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Sendung vom 11.09.2006, 20.15 Uhr

Dr. med. Christian Gerhaher Bariton im Gespräch mit Hans Jürgen Mende

Mende: Willkommen, meine Damen und Herren, zum heutigen alpha-forum mit einem jungen Bariton, der in einer erstaunlich kurzen Zeit eine erstaunlich große Karriere gemacht hat, und das auf einem Sektor, auf dem man das normalerweise gar nicht erwartet. Herzlich willkommen, Christian Gerhaher. Gerhaher: Guten Abend, vielen Dank. Mende: Ich bin ja froh, dass Sie nicht auch noch Kammersänger sind, denn um Sie titelgerecht anzusprechen, müsste ich eigentlich schon Professor Dr. Christian Gerhaher sagen. Sie haben nämlich erstens eine Professur an der Musikhochschule und zweitens ein Medizinstudium absolviert, in dem Sie sogar promoviert haben. Erst dann haben Sie sich so richtig auf diesen Opernweg begeben. Heute sind Sie ein Mann, der es schafft, mit Liederabenden Säle zu füllen. das ist etwas ganz Besonderes, denn selbst renommierte Sänger, die Liederabende geben, haben oft Probleme, mehr als die ersten drei Reihen voll zu bekommen. Warum kommen die Leute Ihrer Meinung nach zu Ihnen? Was erwarten die Menschen von Ihnen? Gerhaher: Oh, Sie gehen wirklich gleich in medias res. Ich habe keine Ahnung. Ich denke mir und ich hoffe, dass die Leute erwarten, dem Komponisten und seinen Werken an so einem Abend vielleicht etwas näher zu kommen, als sie das bis dahin möglicherweise sind. Ich sage ausdrücklich "vielleicht", da ich natürlich selbst nicht wirklich weiß, was der Komponist meint. Ich kann nur immer hoffen, dem näher zu kommen. Und das ist meine Hauptarbeit. Wenn wir schon dabei sind, sollte ich vielleicht eine Sache ansprechen, die hier ganz wichtig ist. Der Liederabend ist nämlich ein schwieriges Genre. An sich sind Lieder in der Zeit der Klassik entstanden. Hier fallen einem Namen ein wie Beethoven oder Johann Rudolf Zumsteeg. Zumsteeg war einer der Ersten, der das als Form ernst genommen hat. Aber auch Mozart und Haydn haben viele Lieder hinterlassen. Trotzdem kann man sagen, dass Lieder in dieser Zeit damals eine gesellschaftliche Funktion hatten, die mehr ins Private ging. Das Lied hatte also keine volksliedhafte Funktion: Das war in Deutschland, in der deutschen Lyrik – und von der ging das ja aus – eigentlich eher ein Thema der deutschen Hochromantik, um, wie das z. B. Arnim und Brentano wollten, breitenwirksam werden zu können. Das Lied hatte davor jedoch eine gesellschaftliche Funktion nur in den höheren Kreisen. Man kann sagen, dass hier auch die anakreontische Lyrik, also die Lyrik zwischen Barock und Klassik, eine große Rolle spielt. Das ist bei Beethoven und Mozart ganz ausgeprägt der Fall. Mit anakreontischer Lyrik bezeichnet man Lyrik, die so eine Art von Liebelei und "Liedelei" verbindet. Da geht es um Küsse, da geht es um Briefchen usw., also um lauter so Kleinkram. Das sind daher reine Unterhaltungsdinge. Daraus ist dann das Lied entstanden. Der Eigentliche, der das Lied dann zum Genre gemacht hat, ist Schubert. Nun ist es aber so, dass die Lieder Schuberts zum großen Teil in Zyklen zusammengefasst und auch gerade dadurch bekannt geworden sind. Aber auch die Lieder Schuberts waren lange Zeit dieser Aufführungspraxis verhaftet: Das Ganze war privat und es wurden aus Zyklen, die eigentlich als Ganzes gedacht waren, Teile herausgenommen. Man denke nur einmal an den "Lindenbaum", der sogar als Volkslied verbraten wurde. Mende: Das reicht heute bis zum Handy-Klingelton. Gerhaher: Das stimmt. Die dritte Strophe, wo es heißt "die kalten Winde blasen", wurde immer weggelassen. Da wurde also vieles verändert. Und eigentlich – damit mache ich jetzt natürlich einen großen Sprung – hat erst Dietrich Fischer-Dieskau dieses Genre aufführungspraktisch säkularisiert. Dieser Begriff stammt übrigens nicht von mir, sondern von Frau Lembke-Matt; ich finde ihn jedenfalls sehr passend. Es ist also eines der ganz großen Verdienste von Dietrich Fischer-Dieskau, dass er sozusagen dieses Sentimentalische weggenommen hat, das dem Lied in privaten oder kleinen Gesellschaften anhaftete. Furtwängler sagte z. B.: "Ich bin nicht sentimental, ich bin emotional." – Ich weiß, dass ich hier Furtwängler nicht wirklich wörtlich zitiere. – Um diese Unterscheidung geht es da jedenfalls. Seit Fischer-Dieskau ist klar, dass man das Lied im Konzertsaal aufführen kann. Man hat also einen säkularisierteren, einen emotions-neutraleren und analytischeren Blick auf das Lied. Mende: Das heißt, es ist raus aus der Biedermeier-Stube. Gerhaher: Eigentlich ja. Es wird damit Objekt der Kommunikation, einer Kommunikation auf einer sehr elaborierten Ebene. Man kann sagen, dass es eigentlich eine Art von vokaler Kammermusik ist, wenn man im Konzertsaal Lieder singt. Dieses Erbe hat uns Dietrich Fischer-Dieskau hinterlassen, seit er aufgehört hat zu singen. Das ist nun ungefähr 15 Jahre her. Ich meine zurzeit jedoch zu sehen, dass diese Tradition wieder verschwindet. Das finde ich nicht so gut. Mich stören in der Tat manche Programme, weil sie zu sentimental angelegt sind. Es werden wieder Zyklen aufgelöst, aufgeweicht. Bei Schubert ist das stark der Fall, bei Schumann ist das sogar ganz stark der Fall. Schumann hat nämlich im Vergleich zu Brahms in Opera geschrieben, die er eigentlich auch als solche aufgeführt haben wollte. Daran halten sich heute aber viele Kollegen nicht. Ich glaube jedenfalls, dass diese Art, etwas mit Event schmackhaft zu machen, das halt nicht in aller Munde ist, auch hier Einzug hält – zwar nur auf sehr subtile Weise, jedenfalls aber in schädlicher Weise. Entschuldigen Sie, wenn ich hier gleich mit einem solchen Rundumschlag anfange. Denn der Event in der Klassik ist immer etwas, das gefährlich ist. Man sucht dabei nämlich sozusagen kleine oder auch große Köstlichkeiten heraus, aber das enthält eigentlich den Menschen die Summe der Möglichkeit und auch die Summe der gedanklichen Auseinandersetzung vor. Das ist aber etwas, das die meisten Menschen ziemlich schnell kapieren, selbst wenn sie sonst nicht so viel mit klassischer Musik am Hut haben. Sie denken sich: "Oh, das ist ein Event, da gehe ich hin, das ist bombig!" Aber beim nächsten Mal ist es dann schon wieder derselbe "Käse" und sie sagen sich dann: "Na, so toll ist das jetzt auch wieder nicht! Da gehe ich doch viel lieber ins Musical oder so." Mende: Ein ganzer Zyklus, ein anspruchsvolles Programm macht also Mühe. Derjenige, der dort hingeht, sollte wissen, worauf er sich einlässt. Er muss sich die Mühe machen, sich einzulassen auf das, was da geboten wird. Sind wir heute möglicherweise schon so weit, dass wir uns diese Mühe nicht mehr machen wollen? Gerhaher: Das kann ich nicht beurteilen. Vergleiche mit anderen Zeiten möchte ich hier nur ungern anstellen, aber ich würde unbedingt unterstreichen, was Sie soeben sagten. Eine wirklich sinnvolle und damit auch genussbringende Auseinandersetzung mit diesen Inhalten macht tatsächlich Mühe: und zwar dem Komponisten, demjenigen, der versucht zu erspüren, was der Komponist gemeint haben könnte, also dem Interpreten oder den Interpreten und dann natürlich auch dem Publikum. Das ist wirklich eine komplexe Geschichte. Ich glaube daher, dass es der falsche Weg ist zu sagen, dass Klassik quotenfähig ist. Das ist meiner Ansicht nach erstens überhaupt nicht die Frage. Denn ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss sich – wie gesagt, meiner Ansicht nach, denn so sehe ich das als Laie – ja auch gar nicht die Frage stellen, was quotenfähig ist. Stattdessen hat er einfach einen Bildungsauftrag und darf das senden, was mit Bildung zu tun hat. Insofern ist also die Klassik, wie man sagen kann, etwas Elitäres. Wenn jemand etwas anderes sagt, dann ist er meiner Meinung nach unehrlich. Sie ist aber nicht elitär im Sinne von Geld oder Adel oder ähnlichen Merkmalen, sondern elitär in dem Sinne, dass man Zeit braucht, seinen Geist zu schärfen. Mende: In einem Interview haben Sie es einmal, wie man sagen kann, beklagt, dass die Leute, die in die Liederabende gehen, so etwas wie ein emotionales Vollbad nehmen wollen. Was würden Sie sich denn wünschen vom Publikum, das zu Ihnen in die Liederabende kommt? Gerhaher: Ich habe das freilich in einem konkreten Zusammenhang gesagt, nämlich bezogen auf die "" von , das ja ein sehr spezielles Werk ist. Man kann ja bereits unterschiedlicher Auffassung sein, was es wirklich bedeutet und wie groß der Wert dieses Werks ist. Ich störe mich jedenfalls manchmal am Text bei diesem Werk. Ich finde, dass "Die schöne Müllerin", der vergleichbare von Schubert vertonte Zyklus, einen wesentlich interessanteren Text bietet, und zwar in zweierlei Hinsicht. In der "Winterreise" geht es ja nicht um eine Handlung, die erzählt wird. Das ist zwar eine Reise und damit etwas Direktionales und auch ein Zeitablauf ist im Titel verborgen, aber eigentlich ist das eine Seelenreise. Man kann aber die "Müllerin" damit ganz gut vergleichen, denn auch die "Müllerin" ist ein Seelendrama und der novellistische Aspekt, d. h. die Geschichte, die dort erzählt wird, kann eigentlich in einem oder zwei Sätzen erzählt werden. Da ist ein junger Müller, der ist fertig mit der Lehre, geht auf Wanderschaft und sagt: "So, jetzt geht das Leben los!" Dann sieht er auch schon die Mühle und denkt sich: "Da muss was sein!" Er sieht die Müllerin, die Tochter des Müllers, fühlt in sich eine Sehnsucht und sagt sich sogleich: "Die ist es!" Die Müllerin weiß aber gar nicht, dass da etwas ist. Der junge Müller merkt nach einiger Zeit, dass es da einen Jäger gibt, der mehr Chancen hat. Deswegen bringt er sich am Schluss um und sein Gesprächspartner dabei ist der Bach. Das ist ganz kurz die Geschichte der "Schönen Müllerin". Aber der Text selbst ist sehr kompliziert und erzählt dieses Seelendrama dann doch in einer Geschichte. Bei der "Winterreise" ist das jedoch schwieriger. Da gibt es eine Ausgangslage, die sich zur Endlage hin nicht stark verändert. Es wird immer wieder räsoniert über das eigene Drama und über die eigene Nicht-Stellung in der Gesellschaft – natürlich auch in amouröser Hinsicht. Man hat aber auch das Gefühl, dass das Ganze etwas larmoyant ist in dem Sinne, dass da jemand eigentlich gar keine gesellschaftliche Stellung haben will. Wie auch immer. Schubert hat das 1828 komponiert: Eigentlich ist das aber eine Erzählung über den modernen Menschen. Die Moderne beginnt freilich in einigen Aspekten zu dieser Zeit bereits: bei Beethoven, bei Schumann und vielleicht auch bei diesem Menschen, um den es in der "Winterreise" geht. Das ist jedenfalls etwas, und das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum die "Winterreise" auch heute noch so wahnsinnig beliebt ist und worin sich der moderne Mensch, der ja heute noch existiert, gerne wiederfindet. Dieses etwas existentialistische Grundmelos dieses Zyklus spricht sehr viele Menschen an. Und was mich daran stört, um auf Ihre Frage zurückzukommen, ist, dass man sagt: "Heute Abend gönne ich mir eineinhalb Stunden lang diesen Existentialismus!" Als Sänger muss man das dann bedienen und deswegen auch noch ein bisschen auf die Tränendrüse drücken, damit das richtig blutet und nässt. Ich selbst habe aber mit dieser Situation doch so meine gewissen Probleme und komme daher mit ihr nicht immer so ganz zu Rande. Mende: Wie sehen Sie sich denn als Sänger auf der Bühne? Wie sehen Sie Ihre Rolle, Ihre Aufgabe? Gerhaher: Als Interpret, als Interpret im Sinne von nicht-identifiziert. Ich fände es ganz schrecklich, wenn man sich identifiziert mit dem, was man singt. Das kann man privat tun: Auch als Sänger hat man eine Privatsphäre. Auch auf der Bühne hat man eine Privatsphäre, aber die muss man nicht unbedingt zeigen. Ich finde also, auch auf der Opernbühne sollte ganz klar sein, dass es da eine Distanz gibt. Es ist ja auch jedem klar, dass das eine Bühne ist und dass das nicht Wirklichkeit ist. Genauso sollte klar sein, dass der Darsteller, der Sänger, Schauspieler nicht derjenige ist, den er auf der Bühne verkörpert. Mende: Diese intellektuelle Distanz, wenn ich sie einmal so nennen darf, hat Thomas Mann in seinem "Tonio Kröger" einst sehr schön beschrieben. Er erzählt dabei von einem Schriftsteller, der sagt: "Ich kann im Frühling keine Gedichte schreiben, weil sie dann banal werden. Sie werden einfach zu schmalzig, zu romantisch." Es braucht also – anders als man vielleicht meint – immer eine Abstraktion, wenn man Kunst schaffen will, immer eine Distanzierung vom eigenen Gefühl. Gerhaher: Das finde ich schon. Zumindest in einem gewissen Lebensabschnitt. Ich möchte mich jetzt auf keinen Fall als Sänger mit den Größen der Kunst vergleichen und ich meine auch gar nicht mich persönlich, sondern ich meine den Beruf des Sängers und Schauspielers, also der reproduzierenden Künstler; aber der Vergleich mit Goethe wäre vielleicht doch ganz passend, und zwar aus folgendem Grund. Goethe hat als Schriftsteller eben nicht nur in einer Epoche bleibende Werke hinterlassen. Nicht, dass er Romantiker geworden wäre, aber er war, bevor er Klassiker war, einfach Stürmer und Dränger. Nehmen Sie z. B. das Gedicht "An Schwager Kronos", das ja Schubert ebenfalls vertont hat. Es erzählt eigentlich ganz wenig. Es geht um die Situation, dass einer mit einem rasenden Impetus und Willen und einem riesengroßen Selbstwertgefühl und Sendungsbewusstsein in einer Kutsche sitzt und quasi auch noch den Kutschbock mit der Peitsche traktiert und sagt: "Jetzt fahren wir los, jetzt geht's hinein ins Leben!" Da gibt es Wortschöpfungen und es stolpern die Steine und alles springt durcheinander. Es sitzt also ein unglaublicher Wille im Nacken des Dichters. Was er aber eigentlich will, das wird dort wenig gesagt. Das ist vielleicht etwas, das mit der Jugend eines Schauspielers oder Sängers vergleichbar wäre: Er hat einen unglaublichen Willen und einen riesengroßen Drang, aber die Inhalte sind ihm eigentlich noch nicht Thema. Stattdessen ist die Person Thema. Zu so einer Zeit kann es natürlich vorkommen, dass man sich identifiziert mit dem, was man tut. Man begeht also viele Sünden, wenn man jung ist. Wenn ich mir heute meine Aufnahmen anhöre, die mehr als ein Jahr zurück liegen, dann schalte ich auch lieber aus und denke mir: "Nun, das wird doch hoffentlich noch besser werden!" Oder ich hoffe, dass ich irgendwann einmal altersweise genug sein werde sagen zu können: "Zur damaligen Zeit war das schon richtig." Aber so wie sich einst Goethe in der Klassik quasi niederlassen konnte, um sich dann tatsächlich mit Inhalten zu beschäftigen, sollte auch ein Sänger irgendwann dazu kommen zu sagen: "Ich habe ein distanziertes Verhältnis zu dem, was ich tue, und zwar in dem Sinne, dass das zu einer echten Kommunikation wird: zwischen mir und dem Werk und der Zeit, in der es entstand, und über das Werk auch zwischen mir und dem Publikum oder vielleicht sogar über mich zwischen dem Schöpfer des Werkes und dem Publikum. Es geht mir also darum, dass das eine Art von gehobener Kommunikationssituation wird, in der Themen neu beleuchtet werden, die bereits vor sehr langer Zeit entstanden sind und seitdem immer wieder unterschiedlich gehandhabt wurden. Das ist vielleicht die Grundsituation abendländischer Kunst, dass hier die Themen aus der griechischen Mythologie oder aus dem Alten Testament, also aus einem unglaublichen Fundus stammen können und dass diese Themen immer wieder neu beleuchtet und umgewälzt und kommuniziert werden. Mende: Weil das Ganze sonst vielleicht auch zu individuell wird. Mir hat einmal ein Sänger gesagt: "Wenn eine Partie mich selbst sehr, sehr anspricht, dann wird das leicht rührend, aber nicht berührend. Das heißt, es bleibt bei mir selbst und die Leute sagen, 'Ach Gott, der Arme da auf der Bühne, was der jetzt alles machen muss!' Aber sie fühlen sich selbst nicht wirklich angesprochen in ihrer eigenen Lebenssituation." Gerhaher: Ja, das kann ich nur bestätigen. Ich glaube, es ist auch eine übermäßige Belastung sich selbst gegenüber, wenn man sich zu sehr identifiziert mit dem, was man tut. Und das ist vielleicht sogar in der Tat eine Belästigung für das Publikum, wenn da einer auf der Bühne eine Träne verdrückt, weil ihn das selbst so rührt, was er da macht. Mende: Kommen wir noch einmal zurück auf den Weg zum Lied. Normalerweise ist es ja so, dass die meisten Sänger Opernsänger, Konzertsänger sind und mit dem Namen, den sie sich auf der Konzert- oder Opernbühne gemacht haben, locken sie dann auch das Publikum in den Liederabend. Bei Ihnen war das umgekehrt. Sie sind irgendwie gleich auf die Liederabendbühne gegangen. Gerhaher: Ja, das hing so ein bisschen mit meinem Studium zusammen, das nicht so ganz de lege artis war bei mir. Ich habe zu Beginn meines Studiums gleich meinen Pianisten angehauen und zu ihm gesagt: "Du fängst doch jetzt auch an mit dem Studium. Machen wir doch mal die "' – nur so nebenher!" Dieses Stück hat mich nämlich fasziniert: Ich hatte das ausnahmsweise mal in einem Liederabend mit Hermann Prey gehört. Das war wunderschön. Und deswegen habe ich gesagt: "Das muss es sein! Unter dem machen wir's nicht!" Wir haben das dann auch gemacht: So oft ich abends vom Studium her frei hatte, bin ich hingefahren und dann haben wir ein Lied nach dem anderen durchgekrächzt. Ich wusste natürlich überhaupt nicht, wie das geht. Es ging dann eine Weile besser und dann ging es wieder schlechter usw. Das ist nun auch schon wieder bald 18 Jahre her und seitdem machen wir das halt immer. Wir haben das dann nach eineinhalb Jahren auch aufgeführt: zuerst in einem niederbayerischen Landgasthof in so einem alten Theatersaal und dann immer wieder mal hier und mal dort. Das heißt, wir haben eigentlich ständig neue Programme gemacht: Wir haben jedes Jahr ein ganz neues Programm gemacht. Das war neben dem Studium gar nicht so einfach. Ich musste daran ja auch meine Technik schulen und lernen – so weit man das halt überhaupt lernen kann. Ich weiß auch nicht warum, aber das war die Art, wie ich zur Musik gekommen bin. Als Jugendlicher war das eigentlich so: Wenn ich da im Radio irgendwelche gesungene Musik gehört habe, dann hat mich das eigentlich nicht angesprochen. Es hat mich erst dann wirklich angesprochen, als ich das selbst gemacht habe. Die Oper kam dann erst hinterher dazu. Mende: Hinterher erst. Wir wollen Sie jetzt mal als Opernsänger erleben, und zwar in einer Aufführung der Schwetzinger Festspiele. Das ist ein Ausschnitt aus der "Zauberflöte": Christian Gerhaher als Papageno. (Filmeinblendung: Christian Gerhaher als Papageno in der "Zauberflöte") Mende: Tja, der Papageno. Wie gefällt Ihnen das, wenn Sie das sehen? Gerhaher: Ich habe nicht zugesehen, Gott sei Dank. Mende: Aber Sie haben es gehört. Gerhaher: Ja, nicht schlecht. Das könnte schlechter sein, das könnte aber wahrscheinlich auch noch besser sein. Ich habe keine Ahnung. Mende: Die Oper hat ja den großen Vorteil, dass man dabei ein Kostüm anhat, dass es da ein Bühnenbild und auch eine Inszenierung gibt, hinter der man sich auch verstecken kann – und sich manchmal auch verstecken muss, wenn man mit der Inszenierung nicht d'accord geht. Beim Liederabend stehen Sie jedoch quasi nackt vor dem Publikum: Sie haben zwar einen Frack an oder einen dunklen Anzug, aber es gibt nichts, hinter dem man sich verstecken könnte. Was geht Ihnen denn kurz vor dem ersten Lied, vielleicht bei den ersten Tönen Ihres Pianisten durch den Kopf? Gerhaher: Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Sie meinen, diese Nervosität würde dann verschwinden. Das ist aber nicht so. Manchmal sind ganze Abende schrecklich, weil man sich denkt: "Ich weiß nicht, wie der nächste Abschnitt beginnt! Ich weiß nicht, was da jetzt für ein Text kommt!" Furchtbar! Eine "Müllerin" ist unbeschreiblich schwer, wie ich finde. Da geht also schon sehr viel in einem vor. Das, was Sie beschrieben haben: dass da einer im schwarzen Anzug vor dem Publikum steht und es vor oder hinter ihm sonst nichts gibt – ist in der Tat so. So ist es! Diese Art von mitgefühlter Nervosität habe ich auch, wenn ich in einem Liederabend von jemand anderem bin. Da denke ich mir immer wieder: "Oh Gott, ist das schwer, so ein Liederabend! Das möchte ich selbst eigentlich nicht machen!" Wenn ich das selbst mache, dann befinde ich mich aber Gott sei Dank doch in einer anderen Situation. Man entwickelt in einem Konzert überhaupt so eine Art von Tunnelblick und versucht sinnvollerweise nicht, sich mit den Augen anderer zu sehen, denn das wäre dann zu schwierig, da müsste man dann zu viele Dinge bedenken. Aber sonst kann ich nur sagen: So ein Liederabend ist schon eine kitzlige Sache. Mende: Sie singen die Liederzyklen von Schubert, Schumanns "Dichterliebe" usw. Schaffen Sie es mittlerweile auch mit unbekannteren Programmen, Menschen in den Konzertsaal zu locken? Denn Dietrich Fischer-Dieskau, den Sie ja bereits genannt haben, bei dem Sie auch studiert haben und der neulich hier auf diesem Stuhl saß, auf dem Sie jetzt sitzen, sagte, dass es ihm selbst in seinen besten Zeiten nicht immer gelungen sei, mit unkonventionellen Programmen die Konzertsäle zu füllen. Gerhaher: Sagen wir mal so: Sie sagten vorher, ich sei ein Sänger, der offensichtlich mit Liederabenden noch Konzertsäle füllen kann. Ich kann nur sagen, dass es Konzertsäle sehr unterschiedlicher Größe gibt. Ich trete mit Liederabenden nicht in der Münchner Philharmonie oder im großen Saal des Wiener Musikvereins auf. Das ist so und ich glaube nicht, dass sich das noch ändern wird. Es wird immer nur sehr wenige Sänger geben, die mit Liederabenden solche Säle füllen können – aus welchen Gründen auch immer. Was ist ein unkonventionelles Programm? Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass die Liederabende besser oder schlechter besucht sind als früher, außer bei der "Winterreise": Die "Winterreise" ist gerne ausverkauft, und zwar schon lange vorher. Wie vorhin schon gesagt, ist das aber ein Sonderfall. Ich glaube, man kann auch mit Eisler oder mit Schönberg oder mit verschiedenen unbekannten oder sperrigen Sachen Publikum gewinnen. Ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass das für uns ein besonderes Problem wäre. Schwierig wäre es, wenn man zu viel Hugo Wolf machen würde. Einen ganzen Hugo-Wolf-Abend würde ich persönlich nicht machen. Ich würde ihn, ehrlich gesagt, auch nicht anhören wollen. Ich finde nämlich, Hugo Wolf hat – wenn das jetzt Herr Dietrich Fischer-Dieskau hören sollte, dann möge er mir das bitte verzeihen, denn er schätzt Hugo Wolf sehr... Mende: Er hat ja auch ein Buch geschrieben über Hugo Wolf. Gerhaher: Ich weiß, ich weiß. Hugo Wolf hat nämlich, wenn ich das ein bisschen plakativ ausdrücken darf, einen ganz bestimmten Nachteil: Er macht oft den Musizierenden mehr Spaß als den Zuhörern. Und das ist doch etwas, das man dem Publikum gegenüber freundlich bedenken sollte. Man kann aber auch mit einem ausgesuchten Schubert-Programm, mit lauter verschiedenen unbekannten Liedern von Schubert, ein Publikum verstören. Ich glaube, die einzige Sache, mit der man sich da auseinander setzen kann, ist erstens der Wille des Veranstalters, den man meistens nicht ganz übergehen kann. Zweitens sollte man den echten Wunsch haben, ein passendes Programm zu machen – was allerdings auch oft in den Sternen steht. Denn manchmal macht man Programme und denkt sich: "Das ist perfekt!" Und wenn man dann auf der Bühne steht damit, merkt man, dass es doch nicht so toll ist, wie man gemeint hatte. Oder man macht Programme, bei denen man sich denkt: "Na ja, ob das wohl so ganz richtig ist?" Aber dann klappt das auf der Bühne ganz hervorragend. Da gibt es also sehr viele Variablen, die zumindest ich bis jetzt nicht alle ganz ergründen konnte. Mende: Kommen Sie eigentlich aus einer musikalischen Familie, aus einer Musiker- Familie? Gerhaher: Nein. Mende: Was waren denn Ihre Eltern von Beruf? Gerhaher: Meine Mutter hatte Medizin studiert, hat dann aber ihren Beruf für die Familie aufgegeben. Mein Vater war Unternehmer und Bankier. Mende: Wie kam das dann, dass Sie Sänger wurden? Gerhaher: Der Vater meines Pianisten und Begleiters , der den gleichen Namen trägt, war mein Geigenlehrer. Er leitete aber gleichzeitig auch einen Chor. In diesem Chor war ich dann auch, denn auf der Geige taugte ich nicht besonders viel. Ich bin deswegen in den Chor gegangen, weil ein Klassenkamerad von mir gesagt hatte: "Schau mal, was da für hübsche Mädchen sind. In den Chor gehen wir auch!" Das haben wir dann auch gemacht. Aber sofort hat mir dann das Singen großen Spaß gemacht und es fiel mir auch relativ leicht. So ging das los. Dieser Geigenlehrer hat dann auch von sich aus mal gesagt: "So, in der nächsten Stunde wird nicht gegeigt, sondern da singst du 'Der Tod und das Mädchen'!" Das war das erste Lied, das ich gesungen habe von Schubert mit dem Text von Matthias Claudius: "Der Tod und das Mädchen". Das ist ein wunderbares klassisches Kunstlied. Durch eine entfernte Verwandte bekam ich dann Kontakt zu einem alten Sänger, nämlich zu Paul Kuen. Er dürfte dem älteren Münchner Publikum noch bekannt sein als Charaktertenor hier an der Bayerischen Staatsoper. Er war auch lange Zeit in Bayreuth und an der Met als Wagnersänger, als Charaktersänger, als "Mime", als "David" usw. Zu ihm bin ich dann während meines Studiums immer gefahren: so alle zwei, drei Wochen mal. Ich habe zwei, drei Stunden gearbeitet mit ihm und dann bin ich wieder nach Hause gefahren und habe meinen nächsten Liederabend vorbereitet. So ging das langsam vorwärts. Mende: Das Studium hieß damals aber Medizinstudium, denn Sie haben ja... Gerhaher: Nein, ursprünglich habe ich nämlich Philosophie studiert bei den Jesuiten hier in München. Ich musste aufgrund einer Krankheit nicht zur Bundeswehr. Mir war nach dem Abitur klar, dass ich unbedingt studieren möchte. Da ich kein besonders analytisch begabter Mensch bin, habe ich dann Philosophie studiert. Mir tat das deswegen wirklich ganz gut, zunächst ein bisschen Philosophie zu studieren – obwohl ich da auf Dauer wirklich auf keinen grünen Zweig gekommen wäre. Dafür bin ich einfach ein bisschen zu doof. Aber es hat mir geholfen und es hat mich gebildet. Ich habe also Philosophie studiert, bis ich wusste, dass ich Medizin studieren möchte. Das habe ich dann auch tatsächlich gemacht. Während des Studiums bin ich eben immer wieder zu Paul Kuen gefahren, um bei ihm zu lernen. Nach dem Physikum war es dann so weit, dass ich mir dachte: "Ich sollte das mit dem Singen doch ein bisschen intensivieren." Ich setzte ein Jahr aus mit dem Medizinstudium und ging an die Opernschule der Münchner Musikhochschule. Man durfte damals nämlich kein Doppelstudium machen, weil der damalige Fachbereichsvorsitzende Gesang das nicht erlaubte. Ich dachte mir dann: "Gut, lieber mache ich jetzt aber doch zuerst einmal die Medizin zu Ende, als dass ich die Medizin, in der ich doch schon so weit bin, hinschmeiße und noch ein Gesangsstudium anschließe." Ich habe das dann auch so gemacht. Ich war ein Jahr an der Musikhochschule gewesen und in diesem Jahr ist mir klar geworden, dass ich wirklich Sänger werden möchte. Nach diesem Jahr habe ich aber trotzdem Medizin zu Ende studiert. Am 16. Juni 1998 habe ich mein drittes Staatsexamen gemacht und zwei Tage später, am 18. Juni 1998, habe ich in Würzburg am Theater angefangen. Mende: Promoviert hatten Sie aber nicht über ein Sängerthema. Gerhaher: Ich hatte das zumindest mal vor, das stimmt. Ich hatte eigentlich vor gehabt, in meiner Promotion ein Sängerthema zu bearbeiten: "Atemmuskulatur bei Sängern und Nicht-Sängern". Das wäre zwar sehr, sehr interessant gewesen, aber dazu gibt es offensichtlich bisher keine Literatur. Auch hinsichtlich der Apparate wäre diese Doktorarbeit schwierig geworden. Professor Reinhard Putz, der Vorstand des anatomischen Instituts hier in München, hatte mir dieses Thema eigentlich schon genehmigt. Wir haben dann aber gemeinsam beschlossen, dass dieses Thema wohl doch irgendwie utopisch ist. Ein Freund von mir meinte dann: "Komm, jetzt mach doch schnell was in Handgelenkschirurgie, weil du heutzutage den Doktortitel einfach brauchst!" Damals gab es ja noch die so genannte Medizinerschwemme und man dachte, ein Doktortitel würde einen vielleicht doch etwas mehr qualifizieren, wenn man eine Assistentenstelle haben möchte. Denn so ganz sicher war es ja auch nicht bei mir, dass das mit dem Singen auch wirklich klappen würde. Also habe ich da noch eine Doktorarbeit geschrieben. Mende: Man macht dann schnell mal so etwas: So eine Doktorarbeit macht man ja auch wirklich ganz schnell mit der linken Hand, nicht wahr, vor allem über Handgelenkschirurgie. Sie scheinen ein sehr fleißiger Mensch zu sein. Gerhaher: Nein, vom Naturell her gar nicht. Mende: Wie schaffen Sie das alles dennoch? Gerhaher: Mit Neurosen und Zwang. (lacht) Mende: Wie leben Sie die aus? Gerhaher: Dadurch, das ich meinem Leben – das freut meine Frau gar nicht so sehr – eine äußere Ordnung gebe, um die innere Unordnung zu verbergen. Mende: Darf ich da tiefer bohren? Gerhaher: Wenn Sie wollen. Mende: Ich denke, wir gehen einfach ein bisschen weiter. Ich habe gelesen, dass die erste Partie, die Sie bei diesem Engagement in Würzburg gesungen haben, aus einer Operette war, nämlich aus dem "Zigeunerbaron". Gerhaher: Ja, schrecklich. Mende: Sicherlich ein nettes Stück, aber natürlich nicht für jemanden, der sich schon derart intensiv mit der Literatur und dem Lied beschäftigt hat wie Sie. Haben Sie da Ihre Zweifel bekommen, ob das überhaupt der richtige Beruf ist? Gerhaher: Ja, schon. Ich hatte Zweifel, ob ich es überhaupt aushalten kann, diesen Homonay zu singen. Erstens ist der Homonay eine wirklich schwere Partie: viel zu schwer für mich damals. Zweitens hatte ich damals noch nicht die entsprechende Technik dafür. Und drittens finde ich diese Operette abgrundtief verabscheuungswürdig. Wenn ich Innen- oder Justizminister wäre, dann würde ich diese Operetten bei Gefängnisstrafe verbieten: Ich finde sie ganz entsetzlich. Das ist wirklich eine schreckliche Operette, dieser "Zigeunerbaron". Alle haben immer gesagt, dass das doch schon so durchkomponiert sei und diese Operette bereits auf Wagner hindeuten würde – oder noch von Wagner käme, was weiß ich. Da höre ich mir doch lieber Wagner selbst an, als dass ich so ein mediokres Thema illustriert bekomme. Außerdem findet sich im "Zigeunerbaron" diese schreckliche chauvinistische Attitüde, den Chor immerzu "Die Zigeuner, die Zigeuner kommen..." singen zu lassen, also ein Fest über etwas zu veranstalten, das man sonst als Normalbürger verabscheut: nämlich die Zigeuner und deren Leben. Ich fand das moralisch durch und durch ekelerregend. Ich habe das daher nicht gerne gemacht. Aber ich habe dort ja nicht nur Operette gesungen. Genauer gesagt, habe ich in meinem Leben nur eine einzige Operette gesungen, nämlich diesen "Zigeunerbaron". Ich durfte in Würzburg dann die "Zauberflöte" singen, "Così fan tutte" und auch eine Oper von Salieri. Diese Oper von Salieri war der "Kublai Khan". Das war eine ganz nette Geschichte, denn da war ich ein besoffener Bösewicht, der den Damen auch gerne an den Po gefasst hat. Das war lustig. Mende: Können Sie da auf der Opernbühne Ihre Neurosen so ein bisschen ausleben? Gerhaher: Nein, das versuche ich eben gerade nicht zu tun. Mende: Wie sieht es denn aus mit den Rollen, die Sie gerne mal singen möchten auf der Bühne? Bei den Liederabenden haben Sie ja weitgehend freie Hand, was Sie aussuchen – trotz der Einschränkungen, über die wir vorhin gerade gesprochen haben. Was gäbe es denn an Traumpartien für Sie in der Oper? Gerhaher: Eine Traumpartie, die ich demnächst singen werde, ist der Wolfram im "Tannhäuser". Das wird nächstes Jahr in Frankfurt der Fall sein. Was mir ebenfalls eine wunderbare Musik ist, ist "Pelleas und Melisande" von Debussy. Ich finde, dass das eine ganz eigene Klangwelt ist, die auch keinen wirklichen Nachfolger fand. Vielleicht ist das ähnlich wie bei Schumann. Das ist wirklich eine eigene, märchenhafte Klangwelt, die einen in seinen Sehnsüchten unerklärt lässt, die also wegen dieser Nichterklärbarkeit ihren Zauber bewahrt. Sie fand, wie gesagt, auch keinen wirklichen Nachfolger. Dieser Pelleas wäre also eine Traumpartie für mich. Für spätere Zeiten würde ich mir vielleicht mal den Amfortas wünschen oder den Kurwenal. Die Wagner-Opern interessieren mich nämlich recht stark. Den Grafen im "Figaro" habe ich bereits gesungen: Das ist eine wunderbare Partie. Sie ist vielleicht die schönste Partie für einen Bariton, weil sie so differenziert ist. Mende: Das geht ja bis zur Selbstzerknirschung im letzten Teil, wenn er entdeckt wird. Wenn Sie so Ihr normales Leben betrachten: Worin unterscheidet es sich von einem anderen? Woran würde man, wenn man Sie 24 Stunden lang beobachten würde, merken, dass Sie Sänger sind? Gerhaher: Am Tag des Konzerts oder der Aufführung führe ich ein wirklich seltsames Leben, weil ich mich einfach zurückhalten muss. Ich darf nicht zu viel reden, ich darf nicht zu viel proben. Und ich muss am Nachmittag schlafen. Gut, das hört sich recht angenehm an, aber dieser Schlaf ist eben auch so, dass ich mich hinlege, ich bereits von dieser Nervosität ergriffen werde und mir dann alles Mögliche durch den Kopf geht. Ich denke mir da: "So, jetzt eine Stunde Ruhe und dann aufstehen und dieses und jenes machen..." Das wird alles sehr ritualisiert, um sich die körperlichen Möglichkeiten zu erhalten, die man braucht für einen eineinhalbstündigen Liederabend, der sehr anstrengend sein kann. Ich mache diese Rituale aber auch im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit. Wenn ich mir so eine Art Ritual schaffe, indem ich mir z. B. einrede, unbedingt den rechten Ärmel vor dem linken Ärmel anziehen zu müssen, weil das dann immer gut hingehauen hat, dann ist das zwar vollkommen sinnlos und ein Zeichen von völliger Verblödung, aber ich mache das, weil ich weiß, dass das Gelingen ohnehin nicht in meiner Macht liegt, dass es nicht in meiner Macht liegt, ob ich gut singe werde. Mende: Das ist also dieser äußere Rahmen, um dieser inneren Unruhe Herr zu werden. Gerhaher: Ja, vielleicht. Ich habe das ja vorhin schon gesagt: Ein Liederabend ist etwas sehr Kitzliges. Und für mich wird das auch immer so bleiben. Man trifft nämlich bei einem Liederabend seine Aussagen nicht nur dadurch, dass man die hohen Töne erreicht, oder dadurch, dass man die Wörter, die man zu singen hat, alle weiß. Stattdessen, und das ist vielleicht der entscheidende, der springende Punkt und deswegen habe ich ja vorhin auch von der vokalen Kammermusik gesprochen, stattdessen trifft man seine Aussagen auf klanglicher Ebene. Mende: Sie führen also nicht nur Gedicht und Melodie zusammen, sondern das ist etwas, das darüber hinaus hinzukommt. Gerhaher: Ja, aber das ist nicht etwas, das man selbst erfindet, sondern etwas, das man vielleicht ergründet. Es geht mir darum, dass ich ein "a" in einem Wort so singe, wie es diesem Wort und damit wahrscheinlich auch der Komposition am besten entspricht. Man kann sich ja einem Werk, das man aufführt, auf verschiedene Art und Weise nähern. Man kann sich ihm z. B. biographisch nähern. Das funktioniert bei Schumann oft ganz gut, und manchmal auch bei Schubert; schon bei Bach funktioniert das ganz schlecht. Man kann eben aber ein Werk auch werkimmanent kennen lernen und vielleicht ein wenig interpretieren. Werkimmanent heißt, dass man Verbindungen herstellt, die man dann extrapoliert: So gewinnt man ebenfalls eine Interpretation, die vielleicht nicht ganz unredlich ist. Was mir dabei aber als Konstante immer wieder auffällt, ist die Tatsache, dass man die Sprache, die ein Komponist vertont hat, doch so gut beherrscht sollte, wie das der Komponist auch konnte; das ist jetzt aber eine Auffassung, die ich für mich persönlich vertrete, ich meine das also auf andere Sänger bezogen nicht apodiktisch. Das heißt, wenn ich ein Schubert-Lied auf einen italienischen Text singe, dann muss ich kein perfektes Italienisch sprechen. Ich muss halt Italienisch nur so gut können wie Schubert selbst. Aber wenn ich einen deutschen Text singe, dann ist das etwas anderes. Schubert hatte ein hervorragendes Deutsch und er war auch ein Lyrik-gebildeter Leser und Kenner seiner Zeit. In so einem Fall sollte ich dann schon wissen, was diese Abfolge von Vokalen eigentlich genau bedeutet. Denn um diese Vokale geht es ja eigentlich. Man kann nämlich nicht wirklich verständlich sein durch bloßes "Konsonantenspucken". Die Farbe der Vokale ist das Entscheidende, das, was die klangliche Aussage ausmacht. Man kann daher eigentlich sagen – wenn ich noch einmal so lange reden darf, denn ich muss Sie ja um Entschuldigung bitten, dass ich hier von einem Thema zum nächsten springe... Mende: Das ist schon in Ordnung. Das klingt allerdings doch alles sehr analytisch, obwohl Sie doch vorhin gesagt haben, Sie seien kein analytischer Mensch. Gerhaher: Das bin ich doch nur auf einem ganz kleinen Gebiet! Was mir auffällt ist jedenfalls, dass bei Schubert eigentlich ein Prozess beginnt, der vor ihm negiert worden war. Nehmen Sie als Beispiel Zelter, den großen Goethe- Freund. Mende: Den Goethe erstaunlicherweise auch weitaus mehr schätzte als Schubert als Vertoner seiner Lieder. Gerhaher: Aber eigentlich ist das gar nicht erstaunlich, sondern logisch. Zelter hat sich nämlich diesem Diktum seiner Zeit gefügt, dass man einfach Strophenlieder zu machen hat. Da gibt es auch einen Brief von Goethe an Zelter, in dem er von einer Art "überhöhter Symbolik" schreibt. Denn so ganz konkret kann man nämlich gar nicht sagen, wie denn eigentlich so ein Strophenlied sinnvollerweise aussehen soll oder kann. Gut, es gab natürlich auch schon von Schubert Tendenzen, diese Einfachheit zu verlassen. Das wurde aber immer wieder bekämpft: von E. T. A. Hoffmann, natürlich auch von Goethe usw. Schubert war dann derjenige, der ausgebrochen ist, und zwar nicht revolutionär rebellierend, sondern einfach dadurch, dass er das negiert hat: Er hat das einfach anders gemacht, weil er eben die entsprechende Phantasie dafür hatte. Schubert hat aber am meisten Texte von Goethe vertont. Erst danach kamen dann Gedichte von Müller und Mayrhofer. Und er hat auch zwei Mal Kompositionen von sich selbst an Goethe geschickt. Aber er bekam keine Antwort darauf vom großen Meister. Meiner Ansicht nach hat er sogar logischerweise keine Antwort erhalten. Denn mit Schubert beginnt im Lied eine musikalische Eigenständigkeit an Ausdruck zu entstehen, die die textliche Semantik des vorliegenden Gedichts übersteigt – denn nur ganz selten ist es so, dass einer vorgefertigten Musik ein Text unterlegt wird. Es wird also dem vorgefertigten Text eine Musik übergestülpt, die die textliche Semantik des Gedichts umformt und eine klangliche Semantik schafft. Das hat Schubert geschaffen: Mit Schubert fing das alles erst an beim Lied, denn erst nach Schubert haben das Komponisten wie Schumann, Wolf, Brahms, Mahler auch so gemacht. Goethe konnte das meiner Ansicht nach gar nicht gutheißen. Mende: Weil er das möglicherweise als eine Verfälschung seiner Gedichte ansah? Gerhaher: Ja, natürlich. Er hörte das und merkte, denn er war ja vermutlich auch auf musikalischem Gebiet nicht ganz doof, dass da von seinem Gedicht nicht mehr viel übrig geblieben ist. Mende: Warum lassen sich denn die Menschen vom Gesang so berühren? Sei das nun Popmusik oder Schlager, seien das nun Liederabende oder Oper: Warum ist es der Gesang, der solche Grenzen und Dämme in uns durchbricht? Gerhaher: Das kann ich eigentlich nicht beantworten. Mende: Ich habe ja folgende Erfahrung gemacht: Wenn man in einen völlig anderen Kulturkreis kommt und man dort weder verbale noch nonverbale Kommunikation betreiben kann, dann sind die einzigen Dinge, die man trotzdem immer noch versteht, z. B. weinen und lachen. Und man hört auch sofort, ob ein fröhliches oder ein trauriges Lied gesungen wird. Das Singen ist vielleicht so etwas wie eine Universalsprache. Sie geben ja auch Liederabende im Ausland, wo man u. U. kein Wort Deutsch versteht. Dietrich Fischer-Dieskau war sehr, sehr viel in Ländern, in denen man kein einziges Wort Deutsch verstand. Gerhaher: Ja, vielleicht, das kann gut sein. Aber das würde eben auch diese These unterstützen, dass im Lied eine klangliche Semantik hergestellt wird, die die textliche Aussage weit übertrifft. Denn ich bemerke ja oft, dass Leute, die mit Liedern grundsätzlich nichts anfangen können, permanent mit der Nase im Textbuch hängen und das Ganze vorwärts und rückwärts mitlesen, weil sie meinen, dass sie dann ein Lied besser begreifen könnten. Ich glaube das jedoch nicht: Die Aussagen, die zu verstehen sind, sind meiner Meinung nach klanglich zu verstehen, sie sind als Musik zu verstehen. Das ist aber etwas, das viele Leute nicht glauben: Sie meinen, das sei Schauspielerei, was man da macht, oder reines Rezitieren. Das ist es aber überhaupt nicht: Das ist vokale Kammermusik. Und vielleicht ist die Singerei deswegen den Menschen oft so direkt verständlich, weil sie halt doch relativ unmittelbar ist. Der Weg von der Großhirnrinde bis zum Kehlkopf beträgt halt einfach nur ungefähr zehn oder zwanzig Zentimeter – je nach Stellung. Bis zur Geige ist das halt doch ein bisschen weiter. Mende: Ich möchte jetzt gerne die Chance nutzen, wenn ich schon mal einen singenden Mediziner oder einen medizinisch gebildeten Sänger vor mir habe. Wenn man Ihren Körper quasi in der Hälfte durchteilen würde, was würde man denn an Ihnen als Sänger anders finden als an einem anderen durchgeteilten Körper? Was hat sich da muskulär verändert durch das Singen? Gerhaher: Hm, durch das Singen? Mende: Ein Fußballer hätte z. B. dickere Waden als der normale Mensch. Gerhaher: Ich glaube, dass eine bestimmte Muskulatur am Hals, die den Kehlkopf in bestimmten Stellungen hält, und auch die Muskulatur, die den Rachen offen hält, vielleicht etwas stärker ausgeprägt ist. Vielleicht hat sich aber auch nur die Koordination dieser Muskeln verlangt. Die Atemmuskulatur ist sicher anders in der Koordination als bei Nicht-Sängern. Ob das aber auch morphologisch sichtbar ist, ob also die Muskulatur vermehrt ist, weiß ich nicht. Ich glaube eher, dass das Aktivitäten sind, die bei einem Sänger unterschiedlicher korreliert sind als bei einem Nicht-Sänger. Mende: Sind das eigentlich Dinge, die jeder trainieren könnte? Oder sind das, wenn wir das eigentlich Musikalische mal herausnehmen, ganz einfach Dinge, für die man bestimmte Voraussetzungen mitbringen muss? Gerhaher: Bestimmte Voraussetzungen muss man schon mitbringen, aber ich glaube, diese physikalischen Grenzen stehen doch wesentlich mehr Leuten offen, als man so gemeinhin glaubt. Es haben also wesentlich mehr Menschen diese physikalischen Voraussetzungen, um Sänger werden zu können, als man denkt. Gut, darüber hinaus muss man vielleicht eine gewisse musikalische Begabung auch noch mitbringen. Aber ich selbst halte mich z. B. auch nicht für besonders begabt in musikalischer Hinsicht. Die Begabung wird also meiner Meinung nach oft überschätzt. Denn oft sagen ja Leute zu mir: "Du hast deswegen so eine schöne Stimme, weil dir halt irgendwann einmal ein Engel in den Hals gepisst hat." Ich halte das für Unsinn. Mit aller Bescheidenheit: Ich bin schon der Ansicht, dass der Wille, der klangliche Wille das Entscheidende ist. Mende: Sie haben also eine genaue Vorstellung von Ihrer Stimme und wie sie klingen sollte. Gerhaher: Eigentlich schon, zumindest periodisch. Denn das verändert sich natürlich. Aber ab und zu habe ich schon eine genaue Vorstellung, wie meine Stimme klingen soll. Zumindest weiß ich, was mir nicht passt. Aber ich glaube, dass man für den Klang seiner Stimme, für das Timbre, und das ist ja das, was die Menschen als mehr oder weniger schön empfinden, doch selbst verantwortlich ist – zumindest ab einem gewissen Alter. Das ist eigentlich genauso wie beim Aussehen. Ich glaube, dass diese Aussage, "Du hast halt eine schöne Stimme!", zu kurz greift. Wenn man so denkt, dann macht man es sich zu leicht. Denn man kann ja auch aus klanglichen Gründen technische Unbilden auf sich nehmen. Man kann sagen: "Ich singe hier einfach nicht de lege artis, weil das einfach sinnvoller und schöner ist an dieser Stelle!" Mende: Christian Gerhaher, vielen Dank. Das war ein interessanter Einblick in Ihr Leben, auch in Ihr Denken und Ihre Auffassungen, was das Lied, was die Dichtung betrifft. Alles Gute für die Zukunft, noch viele interessante Lieder- und Opernabende. Ihnen, meine Damen und Herren, auch ein herzliches Dankeschön für Ihr Interesse. Gerhaher: Vielen Dank.

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