Von Der Rettungsanstalt Sonnenbühl Zum Schulheim Elgg Schulheim Elgg 1
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150 Jahre 1863 bis 2013: Von der Rettungsanstalt Sonnenbühl zum Schulheim Elgg SCHULHEIM ELGG 1 KINDER ERLEBEN NICHTS SO SCHARF UND BITTER WIE UNGERECHTIGKEIT. CHARLES DICKENS Standortbestimmung: Bezugspunkte einer 6-7 langen Heimgeschichte Vom Sonnenbühl nach Elgg: Aus der Geschichte des 8-15 Schulheims Heimgeschichte(n): Fünf Ehemalige und ein 18-29 Heimleiter erinnern sich Ein Heim stellt sich vor: Interne Schule, Freizeitaktivitäten und 32-37 Arbeitsagogik Ein Heim stellt sich vor: Aufsuchende Familienarbeit 38-39 und Therapie Ein Heim stellt sich vor: Sozialpädagogische Familie, Lehrlingswohnen und 40-45 Wohngruppen Wie wir leben: Vier Jugendliche erzählen 48-55 aus ihrem Alltag Dank an Freunde und Gönner 56-57 Ausblick des Gesamtleiters LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER Der Regenbogen als farbenprächtiges Wetterphänomen passt gut zum Schulheim Elgg. Er lässt sich nur beobachten, wenn Sonne und Regen aufeinander prallen – zugleich aber verbindet er diese Gegensätze, schlägt einen Bogen zwischen dunkel und hell. Ein schönes Symbol für unsere Tätigkeit! Auch über den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen liegt oft ein Schatten oder Regen – und unser Ziel ist es, ihnen durch die Betreuungsarbeit auch die sonnigen Seiten zu zeigen. Niemand hätte wohl bei der Eröffnung der „Rettungsanstalt für arme verwahrloste Kinder auf Sonnenbühl“ 1863 gedacht, dass man dereinst auf eine 150-jährige Geschichte würde zurückblicken können. Ein sehr grosser Zeitsprung! In der Phase des technischen Auf- bruchs wurden viele für uns heute selbstverständliche Errungenschaften wie Elektrizität, Telefon, Autos erst entwickelt. Zugleich zeigte die damit verbundene Industrialisierung aber ihre Schattenseiten: Viele Menschen waren den harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der neuen Zeit nicht gewachsen. Leidtragende waren auch die Kinder. Das dicke Eintritts- buch des „Sonnenbühl“ im Archiv des Schulheims Elgg legt in seinen Einträgen ein trau- riges Zeugnis davon ab: „Eltern: Keine“, „Vater: Unbekannt“ oder „unehelich“, steht da oft. Und schon der Name des Heimes spricht eine klare Sprache: „arm“ und „verwahrlost“ waren die Kinder – und wohl oft auch krank und unterernährt. Unsere Festschrift soll Zeugnis ablegen von der Geschichte unserer Institution im Wandel der Zeit. Dafür haben wir auch Zeitzeugen befragt – und nicht immer sind ihre Kindheitser- lebnisse „schön“, ihre Jugenderinnerungen „gut“. Doch wir wollen diese Schicksale nicht ausklammern, denn durch das Verschweigen werden sie nicht ungeschehen. Die Biogra- fien dieser Ehemaligen zeigen aber auch auf, dass sie trotz schlechteren Startbedingungen die Chance hatten, etwas aus ihrem Leben zu machen. Und so blicken sie meist ohne Bit- ternis zurück: Sie verbinden auch schöne Erinnerungen mit ihren Heimjahren und nicht wenige konnten darauf ein geglücktes Leben aufbauen. Dies unseren Jugendlichen auch heute und in Zukunft zu ermöglichen, ist das bleibende Ziel des Schulheims Elgg. Jürg Rohner 5 SEIT 1863 VERWURZELT IN DER REGION Trüllikon WINTERTHUR Bereits in den späten 1850er-Jahren bildet sich hier um Jakob Goldschmid-Peter ein christlich-humanitär geprägter Zirkel wohlhabender Winterthurer, der ab 1862 konkrete Schritte einlei- tet, um die „Rettungsanstalt für arme verwahrloste Kinder auf Sonnenbühl“ zu gründen. SONNENBÜHL „Schneggenbühl“ hiess ursprünglich der abgelegene Hof nörd- lich von Brütten, dessen Kauf am 13. Januar 1862 beschlossen wird. An seiner Stelle entsteht ein Neubau, der im Juli 1863 vom Heimleiterpaar und den ersten Kindern bezogen wird. Heute besitzt das Schulheim an seinem ehemaligen Standort noch eine Blockhütte im Wald, die für Time-outs von Jugend- lichen sowie für die traditionelle Sylvesterfeier genutzt wird. ELGG 1977 erfolgt eine radikale Konzeptänderung: Gesamtleiter Her- mann Binelli verabschiedet sich von der streng evangelischen Grundhaltung und das Heim zieht „vom Waldrand der Gesell- schaft“ mitten ins Dorfleben von Elgg. Gleichzeitig erhält die Institution den neuen Namen „Schulheim Elgg“. Heute befinden sich hier – neben zwei Wohngruppen für je acht Kinder und Jugendliche – Verwaltung, Schulhaus, Arbeitsagogik, Therapieangebote und zentrale Dienste. GUNTERSHAUSEN TG Ehemalige Wohngruppe; die Liegenschaft ist derzeit fremdvermietet. ESCHLIKON TG Wohngruppe für acht schulpflichtige Knaben und Mädchen. HAGENBUCH ZH Wohngruppe für acht schulpflichtige Knaben. WINTERTHUR-HEGI Wohngruppe für acht schulpflichtige Knaben . Winterthur WIESENDANGEN Hier entsteht ein Ersatzbau für die Wohngruppe Hagenbuch, der 2015 fertiggestellt sein wird. Sonnenbühl WINTERTHUR-WALKESTRASSE Wohnung für drei Auszubildende beiderlei Geschlechts ab 16 Jahren, mit stark reduzierter Betreuungsintensität. TRÜLLIKON Sozialpädagogische Familie mit vier Wohnplätzen. Schulkarte des Kantons Zürich, ca. 1920 ca. Zürich, des Kantons Schulkarte 6 Wiesendangen Hagenbuch Winterthur-Hegi ELGG Guntershausen Eschlikon 7 DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER JUGENDHILFE Beitrag von Dr. phil. Hannes Tanner Die „Rettungsanstalt für arme verwahrloste Kinder auf Sonnenbühl“ ist die Vorläuferin des Schulheims Elgg. Sie zählte zu den ersten Schweizer Institutionen, welche sich im Geiste Pestalozzis und aus christlicher Gesinnung um die „Rettung“ bzw. Pflege armer, verwahrloster Kinder bemühten. Wie noch im 18. Jahrhundert mit „Vaganten“ und fahrendem Volk umge- gangen wurde, zeigt die Geschichte von Hans Melchior Vögeli: Seine Mut- ter, eine starke, eigenwillige Frau wird wenige Stunden nach seiner Geburt 1727 als Landstreicherin verhaftet, gebrandmarkt und des Landes verwiesen. Sie gibt den Säugling darauf einem kinderlosen Bauernpaar im Fricktal in Pflege, weil sie nicht für ihn sorgen kann. Als Pflegesohn kommt er für das Erbe des Bauernhofes nicht in Frage. Deshalb schlägt er sich als Zundelhändler in den österreichischen und deutschen Gebieten am Oberrhein durch. Einbruchs- und Diebestouren führen ihn später weit ins aargauische Freiamt, ins Baselbiet, nach Zurz- ach, Winterthur, Schaffhausen und in den Thurgau. Im Jahr 1753 wird Vögeli, mittlerweile Vater von zwei unehelichen Kindern, in Tiengen (Süd- deutschland) mit 26 Jahren kurzerhand zum Tod durch das Schwert ver- urteilt und hingerichtet1. Ob Hans Melchior Vögeli in der Rettungsanstalt Brütten Aufnahme gefun- den hätte, ist fraglich, weil er allein schon die geforderte Kleiderausrü- stung bei weitem nicht hätte aufbringen können: „1 vollständiger Sonn- tags- und ein dauerhafter Werktagsanzug, 6 Hemden, 6 Nastücher, 3 Paar Sommer- und 3 Paar Winterstrümpfe, 2 Paar gute Schuhe. Neues Testa- ment und schweizerisches Kirchengesangbuch. Alles in gutem und sau- berem Zustand. Das Kostgeld beträgt für Knaben Fr. 200.– pro Jahr (1893) und ist in mindestens Halbjahres-Raten voraus zu bezahlen2.“ Kindersterblichkeit im 20. Jahrhundert Die Kindersterblichkeit lag um 1900 im ersten Lebensjahr noch bei 18,4 Prozent (2012: 0,4 Prozent7), sie war also rund 46 mal höher als heute8. Die „Zürcher Jugendhilfekurse“, die 1922, 1924 und 1927 stattfanden, stan- den deshalb stark im Zeichen der Gesundheitsfürsorge: Die gemeinsame Bekämpfung der alarmierenden Kindersterblichkeit vermochte Schlüssel- personen zu mobilisieren , die sich mit aktuellen Problemen des Erzie- hungs-, Gesundheits- und Fürsorgewesens auseinandersetzten und, im Verbund mit angesehenen, nationalen Institutionen wie der „Gesellschaft für Schulgesundheitspflege“, der „Gemeinnützigen Gesellschaft“ sowie der Stiftung „Pro Juventute“ (u.a.), nach wirksamen Lösungen für soziale Probleme suchten. Sie bildeten ein Netzwerk, das für die rasche Entfal- tung der Jugendhilfe von grosser Bedeutung war. Die Fussnoten-Kommentare und ein Verzeichnis weiter führender Literatur finden sich in der hinteren Umschlagklappe, Seite 60 8 VOM SONNENBÜHL NACH ELGG: AUS DER GESCHICHTE DES SCHULHEIMS ● 1857 Jakob Goldschmid-Peter gründet in Winterthur einen christlich- wohltätigen Verein. ● 1862 Dieser kauft für 10 000 Franken nördlich von Brütten den Hof „Schneggenbühl“. Da sich ein Umbau nicht lohnt, wird ein Neubau erstellt. 1860 ● 1863 Feierliche Eröffnung der „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder auf Sonnenbühl bei Brütten“. Erstes Hauselternpaar Meyer-Pfister. ● 1863 Ferdinand Vetter, Henggart, wird erster Präsident des Heimvereins. ● 1874 Pfarrer J. Meili, Wülflingen, wird Präsident des Heimvereins. ● 1875 Das Kostgeld beträgt jährlich 100 Franken. ● 1876 Pfarrer A. Burckhardt, Lindau, wird Präsident des Heimvereins. ● 1882 Sigmund Fäsi, Seuzach, wird Präsident des Heimvereins . 1880 ● 1886 Tod von Jakob Goldschmid. ● 1890 Karl Schönfeld-Beerli, Winter- thur, wird Präsident des Heimvereins. ● 1891 Der Begriff „verwahrloste Kinder“ wird auf Wunsch von Ehe- maligen aus dem Namen gestrichen. ● 1897 Neues Hauselternpaar Waldvogel-Götz. ● 1898 Umbau des westlichen Flügels; Erneuerung von Speisesaal, Küche und Waschküche. ● 1898 Erstmals spendet der Kanton Zürich 160 Franken aus dem „Alkoholzehntel“. ● 1900 Das alte Oekonomiegebäude wird verkauft; neben dem Anstalts- gebäude entsteht eine neue Scheune. 1900 ● 1908 Das Wort „Rettungsanstalt“ wird gestrichen; Namensänderung in „Anstalt Sonnenbühl“. ● 1909 Pfarrer Wilhelm Ryhiner, Winterthur, wird Präsident des Heimvereins. ● 1912 Es wird eine elektrische Beleuchtung installiert. ● 1913 50-jähriges Jubiläum; bis dahin waren rund 280 Kinder im Sonnenbühl untergebracht. ● 1918 Mitarbeitende erhalten 25 Franken (Magd) oder 75 Franken (Lehrerin) Lohn pro Monat. 9 IM ANFANG STAND DAS „SPITTEL“ Die Entwicklung der ausserfamiliären Erziehung in der Schweiz war ein langer Prozess