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Sendung vom 16.03.2000

Professor Dr. Otto Schlecht Ehemaliger Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung im Gespräch mit Holger Lösch

Lösch: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Heute ist bei uns Professor Dr. Otto Schlecht zu Gast, der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung und langjährige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Ich begrüße Sie, Herr Professor Schlecht. Schlecht: Grüß Gott. Lösch: Bei der Vorbereitung auf so ein Gespräch liest man ja recht viel über den Gast. Man liest natürlich vor allem im Lebenslauf nach, und dabei ist mir in Ihrem Lebenslauf eines aufgefallen: Für einen Mann Ihres Kalibers ist er extrem kurz. In diesem Lebenslauf heißt es: fünf Jahre Studium, dann 38 Jahre Bundeswirtschaftsministerium. Hat Ihnen das so gefallen, dass Sie nie die Idee hatten, irgendwo anders hinzugehen? Schlecht: So ist es. Ich hatte in regelmäßigen Abständen Angebote, in die Wirtschaft zu gehen oder Präsident eines Unternehmerverbands zu werden. Aber mir hat es einfach Spaß gemacht, in der Wirtschaftspolitik aktiv mitzuwirken. Und immer dann, wenn es mir langweilig wurde, wurde ich entweder befördert oder es wechselte der Minister oder die Koalition oder alles zusammen. Lösch: Das sind natürlich hervorragende Voraussetzungen. Lassen Sie uns 1925 beginnen. In diesem Jahr sind Sie geboren, und zwar als Sohn eines Metzgermeisters im württembergischen Biberach an der Riß. Hat denn dieses Aufwachsen in einem Handwerksbetrieb Ihre Einstellung zur Ökonomie in irgendeiner Weise geprägt oder beeinflusst? Schlecht: Nein, überhaupt nicht. Für mich war schon als ganz kleiner Junge klar, dass ich nicht in die Fußstapfen meines Vaters treten werde – obwohl ich der einzige Sohn war. Ich wollte ehrlich gesagt Offizier werden. Ich war das dann als Neunzehnjähriger am Schluss des Krieges sogar noch. Lösch: Normalerweise haben die Eltern ja so bestimmte Vorstellungen, was ihre Kinder einmal werden sollen. Hatten Ihre Eltern auch die Vorstellung, dass Sie eines Tages einmal den Handwerksbetrieb übernehmen sollen? Schlecht: Diese Vorstellung war da, aber ich habe ihnen schon relativ früh als Schüler klar gemacht, dass ich das in keinem Fall machen werde. Das Problem tauchte noch einmal auf, als ich nach der Katastrophe des verlorenen Kriegs aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkam. Ich hatte nur ein Notabitur, und da stellte sich schon die Frage, was ich denn machen sollte. Da hatte mein Vater noch einmal die kleine Hoffnung, dass ich doch in den väterlichen Betrieb einsteigen und daraus eventuell sogar eine Fleischfabrik machen würde. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte stattdessen mein Abitur nachmachen und danach studieren. Ich wollte allerdings zunächst einmal Forstwissenschaft studieren. Lösch: Sie waren acht Jahre alt, als Hitler an die Macht kam, Sie waren 14 Jahre alt, als der Krieg begann. Wie haben Sie denn dieses Dritte Reich miterlebt? Haben Sie daran bewusste Erinnerungen: gute oder schlechte? Schlecht: Ich habe sehr bewusste Erinnerungen daran, und ich muss einfach sagen, dass ich ein ziemlich strammer Pimpf und Pimpfenführer war. Das war damals für Jugendliche eigentlich eine ganz interessante Sache: Das hatte mit Ideologie gar nichts, sondern mit Geländespielen und mit Lagerleben zu tun. Ich hatte insgesamt eine sehr positive Jugend trotz dieses politischen Umfelds. Lösch: Sie gehören zu der Generation, die ihre Schulzeit nicht im Klassenzimmer, sondern auf dem Schlachtfeld beendet hat. Sie sind 1943 mit 18 Jahren eingezogen worden. War das für Sie damals eine Überraschung? War das für Sie mit Angst und mit Furcht verbunden? Schlecht: Nein, im Gegenteil. Als ich Soldat wurde, war Stalingrad schon geschehen, und so hätte man eigentlich wissen müssen, wie die Sache ausgeht. Aber ich bin immer noch begeistert Soldat geworden und wollte Offizier werden. Zwei Monate vor Kriegsschluss bin ich dann auch noch Offizier geworden. Lösch: Sie sind dann als Leutnant in die Gefangenschaft gegangen. Schlecht: So ist es. Lösch: Sie waren in einer sehr heiklen Einheit, denn Sie waren Gebirgspionier auf dem Balkan. Wie bewusst haben Sie denn den Krieg im Sinne des Kampfs, des Nahkampfs und der Schlacht erlebt? Schlecht: Ich habe auf dem Balkan den Krieg insofern bewusst erlebt, als wir zunächst einmal rund herum als Gebirgspioniere gesprengte Brücken wieder aufbauten bzw. selbst Brücken sprengen mussten. Aber wir standen schon auch im Kampf gegen die Tito-Partisanen. Ich bin dann ins Lazarett gekommen, weil ich als Achtzehnjähriger in Griechenland die Malaria bekommen habe. Danach kam ich dann wieder zur Truppe zurück. Im Anschluss daran kamen die Russen über die Donau in den Balkan herein. Im Herbst 1944 bin ich verwundet worden, als wir versuchten, die Russen über die Donau zurückzuwerfen, was uns aber nicht gelang. Ich wurde unter großen Mühen herausgeschleust und kam dann erneut ins Lazarett, diesmal in Wien. Danach kam ich noch einmal zurück nach Mittenwald und war dann als Gebirgspionier auf der Kriegsschule in Dessau: Das war die Pionierschule. Ich hatte am Ende des Kriegs noch einmal wahnsinniges Glück, denn als Gebirgspioniere wurden wir zurückbeordert in die Alpen, weil Hitler die Wahnsinnsidee einer Alpenfestung hatte: Dazu brauchte man Gebirgspioniere. Die restliche Kriegsschule kam in geschlossenem Einsatz nach , um in Berlin zu kämpfen. Wahrscheinlich sind die meisten von ihnen dabei entweder getötet worden oder in russische Gefangenschaft geraten. Ich habe dagegen das Kriegsende am 8. Mai komfortabel in Reit im Winkel in einem Hotel verbracht. Ich kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft und war bereits im Juli 1945 wieder zu Hause. Lösch: Haben Sie denn an dieser Alpenfestung überhaupt noch mitgebaut? Schlecht: Das war eine totale Farce. Wir haben ab und zu ein paar Bäume über die Straße gelegt. Wir wussten, dass die Amerikaner nur noch 20 Kilometer entfernt sind, aber wir mussten eben auch Vollzugsmeldungen beim Generalstab machen, dass etwas getan worden war. Aber es war uns wirklich klar, dass die Sache in wenigen Tagen zu Ende sein würde. Lösch: Ernst Jünger hat viel über das Prägende von Kriegserfahrungen geschrieben. War das auch für Sie eine prägende Erfahrung? Schlecht: Man kann nicht sagen, dass das eine prägende Erfahrung war. Aber im Nachhinein, wenn die Sache gut ausgegangen ist, will man das dann doch nicht missen. Das war schon eine enorme Sache: auch im Hinblick auf die Kameradschaft. Viele der heutigen Jugendlichen können ja nicht verstehen, warum wir nicht früher aufgehört haben, warum wir weitergemacht haben, obwohl der Krieg doch ganz offensichtlich verloren war und die Sache in eine Katastrophe mündete. Das lag eben auch an der Solidarität mit den Kameraden, die den Anlass dazu gab weiterzumachen. Lösch: Während Sie auf dem Balkan Brücken sprengte, saß in Deutschland ein Mann an einer Denkschrift: Sowohl die Denkschrift als auch der Mann haben Ihr Leben wohl nachhaltig geprägt. Der Mann war , und die berühmte Denkschrift hieß "Wohlstand für alle". Wie kam denn jemand in dieser Zeit dazu, sich über solche Dinge Gedanken zu machen und eine solche Schrift zu verfassen? Unter welchen Umständen ist diese Schrift entstanden? Schlecht: Ludwig Erhard kam sogar relativ naiv an diese Geschichte. Er war ja im Wesentlichen in der Konsumforschung tätig und hatte dabei u. a. vom "Deutschen Industrieverband" den Auftrag bekommen, sich Gedanken darüber zu machen, wie man nach dem verlorenen Krieg – denn ihm war zu dem Zeitpunkt schon klar, dass der Krieg verloren gehen wird – in freiheitlichem Geiste eine Friedenswirtschaft wieder aufbauen könnte. Daraufhin hat sich Erhard hingesetzt und darüber nachgedacht. Dabei ist dann schon im Kern das entstanden, was er nach dem Krieg als Soziale Marktwirtschaft umgesetzt hat. Ich muss allerdings dazusagen, dass er dabei natürlich auch auf andere geistige Väter der Sozialen Marktwirtschaft zurückgegriffen hat. Ich selbst habe ja in Freiburg studiert: Eigentlich wollte ich primär Betriebswirtschaft studieren und danach in die "Energieversorgung Schwaben" eintreten. Der Generaldirektor der "Energieversorgung Schwaben" war ein Freund meiner Eltern, und ich hatte in diesem Betrieb in den Jahren 1945 und 1946 auch bereits volontiert. Es war also klar vorgezeichnet, dass ich in die "Energieversorgung Schwaben" eintreten werde. In Freiburg geriet ich dann aber – ich sage das ohne Übertreibung – in den Bann vor allem von Walter Euken und anderen geistigen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft wie Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow. Ich habe dann einfach auf Volkswirtschaft umgeschwenkt, sodass ich mir eigentlich schon nach wenigen Semestern fest vorgenommen habe, eines Tages in die Wirtschaftspolitik zu gehen. Als dann – das war bei mir im zweiten oder dritten Semester – Ludwig Erhard 1948 mit der Währungsreform die Schneise für die Marktwirtschaft schlug, dachte ich mir, dass es doch eine tolle Sache wäre, wenn ich in Bonn bei Erhard anfangen könnte. Und so ist es auch gekommen. Lösch: Sie wollten also zunächst einmal Forstwirtschaft studieren: Das haben Sie aber nach dem Krieg ganz offensichtlich ad acta gelegt. Wie kam das? Schlecht: Ich hatte Kontakte mit Leuten aus der Forstwissenschaft geknüpft, und die haben mir gesagt: "Lass die Finger davon. Denn wir müssen in den nächsten Jahren sehr viele Forstmeister aus den verlorenen Ostgebieten im Westen beschäftigen. Junge Leute müssen daher furchtbar lange warten, bis sie mal ein Forstamt bekommen." Außerdem habe ich festgestellt, dass da doch sehr viel Naturwissenschaft, Mathematik und Physik mit dabei ist im Studium. Das war aber nicht so meine Sache. Lösch: Nach diesem verlorenen Krieg gab es eigentlich in dem Sinne gar keine Wirtschaft mehr. Es ist ja immer von der "Stunde Null" die Rede, auch wenn es keine wirkliche "Stunde Null" war: Wie kommt man denn in so einer Zeit dazu, sich ausgerechnet für Wirtschaft zu interessieren? Dazu braucht es doch eigentlich so etwas wie eine visionäre Vorstellung. Denn das konnte doch damals kein Beruf sein, von dem man glaubte, dass er einen eines Tages ernähren würde. Schlecht: Zunächst einmal muss man vor allem auch der heutigen Jugend sagen, dass wir damals wirklich in der "Stunde Null" waren. Als ich – übrigens nicht weit von hier – im Mai 1945 in Bad Aibling und in Ebersberg in amerikanischer Gefangenschaft in der Sonne lag, habe ich mir – auch zusammen mit den anderen – überlegt, was ich denn eigentlich machen soll, wenn ich wieder nach Hause durfte. Wir hatten keine Ahnung, wie das weitergehen wird, aber wir waren wirklich relativ schnell von Aufbruchstimmung geprägt. Wir sagten uns: "Wir schaffen das, und irgendetwas werden wir schon tun." Wir hatten zunächst einmal keine konkrete Berufsvorstellung: irgendetwas wird schon passieren. Es war ja so, dass ich in meinem Leben zuerst einmal Offizier werden wollte, dann wollte ich Forstwissenschaft studieren, danach wollte ich in ein Unternehmen eintreten, und erst meine vierte Berufswahl war diejenige, die mich ein Leben lang geprägt hat. Ich war, wie gesagt, in der Hitlerzeit ein ziemlich strammer Pimpf, aber schon im Gefangenenlager bin ich dann ein überzeugter Demokrat geworden. Von daher war ich also schon in der Richtung geprägt zu fragen, wie man denn nun eine freiheitliche und menschenwürdige Ordnung des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft aufziehen kann. Das hat mich schon am Beginn des Studiums fasziniert, und dann kam ich eben mit diesen Professoren zusammen. Ich las auch die Schriften von Ludwig Erhard, und so reifte in mir die Überzeugung, dass es wirklich eine tolle Sache sei, nach dem verlorenen Krieg und der Mangelbewirtschaftung den Wiederaufbau dieses Landes mitgestalten zu können. Lösch: Das war also eine echte Begeisterung, eine echte Aufbruchstimmung. Schlecht: Ich habe einmal bei einer Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Ludwig Erhard gesagt: "Wir waren im Wirtschaftsministerium", ich habe dort ja im Jahr 1953 angefangen, "eigentlich eine verschworene Gemeinschaft, so eine Art Orden, die für den Erhard auch durchs Feuer ging." Das Interessante dabei war aber, dass da die jungen Leuten so wie ich mit dabei waren, aber auch Leute, die bereits früher im Reichswirtschaftsministerium oder in der Reichsgruppe Industrie gewesen waren. Es ist allerdings eine alte Erfahrung, dass Konvertiten später zu Hundertprozentigen werden. Das heißt, diese Leute wurden dann genauso engagierte Anhänger von Ludwig Erhard und seiner Politik. Lösch: Für uns heute ist so ein Begriff wie die Währungsreform ein Begriff aus dem Geschichtsbuch. Man kennt das selbstverständlich auch aus den dokumentarischen Serien über die damalige Zeit: Es gibt z. B. diese berühmten Bilder, als die 40 Mark auf den Tisch gezählt wurden. Für uns heute ist es selbstverständlich, dass damals eine Währungsreform kommen musste und dass die Soziale Marktwirtschaft eingeführt wurde. Ich glaube, im Jahr 1948 lagen die Dinge in Wirklichkeit aber etwas anders. War das damals etwas Revolutionäres, das Erhard geschaffen hat? Schlecht: Die Währungsreform selbst war ja zunächst einmal eine Sache der Alliierten: Das hatten im Wesentlichen die Amerikaner ausgearbeitet – unter deutscher Beratung natürlich, und da war Erhard auch schon mit dabei. Aber an sich war das eine Entscheidung der Alliierten. Die herausragende Tat von Ludwig Erhard, der zu der Zeit gerade der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone geworden war, bestand darin, dass er überzeugt davon war, dass eine Währungsreform als Neuanfang alleine auf keinen Fall genügt, wenn man die Wirtschaft weiterhin mit einer Planwirtschaft, mit festgesetzten Preisen, mit Gutscheinen und mit Lebensmittelkarten betreiben würde. Ihm war klar, dass man die Währungsreform mit einem Aufbruch in Richtung Marktwirtschaft verbinden musste. Seine revolutionäre Tat bestand darin, das durchzuziehen: gegen den Mainstream in der Politik, gegen den Mehrheitswillen in der Bevölkerung. Man konnte sich in der Bevölkerung einfach nicht vorstellen, dass man von heute auf morgen aus der Mangelbewirtschaftung einfach in eine freie Wirtschaft gehen konnte. Er handelte damit auch gegen die Alliierten: Er hat ganz einfach gesetzliche Dekrete der Alliierten missachtet und das Ergebnis dann am Tage nach der Währungsreform verkündet. Das war wirklich eine ordnungspolitische Revolution. Lösch: Johannes Gross, der unvergessene Publizist, hat beim hundertsten Geburtstag von Ludwig Erhard gesagt: "Der Zeitgeist ist auf den Irrtum abonniert, und daher ist das Richtige immer unzeitgemäß." Er hat das mit Ludwig Erhard verbunden und mit dieser damaligen Tat. Was wäre denn damals aus der Sicht des Mainstreams zeitgemäß gewesen? Ich denke da z. B. an das "Aalener Programm" der CDU. Schlecht: Ja, in der Tat, man darf nicht vergessen, dass damals die SPD sowieso noch weitgehend bei einer sozialistischen Planwirtschaft war und dieses auch weitermachen wollte. Aber auch die Union hatte ein "Aalener Programm", in dem die Verstaatlichung der Grundstoffindustrie gefordert wurde, in dem also halb marktwirtschaftliche und halb sozialistische Ideen vertreten worden sind. Dann hat aber gemerkt, was Erhard für ein Mann ist und welches Konzept er hat. Später dann konnten die beiden oft nicht miteinander und haben auch oft gestritten: Aber beide wussten ganz genau, dass der eine auf den anderen angewiesen ist. Adenauer hat also Erhard einmal eingeladen, vor einem Gremium der Bizonen-CDU sein Konzept vorzutragen. Danach hat er beschlossen, dieses Konzept zum Programm der CDU zu machen, um damit die Wahl im Jahr 1949 zu gewinnen. Und so ist es dann ja auch gekommen. Lösch: Dieser Begriff der Sozialen Marktwirtschaft, der aus zwei Worten besteht und in dem beide Worte bewusst mit Großbuchstaben geschrieben werden, ist einer der am meisten falsch interpretierten Begriffe der Nachkriegsgeschichte. Was ist das denn genau? Ist das Kapitalismus mit Sozialhilfe oder ist das mehr? Schlecht: Es ist mehr und weniger gleichzeitig. Der Ausdruck Soziale Marktwirtschaft ist ja von einem Mitstreiter von Ludwig Erhard erfunden worden, nämlich von Alfred Müller-Armack. Dessen Kurzformel lautete: "Die Freiheit des Marktes muss verbunden werden mit Elementen des sozialen Ausgleichs". Diesen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft benutzen wir ja noch heute, also 50 Jahre später. Außer der PDS sprechen doch heute bei uns alle Parteien von der Sozialen Marktwirtschaft. Natürlich war dieser Begriff ein tolles Markenzeichen, mit dem ja auch viele Wahlen gewonnen worden sind. Aber dieser Begriff war auch bis heute immer großen Missverständnissen ausgesetzt. Viele missbrauchten ihn in der Richtung, dass sei Marktwirtschaft, also herkömmlicher Kapitalismus, plus möglichst viel Sozialpolitik im Sinne von sozialer Umverteilung. Das ist es jedoch eben gerade nicht. Die Soziale Marktwirtschaft ist in ihrem Kern eine freiheitliche Wettbewerbsordnung, in der allerdings der Staat die Aufgabe hat, den Wettbewerb zu sichern: also Kartelle und Machtmissbrauch zu verbieten, Fusionen zu kontrollieren und sie zu verbieten, wenn sie zu Monopolen und damit zu einer zu großen Macht führen. Die Vorstellung von Ludwig Erhard war, dass diese Rahmenordnung für den Wettbewerb so gestaltet sein musste, dass sich aus den Verhältnissen, aus dem System heraus soziale Elemente entwickeln. Natürlich gehörte da auch die Sozialpolitik dazu: aber eben in einem subsidiären Sinn und nicht im Sinn einer allumfassenden, versorgungsstaatlichen Regelung, sondern zielgenau und mit genügend Freiheit für Eigenverantwortung. Das war die Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft. Ich habe ja in all meinen Jahren auch viel dagegen gekämpft, wenn dieses Wort im Sinne von möglichst umfassender sozialer Gleichmacherei und sozialer Umverteilung missbraucht worden ist. Lösch: Aber dann ist das doch mehr als nur eine ökonomische Theorie: So aufgefasst ist das doch eigentlich ein Gesellschaftsentwurf. Schlecht: Ja, es ist wirklich ganz wichtig, dass Sie das feststellen. Erhard und seine Mitstreiter haben die Soziale Marktwirtschaft immer als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstanden und damit als weit mehr als nur als reine Ökonomie im Sinne von ökonomischen Instrumenten. Das muss man eben heute auch den so genannten Markt-Radikalen sagen, die jetzt im Zusammenhang mit der Globalisierung nun möglichst viel Marktwirtschaft schaffen und möglichst wenig Soziales haben wollen. Denn das ist es eben auch nicht. Das Soziale ist immer ein elementarer Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft gewesen: aber in dem Sinne, wie ich das soeben angedeutet habe. Lösch: Welche Rolle spielt denn dabei das Christliche? Denn es ist ja nicht zufälligerweise so, dass sich CDU und CSU in besonderer Weise mit diesem Konzept identifiziert haben. Welche Rolle spielt also das Christliche für die Soziale Marktwirtschaft? Und welche Rolle spielt das Christliche für Otto Schlecht? Schlecht: Es ist in der Tat so, dass die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft – dies ist allerdings mehr ein Zufall – fast alle evangelisch waren. Später kam dann auch noch aus der katholischen Soziallehre von Nell-Breuning einiges dazu. Diese Leute hatten jedenfalls auch ganz bewusst die Vorstellung, liberales Gedankengut und christliche Soziallehre miteinander zu verbinden. Beides miteinander zu versöhnen, macht auch einen Teil der Sozialen Marktwirtschaft aus. Ich selbst bin ein aktiver evangelischer Christ. Ich interpretiere die Soziale Marktwirtschaft in meinem Verständnis bzw., wie ich meine, im richtigen Verständnis ebenfalls aus dieser Richtung. Lösch: Sie sind dann 1953 ins Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard gekommen. Sie waren am Anfang wohl Hilfsreferent. Schlecht: Die Akademiker, die noch keine Leitungsfunktion hatten, hießen damals Hilfsreferenten. Ganz früher, in der Weimarer Republik, hießen sie sogar noch wissenschaftliche Hilfsarbeiter. Aber wir hießen eben schon Hilfsreferenten, und der Referatsleiter hieß Referent. Heute ist das anders: Heute heißen Hilfsreferenten Referenten, und der Referent heißt Referatsleiter. Aber wir waren schon stolz, dass wir Hilfsreferenten waren. Als ich Referatsleiter wurde, habe ich in meinem Referat einen Hilfsreferenten namens Hans Tietmeyer eingestellt. Lösch: Dazu werden wir sicherlich später noch kommen. Ich kann das aber schon so interpretieren, dass Sie 1953 ins Wirtschaftsministerium kamen, weil Sie auch aus dieser Eucken-Schule stammen. Man muss sich das also durchaus so vorstellen, dass der akademisch einschlägig gebildete Nachwuchs konsequent in die politischen Ebenen eingeschleust wurde. Schlecht: Ich hatte unheimliches Glück. Ich wollte mich ja, wie schon erwähnt, bereits während des Studiums dahingehend orientieren. Ich habe wirklich das Glück, dass ich mich in meinem ganzen Leben nie irgendwo habe bewerben müssen - auch nicht bei Beförderungen –, denn man hat sich immer um mich beworben. Als ich 1952 kurz vor meiner Promotion stand, kam plötzlich einer meiner Professoren zu mir und sagte: "Das Bundeswirtschaftsministerium, also Ludwig Erhard, möchte jemanden aus Freiburg haben, also aus der Freiburger Schule, der aber gleichzeitig auch etwas von Sozialpolitik versteht. Wir möchten Sie daher melden als einen, der aus unserem Lager kommt, aber gleichzeitig auch etwas von Sozialpolitik versteht." Ich habe nämlich meine Dissertation über die Sozialversicherung geschrieben. Und so bin ich quasi angeworben worden vom Bundeswirtschaftsministerium in das dortige sozialpolitische Referat. Ich hatte dort wiederum das Glück, dass im Ministerium selbst kaum jemand etwas von Sozialpolitik verstand. So hatte ich schon als junger, siebenundzwanzigjähriger Hilfsreferent ziemlich schnell Zugang zum Minister: Das war normalerweise bei einem Hilfsreferenten gar nicht der Fall. Ich war der Einzige, der etwas von Sozialpolitik verstand und so Erhard beraten konnte: z. B. in der Debatte über die Rentenreform oder beim Betriebsverfassungsgesetz. Ich war dann der Verbindungsmann des Wirtschaftsministers hinüber zum Arbeitsminister. Lösch: Ludwig Erhard ist natürlich ein Mythos, ein Symbol für die Erfolgsgeschichte Nachkriegsdeutschlands. Mich hat diese Geschichte mit der Zigarre immer fasziniert: Es gibt ja kaum ein Bild von ihm ohne Zigarre. Rauchte er gerne Zigarren? Oder war das nur eine Imagesache, um den Deutschen zu signalisieren: "Es geht aufwärts, wir haben alles im Griff, sorgt euch nicht!"? Schlecht: Er hat zunächst einmal in den ersten Jahren wirklich gerne Zigarren geraucht. Als er dann gemerkt hat, dass das ein Symbol ist, dass das sein Image ausmacht - "der Dicke mit der Zigarre" –, hat er das als Markenzeichen weiter betrieben. Im höheren Lebensalter - dann schon als Bundeskanzler – hat er einmal gesagt, dass er eigentlich gar nicht mehr rauchen möchte, aber mit der Zigarre ganz einfach weiterleben muss. Lösch: Zumindest einer seiner Nachfolger hat ja vor kurzem versucht, dieses Symbol wiederzubeleben. Schlecht: Heute muss man allerdings Folgendes dazusagen: Das Postministerium hat zu seinem 100. Geburtstag eine Sondermarke "Ludwig Erhard" herausgebracht: natürlich mit Zigarre. Da haben doch einige Leute Beschwerdebriefe geschrieben, dass man doch auf diese Weise nicht Reklame fürs Rauchen machen dürfe. Lösch: Es ist ja viel geschrieben und gesagt worden über das Verhältnis von Adenauer und Erhard. Hätte denn der eine ohne den anderen reüssieren können? Schlecht: Nein, keinesfalls. Aber das war trotzdem ein ganz eigenartiges Verhältnis. Adenauer verstand nichts von Wirtschaft, aber er hatte das Gespür, dass Erhard der richtige Mann für ihn und seine Volkspartei sei, dass er das richtige Konzept habe. Er hat ihn dann eingefangen und hat ihn machen lassen. In der Folge haben sie sich aber häufig gestritten über konkrete Details. Zum Beispiel war Adenauer nicht dafür, dass die Bundesbank eine unabhängige Bundesbank werden sollte. Erhard musste sich in der Frage erst durchkämpfen bei Adenauer: bei diesem Bundesbankgesetz, das 1957 in Kraft getreten ist. Darin ist festgeschrieben, dass die Bundesbank wirklich unabhängig von der Politik arbeiten kann. Er hatte darüber hinaus z. B. auch drei Anläufe gebraucht, um das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen durchzusetzen: das Kartellgesetz. In dieser Frage stand Adenauer auch unter starkem Einfluss der Industrie und seiner Freunde aus der Industrie, die das nicht so handhaben wollten. Aber am Ende hat sich Erhard eben durchgesetzt, und Adenauer hat ihn machen lassen. Ein ganz anderes Kapitel ist allerdings die Frage, ob Erhard der richtige Nachfolger als Bundeskanzler war. Ich war damals schon – als junger Mann – der Ansicht, dass es ein großer Fehler war, dass er sich eingebildet hat, er müsse Bundeskanzler und damit der Nachfolger von Adenauer werden. Er war ein wirklich glänzender Wirtschaftsminister: die Idealfigur für die Wiederaufbauzeit der deutschen Wirtschaft, der deutschen Unternehmen und der Nachkriegsrepublik. Aber er war kein Machtmensch, er hatte keine politische Hausmacht, und von daher war er wenig geeignet, der Nachfolger von Adenauer zu werden: gerade der Nachfolger von Adenauer! Es gab einige, die ihn dazu gedrängt haben, Nachfolger von Adenauer zu werden, weil sie genau wussten, dass jeder direkte Nachfolger von Adenauer ein armer Teufel ist, und sie gemeint haben, sie bräuchten einen Puffer, bis sie dann selbst dran wären. Da gab es durchaus einige Politiker in der Union – von Strauß bis zu Gerstenmaier –, die gesagt haben: "Jetzt schieben wir mal den Erhard vor, der gewinnt noch einmal toll die Wahlen, und nach ein paar Jahren wird er abgewirtschaftet haben. Und dann sind wir selbst dran." Lösch: Sie haben 38 Jahre Wirtschaftsministerium absolviert, Sie haben sechs Kanzler, acht Wirtschaftsminister und auch alle Koalitionsformen, die diese Republik gekannt hat - außer der rot-grünen Koalition -, miterlebt. Wie macht man das, ohne sich zu verbiegen? Schlecht: Dazu muss ich folgende Geschichte erzählen. Als ich als Staatssekretär verabschiedet wurde, haben alle Zeitungen über mich geschrieben: Ich sei das marktwirtschaftliche Gewissen gewesen, der Fels in der Brandung. Ich habe aber immer wieder gesagt und sage das auch heute noch, dass ich mich am besten getroffen fühle durch eine Überschrift, die damals in der "Welt" zu lesen war: "Die Inkarnation der beweglichen Grundsatztreue." Das hat zwei Gründe. Zum einen muss man es ganz klar akzeptieren, wenn man in der praktischen Politik mitmischen will, dass in der Demokratie Kompromisse – keine faulen, aber tragfähige Kompromisse – ein Element demokratischer Entscheidungsprozesse sind. Das heißt, man kann fast nie die reine Lehre durchsetzen. Man muss zwar ein Koordinatensystem haben, an dem man sich orientiert, aber man muss auch bereit sein, Kompromisse zu machen. Das war mir immer schon klar. Lösch: Adenauer hat das einmal umschrieben mit dem ökonomisch Sinnvollen und dem politisch Machbaren. Schlecht: Richtig. Das habe ich immer akzeptiert. Ich habe natürlich schon immer dafür gekämpft, dass man möglichst nahe am Idealbild bleibt. Aber ich hatte zum anderen mit meinen Ministern auch wirklich Glück. Bei Erhard habe ich angefangen, und als er dann Bundeskanzler wurde, hieß der Wirtschaftsminister Kurt Schmücker. Unter ihm war ich Leiter des wirtschaftspolitischen Grundsatzreferats: Ich konnte mit Herrn Schmücker sehr gut. Nach Schmücker war es sehr offen, wie es weitergehen wird. Es kam dann die große Koalition und mit ihr der Wirtschaftsminister . Für einen Ökonomen, für einen auch wissenschaftlich arbeitenden Ökonomen, war es eine phantastische Zeit, mit dem Wirtschaftsminister Karl Schiller zu arbeiten. Er hatte allerdings eine etwas andere Vorstellung von Wirtschaftspolitik: Er wollte die Freiburger Schule mit der Globalsteuerung kombinieren, also mit dem Keynesianismus. Das war damals auch die herrschende Lehre in der Wissenschaft. Mich hat das ebenfalls sehr beeindruckt. Ich habe damals Broschüren über die Globalsteuerung geschrieben, über die konzertierte Aktion. Ich habe für Karl Schiller diese konzertierte Aktion tatsächlich organisatorisch und inhaltlich vorbereitet. Aber er war im Kern eben auch ein Marktwirtschaftler. Danach kam dann die sozialliberale Koalition. Dabei hat mich dann der erste liberale Wirtschaftsminister Hans Friedrichs, der später zur "Dresdner Bank" gegangen ist, zum Staatssekretär gemacht. Wir waren wirtschaftspolitisch und ordnungspolitisch wirklich absolut einer Meinung. Nach Hans Friedrichs kam dann , der so genannte Markt-Graf. Mit dem lief die Sache dann sogar noch besser. Lösch: Dem Sie im Übrigen in den schweren Zeiten der Flick-Affäre beigestanden sind. Schlecht: Oh, ja, darauf können wir gleich noch zu sprechen kommen. Es gibt da ja im Übrigen eine Verbindung zur heutigen Finanzaffäre der Union. Natürlich standen wir damals in der sozialliberalen Koalition häufig mit dem Rücken zur Wand. In der ersten Zeit wurde da die Belastbarkeit der Wirtschaft wirklich getestet. Ehmke rannte mit der Devise herum: jeden Tag oder jede Woche eine neue Reform. Man musste also immer wieder den zu großen Elan der Reformer zurückdrängen, die ja auch den Staatsanteil immer weiter ausdehnen wollten. Aber das hatte sich dann bald abgeschliffen. Es gab in der Zeit der sozialliberalen Koalition auch den Zusammenbruch des Währungssystems mit den ganzen darauf folgenden Währungsturbulenzen, und es gab auch die erste Ölkrise. Ich habe zusammen mit dem Wirtschaftsminister und meinem damaligen Kollegen als Staatssekretär, Detlev Rohwedder, die autofreien Sonntage erfunden. Es gab zu der Zeit in der SPD, aber auch anderswo starke Kräfte, nun wieder die Planwirtschaft einführen, Preis- und Mengenkontrollen durchführen und das Benzin zuteilen zu wollen. Wir haben uns überlegt, wie wir es verhindern können, wieder in die Planwirtschaft zurückzufallen: Da sind uns dann die autofreien Sonntage eingefallen. Lösch: Das war ja auch mehr ein Placebo. Schlecht: Das war ein Placebo, aber die Leute waren eigentlich ganz froh, dass in der Richtung etwas geschah. Es kam dann der Kanzler mit zum Teil sehr soliden sozialdemokratischen Finanzministern: , Hans Matthöfer, . Die waren sehr bald selbst der Meinung, dass man ein Zuviel an staatlichen Aktivitäten gemacht hatte und dass man sich auf diesem Gebiet wieder konsolidieren müsse. So hat man dann auch dabei wieder an einem Strang gezogen. Die sozialliberale Koalition ist ja an zwei Dingen gescheitert. Zum einen hatte Kanzler Schmidt in außen- und sicherheitspolitischen Fragen immer weniger Rückhalt in der eigenen Partei: Das war ja bekannt. Das andere Problem war das Problem der Sanierung der öffentlichen Finanzen. Das Problem lag dabei nicht bei Helmut Schmidt oder Hans Matthöfer oder Manfred Lahnstein. Das lag vielmehr an der Mehrheit innerhalb der SPD-Fraktion im , die das immer weniger mitmachen wollte. Lösch: Sie waren nicht ganz unbeteiligt am Wechsel von Helmut Schmidt. Schlecht: Das ist richtig. Lösch: Das berühmte Lambsdorff-Papier sei in Wirklichkeit, so wird gemunkelt, ein Schlecht-Papier gewesen. Schlecht: Das muss ich teilweise doch richtig stellen. Das Lambsdoff-Papier entstand zu Beginn des Jahres 1982. Da kam der damalige parlamentarische Staatssekretär Martin Krüner zu mir ins Zimmer und sagte: "Ich komme gerade von einer FDP-Fraktionssitzung zurück: Wir wissen nicht mehr, wo es langgeht, wo man mit den Sozialdemokraten noch Kompromisse machen kann und wo man hart bleiben muss. Können Sie nicht einmal aufschreiben, wie die Sache jetzt eigentlich sein müsste, damit wir einen Anhaltspunkt und Orientierungsmaßstäbe für unsere praktische Politik haben?" Ich habe gesagt: "Natürlich, das können wir schon machen." Ein selbstbewusster Staatssekretär delegiert nämlich viele Aufgaben, und ich hatte damals wirklich einen exzellenten Leiter der Grundsatzabteilung. Er hieß eben Hans Tietmeyer: Er war Leiter der Grundsatzabteilung geworden, als ich Staatssekretär geworden war. Ich habe also Herrn Tietmeyer beauftragt, einen solchen Entwurf zu machen. Er hat einen sehr guten Entwurf gemacht, den wir dann durchgesprochen und redigiert haben. Im Sommer 1982 haben wir dieses Papier dann dem Minister Graf Lambsdorff vorgelegt. Das war zunächst immer noch ein Papier, das der internen Bewusstseinsbildung und Orientierung dienen sollte. Als die Krise in der Koalition dann aber immer stärker wurde, gab es ein Gespräch zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Bei diesem Gespräch platzte dann Helmut Schmidt heraus und sagte: "Ich weiß überhaupt nicht mehr, was Sie wollen. Wir streiten dauernd über diese Dinge. Schreiben Sie mir doch mal auf, was Sie eigentlich für richtig halten." Darauf hat dann Lambsdorff gesagt: "Das können Sie postwendend haben." Wir sind dann mit diesem Papier in sein Landhaus in Münstereifel gefahren und haben es dort unter dem Aspekt redigiert, dass das nun der Bundeskanzler bekommt und dass es über die FDP-Fraktion auch öffentlich werden wird. Von da ab war das dann ein Entscheidungspapier, und als solches beschleunigte es das Ende der sozialliberalen Koalition. Ich habe vor einem Jahr, als Otto Graf Lambsdorff die Ludwig-Erhard-Verdienstmedaille bekam, daraus zitiert: Es ist phantastisch, denn wenn man diese Daten und Fakten für heute aktualisiert, dann könnte man erneut sagen, dass das die Politik ist, die wir heute eigentlich wieder machen müssten. Lösch: Machen wir noch einen ganz kurzen Schlenker zu Graf Lambsdorff: Er ist damals in der Flick-Affäre sehr unter Beschuss geraten. Es ging damals um die Steuerbefreiung von Herrn Flick bei der Veräußerung von "Mercedes"- Anteilen. Sie haben damals sehr stark darauf bestanden, dass diese Entscheidung eigentlich auf der Fachebene getroffen worden war. Schlecht: So ist es. Lösch: Sie haben das gesagt, um ihn vielleicht auch zu schützen, aber es war eben auch faktisch so der Fall gewesen. Wenn Sie diese damalige Affäre mit der heutigen vergleichen: Gibt es da Parallelen? Schlecht: Ja. Damals wurden aus prozessökonomischen Gründen in einem Prozess und in einer Ermittlung zwei Sachen zusammengezogen: die Steuerhinterziehung bei der Sammlung von Parteispenden – Lambsdorff war ja auch eine Zeit lang Schatzmeister der FDP gewesen – und die Frage, ob diese Steuerbegünstigung für Flick rechtens war. Es gab damals einen Paragraph 6b, der es erlaubte, dass Unternehmen Kapital steuerneutral von einem Unternehmen in ein anderes übertragen können. Ich halte das nach wie vor für absolut richtig. Im Übrigen macht das heute Herr Eichel genauso in seiner neuen Steuerreform. Lösch: Zur großen Freude der Börse. Schlecht: Das ist also heute etwas ganz Tolles, und das war eben auch damals schon so. Wir fanden es absolut richtig im Sinne des Strukturwandels, das Kapital auch wirklich zum besten Wirt laufen zu lassen. Flick war damals aus seinem Engagement bei "Daimler-Benz" herausgegangen und wollte sich mit dem Erlös in anderen Unternehmen engagieren. Er wäre aus diesem Engagement bei "Daimler" nicht herausgegangen, wenn er dafür volle Steuern hätte bezahlen müssen. All diese Anträge von Flick wurden begutachtet und geprüft von einer Beamtengruppe des Wirtschafts- und des Finanzministeriums. Wir haben manches zurückgewiesen, aber das meiste haben wir für gut geheißen. Weder Minister Friedrichs noch Minister Lambsdorff haben ein Jota an diesem Entscheidungsvorschlag der Beamtengruppe geändert. Deshalb sind damals Lambsdorff und Friedrichs auch freigesprochen worden vom Vorwurf der Vorteilsannahme bzw. salopp gesprochen vom Vorwurf der Bestechlichkeit. Das war also alles absolut korrekt abgelaufen. Sie haben ihre Geldstrafe wegen der Parteispendengeschichte bekommen. Und nun kommt die Parallele zu heute. Ich bin fest davon überzeugt, dass nichts herauskommt in dem Sinne, dass irgendjemand in der Politik bestochen worden ist oder durch irgendwelche Spenden oder Schmiergelder irgendeinen Vorteil bezogen hat. Wenn man sich die Fälle, die in Rede stehen, ansieht, dann wird das klar. Die Panzerlieferung nach Saudi-Arabien: Das war eine hochpolitische Sache. Da haben die Amerikaner gedrängt, dass die Deutschen etwas machen sollten: Dabei brauchte man niemanden zu bestechen. Das Engagement der französischen Firma "Elf Aquitaine" bei "Leuna": Da hatte die deutsche Politik – und nicht nur , sondern fast alle – händeringend darum gebeten, dass sich die Franzosen dabei engagieren. Wir waren froh, dass es jemanden gab, der dort neue Investitionen unternehmen und die Sache wieder ins Laufen bringen würde. Es gab also gar keinen Grund, da jemanden zu bestechen. Zu den Bergarbeiterwohnungen: Es ist richtig, dass sie nicht an den Meistbietenden gegangen sind – das wäre ein japanisches Konsortium gewesen –, sondern an den nächsten. Dieser hat dann später gespendet. Aber in dieser Sache war sich die Politik doch einig – einschließlich der Sozialdemokraten –, dass man so ehrwürdige Sachen wie Bergarbeiterwohnungen nicht an Japaner verscherbelt. Kurz und gut, es kommt da keine Vorteilsannahme heraus: Die Politik war in Ordnung. Aber es gab eben schwarze Kassen in der Union und möglicherweise auch Fälle von Steuerhinterziehung. Aber das geschah alles ohne direkten Einfluss auf die Politik. Lösch: Lassen Sie uns doch gegen Ende des Gesprächs noch einen Blick in die Zukunft werfen. Sie sind ein überzeugter Ordnungspolitiker: Das heißt, dass der Nationalstaat, die nationale Regierung der Wirtschaft, einen gewissen Rahmen vorgibt, indem sie sich einerseits frei bewegen kann, aber auf der anderen Seite natürlich auch innerhalb gewisser Regeln, die das Soziale in der Marktwirtschaft erzeugen sollen. Nun leben wir aber im Zeitalter der Globalisierung. Man hört immer wieder von Politikern, die heute tätig sind: "Was soll ich eigentlich einem riesigen, global operierenden Konzern wie 'DaimlerChrysler' an Ordnungsrahmen vorgeben? Wie soll das geschehen?" Ist also die Soziale Marktwirtschaft für eine globalisierte Wirtschaft noch geeignet? Schlecht: Ich finde schon, aber man muss sie eben nun in einer größeren Dimension sehen. Die nationale Politik wird begrenzter, aber das, was sie noch machen kann, muss sie an der Tatsache orientieren, dass wir eine europäische und eine globalisierte Wirtschaft haben. Das heißt, die Steuerreform muss sich an dem orientieren, was um uns herum an Steuern bezahlt wird in der Wirtschaft. Die Sozialbeiträge können ebenfalls nicht ins Uferlose steigen, damit die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft nicht beschädigt wird. Es gibt also schon noch eine ganze Menge, was man auch auf nationaler Ebene tun kann: im Sinne einer Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft und damit des Ordnungsrahmens. Aber ich gehe darüber hinaus zu folgender Überlegung: Wir brauchen auch in Europa Elemente einer Sozialen Marktwirtschaft. Wir müssen die Idee der Sozialen Marktwirtschaft auf eine europäische Ebene bringen. Ich behaupte, dass die Gesamtheit der Regeln in Europa dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durchaus entsprechen. Wir haben dort ja Wettbewerbsvorschriften, wir haben Subventionskontrollen. Ich selbst habe für die Bundesregierung das Programm "Freier Binnenmarkt" verhandelt: Freier Binnenmarkt auf wettbewerblicher Grundlage verbunden mit Wettbewerbskontrolle auf europäischer Ebene ist Soziale Marktwirtschaft. Nun kommt die Globalisierung: Die Staaten müssen bereit sein, auch auf internationaler Ebene ein Rahmenwerk zu vereinbaren, das einerseits ökonomisch effizient, aber andererseits auch sozial verträglich ist. Ich werbe wirklich mit Verve dafür, dass wir bei der Welthandelsorganisation zum einen Mindestnormen in sozialer Hinsicht abstecken, aber vor allem auch Wettbewerbsregeln aufstellen, um auf dem Weltmarkt Möglichkeiten zu haben, gegen übermäßige Marktmacht vorgehen zu können. Ich denke, dass es in ein paar Jahren so weit sein wird, dass die Mehrheit der Staatengemeinschaft einsieht, dass wir auch auf internationaler Ebene völkerrechtliche Verträge schließen müssen, um eine Soziale Marktwirtschaft organisieren zu können, also eine Marktwirtschaft, die ökonomisch effizient und sozial verträglich ist. Die Asienkrise hat gezeigt, dass die Finanzmärkte labil sind. Auch die internationalen Finanzmärkte kann man nicht sich selbst überlassen. Man braucht da keinen Interventionismus, auch keine Abschottung und keine übermäßige Regulierung. Aber wir brauchen z. B. eine Kooperation der Aufsichtsbehörden über die Finanzmärkte. Und wir brauchen den Internationalen Währungsfonds: nicht als Feuerwehr, wenn das Haus schon brennt, sondern als Frühwarnsystem, damit eine solche Krise erst gar nicht entstehen kann. Ich bin also davon überzeugt, dass die Soziale Marktwirtschaft auch im neuen Jahrhundert noch Zukunft hat: dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und weltweit. Lösch: Wenn ich höre, wie engagiert Sie sprechen, dann bin ich sicher, dass Sie alles tun werden, damit das auch so kommt. Ich bedanke mich vielmals für dieses Gespräch. Schlecht: Ich danke Ihnen. Lösch: Das war Alpha-Forum, heute mit Professor Otto Schlecht. Ich bedanke mich fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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