11.12.2000

Entscheidende Behörde Unabhängiger Bundesasylsenat

Entscheidungsdatum 11.12.2000

Geschäftszahl 218.706/7-II/04/00

Spruch B E S C H E I D

S P R U C H

Der unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Dr. BALTHASAR gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 38 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997 idF BGBl. I Nr.4/1999 (AsylG), nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung am 12.10.2000, entschieden:

Der Berufung des A. B. vom 25.8.2000 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.7.2000, ZI 00 06.596- BAW,Spruchteil I, wird Folge gegeben und A. B. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt.

Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass A. B. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text B E G R Ü N D U N G

Mit dem angefochten Bescheid wurde der Asylantrag des nunmehrigen Berufungswerbers vom 5.6.2000 gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchteil I) und weiters festgestellt, dass dessen "Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach ... gem § 8 AsylG nicht zulässig" ist (Spruchteil II).

Gegen Spruchteil I dieses Bescheides richtet sich die dem unabhängigen Bundesasylsenat vorliegende Berufung.

Der unabhängige Bundesasylsenat stellte zunächst auf Grund der Aktenlage fest, dass der nunmehrige Berufungswerber am 10.7.2000 vor dem Bundesasylamt zur Person u.a. nachstehende Angaben machte:

"1. Nationale

Name B. Geschlecht männlich Vorname A. geboren am 00.00.1972 AFGHAN Staatsangeh. AFGHAN Volksgruppe Hazare Religion Moslem Familienstand verh Eltern B. H., 60 Jahre und B. F., 56 Jahre

...

7. Beruflicher Werdegang

1. Beruf Lehrer an allg.bildenden höheren Schulen (Mittelschullehrer) von 00.00.1992 bis 00.00.1996 in Ghazni Dienstgeber öffentliche Schule Art der Besch. Lehrer für Zierschrift

8. Letzte Wohnadresse im Heimatland

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Ghazni

9. Militärdienst

1996 bis 1998 in Ghazni / einfacher Soldat" - und sodann seinen Asylantrag wie folgt begründete:

"F: Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen? A: Ich bin Hazare und Shiit. Die Taleban sind Pashtu und Sunniten. Mein Heimatgebiet ist ein Grenzgebiet zu den Pashtu. Im Jahre 1998 kamen die Taleban nach Ghazni und übernahmen das Gebiet. Zwei Monate bevor die Taleban nach Ghazni kamen, bekam der Verwandte meines Vaters, der Kommandant, Gewehre von der Zentrale . Mein Onkel beauftragte mich und drei weitere Soldaten die Gewehre zu vergraben bzw. zu verstecken. Als die Taleban nach Ghazni kamen, übernahmen sie das gesamte Gebiet ohne Widerstand. Irgendwie haben die Taleban bemerkt, dass ich weiss, wo die Waffen versteckt sind. Da mein Vater Handelsbeziehungen mit Pashtunen hatte durfte ich mich bei diesen Leuten verstecken, dies war in G. Die Taleban suchten immer wieder meine Eltern in N. in der Provinz Ghazni um meinen Aufenthalt festzustellen. Da die Taleban von mir wissen wollten, wo die Waffen versteckt seien musste ich meine Flucht antreten.

Einer der Personen welche die Waffen mit mir versteckt hatten wurde von den Taleban verhaftet. Es kann niemand angeben, wo er sich derzeit aufhält bzw. was mit ihm passiert ist.

F: Befindet sich Ihr Heimatort in der Nähe der Hauptstadt Ghazni der Provinz Ghazni? A: Mein Heimatort befindet sich in der Provinz Ghaznie ca. 120 km südwestlich von Ghazni entfernt.

F: Wann wurde die Provinz Ghazni von den Taleban eingenommen? A: Im September 1998.

Vorhalt: Laut dokumentierter Berichte des BAW geht hervor, dass die Provinz Ghazni bzw. die Hauptstadt Ghazni bereits am 24.01.1995 von den Taleban eingenommen wurde. A: Die Provinz Ghazni gliedert sich in zwei Teile. Die Grenze des nördlichen Teiles verläuft ca. 70 km südlich von der Hauptstadt Ghazni . Diesen Teil bewohnen Pashtunen und wurde er im Jahr 1995 von den Taleban eingenommen. Der südliche Teil wird von den Hazare bewohnt und wurde erst im September 1998 eingenommen.

F: Waren Sie Mitglied der Hezbe-e Wahdat und kämpften Sie auch gegen die Taleban? A: Alle Hazare sind Mitglieder der Hezb-e Wahdat. In unserem Gebiet gab es nie Kämpfe mit den Taleban weshalb ich auch nie an Kämpfen teilgenommen habe.

F: Als Sie die Taleban aufsuchten um von Ihnen zu erfahren wo Sie die Waffen versteckt hätten wurden Sie zu Hause angetroffen? A: Ich hielt mich lediglich einmal im Monat zur Nachtzeit in meinem Heimathaus auf daher konnten mich die Taleban niemals antreffen. Die Taleban fanden immer meine Eltern und meine Ehefrau zu Hause vor. Mein Vater wurde sogar einmal von den Taleban mitgenommen und hinsichtlich meines Aufenthaltsortes befragt. Da er jedoch schon ein alter Mann ist ließ man ihm immer wieder frei.

F: Flüchteten Sie nur deswegen, weil die Taleban von Ihnen das Versteck der Waffen erfahren wollten? A: Ja. Zusätzlich erfuhr ich, dass junge Hazare gegen den Krieg von Masoud zwangsrekrutiert werden. Dies war ein weiterer Grund für meine Flucht.

F: Waren Sie nach der Machtübernahme durch die Taleban konkreten Verfolgungunshandlungen ausgesetzt? A: Nein.

F: Wann haben die Taleban erfahren, dass Sie die Waffen versteckt haben? A: Im März 1999 haben die Taleban erfahren, dass ich gemeinsam mit anderen Personen die Waffen versteckt habe. Ich vermute, dass die eine Person welche von den Taleban verhaftet wurde, namens Z., meinen Namen preisgegeben hat.

F: Lebten Sie für die Zeitdauer der Machtübernahme der Taleban bis März 1999 ohne Probleme mit dem Taleban? A: Es gab keine Probleme.

F: Waren Sie politisch tätig? A: Nein. Alleine meine militärische Tätigkeit für die Hezb-e Wadhat zieht eine Verfolgung durch die Taleban nach sich.

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F: Was befürchten Sie im Falle einer Rückkehr? A: Ich vermute, dass mir das selbe Schicksal wie Z. droht, wenn ich in meine Heimat zurückkehre. Ich werde wie er von den Taleban umgebracht werden.

F: Sie gaben vorerst an, dass Sie nicht wüssten was mit Z. geschehen sei. A: Wenn man 1 1/2 Jahre von einer Person nichts hört, dann muss man annehmen, dass sie getötet wurde."

Das Bundesasylamt hielt dieses Vorbringen mit folgender Begründung:

"Ihr Vorbringen, worauf Sie Ihre asylrelevante Verfolgung begründen, nämlich wegen dem (sic!) Verstecken von Gewehren von den Taleban verfolgt zu werden, wird von der erkennenden Behörde für nicht glaubwürdig erachtet. Die Entscheidung wird u.a. durch den Umstand begründet, dass Sie behaupten, die Taleban hätten die Provinz Ghazni erst im September 1998 eingenommen. Ihre Aussage widerspricht den ha. dokumentierten Tatsachen in Ihrem Heimatland Afghanistan. So wurde die gesamte Provinz Ghazni zu der auch Ihr Heimatdorf gehört (wie in einer gutachterlichen Äußerung durch den bei der damaligen Verhandlung beim Unabhängigen Bundesasylsenat GZ 200.669/11-I/02/99 am 06.10.1999 anwesenden Sachverständigen Dr. R.S. festgestellt) schon 1995 von den Taleban eingenommen, weshalb Ihren diesbezüglichen Angaben auch die geforderte Plausibilität und Glaubwürdigkeit fehlt. Ihre diesbezügliche Erklärung zum Vorhalt, die Provinz Ghazni wäre in zwei Teile geteilt worden, wobei der nördliche Teil 1998 und der südliche Teil erst im September 1998 eingenommen worden sei, widerspricht gänzlich den ha. dokumentierten Gutachten.

Hinsichtlich Ihres Vorbringens, dass die Taleban ‘irgendwie’ bemerkt hätten, dass Sie Waffen versteckt hätten, wird ausgeführt, dass es sich dabei lediglich um Vermutungen und Spekulationen handelt, die durch keinerlei Anhaltspunkte für konkret gegen Sie gerichtete oder geplante Verfolgungshandlungen untermauert werden konnten.

Auf die Frage, ob Sie die Taleban zu Hause angetroffen hätten, führten Sie aus, dass Sie sich lediglich einmal im Monat zur Nachtzeit in Ihrem Elternhaus aufgehalten hätten, weshalb Sie die Taleban niemals antreffen hätten können. Hiezu wird ausgeführt, das der Eindruck entstand, Ihre Erklärung stellte eine Reaktion auf die entsprechende Frage dar, um Ihren Verfolgungsgrund zu rechtfertigen. Insgesamt bleibt daher festzuhalten, dass es auf Grund des Widerspruches sowie der mangelnden Plausibiltät Ihres Vorbringens völlig an der persönlichen Glaubwürdigkeit mangelt." - für eine Asylgewährung für ungeeignet; die Gewährung von Refoulementschutz beruhte möglicherweise (eine nachvollziehbare Begründung kann, insbesondere im Lichte der gerade zitierten Würdigung des Vorbringens, dem einen (!) einschlägigen Satz: "Eine solche Gefahr konnten Sie glaubhaft machen" - nicht entnommen werden) darauf, dass des Bundesasylamt der Behauptung des nunmehrigen Berufungswerbers, der Volksgruppe der Hazara anzugehören, Glauben schenkte und diesbezüglich von einer "schlechten allgemeinen Situation" ausging.

Der unabhängige Bundesasylsenat führte in Anwesenheit des Berufungswerbers (jedoch in Abwesenheit des gleichfalls geladenen Bundesasylamtes) u.a. im Gegenstand dieses Verfahrens eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung am 12.10.2000, unter Beiziehung eines Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in Afghanistan, durch, welche wegen des sachlichen Zusammenhanges mit derjenigen mehrerer anderer Berufungsverfahren zur gemeinsamen Verhandlung verbunden wurden (der Berufungswerber dieses Verfahrens ist im Folgenden als "BW V" bezeichnet).

Die Verhandlungsschrift - soweit für den Berufungswerber dieses Verfahrens von Belang - lautet in ihren wesentlichen Teilen wie folgt:

"Auf die einleitende Frage des VL, ob und diesfalls aus welchen aktuellen Gründen die BW I bis V ihren Asylantrag aufrecht halten ... geben die BW an:

...

(BWV für) BW V: Der BW hat als Mitglied der für diese zwei Jahre lang - alternierend mit der Ausübung des Berufes eines Lehrers - Wachdienste im Grenzgebiet zu den verrichtet. Darüber hinaus hat er über Auftrag eines Verwandten seines Vaters, welcher der Kommandant der Hezbe Wahdat ist, für Einheiten, Gewehre gemeinsam mit drei anderen Hezbe Wahdat Mitgliedern versteckt. Eines dieser Mitglieder wurde mittlerweile offensichtlich verraten und von den Taliban gefangen genommen. Dieser gefangen genommene Wahdat-Kämpfer hat vermutlich den Namen des BW an die Taliban weitergegeben

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(möglicherweise auch noch weitere Informationen, da es sich bei dem gefangen Genommenen um einen nahen Freund des BW handelt) und fahndeten diese daher nach dem BW, was diesen zur Flucht veranlasste.

...

Die BW IV und V bestätigen ..., gegen die Taliban militärisch tätig gewesen zu sein.

...

BW V habe lediglich Wachdienst geleistet, sei aber zur Teilnahme an Kampfhandlungen bereit gewesen; zu diesen sei es wegen der militärischen Erfolge der Taliban nicht mehr gekommen. Vielmehr hätte sich die Einheit des BW nach der Aufforderung des Kommandanten ‘Rette sich wer kann’, unter Zurücklassung der Waffen, aufgelöst.

...

VL richtet sodann an sämtliche BW die Frage, ob Ihnen die Namen ‘Akbari’ bzw. ‘Wassiq’ bekannt seien (Die Beantwortung erfolgt jeweils in Abwesenheit der noch nicht geantwortet habenden BW):

...

BW V: Ich kenne eine Persönlichkeit namens Akbari, die früher zur Hezbe Wahdat gehörte, und für diese militärisch führend tätig war; näherhin war Akbari Haupt einer nach ihm benannten Teilorganisation, innerhalb der Hezbe Wahdat, die andere Gruppe wurde zunächst von , und danach, nach dessen Ermordung von , geführt und benannt. Weiters kenne ich eine Persönlichkeit namens Wassiq, der Kommandant in der Hezbe Nahzat gewesen ist und nunmehr mit den Taliban zusammenarbeitet; bei der Hezbe Nahzat handelt es sich meines Wissens um eine im Jahre 1368 in der Hezbe Wahdat aufgegangene, früher vom unterstützte, jedenfalls hauptsächlich von Hazara getragenene Gruppierung.

SV erstattet nun zur Lage der in Talibangebiet nachstehendes Gutachten (auf der Grundlage eines vorbereiteten Schriftsatzes):

1. Ad Wahdatkämpfer:

Nach dem Fall Mazar-e Scharif und Bamiyans 1998/99 ist ein Teil der Wahdat Kommandanten, wie z.B. Akbari oder Wassiq, zu den Taliban übergelaufen. Bei der Verhandlung sollte zunächst klargestellt werden, daß Personen, die mit Akbari und Wassiq kooperiert haben, wenn sie den Schutz der beiden geniessen, nicht zwangsläufig wegen ihrer Ethnie als Hazara verfolgt werden. Für Personen, die für Hezb-e Wahdat an verschiedenen Fronten gegen die Taliban gekämpft haben und sich nicht ergeben haben, besteht die Gefahr im Falle einer Rückkehr in ihre Wohngebiete von den Taliban erkannt und verfolgt zu werden. Diese liegt darin, daß die Hezb-e Wahdat als Teil der Nordallianz ihren bewaffneten Kampf gegen die Taliban intensiviert hat. Besonders diejenigen, die in Mazar-e Scharif und Bamiyan gegen die Taliban gekämpft haben, werden, wenn sie erkannt worden sind, bei einer Rückkehr verfolgt. Personen, die nur Mitglied der Hezb-e Wahdat waren und sich nicht an den Kämpfen und an offen politischen Aktivitäten gegen die Taliban ab 1995 beteiligt haben werden nicht zwangsläufig wegen ihrer Mitgliedschaft in der Hezb-e Wahdat verfolgt.

Es ist vorgekommen, z.B. im Nov. 1998 Akbari in , 1999 Wassiq in Jaghori sowie, dass die Hezb-e Wahdat Kommandaten samt ihrer Gefolgsschaft zu den Taliban übergelaufen sind, sei es wegen Auswegslosigkeit der Situation oder aus Feindschaft gegen die Khlili, Chef der Hezb-e Wahdat oder aus freien Stücken. Sie sind von den Taliban öffentlich empfangen worden und es liegt mir kein seriöser Bericht vor, das belegen kann, dass die Überläufer ihre frühere Tätigkeit in Hezb-e Wahdat von den Taliban im nach hinein verfolgt worden zu sein. Im Gegenteil, sie sind immer noch als Vorzeige Beispiele der Taliban für die Kooperation der Hazaras mit ihnen. Nach meinen neuerlichen Recherchen haben die Hazaras weiterhin eine niedere gesellschaftliche Stellung in der afghanischen Gesellschaft. Die religiös-politischen Aktivisten der Taliban machen in der afghanischen Gesellschaft Agitationen (nicht deutlich) gegen die Hazaras als Schiiten, sodaß Ethnien übergreifend, bei allen Sunniten Afghanistans sich die Vorurteile gegenüben den Hazaras vermehren. Diese Vorurteile und die Massenmorde der Taliban an den Hazaras in Mazar-e Scharif werden nunmehr auch mit dem brutalen Vorgehen der Hezb-e Wahdat währen ihrer Herrschaft in Mazar-e Scharif (1997/98) und in Kabul 1992 bis 1995 begründet. Bei Gesprächen über die genannte Politik der Hezb-e Wahdat in der Vergangenheit wird nicht die Hezb-e Wahdat erwähnt, sondern die Hazaras pauschal verurteilt. www.ris.bka.gv.at Seite 4 von 8 Unabhängiger Bundesasylsenat 11.12.2000

Diese Stimmung gegen die Hazaras bedeutet aber nicht, daß sie deshalb allgemein verfolgt werden würden. Diese Stimmung legitimiert aber die Taliban, ihre Gegner aus den Reihen der Hezb-e Wahdat ohne "Bedenken" zu verfolgen und bestrafen.

2. Religionsausübung und Ausleben der Tradition:

Die Vereinten Nationen zeichnen in einem Bericht ‘Assistance for Afghanistan - A Preview of the Baseline Study’ vom 23. Mai 2000 ein Bild Hazarajats nach dem Einmarsch der Taliban, das sich von anderen Darstellungen abhebt. So dürfen diesem Bericht zufolge im Hazarajat die Hazaras ihren schiitischen Glauben frei ausüben, ihre Mädchen Schulen besuchen, Frauen ihre traditionellen Kleider, anstatt der Burqa tragen.

Dies gilt nicht ganz für die Hazara-Frauen in den Städten, wo die Sunniten die Mehrheit bilden. Sie müssen die Anordnungen der Taliban, die sie für alle Frauen erlassen haben, einhalten. Die Religionsausübung ist für die Hazaras auch in Kabul Anfang dieses Jahres gelockert worden; ihre Moscheen sind. Allerdings vermeiden die Hazaras ihre Gebete in der Öffentlichkeit zu verrichten, um nicht dem Spot mancher Sunniten ausgesetzt zu werden. Die Schiiten beten im Gegensatz zu den Sunniten mit offenen Händen und legen sie einen winzigen ‘runden Stein, aus Lehm aus Kerbela (auf welchen die Schiiten beim Gebet die Stirn drücken)’.(ALAVI, Bozorg: Persisch-Deutsches Wörterbuch, Seite 782)

VL richtet sodann an den SV, unter Bezugnahme auf den 3. Unterabsatz des 1. Absatzes von Pt. 1 seines Gutachtens, die ergänzende Frage ob, die Ausführungen des SV so zu verstehen seien, dass Personen, die Mitglied der Hezbe Wahdat waren, und sich an den Kämpfen gegen die Taliban ab 1995 beteiligt haben, zwangsläufig von den Taliban verfolgt werden bzw. , ob dem, verfolgungsbefreienden Überlaufen zu den Taliban - dessen Existenz -dem 2. Absatz zu entnehmen ist - ein schlichtes Niederlegen der Waffen, wie von den BW IV und V geschildert, gleichzuhalten sei.

SV: Die Frage des VL kann bejaht werden; mit anderen Worten: Wer sich nicht nach der Niederlegung der Waffen den Taliban angeschlossen hat, sei es allein oder gemeinsam mit Gallionsfiguren wie z.B. Akbari und Wassiq, hat im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit einer Verfolgung durch die Taliban zu rechnen, wenn er von den Taliban als ehemaliger Wahdat-Kämpfer erkannt wird. Wer die Waffen nur schlicht niedergelegt hat, ohne förmlich zu den Taliban überzulaufen, ist dann weniger verfolgungs-gefährdet, wenn er nach der Niederlegung über einen längeren Zeitraum hinweg (ca. 1 bis 2 Jahre lang) im Talibangebiet offen gelebt hat, da dann von einer gewissen Gewöhnung der Taliban an einen ehemaligen Kämpfer auszugehen ist; dies gilt aber nur dann, wenn der betreffende ehemalige Kämpfer den Taliban (bzw. sonstigen Pashtunen) keinen schweren Schaden zugefügt hat.

Auf die ergänzende Frage des VL nach Art dieser Verfolgung führt SV aus, dass die bewaffneten Feinde der Taliban, abhängig vom Grad ihres früheren Widerstandes, mit Strafen von Prügel, Inhaftierung (unbestimmten Zeitausmaßes) oder Tötung zu rechnen haben. Die Haltung der Taliban gegenüber den Hazara hat sich gegenüber früher, (d.h. den Jahren 1997 - 1999) so weit gemäßigt, dass nicht mehr zwangsläufig eine Grundhaltung, jeden Hazara vernichten zu wollen, gegeben ist; daher werden nunmehr Prügel oder Inhaftierung vorherrschen, eine Tötung ist jedoch einerseits dann wahrscheinlich, wenn der Betreffende Hazara-Kämpfer in einem Frontabschnitt eingesetzt war, in dem besonders heftig gekämpft wurde, und demnach viele Taliban gefallen sind, andererseits auch sonst nicht ausgeschlossen, wenn der betreffende Hazara-Kämpfer an einen extremistisch (sei es in ethnisch- rassistischer - sei es in religös fundamentalistischer Hinsicht) denkenden Taliban gerät. Die Behandlung während einer derartigen Haft ist gekennzeichnet durch schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln (bis hin zum Verhungern lassen), verbale und tätliche Beleidigungen und gravierendere physische Mißhandlungen (Schlagen mit Kabel, Einsatz von Bajonetten, Eintauchen des Kopfes in Wasser, wuchtiges Werfen des Körpers des Betroffenen an eine Wand.... , jeweils ohne Verschonung irgend eines Körperteiles).

SV führt nun im besonderen Bezug zu den BW IV und V aus: a) zu BW IV: Die Angaben des BW belegen, dass er sich über die Wahdat- Kämpfer in seiner Region auskennt und sich an den Kämpfen beteiligt hat. Der BW hat die beiden Namen Wassiq und Akbari authentisch, soweit seine mit dem Vorbringen im Einklang stehende frühere Position es vermuten läßt, geschildert. Somit ist der BW ein Hazara, der sich politisch und militärisch in Afghanistan engagiert hat. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan (Talibangebiet) müsste BW, wenn er erkannt würde, mit Verfolgung im oben beschriebenen Ausmass, am wahrscheinlichsten mit Inhaftierung, rechnen. Die Gefahr, im Talibangebiet erkannt zu werden, ist meiner Einschätzung nach real, zumal die Taliban nicht nur auf Unterstützung durch in der Gegend der

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...

SV erstattet sodann (gleichfalls auf der Grundlage eines vorbereiteten Schriftsatzes ein Gutachten zur politischen und militärischen Situation in Nordost-Afghanistan seit 28. Juli 2000:

I. Militärische Lage: Seit meinem Gutachten vom 13.06.2000 zur politischen, wirtschaftlichen und militärischen Situation sowie zu den offiziellen Grenzübergängen, sind in Nordost - Afghanistan wesentliche Änderungen eingetreten, sodaß eine Rückkehr nach Afghanistan in das Gebiet der Nordallianz in Nordost- Afghanistan vor dem Hintergrund dieser neueren Entwicklung zu betrachten ist. Die Taliban haben Ende Juli 2000 mit ihrer jährlichen Großoffensive in Nordost- Afghanistan begonnen. Bei dieser Offensive konnten die Taliban quantitativ wie qualitativ militärische, räumliche und politische Erfolge für sich verbuchen. Die Taliban haben vom 28. Juli bis 22. September 2000 den Truppen der Nordallianz schwere Niederlagen versetzt und konnten die Frontlinie ca. 150 km in das Gebiet der Nordallianz verschieben. Am 21. und 22.September 2000 haben die Taliban die restlichen zwei Distrikte der Provinz Kunduz, Dascht-e Archi und Imamsahib endgültig erobert. Vor der Eroberung der Einnahme der beiden Distrikte eroberten die Taliban am 29. Juli die Distrikte Nahreen und Burka der Provinz Baghlan sowie am 3. August den Distrikt Ishkamisch der Provinz Takhar. Mit dem Verlust der Distrikte Nahreen und Ishkamisch hat die Opposition auch ihre Nachschubroute von Tajikistan nach dem Panjsher-Tal (von hier aus werden die Truppen Massouds in Kapisa und Parwan versorgt) verloren. Die Taliban haben auch Teile des süd-östlich von Taloqan gelegenen Farkhar Distrikt der Provinz Takhar eingenommen. Am 6. September 2000 haben die Taliban die Stadt Taloqan, die Provinzhauptstadt von Takhar, das Machtzentrum Massouds in Nordost- Afghanistan, erobert.

Mit der Einnahme Imamsahibs (Provinz Kunduz) am 21./22. September haben die Taliban den Grenzübergang Scherkhan-Bandar wieder eingenommen. Die Taliban kontrollieren die Stadt Khwajaghar und die nördlichen Dörfer, die an Dasht-e-Archi grenzen. Der Dasht-e-Qala Bezirk von Khwajaghar wird immer noch von den Truppen der Nordallianz gehalten. Der Grenzübergang Ai- Khanum in Dasht-e-Qala steht derzeit unter der Kontrolle der Opposition; Dasht-e-Qala ist nunmehr militärisches Zentrum der Opposition. Die Opposition kontrolliert nun nur mehr die Provinz Badakhschan und die Distrikte Rustaq, Chaháb, Yangiqala und den Distrikt Farkhar in der Provinz Takhar. Die Grenzregion zwischen und Afghanistan, Topkhana in der Provinz Badakhschan, wurde auch von den Taliban erobert und sie versuchen nun von Topkhana und von Taloqan aus Badakhschan unter ihre Kontrolle zu bringen. Die neuerlichen militärischen Geländegewinne der Taliban haben der Opposition das Betätigungsfeld in Nordafghanistan weiterhin eingeschränkt. Seither verfügt die ‘Regierung’ Rabbani/Massoud über kein Gebiet, in dem eine funktionierende Verwaltung vorhanden ist, die die Sicherheit der Bevölkerung garantieren kann. In den Distrikten Yangiqala, Rustaq und Chaháb in der Provinz Takhar und in der Provinz Badakhschan mit der Hauptstadt Faizabad, herrscht ständige Kriegsgefahr und akute wirtschaftliche Not. Zudem sind ca. 100.000 Menschen aus den Regionen Taloqan, Ishkamish, Nahreen, Burka, Khwajaghar und Dascht-e-Archi in diesen von der Opposition kontrollierten Gebieten geflüchtet.

Interne Flüchtlinge nach Taloqan-Ereignis: Folgender Bericht ist bezeichnend für die derzeitige Situation in Nordost- Afghanistan: ‘We appeal to the warring sides to provide access to food convoy and security to aid workers,’said Khaled Mansour of the WFP. ‘Under the initiative, each family of the war-torn areas of Takhar and Faizabad, the capital of Badakhshan province, will receive 50 kilograms of wheat, Mansour told NNI. The recent fighting in Taloqan has displaced some 70,000 people, the WFP spokesman said quoting reports from the area. He said that roads in the area are in bad condition but are open. ‘We want assurance that the food convoys will be not intercepted’. Mansour said majority of the people have taken shelter in gardens, schools, public meetings and are living even in streets in Dasht-i-Qala, Kisham, Rustaq, Warsaj and several other towns in Takhar. Hit by the severest drought in 30 years, the area and the people are facing problems. ‘We will first reach 33,000 people, the most needy people,’ the WFP spokesman said. He said the locals had been helping the displaced people but the poverty-stricken community could not afford to feed additional people for long. Prices of commodities have shot www.ris.bka.gv.at Seite 6 von 8 Unabhängiger Bundesasylsenat 11.12.2000 up 100 per cent and the people simply cannot buy supplies, he lamented’. (ISLAMABAD (NNI) Wednesday, 20 September, 2000; vgl. auch The Nation: Humanitarian crisis escalates in Northern Afghanistan, 09/12/2000)

II. Die Grenzübergänge zu dem Gebiet der Nordallianz Der Grenzübergang Sherkhan Bandar ist derzeit unter der Kontrolle der Taliban und ist geschlossen: ‘Russian border guards in Tajikistan temporarily shut down a checkpoint on the border with Afghanistan because of fighting close to the frontier between Afghan opposition forces and the Taliban, officials said on Sunday. The border crossing at Nizhny Pyandzh, opposite the Afghan port of Sherkhan [Scherkhan Bandar, S.R.] on the Pyandzh River, was closed because of the approaching front of combat operations, a spokesman for the border guards said’.(die Tageszeitung Jang vom 25. 9. 2000, Pakistan, Afghan Online Press)

Die neuere Entwicklung in Nordost Afghanistan und an der Staatsgrenze Afghanistans, Sherkhan Bandar bedeutet, dass die afghanischen Flüchtlinge aus dem Ausland nicht mehr auf offiziellem Weg in die von der Opposition kontrollierten Gebieten gelangen können. Der Grenzübergang Ai Khanum ist ein inoffizieller Grenzübergang und dient für den Waffennachschub für die Oppositionstruppen. Ai Khanum liegt in Dasht-e- Qala, das nunmehr eine militärische der Nordallianz ist. Mit der Einnahme Taloqan und die Umgebung kontrollieren die Taliban nunmehr ca. 95 Prozent des Landes und alle offiziellen Staatsgrenzübergängen.’

VL führt sodann ergänzend nachstehende Artikel der NZZ vom 11.10.2000 (‘Angst vor dem Endkampf in Afghanistan. Weitere Einschnürung der Taliban- Gegner’) in das Verfahren ein.

Sämtliche BW nehmen dieses Gutachten samt Zeitungsartikel zustimmend zur Kenntnis.’

Der unabhängige Bundesasylsenat hat erwogen:

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, daß ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung droht (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlußgründe vorliegt.

Gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 der (Genfer) Konvention über die Rechtstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (GFK), ist als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist - zu Folge des bereits mit Spruchteil II des angefochtenen Bescheides rechtskräftig gewährten Refoulementschutzes - einzig die Frage, ob es zum Zeitpunkt dieser Entscheidung genügend "glaubhaft" im Sinne des § 7 AsylG sei, dass dem Berufungswerber im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan dort überall "Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK aus zumindest einem der in dieser Konventionsstelle genannten Gründe - in unzumutbarer Intensiät - drohe.

Diese Frage kann nun - auf der Grundlage des Ergebnisses der Berufungsverhandlung, insbesondere der für das hier entscheidende Mitglied nachvollziehbaren und schlüssigen Darlegungen des Sachverständigen (denen entgegenzutreten das Bundesasylamt, im Folge Abwesenheit von der Verhandlung, verabsäumt hat) - bejaht werden:

Ausgehend nämlich davon, dass dem sachverhaltsmäßigen Vorbringen des Berufungswerbers nach Ansicht des hier entscheidenden Mitglieds sehr wohl - entgegen der, nicht auf einen unmittelbaren Sachverständigen-Beweis gestützten Beurteilung des Bundesasylamtes - genügende Glaubwürdigkeit zukommt (vgl. die diesbezüglichen, eindeutigen Aussagen des Sachverständigen über die "authentische" Angaben des Berufungswerbers), hätte der Berufungswerber als ehemaliges Mitglied der Hezbe-Wahdat, welches "für diese zwei Jahre lang - alternierend mit der Ausübung des Berufes eines Lehrers - (militärische) Wachdienste im Grenzgebiet zu den Taliban verrichtet" hat, im Falle seiner Rückkehr in das - zu Folge Unzugänglichkeit des Gebietes der "Nord-Allianz" (vom Ausland aus) gegenwärtig (wiederum, vgl. bereits früher etwa UBAS vom 14.6.1999, ZI 202.961/28- II/04/99, unter Hinweis u.a. auf UBAS vom 23.11.1998, ZI 200.295/0-II/04/98) allein maßgebliche - von den Taliban beherrschte Gebiet Afghanistans dort mit genügender Wahrscheinlichkeit "mit Strafen" in der Art von "Prügeln, Inhaftierung (unbestimmten Zeitausmaßes) oder Tötung" - also mit jedenfalls asylrelevante Intensität erreichenden Maßnahmen - zu rechnen. www.ris.bka.gv.at Seite 7 von 8 Unabhängiger Bundesasylsenat 11.12.2000

Der Berufung war daher spruchgemäß stattzugeben und die damit korrespondierende Feststellung nach § 12 AsylG zu treffen.

Dieser Bescheid wurde am 12.10.2000 öffentlich verkündet.

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