihren Soli entscheidend zum Gelingen Übens. Um auf dem Niveau zu bleiben, das das einer Vorstellung bei. Dafür stehen sie auch unter Publikum, die Dirigenten und nicht zuletzt die besonderem Druck. »Wenn man mal einen Musiker selbst von der Staatskapelle erwarten, falschen Ton spielt, reißt einem aber niemand müssen auch langgediente Profis üben. Immer den Kopf ab«, sagt Claudia Stein. Auch Daniel wieder, jeden Tag. Und steht ein neues Werk Barenboim ist es wichtiger, dass die Musizierhal- auf dem Programm, versteht es sich von selbst, tung stimmt, dass man den Sinn der Musik erfasst dass jeder seinen Part zur ersten Probe perfekt und gestaltet. »Auch wenn er sich in dem Moment beherrscht – auch wenn es sich um ein hochkom- ärgert, verzeiht er das ganz schnell. Aber natür- plexes Boulez-Werk handelt. Dominic Oelze muss lich dürfen Fehler nicht zu oft vorkommen.« dann auch mal ein »neues« Instrument lernen, Was Orchestermusiker von den meisten Berufs- wenn ein zeitgenössischer Komponist nach einer tätigen unterscheidet, sind die unregelmäßigen Reise durch die Mongolei ein bis dahin unbekanntes Arbeitszeiten. Der Vorstellungs- und Konzertplan Percussion-Instrument vorschreibt. Jedes Orches- steht schon sehr früh. Proben aber werden kurz- ter lebt von der Eigenverantwortung der Musiker, fristiger angesetzt und gern auch wieder verlegt – Selbstdisziplin ist eine der wichtigsten Fähigkei- wie immer es der Prozess einer Opernproduktion ten, die man für diesen Beruf mitbringen muss. oder die Probenphase für ein Konzert erfordert. Wichtig für die Frage nach der Arbeitsbelastung Die ersten Proben beginnen morgens um zehn, ist auch die Position im Orchester. Die Solo- manche Vorstellung endet abends um elf – da Stellen in den fünf Streichergruppen und bei den kann ein Arbeitstag lang werden. Auf regelmäßige Blasinstrumenten sind jeweils doppelt oder drei- Abendbeschäftigungen mit Freunden oder im fach besetzt. Claudia Stein und Thomas Beyer Verein müssen Musiker verzichten. Tarifrechtlich zum Beispiel, die beiden Solo-Flötisten, machen steht ihnen ein freier Tag pro Woche zu, aber allenfalls mal Kammermusik zusammen. Opern- auch das ist manchmal, etwa während der Fest- vorstellungen und Konzerte teilen sie untereinan- tage, nicht garantiert. Zudem können Krankhei- der auf – eigenverantwortlich. Einig wird man ten und Ausfälle jeden freien Abend zunichte sich da immer, und dass ihr Kollege so flexibel ist, machen, wie es Axel Wilczok, einem der beiden dafür ist ihm Claudia Stein besonders dankbar – Stellvertretenden Ersten Konzertmeister, schon sie ist Mutter von drei Kindern. »Organisation, mehrfach passiert ist: »Wenn ein Erster Konzert- Logistik und Disziplin ist alles!«, sagt die gebürti- meister ausfällt und die beiden anderen nicht ge Dresdnerin, die seit 16 Jahren im Orchester ist. erreichbar oder unterwegs sind, dann muss ich »Wenn die Kinder einschlafen, muss man alles hin, setze mich auf den ersten Platz und spiele das Geigensolo, auch wenn ich das noch in keiner unterrichten. Der Konflikt mit den staatlichen Vorstellung gespielt habe. Das muss ich als Stellver- Stellen eskalierte schließlich so, dass er heilfroh treter drauf haben, so steht es in meinem Vertrag.« war, in der zweiten Geige der Staatskapelle unter- 135 Mitglieder hat die Staatskapelle – laut Stellen- schlüpfen zu können. Auch wenn er erst einmal plan. Wer Mitglied wird, bestimmen die Musiker für Auslandsreisen gesperrt war, hielt man hier selbst. Jede Stelle wird über Probespiele besetzt, eine schützende Hand über ihn – wie die Staats- wobei jedes Orchestermitglied mitstimmen darf. kapelle unter dem Österreicher Otmar Suitner Wird eine Klarinette gesucht, hat das Wort der überhaupt einen großen Freiraum genoss. »Aber Klarinettisten aber natürlich das größte Gewicht. ich wollte in die ersten Geigen. Und früher war es In der ersten Runde spielen die Kandidaten meist so: Man wartete auf die nächste Westreise, dann hinter einem Vorhang – nichts soll von den musi- wurden wieder ein oder zwei Stellen frei. Und als kalischen Fähigkeiten ablenken. In der letzten dann die Stelle des stellvertretenden Konzert- Runde entscheidet dann auch der persönliche meisters frei wurde, habe ich beim Probespiel Eindruck. Schließlich muss der oder die Neue mitgemacht. Das war komisch, plötzlich den Kol- menschlich zum Orchester passen. Hat ein Kandi- legen wieder vorzuspielen.« dat das Probespiel bestanden, beginnt er ein Probe- Dreizehn Stellen sind zur Zeit nicht besetzt, nur jahr, das noch einmal verlängert werden kann – ein Kollege ist im Probejahr. Geeignete Bewerber erst dann wird man vollgültiges Mitglied der zu finden, ist für alle Spitzenorchester schwierig Staatskapelle Berlin. Und natürlich hat bei all dem geworden. Das klingt verrückt, wenn man sieht, auch der Chef ein gewichtiges Wort mitzureden! wie viele Studenten an den deutschen Musikhoch- Axel Wilczok hat sogar zwei Probespiele gewon- schulen ausgebildet werden. Doch die Ausbildung nen. Er hatte in Moskau am Tschaikowsky- geht nicht selten an der Berufsrealität vorbei. »Die Konservatorium studiert und sollte anschließend Ziele einiger Professoren und die Anforderungen als Konzertmeister nach Karl-Marx-Stadt gehen, des Orchesterspiels decken sich nicht immer«, wo er aber als Berliner nicht hin wollte. Er wollte sagt Solo-Oboist Fabian Schäfer, 32 und seit sechs staatskapelle berlin

Jahren in der Staatskapelle. »Im Probespiel muss im Graben auf, machte das Parsifal-Vorspiel mit man seine Fähigkeiten im geforderten Konzert uns und verschwand. Das war toll. Aber wir dach- und den Orchesterstellen auf den Punkt bringen. ten: Den sehen wir nie wieder. Später hat er mir Hinzu kommt, das eigene Tun einzuordnen. erzählt, er hätte bei uns den Klang gefunden, Natürlich müssen Orchestermusiker präsent und der ihn, als er jung war, beim Israel Philharmonic virtuos sein, aber ihr Klang soll Teil eines gemein- Orchestra so begeistert hatte – dessen Klang samen Klanges werden können.« wurde damals noch von den vielen Emigranten Um diesem Ausbildungsmanko abzuhelfen, haben aus Deutschland geprägt.« fast alle großen Orchester inzwischen ihre eigene 18 Jahre ist Barenboim nun Generalmusikdirektor »Akademie« gegründet. Die Akademie der Staats- der Staatskapelle, aber Sehnsucht nach einem kapelle hat insgesamt 29 Ausbildungsplätze für neuen Chef hat niemand. Im Gegenteil. »Der muss fertig studierte Musiker, die über ein Probespiel 150 werden«, sagt Wilczok. »Und das wird er auch, aufgenommen werden und eine Art zweijähriges bei der Energie, die er hat.« Claudia Stein bringt Aufbaustudium absolvieren dürfen. Sie spielen im es auf den Punkt: »Er ist ein Genie. Es ist ein Ge- Orchester mit, erhalten Unterricht von erfahre- schenk, ihn hier zu haben.« nen Mitgliedern des Orchesters (den »Mentoren«) »Er hat eine bestimmte Art zu musizieren«, sagt und bekommen ein monatliches Stipendium. Für Fabian Schäfer. »Mit vollem Einsatz und voller beide Seiten ist das eine wunderbare Sache: Die Leidenschaft, nie abgezirkelt. Und das ist sehr Akademisten erhalten den letzten Schliff im erfüllend. Die Beethoven-Konzerte mit ihm am Hinblick auf das Orchesterspiel und Probespiele Klavier zu machen ist wie Kammermusik. Alle und sammeln erste Berufserfahrung – wobei die sind wach und hören einander zu, keiner spielt Lehrer immer darauf achten, dass die jungen sich in den Vordergrund, niemand bleibt im Musiker nicht überfordert werden und das Niveau Schatten. Die solistische Präsenz ist da, und doch einer jeden Vorstellung gesichert ist. Zudem tre- ist es sehr homogen.« ten sie in eigenen Kammerkonzerten und min- Überhaupt sollten Musiker nie nur zum Dirigenten destens einmal im Jahr in einem Programm mit gucken, sondern aufeinander hören und mitein- Daniel Barenboim vors Publikum. Die Staatska- ander kommunizieren. Und dafür gibt es keine pelle wiederum profitiert von derA kademie, weil bessere Schule als die Kammermusik. Nur wer sie sich hier ihren Nachwuchs heranbilden und auch Kammermusik macht, kann ein wirklich prägen kann. Im letzten Jahrzehnt hat das Or- guter Orchestermusiker sein. So kommt es, dass chester einen Generationenwechsel erlebt, und viele Kapellenmitglieder in Kammerensembles viele der heutigen Mitglieder waren zuvor in der spielen, bei Preußens Hofmusik mitmachen oder Akademie. Wie Fabian Schäfer, der nach einem sich auch im Kammerorchester Carl Philipp Jahr als Akademist das Probespiel gewann. Emanuel Bach engagieren. Was es aber wohl in Geeigneten Nachwuchs zu finden ist auch des- keinem anderen Orchester der Welt gibt, ist, dass halb so schwer für die Staatskapelle, weil sie einen die Orchestermitglieder auch mal mit ihrem vollen, runden, warmen, weichen Klang kulti- Chefdirigenten gemeinsam musizieren – in klei- viert, den die Musiker unbedingt bewahren wol- ner Besetzung mit Barenboim am Klavier. Rund len – ebenso wie Daniel Barenboim. Denn es war 25 Kammerkonzerte stehen alljährlich auf dem dieser Klang, der ihn überhaupt nach Berlin lock- Saisonprogramm der Staatskapelle. Auch wenn te. Axel Wilczok erinnert sich noch gut, wie eines Daniel Barenboim als Generalmusikdirektor des Tages das Gerücht aufkam, Herr Barenboim wolle Hauses im Endeffekt natürlich hauptverantwort- das Orchester kennen lernen und eine Probe diri- lich ist für die Konzertprogramme, sind Anregun- gieren. »Wenig später tauchte er dann tatsächlich gen und Ideen der Musiker immer willkommen. Zeit aus fünf Musikern besteht und der sich in Zusammenarbeit mit dem Chefdirigenten, der Intendanz und dem Orchestermanagement um tausenderlei dienstliche und musikalische Fragen kümmert: von der Vorbereitung und Durchfüh- rung der Probespiele über Probenpläne und die Auswahl von Gastdirigenten bis hin zu Tournee- planungen. Auch wenn ein Musiker mal persön- liche Probleme hat, die auf die künstlerische Leistung durchzuschlagen drohen, versuchen die Musiker das Problem zunächst untereinander zu lösen. »In der Staatskapelle herrscht ein kolle- gialer Geist«, sagt Susanne Schergaut, die erste Gleich zwei Projekte in der kommenden Saison Frau im Vorstand seit 439 Jahren! Die 50-Jährige hat Dominic Oelze angestoßen: Henzes CimarrÓn ist, was man landläufig ein U» rgestein« nennt. Ihr und Kagels Tribun. Barenboim, Intendant Jürgen Vater hat als 21-jähriger Solo-Hornist 1955 die Flimm und die Dramaturgen waren einverstan- Staatsoper mit eröffnet, sie wuchs sozusagen im den, und so wird der 38-jährige Schlagzeuger nun Opernhaus auf, besuchte eine Spezialschule für in beiden Werkstatt-Produktionen eine promi- Musik, das heutige Bach-Gymnasium, wechselte, nente Rolle spielen. wie es üblich war, reibungslos auf die Musikhoch- Obwohl die Staatskapelle so klar von ihrer Tradi- schule »Hanns Eisler« und bestand 1982 ihr Probe- tion und ihrem Chef geprägt ist, ist sie doch, spiel Unter den Linden. wenn es drauf ankommt, flexibel. Fabian Schäfer Seitdem ist sie mit Leib und Seele dabei, auch berichtet, wie beeindruckt er war, als das Orches- wenn sie als Mitglied der ersten Geigen nur »ein ter mit Simon Rattle Debussys Pelléas et Mélisande kleines Rädchen im Getriebe« ist. »Wie sich so ein erarbeitete und es »plötzlich ganz anders klang. Gesamtklang entwickelt, das ist schon grandios. Ich glaube, wir haben die Fähigkeit, uns auch auf Manchmal sitzt man da, ein toller Sänger fängt an andere Ideen einzulassen.« zu singen, und man bekommt eine Gänsehaut.« Wenn Daniel Barenboim oder ein anderer Diri- Dass sie aus dem Orchestergraben vom Bühnen- gent vor dem Orchester steht, gibt er den Ton an. geschehen nichts sieht, stört sie nicht. Und dass sie Demokratie darf man nicht erwarten im Proben- selbst nicht gesehen wird, auch nicht. »An diesem prozess und im Konzert. Probleme innerhalb des Gesamtkunstwerk mitzuwirken, ist toll genug.« Orchesters aber lösen die Musiker untereinander. Susanne Schergaut freut sich aber auch, dass die Dafür gibt es einen gewählten Vorstand, der zur Konzerttätigkeit der Staatskapelle Berlin künst- staatskapelle berlin

Als wolle er verhindern, dass seine Musiker in Routine verfallen, hat Daniel Barenboim in den letzten Jahren immer neue Projekte angestoßen, in denen sich auch viele Musiker der Staatskapelle engagieren. In Sevilla hat Barenboim beispiels- weise eine Orchesterakademie für spanische Studenten gegründet, an der vor allem Mitglieder der Staatskapelle unterrichten. Das West-Eastern Divan Orchestra, in dem junge Musiker aus Israel und den arabischen Staaten gemeinsam musi- zieren, wird überwiegend von Mitgliedern der Staatskapelle betreut. Dass dieses Engagement »nachhaltig« wirkt, dafür liefert die Staatskapelle selbst den besten Beweis: Zwei Musiker des »Divan« vertreten gerade gemeinsam eine Flötis- tin der Staatskapelle, die in Mutterschutz ist: ein Israeli und eine Ägypterin. Und schließlich gibt es noch den Musikkinder- garten, der auf Initiative Daniel Barenboims 2005 gegründet wurde – mit dem Ziel, Kinder in einer Umgebung aufwachsen zu lassen, in der klassi- sche Musik eine selbstverständliche Rolle spielt. lerisch gleichrangig neben dem Opernbetrieb Meist einmal pro Woche besucht ein Musiker der besteht. Pro Spielzeit gibt das Orchester etwa 20 Staatskapelle die vier Kita-Gruppen und präsen- Sinfoniekonzerte in Berlin – und zwar nicht, wie tiert sein Instrument, erarbeitet mit den Kindern es die meisten »Opernorchester« tun, im eigenen Tänze oder spielt ihnen einfach etwas vor. Haus, sondern im Rahmen einer Abonnement- Erziehungswissenschaftler beobachten das Pilot- reihe mit jeweils einem Konzert in der Philhar- projekt und werten es aus. Claudia Stein, deren monie und im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Tochter die Kita besucht hat, ist vom Konzept Etwa 20 weitere Konzerte pro Jahr führen die überzeugt: »Die Wahrnehmung, die Sensibilität Staatskapelle auf Gastspielreisen regelmäßig werden ganz anders geschult. Das war ein himmel- in alle großen europäischen Musikzentren, nach weiter Unterschied zur Kita, in die meine Tochter Israel, Japan, China sowie Nord- und Südamerika. vorher ging.« Ein Highlight der letzten Jahre waren der Mahler- Routine kommt bei diesem Programm unter Zyklus im Wiener Musikverein und in der den Musikern der Staatskapelle nicht auf. Was am Carnegie Hall in New York im Jahr 2009. Und weil Ende zählt, ist aber natürlich die Leistung in der sie eine echte »Staats«kapelle ist, wird sie auch zu Oper oder im Konzert. Die stimmt – und macht »staatstragenden« Anlässen gebeten: 60 Jahre Spaß. Grundgesetz etwa oder 20 Jahre Mauerfall wur- Also ist es wirklich ein Traumjob, Musiker in der den von der Staatskapelle Berlin musikalisch Staatskapelle Berlin zu sein? »Unbedingt«, sagt gefeiert. Es ist nicht zuletzt diese Balance zwi- Fabian Schäfer stellvertretend für die anderen. schen Oper und Konzert, diese permanente Flexi- »Gibt es denn etwas Schöneres, als Musik zu bilität, die die Staatskapelle Berlin vor anderen machen, die erfüllt?« Orchestern auszeichnet. Arnt Cobbers Schiller theater

echs Jahre nur waren vergangen seit dem verheerenden Kriegsende, da öffnete das S Schiller Theater seine Pforten. Mit Resten alter Bausubstanz im Kern, war es doch fast ein völliger Neubau. 1.085 Ehrengäste füllten an je- nem 5. September 1951 den Saal, vorneweg Bun- despräsident Theodor Heuss und der »Regierende« Ernst Reuter – allerdings nicht die Intendanten aus Ost-Berlin, die man auf politischen Druck kurzerhand ausgeladen hatte. Und was sahen und hörten sie? Musik! Beethovens Neunte, mit den Philharmonikern unter Furtwängler, mit Chor und Solisten. Wenn man so will, waren die Jahre des Sprechtheaters, die einen Tag später mit Schil- lers Wilhelm Tell ihren Anfang nahmen, also nur ein langes Zwischenspiel. Am 3. Oktober 2010, fast genau 59 Jahre später, übernimmt nun wie- der die Musik das Haus. Mag auch so mancher den prächtigen Knobels- dorff-Paulick-Bau vermissen – das rundum er- neuerte Schiller Theater dürfte eine schöne Er- satz-Heimat werden. Denn eindrucksvoll ist die Theater-Trutzburg im Herzen Charlottenburgs allemal. Hinter der grau-rauen Schale verbergen sich luftig-beschwingte Räume: besonders der trotz seiner Größe intime Saal und das großzügig verglaste Foyer im ersten Stock. Hier wurde 40 Jahre Theatergeschichte geschrie- Im Januar 2009 begann der Um- und Ausbau des Schiller ben, obwohl – eigentlich viel länger. 1894 setzte Theaters zur neuen Spielstätte der Staatsoper Unter den sich die wohltätige Stiftung Schiller Theater AG Linden. Am Ort des alten Magazins an der Schillerstraße entsteht ein zweigeschossiger Neubau: Das Erdgeschoss die »Begründung und Unterhaltung volkstümli- wird künftig als Montagehalle genutzt, das Obergeschoss cher Schauspiele« zur Aufgabe. Die Stadtväter Ber- als Probebühne. lins interessierte das wenig, die des rasant wach- senden Charlottenburg um so mehr. Nur 15 Monate dauert der Bau, den die Stadt finanziert, dann erfolgt am 1. Januar 1907 die feierliche Er- öffnung mit Schillers Die Räuber. Das Innere ist Schiller theater

modern und einfach gestaltet – wie es einem scheinen aus heutiger Sicht von Peter Steins Volkstheater gebührt. 1923 kommt das Haus an Schaubühne dominiert, doch der große Tanker die Preußischen Staatsbühnen, noch im gleichen Schiller Theater ist auch unter Hans Lietzau und Jahr inszeniert Jürgen Fehling hier erstmals in Boy Gobert noch sehr beweglich. Hier werden Deutschland Tschechows Drei Schwestern. Leopold Heiner Müller, Bond und Bernhard gespielt, 1975 Jessner, Ernst Legal, Heinz Tietjen und Heinrich inszeniert Beckett persönlich Warten auf Godot, George heißen die Intendanten, die das Haus prä- 1981 folgt die legendäre Fallada-Revue Jeder stirbt gen, bis es im November 1943 von einer Flieger- für sich allein von Peter Zadek und Jérôme Savary. bombe zerstört wird. Mitte der 80er erst wird es gefährlich ruhig im Es folgt der Wiederaufbau nach Plänen von Heinz und ums Haus, 1993 entscheidet der Senat von Völker und Rudolf Grosse. Das Schiller Theater Berlin, das Schiller Theater zu schließen. Es fol- wird zum kulturellen Flaggschiff der Frontstadt gen Jahre mit mehr oder minder erfolgreichen Berlin (West), Haupthaus der »Staatlichen Büh- Musicals und Theater-Gastspielen, Konzerten und nen« mit dem größten und prunkvollsten Schau- Kabaretts. spielensemble im deutschen Sprachraum, allen Nun also beginnt eine neue Zeitrechnung für das voran Bernhard Minetti und Martin Held. Fritz Schiller Theater. Einer übrigens, der am 6. Sep- Kortner inszeniert Die Räuber, Peter Weiss erlebt tember 1951 die Theaterbühne mit einweihte, die Uraufführung der Verfolgung und Ermordung könnte 59 Jahre später als Ehrengast dabei sein. Jean Paul Marats, und in der 1959 eröffneten Werk- Den Sohn Wilhelm Tells spielte damals, neben statt setzt Intendant Boleslaw Barlog Autoren wie Heroen wie Albert Bassermann: der 13-jährige Pinter, Grass und Beckett durch. Die 70er Jahre Götz George! Arnt Cobbers Schiller theater VORGESTERN, GESTERN UND HEUTE

1907

Das erste Schiller Theater Links: Außenansicht mit Biergarten und Pavillon oben: Blick in den Zuschauerraum und in den »Restaurationssaal« am Ort der heutigen Werkstatt 1907

1951

Das neue Schiller Theater Rechts: Die markante Vorderfront mit der Glaswand zum Hauptfoyer Oben: Blick nach Osten zum Ernst-Reuter-Platz um 1962

2010

Das Schiller Theater während des Umbaus für die Staatsoper Oben: Blechbläser der Staatskapelle Berlin bringen zum »Richtfest« ein Ständchen