Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen______Literaturwissenschaft Herausgegeben von Reinhold Viehoff (Halle/Saale) Gebhard Rusch (Siegen) Rien T. Segers (Groningen) Jg.20 (2001), Heft 1

Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften SPIEL Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft

SPIEL: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Lite raturwissenschaft

Jg.20 (2001), Heft 1

Peter Lang Frankfurt am Main • Berlin • Bern • Bruxelles • New York • Oxford • Wien Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literatur­ wissenschaft (SPIEL) Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; New York ; Paris ; Wien : Lang ISSN 2199-80780722-7833 Erscheint jährl. zweimal

JG. 1, H. 1 (1982)- [Erscheint: Oktober 1982]

NE: SPIEL

ISSNISSN 2199-80780722-7833 © Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft

SONDERHEFT / SPECIAL ISSUE SPIEL 20 (2001), H. 1

Unterhaltende Genres in "sozialistischen" Medien - und anderswo Genres of Entertainment, Socialism, TV Channels, and Contexts.

hrsg. von / ed. by Reinhold Viehoff (Halle) Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft

Contents / Inhalt SPIEL 20 (2001), H. 1

Rüdiger Steinmetz () und Reinhold Viehoff (Halle) Unterhaltende Genres im Programm des Fernsehens der DDR 1 Perspektiven einer Programmgeschichte Wolfgang Mühl-Benninghaus (Berlin) Zum Verständnis von Unterhaltung in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik 44 Thomas Kramer und Rüdiger Steinlein (Berlin) Action, Nazis, rote Fahnen - antifaschistischer Widerstand und II. Weltkrieg in der DDR-Kinderzeitschrift “Atze" als Teil “sozialistischer Unterhaltung”. 63 Dieter Wiedemann (Potsdam) Medienkindheiten zwischen “Sandmännchen” und “Sesamstraße” - Aufwachsen in der DDR 88 Uwe Breitenbom (Berlin) In naher Feme - Lieblinge und Stars im DDR-Fernsehen 101 Michael Meyen (Leipzig) Haben die Westmedien die DDR stabilisiert? 117 Kathrin Fahlenbrach (Halle) Ereignisästhetik. Die Wechselwirkung von Medien- und Protestästhetik in der Studentenrevolte von '68 134 RUBRIC

Laszlo Halasz, KarolyHantos und Balazs Faa (Budapest) A Study of the Effect of Reception of Works of Art through an Interactive CD-ROM 151 10.3726/80990_88

SPIEL 20 (2001) H.l, 88-100

Dieter Wiedemann (Potsdam) Medienkindheiten zwischen “Sandmännchen” und “Sesamstraße” - Aufwachsen in der DDR

Recent research has almost made no serious attempt to work on the socializing functions of television in the German Democratic Republic, in particular television programme for the young child was hardly analysed. This paper tries to focus on three aspects in this field: • Children’s television in the GDR between education and politics. • The way children used television in the GDR. • Stylistic and aesthetical aspects of the GDR children’s television. Additionally, arguments were made to put stress on further aspects like the specific conditions of the child programme’s production. It seems necessary to analyse, also, how these programme fits into the whole TV-schedule of the broadcasting station. All in all we want to state that, first, an extended range of methods should be approached to analyse the child programme in the GDR television. Secondly we believe that one has to step back from any negative judgement before con­ sidering all the relevant framing issues in this field.

Nach der “Wende” ist immer wieder vermutet worden, dass der demokratische Umbruch zwischen 1989 und 1990 wesentlich durch die “Westmedienerfahrungen” der DDR- Bürgerinnen beeinflusst worden sei. Unabhängig davon, ob und inwieweit, solche medialen Allmachtsphantasien in der politischen und sozialen Realität im Osten Deutsch­ lands tatsächlich in realen Wirkungen nachweisbar geworden sind, steht die Bedeutung der bundesdeutschen Medien im Alltag der jungen Leute in der DDR außer Frage. Gemeint sind damit primär die Rundfunkmedien, weil die Möglichkeiten zur Nutzung von bundesdeutschen Printmedien in der DDR sehr eingeschränkt waren, d.h. für die Mehrheit unmöglich war. Welche Konsequenzen hatte aber dieses Aufwachsen in einer “eingeschlossenen Gesellschaft” einerseits und in zwei Kultur- und Medienwelten andererseits für das Kindsein in der DDR? Ich möchte diese Frage, hier in folgender Weise diskutieren: 1. Kindheiten und Medien in der DDR - Politisches, Pädagogisches und Historisches 2. Kindheiten und Medien in der DDR - Empirisches 3. Kindheiten und Medien in der DDR - Mediales. Dabei geht es nicht primär um die Darstellung eines Forschungskonzeptes, sondern vorrangig um eine Diskussion vorhandener Ergebnisse und möglicher Annäherungen an das Thema. Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 89

Kinderfemsehen in der DDR: Zwischen Erziehung und Politik

Das DDR-Femsehen begriff sich als ein groß angelegtes Erziehungsproj ekt für alle, das sich einerseits in Abhängigkeit von den jeweiligen “Verlautbarungen” der Herrschenden auf ideologische Einflussnahme hin orientierte und sich andererseits aus der Sicht der meisten Mitarbeiterinnen und Zuschauerinnen als Unterhaltungs- und Kunstmedium definierte: “Das Kinderfemsehen verstand sich als wichtiges Kettenglied im System der Erziehungsträgerinnen. In diesem Sinn wollte es Lebenshilfe und -Orientierung vermitteln, nicht nur schlechthin Wegbegleiter für Generationen Heranwachsender, sondern wirksamer Begleiter sein. ‘Staatsbürgerliche Erziehung’ - später durch den umfassenderen und ideologisch stärker etikettierenden Begriff ‘kommunistische Erziehung’ ersetzt - war auf die Herausbildung moralisch-sittlicher Verhaltens­ weisen und Wertvorstellungen gerichtet. Im Blickpunkt des Kinderfemsehens stand sinn- und kulturvolle Freizeitgestaltung...”1 Hinter diesem Einverständnis, Bestandteil eines Erziehungsprojektes zu sein, stand im Kinderfemsehen natürlich eine spezifische Auffassung vom Kind. Diese äußerte sich in der Stellung des Kinderfemsehens und seiner Rolle im sozialen Gefüge; in der angenommenen - zeitweise auch dominierenden - politisch-ideologischen Verantwortung für die Heranwachsenden und in den postulierten Pflichten und Rechten der Genera­ tionen. Das Kinderfemsehen der DDR kann daher in seinen Inhalten und Formen nur im Kontext der sozialen und kulturellen Bedingungen, der philosophischen und politischen Prämissen des Staates DDR erschlossen werden. Die Stellung im Staat bedeutete immer auch eine politische, soziale und ästhetische Wirkungskonkurrenz zur Bundesrepublik und damit auch zum bundesdeutschen Kinderfemsehen. Beispiele für die Reflexion dieses Sachverhaltes durch Politik, Kunst und Wissen­ schaft sollen im Folgenden kurz skizziert werden: “Das Kinderfemsehen hat über mehr als zwei Jahrzehnte eine erfolgreiche und zum Teil international beispielgebende Arbeit geleistet. Die meisten Kindersendungen erzielten eine gute Zuschauerresonanz und zeichneten sich durch hohe politisch- ideologische, pädagogische und gestalterische Qualität aus. Lange Zeit besaß unser Kinderfernsehen auch einen echten Vorsprung gegenüber den Kindersendungen des BRD-Fernsehens. Dies betraf vor allem viele der populären Kinderfiguren und die Kinderdramatik. In den letzten Jahren sind WirkungsVerluste eingetreten, weil nicht genügend den gewachsenen gesellschaftlichen Anforderungen an das Niveau dieser Sendungen Rechnung getragen wurde. So wurden im Kinderprogramm über viele Jahre kaum Neuerungen eingeführt, die der gewachsenen Reife, insbesondere auch dem höheren Bildungsstand der Kinder von heute gerecht werden. Die Palette der Figuren ist im Wesentlichen gleich geblieben. Es wurde zu wenig Wert darauf gelegt, Sendeformen zu entwickeln, die in kindesgemäßer Form zum Knobeln, Forschen und Mitdenken anregen, die den Wissensdrang der Kinder befriedigen. Nicht genügend wurden die Anstrengungen des BRD-Fernsehens beachtet, durch moderne Gestaltungsformen die Wirksamkeit der Sendungen zu erhöhen”^ (Hervorhebungen, D.W.).

1 Stock, 1995,43. 2 Bestand Büro Joachim Herrmann, zitiert nach: König, 1999. Frau König verdanke ich viele 90 Dieter Wiedemann

Wegen dieser Wirkungsverluste sollten die Programme des “ideologischen Gegners“ ständig beobachtet werden: “Es ist eine ständige Analyse der Vorhaben der Femsehanstalten der BRD zu sichern, damit rechtzeitig offensiv geeignete Konterprogramme gestaltet werden können.”3 Auswirkungen dieser Wirkungskonkurrenz auf das eigene Programm äußerten sich aus der Sicht des langjährigen Chefdramaturgen des DDR-Kinderfemsehens u.a. folgendermaßen: “Das Bestärken von Wohlbefinden, Geborgenheit und Zukunftsgewißheit in der Gesellschaftsordnung einerseits und die Herausforderung andererseits, Einflüsse des ‘West’femsehens abzuwehren, indem man die Zuschauer an das eigene Programm binden wollte, ergaben einen auf die Dauer nicht lösbaren Widerspruch. Der Druck auf immer größere Attraktivität führte unaufhaltsam zu Prinzipien­ verlusten, Zugeständnissen und Unverbindlichkeit. Unterhaltsamkeit, Spiel und Spaß sowie insgesamt ‘Erlebnisfahigkeit’ wurden immer dringlicher zu maß­ gebenden Programmkriterien erklärt...”4 Wie groß dieser Druck tatsächlich war, lassen weiter hinten aufgeführte Forschungs­ ergebnisse des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig aus den achtziger Jahren erahnen, die zeigen, dass die Lieblingssendungen der Schülerinnen in der DDR in dieser Zeit fast ausnahmslos im bundesdeutschen Fernsehen gesendet wurden! Insofern kann sich eine zukünftige Erforschung dieser Genres nicht nur auf die “Werke” (Fernsehfilme, Abendgrüße, Magazine usw.) des DDR-Femsehens konzentrieren, es muss immer auch um ihre Produktionsvoraussetzungen und die allgemeinen und speziellen Rezeptions­ bedingungen gehen. Eine wesentliche Determinante der Rezeptionsbedingungen für Kin­ der in der DDR war das Aufwachsen mit bzw. in zwei politisch unterschiedlichen Me­ dienwelten, die allerdings thematisch und formal nicht erst in den achtziger Jahren sehr stark konvergierten. Dennoch erfreuten sich Kindersendungen des DDR-Femsehens beim Zielpublikum - insbesondere bei dem im Vorschulalter - durchaus großer Beliebtheit, wofür Ergebnisse medienbiografischer Interviews (vgl. hierzu u.a. Bier, Marcus5 und Hackl, Christiane6), aber auch die sporadisch bekannt gewordenen Daten der Zuschauerforschung sprechen: “Für 1988 ist folgende Sehbeteiligung ausgewiesen: Kinder im Vorschulalter sahen durchschnittlich zu 40% das ihnen zugedachte Programm - auf das Sandmännchen entfielen 67%; Kinder im Unterstufenalter (6 bis 9 Jahre) widmeten sich ihren Sendungen zu 20% - die Flimmerstunde erreichte im Mittel 40%; Kinder im Mittelstufenalter machten von dem einschlägigen Angebot zu 10% Gebrauch....”7 Der Fernsehempfang wurde bei DDR-Kindem durch den Umstand begünstigt, dass nach Untersuchungen des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, Mitte der achtziger

Anregungen für diesen Beitrag. 3 Ebenda, 43. 4 Ebenda, 43. 5 Bier. In: Hickethier, 1993. 6 Hackl, 1999. 7 Stock, 1995,59. Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 91

Jahre bereits 21% der Schülerinnen in dritten Klassen und mehr als 30% in achten Klassen einen Fernsehapparat zur freien Verfügung hatten und das Fernsehen mit mehr als 90% Zuwendung die beliebteste Form kultureller Freizeitgestaltung war. Kindersendungen im DDR-Femsehen wurden von den Verantwortlichen schon relativ frühzeitig als eine wichtige Form der Zuschauerbindung an das eigene Programm entdeckt und entwickelt. Auf diesen interessanten Aspekt des Kinderfemsehens in der DDR, dass nämlich der DFF bewusst das Prinzip des audience flow nutzte, hat Karolus Heinz Heil bereits 1967 aufmerksam gemacht. Mit einer geschickten Programm­ gestaltung wurde versucht, “...die agitatorisch-propagandistische Absicht... zu kaschieren und die Erwartungen und die Kritik der Zuschauer gewissermaßen zu unterlaufen. Die Methode bestand ... im Wesentlichen - in einer so dichten Aufeinanderfolge von beliebten Unterhaltungssendungen und politisch-ideologischen Sendungen, dass der Zuschauer fast notgedrungen beide aufnehmen mußten, zum anderen - in der Transponierung agitatorisch-propagandistischer Gehalte in die Ebene der Unterhaltung, der Einarbeitung des politisch Lehrhaften in Unterhaltungsstücke, Femsehspiele, Kriminalserien, Kindersendungen usw.”8 Problematisch an dieser Feststellung ist allerdings, dass sowohl den Zuschauerinnen wie auch den Produzentlnnen nur eine passive Haltung zugebilligt wurde. Eine aktive Haltung voraussetzend, könnte man schlussfolgern: Die Femsehmacherlnnen versuchten offensichtlich sowohl die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Zuschauerinnen als auch die ideologischen Vorgaben der Auftraggeber zu befriedigen. Dies meint gleichermaßen den medial vermittelten Versuch, Kinder und dadurch auch ihre Eltern dauerhaft an das System zu binden, wie auch, Kinder und Eltern beim Programm des DDR-Femsehens zu halten, weil man von dessen Bindungskraft überzeugt war. Die narrativen Kinderprogramme des DDR-Femsehens - es handelt sich hierbei um ca. 500 Eigenproduktionen (Märchenverfilmungen und Studioinszenierungen, Verfil­ mungen von Gegenwartsliteratur und von Originalstoffen, Filme für bestimmte Anlässe und solche fürs “Normalprogramm” etc.) sowie um etwa 150 Theaterübemahmen - waren Bestandteil des Gesamtangebotes an Kindersendungen und das betrug 1955 =47 Stunden, 1960 = 267 Stunden, 1965 = 194 Stunden, 1970 = 383 Stunden (also erstmalig durchschnittlich mehr als eine Stunde pro Tag!), 1975 = 404 Stunden, 1980 = 444 Stunden, 1985 = 580 und 1988 = 607 Stunden. Diese Programme waren, wie andere Programme auch, in das Gesamtgefüge des Staatsfemsehens in der DDR eingebunden und gleichzeitig Gegenstand eines besonderen politischen und pädagogischen Interesses. So gab es z.B. bereits in den sechziger und beginnenden siebziger Jahren pädagogisch bzw. erziehungstheoretisch orientierte Qualifizierungsarbeiten mit empirischen Erkundungsstudien zur Nutzung des (Kinder-) Fernsehens durch (ältere) Kinder.9 Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Belegen für die besondere “Fürsorge” der Partei- und Staatsführung dem Kinderfemsehen gegenüber.

8 Heil, 1967, 80ff. 9 u.a. Beckert, 1967; Kahl, 1974. 92 Dieter Wiedemann

Umgesetzt wurden solcherart “Anregungen” dann in “langfristige Konzeptionen”, in denen z.B. für den Zeitraum 1980 bis 1982 die folgenden “Hauptaufgaben” formuliert wurden: “1. Der heranwachsenden Generation ist zu helfen, sich einen festen Standpunkt, eine aktive Haltung zu ihren staatsbürgerlichen und internationalistischen Pflichten anzueignen. 2. Die Herausbildung des materialistisch-dialektischen Weltbildes bei den Kindern ist zu unterstützen. 3. Die Entwicklung des moralischen Bewußtseins und Verhaltens ist zu fördern. 4. Der heranwachsenden Generation ist zu helfen, sich auf die Meisterung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts vorzubereiten, ihr Verständnis für Probleme der Wissenschaft und Technik zu vertiefen und das Interesse, Bedürfnis und die Fähigkeit auszuprägen, sich aktiv mit diesen Fragen auseinander zusetzen. 5. Die kulturellen Ideale und Wertmaßstäbe, die künstlerischen Interessen und Aktivitäten bei den Heranwachsenden sind weiter zu fördern....”10 Zu Beginn der siebziger Jahre lasen sich die konzeptionellen Hauptaufgaben noch folgendermaßen: “Entsprechend den Leitlinien des DFF hat das Kinderfemsehen innerhalb des Gesamtprogramms dazu beizutragen, dass sich die Mädchen und Jungen einen festen Klassenstandpunkt aneignen, ihre ganze Persönlichkeit, ihr Wissen und Können, Fühlen, Wollen und Handeln für den Sozialismus, für die allseitige Stärkung der DDR einzusetzen und ein von Optimismus, Freude und Frohsinn erfülltes Leben zu führen... Es gilt, die Dialektik zu meistern, hohen sozialistischen Ideengehalt mit Massenwirksamkeit zu verbinden.”11 Bemerkenswerterweise standen in den “offiziellen” Konzeptionen Ideologie und Erziehung immer im Zentrum und die Kultur eher am Rande. In den jeweiligen femseh- spezifischen “Umsetzungen“ standen aber femsehästhetische Darstellungen von “Kind­ heiten in der DDR” für Kinder in der DDR meist im Mittelpunkt. Außerdem wurden die dramatischen Produktionen des Kinderfemsehens sowohl in Kooperation wie in - auch femsehästhetischer - Konkurrenz zu den anderen dramatischen Abteilungen des Fern­ sehens der DDR wie auch zur Kinderfilmproduktion der DEFA und insbesondere in Kon­ kurrenz zu den Kinderprogrammen des bundesrepublikanischen Fernsehens hergestellt. Daraus folgt, dass eine Analyse des Kinderfemsehens in der DDR vergleichend besonders auf die folgenden Bereiche konzentriert sein muss: - Erzähl- und Darstellungsstile in fiktionalen Programmen für Kinder in Ost und West, z.B. Verhältnis von realistischen versus phantastischen Erzählweisen (fantasy- Erzählweisen), -perspektiven und -Stilen in den verschiedenen Etappen der Femseh- geschichten; - soziale Einbettung der Figuren, z.B. alleinerziehende Mütter oder Väter, “Klassenzugehörigkeit” der Herkunftsfamilie, Land oder Stadt etc.; - Auswirkungen des generationsübergreifenden Arbeitens von Kinderautorinnen,

10 Herde, 97. 11 Stock, 1995,51. Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 93

-regisseurlnnen, -darstellerlnnen in Produktionen für Erwachsene auf die Kinder­ produktionen: Entwicklung kindspezifischer Erzähl- und Darstellungsweisen in ost- und westdeutschen Kindersendungen; - Femsehästhetische Innovationen in den verschiedenen Produktionsabteilungen in ihren Auswirkungen auf das Kinderfemsehen in Ost und West. Die hier skizzierten Analyseschwerpunkte bedürfen einer wertenden Einordnung durch analytische Betrachtungen zu einflussreichen - bezogen auf das Kinderfemsehen verstanden auch im Sinne impliziter Theorien - entwicklungspsychologischen, bildungs- und familienpolitischen sowie pädagogischen Strömungen von den fünfziger bis in die achtziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Dadurch ist rekonstruierbar, inwieweit gesellschaftliche Diskursbegriffe wie “Massenmedien und ideologische Erziehung”, “polytechnische Bildung”, “internationa­ listische Erziehung” oder “Kinder als emotionaler Wert” einerseits und “Schülereman­ zipation”, “Habitusreproduktion” und “Entritualisierung von Erziehung” andererseits, um nur einige den jeweiligen Diskurs bestimmenden Begriffe zu nennen, von Relevanz für Inhalte und Formen des Kinderfemsehens waren. Als ein Beispiel sei an dieser Stelle aus einem Diskussionsbeitrag des Psychologen Hans-Dieter Schmidt, zum Thema “Das Bild des Kindes - eine Norm und ihre Wirkungen“ zitiert: “Was bedeutet ‘Bild des Kindes’? Im Grunde etwas sehr Einfaches, herzuleiten aus Antworten auf Fragen wie diese: Über welche Potenzen des Fühlens, Urteilens und Einsichtnehmens verfügt das Kind? Wo steht es innerhalb der Wertordnung unseres Lebens, welchen Werten ist es über-, welchen untergeordnet? Welche Rechte sollen wir Kindern einräumen, welche Pflichten sind ihnen zuzumuten? Wodurch wird die kindliche Entwicklung erzeugt, was treibt sie voran? Worauf müssen wir Kinder vorbereiten, damit sie eines Tages die Welt verwalten, die wir ihnen hinterlassen?...” Und weiter, an Künstlerinnen gerichtet:

“Welche Bedürfnisse und Ansprüche des Kindes sind es, die so oft unter den Tisch fallen? Wer die kindliche Verhaltensentwicklung unter dem Aspekt der Konflikt- und Angstphänomene studiert, lernt sie kennen: Es handelt sich um den unbändigen Bewegungsdrang, um das Bedürfnis nach engem Körperkontakt, und um die damit verbundene Neigung, sich an wenige sogenannte Bezugspersonen sozial und emotional zu binden. Diese Bindung ist die Voraussetzung für das, was manchmal ‘Nestwärme’ genannt wird. Sie ist enorm wichtig für den Schutz des Kindes - angesichts der Unsicherheits-, Gefahrdungs- und Bedrohungserlebnisse des intellektuell noch unreifen und also oft ratlosen Kindes. Schutz durch Bindung - das ist die Basis für Wagnisse des Aufgreifens, Begreifens und Gestaltens der Umwelt...”12 Solche Überlegungen stellten in der fast vierzigjährigen Geschichte des DDR- Kinderfemsehens zwar in den “offiziellen”, d.h. veröffentlichten Konzepten, wohl eher eine Ausnahme dar, im Denken vieler Programmmacherinnen waren sie aber häufig bestimmend, d.h. programmtragend.

12 Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR, 1982, 6f. 94 Dieter Wiedemann

Dies war wahrscheinlich nicht immer so, was sicher auch medien- und politik­ geschichtliche Ursachen hat. In diesem Zusammenhang ein kurzer und unvollständiger Abriss zur Geschichte des Kinderfemsehens in der DDR: Im Juni 1952 begann eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von journalistischen Sendereihen für Kinder und Jugendliche. Am 21.12.1952 - dem 73. Geburtstag der langjährigen Politikone in der DDR: J.W. Stalin - ging der Deutsche Fernsehfunk auf Sendung, vorerst zwischen 20.00 bis 22.00 Uhr. Die erste speziell für das DFF geschriebene und produzierte Kindersendung wurde im April 1953 als fünfzehnminütige Direktübertragung ausgestrahlt, insgesamt gab es 1953 mehr als sechzig Erstsendungen für Kinder Am 6. Juni 1954 war das erste Femsehspiel für Kinder: “Mein Schulfreund“ (nach einem sowjetischen Kinderbuch) zu sehen. Für die Mitarbeiterinnen, die vom Theater, vom Hörfunk, vom Film, von der Presse oder aus der Volksbildung kamen, hieß das: Aufbauen und Ausprobieren, also leaming by doing. Noch gab es keine Absolventlnnen von der Deutschen Hochschule für Filmkunst, die erst im November 1954 gegründet wurde, und kaum jemand hatte Erfahrungen mit den technischen Möglichkeiten des neuen Mediums, was allerdings weder ein spezifisches Problem des Kinderfemsehens noch des Femsehens in der DDR überhaupt war. Am 3.11.1958 startete mit “Karli Kurbels Flimmerkiste”, die ab 14.9.1959 in die Film­ präsentation “Bei Professor Flimmrich” aufging, eines der beliebtesten Programmformate für Kinder im DDR-Femsehen: Eine kommentierte Spielfilmpräsentation, mit der Gene­ rationen von Kindern mit der nationalen und osteuropäischen Kinderfilmproduktion be­ kannt gemacht wurden. Am 8.11.1959 hatte die erste Gemeinschaftsproduktion des DFF mit dem Tschecho­ slowakischen Fernsehen Premiere: Die Serie hieß “Clown Ferdinands Abenteuer”, eine Figur, die 30 Jahre lang mehrere Kindergenerationen begleitet hat. Die erste ausländische Femsehfilmserie für das Kinderprogramm war allerdings - und das ist durchaus bemerkenswert für den damaligen Deutschen Fernsehfunk (DFF): “Die Abenteuer des Robin Hood”, ausgestrahlt ab 1.12.1963. 1964 erhielt die Abteilung den Status einer Hauptabteilung mit den Redaktionen: Kinderfemsehen, Jugendfemsehen, Für Junge Leute13, Kinder- und Jugenddramaturgie und Bildungspolitik. Wenige Jahre später wurden so genannte Großeinheiten gebildet, die bis zum Ende bestehen blieben: Kinderfemsehen wurde nun im “Bereich Kinder, Jugend, Bildung, Sport” realisiert. In den folgenden 20 Jahren kam es immer wieder zu Veränderungen innerhalb der Bereichsstruktur. Hans Joachim Stock sieht einen wesentlichen und wichtigen Einschnitt 1969, als die Hauptabteilung in zwei Hauptabteilungen aufgespalten wurde: HA “Kinder­ femsehen” (ab 1973 dann “Kinder- und Schülerfemsehen“) und HA “Jugendfemsehen”.

13 Die DDR hatte die Jugend als ideologische “Zielgruppe” entdeckt: Es gab “Jugend­ kommuniques” der SED-Führung, aber auch ein “Deutschlandtreffen der Jugend” und nicht zuletzt ein zwar reglementiertes aber durchaus forschungsfreundlicheres Interesse an empiri­ schen Studien zum Thema Jugend. Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 95

“Der Abschied vom langjährigen Attribut ‘Erziehung’ war mit Bedacht gewählt. Man wollte die darin ausgedrückte Gleichsetzung mit Unterricht vermeiden und den Erwartungsanspruch an das Fernsehprogramm nicht mit einem irreführenden Begriff definieren.“14 Dennoch: Das Fernsehen in der DDR war für die Verantwortlichen ein wesentlicher Bestandteil der Systemauseinandersetzung und damit der ideologischen Erziehung und des ideologischen Klassenkampfes. Dies betraf mit besonderer Aufmerksamkeit den medialen “Klassenkampf’ um den Nachwuchs, also die Kinder. Der Intendant Heinz Adameck lobte bereits 1962 aus diesem Grund das Fernsehen in der DDR in einem Artikel in der “Einheit”: “Es [das Fernsehen] hilft ihm [dem Kind], sein Weltbild zu formen und seine Urteilskraft auszubilden. Auch auf die schulischen Leistungen kann das Fernsehen günstig ein wirken. Mit dem Kinderfemsehen nimmt der Deutsche Fernsehfunk gleichzeitig Einfluß auf die Eltern und hilft durch Anregungen und Beispiele bei der Erziehung im Elternhaus.”15 Geschrieben wurde dies in einer Zeit, in der der “Mauerbau” der DDR eine ökonomische Verschnaufpause bringen sollte, gleichzeitig aber in den Kampagnen gegen die Sender der Bundesrepublik, Kinder zum Verrat von Gleichaltrigen oder Erzieherinnen aufgefordert wurden, wenn diese vom “Ochsenkopf’-Sehen16 und -Hören nicht lassen konnten: Schulverweise und andere Diskriminierungen waren ein Ergebnis dieses “ideologischen Klassenkampfes.” Wenige Jahre später führte das berüchtigte 11. Plenum der SED im Dezember 1965 nicht nur zum Verbot von fast einer Jahresproduktion des DEFA-Spielfilmstudios, sondern war auch mit einer fundamentalen Kritik am DFF verbunden: Honecker hatte in seiner Rede u.a., jenen “zugestimmt, die feststellen, dass die Ursachen für diese Erscheinungen der Unmoral und einer dem Sozialismus fremden Lebensweise auch in einigen Filmen, Fernsehsendungen, Theaterstücken, literarischen Arbeiten und in Zeitschriften bei uns zu sehen sind.” Und weiter in Form einer vernichtenden Zensur formuliert: “Es häuften sich in letzter Zeit auch in Sendungen des Fernsehfunks, in Filmen und Zeitschriften antihumanistische Darstellungen. Brutalitäten werden geschildert, das menschliche Handeln auf Triebhaftigkeit reduziert. Den Erscheinungen der amerikanischen Unmoral und Dekadenz wird nicht offen entgegengetreten. Das gilt besonders für den Bereich der heiteren Muse und der Unterhaltung, für einzelne literarische Arbeiten und leider auch für viele Sendungen im ‘DT 64. ”517

14 Stock, 1995, 45. Veröffentlicht 1982 vom Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR. 15 Zitiert nach Heil, 1967. 16 Die Freie Deutsche Jugend startete am 5. September 1961 eine Aktion “Ochsenkopf’, die benannt nach einem Sender des BR an der Grenze zu Thüringen, FDJ-Mitglieder ermunterte, auf den “Westen” gerichtete Antennen zu entfernen. 17 Honecker, 1966, 57. 96 Dieter Wiedemann

Sendungen des Kinderfemsehens waren hier nicht genannt, dennoch: obwohl im Unterschied zur DEFA keine konkreten Werke angeführt wurden, war klar, dass Honecker u.a. nicht nur Fernsehfilme wie “Monolog eines Taxifahrers“ (Regie: Günter Stahnke) und “Fetzers Flucht“ (Regie: Günter Stahnke) im Auge hatte und nicht zuletzt darauf vertrauen konnte, dass der für die DDR typische “vorweggenommene Gehorsam” auch in der Kinderabteilung nicht folgenlos bleiben würde.

Empirische Daten zum Mediengebrauch von Kindern in der DDR

Die DDR hatte, wie zu anderen Formen einer demokratischen Öffentlichkeit, in den vierzig Jahren ihres Bestehens auch ein gestörtes Verhältnis zur empirischen Sozial­ forschung. Öffentliche Meinung in der DDR war das, was die Staatsmacht als solche deklarierte; empirische Annäherungen an das tatsächliche Stimmungs- bzw. Mei­ nungsbild in der Gesellschaft waren nicht bzw. durften nicht Bestandteil des öffentlichen Diskurses sein. D.h., DDR-Bürgerinnen konnten nicht nur nicht in ihrer Tageszeitung überprüfen, ob ihre Femsehnutzung vom Vortag dem der quotenbestimmenden Femseh- nutzerlnnen entsprach; es fehlten Ihnen überhaupt statistische Daten zu Meinungs-, Nutzungs- und Besitzverteilungen in der Gesellschaft. Die methodisch durchaus aufwendigen und finanziell in der Regel gut ausgestatteten Qualifizierungsaktivitäten an Bildungseinrichtungen sowie die empirische Studien der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, des Zentralinstituts für Jugendforschung und der Zuschauerforschungen des DDR-Femsehens und -Rundfunks unterlagen stren­ gen Geheimhaltungsvorschriften. Außerdem war der Glaube an die Beweiskraft von Statistiken in der DDR durch die Erfahrungen mit manipulierten Wahlergebnissen und Wirtschaftsdaten ohnehin nicht gut entwickelt. Im Zentrum der folgenden Darstellungen sollen Ergebnisse zur Femsehnutzung von Schülerinnen in der DDR aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren stehen. Eine Intervallstudie des ZIJ, beginnend bei etwa 1300 Leipziger Schülerinnen aus 3. Klassen (also neun- bis Zehnjährigen) erbrachte 1985 die folgende Hitliste an Lieblings­ sendungen im Fernsehen (offene Frage): 21% der Nennungen betrafen Unterhaltungssendungen, z.B. “Die verflixte 7” (ARD), “Wetten, dass?” (ZDF), “Donnerlippchen” (ARD), die Mehrheit bezog sich auf Angebote des bundesdeutschen Fernsehens; 22% auf Kindersendungen, z.B. “Spaß am Dienstag” (ARD), “Na, sowas!”, “Alles Trick”, “Biene Maja” etc., auch hier ein sehr hoher Anteil an Angeboten des BRD-Femsehens; 28% auf Serien, z.B. “Simon & Simon” (ARD), auf diese Serie entfielen mehr als die Hälfte aller Serien- bzw. 16% der Gesamtnennungen. “Neumanns Geschichten” (DDR-Femsehen), “Tom und Jerry”, “Pan Tau” und “Schwarzwaldklinik” und 67% auf Spielfilme mit dem eindeutigen Favoriten “Winnetou” (37% aller Nennungen und Mehrheit der Spielfilmnennungen). Ein Jahr später favorisierten die gleichen Kinder die folgenden Femsehangebote: “Spaß am Dienstag”, “Verstehen Sie Spaß?”, “Die verflixte 7”, Filme mit Bud Spencer, und “Das Boot” (!). Wiederum dominierten Angebote des BRD-Femsehens, mit einer noch deutlicher werdenden Tendenz zu solchen aus den Abendprogrammen (7 der ersten 10). Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 97

Das heißt: Mitte der achtziger Jahre war die Femsehrezeption von älteren Kindern (9 bis 11 Jahre) nur noch in einem geringen Umfang von Angeboten des Kinderprogramms und schon relativ deutlich von Angeboten des BRD-Femsehens bestimmt (noch deut­ licher zeigte sich diese Entwicklung, den Einfluss westlicher Kinder- und Jugendkulturen betreffend innerhalb ihrer Musikvorlieben). Das heißt “Medienkindheiten” in den achtziger Jahren bedeutete für die Mehrheit der DDR-Kinder: Kindheit in unterschiedlichen Mediensystemen bzw. -weiten. Was letztlich auch bedeutete: Sie wuchsen mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, medialen und wahrscheinlich auch pädagogischen Bezugssystemen auf: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung emigrierte medial allabendlich aus ihrem System, die sozialen Bindungen an dieses System waren dennoch relativ stark. Denn: Konstant, im Sinne von Grunderfahrungen, blieben eigentlich nur die sozialen Bezugssysteme mit ihren durchaus möglichen problematischen Implikationen. Bevor ich weiter auf die damit verbundenen Erfahrungen, Probleme etc. eines so strukturierten Kindseins in den achtziger Jahren eingehen werde, sollen zunächst empi­ rische Daten aus früheren Jahrzehnten dargestellt werden. Anfang der sechziger Jahre gab es in der DDR die ersten Versuche von empirischen Analysen zum Themenkomplex “Schüler und Bildmedien”, zunächst untersucht am Beispiel des Spielfilms (Hämisch 1959 und 1963), denen ab 1964 auch erste Studien zur Femsehnutzung von Schülern folgten. Fritz Beckert hatte 1964 eine erste “Standortbestimmung des Fernsehens im pädagogisch-psychologischen Denken” vorgelegt.18 Im empirisch orientierten Teil seines Beitrags verwies Beckert u.a., darauf - “dass gegenwärtig mindestens 60 Prozent aller Schüler in 4 Femseh-Familien’ leben”; - dass “das wöchentliche Femsehpensum von Schülern der 6. Klasse ... bei 6,9 Stunden (liegt)”; - dass “ernsthafte Probleme... durch die Teilnahme von Kindern an den Abendsendungen des Fernsehens aufgeworfen (werden)”. Im gleichen Jahr erschien eine erste ausführliche Darstellung der “Femsehteilnahme und Femsehgewohnheiten bei Jugendlichen”19, interessanterweise wieder aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt. Auf der Basis einer Befragung von 4486 Schülern aus 4. bis 10. Klassen, konnte der Autor u.a. feststellen, dass - 62% der Schüler “Fernsehteilnehmer” waren; - die durchschnittliche Femsehteilnahme pro Woche zwischen 5.8 (4. Klasse) und 8.2 Stunden (9. Klasse) schwankte; - “eine Femsehteilnahme bis zu 7 Stunden wöchentlich zur Normalstruktur der Freizeitgestaltung eines Schülers unserer Gesellschaft zu rechnen ist”; - “Professor Flimmrich” und “Meister Nadelöhr” bei Schülern der 4. bis 6. Klassen besonders beliebt waren, während bei den älteren Schülern Spielfilme und Unterhaltungssendungen sich einer besonderen Beliebtheit erfreuten;

18 Beckert, 583ff 19 Otto, 1964, 10-22. 98 Dieter Wiedemann

- sich diese Tendenzen auch in den ermittelten Sehbeteiligungen für ausgewählte Femsehangebote widerspiegelte: “Professor Flimmrich” zwischen 5.2% (9. Klasse) und 43.5% (4. Klasse) Sehbeteiligung; Bunte Unterhaltungssendungen zwischen 11% (6. Klasse) und 69.5% (9. Klasse); “Für den Filmfreund ausgewählt” zwischen 2.6% (4. Klasse) und 50% (10. Klasse); - “im Durchschnitt 14 Prozent aller Schüler, die die Möglichkeit des Fernsehens besitzen, täglich die Aktuelle Kamera (verfolgen)”. Eine Untersuchung von Rolf Kahl20 bei 500 Schülern aus 7. und 8 Klassen (wiederum im Bezirk Karl-Marx-Stadt) zeigte ähnliche Nutzungsdaten: Bei Professor Flimmrich erreichte 58%, Zu Besuch im Märchenland 45% und das Sandmännchen 21%, während die untersuchten Filme wiederum über diesen Werten lagen. Bestätigt werden diese Nutzungs- und Beliebtheitsdaten außerdem in einer methodisch interessanten Studie von Rolf Böhme21, die ebenfalls vom Institut für Pädagogik an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt realisiert wurde. Zu Beginn der siebziger Jahren bricht die gerade angefangene Tradition in der Veröffentlichung und Diskussion empirischer Daten zum Femsehgebrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR bereits wieder ab. Teilweise wird auf die weniger kritisch beäugte Kinonutzung bzw. auf die “Schubkastenforschung” ausgewichen, zumindest durften die entsprechenden Forschungsergebnisse des Zentralinstituts für Jugend­ forschung in Leipzig und auch die - weniger kontinuierlich erhobenen - der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften nicht bzw. nur stark gefiltert und verschleiert veröffentlicht werden.

Kinderfemsehen in der DDR: Von der Ästhetik des Gewünschten zur Ästhetik des Wünschenswerten?

Im ersten Teil meines Beitrags waren die Themenkomplexe “ideologische Zielvorstellungen” für und “direkte und indirekte Einflussnahme” der SED auf das Kinderfemsehen schon kurz skizziert worden. Das Wissen um diese Zielvorstellungen und Beeinflussungsversuche führte in Abhängigkeit von “politischen Großwetterlagen”, aber auch von individuellen Übereinstimmungen oder Distanzierungen von solcherart Zielvorstellungen bei den Macherinnen zu sehr unterschiedlichen Reaktionen. Die Suche nach Gestaltungsräumen für versteckte Botschaften spielte hier ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach einer (femseh)ästhetischen Erziehung der Kinder. Der Ehrgeiz, einfach gute Sendungen zu machen, war ebenso vertreten, wie der Glaube, in einer besseren Gesellschaft zu leben und dieses Kindern auch vermitteln zu müssen. Hinzukommt, dass sich das Kinderfemsehen der DDR immer auch den durch die Kinderangebote der DEFA-Studios geschaffenen Maßstäbe und gesetzten Erwartungen stellen musste. So gingen 12 der 20 von den Fachjurys während der sechs zwischen 1979 und 1989 vergebenen “Goldenen Spatzen” an die DEFA-Studios und nur 8 an das Fernsehen (kein

20 Kahl, 1968,44-60. 21 Böhme, 61-81. Medienkindheiten zwischen „Sandmännchen“ und „Sesamstraße“ 99

einziger Spiel-/Femsehfilmpreis übrigens). Und auch von den 24 Preisen der Kinderjurys gingen 16 an die DEFA-Studios und “nur” 8 an das Kinderfemsehen (hier waren aller­ dings vier Fernsehfilme vertreten!). Bemerkenswert hoch war in diesem Zusammenhang die Anerkennung der vom Fernsehen produzierten Dokumentarfilme für Kinder. Auch in der DDR-typischen institutionellen Auszeichnungshierarchie wurde das DDR-Kinderfemsehen erst relativ spät für höhere Weihen entdeckt (1978: “Vater­ ländischer Verdienstorden” in Gold). Es wird Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, die Frage nach einem eigen­ ständigen ästhetischen Stil des Kinderfemsehens der DDR und nach dessen Ausdrucksformen (Bildsprache, Erzählhaltungen etc.) zu beantworten. Dabei muss auch eine Diskussion darüber geführt werden, inwieweit spezifische Femsehformate überhaupt ästhetische Entwicklungen ermöglichen bzw. zulassen können. Femsehhistorische For­ schung kann insofern nicht losgelöst von Produktionsbedingungen und institutions­ inhärenten Parametern erfolgen.

Literaturverzeichnis

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Anschrift des Autors. Dieter Wiedemann Hochschule für Film und Fernsehen „ Konrad Wolf ‘ Marlene-Dietrich-AUee 33-34 14482 Potsdam e-mail: d. wiedemann@hff-potsdam. de