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Joachim Schultz

Von Baudelaire bis Houellebecq

Anmerkungen zur französischen Literatur in deutscher Übersetzung

Edition Schultz & Stellmacher

Bayreuth

Alle Rechte bei Joachim Schultz Püttlach 44 D – 91278 Pottenstein [email protected]

Hier kann das Buch auch bestellt werden: 20 € (inkl. Versand) Inhalt

Zu diesem Buch 5 Jean Marie Adiaffi: Geschichte vom kleinen Elefanten (La légende de l’éléphanteau) 7 Jacques Pierre Amette: Le voyage de Hölderlin en 11 Christine Angot: Inzest / Yasmina Reza: Eine Verzweiflung 13 (L’inceste / Une désolation) Nachruf auf Jean Anouilh 15 Antonin Artauds Mexiko-Schriften 17 Baudelaire, Flaubert, Gautier und Madame Sabatier 19 Baudelaire, Champfleury, Léon Bloy und die Wagnerrezeption in Frankreich 21 Yves Bonnefoy: Berichte im Traum (Récits en rêve) 26 Henri Bosco: Der Esel mit der Samthose (L’Ane culotte) und seine Rezeption in Deutschland 29 Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie 31 (A la recherche de Marie) André Breton 33 Alphonse de Châteaubriant in Bayreuth 36 Arthur Cravan 41 Maxence Firmine: Honig (L’apiculteur) 43 Gustave Flaubert: Jules und Henry 45 André Glucksmann: Das Gute und das Böse 48 (Le Bien et le Mal) Claire und Yvan Goll 50 Pierre Gripari: Kleiner Idiotenführer durch die Hölle 56 : Elementarteilchen 58 Michel Houellebecq: Lanzarote / Suche nach Glück 61 Pascale Hugues: Deutsches Glück (Le bonheur allemand) 63 Joris-Karl Huysmans: Zuflucht (En rade) 65 Charles Juliet: Tagebuch (Journal) 67 Charles Juliet: Jahr des Erwachens (L’année de l’éveil) 70 Charles Juliet: Begegnung mit Bram van Velde 73 Charles Juliet: Gedichte (Poèmes) 76 Le Clézio: Ein Ort fernab der Welt (La quarantaine) 81 Michel Leiris: Lyrik 84 Michel Leiris: Wehlaut (Frêle Bruit) 87 Michel Leiris und Wagners Parsifal 89 Simon Leys: Der Tod Napoleons 93 Jean Lorrain: Die unnütze Tugend (L‘inutile vertu) 95 Pierre Loti: Im Zeichen der Sahara (Au Maroc) 101 Moderne Lyrik: Résonances 103 Lyrik von Villon bis heute 110 Pierre Mac Orlan: Mademoiselle Bambù 116 Andreï Makine: Das Verbrechen der Olga Arbélina 119 (Le crime d’Olga Arbélina) Guy de Mauspassant 121 Henri Michaux: Ein Barbar in Asien (Un barbare en Asie) 127 Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft 129 (Les 21 jour d’un neurasthénique) Paul Morand: Armouren (Tendres stocks) 130 Paul Nizan: Die Verschwörung 133 Daniel Pennac: Zwei Kinderbücher 134 Marc Petit: Der Riesenzwerg (Le Nain Géant) 135 Jules Renard: Die Lust sich zu trennen (Le plaisir de rompre) 137 Arthur Rimbaud 139 Rimbauds Reisen 143 Rimbaud aus der Sicht von Victor Segalen und Jean Paulhan 145 : Die ungefähre Welt (Le monde à peu près) 152 Saint-Pol-Roux 154 Zum Begrif der Geschwindigkeit bei Saint-Pol-Roux 157 Saint-Pol-Roux: Der Ausflug (La randonnée) 160 Philippe Sollers: Der Kavalier im Louvre 163 (Le cavalier du Louvre) : Eleasar oder Quelle und Dornbusch 165 (Éléasar ou la source et le buisson) Michel Tournier: Le pied de la lettre 167 : Haarscharf am Leben 173 Antoine Volodine: Alto solo 175

Zum Autor 177

Zu diesem Buch

Man muß es einigen deutschen Verlagen hoch anrechnen, daß sie weiterhin französische Literatur übersetzen lassen und hierzulande publizieren, auch wenn die Bezahlung der Übersetzer nicht immer angemessen ist. Leider wird das nur von wenigen Lesern wahrgenommen, denn in fast allen kleineren Zeitungen werden diese Bücher nicht besprochen, und in den großen Tages- und Wochenzeitungen steht die französische Literatur gewiß nicht an erster Stelle. So darf es als Ausnahme gewertet werden, daß ich in der Nürnberger Zeitung nun seit fast fünfzehn Jahren immer wieder aus dem Französischen übersetzte Bücher besprechen kann. Ich habe diese Besprechungen, meist in überarbeiteter Form, hier zusammengestellt, um sie einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Hinzugefügt habe ich, um das Panorama zu erweitern, einige weitere Artikel, die ich für andere Zeitungen und Zeitschriften geschrieben habe.

Von bekannten französischen Schriftstellern ist hier die Rede: Jean Anouilh, André Breton, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Arthur Rimbaud, Michel Tournier und einigen anderen. Aber auch von unbekannten Autoren, denen man ein größeres Publikum wünscht: Antonin Artaud, Léon Bloy, Yves Bonnefoy, Madeleine Bourdouxhe, André Glucks- mann, Claire und Yvan Goll, Pierre Gripari, Charles Juliet, Michel Leiris, Simon Leys, Jean Lorrain, Pierre Loti, Pierre Mac Orlan, Andreï Makine, Henri Michaux, Paul Morand, Jean Paulhan, Marc Petit, Jules Renard, Yasmina Reza, Victor Segalen, Saint-Pol-Roux, Jean Vautrin, Antoine Volodine und anderen. Die Zusammenstellung mag zusammenhangslos erscheinen, Bezüge und Querverbindungen entdeckt man erst auf den zweiten Blick: zum Beispiel die Themen der klassischen Moderne und der Autoren in ihrem Umfeld, antibürgerliche Tendenzen in vielen der hier vorgestellten Werke, die Präsenz Rimbauds u. a. Nicht zuletzt kann hier auch immer wieder auf die Arbeit der Übersetzer eingegangen werden, deren Leistung ansonsten wenig Beachtung findet.

Ulrich Greiner klagt in seinem Buch Mitten im Leben (1999) über das Verschwinden der Kritik im deutschen Literaturbetrieb. Zum Teil hat er Recht, denn vielfach erscheinen wirklich nur noch Buchtips, wenn überhaupt noch auf Bücher hingewiesen wird. Doch zwischen dem Buchtip und der großen Besprechung, wie sie Greiner für die Zeit und andere Kritiker für die großen Tag- eszeitungen schreiben können, gibt es noch die kurze Besprechung in kleineren Tageszeitungen. Hier ist für eine lange Besprechung kein Platz mehr, und der Kritiker hat die nicht leichte Aufgabe, in zwanzig bis vierzig Zeilen das Wichtigste über ein Buch zu sagen. Solche Artikel sind hier versammelt (abgesehen von einigen längeren Autorenporträts u. a.), und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, das Wesentliche zum Ausdruck zu bringen und den Leser für diese Bücher zu interessieren. Dies ist also ein Buch für die Freunde der französischen Literatur, weniger ein Buch für Literaturwissenschaftler, von denen nicht wenige für die Gegenwartsliteratur wenig Sinn haben und die das allgemeinverständliche Schreiben darüber als ‚feuilletonistisch‘ abtun. Für dieses Buch gilt uneingeschränkt, was die Herausgeber der hier vorgestellten vierbändigen Lyrikanthologie in ihrer Einführung schreiben: ”Nicht dem Eingeweihten, nicht dem Wissen- schaftler gilt das Werk, es ist vielmehr bestimmt für ein breites gebildetes Publikum...” Joachim Schultz Im Herbst 2001

Ein Stück Holz, das ins Wasser fällt, wird nie ein Kaiman

Anmerkungen zur Geschichte vom kleinen Elefanten des ivorischen Schriftstellers Jean-Marie Adiaffi

Jean-Marie Adiaffi (1941-1999) war einer der bedeutendsten Schriftsteller der Elfenbeinküste. Er stammte aus dem Volk der Agni und wurde am 1. Januar 1941 in Bettié geboren. Später arbeitete er als Philosophielehrer in Abidjan, der Hauptstadt seines Landes. 1981 erhielt er für seinen Roman La carte d’identité (Der Personalausweis) den ”Grand prix littéraire d’Afrique Noire”. Wie dieser Titel schon verrät, bemüht er sich in seinen Romanen und Gedichten darum, die verloren gegangene afrikanische Identität wiederzufinden. Es ist ihm jedoch bewußt, daß damit schon bei der Erziehung der Kinder begonnen werden muß. Das mag wohl der Grund dafür sein, daß er neben seinen Werken für Erwachsenen auch für Kinder schreiben wollte, und die 1983 erschienene Geschichte vom kleinen Elefan- ten war der erste gelungene Versuch. Adiaffi will nicht einfach eine Geschichte erzählen, um sie den Kindern seines Landes und den europäischen Kindern vorzusetzen. Er will zunächst einmal zeigen, wie in seinem Heimatland Geschichten erzählt wurden und immer noch erzählt werden. Das Geschichtenerzählen hat dort eine lange Tradition, und es gab immer Geschichten, die eigens den Kindern abends am Feuer erzählt wurden, also eine mündlich überlieferte Kinderliteratur, die zur Unterhaltung und zur Erziehung gedacht war. Der senegalesische Schriftsteller Abdoulaye Sadji schrieb 1937 in der französischen Zeitschrift Paris-Dakar, insbesondere die Tiermärchen seien für die Kinder geeignet; es seien Geschichten, die junge Menschen begeistern könnten: ”Sie liegen dabei in der frischen Luft, im Mondenschein, und blinzeln in die weißen Sterne.” Oft waren und sind es die alten Frauen, die Großmütter, die den Kindern die Geschichten erzählen. Eine solche Großmutter stelltAdiaffi erst einmal vor, wie sie, von verschiedenen Musikern begleitet, die Kinder um sich versammelt. Dann wird auch nicht sofort die Geschichte erzählt. Da müssen zunächst einmal Tabak und Palmwein geholt werden, damit die Großmutter gut erzählen kann. Das Feuer muß angefacht und geschürt werden, und es gibt gewissermaßen rituelle Worte, mit denen das Erzählen eingeleitet wird. Ein kleines Rätsel wird noch vorgeschaltet, der Dialog zwischen der Erzählerin und den kleinen Zuhörern ist notwendig, dann erst beginnt die Großmutter mit der eigentlichen Geschichte. Das mag für europäische Kinder zuerst einmal fremd erscheinen, keineswegs fremd ist es ihnen aber, daß Kinder abends nicht gleich schlafen wollen. Die Motive der nun folgenden Geschichte hat Adiaffi aus dem großen Schatz der afrikanischen Tiermärchen genommen. Im Gegensatz zu den traditionellen Fassun- gen, in denen der Elefant am Ende getötet wird, läßt er seine Geschichte jedoch positiv enden: für ihn ist diese Freundschaft möglich, und wenn das Mädchen und der Elefant auch nicht für immer zusammenbleiben können, so wissen sie doch, daß sie aufeinander rechnen können. Bei allen wunderbaren Elementen bringt die Geschichte auch, wenn auch idyllisch gefärbt, die ganz alltäglichen Dinge aus dem Leben in einem afrikanischen Dorf. Die Menschen müssen ihre Felder bebauen, doch sie haben auch Gefallen an einem schönen Garten. Die Felder aber werden bedroht von den wilden Tieren des Waldes, den Affen und den Elefanten, und müssen gegen sie geschützt werden. So werden den afrikanischen Kindern die Dinge ihres Alltags erklärt. Auf einer anderen Ebene ist Adiaffis Geschichte ein Lied auf die Freundschaft, die auch unter ganz unterschiedlichen Lebewesen möglich sein kann. Hier richtet sich der Verfasser zunächst einmal an die Kinder seines Landes, in dem viele verschiedene Völker zusammen leben. Nur in Freund- schaft ist dieses Zusammenleben möglich, wobei die Eigenarten der einzelnen Völker und Menschen respektiert und bewahrt werden müssen. Denn die Menschen können nicht alle gleich sein, sie können sich nicht vollkommen einander anpassen, denn ”ein Stück Holz, das ins Wasser fällt, wird nie ein Kaiman werden”. Es gibt Holz und Kaimane, sie ‘leben‘ zusammen in einer Welt. So sollen auch die Men- schen zusammen leben, ohne ihre Eigenarten aufgeben zu müssen. Adjo Blé, die Freundin des kleine Elefanten, wendet sich da an ihre Mutter, die es nicht verstehen kann, daß das Mädchen mit einem Lebewesen Freundschaft schließt, dessen Familie schon seit Generationen der eigenen Familie Schaden und Unheil bereitet hat: ”Wir müssen unseren Blick in die Zukunft wenden und die Vergangenheit vergessen. Wir sind nicht verantwortlich für die Verbrechen, die unsere Vorfahren begangen haben.” Hier geht es nicht nur um ‘Romeo und Julia in einem afrikanischen Dorf‘. Hier geht es zunächst einmal darum, daß die Zwistig- keiten zwischen den Völkern Afrikas begraben werden müssen; eine wichtige Botschaft an den afrikanischen Kontinent, wenn wir da gerade heute an die Kämpfe zwischen Schwarzen in Liberia und Südafrika denken. Wenn sich Adiaffi der französischen Sprache und nicht seiner Muttersprache bedient (wie viele afri- kanischer Schriftsteller auch), dann aus dem Grund, möglichst viele Leser zu erreichen: in Afrika und in der übrigen Welt. Auch das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen kann hier gesehen werden, denn zwischen Weißen und Schwarzen gibt es nun einmal gravierende Unterschiede, und es ist viel Unrecht in der Vergangenheit geschehen. Dennoch sollten Begegnung und Freundschaft möglich sein, ohne daß die Freunde zu einem ihnen fremden Verhalten gezwungen werden. Dies alles kann in Adiaffis Geschichte gelesen werden, und sie hat somit durchaus eine pädagogische Zielsetzung. Aber sie wird so natürlich erzählt, mit so viel Spaß am Erzählen selbst, daß die Moral keineswegs aufdringlich eingetrichtert wird. Und obwohl Adiaffi auf der einfachen Erzählebene ganz im Horizont afrikanischer Kinder bleibt, dürften europäische Kinder keine großen Schwierigkeiten haben, diese Geschichte zu verstehen, wenn man ihnen nur einige Einzelheiten erklärt. Hier unterscheidet sich Adiaffi von anderen afrikanischen Schriftstellern, die sich in ihren Kinder- und Jugendgeschichten ganz dem europäischen Muster der Kinder- und Jugendliteratur angepaßt haben. Adiaffi hat dies nicht getan, oder nur in geringem Maße; er hat es auch durchgesetzt, daß ein afrikanischer Künstler, der senegalesische Maler Assane N’Doye, seine Geschichte illustriert hat. Das ist keine Selbstverständlichkeit: auch die von Afrikanern geleiteten Verlage Présence Africaine und Nouvelles Editions Africaines lassen oft ihre Jugendbücher von Europäern illustrieren. Dennoch bleiben Dinge in dieser Geschichte für uns fremd, auch wenn sie auf den ersten Blick als vertraut erscheinen mögen. Wenn da von allen Zauberern der Welt die Rede ist, wenn das Mädchen Adjo Blé von ihrer Tante vom Zauber befreit werden soll, dann meint dies Adiaffi ganz realistisch. Er tritt dafür ein, die tradi- tionalen afrikanischen Religionen wiederzubeleben, denn sie gehören für ihn zur afrikanischen Identität und haben für ihn mindestens so viel guten Seiten wie die anderen Religionen der Welt. Wenn wir diese Religionen unüberlegt als Hexerei und Aberglaube abtun, dann mag das in einigen Fällen seine Berechtigung haben (auch die Afrikaner sehen beispielsweise den Machtmißbrauch ihrer Zauberer), in den meisten Fällen geht es aber um geistige Phänomene, um therapeutische Prak- tiken und um traditionelle Medizin, und das sollten wir ernst nehmen. Wenn Kinder bei uns Adiaffis Geschichte lesen, werden sie über solche Stellen wohl hinwegle- sen, oder ihnen so viel Bedeutung wie den Hexen und Zauberern in unseren Märchen beimessen. Aber auch in unseren Märchen sind diese Stellen Spuren einer vergangenen und (oft gewaltsam) verdrängten Kultur, an deren gute Seiten wir uns erinnern sollten. Adiaffis Geschichte ist im Grunde eine Fabel über die multikulturelle Begegnung und die Möglichkeit einer multikulturellen Gesellschaft: Die verschiedenen Ge- sellschaften und Menschen müssen einander als gleichberechtigte Freunde akzep- tieren, und jede Gesellschaft für sich muß akzeptieren, daß auch ihre bestehende Kultur aus verschiedenen Elementen entstanden ist. In einem Interview (Bayreuth African Studies Series Nr. 8, 1986) hat Adiaffi darauf hingewiesen, daß auch die europäischen Kulturen viele Stadien der Vermischung durchlaufen haben. Um die eigene Identität (wieder) zu finden, sei nicht eine ‘Rückkehr zu den Quellen‘ von Nöten, sondern ein Neubeginn auf der Grundlage von heute. Die Afrikaner, sagt Adiaffi, müßten zwei Dinge vermeiden: einerseits dürfen sie nicht sklavisch das westlich-abendländische Modell nachahmen, andererseits dürfen sie aber auch nicht unreflektiert zur afrikanischen Tradition zurückkehren. Solche Überlegungen führen natürlich weg von dieser kleinen Kindergeschichte, doch auch sie hat ihren Platz in Adiaffis Werk. Das Mädchen und der Elefant finden zu einem Miteinander, und das sollte auch unter erwachsenen Menschen der verschiedenen Kulturen möglich sein.

Jean-Marie Adiaffi: La légende de l’éléphanteau. Paris. Rageot. 1983. 40 Seiten. Jean-Marie Adiaffi: Die Geschichte vom kleinen Elefanten. Göttingen. Deutsch von Joachim Schultz. Lamuv Verlag. 1991. 44 Seiten.

Zuerst erschienen in: Dokumentation. Heft 5, 1990. Zürich.

Abwesenheit

Zu Jacques-Pierre Amettes Erzählung Le voyage de Hölderlin en France

Der französische Germanist Pierre Bertaux hat in seinem berühmten Hölderlinbuch (Ffm. 1978) nachzuweisen versucht, daß Friedrich Hölderlin zwar an einer tiefen Depression gelitten habe, jedoch nicht wirklich wahnsinnig geworden sei. Er habe sich nur absichtlich von der Welt der Normalen, in der er für sich keinen Platz mehr sah, entfernt. Andere Biographen sind der Auffassung, die ersten Anzeichen des Wahnsinns seien auf der Reise nach Bordeaux, die Hölderlin im Winter 1802 größtenteils zu Fuß unternommen hat, aufgetreten. Allerdings weiß man über diese Reise, die ihn zu einer neuen Hauslehrerstelle beim deutschen Konsul Meyer in Bordeaux geführt hat, sehr wenig. Nach seiner Ankunft im Hause Meyer schrieb Hölderlin am 28. 1. 1802 einen Brief an seine Mutter; er schildert darin seine einsame Wanderung ”auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette” und fügt hinzu: ”Überdies habe ich soviel erfahren, daß ich kaum noch reden kann davon.” Was hat er erfahren? Diese Frage hat sich Jacques-Pierre Amette als Ausgangspunkt zu seiner Erzählung gestellt. Mit seinen Worten: ”Was also ist im Lauf dieser Reise geschehen , daß sich der Geist Hölderlins zu diesem Zeitpunkt verabschiedete und sich von ihm entfernte?” Es gibt keine Dokumente, Amette hat versucht, diese Frage, wie er schreibt, mit schriftstellerischer Freiheit, als Kollege Hölderlins, zu beantworten. Für ihn erkennt Hölderlin auf dieser Reise – in Erinnerungen und Selbstgesprächen, die der Erzähler kommentiert -, auch und gerade bei der erfundenen Begegnung mit einer einfachen Frau (Suzanne) in Lyon, wie weit er sich von den normalen Menschen, auch von seinen ehemaligen Freun- den Schelling und Hegel, entfernt hat. Er war, muß er feststellen, schon immer abwesend, anders gewesen. Entstanden ist so eine Erzählung, die in ihren stärksten Stellen an Büchners Novelle Lenz erinnert (schon allein durch das Thema des einsamen Wanderers in eisiger Winterkälte). Zentrales Thema ist das Anderssein, die Abwesenheit (”l’absence”), wie es beispielsweise in der folgenden Passage zu Ausdruck kommt:

”Wenn er mit Suzanne redet, vergißt er endlich seine Gier nach Vollkommenheit, die ihn zum Hochmut der Form verdammt. Endlich stammelt er. Es ist genau das Gegenteilvon seinen Gedichten und Hymnen, die ohne Unterlaß wiederholen: Abwesenheit, Abwesenheit; bei jeder Strophe, jedem gestrichenen Wort, jeder Hebung oder Senkung. Nein, er wird nicht mehr für Zeitschriften schreiben. Seine Hand gleitet über das Bettuch zu der Stelle, wo Suzanne hätte liegen müssen.”

Amette beschreibt die widersprüchlichen Gefühle eines Künstlers, der nach Vollkommenheit strebt, aber doch wie alle Anderen sein möchte. Nicht nur erha- bene Verse will er schaffen, auch stammeln möchte er. Für Amette ist Hölderlin maßgeblich an diesem Widerspruch gescheitert. Eine These, die nicht nur dem Hölderlinbild eine Facette hinzufügt, sondern auch eine lesenswerte Neufassung der Künstlerproblematik darstellt, wie sie seit der Romantik (über Büchner und Thomas Mann) bis heute immer wieder die Schriftsteller beschäftigt hat.

(Bayreuther Ab- und ZuFälle. Nr. 19. Juli/August 1993)

Jacques-Pierre Amette: Le voyage de Hölderlin en France. Paris 1991. Taschenbu- chausgabe: Coll. Points, No. R583.

PS. Mit diesem kurzen Exposé habe ich versucht, einen deutschen Verlag für dieses Buch zu interessieren, leider vergeblich. Dieser Autor ist in Deutschland noch zu entdecken, nicht zuletzt, weil in einigen seiner Bücher Deutschland eine Rolle spielt. Immerhin wurde seine Roman Deux Léopards (1997) ins Deutsche über- setzt: Zwei Leoparden. Berlin. Ullstein. 1998; ein Roman, in dem auf subtile Weise Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich dargestellt werden. Doch eine große Resonanz scheint er nicht gefunden zu haben, eine Taschenbu- chausgabe gibt es bis jetzt noch nicht.

Gnadenlos – Neue Autorinnen aus Frankreich

Über manche Bücher ist, kaum sind sie erschienen, alles schon gesagt. Über den Roman Inzest von Christine Angot (*1959) titelte der Spiegel sogleich: ”Wahrheit in der Raserei”. Die Autorin schocke die Gesellschaft mit kruden Sexszenen und gnadenlosen Enthüllungen. Der Stern wollte nicht nachstehen und titelte etwa einen Monmat später: ”Liebe als Krieg”. ”Eine grandiose Zumutung” heißt es später, die Autorin sei eine Terroristin. Da war ich gespannt und fing an zu lesen, muss aber sagen, das ich das Buch nur mit Mühe zu Ende gelesen habe. Nicht weil mich die kruden Sexszenen irritiert hätten, nein. Ich finde das Buch über weite Strecken langweilig, dann gnadenlos exhibitionistisch, was mich auch nicht begeistern konnte. Dann wieder tröge, wenn seitenweise Definitionen aus einem Wörterbuch der Psychoanalyse abgeschrieben werden. Aber ich kann nur wenig ausrichten, das Urteil über diesen Roman steht fest, so dass die Lesung von Christine Angot im Münchener Literaturhaus am 11. Mai ebenfalls mit großartigen Worten angekündigt wurde. Die Rede ist von den ”Gründen und Abgründen dieser un- möglichen Liebe” – Inzest und Homosexualität – von Angots ”atemloser, pul- sierener Erzählweise”. Nun, da kann ich nicht zustimmen, die Leser mögen sich selbst ihr Urteil bilden. Eher scheint es sich dabei um eine literarische Mode in Frankreich zu handeln, rücksichtslos offen wird auch von Michel Houellebecq über die sexuellen Gewohnheiten der Franzosen geschrieben, zu nennen wäre hier noch Virginie Despentes (*1969), und das neue Buch von Catherine Millet (La vie sexuelle de Catherine M.), das erst im nächsten Jahr auf Deutsch erscheinen soll (siehe unten), wird vom Spiegel schon einmal als allerneuester Skandalschocker angekündigt. Da werden auch die deutschen Verlage ganz gierig: Goldmann hat angeblich 650 000 Mark für die deutschen Rechte bezahlt... Ganz anders dagegen Yasmina Reza (*1957), die bereits als Schauspielerin und Theaterautorin großen Erfolg hat. Sie sagte kürzlich in einem Interview für die Wochenzeitung Die Zeit: ”Die Sexualität ist eine viel zu private Angelegenheit, als dass ich darüber schreiben könnte. In 99 Prozent der Fälle wirkt Sex auf dem Papier peinlich und auf der Bühne geschmacklos.” Ich weiß nicht, ob sie dabei ihre Kolleginnen im Sinn hatte, doch ihr gerade bei uns erschienener Roman – Eine Verzweiflung – kann ohne Bedenken empfohlen werden. Ein alter Mann präsentiert darin in einem langen inneren Monolog sein Leben, er wendet sich an seinen Sohn, doch der scheint sich für seinen Vater nicht im geringsten zu interessieren. Es ist eine Anklage gegen einen allzu oberflächlichen Lebensstil, eine Rückbesinnung auf das eigene Leben mit all seinen Höhen und Tiefen und ein Bericht über die Ein- samkeit im Alter, die auf die meisten Menschen unserer Gesellschaft zukommen wird. Von Sex ist hier auch die Rede, aber ganz und gar nicht aus einer voyeuris- tischer Haltung heraus. Im Mittelpunkt steht die Verzweiflung eines Menschen, der noch einmal versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Auch Reza Yasmina ist gnadenlos, wenn es darum geht, Lebenslügen bloß zu stellen, aber man hat an keiner Stelle das Gefühl, dass dies nur um des Skandals willen geschieht. Bei diesem Buch ist außerdem auf die glänzende Übersetzung von Eugen Helmlé hinzuweisen; Helmlé hat hier zum letzten Mal sein Talent unter Beweis gestellt, im vergangenen Jahr ist er im Alter von 63 Jahren gestorben.

Christine Angot: Inzest. Aus dem Französischen von Christian Ruzicsky und Colette Demoncy. Köln. Tropen Verlag. 2001. 192 Seiten. 32.- DM Yasmina Reza: Eine Verzweiflung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. München. Hanser Verlag. 2001. 136 Seiten. 25.- DM

Anmerkungen zu Catherine Millets Buch Das sexuelle Leben der Catherine M.

Bereits im Herbst 2001 hat der Goldmann-Verlag Catherine Millets Buch auf den Markt ge- bracht. Das Buch kann in die lange Reihe der erotischen Literatur Frankreich eingeordnet werden; ein würdiger Nachfolger von Pauline Réages Geschichte der O. und von Emmanuele Arsans Emmanuele, wie einige Kritiker glauben. All diese Bücher haben wohl einen auto- biographischen Kern, doch sie sind im übrigen Fiktion. Bei Millet scheint dies anders zu sein, die 1948 geborene Autorin, Chefredakteurin des renommierten Kunstmagazins Art Press, berichtet über ihre sexuelle Sozialisation, das aber gnadenlos nüchtern. Daß bei ihr aber auch vieles ‚nur‘ Fiktion, ist deutet das Namenskürzel im Titel an, des weiteren die Buchreihe ”Fiction et Cie”, in der das Buch in Frankreich erschienen ist. In der deutschen Ausgabe wird darauf nicht verwiesen, allerdings haben die Buchgestalter das Emblem der französischen Reihe – ein einsamer Spazier- gänger, der vielleicht an Rousseau erinnern soll – auf dem Schutzumschlag verwendet; ohne jeglichen Zusammenhang mit diesem einzelnen Buch. Es bleibt abzuwarten, wie dieses Buch bei uns ankommt; eine Tradition der anspruchsvollen erotischen Literatur gibt es in Deutschland allerdings nicht. Im Spiegel vom 24. 9. 2001 finden wir es schon auf Platz 4 der Bestsellerliste...

Eleganz mit Tiefe

Nachruf auf den französischen Dramatiker Jean Anouilh (1910 – 1987)

Ältere Theatergänger erinnern sich gewiß an die großen Erfolge seiner Stücke in den 50er und 60er Jahren. Antigone, Einladung ins Schloß, Jeanne oder die Lerche, Becket oder die Ehre Gottes – das waren seine Erfolgsstücke. Jean Anouilh, der fast 50 Dramen und Komödien geschrieben hat, ist am 3 Okrober 1987 mit 77 Jahren in Lausanne gestorben. Die genannten Stücke sind alle nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Doch seine Theater-Karriere begann in den 30er Jahren. Am 23 Juni 1910 wurde er in Bordeaux geboren, das Gymnasium besuchte er in Paris, aus dieser Zeit stammte seine Freundschaft mit Jean-Louis Barrault. Ein Jurastu- dium brach er ab. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in einer Werbeagentur und dann als Sekretär des großen französischen Theatermannes Louis Jouvet. Das Theater wurde mehr und mehr zu seiner Heimat; Stücke von Claudel, Giraudoux und Pirandello machten einen großen Eindruck auf den angehenden Theaterschrift- steller.

Am 26. April 1932 war es dann soweit: An einem Pariser Theater ging die Gener- alprobe seines ersten Stückes über die Bühne: L’Hermine. Das Stück war kein durchschlagender Erfolg, aber das Pariser Publikum war froh, endlich wieder einen jungen Autor zu haben; und Anouilh beschloß, nur noch von seinen Stücken zu leben.

Seine Themen fand er in der Literatur der Antike und der Geschichte Europas. Eurydike, Orest, Antigone, Medea – man findet sie auch bei Anouilh. Jeanne d’Arc und der englische Erzbischof Thomas Becket, Gestalten des europäischen Mittelal- ters, wurden zu Titelhelden seiner Dramen. Außerdem eine Vielzahl von Komödien (oder ”rosa Stücke”, wie er sie nannte), die ihm die Liebe des Publikums, aber auch Vorwürfe der Kritik einbrachten: Er sei nur ein Boulevard-Komödienschreiber lautete der Vorwurf. Er wollte unterhalten, das ist richtig. Er beherrschte das Theaterhandwerk. Sein Stil ist elegant. Die Kritik war voll des Lobes, handwerk- lich gut gemachtes Theater vereinte sich mit einem Nachdenken über das Leben, die Rolle des Individuums, das jeder nachvollziehen kann.

Aber seine Stücke bieten mehr als bloße Spannung und leichtes Vergnügen. Sein wichtigstes Thema war die Unvereinbarkeit von hohem Anspruch des Individuums und den Zwängen der Gesellschaft. Seine Antigone will alles, und zwar sofort, doch sie scheitert an mittelmäßiger Moral und Konformismus. Sein Thomas Beckett will die Grundsätze von menschlicher Würde verwirklichen, doch er scheitert an der verlogenen weltlichen und kirchlichen Macht. Mit diesen Stücken liegt Anouilh nahe beim Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, nahe bei der Gesellschaftskritik engagierter Literatur.

Mit andern Werken nähert er sich dem absurden Theater eines Ionesco. Er selbst wollte sich aus der Politik heraushalten, doch der Zweite Weltkrieg und die Hin- richtung französischer Schriftsteller, die mit den Nazis kollaboriert hatten, zwangen ihn dazu, Stellung zu beziehen. 1946 kehrte er Frankreich den Rücken, um sich in der Schweiz niederzulassen. Lange Zeit hat er die Aufführung seiner Stücke an der Pariser Comédie Française verboten, da er de Gaulles unerbittliche Haltung gegenüber den Kollaborateuren nicht verzeihen konnte. Einige konnten ihm nicht verzeihen, daß er in den Jahren der deutschen Besatzung seine größten Erfolge feierte.

In den letzten zehn Jahren ist es still um Anouilh geworden. Seine Stücke werden nur noch selten aufgeführt. Abgesehen vielleicht von seiner Antigone, die mit ihrer kompromißlosen Haltung auch heute noch verstanden wird. Viele seiner Stücke empfindet man wohl als zu geschliffen und perfekt, in einer Zeit, in der die ”jungen Wilden” in der Kunst und auf dem Theater Furore machten. Das zeigt die Ver- gänglichkeit der Moden und Strömungen, denn Anouilh selbst ist zu Beginn seiner Karriere auch einmal als ”Wilder” bezeichnet worden.

Auf der Suche nach dem verlorenen Mythos

Antonin Artauds Mexiko-Schriften

Als ich vor einigen Jahren Antonin Artauds Schriften über die Tarahumaras, einen mexikanischen Indianerstamm, zum ersten Mal las, hat sich mir ein Satz, zu- mindest sinngemäß, eingeprägt. In dem nun vorliegenden Band mit dem Titel Mexiko, der alle Schriften Artauds über die Tarahumaras und über seinen Aufen- thalt in Mexiko im Jahr 1936 enthält, lautet dieser Satz in der gut lesbaren Über- setzung von Brigitte Weidmann folgendermaßen: ”Nie würde ein Europäer auf den Gedanken verfallen, daß das, was er körperlich gespürt und wahrgenommen hat, daß die Empfindung, die ihn erschüttert, daß die seltsame Idee, die ihm gerade gekommen ist und deren Schönheit ihn hingerissen hat, nicht seine eigene gewesen sei und daß ein anderer all das in seinem Körper gespürt und erlebt habe, sonst hätte er das Gefühl, er sei verrückt, und man wäre versucht, von ihm zu sagen, er sei irre geworden.” (S. 16) Ich halte diesen Satz für einen der wichtigsten im umfangreichen Werk des Antonin Artaud. Er umschreibt, was er in seinen vielfältigen Aktivitäten als Schreiber (nicht als Schriftsteller), als Schauspieler, Regisseur, Theatertheoretiker gesucht hat. Er wollte weg von dem, was der Ver- stand diktiert, er wollte die Grenze aufheben zwischen dem scheinbar Vernünftigen und dem scheinbar Verrückten, und bei diesen Indianern der Sierra Tarahumara, achtundvierzig Stunden von Mexiko-Stadt entfernt, in ihren Riten, bei denen das Rauschgift Peyotl eine zentrale Rolle spielt, scheint er einen Weg gefunden zu haben, diese Trennung aufzuheben. Artaud war nur zwei Monate bei ihnen, und man weiß nicht genau, wie weit er sich auf ihr Leben und ihre Weltanschauung eingelassen hat. Er hat viel gefragt und beobachtet und hat diese Menschen, die ‘magische Kräfte aus ihrer Verachtung der Zivilisation ziehen‘ (John Forester), als Vorbilder betrachtet. Artaud (1896 - 1948) sah sich nicht als Schriftsteller. Alles, was mit abendländischer Literatur und Schriftstellerei zu tun hatte, war für ihn eine ”co- chonnerie”, eine Riesenschweinerei. Er wollte sich weder sein Leben noch seine Kunst von den Regeln des Abendlandes bestimmen lassen. Sein Theater der Grausamkeit, seine kurze Zusammenarbeit mit den Surrealisten, seine Drogenex- perimente, seine Kontakte mit außereuropäischen Kulturen waren Versuche, dem Reglement einer nur auf dem Materiellen basierenden Welt zu entkommen. Es ist ihm, wenn überhaupt, nur zeitweise gelungen, er hat dabei seinen Körper und seinen Geist ruiniert und viele Jahre in Kliniken und Nervenheilanstalten verbracht. Gleichwohl kann man nicht umhin, ihn zu bewundern, der sein ganzes Leben kompromißlos in den Dienst seiner Suche gestellt hat. So wurde Artaud zu einer legendären Gestalt, ähnlich wie Rimbaud wurde er zum Heiligen stilisiert, wobei gerne übersehen wird, daß er mit seinem Bestreben nicht der Einzige war, daß er in eine geistesgeschichtlich-literarische Strömung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gestellt werden kann. Sätze wie ”In der Sierra Tarahumara werden viele der uralten großen Mythen wieder Gegenwart” (S. 69) oder ”Es gibt in Europa schon lange keine Mythen mehr, an die man kollektiv glauben könnte. Wir warten alle gespannt auf die Geburt eines verbindlichen, kollektiven Mythos” (S. 116) sind Kernsätze eines Primitivismus in der eu- ropäischen Kunst und Literatur der Avantgarden zwischen den beiden Weltkriegen. Man war auf der Suche nach einem neuen (oder dem uralten, verlorenen), alles verbindenden Mythos, und nicht wenige glaubten, ihn bei den sogenannten primi- tiven Völkern zu finden. Dies ist sehr vereinfacht formuliert und wird gerade Artaud nicht gerecht. Mit Recht schreibt Bernd Mattheus, daß die von ihm in diesem Band zusammengestellten Schriften ”schwerlich die Vorläufer der Lehren des Don Juan” seien, noch hätten sie etwas mit dem Papalagi gemeinsam. Es ging Artaud nicht um billig zu habende Zivilisationsflucht. Er war kein Feierabend- Primitiver, sondern eher ein Mystiker, der nach einer neuen oder alten Einheit suchte. Was er unter ‘primitiv‘ verstand, ist weit entfernt von diesen simplen Fluchten: ”Man bezeichnet jenen Geist als primitiv, der das Seiende nicht wahrzunehmen vermag, denn in Wirklichkeit existiert ja nichts, der aber mit Pinsel oder Feder wiedergibt, was für ihn wahr ist; und was für ihn wahr ist, entspricht immer seiner unbegrenzten Phantasie.” (S. 256) Der Band verführt dazu, einfache Botschaften daraus zu destillieren. Die hier angeschnittenen Grundgedanken werden von weit verzweigten, nicht immer leicht nachvollziehbaren Reflexionen untermauert oder nur begleitet. Artaud hat auch hier kein einheitliches, konzises Werk hinterlassen. Der Leser wird mit diesem Buch arbeiten müssen, wenn er etwas davon haben will.

Antonin Artaud: Mexiko. Die Tarahumaras. Revolutionäre Botschaften. Briefe. Mit einem Essay von Luis Cardoza y Aragón. Herausgegeben von Bernd Mattheus. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann. München 1992. Verlag Matthes & Seitz. 354 S.

Das Porträt einer bemerkenswerten Frau

Madame Sabatier und ihre Verehrer: Baudelaire, Flaubert, Gautier

Thalia und Klio sind zwei der neun Musen, deren Namen auch heute noch geläufig sind..., aber nur weil ein Theater und ein Automobil nach ihnen benannt wurden. Ansonsten treten die Musen heute nicht mehr in Erscheinung, zumindest nicht öffentlich. Noch im 19. Jahrhundert war das anders, aber von den vielen Musen der großen und kleinen Dichter soll hier nicht die Rede sein, sondern nur von einer Frau, von Aglaé-Apollonie Sabatier (1822-1890), der mindestens zwei Genera- tionen von Künstlern zu Füßen lagen. Sie war eine Kurtisane, ließ sich aushalten, doch es wäre unfein, nur von diesem Teil ihres Lebens zu sprechen. Sie war die Muse (und mehr) von Théophile Gautier, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert und einigen anderen, und diese Herren haben ihr manchen Liebesbrief (und mehr) geschrieben. Gautier richtete an sie den berüchtigten ”Brief an die Präsidentin”, der lange Zeit, ab 1906 auch in deutscher Übersetzung, als besonders delikater Lesest- off unter der Theke gehandelt wurde: ein Brief, dazu bestimmt, die sonntäglichen Sauerei zu ersetzen. Mehr wollen wir nicht daraus zitieren, doch der geneigte Leser und die hoffentlich ebenso geneigte Leserin kann das Buch zu einem angemessenen Preis zu erwerben, im Münchener Kirchheim-Verlag ist es unter dem Titel Die weiße Venus im vergangenen Herbst (1994) erschienen.

Man findet darin auch die Gedichte Baudelaires, die er später in die Fleurs du mal aufgenommen hat; er verspürt immerhin etwas Mitleid für seine Angebetete: ”Welch hartes Handwerk, eine schöne Frau zu sein, und welch banale Arbeit, ausgelassen sich und kalt mit aufgesetztem Lächeln im Tanz zu wiegen”. Der Dandy Baudelaire verehrte Madame Sabatier lange aus der Ferne, als sie ihn schließlich erhörte, zog er sich zurück zu seiner dunkelhäutigen Geliebten Jeanne Duval. Die allzu schöne, ‘weiße Venus‘ machte ihm Angst. Gustave Flaubert hatte gerade noch die Kraft, sich auf ihre ”Stiefelchen zu stürzen, um sie mit Küssen zu bedecken”, ansonsten zog er es vor, in der Phantasie auszuschweifen und nur den Salon der Maréchale, wie er sie nannte, zu frequentieren.

Susanne und Michael Farin haben diese Dokumente zusammengestellt und ein kenntnisreiches Vorwort dazu geschrieben. Ihnen ist es zu danken, daß dieses pikante Kapitel europäischer Kulturgeschichte nachzulesen ist. ‘Pikant‘ ist nicht ganz das richtige Adjektiv, beziehungsweise es meint nur eine Seiteder Medaille. Das Pariser Geistesleben des 19. Jahrhunderts mit (außer den schon genannten) Größen wie Balzac, Daumier, Delacroix, die Brüder Goncourt, Gérard de Nerval und vielen anderen steht im Mittelpunkt dieses Buches, dem man viele Leser wünscht. Heute streitet man sich in Talkshows darüber, was denn nun gute ero- tische Literatur sei. Baudelaire, Flaubert und Gautier würden sich köstlich dabei amüsieren und weiter ihren Umgang mit Madame Sabatier pflegen. Und dabei würde, fast nebenbei große Literatur entstehen wie zum Beispiel Baudelaires Gedicht ”A une femme trop gaie” (An eine allzu fröhliche Frau”), das folgender- maßen beginnt:

Ta tête, ton geste et ton air Sont beaux comme un beau paysage; Le rire joue en ton visage Comme un vent frais dans un ciel clair.”

”Dein Haupt, deine Gebärde und dein Betragen sind schön wie eine schöne Land- schaft; das Lachen spielt in deinem Antlitz wie frisch ein Wind in einem klaren Himmel.”

(Prosaübertragung von Friedhelm Kemp aus dem besprochenen Buch.)

Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Théophile Gautier: Die weiße Venus. Madame Sabatier. Huldigungen an eine Kurtisane. Hrsg. von Susanne und Michael Farin. 232 S. München 1994. P. Kirchheim Verlag.

Baudelaire, Champfleury, Léon Bloy.

Zur Wagner – Rezeption in Frankreich um 1860.

Richard Wagner und Paris; Richard Wagner und die Franzosen: ein umfangreiches, ein facettenreiches Thema, über das schon viel geschrieben wurde. Wagners erster Aufenthalt von 1839 bis 1842 in der französischen Hauptstadt, »eine Zeit der Enttäuschungen und des Elends«; die Aufführungen des Tannhäuser in der Pariser Oper im März 1861, ein Skandalerfolg, der dem Meister aus Deutschland aber immerhin die Verehrung Baudelaires, der ihm zuvor schon ein Huldigungsschrei- ben geschickt hatte, einbrachte – dies sind sicher die wichtigsten Kapitel zu diesem Thema. Und mit Baudelaire, so heißt es, begann der ‘wagnérisme‘ in Frankreich, dem der Komparatist Erwin Koppen ein gewichtiges Buch, seine Habilitationss- chrift, gewidmet hat (Dekadenter Wagnerismus. Berlin, New York, 1973). ”Wagnerismus ist also”, schreibt er (S. 78), ”mehr als ‚influence‘ und ‚engoue- ment‘. Zu ihm gehört auch und vor allem die Projektion eigener Gefühle, Haltun- gen und Programme auf das Werk Richard Wagners.” Doch wir sind hier erst bei den Anfängen dieser Strömung. Erst seit Baudelaire spricht man von den Pariser Konzerten am 25. Januar und am 1. und 8. Februar 1860, ohne die es zur Aufführung des Tannhäuser ein Jahr später wohl nicht gekommen wäre. Wagner dirigierte am 25. Januar auswendig im kaiserlichen Théâtre Italien den »Tannhäuser-Marsch«, nach dem das Publikum spontan applaudierte, Teile aus dem Lohengrin, die Holländer-Ouvertüre mit dem die Zuhörer die größten Schwierigkeiten hatten. Doch genau dieses Konzert brachte ihm einen ersten Bewunderer aus dem Kreis der damals in Frankreich tonange- benden Literaten, Jules Champfleury, der heute meist nur noch am Rande erwähnt wird. (In chronologischer Reihenfolge verfaßte Champfleury seinen Artikel nach dem ersten Konzert in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar, Baudelaire schrieb seinen berühmten Brief an Wagner nach dem dritten Konzert am 17. Februar 1860.) Es geht um den Romancier Jules Champfleury (1821-1889), für dessen Werke sich heute zwar nur noch Literaturwissenschaftler interessieren, dessen Einfluß damals aber beträchtlich war. Geboren wurde er in Laon am 17. September 1821, im selben Jahr wie Gustave Flaubert, als Jules-François-Félix Husson-Fleury. Schon als Siebzehnjähriger ging er nach Paris und arbeitete dort als Buchhandelsgehilfe. 1843 ließ er sich endgültig in Paris nieder, nachdem er in seiner Heimatstadt, wo er zwischen 1840 und 1843 noch eine kurze Zeit verbracht hatte, wegen seines exzentrischen Lebensstils nur wenige Freunde finden konnte. 1844 wählte er dann das Pseudonym Champfleury, und schon ein Jahr später erregte er mit seinen ersten Erzählungen die Aufmerksamkeit des Publikums. Von da an war er eine Persön- lichkeit in der Pariser Literaten- und Künstlerwelt. 1848 gründete er mit Charles Baudelaire und Charles Toubin die Zeitschrift Le Salut public, die allerdings nur zwei Ausgaben erlebte; von da an engagierte er sich für Maler wie Courbet, Corot und Daumier, deren Realismus er verteidigte und auch für die Literatur in vielen Artikeln und Kritiken propagierte. 1857 erschien unter dem Titel Le Réalisme eine Auswahl dieser Schriften, die von der Kritik als das Manifest des Realismus angesehen wurde. Seine umfangreiche Schilderung des Pariser Lebens, die 1859 unter dem Titel La Mascarade de la vie parisienne in Fortsetzungen in der Zeitung L’Opinion nationale erschien, wurde nach der 49. Fortsetzung verboten. In den folgenden Jahren zog er sich mehr und mehr aus dem Tagesstreit des kulturellen Lebens zurück und widmete sich seinen Schriften über die verschiedensten Künste und über Katzen. In der neuen Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie werden ihm einige Zeilen gewidmet, sein Artikel über Wagner wird aber nicht erwähnt. 1860 kommt nun Richard Wagner wieder nach Paris, um seine Konzerte zu dirigieren. Champfleury wohnt dem ersten Konzert bei und ist begeistert. Zwei Tage danach verfaßt er eine Broschüre, in der er seine Begeisterung mit heißer Feder zu Papier bringt. Man hat sogar bei der Lektüre den Eindruck, als habe er sich schon während des Konzerts Notizen gemacht, später datiert er seine Aus- führungen mit den Worten »Geschrieben in der Nacht des 27. Januar 1860«. Auf jeden Fall vermitteln die in kurzen Absätzen hingeworfenen Ausführungen den Eindruck eines Menschen, der in Hast und in tiefer Verehrung seine ersten Ein- drücke und Gedanken formuliert. Die Schrift erregt Aufsehen, sie wird noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt und erscheint kurz darauf im Verlag Schuberth & Comp. mit den Verlagsorten Leipzig und New York. Der Übersetzer, der nicht genannt wird und den wir auch nicht ermitteln konnten, setzt dem deutschen Text das folgende Vorwort voran, mit dem er die Bedeutung der Broschüre unterstreicht, und das darum auch hier vollständig (in der Originalorthographie) zitiert werden soll:

»Der Uebersetzer dieser kleinen Schrift fühlt sich, indem er dieselbe dem deutschen Publicum übergibt, veranlasst, folgende Bemerkungen vorauszuschicken. Champfleury, der Verfasser des Originals, ist einer der be- liebtesten und in Paris bekanntesten französischen Romanschriftsteller. Seine Aeusserungen über Wagner’s Tonstücke dürfen demnach als die unbefangene Würdigung eines angesehenen Franzosen, als die vorurtheilsfreie Aeusserung eines bei seinen Landsleuten renommierten Schriftstellers ein wahrhaft culturhistorisches Interesse beanspruchen, das eine Herausgabe in deutscher Uebersetzung wünschen- swerth erscheinen lässt. Einzelne Unrichtigkeiten, so jene am Schlusse über die noch bevorstehenden Concerte und über die von Wagner selbst eingeleitete Vor- führung ganzer Opern, wird der mit den Thatsachen vertraute Leser selbst cor- rigieren.«

Wiederum ein Jahr später, 1861 (vermutlich nach der Aufführung des Tannhäuser am 13. März), überarbeitet Champfleury noch einmal seine Ausführungen, verfaßt einen zusammenfassenden Teil unter dem Titel »Nach der Schlacht« und nimmt diesen Text insgesamt, zusammen mit Wagners Erzählung Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (wofür er sich eigens Wagners Erlaubnis eingeholt hat) auf in sein Buch Grandes figures d’hier et d’aujourd’hui, das auch Essays über Balzac, Nerval und Courbet enthält.

Mit Champfleurys Artikel, spätestens nach der Tannhäuser-Aufführung, wurde Wagner zum Tagesgespräch in den Pariser Salons. Fast jeder Bürger, der auf Bildung und Kultur hielt, glaubte, etwas zu Wagner sagen zu können, so daß Gustave Flaubert in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze, in dem er die Platitüden der Spießbürger für seinen Roman Bouvard et Pécuchet festhielt, unter dem Stichwort WAGNER notieren konnte: »Ricaner quand on entend son nom et faire des plaisanteries sur la musique de l’avenir.« (Grinsen, wenn man seinen Namen hört, und Witze reißen über die Musik der Zukunft.) Champfleurys Artikel spricht für sich, er präsentiert das Wagnerbild einiger französischer Literaten seiner Zeit und außerdem eine gewisse Verehrung für die deutsche Musik überhaupt und für Deutschland im allgemeinen. Das Deutschlandbild der Madame de Staël war noch in Kraft. Bemerkenswert ist Champfleurys Verwendung militärischer Metaphern: Eine ganze Armee von Deutschen werde nach Frankreich kommen, um die An- weisungen Wagners in Empfang zu nehmen. Seinem Kollegen Baudelaire hätte das nicht gefallen, er mokierte sich ungefähr zur selben Zeit in seinem Tagebuch über diese Vorliebe der französischen Kritiker: »Diese Gewohnheit der militärischen Metapher verrät eine Art von Geistern, die nicht kämpferisch, sondern für die Disziplin geschaffen sind, das heißt für die Gleichförmigkeit, geborene Domestik- enseelen, belgische Gemüter, die nur in Gesellschaft zu denken imstande sind. »Auf Champfleury, der solche Metaphern wohl nur gebrauchte, um sein Anliegen zu unterstreichen, und der in seinem Artikel selbst über die Revolutionsmetapher der Kritiker spottet, auf ihn trifft diese Charakterisierung sicher nicht ganz zu, aber vor dem Hintergrund seiner Ausdrucksweise kann man verstehen, daß Léon Bloy Wagner als die Vorhut der preußischen Armee sehen konnte. Léon Bloys Erzählung Le musicien de silence entstand über zwanzig Jahre später. In der Zwischenzeit war nicht nur Wagner in Vendig gestorben, sondern es hatte auch der deutsch-französische Krieg stattgefunden, mit der katastrophalen Niederlage Frankreichs bei Sedan, der nachfolgenden Proklamation des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles und der darauffolgenden Bombardierung von Paris und der Pariser Kommune. Deutschland war nicht mehr das Land von Bach und Beethoven, sondern das der kriegerischen Preußen, denen viele Rache geschworen hatten. Zu diesen Deutschenhassern gehörte der Schriftsteller Léon Bloy (1846- 1917), der darüber hinaus gegen das saturierte Bürgertum und die Laschheit in allen Bereichen des Lebens zu Felde zog. Bloy, dem die Brockhaus-Enzyklopädie immerhin doppelt so viele Zeilen wie Champfleury widmet, sagte, wie Remy de Gourmont in seinem Livre des Masques (1896/98) berichtet, daß er den Journalismus nur als Pamphlet begreifen könne. Das gilt auch für viele seiner anderen Schriften: Sie sind nicht selten pamphletär und nehmen keine Rücksicht auf geschriebene oder ungeschriebene Gesetze. In einem Brief an seinen Freund, den belgischen Maler Henri de Groux, der 1886 zu den Festspielen in Bayreuth weilte und Bloy einlud, ebenfalls in die Wagnerstadt zu pilgern, antwortete er: Er sei kein Anti-Wagneriander, denn dies sei schon eine Art Wagnerianer zu sein, und wenn man unbedingt Wagner als den größten Kün- stler der Welt bezeichnen wolle, dann bleibe ihm nichts anderes mehr übrig, als die Kunst zu verachten und sich zu schämen, ein Künstler zu sein. Er wolle nicht nach Bayreuth kommen, denn man könne von ihm nicht verlangen, sich diese Ver- bindung von wilden Wiehern und Schweinegrunzen, die deutsche Sprache, anzu- hören.

In diesem und einem weiteren Brief brachte er seinen Haß auf Wagner zum Aus- druck, und zwar war es vor allem ein Aspekt, der den Erzkatholiken Bloy erboste: Wagner hatte in seinem Parsifal die heilige Liturgie säkularisiert, auf die Bühne gebracht und damit in den Schmutz gezogen. Die Religiosität in Wagners Werk, die Champfleury noch bewundert hatte, war für Bloy der wichtigste Grund, Wagner zu hassen. Und natürlich war er ein Angehöriger jenes Volkes, das soviel Schmach über Frankreich gebracht hatte. Bloys Erzählung vom Musiker der Stille gehört in seine Sammlung Sueur de Sang, die 1893 erschienen ist und zu der sein Freund Henri de Groux nicht nur einige Informationen, sondern auch die Illustrationen beigesteuert hatte. In all diesen Erzählungen geht es um den deutsch-französischen Krieg. Aber Bloy erzählt nicht wie in den Contes du Lundi, von Alphonse Daudet, der darin mehr allgemein die Schrecken des Krieges an Hand von Einzelschick- salen anprangert; für Bloy ist die Schuld der Deutschen immer gegenwärtig.

Bloys bisher noch nicht übersetzte Erzählung kann als eine Art Fortsetzung von Champfleurys Artikel verstanden werden. Über zwanzig Jahre später nachdem Paris den Tannhäuser und die Bombardierung durch die Preußen erlebt hatte – war Wagner für nicht wenige der ‘Bismarck der Musik‘ (E. Koppen. S. 245), und die Invasion der Deutschen konnte leicht, wie von Bloys kauzigem Komponisten Pouyadou, als Fortsetzung von Wagners Aktionen in Paris verstanden werden. Hier wie in anderen Schriften Bloys wird deutlich, daß er sich durchaus intensiv mit Wagner beschäftigt hat. In seinem Roman La Femme pauvre gibt es ein langes Streitgespräch über den deutschen Komponisten und seine Musikdramen. Man hat fast sogar den Verdacht, Bloy hätte seinen Pouyadou jenem Komponisten R. nachgebildet, den Wagner in seinen Novellen, die bekanntlich zuerst in Frankreich erschienen sind, schildert. R. ist ein ähnlich kauziger Komponist und Musik- liebhaber wie Pouyadou, wie dieser lebt er in größter Armut in einer Dachkammer im fünften(!) Stock eines heruntergekommenen Pariser Miethauses. Andererseits kann man diese beiden Figuren auch in der Reihe der vielen kauzigen oder whansinnigen Musiker sehen, die spätestens seit E.T.A. Hoffmann zum festen Bestand der europäischen Erzählliteratur gehören. Champfleurys Essay und Bloys Erzählung sind sehr gegensätzliche, aber sehr aufschlußreiche Beispiele fran- zösischer Wagnerinterpretation, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.

Zuerst als Nachwort erschienen in: Richard Wagner in Paris. Zwei vergessene Texte von Jules Champfleury und Léon Bloy. Hg. von Joachim Schultz. Bamberg. Verlag Erich Weiss. 1995.

Signale des Surrealen

Die lyrische Spurensuche des Poetikprofessors Bonnefoy

Yves Bonnefoy, geboren 1923 in Tours, gehört zu den großen, zeitgenössischen Lyrikern der älteren Generation in Frankreich. Er hat bisher, neben einigen Bänden mit Essays, fünf Gedichtbände veröffentlicht, von denen erst einer auf deutsch erschienen ist (Im Trug der Schwelle, 1984). Nun ist ein weiterer Band in der vorzüglichen Übersetzung von Friedhelm Kemp veröffentlicht worden; Berichte im Traum lautet der Titel. Die meisten der darin enthaltenen Texte können als Prosagedichte bezeichnet werden, doch wie bei vielen Werken der modernen Literatur ist auch hier eine Gattungsbestimmung nicht eindeutig möglich.

Das Prosagedicht hat in Frankreich eine lange Tradition: Am Anfang steht der Gaspard de la nuit von Aloysius Bertrand (1842), dann kamen der Spleen de Paris von Baudelaire (1869), die Gesänge des Maldoror von Lautréamont (1869), Rimbauds Illuminationen (1886), später die Prosagedichte der Surrealisten. Wie bei den letztgenannten dürfen auch für die zuvor genannten Autoren Träume als Ausgangspunkt ihrer Prosagedichte eine wichtige Rolle gespielt haben, wirkliche Traumberichte oder in der (Un-) Logik des Traums geschriebene Texte. In dieser Tradition stehen auch die Berichte im Traum von Yves Bonnefoy, der sich für kurze Zeit, in den Jahren zwischen 1944 und 1947, den Surrealisten angeschlossen hat.

Da träumt einer von verschiedenen Städten, die er einmal kennengelernt hat – Tours, Ravenna, Sevilla -; am Morgen danach beginnt er, diese Träume aufzuschreiben, und beim Schreiben fließen Erinnerungen mit ein, Reflexionen, weitere Träume. So ist wohl der Text ”Sieben Feuer” entstanden, mit dem der schmale Band eröffnet wird. Man muß das nicht gelesen haben, die Titelseite einer Zeitung sagt uns mehr über das, was gerade in der Welt von Bedeutung ist, der Börsenbericht sowieso, die Kursbücher verraten uns, wann die Züge abfahren und wann sie ankommen. Aber Bonnefoy setzt ”Feuerzeichen”, die uns daran erinnern, daß es mehr gibt als die zweckbestimmte Außenwelt. ”Reisen ohne Ankunft, Reisen ‘an sich‘ – sollte das der Boden, und die Müdigkeit unsere Verwirklichung sein?” (S. 11) fragt Bonnefoy. Finden wir sie im Traum, dem Geschenk der Müdigkeit und des Schlafs? Oder im Unbewußten, aus dem sich die Träume speisen? Auf dieses Unbewußte hat sich Bonnefoy eingelassen; seiner Meinung nach darf man es nicht nur erleiden, wie heute allgemein üblich. Ebenso muß sich der Leser auf Bonnefoys Texte einlassen, die ihm auf jeder Seite ganz erstaunliche Einsichten bieten, wie es Träume mitunter tun. Freuds Ausführungen über den Traum muß man dafür nicht unbedingt gelesen haben.

Yves Bonnefoy ist seit 1981 Professor für vergleichende Poetologie am Pariser Collège de France, doch seine Sprache hat nichts Professorales. Er schildert Situationen, die aus Träumen entsprungen zu sein scheinen und doch ganz real sein können. Die Texte sind in zwei Hauptgruppen zusammengestellt, in denen es um ganz elementare Dinge geht: um Farben und um das Wort, die Sprache. Der Leser findet Erlebnisse mit Bildern und Malern und Erkenntnisse über das Wesen des Wortes, das, so ein Traumbericht, nur im Sommer des Südens entstanden sein kann. Das sind keine trockenen Betrachtungen eines Kunstprofessors oder eines Linguisten, sondern die eines Poeten, der einigen wichtigen Dingen auf die Spur kommen will.

Dabei gibt er sich nicht zufrieden mit dem, was ihm der wache Verstand verrät, er vertraut der freien Assoziation, der vagen Erinnerung und dem Traum, bleibt dabei jedoch so präzise, daß man leicht seinen Gedankengängen folgen kann. Es ist schwer, ja unmöglich, den Inhalt der einzelnen Texte zusammenzufassen. Jeder Text wirkt aus sich selbst heraus, ist ein Gewebe, das nur so, wörtlich, wiedergege- ben werden kann. Als Beispiel hier der kürzeste Text des Buches, die meisten anderen umfassen im Durchschnitt fünf Seiten:

Wahre Gegenwart

Reiter kommen in großer Eile daher. Von weiten schon rufen sie, daß Gott sei, er sei erschienen, auf dem Strand von ..., wo die Ablagerungen des Salzes und das angeschwemmte Treibholz endlich, für einen Augenblick, zufällig, das Zeichen – ist dies auch das Wort? Ihre Stimmen gehen durcheinander – gebildet hätten, das bisher in allen Alphabeten fehlte, in allen vom Himmel durchlöcherten Ästen und Zweigen, in allen Wolken, in allen Algenstreifen, die im Schaum der Wellen glänzen. (S. 47)

Bonnefoy sucht in der Welt der Dinge nach Zeichen, die über die platte Wirk- lichkeit hinausweisen, zu Gott, das heißt: zu einer anderen metaphysischen oder surrealen Wirklichkeit.

Angefügt sind diesen Prosagedichten drei eher essayistische Betrachtungen, in denen Bonnefoy noch einmal, aber deutlicher erklärend, über die beiden Hauptthemen des Buches – Malerei und Dichtung – schreibt. ”Die Poesie will”, heißt es da, ”mit ihrer mehrheitlichen Schrift, die Bedeutungen, die sich einander zuordnen, sprengen, um in jeder ihrer großen Vokabeln dieses Mehr an Wahrneh- mung wiederzubeleben, das, könnte man darin verbleiben, ihr Wort wäre” (S. 139). Die Dichtung hat eine mehrheitliche Schrift, ist mehrdeutig, ambivalent, aber gerade dadurch ist sie in der Lage, mehr wahrzunehmen und mitzuteilen. Die Prosagedichte Bonnefoys belegen diese Definition. und bieten ein ganz besonderes, wenn auch nicht gerade einfaches Leseerlebnis.

Yves Bonnefoy: Berichte im Traum. Deutsch von Friedhelm Kemp. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart. 1990. 144 Seiten.

Zwischen Naturromantik und Fantasy

Anmerkungen zur Rezeption von Henri Boscos Roman L’Ane culotte in Deutsch- land

In den 50er Jahren wurden die Romane von Henri Bosco (1888 – 1976) in Deutsch- land gern gelesen. Nach Le mas Théotime (Der Hof Théotime, 1953) wurde L’Ane culotte übersetzt (Der Esel mit der Samthose, 1954), danach Malicroix (Das Erbe der Malicroix, 1955), Antonin (Der verzauberte Garten, 1957) und L’enfant et la rivière (Die schlafenden Wasser, 1958). Günther Vulpius übersetzte alle diese Bücher, sie sind im heute nicht mehr existierenden Holle Verlag erschienen. Man sah damals in Bosco einen ”Romancier unter dem Einfluß von Villiers de l’Isle- Adam, Alain-Fournier u. Nerval mit ausgeprägter Neigung zum Märchen- und Zauberhaften u. Bevorzugung provenzalisch-mediterraner Motive.” (Meyers Handbuch über die Literatur, 1964) Hier soll nur vom Esel mit der Samthose die Rede sein, der später noch einmal zu Ehren gekommen ist.

Im Klappentext zur deutschen Ausgabe vom ”Hosenesel” (wie man vielleicht besser hätte übersetzen können) heißt es: ”Provenzalische Landschaft, die Heimat des Dichters, ist auch in diesem Roman Henri Boscos wieder der Schauplatz eines schicksalhaften, bis zuletzt von Geheimnis umhüllten Geschehens.” In der fol- genden kurzen Inhaltsangabe ist vom ”Greis Cyprien” die Rede, der in ”Bergein- samkeit” ”mit seinen Händen und mit erworbenen magischen Kräften ein Abbild dessen schaffen” will, ”was er einmal auf einer fernen, inzwischen der Zivilisation zum Opfer gefallenen Insel gesehen zu haben glaubt: das irdische Paradies.” Berichtet wird vom Knaben Constantin, der, ohne es zu wollen, den ”Alten aus der Wunderwelt seines Zaubergartens” vertreibt. Das Wort ”Bergeinsamkeit” erinnert an Ludwig Tiecks ”Waldeinsamkeit” und somit an die Zauber- und Märchenwelt der Romantik, der dieses Buch hier ziemlich eindeutig zugeordnet wird. Das, vereint mit dem ‚Geruch der provenzalischen Erde‘, war es, was die Leser dieser Jahre faszinierte. Und vielleicht noch die christliche Seite, zumindest wird diese von Brigitta Rambeck in ihrem Buch Henri Bosco. Dichter, Erzähler, Philosoph, Christ (1973) in den Vordergrund gerückt. Ihrer Meinung nach müssen wir Bosco ”als einen Künder der Hoffnung im Sinne des christlichen Transzendenzgedankens auffassen”.

Das alles hat mit den Jahren seine Anziehungskraft verloren, Boscos Bücher sind vom deutschen Buchmarkt verschwunden, außer dem Esel mit der Samthose, der 1981 noch einmal im Verlag Klett-Cotta, und zwar in der Hobbit Presse, erschienen ist. Die Hobbit Presse diente zunächst dazu, Bücher aus dem Umfeld von Tolkien und seinem höchst erfolgreichen Herrn der Ringe zu vermarkten; Fantasy war Trumpf. Später erschienen weitere Bücher in dieser Reihe, die nur irgendwie in diesen Rahmen gepreßt werden konnten, wie eben auch L’Ane culotte. Im Klappen- text ist dann auch nicht mehr vom ”Greis Cyprien” die Rede, sondern hier erscheint ”Herr Cyprien, der alte Zauberer”, der so in den Kreis der Zaubermeister aus der Fantasy-Literatur eingeordnet wird. Die Illustrationen von Heinz Edelmann, der die gesamte Reihe der Hobbit Presse und den Herrn der Ringe gestaltet hat, wirken weiter in diese Richtung.

L’Ane culotte ist dann kurioserweise der einzige Roman Boscos, dem ein Artikel in Kindlers Neuem Literaturlexikon gewidmet wird (1989). Anneliese Botond stellt den Roman nun wieder in den Zauber der Provence, die mittlerweile, nicht zuletzt durch die Romane Marcel Pagnols, viele Anhänger gefunden hat. Des weiteren betont sie Naturnähe und allgemeine Lebensweisheit: ”Wie alle Romane Boscos spielt auch dieser im Süden Frankreichs, in einem kleinen Dorf in der Provence, und ist erfüllt vom duftenden Atem dieser Erde, der die Gestalten des Romans entsteigen [...]. Es sind Menschen, wie Bosco sie liebt, mit einer ungebrochenen Weisheit und Güte, Menschen, die dem geheimen Sinn des Lebens und der Natur nahe sind.” Drei Seiten der Natur glaubt Anneliese Botond entdeckt zu haben: die humanisierte Natur, die animalisch-wilde Natur und die paradiesische Natur. Damit haben wir das Reich der Fantasy-Literatur verlassen und uns der Romantik wieder genähert.

Wie gesagt, fast alle Bücher Boscos sind heute vom deutschen Buchmarkt verschwunden, bis auf den Esel mit der Samthose. 1999 ist eine ”durchgesehene, ergänzte” Neuausgabe erschienen, im Verlag Freies Geistesleben, einem Verlag, der der Anthroposophie nahe steht. In einem Lexikonartikel heißt es: ”Steiners Anthroposophie versteht sich als ein die naturwissenschaftliche Forschungsweise Goethes weiterbildender Erkenntnisweg zum Übersinnlichen” (Bertelsmann: Das neue Taschenlexikon. 1992). Dorthin hat es also Boscos Hosenesel verschlagen. Es bleibt abzuwarten, wo er in zehn oder zwanzig Jahren zu finden ist.... (unveröffentlicht)

Eine Frau sucht Freiheit

Ein exemplarisches Schicksal in Madeleine Bourdouxhes Roman Auf der Suche nach Marie

Marie und Jean sind jung und glücklich verheiratet. Sie verbringen ihren Urlaub am Meer, wo sich Marie in einen jüngeren Mann verliebt. In Paris trifft sie ihn wieder und erlebt mit ihm einige berauschende Liebesnächte. Doch ihren Mann will sie nicht verlassen, sie liebt ihn auch, folgt ihm sogar in die gräßliche belgische Provinzstadt Maubeuge und ins spießige Haus seiner Eltern. Eine banale Geschichte, die das Leben schrieb? Nein, ”das Leben ist doch keine Geschichte, die man erzählen könnte”, lesen wir auf Seite 163, ”es ist allenfalls eine Geschichte, die man selbst erleben kann.” Im Roman der Belgierin Madeleine Bourdouxhe (1906 – 1996) Auf der Suche nach Marie (erstmals erschienen 1943, nun endlich bei uns in der einfühlsamen Übersetzung von Monika Schlitzer) geht es um das Alltägliche, von dem sich viele gerne befreien möchten, von der Monotonie des banalen Tageintagaus, von dem Lebenspartner, an den man sich viel zu sehr gewöhnt hat. Doch ”man befreit sich nicht, indem man einen Menschen im Stich läßt. Wirklich befreien kann man sich nur, wenn man sich den Dingen stellt, vor denen man davonlaufen möchte.” (S. 166)

Dieser schmale Roman ist voll von solchen Sentenzen, die jedem Leser einleuchten müssen, die seinerzeit schon Jean-Paul Sartre und Simone der Beauvoir begeister- ten, wie wir aus dem kenntnisreichen Nachwort erfahren. Schon mit ihrem ersten Roman, La femme de Gilles (1937), der jetzt auch auf deutsch vorliegt (Gilles‘ Frau), hatte sie deren Aufmerksamkeit erregt. Eine Frau ist auf der Suche nach der Freiheit, die Autorin, in Anlehnung an Prousts großen Roman, ist auf der Suche nach dieser Frau, die sie mit all ihren Schwächen und Stärken uns präsentieren möchte. Eine einfache, exemplarische Geschichte, die fast auf jeder Seite an Fragen und Wünsche rührt, die, ganz zeitlos, uns und wohl auch noch die Menschen im nächsten Jahrtausend beschäftigen werden. Wer möchte nicht ”aufs Geratewohl als Mann durch das Land ziehen, schlafen und essen, wie es einem beliebt, sich zum Ausruhen, auf einen Steinhaufen setzen und das Brot mit einem Taschenmesser scheiden”? (S. 79) Der kleine Unterschied ist offensichtlich: eine Frau will wie ein Mann durch das Land ziehen. Es geht um Freiheit und Unterdrückung der Frau, ein Thema, bei dem sich in den letzten Jahren zwar einiges geändert hat, das aber immer noch brisant ist. Ganz deutlich kommt es zur Sprache: ”Wenn Frauen sich in die Enge getrieben fühlen, wenn sie zu sehr leiden, ziehen sie sich stillschweigend aus der Affäre. Sie stehlen sich davon – ins Nichts, in der Hoffnung, Frieden zu finden.” (S. 121) Marie und die Autorin können dies nicht unterstützen, sie fordern Mut zum Leben, zur Freiheit, die man aber nur erreichen kann, wenn man sich auf alles, was einem begegnet, einläßt. Am Ende steht hier also nicht Resignation, sondern das ermutigende Gefühl, daß Mann und Frau durchaus in der Lage sind, das Leben zu meistern, indem sie die schweren Seiten ertragen und das Schöne in vollen Zügen genießen. Offenheit und Mut sind die Tugenden, die wir dazu bra- uchen.

Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie. Roman. Aus dem Fran- zösischen von Monika Schlitzer. Mit einem Nachwort von Faith Evans. Piper Verlag. München. 1998. 180 Seiten.

André Breton: Papst, Magier und Dichter

Zur Breton-Biographie von Volker H. M. Zotz

André Breton gilt als Vater, als Papst des Surrealismus, er hat mit seinen Mani- festen die Theorie, das Programm für diese literarisch-künstlerische wichtigste Strömung des 20. Jahrhunderts geliefert und damit allen Künsten neue Impulse gegeben, die bis heute wirken. Das ungefähr wird man erfahren, wenn man außer- halb von Spezialistenkreisen nach Breton fragt, eher weniger, oft gar nichts. Obwohl Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin schon in den zwanziger Jahren über Breton und den Surrealismus geschrieben haben, ist der Surrealismus hierzu- lande nur zögernd und mit Verspätung rezipiert worden. Das Naziregime machte eine Rezeption zuerst einmal ganz unmöglich, und gleich nach dem Zweiten Weltkrieg waren es allenfalls die Avantgardisten um die Wiener Gruppe, insbeson- dere H. C. Artmann, die sich im deutschsprachigen Raum mit dem Surrealismus beschäftigten. In der Bundesrepublik gab es in der Adenauerära keinen guten Nährboden, um sich mit neuen radikalen Strömungen zu beschäftigen, und in der DDR frönte man dem sozialistischen Realismus. Erst 1968 (!) erschienen erstmals Bretons Surrealistische Manifeste vollständig in deutscher Übersetzung, drei Jahre zuvor war Maurice Nadeaus kurze Geschichte des Surrealismus erschienen. Aber auch danach war der Surrealismus bei uns eher etwas für Fachleute und Eingewei- hte. Elisabeth Lenks Studie über ‘André Bretons poetischen Materialismus‘ (Der springende Narziß) erschien 1971 in der elitären Passagen-Reihe bei Rogner & Bernhard, Hans T. Siepes Studie über den Leser des Surrealismus (Klett-Cotta, 1977) wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Erst die fast 1500 Seiten starke Anthologie Das surrealistische Gedicht (Zweitausendeins, 1985) erreichte eine größere Leserschaft. Nun liegt endlich eine Biographie über André Breton, den Vater des Surrealismus, vor; Volker H. M. Zotz hat sie eigens für die Reihe der Bildmonographien bei Rowohlt geschrieben. Wenn man das Wirken Bretons aus seinem umfangreichen Werk und aus französischen Publikationen über ihn kennt, ist man bei der Lektüre dieser 150seitigen Biographie ein wenig enttäuscht, denn allzu nüchtern und knapp werden hier Bretons Leben (1896-1966), sein Werk und sein Einfluß dargestellt. Aber das war wohl für diese Reihe nicht anders möglich, und das Buch bietet für das erste Kennenlernen mehr als genug Informationen, die Bibliographie im Anhang hilft dem neugierig gewordenen Leser weiter. Bretons Anfänge als Mediz- instudent, seine Erlebnisse in den psychiatrischen Kliniken, in denen die ‘überle- benden‘ Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt wurden, sein literarisches Debüt im Paris der zwanziger Jahre, all dies wird knapp, aber mit größter Sachkenntnis dargestellt. Ebenso die folgenden Kämpfe der Surrealisten auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens, bei denen sich Breton zu einem unerbittlichen Wortführer entwickelte. Daneben schrieb er Gedichte und Prosawerke wie Nadja und L’amour fou, die als Klassiker des Surrealismus gelten. Es folgten die Jahre im Exil während des Zweiten Weltkriegs: in den USA, in Mexiko und auf Haiti; dann die Zeit, wieder in Paris, bis zu seinem Tod im Jahr 1966. Breton verfolgte unbeirrt seine Ideen und verstieß alle Anhänger und Freunde, die sich nicht seinem Zepter beugen wollten. Das war zumindest eine seiner Seiten, aber Volker Zotz hat recht, wenn er dies im letzten Kapitel ein wenig zurechtrückt: ”Was Bretons Einfluß als Künstler der Moderne angeht hat sich seine Persönlichkeit häufig dem Nachruhm ent- gegengestellt. Nicht als Anreger eines Dalí, Ernst oder Buñuel kennt ihn die Geschichtsschreibung in der Regel, sondern er geistert als unduldsamer ”Papst des Surrealismus”, der dogmatisch an seinen Theorien hing und die Künstler in deren Sinn bevormunden wollte, durch die Literatur zum Thema. Auch wenn dies nicht ganz unzutreffend ist, hat es doch den Blick für tatsächliche Einflüsse getrübt" (S. 137f.). Zotz hätte vielleicht mehr Beispiele dafür bringen sollen, daß Breton durchaus auch verzeihen konnte, daß seine herrische Haltung eher als Strategie nach außen zu verstehen war, daß lebenslange Freundschaften, wenn auch mit Unterbrechungen, möglich waren. So hat Robert Desnos, ein Surrealist der ersten Stunde, den Breton 1929 heftig angegriffen hatte, noch auf dem Sterbelager im KZ Theresienstadt Breton als seinen wahren Freund bezeichnet. Ivan Goll, der bei Zotz leider nicht auftaucht, war bei Breton in Ungnade gefallen, nachdem er 1924 sein eigenes Manifest des Surrealismus veröffentlicht hatte. 1943 trafen sich beide wieder im New Yorker Exil, sie versöhnten sich, und Breton schrieb einen Artikel über Aimé Césaire für Golls Zeitschrift Hémisphères. Volker Zotz schneidet auch Themen an, über die wir sonst in Deutschland selten etwas erfahren. Wenig ist hierzulande bekannt, daß sich Breton und die Surrealisten sehr für außereuropäische Kulturen interessiert haben, wobei sie im Gegensatz zu den Kubisten, die die schwarzafrikanischen Skulpturen bewunderten, die Kunst der Südsee bevorzugten. Hier fanden sie das Magische und Mysteriöse, das sie in ihren eignen Werken schaffen wollten. Mit gewissem Recht steht Zotz jedoch diesem Interesse kritisch gegenüber. Für ihn ”kam der Surrealismus über ein großsprecherisches Propagieren des Fremden nicht hinaus” (S. 70). Ich würde dies nicht so hart formulieren, immerhin gehörte auch Michel Leiris zu den Surrealisten; er ist zumindest zeitweise sehr weit auf außereuropäische Kulturen zugegangen, was bei Zotz nur am Rande erwähnt wird. Im übrigen schildert Zotz einige Seiten später, wie sich Breton auf die Kultur der Hopi-Indianer eingelassen hat. In der Begegnung mit fremden Kulturen hat Breton wohl am besten erkannt, um was es ihm mit seinem Surrealismus eigentlich ging: So wie bei den Hopi die Welt noch als eine Einheit gesehen wird, so will auch der Surrealismus die Gegensätze der Realität in einer Surrealität vereinen und versöhnen; Traum und Wachsein, das Unbewußte und das Bewußte, Zufall und Vorherbestimmung, das sind wichtige Gegensatzpaare, die Breton zusammenbringen wollte. Zotz schreibt außerdem, in seinem Rahmen relativ ausführlich, über Vorläufer und Anreger, die Breton bewundert hat. Wir erfahren einiges über Jacques Vaché, der bei uns so gut wie unbekannt ist (auch wenn inzwischen seine Kriegsbriefe bei Nautilus erschienen sind). Der etwa gleichaltrige Vaché, den Breton während des Ersten Weltkriegs kennengelernt hatte, war für ihn die personifizierte Totalverwei- gerung, bei ihm erlebte er den schwarzen Humor als ”höchste Revolte des Geistes”. Von ganz anderer Art war der über dreißig Jahre ältere Saint-Pol-Roux, den Breton mehrmals in seinem bizarren Landhaus in Camaret in der Bretagne besuchte. In ihm verehrte Breton einen großen Meister des poetischen Bildes, der unbeirrt seinen Weg ging, ohne auf Erfolg beim großen Publikum zu warten. Er war es wohl auch, der – neben Freud – Breton auf die poetische Aussagekraft der Träume hingewiesen hat. Zumindest erzählt Breton in seinem ersten Manifest, daß Saint- Pol-Roux immer, wenn er schlief, ein Schild an seine Tür hängte, auf dem zu lesen war: ”Der Dichter arbeitet”. Von diesen und anderen Vorläufern erfährt der Leser einiges in dieser Biographie, und vor allem erfährt er, daß Breton nicht nur der Theoretiker und Anführer der Surrealisten war, sondern daß er selbst auch ein umfangreiches dichterisches Werk hinterlassen hat. Zotz‘ Biographie ist ein guter Ausgangspunkt, um sich intensiv mit Breton, seinem Werk und seinem Einfluß zu schäftigen, denn, so Zotz ganz am Ende, ”Breton und sein Surrealismus bleiben zu entdecken”. Niklas Luhmann sagte in einem Interview (Short cuts. Ffm. 2000. S. 32): ”Biographien sind mehr eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organis- ieren, das dann allmählich weniger beweglich wird.” Das gilt ganz besonders für Breton und wird in der weitaus umfangreicheren Breton-Monographie von Mark Polizotti (München 1996) bestätigt.

Volker H. M. Zotz: André Breton mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1990. 157 S. (= Rowohlts Bildmonographien Nr. 374)

Alphonse de Châteaubriant in Bayreuth

Hartmut Zelinskys ”Dokumentation Richard Wagner. Ein deutsches Thema” (1983) ist seinerzeit sehr angefeindet worden. Ob zu Recht oder Unrecht, soll hier nicht diskutiert werden; anzumerken bleibt, daß die Zeit zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 1. September 1939, also die ”Friedenszeit” der Nazis, in der sie aber den Krieg mit geballter Kraft vorbereiteten, bei Zelinsky viel zu kurz kommt. So kommen hier kaum Reaktionen des Auslands zum Ausdruck, und gerade die Reaktionen aus Frankreich wären von großem Interesse gewesen, denn in keinem anderen Land stießen Bewunderung und Ablehnung im Fall Wagner und zu Deutschland so radikal auf einander. Hier soll nur, und das in gebotener Kürze, von einem Franzosen die Rede sein, von Alphonse de Brédenbec de Châteaubriant, geboren in Rennes am 25. März 1877, gestorben in Kitzbühel am 2. Mai 1951. Daß er in Österreich starb, erklärt sich schon aus dem bisher Gesagten: Er war in Frankreich als Kollaborateur in Abwe- senheit zum Tode verurteilt worden und hat sein Vaterland nach dem Krieg nicht wiedergesehen. Dabei fing alles ganz anders an. Châteaubriant, der übrigens mit dem französischen Romantiker nicht verwandt ist, besuchte die Offiziersschule in St. Cyr, doch bald schon widmete er sich ganz der Schriftstellerei. Nicht ohne Erfolg: Für seinen Roman Monsieur des Lourdines erhielt er 1911 den renommierten , für La Brière 1923 den Grand Prix du Roman; der letztgenannte Roman erschien 1943 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Schwarzes Land, und ihm wurde noch 1989 ein Artikel in Kindlers Neuem Literaturlexikon gewidmet. Abschließend heißt es dort: ”Indem ‚La Brière’ anders als spätere Werke des Autors eben nicht als Blut-und-Boden-Literatur die Regression verherrlicht, sondern der Faszination durch das Archaische implizite Kritik an die Seite stellt, verweist der Roman auf die Komplexität dieses kulturhis- torischen Konflikts.” Eben diese Faszination durch das Archaische war aber wohl auch im Spiel bei der Bewunderung, die dieser Autor für das nationalsozialistische Deutschland schon früh zum Ausdruck brachte. Davon lesen wir in seinem Buch La gerbe des forces, das 1937 in Frankreich und 1938 in Auszügen unter dem Titel Geballte Kraft in Deutschland erschienen ist. Wir können hier in erster Linie nur von den Kapiteln sprechen, in denen von Bayreuth die Rede ist (auch von der manchmal ungeschickten Übersetzung von ”Fräulein Dr. Adolf” kann hier nicht die Rede sein), doch festgehalten werden muss, daß Châteaubriant in seiner Begeisterung ganz von dem Ziel der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich getragen wurde. Diese Thematik bestimmte, zumindest in der Propaganda, auch das Verhältnis zwischen Hitler-Deutschland und dem Frankreich unter der Regierung in Vichy; auch in Claude Chabrols Filmdokumentation über diese Zeit kommt dieser propa- gandistische Hintergrund immer wieder zur Sprache. Châteaubriant schreibt in seiner Einleitung ”An meine deutschen Leser”, er wolle mit diesem Buch seinem Land von Nutzen sein. ”Ich habe gedacht – und ich glaube mit Recht so gedacht zu haben -, daß es wirklich ein Dienst für mein Vaterland Frankreich ist, wenn ich daran arbeite, ihm das Deutschland des Hitlerschen Zeitalters besser verständlich zu machen – jenes Deutschland, das sich auf die bekannte Weise sozial neu geschaffen hat...” Auf der nächsten Seite umschreibt er die ”deutsche Revolution” mit den Worten: ”Erhellung dessen, was im Schoß der Rassengemeinschaft die wirkliche Anlage des Menschen ist.” Eine solche Begrifflichkeit zeigt, wie sehr er der faschistischen Terminologie bereits verfallen war. Und an mehren Stellen ist nun in den folgenden Kapiteln von Bayreuth die Rede. Es fängt ganz harmlos an, nämlich mit dem Markgräflichen Opernhaus: ”Alle Welt weiß, daß es in Bayreuth ein Wunderwerk deutscher architektonischer Kunst des 18. Jahrhunderts gibt: das kleine Markgrafen-Theater. Eines Nachts, als alles schon schlief – es war wohl gegen ein Uhr morgens – erhob sich plötzlich in dieser Stadt ein schrecklicher Lärm. Alle Fenster wurden aufgerissen und jeder fragte seinen Nachbarn: ‚Was ist los?... Wer macht in Bayreuth solchen Lärm?’ Bald kannte man die Ursache des ganzen Aufruhrs: Zwei Franzosen waren auf ihrer Strecke durch Bayreuth gekom- men und wollten nun um jeden Preis das wunderbare Theater sehen. So klopften und trommelten sie weithin vernehmbar am Portal, um den Aufseher zu zwingen, ihnen zu öffnen.”

”Wie die Teufel”

“Und wirklich, als das Klopfen immer dringender wurde, erschien er schließlich. Er und seine ganze Familie und andere Leute aus der Nachbarschaft noch dazu; sie hatten Umhänge und Schlafröcke sich umgeworfen und in der Eile sich alle mögli- chen Kopfbedeckungen aufgestülpt. Alle diese Leutchen nun schlossen sich an. Die Reisenden aus Frankreich wurden umringt. Ihre Bitte wurde erhört; übrigens mit einem wahren Eifer, wie er sich für eine derartige Gelegenheit, einen aufrichtigen und leidenschaftlichen Wunsch zu erfüllen, ja auch geziemt; und es sei auch bei Nacht. Das Theater wurde also aufgeschlossen, der Saal taghell erleuchtet. Eine ganze Weile spazierten die beiden Franzosen durch den Raum, mit gereckten Hälsen alles betrachtend, und gefolgt von ihrer liebenswürdigen nächtlichen Gesellschaft, die immer noch einen schweigenden Halbkreis um sie bildete. Ja, Herr, das waren zwei Franzosen ... die kamen, von den Olympischen Spielen ... in einem Rennwagen. Sahen aus wie die Teufel in ihren Leinenanzügen ... Sie hatten nämlich keine Zeit, bis morgen zu warten ... beim Morgengrauen mussten sie schon in Frankreich sein. ... Denken Sie bloß! Aber sie wollten das Theater sehen – und da musste man ihnen doch aufmachen!” Das ist ja fast eine Idylle ... Angeschlossen werden direkt eine Reihe von Klischees über Deutsche und Franzosen, so zum Beispiel: ”Der Franzose arbeitet, um zu leben und für den Lebensabend einen Rückhalt zu haben; der Deutsche zittert schon bei dem Gedanken an den Feierabend seines Lebens. Er lebt, um zu arbeiten.” ”Der Deutsche versteht und erlebt die Apokalypse unmittelbar; dem Franzosen ist die Apokalypse einerlei.” Châteaubriant nimmt hier fast vorweg, daß die Deutschen nur neun Jahre später die Apokalypse so intensiv erleben mußten. Anschließen könnte man die Sätze, die er bei einer Trauerfeier zum Todestag von Hans Schemm, dem ersten Bayreuther Gauleiter, im Bayreuther ”Haus der Deutschen Erziehung” aufgeschnappt hat. Kommentarlos, kritiklos gibt er sie wieder zum Beispiel: ”In der Natur ist alles Kampf, die Pflanzen streben mit allen Kräften nach der Sonne, die Tiere liefern sich unbarmherzige Kämpfe, und der Mensch selbst kämpft um sein Leben.” ”Kampf muß sein. Kampf weckt die Kräfte des Herzens und erhält sie. Durch Kampf wird jeder zu seiner höchsten menschlichen Entfaltung gebracht.” ”Die Zukunft, das Leben des Volkes, wird nur denen sicher sein, die zum Opfer bereit sind.”

Frommes Erlebnis

Baldur von Schirach hat es bei der Eröffnung der Weimar-Festspiele am 14. Juni 1937 nicht viel anders gesagt, und daß Châteaubriant hier keinerlei Einwände macht, zeigt wie sehr er vom nationalsozialistischen, faschistischen Gedankengut durchdrungen war. Wagner und die Festspiele, die er in diesem Jahr ebenfalls besucht hat, gehören für ihn mit dazu, was in den folgenden Absätzen, die hier als Dokument ungekürzt zitiert werden sollen, deutlich zu Tage tritt. Beides, die Zitate von der Trauerfeier und sein Bericht über die Festspiele, findet man zusammen unter der bezeichnenden Überschrift ”Die Lehre von Bayreuth”. ”Bayreuth wird gen Westen von dem auf einem Hügel liegenden Festspielhaus beherrscht. Man gibt heute Abend ‚Lohengrin’, und im Dämmerlicht eines ausge- sucht schönen Raumes wird mir die strahlende Rüstung des Parsifalsohnes zum frommen Erlebnis. Hier mischt sich Wagners Wesen sanft mit der Atmosphäre, die man atmet, es schwingt mit genialer Leichtigkeit um diese ganz reizvolle Zurück- gezogenheit des Hauses Wahnfried. Von der Enkelin des Meisters geführt, gelangte ich in die Tiefe des Gartens und verneigte mich vor einer ungeheuren Platte, dem ehrwürdigen Grabmal. Ganz in der Nähe liegt auch der Stein, der seinen treuen Hund deckt. Hier durchschritt ich unter dem Regen der Springbrunnen die architek- tonischen Phantasien der Markgrafen und sah das entzückende Theater, ein lustiges Traumgebilde, das auch noch in seiner Versunkenheit zum immer lebendigen Geigenbogen Mozarts paßt. Ich kannte Bayreuth, wie jeder getreue Kunstjünger den Namen eines seiner höchsten Heiligtümer kennt. Oft schon hatte ich im Geist die Reise zu dieser lieblichen Stätte angetreten, wo sich in unvergeßlichen mythischen Darstellungen das Drama unseres menschlichen Lebens abspielt. Aber diesmal fand ich in seinen Mauern auch eine wertvolle Gelegenheit, meinen Gedankenschatz zu bereichern, den ich vom großen seelischen und sozialen ‚Mysterium’, das sich seit vier Jahren im Schoß des deutschen Volkes vollzieht, schon eifrig zusammengetragen hatte. Ich besuchte das ‚Haus der deutschen Erziehung’ in Bayreuth. Im Schaffen des Nationalsozialismus spielt natürlicher- weise das ‚Haus der deutschen Erziehung’ eine großen Rolle. Hitler war sich von Anfang an darüber klar, daß zur Wiedererweckung seines Volkes jede nur äußerli- che Erweckung vergeblich sein würde; daß man vielmehr ganz neu zu beginnen, ganz neu aufzubauen hatte, daß man den Intellektualismus, den Liberalismus, den Individualismus vernichten und entwurzeln, und die Erziehung der Kinder und darum zu allererst die Erziehung der Lehrer selbst in die Hand nehmen musste. Bayreuth wurde als Ausgangspunkt gewählt, um diese Einrichtung zu schaffen. Über das ganze Reich hinweg sind so die verschiedenen großen Strahlenpunkte der geballten Kraft des neuen Staates verteilt. Das ‚Haus der deutschen Erziehung’ ist ein großes Gebäude, in neuem Stil erbaut, in dem die aufs äußerste vereinfachten Flächen und Linien den geeigneten Rahmen zur seelischen Atmung des neuen Menschen bilden. Das Elementar-Einfache ist der ästhetische Begriff, der der sicherste bleibt beim Aufbau einer neuen Gemein- schaftsform.” Châteaubriant übernimmt absolut zustimmend die Programmpunkte des National- sozialismus, die vor allem die Vernichtung der Freiheit beinhalten, und er sagt ganz klar, daß man Bayreuth als Ausgangspunkt zu dieser Vernichtung erwählt habe. Dazu paßt, daß er dem Franzosen ans Herz legt, er solle sich ”vor seiner Logik wie vor der Pest hüten.” Übrigens: Châteaubriant wußte sehr wohl von den Greueltaten der Nazis. ”Oh, oui je suis itlérien malgré tout”, sagte er in einem Gespräch mit Klara Marie Fassbinder, die in ihrem Buch ”Der versunkene Garten” (Heidelberg 1968) berichtet, daß er auch nach dem Krieg keine allzu große Reue gezeigt habe. Noch einmal kam Châteaubriant nach Bayreuth, zum Erntedanktag, an dem man ihm einen Ehrenplatz vor dem ”Haus der Deutschen Erziehung” zuwies. Er ist ganz ergriffen: ”Alle Häuser der Stadt sind mit Grün verkleidet. Quer über die Straßen schaukeln, von einem Haus zum anderen, Getreidekronen oder flatternde Bänder. Hier Früchtekränze, Kürbisse und Trauben; dort Strohbüschel und Feldblumen- sträuße. Die ganze deutsche Seele hat diese Vorbereitungen getroffen ...” Dieses Kapitel steht unter der Überschrift ”Lohengrin und die Bauern”. Wie zu erwarten, empfiehlt Châteaubriant seinen französischen Bauern, sich mit dem deutschen Gedankengut anzufreunden. ”Es geht um Frankreich!” ruft er in einem anderen Kapitel aus, und er erträumt sich ein faschistisches Frankreich, das in fast allen Punkten Hitler folgen müsse. In seiner Bewunderung ist er ganz deutlich: ”Hitler verkörpert einen neuen Geist, den Geist einer wahren Revolution, die sich gegen den Bolschewismus erhoben hat, der selbst keine Revolution, sondern nichts anderes ist als organisierte Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft. Die wahre Revolution bringt der Nationalsozialismus.” Diese Revolution müsse Frankreich übernehmen, das ist Châteaubriants Grundgedanke. ”Der Rhein”, so schreibt er abschließend, ”ist nicht eine Grenze, um die man sich schlägt, sondern eine strategische Linie, auf der man sich sammelt.” Es ist beunruhigend, daß in diesem Buch Schlagworte zu finden sind, die auch nach dem Krieg im Rahmen der Bemühungen für eine deutsch-französische Verständigung verwendet wurden, und man beginnt, die Angst nicht weniger Franzosen zu verstehen, die befürchten, daß in diesem Punkt die nationalsozialistischen Ziele erreicht werden könnten, ein Bund der beiden Länder unter der Vorherrschaft Deutschlands.

Zitate aus: A. de Châteaubriant, Geballte Kraft. Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland. Karlsruhe, Verlag G. Braun. 1938.

Erstmals erschienen in: Festspielnachrichten. Bayreuth. 2000. Lohengrin-Heft.

Boxer, Poet und vieles mehr

Arthur Cravans Texte und Abenteuer

Rilke, George und Werfel waren in Deutschland die vom großen Publikum bewun- derten Dichter im ersten Drittel unseres Jahrhunderts. Bertolt Brecht hielt nichts von ihnen, noch weniger von den jungen Dichtern, die sich die drei genannten zu ihren Vorbildern erkoren hatten. »Das sind ja wieder diese stillen, feinen, verträum- ten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten Bourgeoisie, mit der ich nichts zu tun haben will«, schrieb Brecht 1927 über fünfhundert junge Dichter(innen), die er im Rahmen eines Lyrikwettbewerbs zu beurteilen hatte. Er empfahl statt dessen als Vorbild ein Gedicht über den Radsportprofi Regie MacNamara. Sport und die damit verbundene Reklame und Propaganda waren für Brecht und einige seiner Kollegen poetischer als die ‘lyrischen Produkte der Im- und Expressionisten‘.

Vermutlich wußte Brecht nicht, daß 1920 im Golf von Mexiko ein Mann ertrunken war, der sich gerühmt hatte, »Boxer und Poet« zu sein. Und nicht nur das! »Welt- mann, Chemiker, Hure, Saufbold, Musiker, / Arbeiter, Maler, Akrobat, Schaus- pieler; / Greis, Kind, Hochstapler, Gauner, Engel und Lebemann; / Millionär, Bourgeois, Kaktus, Giraffe oder Rabe; / Feigling, Held, Neger, Affe, Don Juan, Zuhälter, Lord, / Bauer, Jäger, Industrieller, Fauna und Flora: / Ich bin alle Dinge, alle Menschen und alle Tiere!« (S. 32f.) Und außerdem: »Neffe von Oscar Wilde, Holzfäller in den riesigen Wäldern, Autochauffeur in Berlin, Einbrecher« (S. 74). Arthur Cravan nannte sich dieser Mann, der am 22. Mai 1887 in Lausanne als Sohn englischer Eltern geboren wurde. Ein Neffe Oscar Wildes war er (über seine Mutter) wohl wirklich, als Boxer hat er sich tatsächlich hervorgetan. Unter anderem ist er am 23. April 1916 in Barcelona gegen den schwarzen Weltmeister Jack Jackson angetreten und in der ersten Runde k.o. geschlagen worden. Zu diesem Zeitpunkt war er schon als Deserteur auf Weltreise, denn ‘er wollte lieber die Kiefer der Yankees in einem noblen sportlichen Kampf zerschmettern, als sich die Rippen von einem Deutschen kaputtschlagen lassen‘. Zuvor hatte er in Paris zwischen 1912 und 1915 fünf Nummern seiner kuriosen Literaturzeitschrift »Maintenant« veröffentlicht und auf den Märkten verkauft; mit sarkastischen Beiträgen über André Gide und Oscar Wilde und mit eigenen Gedichten, in denen er, ähnlich wie die Futuristen, die moderne Technik, den Boxkampf und Welt der Variétés und Music-Halls besungen hat.

Ein bunter Vogel, der in den Cafés der Literaten und den Ateliers der Maler ebenso zu Hause war wie in den Sportpalästen und den Spelunken der Unterwelt. Nach seinem Tod wurde er, der sich keiner Künstlerclique angeschlossen hatte, von den Surrealisten fast wie ein Heiliger verehrt. André Breton hat Texte von ihm in seine »Anthologie des schwarzen Humors« aufgenommen und über ihn geschrieben: »Arthur Cravan – dieser Name eignet sich mehr als jeder andere dazu, das für die Jahre 1910 bis 1915 in Frankreich, Spanien und Amerika charakteristische Licht für uns zu rekonstruieren, das an der Spitze der künstlerischen Avantgarde strahlt.« (S. 91) Die Schriften Cravans sind nun vollständig auf deutsch erschienen; der geneigte Leser findet darin vielleicht auch Anregungen zur Gestaltung der Post- moderne.

Arthur Cravan: Der Boxer-Poet oder Die Seele im Zwanzigsten Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt. Edition Nautilus. Hamburg 1991. 176 S.

Auf der Suche nach dem Gold des Lebens

Maxence Firmines Roman Honig über einen Bienenzüchter aus der Provence

Der junge Aurélien hat einen bedeutungsvollen Nachnamen: Rochefer, was man mit ‚Eisenfels‘ übersetzen könnte. 1885 begann er von Bienen zu träumen, und mit eiserner Entschlossenheit verfolgt er sein Ziel. Er wird Bienenzüchter, obwohl sein Großvater Léopold, ein Lavendelbauer in der Provence, und Clovis, der Kneipen- wirt, ihn für verrückt erklären. Doch Aurélien hat Erfolg, seine ersten Honigernten sind überwältigend, und er könnte daran denken, Pauline, Clovis‘ Tochter, zur Frau zu nehmen. Da zerstört ein Unwetter all seine Bienenstöcke und er steht vor dem Nichts. Aber einen Rochefer kann nichts erschüttern, und als er von einer honigbraunen wunderschönen Frau aus Afrika träumt, weiß er, daß er dort das Gold des Lebens finden wird. In Abessinien hört er vom sagenumwobenen Honigberg, und er scheut keine Strapazen und Mühen, dorthin zu gelangen. Es ist in der Tat ein gewaltiger Felsen, in dem unzählige Bienenvölker hausen; der Honig fließt in Strömen ins Tal hinunter. Ein rätselhaftes Volk vom Stamm der Galla kommt einmal im Jahr, um den Honig zu ernten, und ihre Königin ist genau die Frau, von der Aurélien geträumt hat. Sie gewährt ihm eine Liebesnacht, dann sind sie und ihr Volk verschwunden. Aurélien reist zurück nach Frankreich, es bleiben ihm nur drei goldene Bienen, die er von der schönen Frau und von Ras Makonnen, dem Herrscher über Harrar, erhalten hat. Auf dem Schiff trifft er den Ingenier Hippolyte Loiseul, den er mit seiner Erzählung vom Bienenfelsen in großer Begeisterung versetzt. Doch Aurélien muß im Krankenhaus von Marseille erst einmal wochen- lang gegen die Ruhr ankämpfen, ehe er in sein Heimatdort zurückkehren kann. Wenig später kommt Hippolyte aus Paris, und gemeinsam machen sie sich daran, einen Bienenfelsen in der Provence zu schaffen. Es gelingt ihnen, doch dann fallen alle Bienen der Wachsmotte zum Opfer. Aurélien ist wieder am Ende, aber er beginnt von Neuem. Als er dabei ist, wieder Bienstöcke zu bauen, kommt Pauline zu ihm, und er weiß, daß eigentlich sie die Frau ist, nach der er gesucht hat, sein Gold des Lebens.

Maxence Firmine erzählt dieses Märchen in kurzen, an Prosagedichte erinnernde Absätze. Es ist ihm gelungen, in einer einfachen und doch starken Sprache, die Karin Krieger gut lesbar ins Deutsche übertragen hat, den Leser für seinen Helden und dessen Abenteuer zu begeistern. Für den gebildeten Leser hat er noch eine Reihe von Anspielungen und Gestalten eingebaut. So trifft Aurélien auf seinem Weg nach Marseille in Arles einen seltsamen, fast wahnsinnigen Maler, dessen Name nicht genannt wird, in dem man aber unschwer Van Gogh wiedererkennen kann. Nach Auréliens Traum malt er ein Porträt der schönen Frau. Diese wunder- schöne, rätselhafte Afrikanerin erinnert an andere sagenhafte Königinnen des dunklen Kontinents, wie wir sie aus den Abenteuerromanen von Henry Rider Haggard (She. 1887) und Pierre Benoît (L’Atlantide. 1919) kennen. Und wenn ein moderner französischer Romancier seinen Helden durch Abessinien reisen läßt, darf der Dichter Arthur Rimbaud, der dort als Waffenhändler zugange war, nicht fehlen. Aurélien begegnet ihm (auch seine Name wird nicht genannt) auf der Reise zum Bienenfelsen, und als er ihn fragt, was er früher in Frankreich getan habe, lautet die Antwort: ”Ich habe mich gelangweilt.” (S. 93) Als sie sich trennen, will Aurélien wissen, wo er nun hin gehe. ”Ins Anderswo. Den Rausch formulieren.” (S. 97) Wie wir wissen, starb Rimbaud in einem Marseiller Krankenhaus, wo er, so in Firmines Roman, noch einmal mit Aurélien zusammenkommt. Rimbaud schenkt ihm einen Band seiner Gedichte, Aurélien ist gerührt: ”Das ist schön. Das ist wunderschön.” Doch der Dichter entgegnet: ”Spülwasser. Nichts als Spülwasser. Doch es rechtfertigt alles andere, dieses ganze Elend.” (S. 129) Der Mythos Rimbaud wird die Franzosen nicht so schnell loslassen, Firmine wendet ihn, zumindest ein wenig, ins Positive, denn so weit bekannt, hat Rimbaud am Ende seines Lebens überhaupt nichts mehr von seinen Gedichten wissen wollen. Daß sie irgendetwas gerechtfertig hätten, wäre ihm wohl nicht in den Sinn gekommen.

So hat dieser schmale Roman noch gewissermaßen eine Bildungsschicht. Wer will, darf auch an Joseph Beuys, seine Honigpumpe und seine Aquarelle vom Leben der Bienen und der Bienenkönigin denken, auch an Maeterlincks Buch über die Bienen. Doch das alles muß nicht vorausgesetzt werden. Denn auch ohne Van Gogh und Rimbaud liest man das Buch mit großem Vergnügen und ist der gleichen Meinung wie der kolumbianische Schriftsteller Álvaro Mutis, dessen Worte Firmine als Motto seinem Roman voran gestellt hat: ”Es ist unnütz, vom Leben mehr zu verlangen als die stillschweigende Harmonie, die uns vorübergehend mit dem großen Mysterium der anderen verbindet und uns erlaubt, ein Stück Wegs in ihrer Gesellschaft zurückzulegen.”

Maxence Firmine: Honig. Aus dem Französischen von Karin Krieger. München 2001. Claassen Verlag. 192 Seiten. 36.- DM.

Von der Liebe und von verlorenen Illusionen

Zu Gustave Flauberts Jugendroman Jules und Henry

Der Bildungsroman, an dem sich die heutigen Romanciers meist vergebens ver- suchen, war die große Erzählform des 19. Jahrhunderts. Romane der ‘verlorenen Illusionen‘, die Balzac gleich im Titel eines seiner größten Werke nennt: schon in Goethes ”Wilhelm Meister” und gewiß in den berühmten Bildungsromanen der französischen Realisten verlieren die Helden nach und nach ihre Illusionen und werden so zu brauchbaren Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Den meisten Helden Stendhals ergeht es so, und auch Frédéric Moreau, dem Helden von Gus- tave Flauberts Roman Lehrjahre des Gefühls (1869). Dieser Roman gilt als der große Bildungsroman Flauberts, und die wenigsten wissen, daß der Autor als junger Mann, zwischen 1843 und 1845, bereits einen ähnlichen Roman geschrie- ben, aber nie selbst veröffentlicht hat. Es geht um seinen Roman Jules und Henry, der erstmals 1910 posthum erschienen ist, 1921 in der deutschen Übersetzung von E. W. Fischer. Der Greno-Verlag hat nun diese Übersetzung neu aufgelegt, in seiner ”Anderen Bibliothek”, zusammen mit einem kleinen Anhang mit Dokumen- ten zur Entstehung des Werkes und zur Person des Autors. Man wird sich fragen, ob dies die Mühe wert war, denn der Roman zeigt deutlich die Schwächen des Anfängers, die man nur einem Flaubert verzeihen möchte. ”Offenbar hat Flaubert dies Werk ohne Plan drauflos geschrieben”, schreibt Josef Hofmiller. Er schildert darin einige Episoden aus dem Leben von zwei jungen Männern, deren Lebenswege sich nach einer gemeinsamen Kindheit in der Provinz (in Flauberts Heimat, der Normandie) trennen. Henry geht nach Paris, um dort Jura zu studieren. Er wohnt in der Familienpension Renaud, die zugleich eine Art Internat ist. Monsieur Renaud unterrichtet und versucht, den jungen Hausgästen seine spießbürgerlichen Weisheiten beizubringen. Madame Renaud kümmert sich um das leibliche Wohlergehen der Studenten. Bei Henry geht diese Sorge etwas zu weit: sie verlieben sich ineinander. Madame Renaud kann so ihrer bürgerlichen Enge für kurze Zeit entkommen, Henry erlebt seine erste große Liebe, die – natürlich – in der Enttäuschung enden muß. Sie fliehen zwar noch nach New York, doch nach einigen, nicht gerade glücklichen Monaten kehren sie zurück nach Frankreich: Madame Renaud an den häuslichen Herd, Henry in eine nicht sehr berauschende Karriere. In den Liebesszenen stößt man bereits auf diesen kühlen Sarkasmus, der Flauberts spätere Romane über weite Strecken bestimmt. So heißt es einmal: ”Sie liebkosten sich zärtlich mit jener Art von sentimentalem Grunzen, das in solchen Fällen unerläßlich ist”. Und das Ende ihrer Liebe kommentiert Flaubert so: ”Ihre Leidenschaft, die lange gegoren hatte, fing an, herb zu werden wie alter Wein. Von einer gewissen Stufe an werden alle Gefühle, selbst die sanftesten, ernst, wie die erhabensten Gedanken grotesk werden”. Der andere Jüngling, Jules, bleibt in der Heimat. Er fühlt sich als Dichter berufen und schreibt ein großartiges Drama. Eine fahrende Schauspielertruppe will dieses Stück sogar aufführen. Man macht dem jungen Autor große Versprechungen, die Liaison mit einer der Schauspielerinnen treibt Jules in einen begeisterten Größen- wahn, doch von einem Tag auf den anderen sind die Schauspieler verschwunden. Sie haben nur Schulden hinterlassen und einen desillusionierten Dichter, der nun immer mehr an Gott und der Welt verzweifelt. – Das ist, kurz gesagt, die Handlung des Romans, der insgesamt sehr uneinheitlich ausgefallen ist. Flaubert wußte offenbar nicht so recht, wem der beiden Helden er das Hauptgewicht geben sollte. In der ersten Hälfte des Romans hören wir fast nur von Henry und seinen Pariser Abenteuern. In nur wenigen Briefen erfahren wir etwas über Jules, in dem sich Flaubert offenbar auch selbst, nicht ohne Ironie, dargestellt hat. Flaubert hatte seine spätere kühle Meisterschaft im Erzählen noch nicht erreicht: mal spricht ein allwissender Erzähler, dann folgen unvermittelt Briefe, dann meldet sich ein Ich- Erzähler zu Wort, von dem man nicht so recht weiß, wer es sein könnte. Bezeich- nend ist die New York-Episode. Flaubert wußte wohl recht wenig über die dortigen Verhältnisse, was er über das Leben von Henry und Madame Renaud in der Neuen Welt berichtet, könnte ebenso gut woanders geschehen sein. In seinen späteren Romanen ist ihm so etwas nicht mehr passiert, da ist alles genau recherchiert. Am Ende des Romans liest man über viele Seiten ein literarisch-weltanschauliches Glaubensbekenntnis über Jules, das sicherlich auch die Ansichten des jungen Flaubert – er war damals zweiundzwanzig Jahre alt – zum Ausdruck bringt. Hier hat er seinen späteren Realismusbegriff in nuce formuliert und gewissermaßen auch eine Kritik seines eigenen Jugendwerks: Jules sah ein, ”daß die historischen Romane besser daran täten, nicht auf Historie abzuzielen; wer die Vergangenheit im Sinne einer vorgefaßten Idee, die er irgendwo unterbringen möchte, in anderen Farben sieht, als sie gehabt hat, vergewaltigt Tatsachen und bildet Menschen um, gelangt zu einem falschen Werk ohne Leben (...). Doch wieviel Wissen wäre erforderlich, um eine einzige Epoche verstehen zu können! Welches Studium, um dieses Wissen zu erwerben! Wieviel Scharfsinn, um es anzuwenden! Wieviel Verständnis, um die Dinge so zu sehen, wie sie sich ereignet haben! Wieviel Talent, um sie darzustellen, und vor allem, wieviel Geschmack, um sie uns ge- nießbar zu machen!” Später hat Flaubert über dies alles verfügt, in seinem Jugen- droman tritt er am Ende die Flucht an: ”Hier schlüpft der Autor in seinen Frack und empfiehlt sich den Herrschaften”. Dennoch kann dieser Roman heute mit Genuß gelesen werden. Der Flaubertkenner entdeckt in den Personen Vorstudien zu Flauberts späteren Helden. Madame Renaud ähnelt in vielen der späteren Madame Bovary, in Monsieur Renaud erkennt man einen Spießbürger, der auch in Bouvard und Pécuchet auftauchen könnte. Die Banalitäten, die er von sich gibt, passen sehr gut in das von Flaubert später zusam- mengestellte Wörterbuch der Gemeinplätze; ebenso die von Henrys Vater, von dem es heißt: ”Er hatte fertige Ansichten über alles mögliche. Für ihn war jedes junge Mädchen ‘unschuldig‘, jeder Gendarm ein ‘Rohling‘ und jede Landschaft ‘reiz- voll‘”. Doch ”ist nicht das Leben selbst eine öde Wiederholung derselben Reden- sarten?” lautet die Frage an den Leser. Die beiden Titelhelden Jules und Henry vereinigen sich später in Frédéric Moreau, dem Helden der Lehrjahre des Gefühls. Der im Werk Flaubert nicht bewanderte Leser verfolgt mit Vergnügen die Aben- teuer und Enttäuschungen der beiden jungen Männer und die Ungeschicklichkeiten des Autors. Doch wer weiß? Vielleicht hat sich der junge Flaubert dies alles überlegt und ganz bewußt ein, in unseren Augen, uneinheitliches Werk geschaffen. Auf jeden Fall ist dies ein Roman, den man zuende liest, ohne sich zu langweilen, was man von den Bildungsromanen unserer Zeit nicht immer sagen kann. Es scheint als hätte Flaubert vor über hundert Jahren auch die Menschen unserer Zeit besser getroffen, als dies heutige Schriftsteller vermögen.

Gustave Flaubert: Jules und Henry. Nördlingen (Greno) 1988. Erschienen als 40. Band der Anderen Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger. 384 S. (Aus dem Französischen von E. W. Fischer).

Ein fingierter Briefwechsel

André Glucksmann philosophiert auf hohem Niveau über Deutsche und Franzosen

André Glucksmann, der alt gewordene ”neue Philosoph” aus Paris, hat sich mit Kanzler Kohl ablichten lassen, sein deutscher Verlag wirbt mit diesem Foto. Da fragt man sich doch, wem das nutzt oder schadet. Steigt Kohls Ansehen, wenn er sich mit Philosophen zeigt? Wird Glucksmann mehr geschätzt, weil er die Nähe zur Tagespolitik nicht scheut? Oder geht es für beide eher schlecht aus? Diese Fragen können wir hier nicht beantworten, sondern nur unsere Meinung zu Glucksmanns deutsch-französischem Briefwechsel formulieren. Immerhin könnte man begrüßen, daß dieser Kontakt gesucht wurde, wenn man nicht befürchten müßte, daß das Interesse für Philosophie von seiten der deutschen Politiker nicht allzu groß ist; für sie geht es nur um Legitimation, um die Vergrößerung ihres Ansehens. Fran- zösischen Politikern, man denke an Mitterand, nimmt man ein solches Interesse ab.

”Das Gute und das Böse” lautet der Obertitel des Buches, der wortgenau aus dem Französischen übersetzt wurde. Doch der Untertitel der Originalausgabe lautet: ”Lettres immorales d’Allemagne et de France.” Das Adjektiv ”immoralisch”, das an André Gides Roman ”Der Immoralist” erinnert, hat der Verlag seinen deutschen Lesern nicht zumuten wollen. Man fragt sich warum. Glucksmann wollte gewiß nicht als Moralprediger auftreten, er stellt sich über die Moral, was er gleich auf der Titelseite zum Ausdruck bringt. Dem deutschen Leser wird dies vorenthalten. Doch das ist eher nebensächlich. Bedenklicher erscheint es, daß Glucksmann sich nicht die Mühe gemacht hat, einen deutschen Briefpartner zu suchen. Er hat sich seinen Briefpartner von der anderen Seite des Rheins selber erfunden, und da ist es natürlich leicht, mit Argumenten zu spielen, Theorien und Theoreme Revue passieren zu lassen. Einen echten Gegner oder nur einen Gesprächspartner gibt es ja nicht.

Gewiß, das ganze Buch bewegt sich auf einem hohen Niveau. Von Kratylos bis Habermas, über Leibniz, Voltaire und Rousseau, Kant, Heidegger, Sartre und so weiter. Alle kommen zu Wort oder dürfen dem Autor ihre Worte leihen. Scheinge- fechte und Geplänkel hoch oben in der Zirkuskuppel. Das liest sich spannend, auch wenn man bisweilen den Eindruck hat, Glucksmann wolle nur sein immenses Wissen unter Beweis stellen. Aber es bleibt ein Unbehagen, das sich schon bei Kleinigkeiten einstellt, die zeigen, daß Glucksmann doch nicht so ganz im deutschen Geistesgebäude zu Hause ist.

Da schreibt er zum Beispiel: ”Die Engländer beriefen sich auf den Common sense, die Franzosen auf den Bon sens, und die Deutschen widmeten sich dem Geist, ähnlich wie die Gläubigen in der Religion und die Humanisten im Humanismus den Kompaß fanden, der sie führen sollte.” Müßte da nicht für die Deutschen zunächst einmal vom ”gesunden Menschenverstand” die Rede sein, denn das ist der Begriff, der der englischen und der fanzösischen Formulierung entspricht? Statt dessen hat man den Eindruck, daß Glucksmann wie weiland Madame de Staël in ihrem Deutschlandbuch die Deutschen wieder mal als wirklichkeitsferne Geistmen- schen darstellen wollte.

Wenn er einen deutschen Briefpartner gehabt hätte, hätte der ihn sicher auf dieses uralte Vorurteil hingewiesen, gegen das Glucksmann ansonsten zu Felde zieht. Ein fingierter Briefwechsel also nur? So streng sollte man nicht sein, denn Glucksmann versteht es zu überzeugen, und er hat nachdenkenswerte Gedanken aufs Papier gebracht. Und vielleicht beruft er sich auf Montesquieu, dessen Persische Briefe ja auch fingiert sind. Letztlich ist Glucksmann ein Pragmatiker. Er wendet sich gegen alle Feindbilder und ”plädiert für eine demokratische europäische Kultur”.

André Glucksmann: Das Gute und das Böse. Ein französisch-deutscher Briefwech- sel. Aus dem Französischen von Eva Groepler. Für die deutsche Ausgabe vom Autor durchgesehen. Claassen Verlag 1998. 416 S.

Zeitlebens Vagabunden zwischen den Kulturen

Claire und Ivan Golls Werk ist immer noch zu entdecken. Am 29. März 1991 wäre Ivan Goll hundert Jahre alt geworden

Claire und Ivan Goll: zwei verbrannte Dichter, um einen Titel von Jürgen Serke zu verwenden; er hat in seinem Buch über die von den Nazis verfolgten deutschen Schriftsteller Claire Goll, und damit auch Ivan, ein langes Kapitel gewidmet. Sie wurden verfolgt, und große Teile ihres Nachlasses sind für immer verloren. Einige ihrer Bücher sind heute noch oder wieder im Buchhandel zu haben, der Berliner Argon Verlag gibt seit drei Jahren ihre Werke heraus; einzelne Werke sind in anderen Verlagen erschienen. Die Lage ist nicht sehr übersichtlich, immer wieder stößt man auf Ungereimtheiten. So liest man in den meisten Literaturhandbüchern und Lexika, daß Claire Goll am 29. Oktober 1891 geboren wurde (wenn sie überhaupt Erwähnung findet). Tatsache ist jedoch, daß sie am selben Tag, aber ein Jahr früher, geboren wurde. Sie selbst hat wohl dieses falsche Datum in die Welt gesetzt, um nicht älter als ihr Mann Ivan zu erscheinen. Bei ihm (eigentlich hieß er Isaac Lang) ist es der Vorname seines Pseudonyms, über dessen Schreibung man sich nicht einigen kann: Yvan, Ywan, Ivan, Iwan, vier Schreibungen, die wohl auch damit zusammenhängen, daß Goll sowohl in Deutschland als auch in Frankreich (für kurze Zeit, 1939-1947, auch in New York) zu Hause war und wie seine Frau auf deutsch, französisch und englisch geschrieben hat. Nein, zu Hause fühlte er sich eigentlich nirgendwo: von Geburt Jude, im Elsaß geboren, mit einem deutschen Paß, war er zeitlebens ein Vagabund zwischen den Kulturen, ein Johann Ohneland, wie er sich in seinem gleichnamigen Gedichtzyk- lus genannt hat. Er wäre am 29. März hundert Jahre alt geworden, Claire am 29. Oktober vergangenen Jahres. Dies soll uns Anlaß sein, über ihr Schicksal und ihr Werk zu berichten, in der Hoffnung, daß wir sie danach nicht gleich wieder verges- sen.

Zweitrangig?

Oder haben sie es verdient, vergessen zu werden? Nicht wenige halten ihre Werke für zweitrangig, allzusehr den literarischen Moden ihrer Zeit angepaßt. Immerhin ist Ivan Goll mit sechs Artikeln im neuen Kindlers Literatur Lexikon vertreten, Claire jedoch mit keinem. Wir lesen dort: ”Golls umfangreiches lyrisches Oeuvre, anfänglich vom Expressionismus geprägt, nach 1921 dem Surrealismus zu- zurechnen, ist den gängigen literaturkritischen Kategorien bis heute ,inkommensurabel' geblieben.” Golls neue Dramen werden in der Interpretation seiner Stücke Methusalem oder Der ewige Bürger (1924) und Die Unsterblichen (1920) in mancher Beziehung als richtungsweisend für die Moderne gedeutet. Die Lebensläufe der Golls, die viele Jahre gemeinsam verliefen, viele Jahre aber auch im Streit und getrennt, und Claire lebte nach Ivans Tod (1950) noch fast dreißig Jahre allein in Paris, diese Lebensläufe spiegeln sieben Jahrzehnte deutscher, ja europäischer Kulturgeschichte wider. Als sie sich während des Ersten Weltkriegs in der Schweiz kennenlernten, hatten beide schon bewegte Jahre hinter sich. Claire, als Klara Aischmann in Nürnberg geboren, wäre fast an ihrer sadis- tischen Mutter, die ihren Bruder in den Selbstmord getrieben hat, zerbrochen. Sie heiratete 1911 einen Schweizer Verleger und trennte sich 1917 von ihm. Aus dieser Zeit stammen ihre ersten politischen Artikel in Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Sie zieht gegen den Krieg zu Feld, spricht von der Mitschuld der Frauen, die ihre Männer nicht zurückhalten konnten, prangert als eine der ersten den Völkermord an den Armeniern an. Diese Proklamationen sind heute wieder nachzulesen (in: Der Gläserne Garten. Prosa von 1917-1939), sie haben nichts an ihrer Schärfe verloren. Ivan Goll, in St. Dié als Sohn eines wohlhabenden Textilhändlers geboren, be- suchte das Gymnasium in Metz und debütierte mit Lothringischen Volksliedern (1912). Er studierte Jura in München, Freiburg und Straßburg und brachte es bis zum Doktor der Jurisprudenz mit einer Dissertation über elsässische Heimarbeiter- innen. Bald schon ging er nach Berlin und schloß sich den expressionistischen Kreisen an. Dann kam der Krieg, an dem er sich nicht beteiligen wollte, schon damals fühlte er sich heimatlos: ”Ivan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.” Er desertierte in der Schweiz, um dort wie Claire gegen den Haß der Völker seine Stimme zu erheben (u. a. in seinem Requiem für die Gefallenen Europas. 1917). Nach dem Krieg ziehen beide, nach einem kurzen Aufenthalt in der Künstlerkolo- nie Monte Verità in Ascona, nach Paris, wo sie 1921 heirateten. Zuvor hatte Claire jedoch noch eine intensive Beziehung Rilke gehabt, über den sie 1973 in einem Interview sagte: ”Mit Rilke war ich liiert, obwohl ich seinen Schnauzbart über den Negerlippen nicht ausstehen konnte. Als ich von ihm schwanger wurde, habe ich abtreiben lassen. Das Kind wäre sowieso idiotisch geworden wie seine Tochter, die dauernd Schlagsahne aß.” Es folgen einige intensive Jahre mit Ivan, in ihren Gedichten stilisieren sie sich zum poetischen Liebespaar des Jahrhunderts, doch so war es wohl von Anfang an nicht gewesen: Ivan ging fremd, sie suchte Trost bei anderen Männern. Die Malai- ischen Liebeslieder, die Ivan Goll für seine Freundin, die Dichterin Paula Ludwig, geschrieben hat, wollte Claire später ganz aus seinem Oeuvre verbannen. Beide schrieben wie fieberhaft: Gedichte, Romane, Dramen. Ivans Werke kreisen thematisch oft um die Situation des heimatlosen Dichters und Intellektuellen in einer Welt saturierter Bürger und blasierter Klugschwätzer. So zum Beispiel in seinem Roman Der Mitropäer, der viele autobiographische Züge enthält: Ein junger Mann kommt nach dem Krieg aus der Schweiz nach Paris, wo er im Kreis feingeistiger Literaten (Jean Cocteau soll hier u. a. als Vorbild gedient haben) nicht Fuß fassen kann. Das Thema des Deutschen in Paris behandelt auch Claire Goll in ihrem Roman Eine Deutsche in Paris; hier ist es eine junge Frau, die mit ihrem zynischen fran- zösischen Freund nicht zu Rande kommt. Deutschland und Frankreich im Werk der Golls, darüber ließe sich eine dicke Doktorarbeit schreiben, schon allein ausgehend von der Tatsache, daß beide sowohl auf deutsch als auf französisch geschrieben und ihre eigenen Werke in die jeweils andere Sprache übersetzt haben. Doch ihre Vermittlertätigkeit in den zwanziger und dreißiger Jahren ging weit über diese beiden Länder hinaus. Claire Goll veröffentlichte 1920 eine Anthologie mit neuer nordamerikanischer Lyrik, Ivan Goll brachte ein Jahr später in Paris seine Anthologie mondiale de Poésie (Poesie der Welt) unter dem Obertitel Les cinq continents (Die fünf Kontinente) heraus. Beide berücksichtigen darin in starkem Maße die Lyrik schwarzer Dichter, ein Interesse, das sie viele Jahre intensiv verfolgt haben. Hinzuweisen wäre da zum Beispiel auf Claires Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926), in dem sie die unglückliche Ehe zwischen einem Afrikaner und einer Französin schildert. Claire Goll übersetzte außerdem den ersten Roman eines schwarzen Schriftstellers (René Maran: Batouala. 1921) aus dem Französischen ins Deutsche; Ivan übertrug den antikolonialistischen Afrikabericht Terre d’ébène von Albert Londres unter dem deutschen Titel Schwarz und Weiß (1928). In seiner großen Gedichtsammlung vom Johann Ohneland, die in mehreren Folgen erschienen ist, widmet er ein Gedicht dem schwarzen Bruder, der wie er heimatlos zwischen den Kulturen steht. Die letzte Strophe dieses Gedichts sagt deutlich, was Goll auch an anderen Stellen verkündet hat: Die heruntergekommene Welt der Weißen muß neue Energie bei den schwarzen Brüdern und Schwestern finden:

Du der die tausendjährige Schmerzenskohle hehlt In seines Leibes mitternächtigem Reiche Du bist der Arzt der dieser armen Erde fehlt Um sie zu heilen von der Todesbleiche

Aus all dem spricht nicht sehr viel Begeisterung für die Werte der europäischen Kultur. Kulturpessimismus war an der Tagesordnung, und bei Ivan finden wir ihn auf Schritt und Tritt, manchmal etwas dick aufgetragen. So in seinem Roman Die Eurokokke, der immerhin bei seinem Erscheinen mit Hermann Hesses Steppenwolf verglichen wurde. Ganz Europa, so erfährt der Leser, ist von einem Bazillus, der Eurokokke, verseucht; Bauwerke, Kunstwerke, ja sogar die Menschen werden von ihm ausgehöhlt, so daß nur noch die leeren Fassaden stehen bleiben. Der namen- lose Held irrt durch Paris, stellt fest, daß er, ohne zu wissen, ein Raubmörder ist und verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen. In einem anderen Großstadtroman mit dem Titel Sodome et Berlin (1929), der erst posthum auf deutsch erschienen ist, schildert Goll das dekadente Berlin der zwanziger Jahre mit all seinen Ganoven, Rauschgiftsüchtigen, und vermeintlichen Lebenskünstlern. Der Kulturpessimismus war nicht unbegründet: Das Jahr 1933 stand vor der Tür, und sechs Jahre später wurde ganz Europa von einem deutschen Größenwahnsinni- gen in einen neuen Weltkrieg gestürzt. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges fliehen die Golls, Manuskripte, Bücher, alles lassen sie in ihrer Wohnung zurück, es wird von den Nazis vernichtet. Zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen verbringen sie die Jahre der Emigration in New York. Keineswegs untätig: Claire Goll schreibt ihren Roman Der gestohlene Himmel, indem sie auf subtile Art mit ihrer grausamen Mutter abrechnet, wohl wissend, daß diese bereits ihrem Tod in Ausch- witz entgegensieht. Ivan gründet die Zeitschrift Hémisphères, wieder ein Dokument für seine weltum- spannenden künstlerischen Bemühungen; unter den Mitarbeitern sind André Breton und Roger Caillois, Henry Miller und der noch unbekannte schwarze Dichter Aimé Césaire. Er selbst wendet sich wieder ganz der Lyrik zu. Seine Gedichte werden rätselhafter, Motive aus der jüdischen Kabbala und aus den Mythen der nordameri- kanischen Indianer machen sie für den heutigen Leser nicht gerade zu einer leich- ten Lektüre. Er schreibt in einem später verworfenen Vorwort zu einer Sammlung, der er den Titel Traumkraut gegeben hat: ”Jetzt, dem Tode nahe, glaube ich in den Gedichten des Traumkrauts zum erstenmal dem Geheimnis des Wortes nahe gekommen zu sein.” Hier ein Beispiel:

Straße durchs Land

Straße durchs Land Besät mit Jaspis und mit Diamant Straße der Armen Lasso um den Nacken der Besessenen Woher wohin Im weißen Turban deines Staubs Wohin woher Mein Schatten stürzest du?

Ivan war an Leukämie erkrankt, er hatte nur noch wenige Jahre zu leben und starb am 27. Februar 1950 in Neuilly bei Paris; die Veröffentlichung seiner letzten Gedichte (1951) hat er nicht mehr miterlebt.

Letzte Liebe

Claire war nun allein und widmete sich fast ausschließlich dem Nachlaß ihres Mannes, voller Energie und nicht immer rücksichtsvoll. Dem jungen Dichter Paul Celan wirft sie vor, bei Ivan abgeschrieben zu haben. Der Vorwurf erweist sich als haltlos, doch er mag mit zu Celans immer weiterem Rückzug aus der Öffentlichkeit beigetragen haben. Claire versucht, ihr vergangenes Leben in den Griff zu bekom- men: 1971 erscheint ihr Buch Traumtänzerin. Jahre der Jugend, 1976 erscheinen in Paris ihre Memoiren unter dem Titel La poursuite du vent (Dem Wind hinterher). Die deutsche Fassung erscheint zwei Jahre später, ein Jahr nach ihrem Tod. Sie konnte das Buch nicht mehr bis zum Schluß betreuen, es wurde gekürzt, und Claire ist wohl auch nicht für den reißerischen deutschen Titel verantwortlich: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. Wie eine Abrechnung liest sich allerdings dieses Buch über viele Seiten, kaum ein Mann, mit dem sie es in ihrem Leben zu tun hatte, kommt ungeschoren davon; bis auf einen, den sie erst wenige Jahre vor ihrem Tod kennengelernt hat: ”Im Alter habe ich von einem sehr jungen Mann die Liebe gelernt. Wie einst bei Goll bra- uchte ich sechs Monate, um etwas zu begreifen. Dann war es wie eine Lawine, ein völliger Umsturz meiner Tage und Nächte. Nach sechzehn Jahren der Enthaltsam- keit war ich wieder Jungfrau. Zwischen ihm und mir ereignete sich die unver- ständliche, aber alles überstrahlende Entdeckung der Sexualität.” Frucht dieser unerwarteten Liebe war wohl auch ihr letzter Gedichtband mit dem Titel L’ignifère (Die Feuerträgerin. 1969), der in Deutschland noch zu entdecken ist. Liebe, Alter, Trauer und Erinnerung sind die Themen dieser Gedichte. Die letzten Verse dieses schmalen Bandes lauten:

Couteau rouillé dans ma poitrine Douleur de ne pas connaître Le soleil des temps futurs Et sur tes cheveux la neige!

Ein verrostetes Messer in meiner Brust Schmerz, weil ich die Sonne künftiger Zeiten Nicht mehr erleben werde Und auf deinen Haaren Schnee!

Anna Rheinsberg schreibt in ihrem Buch Kriegs / Läufe (Mannheim 1989. S. 69): ”Claire Goll spricht stets von Verrat. Ihr Geschlecht, ihr Frau-Sein ist ihr die Wunde. Misogynie ihre Handschrift. Sie ist eine der ersten, die laut darüber spricht. Das macht ihre Modernität aus, ihre Grenzüberschreitung – und ihr Ich.” Eine treffende Charakterisierung.

Teuflische Geschichten

Erstmals Erzählungen von Pierre Gripari auf deutsch

Pierre Gripari war wohl der Meinung, daß man Kritikern nicht über den Weg trauen darf. Oft haben sie nicht einmal die Bücher (ganz) gelesen, über die sie schreiben, saugen sich dann irgend etwas aus den Fingern, das mit dem Autor und seinem Buch wenig zu tun hat. Gripari hatte seine Bedenken und schrieb darum eine kurze Selbstdarstellung mit dem Titel Pierre Gripari, gesehen von Pierre Gripari, an der man als Kritiker nun nicht mehr vorbei kann. Da liest man zum Beispiel: ”Wenn man ihn bittet, sich selbst zu definieren, antwortet Pierre Gripari, daß er sich selbst als Romantiker bezeichnet. [...] In jedem seiner Bücher findet man stets in unterschiedliche Dosierungen dieselben Elemente: Lyrik, Bekenntnis, Humor, Fantastisches, Satire.” (S. 138) Als Vorbilder nennt er unter anderem E. T. A. Hoffmann, Gogol, Charles Dickens und vor allem Marcel Aymé. Und zum Abschluß seiner Selbstdarstellung findet man sein Credo: ”Geschichten erzählen, behauptet er, ist der schönste Beruf der Welt, und die Freude, die man dabei erfährt, ist eines der seltenen Dinge, die nie trügen.”

Der Franzose Gripari war ein äußerst vielseitiger Autor (er starb 1990 im Alter von 65 Jahren), er verfaßte Romane, Theaterstücke, theoretische Abhandlungen und anderes, doch als Geschichtenerzähler hatte er den größten Erfolg, besonders mit seinen Geschichten für Kinder, die, wie alle guten Kindergeschichten, auch von Erwachsenen mit Vergnügen gelesen werden. (Am bekanntesten: La sorcière de la rue Mouffetard et autres contes de la rue Broca. 1967.)

Der Münchener Verlag Matthes & Seitz hat nun sieben seiner Geschichten, darun- ter eine Kindergeschichte, veröffentlicht, unter dem Titel Kleiner Idiotenführer durch die Hölle, womit Gripari wohl nicht einverstanden gewesen wäre. Auch der den Geschichten und der bereits erwähnten Selbstdarstellung angehängte Text die apokalypse im eimer oder der papst ohne präservativ von einem gewissen Jot Es hätte ihm sicher mißfallen, denn diesem manierierten Machwerk fehlt es genau an diesem scheinbar naiven und in Wirklichkeit aber raffinierten Witz, der Griparis Geschichten auszeichnet.

Griparis in diesem Band von Jean-Jacques Langendorf zusammengestellte Texte sind ”contes philosophiques”, philosophische Geschichten, in denen er sich – vielleicht nicht ganz so scharfsinnig wie ein Voltaire, eher mit den Augen eines altklugen Kindes – mit den moralischen Kategorien der Menschen, mit ihren Bildern für Gut und Böse beschäftigt. Was wäre, wenn es tatsächlich einen Himmel und eine Hölle gäbe, wenn aber die Verdammten alle rehabilitiert worden wären? Darum geht es in Griparis Radioreportage (nebenbei einem köstlichen Remake von Dantes Göttlicher Komödie): Ein etwas zerstreuter Reporter interviewt den Teufel und den lieben Gott, die nun mit der neuen Situation fertig werden müssen. Hat es wirklich das Jahr 1966 zweimal gegeben, weil für eine kurze Zeit Gott existierte? Was macht ein kleiner Teufel, wenn er nicht böse werden will? (Da könnte man an den Unterteufel von C. S. Lewis denken.) Gibt es eine ”Gott Mutter”, die ihren Sprößling ins Bett schickt, nachdem er mit seiner Schöpfung schon genügend Dummheiten angestellt hat? Gripari stellt solche ganz arglosen Fragen, spinnt sie aus zu höchst vergnüglichen, teuflischen, vertrackten Geschichten, die zu denken geben. Wahrlich kein Idiotenführer!

Pierre Gripari: Kleiner Idiotenführer durch die Hölle. Aus dem Infernalischen (Französischen) übersetzt von Cornelia Langendorf und Hans Therre. München 1992. Verlag Matthes & Seitz. 150 Seiten.

Hilflos in einer konfusen Welt

Ein Autor mit kalter Weltsicht lässt seine Leser doch nicht kalt: Michel Houellebecqs Elementarteilchen

Wer heute Genaues über die moderne Gesellschaft, ihre Werte, ihre Verhalten- sweisen und Motivationen der Menschen erfahren will, der wird zu den Unter- suchungen der Soziologen greifen. Für die französische Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Pierre Bourdien umfangreiche, detaillierte Studien vorgelegt, die bis zu einem gewissen Grad auch für unsere Gesellschaft gültig sind. Doch schon Balzac und Flaubert wußten, daß die Geschichts- und Ge- sellschaftswissenschaften nicht ausreichen, um eine Gesellschaft in all ihren Nuancen darzustellen, dazu bedarf es der Romankunst. So wie Blazac und Flaubert, später Zola, ihre Gesellschaft in Romanen geschildert haben, so kann Michel Houellebecq als der Romancier der heutigen französischen Gesellschaft bezeichnet werden. Und er tut es gnadenlos.

Schon in seinem ersten Roman Erweiterung der Kampfzone werden illusionslos die Irrungen und Wirrungen eines halbwegs erfolgreichen Informatikers in seinem Umfeld dargestellt. Hier war es nur ein Einzelschicksal in einem begrenzten Zeitraum. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman Elementarteilchen haben wir es mit zwei Halbbrüdern, Michel und Bruno, ihren Familien, Freunden und Kollegen zu tun. Es ist ein Entwicklungsroman, der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt und in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts endet. Ein bißchen Science-Fiction also auch, doch im Grunde geht es um die Menschlichkeit von heute.

Kommen wir noch einmal auf den Soziologen Bourdieu zurück. In seinem Buch Die feinen Unterschiede beschreibt er die ”Pflicht zum Genuß”, von dem die heutige Mittelstandsgesellschaft beherrscht wird, ”die dazu führt, daß jede Un- fähigkeit, sich zu ,amüsieren‘, ,to have fun‘ oder, wie er mit leichtem inneren Beben zu sagen liebt, ,zu genießen‘, als Mißerfolg empfunden wird, der das Selbstwertgefühl bedroht, so daß (...) Genuß nicht nur erlaubt, sondern geradezu vorgeschrieben ist.” Houellebecqs Bruno, der als Lehrer seinen Lebensunterhalt verdient, wird von dieser ”Pflicht” beherrscht, hauptsächlich auf dem Feld der Sexualität, die er hemmungslos auslebt, um so nur ein wenig Glück zu erhaschen. Der Autor schont die Leser nicht. Mit akribisch genauen Sexszenen zeigt er, wie Bruno seinen Weg verfolgt und am Ende scheitert.

Brunos Halbbruder Michel ist genau das Gegenteil. Er kann dem Sex nichts abgewinnen, ja, er ist liebesunfähig und sagt an einer Stelle: ”Eine seltsame Idee, sich fortzupflanzen, wenn man das Leben nicht liebt.” Michel ist Molekularbiologe und verbringt sein autistisches Forscherleben zwischen Supermarkt und Psycho- pharmaka – bis er in einem gentechnischen Institut das unsterbliche und geschlechtslose Wesen klont – eine Vision jenseits des Egoismus und sexuellen Elends. Der Skandal Sloterdijck war in Frankreich die Affäre Houellebecq, an die 400 000 Exemplare des Buches wurden dort bisher verkauft, und die Franzosen erregen sich über die kalte Weltsicht dieses Autors und die gnadenlose Darstellung ihrer Welt, die sie so gern hinter einem Bild vom genußvollen Leben in Frankreich verbergen. Michels Weltanschauung, ”die von den christlichen Kategorien der Erlösung und der Gnade weit entfernt war und nicht einmal den Begriff der Freiheit und der Vergebung kannte”, ist mit einem nach außen plakatierten schönen Welt- bild nicht zu vereinbaren. Huxleys schöne neue Welt, auf die der Autor mehrfach anspielt, ist für ihn schon Wirklichkeit geworden. Doch es ist zu befürchten, daß viele Menschen wie er denken, auch wenn sie nicht wie er noch dazu die Welt in naturwissenschaftlichen Kategorien sehen.

Seine Theorie der menschlichen Freiheit konstruiert er in ”Analogie mit dem Verhalten des supraflüssigen Heliums”: ”Das diskrete atomare Phänomen des Elektronenaustauschs zwischen den Neuronen und den Synapsen im Innern des Gehirns ist im Prinzip der Quantenunschärfe unterworfen; die große Anzahl der Neuronen bewirkt jedoch durch die statistisch bedingte Aufhebung der elementaren Unterschiede, daß das menschliche Verhalten – sowohl in seinem groben Zügen wie auch in den Einzelheiten – ebenso streng determiniert ist wie das jedes anderen natürlichen Systems.” Und nur ganz selten kommt es noch zu einer freien Hand- lung, dann wenn sich eine ”neue Kohärenzwelle” im Gehirn ausbreitet ...

Wer so den Menschen sieht, kann nicht erwarten, daß große Teile der Bevölkerung, die noch an Freiheit, Glück und andere Werte glauben, diesen Roman begrüßen. Doch der letzte Satz des Romans lautet: ”Dieses Buch ist dem Menschen gewid- met.” Ist das nun blanker Zynismus? Oder will der Autor uns warnen, will er uns von diesem Weg in ein total determiniertes Leben abbringen? Das kann jeder Leser für sich entscheiden. Auf jeden Fall wird ihn das Buch nicht kalt lassen, und ganz nebenbei – Dank sei dem Übersetzer – ist es auch noch unterhaltsam zu lesen. Houellebecq zeigt seine Helden auch als tragikomische Versager, deren Handlun- gen und kuriose Gedankengänge nicht selten zum Lachen sind. Sie sind hilflose Elementarteilchen in einer für sie nicht zu bewältigenden, konfusen Welt.

Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Aus dem Französischen von Uli Witt- mann. Dumont Verlag. 1999, 360 S.

Michel im Glück ?

Anmerkungen zu zwei neuen Büchern von Michel Houellebecq

Wer hätte gedacht, in einem Buch von Michel Houellebecq je einen Satz wie den folgenden lesen zu können: ”Ich war nackt und glücklich. Ich wusßte, daß ich sehr gut schlafen würde.” Nein, das schien undenkbar, denn Houellebecq hat doch bisher mit ganz anderen Romangestalten viel Geld und damit sein Glück gemacht. In seinen Romanen Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen tummeln sich doch nur enttäuschte, deprimierte und lustlose Gestalten, die für das Leben und die sie umgebende Welt nur trostlose Gedanken übrig haben. Berühmt und reich ist er damit geworden und doch hoffentlich ein bißchen glücklich. Nun, in seiner neuen Erzählung mit dem so verheißungsvolen Titel Lanzarote haben wir es auch mit einer eher traurigen Gestalt zu tun. Aber er entschließt sich mitten im Winter immerhin zu einer Reise, dieser ”Trägersubstanz der Träume”, wenn auch nur zu einer Pauschalreise. Auf Lanzarote wartet vielleicht das Glück.

Der kleine Franzose will mal etwas erleben, und das geht dann auch in Erfüllung. Sex mit zwei Frauen – wie gewohnt, Houellebecq in pornographischer Hochform - , das ist doch etwas, da kann man sich doch glücklich fühlen. Wenn da nicht noch ein anderer Mann wäre, der Belgier Rudi, der mit seiner Schwermut beinahe die anderen drei von ihren Eskapaden abgehalten hätte. Doch dieser Rudi schließt sich dann der Sekte der Azraeliten an, die nicht zuletzt mit einem ausschweifenden Leben ihre Anhänger anwerben. Leider, leider, muß man anfügen, denn ein dauer- haftes Glück ist allen nicht vergönnt. Der kleine Franzose muß zurück ins kalte und feindliche Paris, zu den beiden Frauen (übrigens aus Deutschland: ”eigentlich nette Mädchen”) bricht der Kontakt bald ab. Der Belgier sitzt später wegen Unzucht mit Minderjährigen auf der Anklagebank. Na ja, die Belgier, man kennt sie ja, denkt sich der Erzähler, dessen Nationalitätenklischees von Anfang an ziemlich merk- und fragwürdig sind. Aber Houellebecq wollte damit wohl den typischen fran- zösischen Kleinbürger schildern, der mit gebremstem Eifer sich auf der Suche nach Glück befindet.

Suche nach Glück – so lautet auch der Titel zu einem Band mit Gedichten des französischen Skandal- und Erfolgsautors. Allerdings ist hier diese Suche eher aussichtslos. ”Warum können wir bloss nie / nie / geliebt werden?” lautet sein kürzestes Gedicht, das man sehr gut allen anderen als Motto hätte voranstellen können. Das Gedicht mit dem auch in der Übersetzung belassenen Titel ”L’Amour, l’Amour” beginnt mit den Worten: ”Kurzatmige Rentner in einem Pornokino”, und schon ist dem Leser klar, dass hier von wahrer Liebe nicht die Rede sein kann. ”Es gibt weder Schicksal noch Treue, / Nur Körper, die einander begehren. / Ohne jede Zuneigung und vor allem ohne Mitleid...” Auch die Hilfestellungen der Meister- denker helfen nicht weiter: ”Abends lese ich wieder mal Kant, allein in meinem Bett. / Ich überdenke den Tag, chirurgisch präzis; / Ich scheiß drauf...” Nein, damit kann man nicht glücklich werden. Doch die Botschaft lautet vielleicht: Du hast keine Chance, aber du darfst die Suche nie aufgeben. Manchmal ist man versucht zu sagen: Nun gut, das ist seine Masche, und sie verkauft sich gut. Beide Bücher sind vom Verlag aufwendig produziert worden: die Gedichte zweisprachig, die Erzählung wird großformatig in einem Schuber zusammen mit einem eigenen Band mit Lanzarote-Photos des Autors angeboten. Vielleicht auch, um darüber hinweg- zutäuschen, daß das alles ein bißchen dünn ist. Zu hoffen bleibt, daß sich Houelle- becq wieder zu einem umfangreichen Roman aufraffen kann.

Michel Houellebecq: Lanzarote. Erzählung und Fotografien. Aus dem Fran- zösischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Je 80 Seiten. Dumont Verlag. 49,90 DM.

Michel Houellebecq: Suche nach Glück. Gedichte. Französisch – Deutsch. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. 200 Seiten. Dumont Verlag. 32.- DM.

Nachbemerkung

Im Sommer 2001 ist in Frankreich Houellebecqs neuer Roman Plateforme erschienen. In kürzester Zeit waren über 200 000 Exemplare verkauft. In den Feuilletons wird darüber gestrit- ten, auch viele deutsche Zeitungen haben es sich nicht nehmen lassen, gleich über das Buch zu berichten. Einige Kritiker bringen gemäßigte Begeisterung zum Ausdruck, andere sprechen von einem literarischen Kolonialismus. Houellebecq, der den Sextourismus in Asien dieses Mal in den Mittelpunkt gestellt hat, verherrliche Kinderprostitution und andere Verbrechen. Seine harsche Kritik am Islam, die er auch betrunken in einem Interview geäußert hat, wird ihm womöglich ein Gerichtsverfahren einbringen...

Ein neues Deutschlandbild ?

Das deutsche Glück von Pascale Hugues

”Der Deutsche beneidet uns Franzosen. Er verzeiht uns weder unsere Weine, noch unsere Frauen, noch unsere Sonne, noch unseren blauen Himmel...” So schrieb der französische Journalist Jacques Saint-Cère in seinem 1886 erschienenen Buch L’Allemagne telle qu’elle est (”Deutschland wie es – wirklich – ist”). Sein Buch ist streng hierarchisch-thematisch gegliedert: Er beginnt mit dem Kaiser und dem Adel und endet bei den Schauspielern, dazwischen schreibt er über die Bauern, die Prostituierten, die Studenten usw., über deutsche Einrichtungen wie die Kneipe und die Kaserne. Zum Glück gibt es solche Bücher nicht mehr. Aber seitdem sind viele Bücher von Franzosen über Deutschland, von Deutschen über Frankreich geschrie- ben worden, und alle neigen sie – die einen mehr, die anderen weniger – zum Klischee. Auch das Buch der französischen Journalistin Pascale Hugues, die nun schon über zehn Jahre in Deutschland lebt, ist nicht frei davon. Und auch nicht frei von Ironie und Häme. Sie spottet über die letzten deutschen Feministinnen, die sich immer noch regelmäßig einmal in der Woche treffen, um sich über ihre Geschlechtsorgane zu unterhalten. Sie macht sich lustig über den unter Deutschen offensichtlich niemals endenden Streit, ob man nun im Stehen oder Sitzen pinkeln müsse. Sie spottet über die penible Mülltrennung und über die ”jungen Helden”, die sich vor Gorleben an die Bahnschienen gefesselt haben. Ihre Ironie ist unüberhörbar, ob es nun um den Herdentrieb der Deutschen oder über den Gewis- senskonflikt der deutschen Mütter, die ihre Kinder nicht lange genug stillen, geht. Daß sie am Ende dann doch noch beeindruckt ist, daß sie bei uns Deutschen doch so eine Art Glück entdecken konnte, nimmt man ihr nicht immer ab. Doch im- merhin, ihre Sympathie für Deutschland ist unverkennbar, und am besten sind die Kapitel, in denen sie einzelne Menschen sehr genau und einfühlsam charakterisiert: so zum Beispiel die alte Jüdin, die seit über siebzig Jahren immer noch in ihrem Berliner Mietshaus wohnt; oder Volker, der auf ganz besondere Weise mit der Wende fertig geworden ist. Man freut sich auch mit der Autorin über den Fürther Sparkassendirektor, der höchstpersönlich am Weltspartag Luftballons an die Kinder verteilt.

Solche Bücher müssen genau und richtig übersetzt werden, was Anja Nattefort größtenteils gelungen ist; es sind ihr aber leider auch einige Fehler unterlaufen. So sind zum Beispiel die ”pays latins” nicht die südeuropäischen, sondern die ro- manischen Länder, und ”la Baltique” ist nicht das Baltische Meer, sondern die Ostsee. Daß sich die Linken in Deutschland nicht mit dem Wort ”gemütlich” anfreunden konnten und können, ist wohl richtig; unverständlich ist, warum diese Überlegung zwar in der Originalausgabe nicht aber in der deutschen Ausgabe zu finden ist. Aus der Kapitelüberschrift ”Frauenfrühstück berlinois” (”Berliner Frauenfrühstück”) wird ”Ein Frühstück Berliner Art”. Vielleicht wollte die Über- setzerin die Männer daran hindern, dieses Kapitel zu überschlagen. Oder sollte da der Verlag gekürzt und verändert haben? Jedenfalls ist die deutsche Ausgabe nicht mit der französischen identisch. Das amüsante Kapitel über Bonn und die am Rhein entlang verlaufende Bundesstraße 9 fehlt in der deutschen Ausgabe. Man war wohl der Meinung, daß man sich hierzulande mehr für die Reflektionen einer Französin über den Fall der Mauer interessiert, und hat deswegen ein weiteres Mauerkapitel angehängt. Sicherlich hat Pascale Hugues noch mehr Reportagen über Deutschland geschrieben, und aus diesem Fundus hat man eben ausgewählt. Tragisch ist das nicht, aber einen kleinen redaktionellen Hinweis dazu hätte man schon erwarten können. Das Buch ist unterhaltsam und regt zum Nachdenken an, man erfährt viel über Deutschland und Frankreich und ihr Verhältnis zueinander, wenn auch nicht alles so ganz brandneu ist; der hier genannten Vorbehalte gegenüber der deutschen Ausgabe sollte man sich allerdings bewußt sein.

Pascale Hugues: Deutsches Glück. Aus dem Französischen von Anja Nattefort. Stuttgart. Deutsche Verlagsanstalt. 1999.

Der genaue Blick

Der Mensch mit all seinen Absonderlichkeiten in einem Roman von Joris-Karl Huysmans

Der vor 150 Jahren, am 5. Februar, geborene Romancier Joris-Karl Huysmans hat seine Leser nie geschont. Vielleicht war er gerade deswegen schon mit knapp vierzig Jahren ein verehrter Skandalautor. Damals, 1884, veröffentlichte er seinen Roman A Rebours (”Gegen den Strich”), dessen Held, der Graf Des Esseintes, jeder praktischen Tätigkeit abgeschworen hat, der sich statt dessen ganz seinen exqui- siten, dekadenten Steckenpferden und Genüssen widmet. So läßt er einmal ein Diner ganz in schwarz servieren, auch die Speisen sind schwarz, da ihn kurz zuvor für ein paar Tage die männliche Zeugungskraft verlassen hat (Viagra gab's damals leider noch nicht). Der Held seines Romans Là-Bas (Tief unten) liebäugelt mit dem Satanskult im Paris der Jahrhundertwende und besucht schwarze Messen.

Jacques Marles, der Held seines Romans En rade (Zuflucht. 1887), der gerade in neuer, überzeugender Übersetzung erschienen ist, zeigt sich nicht ganz so über- spannt, aber doch sehr ähnlich: ”Er war ein Nichtsnutz, unfähig den üblichen männlichen Beschäftigungen etwas abzugewinnen, nicht in der Lage, Geld zu verdienen oder auch nur, es zu behalten, uninteressiert an äußerlichen Ehren und an gesellschaftlichem Aufstieg.” (S. 70) Er lebt von einem kleinen Vermögen, doch muß nun mit nicht näher benannten Schwierigkeiten kämpfen. Um seinen Gläubi- gern zu entgehen, flieht er mit seiner Frau in das verlassene und fast ganz ver- fallene Schloß Lourps, das von dem Onkel seiner Frau und dessen Frau verwaltet wird. Und so entsteht ein sehr weit gespannter Themenrahmen. Der Roman ist handlungsarm, gegen Ende haben sich die Finanzprobleme geklärt und die von den Bauern argwöhnisch beäugten ‘Pariser‘ können das Schloß wieder verlassen. Aber die Orte und die Personen erscheinen bei der Lektüre sehr lebendig vor unseren Augen. Ein kleiner, faszinierender Roman, den man in einem Zug durchliest, über den man noch lange grübeln muß.

Sehr genau schildert Huysmans das Landleben und die derb-dreist verschlagene Art der Bauern, ebenso präzise charakterisiert er Jacques mit all seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, seinen Interessen und Ängsten. Sogar seine mehr oder weniger latent erotischen Träume werden in drei Kapiteln erschreckend realistisch wieder- gegeben. Für all dies hat Huysmans den genauen Blick und die exakte Sprache Man muß sich daran erinnern, daß er vom Naturalismus Zolascher Prägung herkam. Es geht ihm nicht nur darum, die äußere Welt in seinen Romanen abzu- bilden, auch die innere Welt seiner Figuren mit all ihren Eigenschaften und Abson- derlichkeiten kommt zu Sprache. So interessiert sich Jacques für einen italienischen Professor namens Selmi, der in der Zersetzung von Kadavern ein Alkaloid entdeckt hat, das wohlriechende Ptomain, mit dem man die Verstorbenen sozusagen geruch- lich wieder zum Leben erwecken kann. Nicht zuletzt könnte in Serienanfertigung aus den Resten von Massengräbern die Serienanfertigung eines neuen Parfums stattfinden. Von hier hatte wohl Patrick Süskind seine Anregungen... Pervers, dekadent, unappetitlich! So hat man Huysmans schon zu Lebzeiten beschimpft. Doch ihm ging es allein darum, den Menschen von allen Seiten darzustellen. Er tat dies in einigen Romanen und Erzählungen, bis er am Ende seines Lebens als Laienbrunder in ein Kloster eintrat, wo er am 12. Mai 1907 gestorben ist.

Joris-Karl Huysmans: Zuflucht. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Hrsg. von Ulla Momm. 198 Seiten.

Auf dem Weg zum Ursprung

Charles Juliet: ”Tagebuch 1957 – 1981”.

Das Tagebuch als literarische Gattung hat in Frankreich einen weitaus höheren Stellenwert als bei uns. Viele Schriftsteller des Nachbarlands haben ihr Tagebuch, oft in mehreren Bänden, veröffentlicht und damit Aufsehen und Bewunderung hervorgerufen: die Brüder Goncourt, Jules Renard, Paul Léautaud, André Gide, Paul Valéry, Julien Green. Dies sind nur die bekanntesten Schriftsteller der letzten hundert Jahre, deren Tagebücher auch, ganz oder teilweise, ins Deutsche übersetzt worden sind. Zuletzt haben Valérys Cahiers (Hefte) in Deutschland großes Inter- esse gefunden. Nun ist es eine eigentümliche Sache mit diesen Tagebüchern: sie erscheinen als rückhaltlos offen, und doch merkt man ihnen oft an, daß der Ver- fasser an eine Veröffentlichung gedacht hat. Eine gewisse Eitelkeit läßt sich nicht verhehlen. Vielleicht ist aber gerade diese offene und doch gelegentlich eitle Selbstdarstellung, die uns beim Lesen dieser Tagebücher Vergnügen bereitet. Oft genug erkennen wir uns selbst und sind gerade deswegen bereit, uns auch auf die allgemeinen Äußerungen der Tagebuchschreiber – über den Menschen, die Liebe, den Künstler usw. – einzulassen.

Ähnlich ergeht es dem Leser von Charles Juliets Tagebuch, das der Heliopolis- Verlag in der Übersetzung von Kay Borowsky im vergangenen Jahr veröffentlicht hat (die Auswahl aus der dreibändigen Originalausgabe besorgten Doris Keller und Kay Borowsky in Absprache mit dem Autor). Allerdings ist von Eitelkeit bei Juliet wenig zu spüren: sein Tagebuch ist eine ”Reise zum Ursprung”, zu sich selbst. Doch er steht seinen Aufzeichnungen durchaus selbstkritisch gegenüber: ”Mein Tagebuch wird demnächst erscheinen. [...] Wie werden sich diese Notizen, die ich aus innerem Drang und für mich selbst niederschrieb, gedruckt ausnehmen? Wenn man weiß, daß ein entstehender Text nicht unter die Leute kommen wird, läßt man sich ja bei der Arbeit von ganz anderen Kriterien leiten, als wenn es um die Veröf- fentlichung in einem Buch geht. Wird die Aufrichtigkeit, die bei der Entstehung dieser Notizen Pate stand, wenigstens hin und wieder ausreichen, um ihre Flachheit aufzuwiegen? Nicht wenige von ihnen scheinen mir angreifbar zu sein. Zu viele überspitzte Behauptungen. Eine verzerrte und fragmentarische Sicht der Dinge, weil es mir nicht gelungen ist, mich aus seiner Verzweiflung zu befreien” (Dezem- ber 1977). Der Leser erlebt beim Lesen dieses Tagebuchs staunend die Veränderung einer Persönlichkeit, ein junger, verzweifelter Mann wird mit den Jahren zu einem gelassenen Künstler, den nur noch manchmal Ungeduld und Unruhe heimsuchen, der aber gleichwohl für alle Verunsicherungen offen geblie- ben ist. Juliets Tagebuch beginnt im Januar 1957, damals war er dreiundzwanzig Jahre alt. Hinter ihm lagen eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen im französischen Jura bei einer Pflegefamilie, die ihn fast noch als Kind auf eine Militärschule nach Aix- en-Provence schickte. Diese Jahre werden ihm sein Leben lang ein Trauma bleiben, immer wieder tauchen Erlebnisse aus dieser Zeit im Tagebuch auf: die Einsamkeit, die Zerstörung der Gefühle unter dem militärischen Drill. Das anschließende Medizinstudium mit dem Ziel, Militärarzt zu werden, brach Juliet nach zwei Semestern ab. Er beschloß, nur noch zu schreiben und dafür alle Entbehrungen auf sich zu nehmen.

Hier ungefähr beginnt das Tagebuch, am Nullpunkt gewissermaßen. Es beginnt ein Reifungsprozeß, der über zehn Jahre dauerte, bis Juliet die ersten Arbeiten veröf- fentlichte. Der Leser begegnet am Anfang einem jungen Mann, der nichts hat, nur ”furchtbare Anfälle von Depression”, Selbstmordneigungen, Ängste und die eiserne Absicht, der Gesellschaft zu entfliehen, um ein wahrer Schriftsteller zu werden. ”Das einzige Abenteuer, das mir bleibt, ist das innere Abenteuer. Also Ablehnung der Arbeit und der Selbstverstümmelung, die sie mit sich bringt” (31. 10. 1958). Seine Gedanken kreisen um das eigene Ich, nur langsam gewinnt er einen klaren Kopf und die Fähigkeit, nüchtern über sich selbst und über die Auf- gabe des Schriftstellers, des Künstlers im allgemeinen, nachzudenken.

Wie werde ich ein wahrer Künstler? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Juliets Tagebuch. Er will kein Autor sein, der nur über sich selbst schreibt, auch kein Moralist, der höchstens versucht, das Ich, das Besondere, ”ins Universelle auszu- weiten”. Er will zu einer dritten Gruppe von Schriftstellern gehören, zu denen, ”die die Rückreise zum Ursprung unternommen haben”. ”Sie entziehen sich ihrer Epoche, gehen uns direkt an, helfen uns aus der Verwirrung, helfen uns, geboren zu werden, uns selbst hervorzubringen” (7. 11. 1965). Juliet nennt als Vorbilder Baudelaire, Rimbaud, Rilke, Kafka, Beckett. Der Schriftsteller muß seinen Ur- sprung entdecken. Dafür verwendet Juliet häufig das folgende Bild: die Stimme, das Murmeln, in sich entdecken, erhalten, wahrnehmen. Keine preziösen Wortkon- struktionen, sondern schlichte Klarheit. ”Jene Dichter, die sich seltener, manchmal hermetischer, ja hochmütiger Worte bedienen, haben sich niemals bemüht, die Stimme zu hören. Denn wenn sie in uns murmelt, dort wo wir am bescheidensten, am schweigsamsten sind, hat sie nur außerordentlich einfache, klare, einleuchtende Dinge zu sagen” (26. 11. 1965). Juliet erklärt nicht genauer, was er mit diesem Murmeln der inneren Stimme meint, es ist sicherlich mehr, etwas anderes, als das Unbewußte, das die Surrealisten an den Tag bringen wollten. Mich erinnert es an den kamerunischen Dichter und Musiker Francis Bebey, der im Murmeln seiner Sanza, des afrikanischen ‘Daumenklaviers‘, die Stimme der Vorfahren hört.

Doch Juliet geht auch in seinem Tagebuch über dieses Thema, über seine eigenen Person, hinaus, sein Tagebuch ist die Enzyklopädie eines Einzelgängers. Bemerk- enswert, was er über die Frauen schreibt: ”Meine Verehrung für die Frau. Ich fühle so deutlich, daß sie die Hüterin des Wesens ist, daß sie teilhat am Geheimnis, am Leben, an dem, was sich dem Denken entzieht und das Wichtigste bringt” (April 1975). Dies schrieb er fast zwanzig Jahre nach dem Beginn des Tagebuchs, er war über die egozentrische Enge der Anfänge hinausgekommen. Nach und nach schildert er immer häufiger Begegnungen mit Freunden und mit anderen Schrift- stellern und Künstlern. Wir begegnen Michel Leiris, Samuel Beckett, Bram van Velde, Maurice Estève und einigen anderen. Diese Seiten zeigen, daß der Künstler außer der eigenen Stimme auch die der anderen hören muß. Beides trägt dazu bei, der Verzweiflung in dieser Welt zu entkommen. Dies ist Juliet gelungen, auch wenn noch in späteren Jahren das Dunkle und das Schwere manchmal in Erschein- ung treten. Doch auch diese Seite des Lebens hat für Juliet einen Sinn: ”Die Schatten, die über meinem Leben liegen. Manchmal freue ich mich sogar über sie (was nicht heißt, daß ich mich mit ihnen abfinde). Denn immer wenn ich versucht sein könnte, anderen gegenüber streng zu sein, sind sie zur Stelle, ziehen mir einen Peitschenhieb über und ermahnen mich, mich erst einmal selbst zu betrachten” (September 1981). Kein Ausruhen, sondern die stetige Bereitschaft das innere Abenteuer zu leben. Hier und an vielen anderen Stellen gehen Juliets Notizen über das Persönliche hinaus, er gehört dann tatsächlich zu den Schriftstellern, die ”uns helfen, geboren zu werden, uns selbst hervorzubringen”.

Charles Juliet: ”Tagebuch 1957 – 1981”. Aus dem Französischen von Kay Borowsky. 368 Seiten. Broschur. Heliopolis Verlag. Tübingen. 1988.

Vom Elend des Militarismus

Zu Charles Juliets Roman Jahr des Erwachens

Charles Juliet schildert in seinem gerade auf deutsch erschienenen Roman ein Jahr im Leben eines ungefähr vierzehnjährigen französischen Jungen, der in der Provence Schüler einer Kadettenanstalt ist. Der heute sechsundfünfzig Jahre alte Autor hat selbst in seiner Kindheit eine solche Militärschule besucht, der Roman hat also einen autobiographischen Hintergrund, was Juliet auch in einer kurzen Vorbemerkung bestätigt: Er müsse nun endlich erzählen, was er als Kind erlebt habe, um sich davon zu befreien. Jahr des Erwachens lautet der Titel, und der Leser erwartet eine Entwicklung, die auch am Ende des Romans konstatiert wird: ”Im übrigen bin ich auf diesem Weg [ein Mann zu werden] schon ein wenig vorangekommen; vieles von dem, was ich erlebt habe, zeigt mir, daß ich kein Kind mehr bin.” (S. 221) In der Tat: er ist nur ein wenig vorangekommen, fast gar nicht, könnte man meinen und legt das Buch etwas enttäuscht beiseite, vor allem wenn man nach der Lektüre von Juliets klugem und menschlichem Tagebuch große Erwartungen gehegt hat. Doch man sollte nicht vorschnell urteilen, denn gerade in diesen oft winzigen Entwickungsschritten liegt die Stärke dieses Romans.

Zunächst sind es nur Episoden aus dem gleichermaßen öden wie grausamen Kasernenleben, die der Autor aneinanderreiht. Erst nach und nach erkennt man den roten Faden, die Spur der Entwicklung, die der Junge durchläuft. Er freundet sich mit einem der Unteroffiziere an, den er wie alle voller Bewunderung den ”Chef” nennt. Er lernt von ihm das Boxen und darf ihn an den Sonntagen zu Hause be- suchen. Das bedeutet viel für ihn, der offensichtlich als Waise aufgewachsen ist. Noch wichtiger ist für ihn, daß sich die Frau des Chefs ihm zuwendet und er durch sie die Liebe kennenlernt. Der Chef ist ein Tyrann im eigenen Haus, und es ist beeindruckend zu verfolgen, wie die Bewunderung des Jungen mit der Zeit nachläßt, wie, wenn auch nur wenig, Distanz entsteht. Dies gilt zum Beispiel für das Boxen, dessen Brutalität dem Jungen nach und nach deutlich wird; damit kann ihn der Chef nicht mehr beeindrucken.

Auch in seiner Einstellung zum Drill, zu den Schikanen und Ritualen des Kasernenhofs findet eine subtile Entwicklung statt. Am Anfang geht der Junge noch inbrünstig zum Fahnenappell, dann revoltiert er immer häufiger gegen die unmenschlichen Quälereien, was ihm einige Wochen Einzelhaft einbringt. Gleich- wohl ist man erstaunt, daß der Junge am Ende dennoch froh ist, nicht, wie ange- droht, von dieser Schule verwiesen zu werden. Er will ein Mann werden, und das scheint in diesem Schulgefängnis möglich zu sein. Juliet hält sich selbst aus den Überlegungen seines Helden ganz heraus, wohl um zu zeigen, wie schwer es für einen jungen Menschen ist, diesen Einflüssen zwischen vermeintlich väterlicher Strenge und menschenunwürdiger Behandlung zu entgehen.

Ähnlich ist es mit den religiösen Vorstellungen des Jungen. Am Anfang beherrscht ihn ein naiver Kinderglaube, dann kommen die Zweifel, besonders als einer der Lehrer von den deutschen Konzentrationslagern erzählt. ”Monsieur, warum hat Gott es zugelassen, daß es Konzentrationslager gibt?” lautet die arglose Frage (S. 106), die der Lehrer, der als Resistancekämpfer ein KZ erlebt hat, auf recht überzeugende Weise beantwortet: Es sei unwichtig, ob Gott existiere oder nicht, es komme nur auf das Verhalten und die Haltung des einzelnen Menschen an. Das gibt dem Jungen zu denken, und er weigert sich zu beten oder den Gottesdienst zu besuchen. Dahinter steckt allerdings auch ein Minderwertigkeitskomplex: ”Es ist mir bewußt geworden, daß ich nicht intelligent genug bin, mich mit jenen großen Fragen auseinanderzusetzen, auf die ein Erwachsener die Antworten weiß.” (S. 222) Ein weiterer Beweis dafür, daß unter diesen Bedingungen ein junger Mensch nicht zu einem freien, selbstbewußten Individuum werden kann.

Man empfindet Zorn und Erbitterung, wenn man liest, wie wenig es dem Jungen gelingt, sich zu befreien. Vielleicht muß man selbst eine Kadettenanstalt erlebt haben, um dies ganz zu begreifen und sich mit diesem bescheidenen ”Erwachen” zufrieden zu geben. Wie ein Leitmotiv durchzieht den Roman die Angst, ‘man müsse eines Tages dort, am anderen Ende der Welt, in den Reisfeldern kämpfen und sterben‘. Es ist die Zeit des Indochinakriegs, in dem die Kolonialmacht Frank- reich vernichtend geschlagen wurde. Man kann von dem jungen Helden nicht erwarten, daß er diese Hintergründe durchschaut, gleichwohl ist man erstaunt, daß dem Jungen vor diesem Hintergrund und beim täglichen Erleben von Brutalität und Unmenschlichkeit in der Kaserne so viel daran liegt, in diesem Manneszucht-Haus zu bleiben. Er kann sich noch nicht von den falschen Vaterfiguren, zu denen auch der Chef zählt, von der falschen Ideologie lösen. Erinnerungen an das friedvolle Leben in seinem Heimatdorf, Meditationen beim Anblick des nächtlichen Sternen- himmels, diese Gegenwelten sind noch zu schwach, um sich zu befreien. Es wäre zu wünschen, daß Juliet diesen Roman fortsetzt, daß er zeigt, wie sein Held die Freiheit erlangt, so wie er sich in seinem eigenen Leben gegen den Militarismus entschieden hat.

Der Roman endet mit den Worten: ”Ein halbes Jahr bin ich nicht mehr fortgekom- men aus dieser Kaserne. Was werde ich nicht alles tun, alles erleben in diesen Ferien! Wenn ich mir vorstelle, daß ich morgen schon in meinem Dorf bin, bei meinem Hund und bei meinen Kühen, werde ich verrückt vor Freude.” (S. 226) Die Zeit des Erwachens liegt hinter ihm, doch ein langer Weg wartet noch auf ihn...

Charles Juliet: Jahr des Erwachens. Aus dem Französischen von Kay Borowsky. 228 S. Tübingen. 1990. Heliopolis-Verlag.

Das Schweigen und der Blick

Charles Juliets Begegnungen mit einem radikalen Künstler

Zu Juliets Roman Zeit des Erwachens schrieb der Figaro: ”... ein starkes, ein wesentliches Buch.” Heute liegt mir ein weiteres, schmaleres Buch von ihm vor, seine Begegnungen mit Bram van Velde, die 1978 bereits in Frankreich, jetzt in einer zumeist gut lesbaren Übersetzung im Tübinger Heliopolis Verlag erschienen sind. Ganz offensichtlich handelt es sich hier auch um Passagen aus Juliets Tage- buch, die Juliet für diese Publikation herausgenommen hat. Das Buch hat drei Teile. Der erste Teil ist ein längeres Gedicht von Bram van Velde, das vielleicht aber Juliet so aus den Bemerkungen des Malers zusammengestellt hat. Im zweiten Teil, dem längsten, berichtet Juliet über seine Begegnungen und Gespräche mit dem hierzulande wenig bekannten holländischen Maler Bram van Velde (1892 – 1981) aus den Jahren zwischen 1964 und 1977. Der dritte Teil beinhaltet Juliets sechsseitige Schlußbetrachtung. Von Malerei ist hier die Rede, doch Juliet geht nur verhältnismäßig selten genau auf die Bilder des Malers ein. Dann liest sich das folgendermaßen: ”Goldenes Licht, das versiegt, dringt ins Zimmer. Ich hebe den Kopf. An der Wand mir gegenüber ein Bild, das ich seit langem kenne, mir jedoch fremd bleibt. [...] Ein Bild, das mich immer zurückgestoßen hat. Und plötzlich sehe ich es. Ich erkenne die Verbindungen zwischen den Tönen, das Einvernehmen, die Einheit und das Gleichgewicht, welche[s] zwischen den verschiedenen Elementen herrscht, und ich genieße die Kühnheit, die seine Ausführung bestimmte. Dann arbeitet das Bild unter meinen Augen, und ich spüre seine Fülle, sein Leben, seine geheime Kraft. Fühle auch sein überraschendes Schweigen.” (S. 85f.) Mit solchem Ernst, ja Pathos, spricht Juliet von van Veldes Bildern; dies erinnert an die Essays des französischen Dichters Saint-Pol-Roux (1861-1940), der mit ähnlich heiligem Ernst über Gauguin und die Malerei im allgemeinen geschrieben hat (deutsch in Saint-Pol-Roux: Die Traditionen der Zukunft. Berlin 1987). Doch den größten Raum des Buches nehmen die Gespräche ein, Gespräche, die aber oft von langem Schweigen unterbrochen werden. ”In der Arbeit lebe ich mein Schweigen”, sagte Bram van Velde (S. 97), und sein schon so seltener Kontakt zur Außenwelt ist häufig ‘nur‘ ein verlegenes, aber auch beredtes Schweigen. Juliets Freundschaft mit van Velde beginnt mit ‘einem fast stummen Beieinandersein‘ (S. 14), und die ”Stimme des Schweigens”, wie sie der DDR-Autor Gerd Neumann in einem anderen, aber ähnlichen Zusammenhang nennt, ist fast auf jeder Seite zu verneh- men. ”Ich sagte bereits”, kommentiert Juliet, ”daß der Austausch mehr durch Schweigen als durch Wörter zustande kommt” (S. 21), und an anderer Stelle: ”Aber es ist ja unmöglich, seine so besondere Art zu vermitteln, die doch so einfach, so direkt ist, diese Art zu sprechen, sein langes, langes Schweigen, sein Lächeln, seine Scheu, der ihm eigene Humor, die Wörter, die abrupt kommen, sein plötzlicher Wechsel im Ausdruck”. (S. 29) Van Velde mißtraut dem Wort, ”Malen ist Schweigen”, sagt er; so kann es nicht wundern, wenn dieses zentrale Anliegen seiner Kunst, der Ausdruck des Schweigens, auch seine Persönlichkeit beherrscht. Im Schweigen seiner Existenz entstehen seine Bilder, jedes ist eine gewaltige Anstrengung, oft sitzt er monatelang wie gelähmt in der zum Atelier umgebauten Garage, weil er nicht das findet, was er sucht. ”Allein gegen alle. Ich bin der Kämpfer des Schweigens” (S. 88), lautet eine von van Veldes Maximen. Eine andere lautet: ”Ich suche nie zu wissen” (S. 40). Seine Malerei ist nicht das Ergebnis einer intellektuellen Anstrengung. Für ihn kommt die Malerei ”von so weit her, daß es schwer ist klar zu sehen” (S. 40). Ein ”vernichten- der Anspruch” (S. 124), wie Juliet dazu schreibt: der ”Verzicht auf Wissen, Han- deln und Wollen”. Aber nur so kann van Velde seine Bilder schaffen. Ein anderes Thema dieser Aufzeichnungen ist der Blick, ein Thema, das nicht selten in einem Atemzug mit dem Schweigen genannt wird: ”Sein langes Schwei- gen. Sein scheuer, unglücklicher Blick, der einen urplötzlich und unvermittelt starren Auges festhält mit einer einschüchternden Intensität”. (S. 61) Der Blick ist gewissermaßen Bram van Veldes Methode: ”Eine ganze Welt in einem Blick erfassen”, sagt er (S. 56); und Juliet kommentiert an anderer Stelle: ”Bram in seinen Tiefen umherirrend, verbissen darauf aus, sich herauszugraben, sein strahlender blauer Blick, fest und intensiv auf sein Inneres gerichtet”. (S. 39) Juliet ist es zu danken; daß er im Hauptteil seines Buches nur spärlich eigene Überlegungen ins Spiel bringt, sondern oft ‘nur‘ van Veldes kurze, aphorismusar- tige Aussagen aneinanderreiht. Darin erfahren wir die radikale Haltung eines Künstlers, dessen Art heute ausgestorben zu sein scheint: ”Jeder betrügt. Der Künstler nicht. Er täuscht nicht, läßt sich nicht täuschen. Er ist außerhalb. Niemand kann ihn verstehen.” (S. 22) – ”Ja, ich habe alles verlassen. Die Malerei verlangte das. Es ging um alles oder nichts.” (S. 24) – ”Geht man auf den Grund, so entdeckt man, daß es keinen Anlaß gibt, stolz zu sein. Das male ich.” (S. 33) – ”Mein Leben ist die Geschichte des Unmöglichen, das möglich wird.” (S. 91). Wer sich hier an Beckett erinnert fühlt, liegt vollkommen richtig. Samuel Beckett ist gewissermaßen ein weiterer Teilnehmer dieser Gespräche. Beide kennen ihn gut, immer wieder erwähnen sie ihn, er ist für beide ein Vorbild: ”Beckett ... ist ein aufrichtiger Mann. Hat man solch einen Menschen kennengelernt, dann kommen einem viele andere nur noch wie Roboter vor. Oder wie schlechte, als normale Menschen verkleidete Komödianten”. (S. 80). Noch einige andere Künstler werden mit Bewunderung genannt (Artaud, Picasso, Rilke, von dem auch ein längeres Zitat dem Buch vorangestellt ist), doch Beckett erscheint weitaus am häufigsten. Er vertritt die radikale Haltung eines Künstlers, der mit allem bricht, um sein Werk zu schaffen. Juliet zitiert in seiner Schlußbetrachtung Hölderlin, um diese Haltung zu charakterisieren – ”Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste” (S. 123) -, kehrt dann diesen Satz um – ”Wer das Lebendigste liebt, kann nur das Tiefste denken” -, um van Velde nahezukommen. Für Juliet ist van Velde ein ”Seher. Verzehrt von seinem Hunger nach dem Eigentlichen”. (S. 127) Zum Schluß wird man sich fragen dürfen, ob eine solche Kunst- und Lebenshaltung noch einen Platz in unserer Gesellschaft hat. Ein Mann wie van Velde, der jahrzehntelang in tiefster Armut lebte, nur seiner Kunst verschrieben (wie übrigens Juliet selbst auch), ist er nicht ein wandelnder Anachronismus? An manchen Stellen ist man versucht zu fragen: Was sollen diese Haltung, dieses Leiden, diese Isolation und Entbehrung, die Juliet als wichtigste Grundlagen der Kunst sieht? Ist diese radikale Haltung nicht inhuman und asozial? Aber dann richtet man seine Vorwürfe gegen die breite Masse, gegen die Kulturverwalter, die nicht fähig (oder willens) sind, solche Künstler ihrem Wert entsprechend zu würdigen. Und man- chem Sonntagsmaler, der seine blumigen Aquarelle regelmäßig zur Schau stellt, wünscht man ein wenig von Bram van Veldes unerbittlicher Selbstkritik. Gerade unsere Gesellschaft braucht sie wieder – diese Hölderlins, Saint-Pol-Roux‘, van Veldes -, um vielleicht einen Ausweg aus unserer heillosen Betriebsamkeit zu finden.

Charles Juliet: Begegnungen mit Bram van Velde. Aus dem Französischen von Valérie Lawitschka und Angelika Lochmann. 128 Seiten, 3 Abbildungen, Bro- schur. Heliopolis Verlag. Tübingen. 1989.

Chiffren einer gefährdeten Existenz

Anmerkungen zu Charles Juliets Gedichten

Es war gut, daß ich mich erst nach den beiden vorangegangenen Büchern auf Juliets Gedichte eingelassen habe. Vieles konnte ich auf Anhieb verstehen, war mir aus Juliets Gedankenwelt vertraut. Diese Reihenfolge der drei Bücher ist zu empfehlen, gut wäre es allerdings auch, wenn man über Französischkenntnisse verfügt, denn die Übersetzungen von Günter Gerstberger sind in vielen Einzel- heiten ungenau oder falsch. Wie soll man es beispielsweise verstehen, daß er ”ennui” einmal mit ”Leere” (S. 5), dann mit ”Unlust” (S. 21) und auch mit ”Un- Sinn” (S. 23) übersetzt? Doch eine zweisprachige Ausgabe ist immer ein großes Risiko für den Übersetzer, schutzlos liefert er sich jeder Beckmesserei aus. Das soll hier nicht geschehen, zumal man sagen muß, daß, insgesamt gesehen, Gerstbergers Übersetzung den Ton der Juliet’schen Sprache trifft. Der des Französischen unkundige Leser bekommt auf dieser globalen Ebene ein brauchbares Äquivalent. Juliets unprätentiöse Texte lesen sich wie Fragmente, Chiffren einer gefährdeten Existenz, die mühsam nach Worten sucht. Keines der Gedichte trägt einen Titel, hier wird nichts angekündigt, verkündet, nur die in Majuskeln gesetzte erste Zeile markiert den Anfang. Die Texte, so einfach sie anmuten, ähneln der Arbeit eines Bildhauers: alles Überflüssige wird weggehauen, um zu einer schlanken, knappen Wortskulptur zu gelangen. Wenn man einen Vergleich zwischen den Künsten wagen wollte, so müßte Giacometti hier genannt werden. Die Rede ist von Einsamkeit und Überdruß, von Schwermut und schweren Zeiten, in denen nichts mehr zueinanderpaßt:

PAS UN ACTE QUI CONVIENNE pas un chemin qui ne s’égare pas un mot qui soit conforme acharnement dans le refus infernale attente brûlure du temps l’ennui ravage mon visage du pierre

KEIN TUN DAS SEINEN ZWECK ERFÜLLT kein Weg der in die Irre nicht geführt kein Wort das seinem Sinn entsprochen verbissenere Weigerung schreckliches Erwarten Brennen der Zeit der Un-Sinn [?] verwüstet mein Antlitz aus Stein (S. 22/23)

In diesem Gedicht steht auch die Titelzeile des ganzen Buches, in ihm liegt der Grundtenor aller Texte. Sie kreisen um das Ich, seine Einsamkeit, seine Gefähr- dung. Wenig Metaphorik, und wenn, dann die der Zerstörung, der kargen Land- schaft und der alltäglichen klimatischen Erscheinungen. Einiges erinnert an späte Texte von René Char, zumindest in der Landschafts- und Wettermetaphorik.

Doch man findet auch Texte, in denen das Ich stolz seinen Weg verteidigt:

NE DOUTE PAS ne doute plus va ton non-chemin en silence rends-toi sourd et aveugle pour mieux assurer ton pas et de temps à autre fais halte en un poème où s’accomplit la convergence

ZWEIFLE NICHT

Zweifle nicht mehr geh deinen Un-weg in Schweigen werde taub und blind um sichrer deinen Schritt zu setzen und von Zeit zu Zeit halt inne in einem Gedicht darin die Zu- stimmung [?] geschieht (S. 72/73)

Hier begegnet man dem Schweigen, das Juliet bei van Velde bewundert. Wenn es noch einen Ort gibt, wo ‘Übereinstimmung‘ (‘convergence‘) zu finden ist, dann im Gedicht, in der mühsam geschaffenen Kunst. Hier und an anderen Stellen zeigt sich Juliet als einer, der aus dem Chaos der Welt einen Weg findet, der zeigt, daß die Gefährdung, die Weigerung eine Grundlage sein können, um mit sich selbst Übereinstimmung zu erreichen.

Ein Du findet sich selten in diesen Texten, meist ist es dann auch nur ein Teil des Ichs, ein Partner des Selbstgesprächs. Aber doch scheint es für Juliet noch einen Mitmenschen zu geben, der dem Ich zur Seite steht. Der folgende Gedichtanfang kann jedenfalls so gelesen werden:

QUAND TES MOTS font de mes pierres un champ de blé ondulant sous la brise quand tes yeux tapissent ma nuit d’un ciel où palpitent des millions d’étoiles quand ta voix défaille et me fait don de ce qui en moi s’était tu

[...]

WENN DEINE WORTE meinen dürren Acker [?] in ein Weizenfeld verwandeln wogend im Wind wenn deine Augen meine Nacht mit einem Himmel ausschlagen zitternd mit Millionen Sternen wenn deine Stimme leiser mich begabt mit jenem das in mir verstummt war

[...] (S. 88/89)

Es scheint noch ein Gegenüber zu geben, einen, der helfen kann, einen Weg aus dem kargen Dasein im Überdruß zu finden. Aber diesen Helfer findet man selten, weder in Juliets Gedichten noch in seinem Tagebuch. Eine Freundschaft wie die mit Bram van Velde kann nur als große Ausnahme gesehen werden.

Letztlich ist es die Nichtigkeit des Individuums, von der hier die Rede ist. Und so liest man denn auch im letzten Gedicht dieses Bandes (S. 118/119): ”Efface-toi” (‘Lösch dich aus‘, müßte man übersetzen, nicht ‘Verlösch‘), ”sois / ce rien” (sei / dies Nichts”), ”et laisse / le souffle / te rythmer // déployer / son chant” (”und laß / den Atem / dir Rythmus sein // un den / Gesang anheben”. Juliet hat über Bram van Velde geschrieben: ”Verzichten auf Wissen, auf Bildung, auf den Willen. Aufhören zu kämpfen, sich zu behaupten” (”Begegnungen”, S. 126), eine ähnliche Haltung ist wohl auch für ihn selbst maßgeblich. Zu fragen bleibt, ob diese Haltung uns allen anzuraten ist. Für Juliet gilt allerdings, was Bram van Velde über Artaud gesagt hat: ”Nur wer das Leiden kennt, hat etwas zu sagen.” Peter Buchka erinnerte in diesem Zusammenhang an. E. M. Cioran und schrieb (Süddeutsche Zeitung, 7. 12. 1989): ”Man muß die Welt auslöschen, um zum Leben vorzudringen. Nur dort hört man den Urknall, und nur dann kann man ihn reflektieren – also aufnehmen und zurückwerfen.” Die meisten unserer Zeitgenossen wollen das allerdings nicht tun.

Charles Juliet: Brûlure du Temps / Brennen der Zeit. Gedichte / Poèmes. Aus dem Französischen von Günter Gerstberger. Illustrationen von Maurice Rey. Tübingen. Rive gauche. 1987.

Ohne falsche Exotik

J. M. G. Le Clézios Roman Ein Ort fernab der Welt sei den Pauschaltouristen empfohlen.

Die Inseln Mauritius und La Réunion im Indischen Ozean, östlich von Madagaskar, gehören heute zu den beliebten Zielen der Pauschaltouristen. Reiseführer darüber gibt es genug. Doch werden diejenigen, die dort zwei, drei oder vier Wochen verbringen, jemals etwas mehr über die Geschichte dieser Inseln, über ihre Men- schen erahnen? Wer sich darauf einlassen will, dem seien die Schriftsteller aus der dortigen Region empfohlen: Axel Gauvin aus La Réunion zum Beispiel, unter dem Titel Antenne im Riff ist ein ”literarisches Spektrum aus Mauritius” erschienen. Und auch J. M. G. Le Clézio muß hier genannt werden, denn seine Vorfahren gehören zu den Bretonen, die nach Mauritius auswanderten, und mit seinem gerade auf deutsch erschienenen Roman Ein Ort fernab der Welt führt er uns in diese exotische, für uns so geheimnisvolle Region. Ein Roman, der auf vielen Ebenen den Leser in seinen Bann zieht. Erzählt wird die Geschichte der beiden Brüder Jacques und Léon Archambau. Beide wurden auf Mauritius geboren, sie gehören zu einer der großen Familien, dem ”Club der Synarchie”, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Mauritius das Sagen hatte. Doch ihre Eltern sind in Ungnade gefallen, denn die Mutter ist eine Eurasierin, die vom Patriarchen der Familie nicht akzeptiert wird. Sie werden verstoßen, ziehen nach Paris, doch sie können dort nicht Fuß fassen. Die Eltern sterben, ein Onkel der Mutter nimmt sich der beiden Jungen an. Eines Tages bringt dieser Onkel den älteren Jacques in ein herunterge- kommenes Bistrot, eine Kneipe, in der sich Literaten und Dichter treffen. ”Das ist Verlaine, ein großer Dichter”, flüstert der Onkel, doch als dann der junge Poet Arthur Rimbaud fluchend und schimpfend, stark angetrunken hereinstürmt, findet er nur abfällige Worte: ”Der da? Nichts, bloß ein Rumtreiber.” Erzählt wird dies von Jacques’ Enkel, der dann auch die Geschichte der Brüder und Jacques’ Frau Suzanne, die aus La Réunion stammt, imaginiert. Er versetzt sich in Jacques’ Bruder Léon, dessen Vornamen er trägt, den er aber nie kennen gelernt hat, denn dieser Léon hat die Familie verlassen, er ist der Verschollene, und von dieser Befreiung handelt das Buch in erster Linie. Es ist eine mitreißende Liebes- geschichte, ein realistisches Märchen von zwei ungleichen Brüdern, ein poetischer Abenteuerroman ohne falsche Exotik, den Uli Wittmann einfühlsam übersetzt hat. 1891 verlassen Jacques, Suzanne und Léon Frankreich wieder, um nach Mauritius zurückzukehren. Jacques ist inzwischen Arzt geworden, er will mit seiner Frau zusammen auf Mauritius insbesondere für die ärmere Bevölkerung tätig werden. Der knapp zwanzigjährige Léon hofft, auf der Insel seine Ausbildung abschließen zu können. Bei einem kurzen Aufenthalt in Aden untersucht Jacques einen todkranken halb verrückten Mann. Es ist Rimbaud, doch die beiden Brüder wissen das nicht, Léon aber ist fasziniert von dieser rätselhaften Gestalt, die ihn sein Leben lang verfolgen wird. Nicht zuletzt auch, weil Suzanne, die sich für Lyrik begeistert, ihm immer wieder Strophen aus Rimbauds Gedicht Das trunkene Schiff rezitiert. Bei einem weiteren Zwischenstop auf Sansibar nimmt der Kapitän zwei Männer an Bord, die, wie sich allerdings erst später herausstellt, an den Pocken erkrankt sind. Auf Mauritius läßt man deswegen die Passagiere nicht an Land gehen, sie kommen in Quarantäne (so auch der Originaltitel des Buches: La quarantaine), auf eine Mauritius vorgelagerte kleine Insel, die Ile plate. Dort und auf der noch kleineren Nachbarinsel Gabriel, beide vulkanischen Ursprungs, spielt der Hauptteil des Romans. Die etwa zehn Europäer sind nicht allein, auf der Insel hausen schon einige hundert Inder, die man unter unwürdigen Bedingungen als Zuckerplantage- narbeiter in ihrem Heimatland angeworben hat. Auch sie dürfen noch nicht nach Mauritius, zum einen, weil auch einige von ihnen erkrankt sind, aber eigentlich weil die Zuckerrohrernte noch nicht begonnen hat, und weil diese Menschen im Quarantänelager billiger zu halten sind. Dazu muß man wissen, daß der hohe indische Bevölkerungsanteil auf Mauritius und La Réunion das Resultat dieser Machenschaften ist. Fast gewaltsam wurden diese Menschen in Indien angeworben, die vielleicht gerade einer Hungersnot oder einem Aufstand gegen die Kolonial- macht England entkommen waren, um dann auf Mauritius ein armseliges Leben zu führen.

Léon entwickelt Solidarität, verliebt sich in die schöne Suryavati, die mit ihrer Mutter Ananta im Quarantänelager gestrandet ist. Die anderen Europäer gehen aber auf Distanz, leben auf der anderen Seite der Insel und bewachen die Grenze zwischen den beiden Volksgruppen. Die Schwerkranken werden auf die Insel Gabriel geschafft, wo sie sterben oder verrückt werden. Eines der Opfer ist der Pfarrer und Botaniker John Metclaffe, der in den ersten Tagen die Insel auf der Suche nach dem wilden Indigostrauch, dem wilden Blau, durchstreift, durch dessen Berichte der Leser die Pflanzenwelt dieser Region kennenlernt. Léon wechselt nach und nach ins andere Lager, was für seinen Bruder völlig unverständlich ist. Er erfährt, daß Ananta eigentlich Engländerin ist, als kleines Mädchen hat sie in Indien als einzige einen Aufstand überlebt und ist bei Menschen einer der niedrig- sten Kasten aufgewachsen. Es sind Parias, die Dom, die Bewacher der Scheiter- haufen, die sich um die Toten und deren Verbrennung kümmern. In einem weiteren Erzählstrang wird die Geschichte Anantas erzählt, die zuletzt auf der Ile plate zur verehrten Totenbetreuerin wird, stirbt und von ihrer Tochter im Feuer bestattet wird. Zu diesem Zeitpunkt ist Léon ganz zu ihnen übergewechselt. Er spürt, daß diese Menschen, diese Parias, den Tod kennen und akzeptiert haben und so ihre Ausgeglichenheit bewahren. Nach vierzig Tagen (”la quarantaine”) können zwar alle die Insel verlassen, doch Léon wählt das Leben mit Suryavati, er geht seiner Familie verloren, weil er dort kein erfülltes, aufrichtiges Leben zu erwarten hat.

Das Buch endet mit dem Bericht von Jacques’ Enkel, der 1980 nach Mauritius kommt, um Spuren von seinem verschollenen Großonkel Léon zu suchen. Er trifft nur die Greisin Anna, die Letzte der Familie Archambau auf der Insel, die aber nichts über den Verschollenen weiß oder nichts erzählen will. Einzig ihr Bericht über ihre Freundin Sita, den sie als junges Mädchen in ein Schulheft schrieb, könnte einen Hinweis enthalten: Sita war vielleicht die Tochter von Léon und Suryavati, doch Gewißheit gibt es nicht.

J. M. G. Le Clézio: Ein Ort fernab der Welt. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Köln. Verlag Kiepenheuer und Witsch. 2000. Geb. 568 Seiten.

Lebende Asche / Das Fest des Lebens

Neuerscheinungen zur modernen französischen Lyrik von Michel Leiris und anderen

Der französische Ethnologe und Schriftsteller Michel Leiris (1901-1990) hatte, um es vereinfacht zu sagen, ein zentrales Ziel in seinem Leben: Er wollte in der modernen, säkularisierten Welt zu metaphysisch-mystischen Erlebnissen finden; es ging ihm immer um ‘Grenzüberschreitungen’ (Waltraud Gölter). Um zu diesem Ziel zu gelangen, schlug er verschiedene Wege ein: den Weg radikaler Selbster- fahrung und -darstellung; die Erforschung des Unbewußten, bei der er sich für kurze Zeit den Surrealisten anschloß; Reisen zu ‘primitiven’ Völkern und Leben- sweisen, bei denen er nicht vor extremen Bedingungen zurückschreckte; Beschäfti- gung mit okkulten Wissenschaften und, vielleicht ganz zuletzt, die Schriftstellerei.

Er schrieb Romane, schonungslos offene autobiographische Texte, Reiseberichte - hier unter anderem das über fünfhundert Seiten starke Tagebuch seiner Afrikareise von Dakar nach Djibouti Anfang der dreißiger Jahre: »Phantom Afrika« (dt. 1980/84) - und Gedichte. In Deutschland wurden seine Hauptwerke erst in den letzten fünfzehn Jahren bekannt, und viele wissen nicht, daß er schon in den zwanziger Jahren in deutschen Zeitschriften publizierte. So erschien im »Quer- schnitt« (Heft 9 / 1926) ein Artikel von ihm mit der Überschrift »Paris - Minuit«. Es handelt sich um ein Loblied in Prosa auf den Jazz der schwarzen Musiker, der damals in Paris seine ersten Triumphe feierte, in einer Zeit, die heute in den Romanen der diesjährigen Nobelpreisträgerin Toni Morrison geschildert wird. Auch der Jazz war für ihn ein »metaphysisches Erlebnis«, ein Erlebnis, das er auch in den Gedichten schwarzamerikanischer Dichter wie Langston Hughes, Claude McKay und Countee Cullen zu finden glaubte. In manchen seiner Gedichte ver- spürt man den Einfluß dieser schwarzen Lyrik, aber auch Einflüsse des Surrealis- mus und anderer Strömungen der literarischen Moderne. Eine Auswahl seiner späten Gedichte ist nun in der deutschen Übersetzung von Waltraud Gölter erschienen, die zur Auswahl auch ein kenntnisreiches Nachwort geschrieben hat. Der Band ist zweisprachig, was den Vorteil hat, daß der Leser auch immer über den Originaltext verfügt. Die Übersetzung von Lyrik ist immer problematisch, die ansonsten sehr getreue und gut lesbare Übersetzung von Wal- traud Gölter ist an einigen Stellen fragwürdig. So trägt eines der Gedichte den Titel »Transmutation« (S. 26/27), was W. Gölter auf den ersten Blick durchaus richtig mit »Verwandlung« übersetzt hat. Der kurze, vierzeilige Text zeigt aber, daß sich Leiris der Bildersprache der Alchimie bedient, vom ‘Schmelztiegel des Kopfes’ ist da die Rede, in dem das ‘Fließen des Goldes’ zu fühlen ist. Mit diesem Inhalt wäre es besser gewesen, den Begriff ‘Transmutation’ als Fachwort der Alchimie stehen zu lassen. Die alchimistische Transmutation ist für Leiris ein Bild für den Versuch, aus den banalen Dingen des Lebens höherwertiges Material zu schaffen.

Nun, das sind vielleicht Kleinigkeiten. Der Verdienst des - im übrigen auch schön gestalteten - Bandes ist unbestreitbar. Zum einen, weil damit wichtige Texte der Leiris’schen Lyrik nun auch in Deutschland bekannt werden, zum anderen, weil diese Texte zeigen, wie stark Leiris auf die junge und die jüngste Generation französischer Lyriker gewirkt hat. Die deutschen Leser können dies nachvollzie- hen, wenn sie parallel zu Leiris die ebenfalls zweisprachige, dreibändige Antholo- gie zeitgenössischer Dichtung, die Rüdiger Fischer unter dem Titel »Das Fest des Lebens« übersetzt und herausgegeben hat, zur Hand nehmen. Diese drei Bände bieten ein breites Spektrum, R. Fischer hat nicht nach möglichen modernen Klas- sikern Ausschau gehalten, wie es die Herausgeber des vierten Bandes der großen Gesamtausgabe »Französische Dichtung« (DTV 1992) getan haben, er hat auch Außenseiter und neueste Stimmen zu Wort kommen lassen.

Doch zurück zum Einfluß Leiris’. In seiner Sammlung »Ondes / Wellen«, die W. Gölter in ihren Band aufgenommen hat, findet man das folgende Wintergedicht: »WINTER / Vorbei die Zeit der Träume / und die Hoffnung dahin, / die der Weisheit zu erreichen, / Not des Punktes Null.« (S. 55). R. Fischer hat in den ersten Band seiner Anthologie ein Wintergedicht der französisch-libanesischen Autorin Andrée Chedid aufgenommen: »Der Winter / Unter einem abweisenden Himmel / Zwischen den vergeblichen Rufen der Zweige / Und dem Schweigen des Vogels // Nackter als der Mangel / Bleicher als das Warten // Zählt der Wind seine Stunden / Mit allein vom Schrei des Windes / Durchbohrter Kehle.« Gewiß, das zweite Gedicht ist näher an den Naturgegebenheiten der Jahreszeit, doch die verknappte Sprache und die bildliche Grundaussage von einer freudlosen Zeit des Mangels und der Not ähneln der Grundaussage bei Leiris. Das Bild von der durchbohrten Kehle erinnert außerdem an ähnliche Bilder in anderen Texten Leiris’. Einflüsse sind aber meist nur schwer oder gar nicht nachzuweisen, und man wird in Fischers Antholo- gie auf Gedichte stoßen, die eine ganz andere Sprache sprechen. Das ändert nichts an der Tatsache, daß Leiris bis zu seinem Tod von vielen jungen Autoren verehrt wurde; und auch nicht an der Tatsache, daß mit den beiden hier besprochenen Werken die an französischer Lyrik interessierten Leser neues, sehr empfehlen- swertes ‘Lesefutter’ bekommen haben. Und es steht ihnen frei, Leiris Gedichte, die vom Titel her ganz traditionelle Themen anschlagen, mit anderen Gedichten, die das gleiche Thema behandeln, zu vergleichen; wie zum Beispiel im Fall des folgenden Herbstgedichts:

AUTOMNE

Ce que j’écris et qui, doré par mon orgueil, me semble traits de feu n’est peut-être que lueurs sur un marécage ou flamboiement de feuilles mortes.

HERBST

Was ich schreibe und was, vergoldet durch meinen Stolz, mir wie Feuerstriche erscheint, ist vielleicht nur ein Leuchten über dem Sumpf oder Aufflammen toter Blätter.

Hier kann man leicht erkennen, wie weit sich Leiris von der traditionellen Lyrik entfernt hat, bzw. wie sehr er bei allem, was er schrieb, den Rat befolgt hat, den ihm Max Jacob in einem Brief vom 22. Juni 1923 gegeben hat: ”Écris-toi, décris- toi, et je te promets que tue ne souffriras plus...” (Schreib dich, beschreib dich, und ich verspreche dir, daß du nicht mehr leiden wirst) – allerdings fuhr Jacob fort: ”de cette façon. Tu souffriras autrement.” (in dieser Art. Du wirst anders leiden).

Michel Leiris: Vivantes cendres, innommées / Lebende Asche, namenlos. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Waltraud Gölter. 128 S. Heidelberg. Wunderhorn Verlag. 1993.

La Fête de la vie / Das Fest des Lebens. Anthologie zeitgenössischer französischer Dichtung. 3 Bände. Auswahl und Übersetzung von Rüdiger Fischer. Rimbach. Verlag im Wald. 1992/1993. Zus. 350 S.

Griff nach dem Ich in der Angst aus dem Traum

Wehlaut – der vierte Band der autobiographischen Wahrheitssuche Die Spielregel von Michel Leiris

Im Herbst 1924 treffen sich in einem Pariser Café die jungen Schriftsteller George Bataille und Michel Leiris. Bataille schlägt vor, wie Leiris später berichtet, ”eine Ja-Bewegung ins Leben zu rufen, die eine beständige Bejahung aller Dinge zum Inhalt haben würde und der von DADA repräsentierten Nein-Bewegung überlegen wäre, als sie dem Kindlichen einer systematischen provozierenden Negation entgehen müsste. Das Bemerkenswerteste an diesem Projekt war der Entschluss, wenn möglich ein Bordell des alten Viertels Saint-Denis zum Sitz unserer Zeitschrift zu machen”. Dieser Vorschlag bleibt Idee, die beiden jungen Männer schließen sich dem im selben Jahr gegründeten Surrealismus an. Allerdings mit einem gewissen Unbe- hagen, denn mit dem diktatorischen Gebaren eines André Breton können sie sich nicht anfreunden. So ist es nicht erstaunlich, dass sie bald zu den Ausgestoßenen, zu den Feinden Bretons gehören, die den Oberpriester mit ihrem Manifest Un Cadavre (1930) heftig attackieren.

Leiris geht fortan seine eigenen Wege. Er begleitet den Ethnologen Marcel Griaule auf einer mehrjährigen Afrikaexpedition (1931-1934) von Dakar nach Djibouti und schreibt dabei sein voluminöses Tagebuch Afrique fantôme, in dem er auch den europäischen Kolonialismus, die Räubereien der Ethnologen geißelt. ”Es ist eine unheilvolle Sache, ein Europäer zu sein”, notiert er. Vielleicht ist dies der Aus- gangspunkt zu seinem größten schriftstellerischen Unterfangen. Er will unter- suchen, was es heißt, ein Europäer, ein Weißer, auch ein Intellektueller in diesem Jahrhundert zu sein, und sein Unternehmungsgegenstand ist er selber. 1939 pub- liziert er im Alter von 38 Jahren mit L’Age d’homme (Mannesalter) den ersten Versuch. Er ist nicht zufrieden damit und sagt, er müsse dieses Buch noch einmal gänzlich neu schreiben. So entsteht mit den Jahren ein Werk mit dem Titel La Régle du jeu (Die Spielregel) in vier Bänden, die 1948, 1955, 1966 und 1976, vierzehn Jahre vor seinem Tod, erscheinen.

Dem Münchener Verlag Matthes und Seitz kommt das Verdienst zu, diese eigen- willige Autobiographie in der adäquaten Übersetzung von Hans Therre, der schon mit seiner Rimbaud-Übersetzung von sich reden machte, den deutschen Lesern zur Verfügung gestellt zu haben; in diesem Frühjahr (1999) ist der vierte Band unter dem Titel Wehlaut erschienen. Leiris ist auf der Suche nach der Wahrheit über sich selbst, und er ist dabei offen bis zur Selbstverletzung. In diesem Zusammenhang hat man zum Vergleich auf die Essais von Michel de Montaigne hingewiesen. Doch Leiris ist offener, gnadenloser, und er ist ein Mann des 20. Jahrhunderts mit all seinen Widersprüchen, Katastrophen und Gewalttätigkeiten.

Großartige Schilderungen und Gedankengänge findet man in diesem vierten Band, aber auch scheinbare Belanglosigkeiten, die jeder ”normale” Mensch schnell vergisst und verdrängt. So zum Beispiel: ”Mir scheint, dass mich frühmorgens, wenn ich, in die Bettücher gehüllt, am Aufwachen bin, heimtückische Traumges- pinste umgarnen, die nicht das Niveau des Bilds und nicht einmal (würde ich sagen) das des Denkens erreichen, sondern es kaum weiter bringen als bis zur Empfindung – einer reichlich verschwommenen Empfindung, die ich ‘Angst‘ nennen möchte, um ihre quälende Natur wenigstens anzudeuten, wenn ich sie schon nicht beschreiben kann.” Man beobachte sich selbst in dieser Situation, und manch einer wird sich an ähnliche Empfindungen erinnern. So kann man dieses Werk wirklich als Spielregel lesen, als Spielregel, die einem hilft, den eigenen Empfindungen mehr Aufmerk- samkeit zu widmen, sich selber besser kennenzulernen. Es ist aber eher fraglich, ob Leiris dieses Buch als Lebenshilfe für seine Leser geschrieben hat, was aber niemand abhalten muß, es so zu lesen.

Michel Leiris: Die Spielregel 4. Wehlaut. Aus dem Französischen von Hans Therre. Matthes & Seitz Verlag 1999. 456 S.

Parsifal und Don Juan

Michel Leiris (1901 – 1990) über Richard Wagner und seinen Parsifal

Michel Leiris war einer der faszinierendsten Gestalten des intellektuellen Frank- reich im 20. Jahrhundert, am 20. April wäre er hundert Jahre alt geworden. Schrift- steller, Ethnologe, Poet, so wurde er bezeichnet, doch mit solchen Begriffen war er nicht zu fassen. Den Surrealisten hat er sich für kurze Zeit angeschlossen, sein Roman Aurora wird in diesem Zusammenhang genannt. Als Sekretär und Freund begleitete er den Ethnologen Marcel Griaule Anfang der 30er Jahre auf der ominösen Expedition ”Dakar – Djibouti”, dabei entstand sein Tagebuch Afrique fantôme, das als autobiographisches Dokument ebenso wie als Basiswerk einer selbstkritischen Ethnologie gerühmt worden ist. In gnadenloser Offenheit hat er über sich selber geschrieben, dies auch in seinen mehrbändigen autobiographischen Werken L’Age d’homme (Mannesalter) und der La règle du jeu (Die Spielregel), die weltweit mit Begeisterung rezipiert wurden. Und neben seinem umfangreichen, zu Lebzeiten veröffentlichten Werk hat er noch ein über 800seitiges Tagebuch hinterlassen, in dem er Beobachtungen, Werkskizzen, Träume, Erlebnisse und vieles mehr notiert hat. Davon soll hier in gebotener Kürze die Rede sein, genauer von seinen Gedanken zu Richard Wagner und seinem Parsifal. Leiris war von der Oper begeistert, ebenso wie vom Stierkampf; beide waren für ihn archaische Rituale, hatten zumindest Wurzeln in dieser Richtung.

Auf Richard Wagner nimmt er mehrfach Bezug, wobei er kein Blatt vor den Mund nimmt. Für ihn gab es drei ‚verabscheuenswürdige Genies‘: Wagner, Rodin, Claudel; es waren wohl vor allem die charakterlichen Eigenschaften dieser Kün- stler, die ihn abstießen. Als ”salauds de génie” bezeichnete er: ” (bezahlter Pamphletist), Alfred de Vigny (Polizeispitzel), Richard Wagner (Ras- sist), Louis-Ferdinand Céline (Antisemit)”. ”Salaud de génie”, was man mit ‚Sauhund und Genie’ übersetzen könnte. Wagner war für ihn nicht nur Antisemit, sondern Rassist ganz allgemein, gleichwohl bewunderte er sein Werk. Mit Musik beschäftigte sich Leiris seit frühester Jugend. Als 28jähriger plante er zwei Artikel: ”Strawinski, Komponist des Erotischen”, ”Die Rehabilitation Richard Wagners”. Aus diesen Artikeln ist meines Wissens nichts geworden, doch er hatte vermutlich die Absicht, Wagners Werk von seiner Weltanschauung zu trennen. 1942, als die Deutschen Frankreich besetzt hatten, verglich er, ausgehend von der Zauberflöte, das Genie Mozarts mit dem Wagners, beide hätten den Versuch unternommen, nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto zu erarbeiten; Wagner weitaus mehr als Mozart. Im Sommer 1949 plante Leiris eine Reise nach Palermo, er wollte im Grand Hôtel des Palmes logieren, wo, wie er wußte, Wagner an seinem Parsifal gearbeitet hatte. Er notierte dies zusammen mit dem Hinweis, das im selben Hotel Raymond Roussel gestorben sei. Zwischen den beiden sah er offensichtlich eine Verwandschaft; so wie Wagner seine imaginäre Welt erschaffen hatte, war Roussel in seinem Buch Impressions d’Afrique der Schöpfer eines völlig imaginären Afrika gewesen. Später (1973) vergleicht er Roussel mit Ludwig II. von Bayern, der wiederum auch ganz in seiner phantasmagorischen Welt aufgegangen sei.

Am 26. März 1954 sah Leiris in der Stuttgarter Oper den Parsifal, ein Ereignis, dem er mehrrere Seiten (2 große Druckseiten) in seinem Tagebuch gewidmet hat (4. April 1954). Er beginnt mit Jugenderinnerungen: schon als 13jährigen hatte man ihn in den Parsifal mitgenommen; damals sei er darauf stolz gewesen, daß man ihm dieses als schwer verständlich geltende Werk zugemutet habe. Gleich nach dem Ersten Weltkrieg versuchte er in dem von den Franzosen besetzten Wiesbaden den Parsifal zu sehen, hatte aber keine Karte bekommen. Es folgen nun einige Reflexionen zur Oper, die es wert sind, hier referiert bzw. übersetzt zu werden. Zunächst sieht er einen Irrweg darin, daß Wagner versucht habe, ein Weihespiel (”théâtre sacré”) auf die Bühne zu bringen, in der Form eines Rituals. Denn schon eine Theateraufführung sei ein Ritual, und darum sei es ein Fehler, ein wirkliches Ritual zum Inhalt eines Theaterstücks zu machen. Wagner habe hier wie in all seinen Opern versucht, ein - poetisch und philosophisch gesehen - Libretto von Wert zu schreiben, doch im Grunde sei ihm dies nie gelungen (außer im Tristan, weil er sich hier von der alten Legende habe tragen lassen). Ungenießbare Texte seien entstanden, mit einer ausufernden musikalischen Untermalung. Es folgen nun einige moralisch weltanschauliche Überlegungen.

”Ist es, moralisch gesehen, nicht skandalös, daß der Stein gleichermaßen auf alle geworfen wird, die nicht ‚rein‘ sind: Kundry, die wie ein Hund auf den Stufen des Altars verreckt; Amfortas, der wegen seiner Ausschweifungen bestraft und derb angefahren wird, gerade dann, als er sich menschlich zeigt und im Begriff ist, seinen Vater zu beweinen? Die Szene der dreifachen Taufe (Kundry wäscht die Füße Parsifals, dem Gurnemanz Wasser über das Haupt gießt, und Parsifal tauft dabei Kundry): haben wir es da, symbolisch gesehen (was noch schlimmer ist) mit einer Art Gruppensex zu tun?” Eine verwegene Deutung, gewiß, doch Leiris zeigt uns Seiten dieser Oper, die zumindest zu bedenken sind. Weiter unten schreibt er: ”Neigt nicht auch der Ästhetizismus dazu, eine Gemeinschaft der Vollkommenen zu schaffen, und wäre nicht der Parsifal, in dem es thematisch um eine Initiation und um die Verherrlichung der Reinheit geht (und hier ist es ganz ernst gemeint, ohne die ironischen Anführungszeichen der Zauberflöte) auf dem Gipfel des Ästhetizismus? Und den Applaus verbieten zu wollen (da er der religiösen inneren Sammlung widerspreche), heißt das nicht, das Eingreifen des zur Passivität ver- dammten Publikums zu verhindern und jede wirkliche Kommunikation zwischen den Künstlern und ihm zu unterdrücken (mit der Behauptung, die Kommunikation könne nur in eine Richtung gehen)? Läuft das nicht darauf hinaus, dem Theater- ereignis, genau das zu nehmen, was es im positiven Sinn von einem Ritual hat (eben diese so lautstark verkündete Kommunion)?” Leiris, der in allem, was er tat und schrieb, sich selber rücksichtslos eingebracht hat, verlangt hier, zugespitzt gesagt, eine Art ‚Orgien-Mysterien-Theater‘, an dem sich alle beteiligen, das ihm Wagner nicht liefern konnte. Im folgenden sieht er wieder Beziehungen zum Nazismus: ”Gibt es nicht eine offensichtliche Verbindung zwischen dem reinen und strengen Rittertum im Parsifal und den Ordensburgen der Hitlerzeit?” Leiris schreibt ”Ordensburger” (in Anführungszeichen) und meint die jungen Männer, die in den Ordensburgen erzogen wurden. Es mag ja sein, daß damals diese Ver- bindung von einigen gesehen wurde, andrerseits haben wir es hier mit einer für manche Franzosen typischen Sichtweise zu sehen, einer Sichtweise, die wir dann knapp zwanzig Jahre später in Michel Tourniers Roman Der Erlkönig wiederfin- den. Ihm wurde allerdings von Jean Améry eine Ästhetisierung des Faschismus vorgeworfen.

Am 9. April nimmt Leiris das Thema in seinem Tagebuch noch einmal auf, er spricht von einer ‚Berichtigung seiner Parsifal-Analyse‘. Er schreibt: ”Wenn Amfortas klagend am Sarg seines Vaters steht, erregt er nicht durch seinen Kum- mer Anstoß, sondern weil er dabei zugleich sein eigenes Unglück und das durch seine Wunde verursachte Leiden beklagt.” Dann bringt Leiris eine bemerkenswerte Gegenüberstellung. Don Juan und Parsifal stehen sich für ihn diametral gegenüber (”obwohl beide Werke auf einem religiösen, ja christlichen Mythos beruhen”). ”Beide Helden zeigen ihre Unmenschlichkeit in der Verachtung der Frauen – der eine, indem er sie verführt, der andere, indem er sie von sich stößt - ; dem ersten sind die Höllenqualen bestimmt, dem anderen die himmlischen Freuden. Bei Don Juan ist diese Verachtung Sünde, bei Parsifal Tugend.” Kurios, daß der ewige Frauenheld mit dem tumben Tor auf diese Weise verglichen werden, gleichwohl kann man zumindest sagen, daß beide zumindest aus moderner Sicht tragische Gestalten sind. Diese Überlegungen gehen bei Leiris sicher nicht allein auf dieses Stuttgarter Opernerlebnis zurück, sie zeigen vielmehr, daß er sich an die fünfzig Jahre mit diesem Thema beschäftigt hat. Die Frage, inwieweit Wagner und die Oper ansonsten in Leiris‘ Werk eine Rolle spielen, wäre eine längere Untersuchung wert, es soll hier nur noch darauf hingewiesen werden, daß einigen Opernfiguren in seinem sprachphantastischen Wörterbuch Langage – Tangage auf bezeichnende Weise definiert werden. Zu Tristan heißt es: ”que sa transe attise” (etwa: seine Angst möge schüren), und zu Isolde (Yseut) ”ses yeux d’Asie et d’adieu” (ihre asiatischen Augen des Abschieds). Parsifal taucht in diesem Wörterbuch nicht auf, allerdings finden wir in dem dem Wörterbuch beigegebenen Essay Musique en texte et musique antitexte (etwa: Musik im Text und Antitext-Musik) Siegfried, den ”Tarzan des eisernen Zeitalters”. In seinem Buch À cor et à cri (‚unter Hörnerschall / mit aller Gewalt‘) widmet er dem Singen – neben dem Sprechen und dem Schreien – ein ganzes Kapitel. Singen heißt für ihn: ”das zum Schweigen bringen, das uns tagtäglich weh tut, und das im selben Augenblick einerseits vertrieben, andererseits ergründet und in eine Quelle des Rauschs verwandelt wird.”

Zuerst erschienen in: Bayreuther Festspielnachrichten 2001. Parsifal-Heft.

Weiteres zu diesem Thema findet man in Michel Leiris‘ posthum erschienenen Buch Operratiques (Hg. von Jean Jamin. Paris 1992.) Melonen und Wahnsinn

Napoleons Schicksal könnte anders gewesen sein

Ein gute Erzählung erkennt man unter anderem daran, daß man sie auf ver- schiedene Weisen lesen kann und daß darin auch die Kleinigkeiten, die scheinbar unbedeutenden Einzelheiten, von großer Bedeutung sind, sowohl im Handlungsge- füge als auch dann, wenn man sie für sich betrachtet. Der Tod Napoleons von Simon Leys, einem französischen Sinologen und Kunsthistoriker, ist eine solche Erzählung. Wenn man vergleichen wollte, könnte man Christa Wolfs Erzählung Kein Ort nirgends oder die vier Novellen von Gert Hofmann, die unter dem Titel Gespräch über Balzacs Pferd erschienen sind, als ebenbürtig nennen. Das gilt sowohl für die literarische Qualität als auch für die allgemeine Thematik dieser Prosastücke. So wie Christa Wolf und Gert Hofmann hat auch Simon Leys eine historische Persönlichkeit zum Helden seiner Erzählung gemacht, ihr aber ein neues Leben ‘angedichtet‘.

Es geht um Napoleon, der in Leys‘ Erzählung von der Insel St. Helena flieht, über Antwerpen, Brüssel und Waterloo nach Paris gelangt, in der Hoffnung, dort wieder die Macht ergreifen zu können. All dies ist das Komplott eines jungen Mathematik- ers, der auch dafür gesorgt hat, daß auf St. Helena ein Doppelgänger als Napoleon weiter in Haft bleibt. Doch der Plan mißlingt, denn anstatt nach Bordeaux, wo Napoleon von einem Agenten empfangen werden soll, fährt das Schiff, auf dem Napoleon als Steward arbeitet, nach Antwerpen. Napoleon kommt zwar nach Paris, aber er kann nicht mehr mit der Hilfe dieser geheimen Gesellschaft rechnen. Statt dessen wird er der Geliebte einer Melonenhändlerin, um die sich eine kleine Gruppe von Veteranen aus der großen napoleonischen Armee geschart hat. Das könnte eine Grundlage sein, doch noch die Macht zurückzuerlangen, aber da kommt die Nachricht, daß der falsche Napoleon auf St. Helena gestorben ist. Der echte Napoleon kann zwar sein strategisches Geschick noch für den Melonenhan- del fruchtbar machen, doch seine Versuche, sich als Napoleon zu erkennen zu geben, werden nur als Anzeichen von Wahnsinn gedeutet. So stirbt er denn eines Tages als Melonenhändler, nachdem ihm der Blick in eine Irrenanstalt gleich eine halbe Hundertschaft von vermeintlichen Napoleons gezeigt hat. Für den großen Mann der Geschichte gibt es keine Chance mehr, der Mittelmäßigkeit eines Bürger- lebens zu entkommen.

Dies führt zu einem anderen Blickwinkel, unter dem die Erzählung gelesen werden kann: es geht um die Realtivierung der Geschichte und ihrer großen Gestalten. Der berühmte Napoleon ist nur noch ein fettleibiger, glatzköpfiger Mann, der auf seinem Weg zu neuen großen Taten, die er erhofft, nur kleinen Leuten begegnet. Der schwarze Schiffskoch Nicolas, der Invalide und angebliche Waterloo-Kämpfer Edmond, der Unteroffizier Bommel, die Witwe Truchaut, die unter dem Spitzna- men ‘Stute‘ ihr Melonengeschäft betreibt: sie bewundern jeweils den Napoleon ihrer Vorstellung, den Kaiser, der längst Legende geworden ist. Dabei kommt dem Neger Nicolas eine besondere Rolle zu. Er zeigt dem Kaiser auf dem Meer einen gewaltigen Sonnenaufgang und öffnet ihm, der sonst nur Machtintrigen und Truppenbewegungen sah, die Augen für die Schauspiele der Natur. Nicolas, die Inkarnation der geknechteten Menschheit, ist es auch, der dem Kaiser, nun ein Melonenhändler, auf dem Sterbebett in einer letzten Vision erscheint. Napoleon erlebt das Weltbild der kleinen Leute und muß erkennen, zumindest erkennt es der Leser, daß die Geschichte nicht nur das Werk der Großen ist, sondern daß sie auch von den Kleinen erlitten wird.

Hinter all dem steht nicht der Geist der Geschichte. Dafür hat Leys ein treffendes Bild, fast schon eine Parabel in dieser Parabel-Erzählung, gefunden: da gibt es diese Geheimorganisation zur Befreiung Napoleons, die von jenem unbekannten, jungen Mathematiker gegründet worden ist, der aber, als sein Plan anläuft, schon vor zwei Jahren zuvor von einer Hirnhautentzündung dahingerafft wurde. Blind verläuft das Geschehen, es gibt keinen Sinn in der Geschichte. Leys erzählt mit verhaltener Ironie und mit einem gewissen Mitleid für die ‘Helden‘ der Geschichte. Glänzend die einzelnen Szenen: der Kaiser auf dem zur Touristenattraktion gewor- denen Schlachtfeld von Waterloo, die falschen Napoleons in der Irrenanstalt, die Eroberung von Paris durch die Melonenverkäufer unter der strategischen Führung des großen Feldherrn. Simon Leys ist für diese gleichermaßen leichte und nach- denkenswerte Erzählung zu danken; zu danken ist auch Liselott Pfaff, die eine gut lesbare Übersetzung geschaffen hat.

Simon Leys: Der Tod Napoleons. Deutsch von Liselotte Pfaff. Benziger Verlag 1988. 112 S.

Ein Märchen in der Nachfolge Richard Wagners

”Denn jede Stunde ist unwiederbringlich vorbei ...”

Jean Lorrain (1855-1906) gehört zu den faszinierendsten Gestalten des fran- zösischen Fin de siècle. Der ”Mann hinter den Masken” wurde er genannt, denn er stolzierte nicht nur bisweilen im Ätherrausch als Transvestit durch das Paris der Jahrhundertwende, er versuchte sich auch in ganz unterschiedlichen literarischen Gattungen: Dramen, Sittenromane, die auch in Kindlers Literaturlexikon Erwäh- nung finden, Artikel zum kulturellen Zeitgeschehen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, phantastische Erzählungen (Histoires des masques) und Kunstmärchen sind nur die wichtigsten. Gerade die Märchen gelten, so Gerhard Wild im Kindler‚ als besonders typische Schöpfungen der Jahrhundertwende und finden heute wieder mehr Beachtung. In Wirklichkeit hieß er Paul Duval, sein Pseudonym Jean Lorrain war nur eine seiner Masken, hinter denen er sich versteckte. Eine seiner Musen war die schöne Judith Gautier, die noch den alten Richard Wagner becirct hatte und die von Cosima gar nicht gern gesehen wurde. Doch das ist nur ein biographisches Detail. Wichtiger ist, daß er wie viele seiner Zeitgenossen eine Vorliebe für ein sagen- oder märchenhaftes Mittelalter hatte, und hier kann als wichtiges Vorbild Richard Wagners Mittelalterwelt gesehen werden. Dies könnte ausführlich belegt werden, doch hier soll nur eines seiner Märchen abgedruckt werden, in dem die Welt der Wagnerschen Gestalten mit Händen zu greifen ist. Der jungen Königssohn Bertram, der auszieht, um sein Schicksal zu meistern, ist ein ”tumber Tor” wie Wagners Parsifal. Er begegnet auch ähnlichen Versuchungen, Blumenmädchen zum Beispiel und einer Art Kundry, aber er begegnet auch dem ”Fliegenden Holländer”, der eigentlich in diesem Märchen gar nichts zu suchen hat, der wohl als Hommage an den deutschen Komponisten eingefügt wurde. Das Märchen von der unnützen Tugend erschien 1897 in der Sammlung Contes pour lire à la chandelle (”Märchen, bei Kerzenlicht zu lesen”) und war Gabriele d’Annunzio gewidmet.

Jean Lorrain

Die unnütze Tugend

Drei Tage ritt er nun schön entlang dieser mit bleichen Disteln bewachsenen Dünen, und kein weißes Segel erschien am Horizont: Von morgens bis abends nur diese gewaltige Monotonie eines ruhigen, faltenlosen, schiefergrauen Meeres unter dem düsteren Glanz eines weißen Himmels. Bisweilen scheute plötzlich sein Pferd, warf wiehernd die Hufe hin zum Meer, und mit einem seidenen Flügelflattern drehten die aus irgendeinem Loch in den Klippen aufgeschreckten Möwen ihre Kreise hoch oben in der Luft, verschwanden wieder, und im rostroten Sand waren ihre Schatten wie ein Moiré zu sehen. Und der junge Mann hob nicht einmal das Haupt. Mit ernster Stirn unter den ausgebreiteten Flügeln des Adlers, der seinen Helm zierte, trabte er in Gedanken versunken unterhalb der Steilküste dahin. Sie erhob sich wie eine schroffe Schiefermauer meilenweit am Ufer des Meeres entlang; vertrocknete, fast malven- farbige Kräuter hingen wie Haarsträhnen von halber Höhe an den Felsen hinab, tote Strähnen, und nur wenige, seltene Meeresvögel hausten drin. Gegen Abend wurden die Klippen rosa, die Dünen entflammten in der Feuersbrunst der untergehenden Sonne. Der junge Mann stieg ab und ließ sein Pferd die bläuli- chen Sanddisteln weiden, seinen eigenen Hunger und Durst versuchte er mit dem salzigen Fleisch einiger Muscheln zu betäuben, um dann unter dem aufgehenden Mond seinen Weg fortzusetzen. In dem Kloster, in dem er auf Geheiß der Königin, seiner Mutter, erzogen worden war, hatte er das Gelübde abgelegt, den Ritter mit dem leuchtend weißen Haar- schopf, dem er sein Leben verdankte, tot oder lebendig aufzuspüren. Bertram war die Frucht eines Fehltritts. Als Bastard der ehebrecherischen Königin von Aquita- nien geboren, war er wie die Rache selbst ausgebrütet und genährt worden. Die Fürstin hatte geschworen, den ungetreuen Liebhaber, der sie im Stich gelassen hatte, von dem Kind ihrer Unzucht finden zu lassen. In einem Barnabitenkloster war der junge Prinz herangewachsen, seine Erziehung lag in den Händen der Königin, die aber selbst nie in Erscheinung trat und von ihrem Sohn, den sie einer tragischen Verstrickung zuführte, nie gesehen ward. Die Mönche hatten das Kind hart erzogen, mit einem Haß auf jegliche Liebe, auf die Frauen und auf alles, das unter dem Himmel lacht und gedeiht: durch Fasten und Gebet hatte dieser Königssohn eine unempfindliche Seele erhalten. Unter seiner Damaszenerrüstung trug Bertram ein härenes Büßergewand und hatte einen Strick dreimal um seine Hüften gebunden. Und dann eines schönen Morgens, nachdem man ihn durch einen Zaubertrunk aufgepeitscht und nachdem man ihm Handflächen und Fußsohlen mit dem Blut einer Wölfin bestrichen hatte, war dieser jugendliche Rächer losgeschickt worden. ”Du wirst den Mann, dem du deine dunkle Herkunft und deine schmerzensreiche Kindheit verdankst, an den drei Smaragden erkennen, die an seinem Helmsturz erstrahlen. Mag sein Haar nun schneeweiß oder goldblond sein, schlag zu und töte, und du wirst damit dein elendes Leben, deine Mutter, dein Geblüt und auch deinen Gott rächen.” Diese verhängnisvollen Worte waren von einer Traumstimme in jener Kapelle gesprochen worden, wo Bertram die Nacht vor seiner Schwertleite verbracht hatte; eine im Schatten verborgene Gestalt hatte den Befehl diktiert; und am nächsten Tag war Bertram im Morgengrauen aufgebrochen; seine Handschuhe, sein Brustpanzer, das Visier seines Helmes, ja sogar seine Sporen waren aus schwarzgeschmelztem Silber, über seiner Sturmkappe trug er einen Helm, auf dem ein gewaltiger Adler seine beiden Flügel aus fahlroten Gold schlug. Vom Turm des Klosters aus hatte ihn in der Morgenröte des jungen Tages eine Frau lange mit ihren Blicken verfolgt; nachdem die Gestalt des jungen Abenteurers im Ginster verschwunden war, hatte sich die Königin vor dem Hochaltar zu Boden geworfen, und die Nacht hatte sie dort im Gemurmel von Gebeten überrascht. Und jetzt, da er im Mondschein, der sich wie Silber über das ruhige Meer ergoß, dahinritt, bedrängte den jungen Krieger die Erinnerung an seltsame Begegnungen. Da waren ihm zunächst am dritten Abend nach seinem Aufbruch vom Kloster jene drei Mädchen auf der Lichtung eines Waldes erschienen, die drei Töchter des altern Seigneur, wie sie sich selber nannten, als sie ihn ganz vertraulich mit seinem Namen ansprachen. Die saßen am Waldrand, erhoben sich, als sie ihn erblickten, und versuchten, die Zügel seines Streitrosses mit Blumengirlanden zu schmücken. Sie waren ihm munter zugetan mit ihren Anemonenblüten, die sie in ihr Haar geflochten hatten, und unter ihren neuen Gewändern aus wehender Seide schienen sie nackt zu sein. Sie umringten ihn im Abendtau wie ein leichtfüßiger Reigen, und sie versuchten, ihn mit ihren Gebärden, ihren liebkosenden Blicken, ihren Stimmen und ihren frischen, anschmiegsamen Armen zurückzuhalten. Doch rüde trieb er sein Pferd voran, ohne darauf zu achten, daß er sie hätte umstoßen können. Die Wiesenelfen erscheinen so immer des Abends den Reisenden, und unter den Bäumen gab er seinem Pferd die Sporen; abweisend, wollte er ihrem Ruf nicht folgen. Zwei Nächte und zwei Tage war er durch den Eichenwald geritten, dann folgten dichte, hohe Baumkronen und weite Lichtungen, und den Lichtungen folgten eintönige Ebenen, die von Vorhängen aus Espen durchzogen waren; Weiher lagen dort wie Spiegel in dem hohen Gras und Nebelschwaden trieben dort Tag und Nacht umher und webten um gespenstige Weidenstümpfe leichentuchartige Ge- bilde. Dann war er in eine Gegend aus Mooren und Sümpfen geraten, wo der schwärzliche Boden unter seinen Schritten nachgab. Und dann, in einer mondlosen Nacht, als er an einem dieser schauerlichen Sümpfe entlangritt, bäumte sein Pferd sich plötzlich unter ihm auf, Bertram hob die Augen, und ein nacktes, fahles, übernatürliches Wesen erhob sich auf einmal vor ihm aus dem bleiernen Wasser. Es war der erschreckend bleiche Körper einer Frau, ihre Augen und ihr Lächeln ertranken in einer eigenartigen Ekstase; wie ein Irrlicht war sie aus einem Büschel aus Seerosen aufgetaucht, trunken grinste sie seltsam verkrampft, ihre Brüste reckten sich empor, der Mund stand offen, in einer Hand hielt sie einen kleinen silbernen Spiegel. Unerwartet war hinter den Weidengebüschen der Mond aufgetaucht, und wie in einem perlmutternen Glanz stellte sich die glückselige Tote dem jungen Mann in den Weg und reichte ihm zugleich ihren bläulichen Mund und das Silber des Spiegels. Eine alte, astlose Weide warf mit einem Mal die Umrisse eines Fauns über den Weiher, nachdem der junge Krieger voller Grauen den schamlosen Leichnam von sich gestoßen hatte, und ein großer Frosch sprang plötzlich aus den Gräsern mit einem dumpfen Geräusch ins Wasser. Und auf seinem Weg durch den Sand des Strandes dachte Bertram an all diese Zauberwesen, an all diese Fallen und an all diese Illusionen: Was wollten diese Masken, die aus dem Schatten kamen, diese durch die Nacht irrenden Gestalten, und was bedeuteten all diese Versuchungen? Und er bemerkte, daß eine lautlose Galeere, von der er weder das Knattern der Segel noch das Klatschen der Ruder gehört hatte, gleichzeitig mit ihm am Strand entlang schwebte; die hohen Masten, das Takelwerk und die Rahen hoben sich transparent gegen die Dunkelheit ab, und man hätte von einem Traumschiff sprechen können, denn es glitt mehr über das Wasser, als daß es durch die Wogen fuhr, und alles an Bord schien zu schlummern. Kein einziger Seemann auf der Brücke. Eine aufgegebene Galeere oder ein Gespensterschiff? Die Wellen schlugen nicht einmal an seine Seite und, aschenfar- ben, bewegte es sich auf geheimnisvolle Weise voran, Seite an Seite mit Bertram, und er hätte sich wohl für den Spielball der Vision eines anderen gehalten, wenn er nicht deutlich einen alten Mann wahrgenommen hätte, der sich am Bug unbeweg- lich auf die Reling stützte; es war wohl der Steuermann, dessen Finger die Saiten einer Leier zupften, einer verzauberten Leier allerdings, denn es war kein Ton zu hören. Und als der Morgen graute, fand sich Bertram in einem Landstrich mit vielen kleinen Hügeln und Tälern, die von grünenden Hecken und Gehegen mit Apfel- bäumen unterteilt waren: das Gespensterschiff, das Gestade mit dem rosa Sand und die Steilküste waren verschwunden, und der junge Abenteurer, der sich über nichts mehr verwunderte, gab seinem Pferd beide Sporen und galoppierte über die Wei- den und die Weißdornhecken dieses Obstgartenlandes. Es herrschte im übrigen eine absolute Stille. An der Färbung des Himmels, an den Wolken, die darüber hinweg- fegten und an den vom Wind gezausten Apfelbäumen spürte man das nahe Meer, und er ritt schon fünf lange Stunden durch eine Art Hohlweg, als eine schöne Dame ihm erschien. Sie war ganz in ein von Espenblättern übersätes Brokatgewand gehüllt und ritt, schlank und kerzengerade, auf dem bloßen Rücken eines Einhorns, eines eleganten und märchenhaften Tieres, dessen Fell wie Metall leuchtete. Die Dame auf dem Einhorn trug auf ihren schwarzen Haaren einen goldenen Helm mit einer kleinen Krone darauf und wie ein Ritter hielt sie eine Lanze im Anschlag. Sie versperrte dem jungen Sire den Weg, doch obwohl sie ihn mit ihrer Lanze bedrohte, wider- sprach sie doch ihrer feindseligen Haltung mit einem Lächeln und deutete mit einem Finger auf eine große Rose, die blutrot auf ihrem Gürtel erstrahlte; doch er hatte nur seine mörderischen Gedanken im Kopf; mit der stumpfen Seite des Schwertes schob der die stählerne Lanze der schönen Kriegerin beiseite und stob an ihr vorbei. Die schöne Dame schlug ihm noch mit der Rose aus ihrer Gürtelschnalle ins Gesichte, doch war dies eine verwelkte Rose, deren Blätter abfielen, und der junge Mann, der sich erstaunt umwandte, sah nur noch ein altes Weib, das auf einem Esel davongaloppierte. ”Noch eine Falle des Bösen!” dachte er bei sich und setzte seinen Weg ein wenig trauriger und müder fort. Schließlich gelangte er vor eine Art Herberge. Die Tür lag im Schatten eines Kiefernastes und drei schöne junge Frauen standen an der Schwelle. Sie trugen Wollkittel, die ihre Brüste freiließen, barhäuptig, mit bloßen Füßen standen sie da, und ihr derbes Lachen erschallte in der warmen Dämmerung. Die erste spann mit einem Spinnrocken, die zweite beugte sich über einen Trog, in dem sie Hanf wusch, und die dritte trat gerade unter den Blicken des jungen Mannes ins Haus, um sogleich aber wieder mit einem Weinkrug zurückzukommen. Sie bot Bertram zu trinken an, und die beiden anderen drängten ihn, abzusteigen. Sie dufteten nach Schweiß, Brot und Lavendel, doch Bertram stieß sie zurück. Da verschwanden sie mit lautem Gelächter im Haus, verriegelten die Tür, und der junge Mann blieb allein auf dem Weg stehen. Nun hatte sich aber sein Roß dem Trog genähert, um daraus zu trinken, und auch Bertram beugte sich darüber und stieß einen Schrei aus. Der königliche Abenteurer hatte sich selbst ins Antlitz geschaut, der Grund des Troges war zu einem Spiegel geworden, und darin erblickte er das Gesicht eines alten, lächelnden Mannes, das Gesicht eines Kriegers mit einem langen weißen Bart, einem müden und traurigen Blick, einem um Vergebung bittenden Lächeln; ein bleiches Gesicht aus längst vergangenen Zeiten unter einem goldenem Helm, den drei Smaragde wie Tränen zierten, und Bertram erkannte den Mann, den er erschlagen sollte. Er selbst war es also, den es zu töten galt, indem er sein Spiegelbild schlug, und mit dem bedrückten Herzen einer unendlichen Traurigkeit begriff Bertram, daß er alt geworden war. Diese weißen Haare waren die seinigen, diese trüben Augen waren, o weh, seine Augen, und er verstand, daß er ein unmögliches Abenteuer auf sich genommen hatte. Man muß sein Leben leben, ohne die Liebe, die Lust, das Ver- gnügen, nicht einmal jede noch so flüchtige Gelegenheit zu verachten, und er war auf ein Trugbild hereingefallen wie der Steuermann des lautlosen Schiffes ... Und es war nicht daran zu denken, noch einmal von vorn zu beginnen, denn jede Stunde ist unwiederbringlich vorbei.

Erstmals erschienen in Festspielnachrichten. Bayreuth 1997. Parsifal-Heft.

Dieses und weitere Märchen findet man in:

Jean Lorrain. Princesses d’ivoire et d’ivresse. Présentation de Jean de Palacio. Paris. Séguier. 1993

Antje Pehnt hat das Märchen Sabbat für den Band Der rastlose Fluß. Geschichten des Fin de Siècle übersetzt (hg. von W. Pehnt. Stgt. 1969).

Wild und grausam, zauberhaft und sanft

Pierre Lotis Reisebericht über Marokko

Sein bürgerlicher Name war Julien Viaud, von Beruf war er Kapitän der fran- zösischen Marine und auf französischen Schiffen reiste er durch die ganze Welt. Er schrieb Reiseberichte und Romane, die denen seines Zeitgenossen Joseph Conrad nicht nachstehen. Noch zu Hause wollte er dem monotonen Alltag der westlichen Zivilisation entkommen, kleidete sich orientalisch, schminkte sich und machte sein Haus zu einem Museum des Exotismus. Die Rede ist von Pierre Loti (1850-1923), dessen Reisebericht Im Zeichen der Sahara im Herbst 1991 wieder auf deutsch erschienen ist. Das Buch aus dem Jahr 1890 mit dem Originaltitel Au Maroc erschien zum ersten Mal 1923, in Lotis Todesjahr, in deutscher Übersetzung; zu einem Zeitpunkt, als das Ende des Kolonialismus schon eingeläutet war, und viele sich vor der Weisheit angeblich primitiver Kulturen verneigten. Mit Recht kann Loti als Wegbereiter einer solchen Haltung reklamiert werden, schrieb er doch am Ende seines Reiseberichts aus Marokko: ”Finsteres Maghreb, mögest du dich noch lange hinter deinen hohen Mauern verbergen, dem Neuen wehren und Europa den Rücken wenden! Irre nicht ab von deiner alten Bahn; träume noch lange deine alten Träume, damit noch ein letztes Land auf Erden sei, wo Menschen beten!” (S. 196)

Loti hatte Marokko als Begleiter einer französischen Gesandtschaft bereist, die Reise ging von Tanger nach Fès und Mèknes und zurück. Er profitierte also vom Kolonialismus, doch ihm war klar, daß dies nicht der Weg war, einander näherzukommen. ”Wozu schickt man diesem Herrscher hier eine Gesandtschaft?” fragt er sich während des Empfangs beim Sultan von Fès. ”Er und sein Volk sind ja in alte fromme Träume versenkt, aus denen es kein Erwachen gibt, und die für die andere Menschheit längst verflossen sind. Wir sind nicht imstande, einander zu verstehen. Erstünde ein Kalif von Bagdad oder Cordoba aus seinem tausendjähri- gen Grabe, wir könnten ihm nicht fremder gegenüberstehen. Was wollen wir von ihm? Warum rütteln wir an den streng verschlossenen Toren seines Palasts?” (S:.93) Loti ist sich der ‘Unschicklichkeit seiner Gegenwart‘ in diesem Land bewußt, trotzdem oder gerade deswegen ist dieses Buch ein überzeugender und einfühlsamer Bericht, der noch heute mehr über den Maghreb sagt als die meisten der neueren Reiseführer für Touristen. Ein empfehlenswertes Gegenstück zu Paul Bowles‘ Roman Himmel über der Wüste.

Gewiß, es ist auch ein ”romantisches Plädoyer für den Islam”, wie Susanne und Michael Farin in ihrem kenntnisreichen Nachwort schreiben, und Loti verwendet an vielen Stellen die standardisierte Sprache des literarischen Exotismus: Vieles ist für ihn wild, grausam, rätselvoll und grotesk, dann wieder zauberhaft, leuchtend und sanft. Aber Loti ist auch in der Lage, sich zumindest zeitweise ganz auf diese fremde Kultur einzulassen, selbst für die ihn abstoßenden Sonderbarkeiten findet er kein abfälliges Wort. Roland Barthes nannte ihn einen Hippie-Dandy; der Eth- nologe Claude Lévi-Strauss hat sein Werk vielleicht am treffendsten charakteris- iert: Seine Bücher sind ein ”wertvolles ethnographisches Zeugnis, wenn auch nicht über die Völker, die er gekannt hat, so doch zumindest über die Beziehung, die seine Kultur zu einer bestimmten Zeit zu fremden Kulturen hatte.”

Pierre Loti: Im Zeichen der Sahara. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Susanne und Michael Farin. Die Übersetzung aus dem Jahr 1923 wurde von Dirk Hemje-Oltmanns neu bearbeitet. Bremen 1991. Manholt Verlag. 212 S.

Weitere Reiseberichte von Loti findet man in: Reiseskizzen und Novellen von Pierre Loti. Berlin. Weltgeist-Bücher Verlagsgesellschaft. o. J.

Kopfwelten. Die verwirrende Vielfalt der modernen französischen Lyrik

Poesie am Rande

”Die Verleger von Lyrik - zumindest von solcher Lyrik, die neue Wege einschlägt - waren hauptsächlich die Opfer der großen Buchproduktion. Man muß dickleibige Kinder produzieren, mit einer Auflage von einigen tausend Exemplaren (das Büchlein des Dichters erregt Mitleid gegenüber manchen voluminösen Romanen).” Dies schreibt der französische Verleger René Rougerie in seinem 1985 erschiene- nen pamphletären Buch La fête des ânes ou La mise à mort du livre (Das Fest der Esel oder Der Todesstoß für das Buch). Er muß es wissen, denn er veröffentlicht in seinem kleinen Verlag in Mortemart bei Limoges seit fast vierzig Jahren in erster Linie Lyrik: nüchtern-weiße Bücher, meist im Bleisatz gedruckt, die man zum Lesen noch aufschneiden muß. Neben der respektablen Lyrik-Zeitschrift Poésie présente findet man in seinem Programm sowohl große Namen (Pierre Albert-Birot, Joe Bousquet, Max Jacob, Pierre Reverdy, Saint-Pol-Roux, Victor Segalen und andere) als auch eine Reihe unbekannter, junger und alter, Lyriker, die alle durch Qualität bestechen. Der Verlag Rougerie ist eine Ausnahme von der Regel, er kann sich nur durch bewun- dernswerte Eigeninitiative des Verlegers und seiner ganzen Familie halten. Große Verlage wie Gallimard haben zwar oft eine Lyrikreihe, doch darin findet man nur die Klassiker, auch noch die der Moderne bis zum Surrealismus, neue Experimente auf dem Gebiet der Lyrik haben hier nur selten eine Chance.

Der Markt der Poeten

Paris, Ende Juni 1989: noch vor den pompösen Revolutionsfeiern kann man auf der Place Saint-Sulpice ein anderes Spektakel erleben. Zum siebten Mal findet dort der ”Marché de la poésie” statt, diesmal wieder auch mit einigen Kleinverlagen aus der Bundesrepublik. Es sind über 250 Verleger, die ihre Bücher präsentieren, für die meisten von ihnen gibt es beim offiziellen ”Salon du livre” keinen Platz, sie würden auch dort hinter der protzigen Publicity der Großverlage verschwinden. Es gibt sie also noch, die französischen Poeten, und hier scheint es, als hätten sie die Straße, das große Publikum, wiedergewonnen. Aber der Schein trügt, denn es gibt - so schrieb René Rougerie in der ersten Nummer seiner Zeitschrift - in Frankreich höchstens tausend Leser von Gedichten, und das ist noch eine optimis- tischeSchätzung. Wenn es nun in Frankreich, diesem Land mit seiner großen Lyriktradition, die man stolz sogar in Jugendbuchreihen verbreitet, so schlecht steht, wird man sich fragen dürfen, ob es die Mühe lohnt, diese moderne Lyrik bei uns vorzustellen. Hierzulande ist es doch um die Lyrik genauso, wenn nicht schlechter bestellt, und die französischen Dichter der letzten vierzig Jahre, deren Werke ins Deutsche übersetzt worden sind, kann man wohl an zwei Händen abzählen.

Eine ”Tour de France der Poesie”

Der Münchner Kirchheim-Verlag wagt den Versuch. Zur Buchmesse erscheint in seinem Programm das 300 Seiten starke Buch Résonances. Französische Lyrik seit 1960 (herausgegeben von Eugen Helmlé), und diese Initiative muß auf jeden Fall lobend begrüßt werden. Zeigt sie doch, daß in Frankreich, wenn auch nur von wenigen bemerkt, eine lyrische Entwicklung stattfindet, in Zeitschriften wie Action poétique, PO&SIE und anderen. Das Buch ist also zu begrüßen, wenn man auch über Eugen Helmlés Vorwort streiten kann. Da liest man Sätze wie ”Lyrik ist die Spiegelung persönlicher Augenblicksstimmungen” oder ”Sie scheint das älteste Beruhigungsmittel der Welt zu sein, der Tranquilizer par excellence”. Nach dem eingangs angeführten Aragon-Zitat - ”Man muß verrückt sein, um über Poesie zu schreiben. Poesie macht man, man erklärt sie nicht” - hätte man doch weniger banale Äußerungen erwartet. Helmlé hat dies wohl selbst bemerkt, denn ansonsten enthält er sich in seinem Vorwort solcher Statements. Man kann es auf zweierlei Weise lesen: als hilflosen Versuch, diese Vielzahl von Formen und Themen unter einen Hut zu bringen, oder als sympathisches Eingeständnis, daß ein klarer Überblick nicht mehr möglich ist, daß es zwar einige namhafte Zeitschriften und die um sie gruppierten Dichter gibt, aber letztlich nur Individualisten der Sprache, von denen jeder seine eigenen Wege geht. Helmlé gibt zwar einen brauchbaren historischen Abriß, kann und will sich dann aber nicht festlegen, weder bezüglich seiner ”subjektiven” Auswahl noch bezüglich der Übersetzungskriterien. Der Leser steht ratlos vor einem dicken Buch voller Worte. Wenn er über keine Erfahrung in der Lektüre moderner Dichtung verfügt, muß er sich noch hilfloser fühlen. Helmlé nennt seine Auswahl eine ”Tour de France der Poesie”, doch dem Leser werden weder Etappen noch Wegmarken an die Hand gegeben. Auch der Rezen- sent ist hilflos, er kann dem Leser keine Hilfen geben, nicht schreiben, was Helmlé in seinem Vorwort hätte schreiben müssen, nur wenige Anhaltspunkte kann er geben.

Konstruierte Wirklichkeiten

Helmlé erwähnt die 1985 erschienene, 1500 Seiten starke Anthologie Das surreal- istische Gedicht (Zweitausendeins). Die darin vertretenen Dichter (Surrealisten und Postsurrealisten), schreibt Helmlé, finde man nicht in seiner Auswahl, auch wenn auf viele der von ihm ausgewählten Autoren der Surrealismus zu irgend einer Zeit ihres Lebens einen Einfluß ausgeübt habe. Dies wäre im Einzelfall zu überprüfen, die den Surrealisten nachgesagte Dunkelheit erschwert dem Leser jedenfalls bei vielen dieser Gedichte das Verständnis. Hier wäre zu bemerken, daß die Texte der Dichter, die man gemeinhin zu den Surrealisten der ersten Stunde zählt - André Breton, Philippe Soupault, Robert Desnos, Louis Aragon, Paul Eluard - gar nicht so dunkel und schwer verständlich sind, wenn man von ihren automatischen Erstversuchen einmal absieht. Sie sind oft von kindhafter Klarheit; wohlgemerkt: kindhaft, was nicht unbedingt in den engen Kopf eines vernünftigen Erwachsenen gehen muß. Pierre Berger schrieb in seiner Biographie über Robert Desnos. ”die Dichter von heute produzieren nur Literatur, nichts als Literatur. Sie leben nicht. Sie verachten sogar die, die leben”. Und Desnos selbst hat gesagt: ”Ich bin kein Philosoph, ich bin kein Metaphysiker. Und ich liebe den reinen Wein.” Ich zitiere dies nur, weil wir es bei den von Helmlé ausgesuchten Autoren mit vielen studierten Männern zu tun haben (unter den siebenundzwanzig Lyrikern findet man nur drei Frauen). Maurice Regnault lehrt in Straßburg vergleichende Literaturwissenschaft, Pierre Garnier hat ein Studium der Germanistik absolviert, Jacques Réda studierte Philosophie und Jura, Michel Deguy ist Professor für französische Literatur in Paris, und die Liste ließe sich fortsetzen. Das ist ja auch nicht weiter schlimm. Warum sollen Akademiker keine Gedichte schreiben? Der Leser muß nur wissen, was ihn in erster Linie erwartet: nicht mehr die einfachen, aber doch hintergründigen Paroles eines Jacques Prévert (1945), sondern kon- struierte Wirklichkeiten, die ohne die Kenntnis linguistischer und semiotischer Theorien oft nicht mehr zu verstehen sind, Kopfwelten von gelehrten Dichtern, die nicht jeder so einfach nachverfolgen kann, gewiß keine ”Tranquilizer”. Was soll man anfangen mit Pierre Garniers ‘Semantischen Gedicht’ (”Poème sémantique”), das folgendermaßen beginnt:

10” 15” 20”

MEER SONNE MONT SAINT MICHEL STERN MONT SAINT MICHEL DER ARM FLIESST VON PFAD DER SCHULTER ZUR HAND MEER SONNE SCHRITTE (S. 49)

Ein anderer Text von ihm - ”Ilses Garten” (”Le jardin d’Ilse”) - ist dagegen von frappierender Einfachheit (S. 44/45). Hier werden nur einige Blumennamen kreisförmig angeordnet. Nein, ein Vogel ist auch dabei, der Distelfink, und die Rose wird zweimal genannt, und bei der ”pensée” stoßen wir auf Übersetzung- sprobleme, denn damit kann der Gedanke (bzw. das Denken) und das Stiefmütter- chen gemeint sein (die Übersetzung nennt nur das Stiefmütterchen).

Gewagte Bilder, Dichtung über Dichtung

Pierre Garnier ist einer der wenigen Vertreter der Konkreten Poesie in Frankreich, andere Texte von ihm zeigen das noch deutlicher. Doch er hat auch schon anders geschrieben. Ein titelloses Gedicht aus seiner Sammlung Perpetuum mobile (1968) beginnt folgendermaßen: ”Der Tod / ist so still / auf hoher See. // Heute morgen singt die Amsel / und Christus erscheint im Schlaf der Dinge. // Der Mond / gleicht er nicht unserer Poesie / so tot / so klar?” (S. 41). Diese Zeilen stehen für viele in dieser Anthologie und sie zeigen folgendes: Pierre Reverdys zu Beginn unseres Jahrhunderts formuliertes Diktum, ein poetisches Bild sei um so schöner, je weiter voneinander entfernt die darin enthaltenen Bausteine seien, ist auch heute noch gültig. Der Tod, die hohe See, die Amsel, Christus und der Mond: sie bilden eine Assoziationskette von funkelnder Vielschichtigkeit. Doch sie steht nicht allein, sondern verbindet sich mit Gedanken über die Dichtung selbst. So wie im mod- ernen Roman auch über den Roman als erzählerische Gattung geredet wird, so enthält die moderne Lyrik nicht selten poetologische Überlegungen. Grundsätzlich sind diese Zeilen dazu geeignet, die anfängliche Zurückhaltung gegenüber diesen nicht immer leicht zugänglichen Gedichten aufzugeben. Man muß sich diesen artifiziellen Welten überlassen, in sie hineinsteigen wie in eine phantastische Tropfsteinhöhle. So zum Beispiel in die manieristischen Texte von Jude Stefan, der von manchen Kritikern als ein moderner Nachfolger des Barocks gesehen wird. Sein Gedicht ”Die alten Frauen” (”Les vieilles”) beginnt mit den folgenden Zeilen: ”wildgänse vom schnee geblendet / du den ihre schambergfin- sternisse verrückt gemacht haben / und ihr falsches lächeln für spaziergänge / blumentöter in der ordnung der zeit” (S. 71). Schulmeisterliche Interpretationsver- suche sind hier fehl am Platz. Poetologische Überlegungen dagegen wieder bei Bernard Noël, der versucht, sich in einer ”Körperschreibweise” (Helmlé) auszudrücken. In seinem Prosagedicht mit dem Titel ”Weißer Rost” (”Rouille blanche”) liest man: ”Man schreibt, um das letzte Wort zu erreichen, doch die Bewegung des Schreibens schiebt es immer wieder hinaus. Das letzte Wort ist in Wahrheit irgendwo im Text. Oder vielleicht ist es der ganze Text. So laufe ich schreibend einen Schatten hinterher - einem Schatten, den allein mein Lauf unbeständig macht” (S. 75). Solche Gedanken über die Dichtung im Gedicht haben in Frankreich eine lange Tradition, man findet sie bei den Romantikern, bei Baudelaire, bei den Symbolisten und allen folgenden Gruppierungen, und wenn man die von Pierre Seghers 1972 herausgegebene Anthologie Le livre d’or de la poésie française contemporaine (Das goldene Buch der zeitgenössischen französischen Poesie) durchblättert, findet man auf jeder zweiten oder dritten Seite eine ”Art poétique” oder ein ähnliches programmatisches Gedicht.

Auf der Suche nach einem anderen Alltag

Solche Gedichte zeigen aber auch mehr als andere die poetische Beschäftigung mit dem eigenen Ich, das auf diesem Weg wieder aus einer konstruierten Wirklichkeit hinausfindet. Das Ich wird in seiner alltäglichen Umgebung gezeigt, die aber oft zu einem traumhaften, phantastischen Hintergrund gerinnt; so zum Beispiel in Michel Deguys Gedicht ”Cardiogramme (mai)” (Kardiogramm (Mai)) -, das so beginnt: ”Die Seine war grün an deinem Arm / Weiter weg als der Pont Mirabeau unter / den Hügeln wie ein Atemholen” (S. 99). Eines der wenigen Liebesgedichte in diesem Band, als ”Kardiogramm” getarnt, der Autor erinnert geschickt an Guil- laume Apollinaires berühmtes melancholisches Liebesgedicht ”Le pont Mirabeau” (1913). Die Welt der Riesenstadt Paris mit ihren monotonen Vorstadtsiedlungen bildet die Szenerie, wie auch in Jacques Rédas Gedichtband Beauté suburbaine (1985), aus dem Helmlé einige Gedichte ausgewählt hat. ”Überstädtische Schönheit” könnte man übersetzen, eine Schönheit, die Réda in den tristen Häusermeeren zu finden versucht. In den Straßen mit den ‘kleinen Häusern voll verlorner Stunden’ entdeckt er auf einmal ‘das wahrhafte Licht’, ”Das ich im Schlaf einst schon einmal ent- deckte. / Und jeden Weg und Stein erkenn ich wieder, / Doch alles sehe ich zum ersten Mal” (S. 57). ”Wege eines ‘neuen Realismus’”, so nannten Charles Dobzynski und Alain Lance diese Strömung in der modernen französischen Lyrik (im Vorwort zu der von ihnen vor zehn Jahren in der DDR herausgegebenen Anthologie ”Französische Lyrik der Gegenwart”). Meines Erachtens überwiegen die traumhaften Züge, so zum Beispiel in Jacques Rédas Gedicht ”Zwei Träume” (”Deux songes”), das so beginnt: ”Ich schlief in einem Haus, das ganz im Nebel lag. / Von einem Traum, vielleicht wars meiner, war der Garten hell. / Ich tastete mich in dem nebelschweren Schlaf vergebens / Hinein in dieses ferne, wahre Licht” (S. 59). Die Wahrheit liegt in traumhaft-weiter Ferne, eindeutige Worte zum Zeitgeschehen sind selten, wie beispielsweise zum Algerienkrieg in den Gedichten von Henry Deluy und Maurice Regnault. Der 1959 verstorbene Boris Vian steht in dieser Sammlung mit seinen satirisch-phantasievollen Gedichten und Chansons ziemlich allein. Die Pariser Mairevolte von 1968 hat nur bei wenigen Dichtern dieser Sammlung ihre Spuren hinterlassen: Christian Prigent, Mitbegründer der Zeitschrift ”TXT” übernahm Comic Strips, Dialoge aus Fotoromanen, Fäkalsprache und andere Sprachebenen in seine Texte, andere Autoren haben der bürgerlichen Syntax den Krieg erklärt.

Sprache und Stil

Es ist schwer, Sprache und Stil der hier versammelten Texte klar einzuordnen. Helmlé macht es sich einerseits leicht, wenn er im Vorwort schreibt: ”Alles in allem ist das Stilrepertoire ziemlich breit gefächert”. Andrerseits ist er wieder sehr genau und verwendet Fachbegriffe (der ”stehengebliebene Alexandriner” oder ”der freie Vers mit Quasi-Silbenzählung”), mit denen ein nicht geschulter Leser wenig anfangen kann. Dobzynski und Lance wenden sich in ihrem Vorwort mehr an den ‘einfachen’ Leser. Sie sprechen von der ‘lapidaren Rede’, weisen darauf hin, daß vielfach die Sprache auf der ganzen Seite ‘zerstreut’ wird, daß Prosa und Lyrik vermischt werden. Formale Experimente, so schreiben sie, zielen anscheinend häufig ”- über die Fragen der Funktionsweise der Sprache hinaus - auf die allgeme- inen Fragen der Sinngebung der Dichtung für das Denken und Handeln”. Hinweise, die auch für viele der von Helmlé ausgewählten Texte gelten. Die moderne französische Lyrik bietet sprachlich, stilistisch und thematisch eine überwältigende Vielfalt. Der an Lyrik interessierte Leser kann sich auf eine span- nende Entdeckungsreise begeben. Es wäre leicht, weitere Autoren für eine solche Sammlung zu nennen, Helmlé selbst schreibt in seinen Vorwort, daß eine ”Auswahl französischsprachiger Dichter unter Einschluß der Schweizer, Belgier, Kanadier, Maghrebiner und Afrikaner anders ausgesehen haben würde als dieser ausschließlich Frankreich und seinen Poeten vorbehaltene Lyrikband”. Mit dieser Einschränkung hat Helmlé jedoch eine repräsentative Auswahl getroffen, die einzelnen Autoren werden knapp aber informativ vorgestellt, und den ver- schiedenen Übersetzern ist es im großen und ganzen gelungen, diese Texte in ein äquivalentes Deutsch zu übertragen.

Résonances. Französische Lyrik seit 1960. Zweisprachig. Herausgegeben und übersetzt von Eugen Helmlé unter Mitarbeit von Felicitas Frischmuth, Ludwig Harig, Hinrich Schmidt-Henkel und Simon Werle. München. P. Kirchheim Verlag. 1989.

Französische Lyrik wie nie zuvor

Zur vierbändigen, zweisprachigen Anthologie französischer Dichtung aus sechs Jahrhunderten

Frankreich gilt hierzulande für viele als das große Land der Dichter. Das hängt mit manchem zusammen, nicht zuletzt mit einer massiven Kulturpolitik unseres Nachbarn jenseits des Rheins, der gerade in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hat, uns seine Dichter näher zu bringen. Aber auch mit einer oft naiven Frankophilie, die Poesie schon in Rotwein und Käse entdecken will, und mit einer sehr verbreiteten geistigen Trägheit, die nach der Dichtung der Italiener, Spanier oder gar Portugiesen wenig fragt. Das gilt auch bis zu einem gewissen Grad für unsere eigenen Dichter, gerade dieses Jahrhunderts, die allzu gerne den Blick über den Rhein gerichtet haben. Die Folge ist, das wohl aus keiner anderen Sprache so viele Lyriker, einzeln oder im Kreis ihrer Zeitgenossen, übersetzt worden sind, und doch haben diese Übersetzungen nur ein kleines Publikum erreicht. Zumindest kam man auf einer Tagung an der Düsseldorfer Universität 1986 zu dieser Einsicht, und man beschloß, unter Führung und Förderung der Robert- Bosch-Stiftung dem Abhilfe zu schaffen. Das Ergebnis liegt nun vor: vier dick- leibige, schön gestaltete Bände, die zur letztjährigen Buchmesse erschienen sind. Das Werk wurde bisher mit Hochachtung vor der großartigen Leistung der Heraus- geber und Übersetzer aufgenommen, es wurde zum Buch des Monats erklärt. Selbst der ”Spiegel”, der ansonsten mit Lyrik nicht viel am Hut hat, brachte eine kleine Notiz unter der Überschrift ”Galgenvögel und Poeten” (Nr. 48/1990), mit einem winzigen Wermutströpfchen allerdings: ”Für die zweisprachige Edition [...] wurden eigens einige (nicht immer geglückte) Neuübertragungen bestellt.” Doch ansonsten auch hier nur Lob: ”eine vielschichtige Annäherung an das Originalwerk.” Die literarische Übersetzung, gerade von Lyrik, ist ein weites und schwieriges Feld und kann leicht kritisiert werden. Um dem vorzubeugen, hat sich Friedhelm Kemp, einer der Herausgeber (selbst ein renommierter Übersetzer), in seiner Einführung zum einen gegen eine ”äußere Formtreue” gewandt: sie habe aufs ganze gesehen die dürftigsten Resultate geliefert. Zum anderen gibt er den Weg frei zu einer ‘möglichst großen Vielfalt von «Sorten» der Übersetzung’, wodurch einem even- tuellen Kritiker von vornherein der Wind aus den Segeln genommen wird. Da gibt es beispielsweise ein recht berühmtes Gedicht (genauer: einen Gedichtausschnitt) von Théophile de Viau (1590-1626), das vor Jahren schon der Surrealist Paul Eluard in seine Schule machende Anthologie französischer Lyrik (1951) aufge- nommen hat. Der Ausschnitt, der auch für unsere hier zur Debatte stehende An- thologie ausgewählt wurde, beginnt mit dem Vers ”Je veux faire des vers qui ne soient pas contraints”; es folgt eine Aufzählung über sieben weitere Verse von dem, was das lyrische Ich alles machen (tun) möchte, um die zum Schreiben notwendige Stimmung zu erlangen. Werner von Koppenfels, Mitherausgeber dieses ersten Bandes, übersetzt den ersten Vers folgendermaßen: ”Zwanglos wolln [sic] meine Verse sich bewegen”; wörtlich müßte man aber (unter Vernachlässigung des Relativsatzes) übersetzen: Ich will ungezwungene Verse machen. Koppenfels verschiebt den Sinn des ganzen Gedichtes vom Ich, das etwas ‘macht’ (griechisch poeisis: das Machen), auf die Verse, die sich bewegen, und auf die Dinge, mit denen sich das Ich beschäftigt. Ist das nun ein grober Fehler, über den man sich aufregen müßte, oder darf man sich hier auf die Freiheit des Übersetzers berufen? Anders gefragt: Sind das Probleme für Spezialisten, die an anderer Stelle gelöst werden müßten? Damit verbunden ist die prinzipielle Frage, für wen nun diese vier Bände bestimmt sind. Rüdiger Stephan sagt es ganz klar in seinem Geleitwort: ”Nicht dem Einge- weihten, nicht dem Wissenschaftler gilt das Werk, es ist vielmehr bestimmt für ein breites gebildetes Publikum, sollte aber auch in Schule und Hochschule Ver- wendung finden.” Dem darf widersprochen werden: Gibt es dieses breite gebildete Publikum, das sich ausführlich mit der französischen Dichtung aus sechs Jahrhun- derten beschäftigen möchte? Sind es nicht doch die Eingeweihten, zu denen auch die Herausgeber gehören? Und der hohe, allerdings durchaus gerechtfertigte Preis der Bücher wird Schüler und Studenten abschrecken. Allerdings ist bereits eine Taschenbuchausgabe angekündigt, auf die werden die weniger wohlhabenden Freunde der Dichtung warten müssen. Schade, denn die vier Bände bieten wirklich einiges, was bisher in dieser Fülle nicht geboten wurde. Der erste Band bietet Gedichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Renaissance, von François Villon bis Théophile de Viau. Bis auf Villon, dürften alle Dichter dieses Bandes für das breite Publikum unbekannt sein. Es empfiehlt sich (wie bei allen vier Bänden), zuerst das Nachwort der Herausgeber und dann die Dichter- biographien zu lesen, um sich von dort aus den einzelnen Dichtern zuzuwenden. Darin wird aber eine gewisse Bildung vorausgesetzt, nicht jeder wird beispiel- sweise den folgenden Satz in seiner ganzen literaturgeschichtlichen Tragweite verstehen: ”Doch bei vielen Dichtern der Zeit, allen voran bei Ronsard, erscheint das Erbe Petrarcas ovidianisch temperiert, wird die ideale Geliebte auf den fran- zösischen Boden herabgeholt, ihre grundsätzliche Unerreichtheit wenigstens im Kuß relativiert.” (S. 477) Solche Ausflüge in die Fachwissenschaft widersprechen den wiederholten Beteuerungen, diese Sammlung richte sich an Jedermann: ”Die Gedichte und Gedichtauszüge des vorliegenden Bandes wollen keine archäolo- gischen Ausgrabungen sein, kein Museum zur ‘Mentalitätsgeschichte’ einer fremden Kultur, sondern Einladung und Verlockung zum entdeckenden Lesen.” (S. 481) Was François Villon betrifft, so war es in diesem Sinn sicherlich richtig, fast ausschließlich auf die populären Übersetzungen von K. L. Ammer zurückzugreifen, die zu Anfang unseres Jahrhunderts erschienen sind, auch wenn heute allgemein (allerdings auch nur unter Fachleuten) bekannt ist, daß Ammer mehr das Lebensge- fühl seiner Zeit als das Villons zum Ausdruck gebracht hat. Villon ist für uns heute der typische ‘Poet und Galgenstrick’, der uns mit seiner derben Erotik begeistert. Dies ist ein falsches, verschönendes Bild, es unterschlägt die Tatsache, daß wir über viele Verse hinweg Villon heute nicht mehr verstehen, da er sich oft der Ganovensprache seiner Zeit bedient hat. Hubert Fichte, dessen bahnbrechende Anmerkungen zur Bisexualität bei François Villon (posthum 1988 erschienen) im Literaturverzeichnis nicht erwähnt werden, hat es folgendermaßen auf den Nenner gebracht: ”Die Anspielung, die brennende Doppel-, Trippelzüngigkeit, den Kalauer, die Antiphrase, Codewörter, Kassiber benützte er, wie keiner vor ihm und keiner nach ihm, auf eine Weise, die uns noch heute vor Wut platzen läßt, weil wir seitenlang nichts mehr verstehen, wie sie seine Feinde ehemals vor Wut platzen ließ, weil sie verstanden.” Mit dem historischen Rahmen der frühen Neuzeit bildet der erste Band noch eine Einheit, die im nächsten Band nicht mehr gegeben ist. Hier werden die Dichter der französischen Klassik, der Aufklärung, der Vorromantik und der Romantik in einen Topf geworfen, was wohl verlagstechnisch nicht anders möglich war. Die Klassik und die Aufklärung haben in Frankreich lyrisch nicht allzuviel zu bieten, die Fabeln von Lafontaine, die geistlichen Gesänge Racines, die Poetik Boileaus, die in erster Linie der dramatischen Dichtung gilt, die Brief- und Lehrgedichte Voltaires sind nicht das, was wir uns heute unter Lyrik vorstellen. Die Herausgeber haben allerd- ings fast ganz die Gelegenheitsdichtung all dieser Autoren vernachlässigt, die den heutigen Leser mehr hätten ansprechen können. Da gibt es zum Beispiel von dem ansonsten so gestrengen Boileau ein überraschendes, einer fiktiven Climène gewidmetes Epigramm:

Alles auf einmal hier Kummer mir gibt, Climene, es ist mir, Als wär ich verliebt. Daß solches ich sag, Läßt zürnen dich mir? Meine Spröde, gemach! Es gilt ja nicht dir!

Und Lafontaine hat in seiner Grabinschrift eines Faulpelzes, ähnlich wie der frühe Lessing ein Jahrhundert später, den Lob des Müßiggangs gesungen:

Hans schied von hier, wie er gekommen war, Verzehrte Kapital und Zinsen gar, Jeglicher Reichtum unnütz ihm erschien. Ganz angenehm bracht’ er sein Leben hin, Genießend teilte er es also ein: In Schlafen teils und teils in Müßigsein.

(Beide Gedichte in: Das französische Gedicht vom 15. bis 18 Jahrhundert. Hg. und übertragen von Max Rieple. München o. J.)

Solche Verse haben Hanno Helbling und Federico Hindermann nicht ausgewählt, sie bleiben im Rahmen des üblichen Kanons und bieten die schwergewichtige Dichtung der Klassiker und Aufklärer. Wenn heute von französischer Dichtung die Rede ist, dann denken wir zuerst an die Dichter des 19. Jahrhunderts, an die Romantiker Hugo, Lamartine, Vigny und Musset und an die Symbolisten mit ihren großen Meistern Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud und Verlaine. Es wäre vielleicht vorteilhafter gewesen, diese Autoren in einem Band zu vereinen, aber die Entscheidung, sie auf zwei Bände zu verteilen, war für die Herausgeber wohl unumgänglich. Sie folgten der allgemein geltenden Meinung, daß mit Baudelaire die Moderne begonnen habe, wobei die Tatsache, daß Baudelaire (und Verlaine auch) formal noch ganz ein Romantiker war, unter den Tisch fällt. Formal gesehen, beginnt die Moderne mit Rimbaud, der mit seinen Illuminationen und seiner Saison in der Hölle alle bisherigen Formen sprengte. Dies haben Hans Therre und Rainer G. Schmid in ihrer neuen, sicherlich gewagten (Arno Schmidt verpflichteten) Rimbaud-Übersetzung (München 1984) versucht zum Ausdruck zu bringen. Man erkennt dies sogleich, wenn man die erste Strophe des Trunkenen Schiffs (des wohl bekanntesten, noch formal strengen Gedichts Rimbauds) in dieser neuen Übersetzung der eher klassischen Übertragung von Theodor Däubler, die Kemp und Siepe ausgewählt haben, gegenüberstellt:

... hin=ab fuhr ich abweisende Ströme da fühlt ich mich LOS vom Gängeln der Treidler: gellender Rothäute Zielbrett geworden hingen DIE an farbige Pfähle genagelt splitter=nackt

Ich bin im verschlummerten Fluß hinunter geschwommen Da fühlt ich mich plötzlich von Schiffsziehern nimmer gelenkt. Zu Zielscheiben hatten sie Rothäute heulend genommen: An Pfähle genagelt, in qualvoller Nacktheit verrenkt.

Solche Experimente darf man in der sehr würdig gehaltenen Sammlung nicht erwarten. Andererseits ist es erfreulich, daß gerade im dritten Band Autoren auftauchen, die dem deutschen Publikum in ihrer Bedeutung gänzlich unbekannt sein dürften: Anna de Noailles (eine der wenigen Dichterinnen die ausgewählt wurden), Saint-Pol-Roux, Victor Segalen, Valery Larbaud, Catherine de Pozzi und einige andere. Hier kann man wirklich Entdeckungen machen, wie sie der Verlag- sprospekt verspricht. Zu begrüßen ist auch, daß sich die Herausgeber nicht auf die Lyrik im engeren Sinn beschränkt haben: man findet in diesem und in den anderen Bänden auch Prosagedichte, als deren Vater der Romantiker Aloysius Bertand gilt, und poetische Prosa, wie sie beispielsweise Lautréamont in seinen Gesängen des Maldoror (1869) verwendet hat. Wir kommen zum letzten Band, der den Dichtern des 20. Jahrhunderts gewidmet ist. Hier bestand die Schwierigkeit darin, neben den Vertretern der klassischen Avantgarden (Futurismus, Dadaismus und Surrealismus) auch Außenseiter zu Wort kommen zu lassen und eine repräsentative Auswahl der letzten drei Jahrzehnte zu bieten. Den ersten Teil dieser Aufgabe haben die Herausgeber im großen und ganzen gut gelöst. Neben den bekannten Namen wie Apollinaire, Tzara, Desnos und Eluard findet man auch hierzulande noch zu entdeckende Dichter wie Léon- Paul Fargue, Benjamin Péret und Pierre Jean Jouve. Einen etwas elitären Ton treffen die Herausgeber, wenn sie in ihrem Nachwort begründen, daß sie Jean Cocteau und Jacques Prévert als ‘wenig Sprach- und Formmächtige’ weggelassen haben (S. 438). Hätte man da nicht einem breiteren deutschen Publikum, das gerade diese Autoren liebt, ein Zugeständnis machen sollen? Und das Urteil, Cocteau und Prévert als wenig Sprach- und Formmächtige zu bezeichnen, dürfte auch nicht allgemeine Zustimmung finden. Was nun die modernste Dichtung betrifft, so muß man sagen, daß sie hier zu kurz gekommen ist. Wer sich dafür interessiert, dem sei der vor einem Jahr von Eugen Helmlé herausgegebene Band Résonances. Französische Lyrik seit 1960 empfohlen (vgl. hier S. 103). Von den dort vertretenen Autoren findet man gerade vier in der von Bernhard Böschenstein und Hartmut Köhler getroffenen Auswahl. Man war wohl vorsichtig und wollte sich kein Fehlurteil erlauben. Andererseits haben die Herausgeber auch Vertreter der außereuropäischen Frankophonie aufgenommen, die bei Helmlé fehlen: Georges Schéhadé aus dem Libanon, Anne Hébert aus dem französischsprachigen Kanada und Léopold Sédar Senghor aus dem Senegal. Natürlich könnte man hier auf Lücken hinweisen (Warum nicht auch den aus Martinique stammenden schwarzen Dichter Aimé Césaire beispielsweise?), doch die drei ausgewählten Autoren zeigen zumindest, daß auch außerhalb Europas auf französisch gedichtet wird. Um zu einem Gesamturteil zu kommen, kann man sagen, daß das Ziel der Heraus- geber durchaus erreicht wurde: die französische Dichtung ist bisher noch nicht in einer solchen Breite und mit einem solchen Fachverstand in Deutschland vorg- estellt worden. Experimente waren nicht beabsichtigt, doch wer sich darauf einlas- sen möchte, hat hier einen großen Schatz zur Verfügung. Lücken, auf die ich hingewiesen habe, waren unvermeidlich, der Geschmack der sieben Herausgeber hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. Es bleibt zu hoffen, daß es hierzulande auch ein an französischer Dichtung interessiertes Publikum gibt, und daß die Ausgabe nicht nur als Renommierobjekt für die Bücherwand gekauft wird.

Französische Dichtung Eine zweisprachige Anthologie in vier Bänden. Band 1: Von Villon bis Théophile Viau. Hrsg. von Friedhelm Kemp und Werner Koppenfels Band 2: Von Corneille bis Gérard de Nerval. Hrsg. von Hanno Helbling und Federico Hinder- mann Band 3: Von Baudelaire bis Valéry. Hrsg. von Friedhelm Kemp und Hans T. Siepe Band 4: Von Apollinaire bis heute. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Hartmut Köhler. Koordinator: Lothar Jordan Gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung München 1990: C. H. Beck. Je Band etwa 600 Seiten. Leinen in Kassette.

Eine Taschenbuchausgabe ist einige Jahre später im Deutschen Taschenbuchverlag erschienen.

Mysteriöse Helden im Dickicht der Städte

Zu Pierre Mac Orlans Roman Mademoiselle Bambù

In den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts sind in Deutschland und Frankreich bedeutende Werke der Literatur entstanden, aber es war auch die große Zeit der Reportage. Namhafte Schriftsteller reisten durch die ganze Welt, um für die großen Tageszeitungen ihre Reportagen über außergewöhnliche Ereignisse, seltsame Menschen, kuriose Stadtviertel, exotische Länder usw. zu schreiben. Im deutschsprachigen Raum waren dies beispielsweise Egon Erwin Kisch, ”der rasende Reporter”, und Joseph Roth; in Frankreich wären hier Blaise Cendrars, Albert Londres, Paul Morand und Pierre Mac Orlan zu nennen. Pierre Mac Orlan, mit bürgerlichem Namen Pierre Dumarchey (1882-1970), hat ein umfangreiches Werk – Gedichte, Romane, Drehbücher und anderes - hinterlassen, daneben war er immer wieder als Journalist tätig. Gleich nach dem ersten Weltkrieg berichtete er aus dem von den Franzosen besetzten Rheinland. Ende 1932 war er in Berlin und schrieb für seine französischen Leser über die Berliner Unterwelt und über den Aufstieg der Nazis. Er entwickelte eine Art Theorie der Reportage: insbesonders in den großen Städten war er auf der Suche nach dem ”fantastique social”, dem Phantastischen, Wunderbaren, Mysteriösen in der modernen Massengesellschaft, das in der Reportage geschildert werden soll. Mac Orlan war auf der Suche nach modernen Mythen, ähnlich wie die Surrealisten, denen er ansonsten immer kritisch gegenüber gestanden hat. Wie viele Schriftsteller seiner Zeit litt er unter der säkularisierten, von allen Wundern beraubten Welt, und hoffte, etwas davon in den populären Vierteln der Metropolen, in den Bars und Spelunken der Hafenstädte, in den Bordells und Absteigen wiederzufinden. Hier fand er jedenfalls die Helden einiger seiner Romane und Erzählungen: zwielichtige Gestalten, Abenteurer, Spione, Deserteure, Fremdenlegionäre, Ganoven, Prostituierte... Am bekanntesten wurde er mit seinem Roman Quai des Brumes, den Marcel Carné nach einem Drehbuch von Jacques Prévert mit Jean Gabin in der Hauptrolle verfilmt hat (er liegt unter dem Titel Hafen im Nebel in deutscher Übersetzung vor).

1990 ist bei Klett-Cotta ein weiterer Roman aus diesem Umkreis erschienen: Mademoiselle Bambù. Er spielt in den Jahren zwischen 1900 und 1940, doch man darf keine zusammenhängende Handlung erwarten. Mac Orlan war mehr von seinen mysteriösen Helden fasziniert, er läßt sie in einer Reihe von Episoden, die nur locker zusammengefügt sind, in immer neuen Zusammenhängen auftreten. Da gibt es den deutschen Kapitän Hartmann, der als Geheimpolizist in den Metropolen und Hafenstädten Europas die großen Mörder verfolgt und als Doppelagent in zwielichtiger Mission unterwegs ist. Die dunkelhäutige Tänzerin Mademoiselle Bambù ist seine große Liebe, bis sie, eine zweite Mata Hari, als deutsche Spionin von den Franzosen erschossen wird. Im Hintergrund agiert Vater Barbançon, eine undurchsichtige Gestalt: Gangsterboß, Spion und Zuhälter. In Paris begegnen wir Monsieur Uhle, der als mieser Hotelbesitzer sein Leben fristet. Wir sind verwirrt, wenn wir lesen: ”Und der Einfachheit halber will ich glauben, daß Uhle weiter nichts war als eine von Barbançons geheimen Masken” (S. 140f.). Und Barbançon ist dann wieder Snark, der irgendwo in der Bretagne die geheimnisvolle Pension Usher führt, wo am Ende alle Fäden zusammenlaufen. Hier treffen sich diese Gestalten aus der Halb- und Unterwelt, ein ”Kollegium alter abgetakelter Piraten, die sich in ihrem gewalttätigen und fast immer schurkischen Tun verschlissen hatten” (S. 159). Mac Orlan ging es nicht um einen spannenden Plot, er will eine Zeit schildern, in der es in diesem Milieu noch wahre Helden gab. Die einzelnen Personen sind zweitrangig, sie sind ”undeutliche Larven”, ”Lemuren”, ”poetische Elemente von der Straße”, die zusammen eine geheime Gesellschaft der Gaukler und Ganoven bilden. Mac Orlan beruft sich auf François Villon, den großen Vagantendichter des ausgehenden Mittelalters, und auf die Banden im Paris dieser Zeit. Diese Banden und Bruderschaften existierten für ihn immer noch, waren typisch für eine Subkul- tur, die mit dem Zweiten Weltkrieg zuende ging: ”Denjenigen, die dieses Buch einmal lesen werden, dürfte es schwerfallen, sich in all ihren Feinheiten die At- mosphäre am Ende einer Kultur zu vergegenwärtigen, die zu ihrer Zeit achtenswert war. In dem Augenblick, als eine neue Art intelligent zu sein, entstand, lösten sich ungeheure Gefühlskräfte in ein vollkommen neues Nichts auf. Niemand wußte mehr, in welche Werte er seine Gefühle investieren sollte.” (S. 141)

Es ist ein Roman der Erinnerung: die Personen erinnern sich an ihre dubiosen Abenteuer, der Erzähler, ein Monsieur Nicolas, läßt sich diese Erinnerungen erzählen und erinnert sich selber, denn irgendwie gehört er selbst auch zu diesen Rittern einer Tafelrunde des 20. Jahrhunderts. Monsieur Nicolas, das erinnert natürlich an Rétif de La Bretonne (1734-1806), der in seiner Autobiographie Monsieur Nicolas ou le coeur humain dévoilé (Monsieur Nicolas oder das enthüllte menschliche Herz) und in seinem Roman Nuits de Paris (Pariser Nächte) die geheimen Seiten der Metropole Paris im ausgehenden 18. Jahrhundert geschildert hat. Hier und an vielen anderen Stellen entpuppt sich Mac Orlans Roman als ein Spiel mit Erinnerungen an literarische Vorbilder oder Para-Texte: an das Satyricon des Petronius, an die Balladen des François Villon, an Chamissos Schlemihl, an Edgar Allan Poes Untergang des Hauses Usher, um nur die wichtigsten zu nennen. Eine melancholische Trauer bestimmt diesen Roman, der in der vorliegenden Form in Frankreich erstmals 1950 erschienen ist. Danach hatten die großen Städte mit ihrer exotischen Fauna für Mac Orlan endgültig ihre Faszination verloren, eine neue Zeit war angebrochen.

Es wäre zu begrüßen, wenn noch weitere Romane von Mac Orlan übersetzt würden. Zum Beispiel der phantastische Kurzroman Malice (vielleicht am besten mit ”Böses Spiel” zu übersetzen); er spielt um 1920 in dem von französischen Kolonialtruppen besetzten Mainz und hat Beachtung bei so unterschiedlichen Geistern wie André Malraux und Antonin Artaud gefunden. In Deutschland könnte man sich auch für Mac Orlans Bearbeitung des Fauststoffs interessieren: in seinem Roman Marguerite de la nuit (1926; ”Margarete der Nacht”) schließt Faust in Paris seinen Pakt mit dem Teufel. Mac Orlan gehört zu den vielleicht zweitrangigen, aber doch wichtigen französischen Autoren der Zwischenkriegszeit und kann mit einigen Werken als ebenbürtig neben seinen Freund Louis Ferdinand Céline gestellt werden.

Pierre Mac Orlan: Mademoiselle Bambù. Aus dem Französischen übertragen von Jürgen Ritte. Stuttgart. Klett-Cotta. 1990. 199 S.

Verbrechen oder Liebe? Andreï Makine hat einen neuen packenden Roman geschrieben

Die Surrealisten nannten es ”amour fou”, eine wahnsinnige Liebe von obsessiver Gewalt, der die daran Beteiligten nicht entrinnen können. Von einer solchen Liebe erzählt Andreï Makine in seinem neuen Roman Das Verbrechen der Olga Arbelina. Geschickt beginnt er seinen Roman mit dem Ende: An einem warmen Frühsom- mertag im Jahr 1947 entdecken die Bewohner von Villiers-la Foret, einer kleinen Provinzstadt vor den Toren von Paris, am Ufer des Flusses die Leiche eines älteren Mannes. Es ist ein Arzt namens Goletz, man kennt ihn als einen verschrobenen, nicht sonderlich schönen Mann. Neben der Leiche sitzt eine halb nackte Frau von etwas mehr als vierzig Jahren, sie dagegen von überwältigender Schönheit. Die Gaffer rätseln, was geschehen sein könnte. Beide Personen gehören zu der kleinen Gemeinde russischer Emigranten, die sich in den Jahren nach der Oktoberrevolu- tion in diesem Nest niedergelassen haben. Sie betreuen sogar ein Heim für ihre Alten, und dort arbeitet die Frau, die Titelheldin Olga Arbelina, als Bibliothekarin. Sie lebt dort mit ihrem vierzehnjährigen Sohn, der an der Bluterkrankheit leidet und somit keine hohen Lebenserwartungen hat. Makine, der schon für seine Romane Das französische Testament und Die Liebe am Fluß Amur großes Lob erhalten hat, holt nun weit aus und erzählt die Geschichte dieser eigenwilligen Frau. In den Wirren der Oktoberrevolution und den Kämpfen danach wird sie vergewaltigt, sie heiratet ihren Retter, den Fürsten Arbelin, und geht mit ihm nach Frankreich. Wenige Jahre später verläßt sie ihren Mann, nicht zuletzt, weil er in dunkle Geschäfte verwickelt ist. Nun muß sie ihren kleinen Sohn während des Krieges allein aufziehen. Sie hat einen Geliebten, einen Journalisten, der aber nur wenig Zeit für sie hat. Sie hat eine gute Freundin, die ebenfalls aus Rußland stammende Malerin Li, die Mutter und Sohn manchmal in ihrem Pariser Atelier besuchen. Dort wird der nun vierzehnjährige Sohn auch ‚abgestellt‘, wenn sich Olga mit ihrem Geliebten trifft. So war es am Anfang vielleicht nur eine Form des Ödipuskomplexes, doch wenige Jahre später, im kalten Winter 1946/47 streut der Sohn der Mutter ein Schlafmittel in den Abendtee, um dann zu ihr ins Bett zu kommen. Die Mutter merkt dies, sie trinkt den Tee nicht, läßt den Sohn aber trotzdem gewähren, stellt sich schlafend. Zunächst vielleicht aus Schuldgefühlen heraus, weil sie dem Sohn keine Kindheit geben konnte, und weil sie weiß, daß er nicht sehr alt werden und wohl nie die Freuden der Liebe kennenlernen wird. Gleichwohl sieht sie sich als eine Verbrecherin: ”Ein Verbrechen... Immer wieder sprach sie es aus in dieser schlaflosen Nacht. Es war verbrecherisch, daß sie geschwiegen hatte. Daß sie es zugelassen hatte. Daß sie keinen Widerstand leis- tete.” Später aber glaubt sie, daß sie eine der schönsten Formen der Liebe erlebt: ”Diese Liebe ist vielleicht die erste und die letzte für dieses Kind. Und für mich? Für mich ist es auch die erste und die letzte Liebe, denn nie zuvor hat mich jemand so geliebt, war so hingebungsvoll darum besorgt, mir nicht weh zu tun. Und nie werde ich so geliebt werden.” Doch dann naht das Verhängnis. Der Arzt Goletz, den die Mutter immer wieder wegen ihres Sohnes konsultiert, verliebt sich auch in diese schöne Frau. Olga glaubt, er wisse von ihrer geheimen Liebe und wolle sie nun erpressen. Weiß er es wirklich oder hat er sie aus anderen Gründen in der Hand? Dies und das Ende der Geschichte wollen wir hier nicht enthüllen, denn auf der einen Seite haben wir es in der Tat mit einem Kriminalroman zu tun, und da gehört es sich nicht, die Au- flösung zu verraten. Auf der anderen Seite hat Andreï Makine einen sehr gefühlvol- len, einen packenden, einen starken Roman geschrieben. Seite für Seite stößt man auf Schilderungen, die zeigen, daß Makine alles meisterhaft im Griff hat: die Schilderung der Außenwelt ebenso wie die Schilderung des Innenlebens seiner Figuren. Das fängt schon bei Landschaftsschilderungen an, bei den Farbschat- tierungen eines Wintertages: ”Die schneeweißen Felder schimmerten in einem blassen Veilchenblau oder in einem noch hellerem Ton, einem zarten Lila, die Gemäuer und die Gassen der Unterstadt lagen in einem etwas kräftigeren Vio- lettblau, und über den ganzen Horizont erstreckte sich ein noch dunkleres, fast mit Händen zu greifendes Pflaumenblau.” So kommt man als Leser ganz auf seine Kosten: mit einer spannenden Handlung, faszinierenden Figuren und einer Meister- schaft in der Handlungsführung und Schilderung. Und am Ende fragt man sich: War es nun wirklich ein Verbrechen oder eine außergewöhnliche Liebe, außerhalb der Moralvorstellungen der normalen Menschen?

Andreï Makine: Das Verbrechen der Olga Arbelina. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Roman. Hamburg. Verlag Hoffmann und Campe. 2000. 320 Seiten, geb. 39,90 DM.

Er haßte den Eiffelturm

Zum hundertsten Geburtstag von Guy de Maupassant

In ”Der Horla” (Le Horla), einer seiner faszinierendsten Erzählungen, schildert Guy de Maupassant in Form eines Tagebuchs, wie ein Mann nach und nach dem Wahnsinn verfällt. Die Erzählung beginnt jedoch mit dem freudigen Ausruf: ”Welch ein wunderschöner Tag!” Und etwas weiter unten heißt es: ”Wie war das Leben schön!” Doch schon bald nach diesen Ausrufen der Begeisterung beginnen Zweifel und Angstzustände: ”Wie seltsam, daß ein einfaches Unwohlsein, eine Kreislaufstörung vielleicht, die Überreizung eines Nervenstrangs, eine leichte Verdauungsstörung, eine ganz belanglose, kleine Beeinträchtigung im unvollkom- menen und so heiklen Funktionieren unseres lebenden Organismus aus dem heitersten Menschen einen melancholischen Schwarzseher, aus einem beherzten Mann einen Angsthasen machen kann?” Immer wieder stößt man im Werk Mau- passants auf solche Widersprüche und Zwiespälte. In der Erzählung ”Erster Schnee” (Première Neige), um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, wird dem Leser zu Beginn die herrliche mediterrane Landschaft um Cannes vor Augen geführt, die Rede ist von einer jungen Frau, die zu einem Spaziergang aufbricht. ”Wie glücklich bin ich doch!” murmelt sie, doch der nächste Satz verkündet, daß sie bald sterben, daß sie den nächsten Frühling nicht mehr erleben wird.

Maupassant ist in Deutschland schon früh entdeckt und übersetzt worden, schon 1890 (also drei Jahre vor seinem Tod am 6. Juli 1893) findet man einen Artikel, der ihn vor allem als Lyriker preist; kurios dies, da er nur einen Gedichtband veröffen- tlicht hat. Übersetzungen gab und gibt es unzählige, doch die anfangs geschilderte Zwiespältigkeit in seinem Werk taucht im deutschen Maupassant-Bild, jedenfalls für eine breite Leserschaft, wenn überhaupt nur am Rande auf. Maupassant war und ist für viele der Verfasser erotisch-schlüpfriger Geschichten, die nur unter dem Ladentisch verkauft werden können. Die Titelbilder seiner in Deutschland verkauften Bücher aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg belegen dies. Er ist der ewige ”Bel ami”, der, wie der einst populäre Schlager aus Willi Forsts Romanver- filmung (1939) verkündet, immer Glück bei den Frauen hat. Die französisch- österreichische Verfilmung dieses Romans aus dem Jahr 1955 mit Johannes Heesters in der Hauptrolle hat dieses Bild nur bestätigt.

Glück bei den Frauen?

Gewiß hat Maupassants Titelheld Georges Duroy, vordergründig gesehen, großes Glück bei den Frauen. Sie bringen ihn nach oben, er beutet sie schamlos aus, sie machen aus dem ungehobelten und abgehalfterten Kolonialsoldaten einen Er- folgsjournalisten, dem am Ende alle Türen offenstehen. Glück hat er, doch ob er glücklich ist, diese Frage beantwortet Maupassant nicht. Ähnliches könnte man auch über den Autor selbst sagen: Mit zwanzig Jahren (1870) war er ein schöner Mann, dem die Frauen zuflogen. Flauberts Nichte Caroline beschreibt ihn nicht ohne Zuneigung: ”Er war ein hübscher Bursche von mittlerer Größe, er war etwas breitschultrig, doch sein eindrucksvoller Kopf erinnerte an den eines jungen römischen Kaisers. Er betätigte sich sportlich, war ein wenig in sich selbst verliebt, beschäftigte sich jedenfalls mehr als üblich mit seiner äußeren Erscheinung.” Ein eitler Bursche also, der den Frauen nicht aus dem Weg ging, und der seine Bett- geschichten literarisch verarbeitete. Wegen einer allzu deutlichen Verserzählung wäre es beinahe zu einem Prozeß wegen Verletzung von Sitte und Moral gekom- men. Zur Uraufführung seines ersten Theaterstücks (Ort der Handlung: ein Pariser Freudenhaus) wurden nur ”Männer über zwanzig und bereits deflorierte Frauen” eingeladen. So kam er schnell zu seinem Ruf als Verfasser zweideutiger und unzweideutiger Geschichten, der ihm bei den Deutschen, für die Paris und Frank- reich zu dieser Zeit ein einziges Sündenbabel waren, lange, ja bis heute erhalten geblieben ist. Aber Liebe und Glück dürfte er kaum erlebt haben, die meisten seiner Beziehungen waren Katastrophen oder kurze Affären. Maupassant hat dies wohl auch selbst so empfunden, im Grunde war er zeit seines Lebens ein einsamer Mensch, der bei jedem Flirt schon den Bruch oder die baldige Langeweile witterte. Auch in seinen schönsten Liebeserklärungen ist dieser Zwiespalt zu spüren, von wahrer Liebe ist nur bei einem Knäkentenpaar die Rede (in einer Jagderzählung mit dem vielversprechenden Titel ”Amour”). Für diesen Zwiespalt kann man bi- ographische Ursachen anführen: geboren wurde er am 5. August im normannischen Küstenstädtchen Fécamp, getauft wurde er in dem eigens angemieteten nahege- legenen Schloß Miromesnil, das die Mutter immer als den Geburtsort angegeben hat. Sie wollte damit den Adel der Familie, der im übrigen erst vom Großvater erworben worden war, groß herausstellen. Diese Mutter, Laure Le Poittevin, war eine hypersensible Frau, die ihre beiden Söhne, Guy und den jüngeren Hervé, über alles liebte und verhätschelte. Der Vater, ein Schürzenjäger, Bonvivant und Börsenspekulant, hat die Familie früh verlassen, die Trennung und die vorausge- gangenen Streitereien, waren für Guy Erlebnisse, die er nie vergessen konnte.

Vielleicht rührt von daher dieser Zwiespalt, diese Vorstellung von einem so leicht zerstörbaren Glück, das man am besten gar nicht erst anstrebt. Wahrscheinlich ist es aber auch der Zwiespalt einer ganzen Gesellschaft, der in Maupassants Werk zum Ausdruck kommt. Nach der vernichtenden Niederlage im Krieg 1870/71, die Maupassant als einfacher Soldat erlebt hatte, und nach der blutigen Unterwerfung der Pariser Kommune, entstand in Frankreich eine Oberschicht von Neureichen, die sich mit großem Prunk feierte; zum Beispiel mit der Weltausstellung in Paris im Jahr 1889 mit ihrem neu errichteten Eiffelturm, den Maupassant im übrigen verabscheute, so wie er den Militarismus und den kolonialen Größenwahn seiner Epoche verabscheute. Eine Gesellschaft voll oberflächlicher Lebensfreude, die aber von einem Skandal in den anderen schlitterte. Nach unten verordnete man Sitten- strenge, sich selbst gönnten die Großbürger rauschende Champagnerfeste in den gut frequentierten ”Etablissements”. Das Haus Tellier in Maupassants gleichnami- ger Erzählung, die in einer kleinen Hafenstadt an der Kanalküste spielt, ist ein solches Etablissement. Madame leitet den Betrieb diskret, zwei Damen bedienen in einer Straßenkneipe die Matrosen und Arbeiter, drei weitere Damen sind für die besseren Herren im ersten Stock zuständig. Das Haus wird stillschweigend geduldet, solange es kein Aufsehen erregt. Ganz normal ist es auch, daß Madame mit dem gesamten Personal zur Erstkommunion ihrer Nichte aufs Land fährt. Maupassant schildert diese Fahrt mit groteskem Humor und demonstriert dabei, daß er ein Kind der impressionistischen Epoche ist. Die folgende Szene hätten auch ein Monet oder ein Pisarro malen können:

Zu beiden Seiten der Straße breitete sich das grüne Land aus. Blühende Rapsfelder bildeten dann und wann große, wogende, gelbe Flächen, aus denen ein gesunder, kräftiger Duft aufstieg (...). Aus dem schon hochstehenden Roggen wiesen Korn- blumen ihre azurnen Köpfchen, und die Mädchen wollten sie pflücken (...). Bisweilen mutete ein ganzes Feld wie mit Blut übergossen an, so viele Mohnblumen wucherten darin. Und mitten durch diese von bunten Feldblumen überblühten Flächen rumpelte der Wagen, der aussah, als trage er selber einen grellfarbenen Blumenstrauß; der trabende Schimmel zog ihn; er tauchte hinter den großen Bäumen eines Gehöfts unter, erschien am anderen Ende der Laubwand wieder und rollte weiter durch die gelben und grünen, rot oder blau gesprenkelten Felder, der farbenprunkende Frauenwagen, der im Sonnenschein eilig dahinfuhr.

Die Gabe, die Schönheiten und die Absonderlichkeit seiner Welt so präzise darzustellen, war Maupassant nicht in die Wiege gelegt worden. Seine naturalis- tischen Freunde um Emile Zola hatten anfangs überhaupt keine Meisterwerke von ihm erwartet. Sie wußten nicht, daß der junge Mann, der nur die Frauen und das Rudern auf der Seine im Kopf zu haben schien und ansonsten als Schreiber im Marineministerium arbeitete, damals schon eine zeitlang der Schüler eines ihrer großen Kollegen war. Gustave Flaubert, der Jugendfreund von Maupassants Mutter, der Verfasser der berühmten Madame Bovary, hatte es auf sich genommen, den jungen Guy in die Literatur einzuführen. Zu Beginn des Unterrichts hatte er ihm geraten, vorerst nichts zu veröffentlichen, er hatte sich die ersten Versuche vorlesen oder schicken lassen und im Gespräch oder brieflich mit ihm durch- gesprochen. Flauberts oberste Regel lautete:

Man müsse das, ”was man ausdrücken will, so lange und so aufmerksam betrach- ten, bis man einem Aspekt entdeckt, der noch nie zuvor von anderen gesehen oder ausgedrückt worden ist”. Maupassant nahm diese und andere Ratschläge dankbar an und bekannte später: ”Sieben Jahre habe ich mit Flaubert zusammen gearbeitet, ohne eine einzige Zeile zu veröffentlichen. Flaubert hat mir einen Begriff von Literatur vermittelt, den ich in vierzig Jahren Erfahrung nicht hätte erwerben können.”

So kam es, daß Maupassants erste längere Erzählung Fettklößchen (Boule de Suif) gleich ein Meisterwerk war. Erzählt wird hier von einer Prostituierten, die, kurz nach der verlorenen Schlacht von Sedan, weitaus mehr Zivilcourage und Vater- landsliebe als ihre gutbürgerlichen Zeitgenossen demonstriert. Flaubert kommen- tierte voller Bewunderung: ”Aber es drängt mich Ihnen zu sagen, daß ich Boule de Suif für ein Meisterwerk halte. Jawohl, junger Mann! Nichts mehr und nichts weniger.” Die Erzählung belegt, daß sich Maupassant nicht nur Flauberts liter- arische Technik angeeignet hat, sondern auch ein gut Teil von der Weltsicht seines Meisters, der einmal gesagt hat, er wolle noch einige Kübel Unrat über diese verlogene Gesellschaft auskippen. Die Lektüre Schopenhauers tat bei Maupassant ihr übriges: eine Verachtung gegenüber den Werten seiner Zeitgenossen ist in vielen seiner Romane und Erzählungen zu spüren.

Boule de Suif erschien 1880, diese Erzählung war der Auftakt für eine literarische Produktion, mit der Maupassant die meisten seiner Kollegen weit hinter sich gelassen hat. In nur zehn Jahren verfaßte er sieben Romane und einige hundert Erzählungen und Kurzgeschichten. Er hatte großen Erfolg damit, von den Einnah- men konnte er sich ein luxuriöses Leben, einige Villen und zwei Segelyachten leisten. Fast alle Bereiche seiner Welt hat er geschildert: von der Welt der Bauern, Kleinbürger und Landadligen in der Normandie bis zu der des mondänen Paris. Er wollte die Menschen und Dinge in ihrer nackten Wahrheit zeigen, und bei der Lektüre seiner Bücher erfährt man mehr über die französische Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als in manchen Geschichtswerk. Nicht nur seine Romane und Erzählungen, auch seine zahlreiche Feuilletons von denen nun erfreulicherweise eine repräsentative Auswahl unter dem Titel ”Die Liebe zu dritt” bei DTV erschienen ist, sind hier zu nennen. Auch als Journalist war er ein Meister, der in geistreichen ”Causeries” (Plaudereien) seiner Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hat.

Wahnsinnsängste

Seine allererste Erzählung hat Maupassant 1875, vermutlich ohne das Wissen Flauberts, unter dem Pseudonym Joseph Prunier veröffentlicht. Sie trägt den Titel La Main d’Ecorché (Die Totenhand) und ist auf den ersten Blick eine dieser ,ganz normalen‘ phantastischen Erzählungen, wie sie seit E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, die beide in Frankreich begeisterte Aufnahme fanden, von vielen Erzählern des 19. Jahrhunderts produziert wurden. Sie handelt von einem Jurastu- denten, der pietätlos die mumifizierte Hand eines Toten als Klingelzug verwendet, und der vom ehemaligen ”Besitzer” dieser Hand zuerst in den Wahnsinn und dann in den Tod getrieben wird. Zugleich schlägt Maupassant hier ein Thema an, das ihn späten immer wieder und in seinen später Erzählungen sehr stark beschäftigt hat: die Bedrohung des Menschen aus einer für den Positiven und Realisten nicht faßbaren Welt. In der ”Totenhand” ist es noch der ”übliche” Wiedergänger, der aus dem Grab kommt, um sein Eigentum zurückzufordern und den Pietätlosen zu strafen. Hier ist Maupassant noch etwas unbeholfen, später wird er im Bereich des Phantastischen subtiler, und er beruft sich ausdrücklich auf Hoffmann und Poe. In Erzählungen wie Auf dem Wasser (Sur l’eau), Er (Lui) und Wer weiß? (Qui sait?) kommt diese Bedrohung aus dem Unsichtbaren oder aus dem Opfer selbst. Es ist das Thema des Doppelgängers, des Bösen in uns, das Maupassant am überzeugend- sten und beängstigendsten in Der Horla ausgeführt hat; er hat hier seine eignen Ängste, seinen beginnenden Wahnsinn dargestellt. Zum Teil ist es sicherlich zutreffend, wenn man diese zunehmende Verdüsterung seines Wesens und seine letzten drei Lebensjahre im Wahnsinn auf eine fortschreitende Paralyse, die er sich wie Nietzsche durch eine Syphilis eingehandelt hatte, zurückführt. Doch zum anderen Teil kommt in diesen Erzählungen auch der Skeptiker zu Wort, der inmitten einer vom Fortschritt begeisterten und von überschäumender Lebens- freude erfüllten Gesellschaft die Abgründe der menschlichen Psyche deutlich wahrgenommen hat und davon bis ins Mark verängstigt war. Auch für die Zukunft sah er wenig Hoffnung; in einem Artikel über den Krieg schrieb er: ”Wir werden wohl noch auf Jahrhunderte unter der Last der alten und häßlichen Bräuche, der verbrecherischen Vorurteile, der blindwütigen Vorstellungen unserer barbarischen Urahnen zu leben haben.” Heute, wieder kurz vor einer Jahrhundertwende, fehlt uns ein Autor wie Guy de Maupassant, der in der Lage wäre, unsere Welt mit ihren Freuden, ihren Grausamkeiten, ihren Ängsten und Obsessionen darzustellen.

Ein Barbar in Asien

Späte Übersetzung von Michaux‘ Reisebericht

Die alten Griechen bezeichneten alle, die nicht ihrem Kulturkreis entstammten, als Barbaren. Aber sie lernten auch von ihnen, und sie wußten, ahnten zumindest, daß jede Zivilisation ihre Barbaren braucht. Lichtenberg hat dies folgendermaßen ausgedrückt: ”Wenn es einmal in der Welt keine Wilden und keine Barbaren mehr gibt, so ist es um uns geschehen.” Der Barbar ist der Ungebildete, Unzivilisierte, aber jede Zivilisation kennt Zeiten, in denen man sich den Barbaren zuwendet, da man von ihnen eine Medizin gegen den Untergang der eigenen Zivilisation erhofft. Als der belgische Schriftsteller Henri Michaux (1899-1984), eine hierzulande zu wenig beachtete Gestalt der Moderne, seinem 1934 erstmals erschienenen Reise- buch über Indien, China, Japan und andere Länder den Titel Ein Barbar in Asien gab, war er sich gewiß dessen bewußt, daß alle Aspekte dieses schillernden Be- griffs hierin von Bedeutung sind. Doch zunächst war auch er, wie viele seiner Zeitgenossen, seiner eigenen Zivilisation überdrüssig und fasziniert von fremden Völkern und Ländern. Er schreibt: ”Manche staunen, daß ich mehr als dreißig Jahre in einem Land in Europa gelebt und mich nie darüber geäußert habe. Ich komme nach Indien, öffne die Augen und schreibe ein Buch. Die da staunen, erstaunen mich. Wie sollte man nicht über ein Land schreiben, das mit einer Fülle von neuen Dingen und freudig sich erneuernd vor einen hintritt? Und wie sollte man über ein Land schreiben, in dem man dreißig mit der Langeweile, der Widersprüchlichkeit, den kleinlichen Sorgen, den Niederlagen und dem Alltagstrott verbundene Jahre verlebt hat und über das man nichts mehr weiß?” (S. 74f.) Michaux wußte jedoch auch, daß er in der Welt der Inder, Japaner, Chinesen, Malaien ein Fremder war und bleiben würde; ein Barbar, der trotz aller Sympathien für die andere Kultur zu einseitigen und falschen Ansichten kommen mußte. Da liest man zum Beispiel: ”Es gibt sogar Hindus, die beim Masturbieren an Gott denken. Sie sagen, es sei noch schlechter, mit einer Frau (europäischer Art) zu schlafen, die einen zu sehr individualisiert und von der Vorstellung der Liebe nicht zu der des Ganzen überzugehen versteht.” (S. 38). Oder: ”Hindus besitzen seelische Kraft und setzen sie auch ein. Aber die Güte ist bei ihnen seltener als anderswo. Auf seelischem Wege Böses zu tun, ist ihre allererste Verlockung. Das Gute tun, eine Ausnahme.” (S. 72). Und über die Japaner bemerkt er: ”Von Persönlichkeit kann bei ihnen ohnehin keine Rede sein!” (S. 157). Solche apodiktischen Äußerun- gen, die hier allerdings aus dem Zusammenhang gerissen sind und aus ihrer Zeit heraus verstanden werden müssen, mögen einen Kern Wahrheit enthalten, doch der Europäer Michaux fühlte sich offensichtlich als Barbar, als er sie zu Papier brachte. In später hinzugefügten Fußnoten hat er versucht, einiges richtigzustellen, doch auch bezweifelt, ob ihm dies gelungen ist. ”Dieses Buch”, schrieb er, ”das mir nicht mehr genehm und peinlich ist, mich brüskiert und beschämt, gestattet mir meistens nur, Lappalien zu korrigieren. Es leistet Widerstand. Als wäre es eine Person. Es hat einen Ton.” (S. 11f.) Michaux hat sein Buch nicht aus dem Verkehr gezogen, zum Glück. Seine Grund- haltung ist Sympathie für die fremden Kulturen, er weiß, daß nicht nur die anderen Barbaren sind. Und wenn er einseitige oder gar falsche Ansichten verkündet, dann sollte man sie als Grundlage nehmen, um das oft falsche Bild des Europäers von Asien zu begreifen und zu ändern. Es hat wenig Sinn, wenn wir mit unseren Vorurteilen hinter dem Berg halten, denn erst wenn wir sie aussprechen, kann man über sie diskutieren und sie ad absurdum führen. So gesehen, handelt es sich um ein faszinierendes Buch für alle bornierten Zivilisationsmenschen, die bei Michaux meist nicht gut wegkommen; haben seine 1934 geäußerten Bedenken auch heute noch ihre Gültigkeit: ”Wird es noch einen Krieg geben? Seht euch an, Europäer, seht euch an. Nichts ist friedlich in eurem Ausdruck. Alles darin ist Kampf, Bege- hren, Habgier. Sogar den Frieden wollt ihr mit Gewalt”? (S. 168.)

Henri Michaux: Ein Barbar in Asien. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl. Graz 1992. 190 S.

Aus dem Leben gegriffen Wiederentdeckt: Octave Mirbeaus Roman Nie wieder Höhenluft

Georges Vasseur weilt zur Kur in den Pyrenäen, was ihn gewaltig langweilt. Die Berge sind unerträglich, die Gesellschaft um ihn herum ebenso. Er muß sich die Zeit vertreiben, und das tut er, indem er über all diese Menschen und über andere, denen er einmal begegnet ist, herzieht: ein gewaltiger Monolog von Spott und Abscheulichkeiten. Kuriose Gestalten begegnen uns. Da gibt es einen Einbrecher, der sein Gewerbe folgendermaßen legitimiert: ”Der Diebstahl ist die einzige Beschäftigung der Menschen. Wir suchen uns dieses oder jenes Metier – egal, welches es sein mag, wohlgemerkt – nur deshalb aus, weil es uns die Möglichkeit gibt zu stehlen...” Eine alternde Hure bietet ungerührt ein dreizehnjähriges Mäd- chen an, als sie merkt, dass ihre Reize nicht mehr ankommen. General Archinard, der in den Kolonien sein Unwesen trieb, preist das Negerleder, mit dem die Wände seines Salons ausgestattet sind. Wieviele Häute bracht man dafür? ”Einhundert- neun, ungefähr ... Die Bevölkerung eines kleinen Dorfs. Aber alles wird ja nicht verwendet, wohlgemerkt ... An diesen Häuten, vor allen an den Frauenhäuten, gibt es auch feinere, geschmeidigere Stellen, woraus sich Lederwaren für den ge- hobenen Geschmack herstellen lassen.” Und Monsieur Leygues, der als Minister sich jedem Kabinett anpaßt, behauptet auch Mensch zu sein, nicht nur Politiker, er muß allerdings zugeben, daß in ihm der Mensch immer hinter dem Politiker zurückstehen muß, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Octave Mirbeau (1848 – 1917) liebte den Skandal, er schrieb pornographische Romane, kämpfte für die Unterdrückten, er verurteilte den Kolonialismus, kämpfte gegen den Antisemitismus in seinem Land, schrieb in vielen Zeitungen böse Glossen gegen die Mißstände seiner Zeit. All dies und vieles mehr hat er in dem 1901 erstmals erschienenen Roman Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers hineingepackt, mit vollen Händen hat er aus dem Leben seiner Zeit geschöpft. Da hat man als heutiger Leser manchmal seine Schwierigkeiten, doch Wieland Grommes, der Übersetzer, hat dem Roman ausführliche Anmerkun- gen und ein kenntnisreiches Nachwort angefügt, mit denen man die vielen Anspie- lungen und die Hintergründe versteht. Es ist eine rabiate Abrechnung mit dem Frankreich des 19. Jahrhunderts, doch bei nicht wenigen Fällen und Sachverhalten, die hier geschildert werden, wird mancher sich fragen: Ist es heute nicht wieder oder immer noch so?

Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Wieland Grommes. Manholt Verlag. 400 Seiten. 45.- DM Mondäne Fluchten

Snobs und rätselhafte Frauen in den Novellen von Paul Morand

Der Franzose Paul Morand (1888-1976) gehört zu den Schriftstellern, die ihren Lebensunterhalt als Diplomaten ihres Landes verdient haben, wobei er allerdings gegenüber Paul Claudel und Pablo Neruda – um zwei weitere, höchst unterschied- liche Vertreter dieser Spezies zu nennen – weit zurückfällt. Vermerkt sei nebenbei, daß er auch für das Vichy-Regime gearbeitet hat, was auch heute noch unangenehm berühren kann, auch wenn er 1953 rehabilitiert wurde. Mit seinen beiden Erzähl- bänden Ouvert la nuit und Fermé la nuit (1922/23) (auf deutsch zusammen unter dem Titel Nachtbetrieb erschienen) ist er bei einem größeren Publikum bekannt geworden; des weiteren durch seine Reiseberichte, in denen er aber eher als wohlhabender und verwöhnter Tourist in Erscheinung tritt, weniger als einer, der offen ist für fremde Kulturen. In seinen Erzählungen, die 1928 unter dem Titel Magie noire erschienen sind, hat er auf fast frivole Weise die Afrika- und Negerbe- geisterung (Josephine Baker usw.) seiner Zeit geschildert. Übrigens: Auf dem Titel der ersten deutschen Ausgabe von Nachtbetrieb (Berlin. Ullstein. o. J.) war zu lesen: ”Der internationale Casanova von heute, seine Erlebnisse mit Frauen in allen Erdteilen.”

Nun hat der Kellner-Verlag ein anderes Bändchen mit Novellen von ihm ausgegra- ben: dieser schmale Band (1919 erstmals erschienen) hat noch den Vorzug, daß ein Vorwort dazu geliefert hat, das einzige, das er jemals für einen anderen Schriftsteller geschrieben hat. Ob dies ein Gefälligkeitsvorwort war, läßt sich heute nicht mehr ermitteln. Tatsache ist, daß er auf gut zwanzig Seiten in der deutschen Ausgabe eigentlich recht wenig über Morand sagt. Das Vorwort ist über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit Anatole France‘ Diktum, daß man seit dem 18. Jahrhundert in Frankreich schlecht schreibe, keinen Stil mehr habe. Proust hält dem entgegen, ”daß von Zeit zu Zeit ein neuer, origineller Schriftsteller auftritt” (S. 25), und ein solcher ist für ihn Paul Morand. Begründet wird dies allerdings kaum, denn viel mehr schreibt er dann nicht mehr über seinen Autor. Er hat nur noch einen Vorwurf parat: ”Den einzigen Vorwurf, den ich versucht wäre, Morand zu machen, ist, daß er zuweilen Bilder hat, die nicht unbedingt notwendig sind” (S. 26).

Diese ‘unnötigen‘ Bilder sind, wenn man so will, eine Besonderheit dieser Erzählungen, was Proust vermutlich auch so gemeint hat. Allerdings muß man Geschmack an einer gewissen gesuchten Ausgefallenheit finden. Zum Beispiel: ”Paare tanzen, wobei sie sich um eine imaginäre Achse drehen, den Walzer aus- wringen wie einen Spüllappen, aus dem die Melodie plätschert.” (S. 49) Oder die folgende Landschaftsschilderung: ”Über den Kalkfelsen fiel ein Abend, dem die falsche Sonne des blühenden Senfes nichts anhaben konnte. Der Fluß trug einen bleiernen Himmel davon; auf den tiefergelegenen Weiden rückte geflecktes Vieh vor und folgte seiner Zunge.” (S. 68) Im Einzelfall sind solche Bilder durchaus verführerisch raffiniert, doch in der Häufung sind sie ermüdend, unnötig.

Ebenso abwegig-faszinierend sind die Begebenheiten, von denen hier berichtet wird: Amouren, wie der deutsche Titel verspricht, ”zärtliche Vorräte” (Tendres stocks), so der Originaltitel; allerdings Affären, die keine Erfüllung finden. Dieses Thema der unerfüllten Liebe findet man relativ oft in der französischen Literatur, von der Princesse de Clève der Madame de La Fayette (1678) bis zum Ball des Comte d’Orgel (1923) von Raymond Radiguet, einem jung verstorbenen Zeit- genossen Morands. Auch die Heldinnen Morands entziehen sich den Annäherun- gen ihrer Anbeter, führen ein mysteriöses Doppelleben, dem man nicht auf die Schliche kommt. Am besten gefällt mir die dritte dieser rätselhaften Frauengestal- ten: Aurora, eine junge, wilde Kanadierin, die im zivilisierten England wie ein Trapper und Fallensteller lebt und den Herren, die ihr zu nahe kommen, schmerz- hafte Kinnhaken verpaßt. Man darf in ihr und den beiden anderen Heldinnen aber keine Frauenrechtlerinnen sehen, dafür sind sie zu sehr egoistische Luxus- geschöpfe.

In der zweiten Novelle trifft ein junger Franzose während des Ersten Weltkrieges seine Jugendfreundin Delphine in England wieder. Doch schon wie früher erhört sie ihn auch dieses Mal nicht, gibt sich aber geheimen Lastern hin (was der Leser nie genau erfährt) und verursacht so den Unmut ihres ritterlich zurückhaltenden Verehrers. Man mag darin ein laszives Gefallen finden, auch an den anderen mondänen Gestalten, für die der Krieg und das Elend dieser Zeit keine Rolle spielen. Zum Beispiel Rafael, der uns in der ersten Novelle (Klarissa) begegnet: ”Er ist von einer erstarrten Extravaganz. Man spürt, daß er ohne Bindungen zum Rest der Welt ist. Ohne Verpflichtungen, ohne Sorgen, ohne Wohnung, ohne Bankkonto, ohne etwas anderes, als den Schmuck, den er trägt. Nichts an ihm verrät seine Vergangenheit: die durchfeierten Nächte auf dem Montmartre oder in Rom, die Spielernächte in Deauville, die durchtanzten Nächte in Sankt Moritz, die Liebesnächte in Polen oder Madeira sind an seinem glatten Gesicht abgeglitten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Weder anmaßend noch unterwürfig geht er durchs Leben, indolent wie ein Luxustier, mit seiner für alle ehemaligen Eton-Schüler typischen, etwas weichlichen Art einer Kokotte, die Arbeit nicht mag.” (S. 51. f.) Eine Vorausdeutung auf Morands späteren Nachtbetrieb. Durch den Hintergrund des Krieges, der in allen drei Novellen immer wieder am Rande erwähnt wird, kann man dieses Buch auch zur Kriegsliteratur zählen. Vielleicht lag hier auch Morands eigentliche Absicht: den Krieg aus dem Blick- winkel der wohlhabenden, gelangweilten Gesellschaft zu schildern. Anders gesagt: Er präsentiert Menschen, die nur mit ihren kapriziösen Amouren beschäftigt sind, die es höchstens als lästig empfinden, wenn der Ehemann oder Freund irgendwo an der Front sein Leben läßt. Sie fliehen vor der Realität ins mondäne Leben ihrer meist kostspieligen Phantasmen, und dafür bringt, wie mir scheint, Morand seine gewisse Bewunderung zum Ausdruck.

Dies hinterläßt für mich beim Lesen einen schalen Geschmack, der durch einige Übersetzungsschnitzer und Druckfehler nicht vertrieben wird. Der ‘wie ein schwarzes Segel geblähte Unter-Graduierten Talar‘ (S. 60) fällt unangenehm auf, mit dem (zumindest laut Duden) nicht existierenden Wort ”Hypokrisie” (vom französischen ”hypocrisie” = Heuchelei) wollte die Übersetzerin offensichtlich den manierierten Stil des Autors nachahmen, mit einem gewissen Dante Gabriel Tossetti ist wohl der englische Präraffaelit Rosseti gemeint. Unverständlich ist auch, warum Titel, die genannt werden, manchmal mit und manchmal ohne An- führungszeichen erscheinen. Das kann zu Mißverständnissen führen: so könnte der unkundige Leser ”Hernani” (S. 73) als einen Städtenamen lesen, und nicht als den Titel einer Oper Verdis, beziehungsweise eines Dramas von Victor Hugo. Aber das sind vielleicht Beckmessereien... Positiv hervorzuheben ist auf jeden Fall die schöne Gestaltung des Buches, insbesondere der Umschlag, für den Karen Scholz und Andrea Schürings verantwortlich zeichnen. Aber da ist man versucht zu sagen: nobel und exquisit, wie Morands Erzählungen; ein äußerlich schönes Buch für die Vitrine. Morand muß vor dem Hintergrund seiner Zeit gelesen werden. Um dies zu verdeutlichen, reicht das Vorwort von Marcel Proust nicht aus. Ein kurzes Nach- wort des Herausgebers über Morand und seine Zeit wäre dem Buch gut bekommen.

Paul Morand: Amouren. Drei Novellen. Mit einem Vorwort von Marcel Proust. 128 S. Hamburg. Kellner Verlag. 1990.

Bürgersöhne proben den Aufstand

Das deutsche Sartre-Bild ist auch nicht mehr so strahlend, wie es noch vor zwanzig Jahren oder gar in den fünfziger Jahren gewesen war. Eine umfangreiche Bi- ographie von Annie Cohen-Solal (auf deutsch 1988 erschienen), die ‘nach- tragenden‘ Publikationen seiner Lebensgefährtin haben hier einiges zurechtgerückt. In der genannten Biographie lesen wir über den Freund und früheren Weggeführten Paul Nizan (1905-1940): »Für das Einzelkind Sartre, der immer der Ausgeschlossene und Isolierte gewesen war, war das große Erlebnis dieser Jahre zweifellos die Begegnung mit einem anderen Einzelkind [...]: die Freundschaft mit Paul Nizan. Denn Nizan, ein ungewöhnliches Phänomen, hatte gegenüber Sartre den Vorzug einer schnellen und äußerst fruchtbaren Feder.« Cohen-Solal schildert dann die literarischen Erfolge Nizans und schließt ihr Statement mit den Worten: »Selbstsicher, begabt, frühreif und ungezwungen wird Nizan sofort ohne Verzögerung und ohne die geringste Schwierigkeit Zugang zur Pariser literarischen Welt bekommen: Er ist es, der Sartre mitziehen wird.«

Diese Pariser literarische Welt, die Aktionen der jungen Literaten und Schüler der Eliteanstalt Ecole normale schildert Nizan in seinem 1938 erschienen Roman La conspiration, der 1975 erstmals auf deutsch erschienen ist. Der Europa-Verlag hat ihn nun noch einmal publiziert, und nicht zuletzt wegen er gut lesbaren Über- setzung von Lothar Baier sei er interessierten Lesern empfohlen. Es geht um einer Rebellion junger Bürgersöhne aus gutem Hause, die mit einer anarchistischen Tat sich selbst und die Gesellschaft befreien wollen; hineinverwoben wird der Plan der Surrealisten, mit einer Zeitschrift mit dem Titel Der Bürgerkrieg Unruhe zu stiften. Das Ganze ist kein Schlüsselroman, aber man ist immer wieder versucht, hinter den Gestalten des Romans Sartre und Nizan, Breton und seine Anhänger zu sehen. Am Ende bleibt nichts als Ratlosigkeit, Enttäuschung und Ernüchterung anstelle der Begeisterung, die vom Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nizan ist im Mai 1940 bei Dünkirchen gefallen. Vielleicht hätte er Sartres Aufstieg nach dem Krieg mit sehr viel Skepsis und Kritik verfolgt.

Paul Nizan: Die Verschwörung. Roman. Aus dem Französischen von Lothar Baier. 272 S. Hardcover. Wien 1994. Europa Verlag.

Anrührend bis kitschig

Anmerkungen zu Daniel Pennacs Kinderbüchern

Für den Boulevardjournalismus gilt, wie es heißt, eine Faustregel: Tiere gehen gut, Kinder gehen gut, Tiere und Kinder zusammen gehen noch besser. Man hat den Eindruck, Daniel Pennac hat sich dies zu Herzen genommen, als er seine Kinder- bücher Afrika und blauer Wolf (L’Œil du loup) und Der Hund und das Mädchen (Cabot-Caboches) geschrieben hat. Ein kleiner Afrikaner und ein Wolf, das Mädchen Pom und ein häßlicher Hund schließen Freundschaft und trotzen der Welt der Großen. Das liest sich ganz gut, fast ergriffen folgt man den anrührenden Abenteuern, doch die Grenze zum Kitsch ist klein und wird von Pennac, vielleicht bewußt, manchmal überschritten. Wenn der kleine Hund um seine Ziehmutter, die Hündin Schwarze Schnauze, trauert, wenn er im Gedenken an seine schwere Kindheit Alpträume bekommt, wischt man sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Dabei haben die beiden Bücher auch überzeugende Stellen, zum Beispiel wenn Pennac die Welt der französischen Wohlstandbürger schildert, oder wenn es um die Gehässigkeit der Mitmenschen geht, die Pennac witzig-böse überzeichnet. Zum Beispiel wenn Pom auf der Suche nach ihrem Hund verschwunden ist, und die Nachbarn die Eltern beruhigen: ”‘Aber nun warten Sie doch erst einmal ab, vielleicht ist sie nur von einem Bus überfahren worden!‘ ‚Oder vielleicht ist sie nach Katmandu gegangen?‘ ‚Oder in die Seine gefallen.‘ Sie taten ihr möglichstes.” Die Weisheiten der Tiere leuchten ein, das Verhalten der Kinder wird gut beschrie- ben. Dann wird es wieder höchst unwahrscheinlich, wenn beispielsweise eine Bande von Pariser Katzen und Hunden beschließen, das Haus von Poms Eltern zu verwüsten und dies auch in die Tat umsetzen, weil sie den kleinen Hund ausgesetzt haben. Da ist Walt Disney nicht fern, aber Disney ist besser. Pennac konnte sich nicht zwischen Märchen und realistischer Erzählung entscheiden, was wohl auch von Kindern nicht unbedingt mit Wohlwollen registriert wird. Schade, denn nach Pennacs Kriminalromanen um Monsieur Malaussène und seinem überzeugenen Plädoyer gegen Leseverdrossenheit und Bildungsdruck, dem Essay Wie ein Roman, hat man bessere Kinderbücher von ihm erwartet.

Daniel Pennac: Afrika und Blauer Wolf. Mit Illustrationen von Jacques Fernandez. Übersetzt von Almuth Piene. Stuttgart. Franck-Kosmos. 1995. 158 S. Daniel Pennac: Der Hund und das Mädchen. Mit Illustrationen von Miles Hyman. Übersetzt von Almuth Piene und Susanne Bauer. Stuttgart. Franck-Kosmos. 1996. 204 S.

Tumber Tor sucht Riesenzwerg

Ein Literaturpuzzle wird zum Meisterwerk

Falls im nächsten Jahrhundert noch Literaturgeschichte geschrieben werden sollte, könnte unsere Zeit, das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts, als das Zeitalter der Puzzle-Romane Erwähnung finden. Man nehme Ideen, Ausschnitte, Konzepte aus Wagners Ring des Nibelungen, aus Eugène Sues Roman Die Geheimnisse von Paris, aus den Abenteuern des Sherlock Holmes, aus der Legende vom Golem oder aus dem gleichnamigen Roman von Gustav Meyerink und noch aus einigen anderen literarischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts und setze daraus ein neues Werk zusammen. Nach diesem Rezept, mit anderen literarischen Bruch- stücken, sind viele Romane der letzten Jahre geschrieben worden. Von postmod- ernen Romanen sprechen die Literaturwissenschaftler. Nicht immer kommt ein lesenswertes Werk dabei heraus, doch bei Marc Petits Roman Der Riesenzwerg ist ein kleines Meisterwerk entstanden.

Petit hat die oben genannten Bruchstücke und anderes Material verwendet, doch er hat daraus mehr gemacht: bei ihm ist die Summe der Einzelteile zu einem selbständigen, und nicht zuletzt sehr spannenden Roman geworden. Um was geht es? Am 23. Oktober 1872 wird in Paris der Spielzeugmacher Albéric Lenoir (Ist das nicht der schwarze Alberich???) in seiner Werkstatt ermordet. Sein Sohn Benjamin will den Fall klären, und er befindet sich mit einem Mal in einem Ges- pinst von Rivalität, Genialität und Kriminalität. Sein Vater war dem Riesenzwerg auf der Spur. Niemand weiß zwar, was damit gemeint ist (ein Schachautomat oder ein Roboter oder etwas ganz anderes), doch dem jungen Sherlock Benjamin Holmes wird nach und nach klar, daß auch andere hinter dem Geheimnis des Riesenzwergs her sind. Ein falscher Polizist namens Juvert, der zumindest vom Namen her an den Inspektor Juve aus den Fantômas-Romanen erinnert; ein Indus- triebaron namens Hippolyte Dubuc, dem Richard Wagner persönlich zwei scharfe Dobermänner zum Geschenk gemacht hat; und wohl eine ganze Geheimge- sellschaft, die den jungen Wilhelm Meister, pardon: den jungen Benjamin Lenoir auf allen seinen Wegen beschattet. Die Geschichte führt den Leser von Paris nach Wien und Posen, und sie endet im Goldmachergäßchen in Prag, wo...

Mehr soll hier nicht verraten werden, außer noch ein paar Einzelheiten: der Baron endet in einem seiner Hochöfen, wie sie auch Patrice Chéreau bei seiner RING- Inszenierung auf die Bayreuther Bühne gebracht hat; die Mutter des Helden nimmt Gift, doch sie hütet sich vor Arsen, denn sie möchte nicht so grauenhaft wie Emma Bovary sterben; der Wiener Konservator Matzenbecker, der aus dem Reich Tarockanien eines Herzmanovsky-Orlando entsprungen sein könnte, wird mit einem Eisblock erschlagen, auf dem natürlich keine Fingerabdrücke bleiben. Marc Petit spielt mit den Elementen der Hoch- und Trivialliteratur, doch es gelingt ihm zugleich, dem Roman einen tieferen Sinn zu geben. Es ist die ewige Suche des jugendlichen Helden, des tumben Toren, die man geradlinig und simpel heute nicht mehr erzählen könnte, die aber so, wie Petit sie erzählt, den Leser wieder fesseln kann.

Marc Petit: Der Riesenzwerg. Roman. Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner. 360 Seiten. Hanser Verlag München. 1994.

PS. Marc Petits Goethe-Roman Le troisième Faust (Paris. Stock. 1994) ist 1999 in deutscher Übersetzung erschienen (Goethes letztes Geheimnis. München. Dtv) hat aber wenig Beachtung gefunden.

Skeptisch und resigniert

Zu Jules Renards Die Lust sich zu trennen

Das bekannte Gedicht Sachliche Romanze von Erich Kästner über das Ende einer Liebesbeziehung schließt mit den Versen: ”Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort / und konnten es einfach nicht fassen”. Nun weiß man ja, daß solche Situa- tionen nicht immer ohne Worte vorübergehen. Im Gegenteil: da wird vorgehalten und aufgerechnet, und die psychologischen Lebenshilfebücher, die zur Zeit den Markt überschwemmen und bald die Belletristik abgelöst haben werden, bieten genug Argumentationsmuster und Verhaltenshilfen für alle Situationen des Lie- beslebens. Frauen lieben zuviel, die Männer natürlich, die aber lassen lieben, und keiner ist zu einem eindeutigen Ja oder Nein in der Liebe fähig. Um solche Verständigungstexte geht es hier allerdings nicht, sondern um zwei feinsinnige, manchmal ein wenig frivole Dialoge zwischen Mann und Frau von Jules Renard, die unter dem Titel Die Lust sich zu trennen auf deutsch erschienen sind. Im ersten Dialog begegnen wir der älteren Blanche und ihrem jungen Geliebten Maurice. Ihre Beziehung ist zuende, beide stehen kurz vor einer Ver- nunft- und Geldheirat mit einem anderen Partner und treffen sich ein letztes Mal. Ein bißchen geheimer Groll auf den anderen macht sich bemerkbar, dann scheint es einen Augenblick lang, als wolle die Liebe noch einmal aufflammen, aber insge- samt ist es ein fast freundschaftliches Gespräch, in dem jeder den anderen noch einmal, wenn auch nur sprachlich, zu fassen versucht. Maurice ist dankbar, daß ihn Blanche in die Lebensart der besseren Gesellschaft eingeführt hat, Blanche denkt gerne an die Zeit mit dem jungen Liebhaber zurück. ”Ich habe meine Liebe gehabt, ich kann auf Liebe verzichten” verkündet sie (S. 18), und Maurice sagt mit einem gewissen Bedauern: ”Welch schönes Buch könnte man über unsere Liebe schrei- ben!” (S. 28). Es bleibt offen, ob die beiden Liebenden – Romeo und Julia: skep- tisch und resigniert – die richtige Entscheidung getroffen haben, sie ist getroffen, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Das schmale Buch enthält einen weiteren Dialog mit dem Titel Das tägliche Brot, der in gewisser Weise als Fortsetzung des ersten verstanden werden kann, auch wenn es sich um zwei andere Personen handelt. Es sind Marthe und Pierre, die gemeinsam mit ihrem jeweiligen Ehepartner in die Sommerfrische gefahren sind. Beide Paare führen eine mustergültige Ehe, von einem ruhigen Glück könnte man sprechen. Doch bei dem nächtlichen Gespräch zwischen Pierre und Marthe wird deutlich, daß diesen beiden einiges fehlt. Das Glück ist ihnen langweilig geworden, und sie gestehen sich ihre gegenseitige Sympathie. Mehr darf es nicht sein, auch wenn sie für kurze Zeit mit dem für sie wahnsinnigen Gedanken spielen, gemein- sam durchzubrennen. Die Vernunft hält sie zurück, und Marthe sagt resignierend zum Abschied: ”Adieu. Kehren wir in unsere goldenen Käfige zurück.” (S. 74) Aus beiden Dialogen, die erstmals 1897 und 1898 in Paris mit großem Erfolg aufgeführt wurden (und seitdem immer wieder) kann man, wenn man sie aufmerk- sam liest und von gewissen zeitbedingten Gesprächsmustern absieht, mehr lernen, als aus den Verständigungstexten und Lebenshilfen, die von gut verdienenden Therapeuten für ein nach Hilfe lechzendes Publikum wie am Fließband fabriziert werden. Diese Gespräche berühren viele Aspekte und Spielformen in der ewigen Begegnung der Geschlechter, und doch scheinen alle Sätze leicht dahingesagt. In seinem Tagebuch schrieb Renard damals, Die Lust sich zu trennen müsse wie auf einem Fächer gespielt werden. Cornelia Hasting ist es größtenteils gelungen, diese Leichtigkeit auch im Deutschen beizubehalten. Nur ab und zu erscheinen ihre Sätze etwas gestelzt, aber dies mag auch der heutige Leser bei der Lektüre des Originals empfinden: diese Dialoge sind fast hundert Jahre alt, heute herrscht ein etwas rüderer Umgangston. Vincenzo Orlando weist in seinem Nachwort darauf hin, daß den beiden Dialogen oder Einaktern eigene Erfahrungen Renards zugrunde liegen. Im ersten Fall ist es seine Beziehung zu der Schauspielerin Danièle Davyle, die aus dem jungen Dichter aus der Provinz einen Mann von Welt gemacht hat; in dem Dialogroman Die Mätresse (1896, deutsch 1986) hatte Renard schon einmal diese Liaison geschildert. Im zweiten Fall geht es um Jules Renards Freundschaft mit der Frau seines Kollegen und Freundes Edmond Rostand. Das mag für die Zeitgenossen pikant gewesen sein, den heutigen Leser berührt das kaum noch. Tatsache ist, daß Renard (1864-1910) den Stoff für viele seiner Werke im eignen Leben gefunden hat. Dies gilt für seinen wohl bekanntesten Roman Poil de Carotte (Rotfuchs), in dem er seine eigene Kindheit schildert, bis zu seinem mehrbändigen Tagebuch, das in Auszügen auch auf deutsch erschienen ist (Ideen, in Tinte getaucht. 1986). Jules Renard war einer der bekanntesten französischen Schriftsteller der Jahrhun- dertwende, er gilt in Frankreich fast schon als ein Klassiker. Abgesehen davon, daß Hugo von Hofmannsthal die dramatisierte Fassung seines Poil de Carotte übersetzt hat, wird er im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit entdeckt.

Jules Renard: Die Lust sich zu trennen. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting. Mit einem Nachwort von Vincenzo Orlando. Verlag Klaus G. Renner. München . 1990. 84 S.

O REINHHEIT! REINHEIT!

Zum 100. Todestag von Arthur Rimbaud

Am 9. November 1891 schrieb Arthur Rimbaud einen ziemlich wirren Brief aus seinem Krankenzimmer von Marseille an das Schiffahrtsunternehmen Messageries Maritimes. Darin heißt es: »Ich bin vollkommen gelähmt: darum möchte ich frühzeitig an Bord sein. Teilen Sie mir mit, wann ich an Bord gebracht werden kann.« Er hatte kurz zuvor, am 20. Oktober, seinen 37. Geburtstag gefeiert, im Sommer hatte man ihm ein Bein abgenommen, er war todkrank und ist am näch- sten Tag, am 10. November 1891 um 10 Uhr morgens, gestorben. Er ist also aufgebrochen, wie er so oft in seinem kurzen Leben aufgebrochen ist, aber auf einem anderen Schiff und nicht wieder nach Afrika, wie er es wohl gehofft hatte. Daß dieser sterbende Mann sich noch einmal auf den Weg machen wollte, ist nur auf den ersten Blick ein Rätsel, denn der Aufbruch war eines seiner Lebensprin- zipien, und Rätsel hat er seinen Zeitgenossen genug aufgegeben, Rätsel, die man heute noch zu lösen versucht. Seine Kindheit verbrachte er in der kleinen Provinzstadt Charleville in den fran- zösischen Ardennen. Nichts in seiner Umgebung und seiner kleinbürgerlichen Familie deutet darauf hin, daß dieser Junge einmal als Genie gefeiert werden sollte. Er interessiert sich für Poesie, und als sechzehn- und siebzehnjähriger Schüler reißt er mehrmals aus. Doch das könnte man als ‘ganz normale’ Pubertätserscheinungen abtun. Nicht jedoch diese zwei berühmten Briefe, die er am 13. und am 15. Mai 1871, noch keine siebzehn Jahre alt, geschrieben hat, die berühmten »Seher- Briefe«. Im ersten an seinen Lehrer Georges Izambard schreibt er: »Ich will Dichter sein, und ich arbeite daran, mich zum Seher zu machen: Sie werden das überhaupt nicht verstehen, und ich könnte es Ihnen auch nicht erklären. Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne im Unbekannten anzukommen. Die Leiden werden gewaltig sein, aber man muß stark sein, wenn man zum Dichter geboren ist, und ich habe mich als Dichter erkannt. Das ist nicht meine Schuld. Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müßte sagen: Ich werde gedacht. Verzeihen Sie das Wortspiel. Ich ist ein anderer«. Hier wird das cartesianische »Ich denke, also bin ich« gewissermaßen auf den Kopf gestellt, und das wird zur Grundregel seiner neuen Poesie. Im zweiten Seherbrief an den Freund Paul Demeny entwickelt Rimbaud diesen Gedanken weiter: »Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langwährende, alles umfassende und wohlüberlegte Verwirrung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahns; er sucht sich selbst, er läßt alle Gifte in sich vergehen, um nur die Quintes- senz zu bewahren. [...] Er kommt im Unbekannten an...« Ankommen im Un- bekannten, alle Sinne verwirren, durcheinanderbringen, zum Seher werden - das ist ein himmelstürmendes Programm, das nicht so einfach verwirklicht werden kann. Himmelstürmend in der Tat, der französische Dichter Saint-Pol-Roux, ein Zeit- genosse und früher Verehrer hatte recht, als er schrieb: »Rimbaud jonglierte mit den Gestirnen.« Rimbauds großes Vorbild war Charles Baudelaire und seine Blumen des Bösen. So gut wollte er sein, ja besser und kühner. Die Einbeziehung des Häßlichen in die Lyrik, das hatte er von ihm, doch er wollte ihn hier noch übertreffen, ebenso in der gewagten Verwendung von Metaphern, Bildern und Farben. (Hierin wird der dann später den deutschen Expressionisten zum Vorbild werden.) 1861 sagte Gustave Flaubert im Gespräch zu den Brüdern Goncourt: »Wenn ich einen Roman schreibe, versuche ich, eine Farbe, einen Ton zu schaffen. In meinem Karthago-Roman (Salammbô) möchte ich etwas Purpurnes machen. Madame Bovary hat einen grauen Ton.« Zehn Jahre später schrieb Rimbaud sein berühmtes Sonett Voyelles (Vokale), in dem er alle Vokale bestimmten Farben zuordnet und diese dann bestimmten Sinneseindrücken:

A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau...

Zur selben Zeit (1871), während der deutsch-französische Krieg tobte, verfaßte er sein vielleicht berühmtestes Gedicht: Le bateau ivre (Das trunkene Schiff), eine 25strophige verwegene Ballade über ein Schiff, das selbst von seinen abenteuerli- chen und geheimnisvollen Fahrten berichtet:

Nun sah ich den Himmel in Blitzen zerreißen, sah Strömungen, Wasserhosen, tote Seen, sah Morgendämmern, in Aufruhr wie das Kreisen erschreckter Tauben, sah, was noch keiner gesehen.

Sah die Sonne schillern in wundersamen Schrecken, leuchten in violetter Glut, sah wie bei Schauspielern in den antiken Dramen das ferne Faltenspiel der Wasserflut. (Übersetzung von K. L. Ammer)

Berichtete der Siebzehnjährige in Bildern über sein eigenes Leben? Viel hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt. Er war ein paar Mal ausgerissen und hatte sich dann mit dem älteren Dichter Paul Verlaine zusammengetan, eine homoerotische Beziehung, die zwei Jahre später - nach einigen Zerwürfnissen und Versöhnungen - tragisch endete: Verlaine schießt auf seinen jungen Freund und wandert dafür ins Gefängnis. Rimbauds Ausbrüche und Reisen ins Unbekannte fanden immer noch zumeist in seinem Kopf statt, verstärkt von hohem Alkohol- und sonstigem Drogenmißbrauch. Im folgenden Jahr bringt er seinen beiden gewagtesten Werke zu Papier, mit denen er sich am weitesten vom bisher Dagewesenen entfernt. Es handelt sich in beiden Fällen um Sammlungen mit Prosagedichten, die erste trägt den Titel Une saison en enfer (Eine Saison in der Hölle), die zweite den Titel Illuminations (Illumina- tionen), wobei er wohl gleichzeitig an beiden Werken gearbeitet hat. Die hier zuerst genannte Sammlung kann (aber das ist nur eine Lesart) leicht biographisch gelesen werden: Von der Beziehung mit Verlaine, dem »infernalischen Gatten«, ist die Rede und immer wieder von seinem radikalen Versuch, sich von allen und allem abzugrenzen:

Ich bin ein Tier, ein Neger. Aber ich kann gerettet werden.

Seine Rettung sah er wohl in dieser Abgrenzung von der bürgerlichen Gesellschaft, in seiner Flucht ins Unbekannte, in seiner Gespaltenheit, die ihm zur einzig mögli- chen Identität wurde. Er suchte nach einer absoluten Reinheit, die aber unerreichbar blieb. »O Reinheit! Reinheit« heißt es in einem anderen Prosagedicht, das bezeich- nenderweise den Titel L’Impossible (Das oder der Unmögliche) trägt. Die Dichtung und die Sprache wollte er von Grund auf erneuern, was ihm vielleicht in den Prosagedichten der Illuminationen zum Teil gelungen ist. Doch er hat sich hier so weit von einer Allgemeinverständlichkeit entfernt, daß man schon vermutet hat, er habe hier ganz frei - ohne Sinn und Verstand - mit den Wörtern und ihren Bedeu- tungen gespielt. Doch bei genauerer Lektüre wird man feststellen, daß diese kurzen Texte, meist von einer halben Seite, in sich kohärent gebaut sind; sie deuten nur nicht mehr auf eine allen erkennbare Realität. In den ersten Zeilen des Prosagedichtes Mystique (Mystik) entsteht eine fremdar- tige Welt vor den Augen des Lesers, der allenfalls diese Sätze auf ein Kriegser- lebnis zurückführen mag; doch Rimbaud hat den Krieg nicht aus nächster Nähe erlebt:

”Auf der Schräge des Hügels drehen die Engel ihre wollenen Kleider in den Halmen aus Smaragd und Stahl. Lodernde Wiesen züngeln zur Kuppe hinauf. Alles Menschenmorden und alle Schlachten haben die faulige Erde des Grates zur Linken zerwühlt, und alle Schreckensgetöse ziehn ihre Kurven. Hinter dem Grat zur Rechten die Linie der Sonnenaufgänge, der Fortschritte.” (Übersetzung: Jeanne Mammen)

Der Ethno-Poet und Romancier Victor Segalen (1878-1919; siehe unten) - auch er gehörte zu den frühen Bewunderern Rimbauds - schrieb zu diesem Gedicht: »Versuchen wir nicht zu verstehen. Verstehen ist in der Kunst zumeist ein kin- disches und naives Spiel, Eingeständnis einer gebremsten Sensibilität...« Vielleicht sollten auch wir das beherzigen und diese Texte nur auf uns wirken lassen, was immer auch die Literaturwissenschaftler dazu sagen mögen. Rimbaud jedenfalls war sich der Schwierigkeit seiner Werke bewußt: »J’ai seul la clef de cette parade«, schreibt er: Ich allein habe den Schlüssel zu dieser Parade. Glaubte er, mit seinem Bemühen gescheitert zu sein? Man hat dies jedenfalls angenommen, um zu erklären, warum er kurz danach, im Alter von gerade achtzehn Jahren, der Dichtung für immer den Rücken kehrte. Er vagabundierte einige Jahre durch Europa, landete als Steinbruchaufseher auf Zypern und schließlich in Ostafrika, wo er, mit Stützpunkten in Djibouti und Harrar, Handel trieb. Aber auch hierbei war er glücklos. Während er in seiner Heimat nach und nach zum Heiligen stilisiert wurde, verdiente er oft nicht genug, um einigermaßen sorgenfrei leben zu können. Vielleicht auf Grund einer allgemeinen Auszehrung wurde er krank und mußte nach Marseille ins Krankenhaus gebracht werden, wo man ihm ein Bein abnahm. Dann trat er seine letzte Reise an. Rimbaud hat mit seiner Dichtung die gesamte Moderne nach ihm beeinflußt, von den Expressionisten bis zu den amerikanischen Beat-Lyrikern, und heute liest man seine Verse in Pariser und Berliner Punk-Kneipen. Für sie alle war und ist er der Dichter par excellence, der sich von allen Bindungen befreit, im Leben wie in der Dichtung. Stefan Zweig schrieb über ihn: »Sein Atem ging so heiß, daß das Wachs unter seinen Händen schmolz, statt sich der Form anzupassen. Die Literatur, die Kunst waren zu schwach, um das Unaussprechliche ganz sagen zu lassen. Und so warf er sie weg, mit achtzehn Jahren.« Vieles ist sicher ‘nur’ Mythos, doch davon lebt die Kunst. Und in der neueren französischen Literatur taucht er immer wieder auf, so z. B. in den hier vorgestellten Romanen von Le Clézio, Maxence Firmine und Jean Rouaud und in Alain Borers Buch Un sieur Rimbaud se disant négociant (Paris 1983).

Die zitierten Übersetzungen von K. L. Ammer und Jeanne Mammen stammen aus: Arthur Rimbaud, Gedichte. Ffm. 1964, Arthur Rimbaud, Illuminationen. Ffm. 1967. Die nicht namentlich gezeichneten Übersetzungen stammen vom Verfasser.

Träume, Krisen, Scheitern

Die Reisen des Arthur Rimbaud

Der ”Mythos Rimbaud” beschäftigt nun schon hundert Jahre die Literaten und Literaturwissenschaftler, ja schon mehr als hundert Jahre, denn nach Rimbauds Verschwinden aus der Pariser Welt der Dichter und Bohemiens fing man schon an zu rätseln, warum er der Dichtung so endgültig den Rücken gekehrt hat. In kurzer Zeit, im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, schrieb Rimbaud sein Werk, mit dem, wie viele mit gewissem Recht meinen, die moderne Literatur ihren Anfang nahm. Viele Rätsel gibt sein Leben auf, das man im allgemein in zwei Abschnitte teilt: die kurzen Jahre der Poesie und die langen Jahre des Vagabundier- ens durch die halbe Welt. Claude Jeancolas sieht das anders, für ihn ist Rimbauds gesamtes Leben vom Reisen und Herumtreiben bestimmt. Es beginnt mit den zahlreichen Fluchten in der Kindheit und Jugend, die bürgerliche Enge in der kleinen Stadt Charleville ist dem ”Magier und Seher”, wie er sich selber nennt, schon früh verhaßt. Er geht nach Paris, und damit beginnt der zweite Teil seines Lebens: unstete Jahre in der großen Metropole und Ausbrüche nach Brüssel und London, meist in Begleitung von Paul Verlaine, einem anderen ”poète maudit”; in dieser Zeit entstehen seine Dichtungen. Dann der dritte Teil: Rimbaud vagabundiert durch ganz Europa; Stuttgart, Wien, München, Mailand, Zypern sind die wichtig- sten Stationen, aber immer wieder kehrt er nach Hause zurück, um sich von seinen Strapazen zu erholen. Und schließlich der endgültige Aufbruch, die Flucht aus Europa, zuerst als holländischer Kolonialsoldat nach Batavia, dann als Kaufmann nach Ostafrika, wo er nach vielen mühsamen Jahren an Krebs erkrankt und sich zur Operation nach Marseille schaffen läßt. Noch auf dem Sterbebett phantasiert er von einem erneuten Aufbruch.

Claude Jeancolas ist auf minutiöse Weise diesen Fahrten nachgegangen, er hat Werk und Briefe studiert und auf dieser Grundlage vielleicht die genaueste Bi- ographie Rimbauds geschrieben. Er weiß, daß er dem ”Mythos Rimbaud” nicht entkommen kann: ”Rimbaud nimmt einen herausragenden Platz in der Mythologie der modernen Welt ein, weil er auf ähnliche Weise fasziniert wie Faust, Prome- theus oder Ikarus. Er verkörpert die Träume und Sehnsüchte der Menschen weit über die Jugend hinaus.” (S. 15) So darf man sich nicht wundern, wenn Jeancolas gelegentlich dem Zauber des Mythos erliegt. Jeancolas weiß dies, aber er kann es sich erlauben, auch dem Mythos seinen Raum zu lassen, denn sein Buch ist weit mehr als eine Biographie aus trockenen Worten, es ist zugleich ein hervorragender Fotoband, der die Welt Rimbauds, die Welt des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts vor unseren Augen entstehen läßt. Jeanco- las hat zu allen Stationen des Dichters zeitgenössische Fotos zusammengesucht, anonyme Fotos und viele von frühen Meistern der Fotographie wie Maxime Du Camp, Robert Howlett oder Félix Nadar. Fotorealismus einerseits, der dem Rätsel Rimbaud einen authentischen Hintergrund gibt, doch anderseits bieten auch diese Fotos mythische Aspekte: Die gute, alte Welt, die Kraft des industriellen Zeitalters, der Zauber des Orients – das sind nur einige Schlagworte, mit denen man diese Dokumente betiteln könnte. Die Effekte der Schwarzweißfotografie tun ihr übri- gens. So ist ein Buch entstanden, das den Verehrern Rimbauds und den Freunden der frühen Fotografie gleichermaßen gefallen wird.

Claude Jeancolas: Die Reisen des Arthur Rimbaud. Aus dem Französischen von Antje pehnt. Metamorphosis Verlag, 1992. 320 S.

Das Geheimnisvolle der Dichtung

Arthur Rimbaud aus der Sicht von Victor Segalen und Jean Paulhan

Der ‘Mythos Rimbaud‘ beschäftigt nun schon hundert Jahre die Literaten und Literaturwissenschaftler, ja schon mehr als hundert Jahre, denn nach Rimbauds Verschwinden aus der Pariser Welt der Dichter und Bohemiens fing man schon an zu rätseln, warum er der Dichtung so endgültig den Rücken gekehrt hat. Diese Frage wird auch hier nicht beantwortet werden können, es sollen hier nur zwei Autoren zu Wort kommen, Victor Segalen und Jean Paulhan, deren Sicht Rimbauds bisher wenig berücksichtigt wurde. Zunächst Victor Segalen (1878-1919), der sich schon früh Gedanken um das Rätsel Rimbaud gemacht hat, der in Djibouti nach den Spuren Rimbaud geforscht hat; er selbst hat erst in den letzten Jahren als ‘Ethno-Poet‘ Beachtung gefunden. Auf der Rückkehr von seiner ersten großen Reise in die Südsee (1902-1905) machte Segalen auch Station in Djibouti, um Zeugen für die letzten Jahre Rimbauds in Afrika zu finden. Das Ergebnis war enttäuschend, in seiner Hommage an den französischen Dichter Saint-Pol-Roux vom 4. Februar 1909 faßte er es folgender- maßen zusammen (anläßlich eines Banketts wendet er sich hier auch an die anwe- senden Dichter und Zeitgenossen Rimbauds):

A Djibouti [...] il m’a été donné de suivre les dernières traces d’un admirable vagabond dont la vie fut une fuite constante, une fuite éperdue et douloureuse; - et c’est Arthur Rimbaud. Vous en aviez connu les premiers efforts et tous, soit d’admiration, soit de colère, vous avez été touchés par lui. Vous en avez appris la fin stérile et désolée par ces lettres d’Abyssinie, où les grands désirs du départ de sa vie se changent perpé- tuellement en regrets ... et enfin, cette agonie de tant de mois tournée encore vers de nouvelles en-allées ... – Mais vous en ignorez toute la tristesse. La voici: dans cette terre de brousse et de soleil, dans cette lumière de triomphe ou de rage, Arthur Rimbaud, l’un des vôtres, n’a laissé que le souvenir d’un bon commerçant.

Hier finden wir bereits das Gegensatzpaar, das seitdem immer wieder aufgetaucht ist, wenn von Rimbaud die Rede war: einerseits der bewundernswürdige Dichter und Vagabund, andererseits der Händler, der von seiner Existenz als Dichter nichts mehr wissen will. Das Schicksal Rimbauds hat Segalen nicht mehr in Ruhe gelas- sen. Noch im Dezember 1904, in Djibouti, beginnt er mit der Niederschrift eines Essays, der eineinhalb Jahre später, am 15. April 1906, unter dem Titel Le double Rimbaud im Mercure de France erschienen ist. Gleich zu Beginn formuliert Segalen den anscheinend unlösbaren Widerspruch im Leben Rimbauds:

On sait comment Arthur Rimbaud, poète irrécusable entre sa quinzième et sa dix- neuvième année, se tut brusquement en pleine verve, courut le monde, fit du négoce et de l’exploration, se refusa de loin à ce renom d’artiste qui le sollicitait, et mourut à trente-sept ans aprés d’énormes labeurs inutiles. Cette vie de Rimbaud, l’incohérence éclate, semble-t-il, entre ses deux états.

Um diesen Widerspruch zwischen Dichter und Vagabund zu lösen, greift Segalen zurück auf den ”Bovarysme”, eine Theorie des damals bekannten Philosophen Jules de Gaultier (er war im übrigen einer der ersten, der in Frankreich das Werk Nietzsches bekannt gemacht hat). Segalen erläutert:

Le Bovarysme [...] est le «pouvoir départi à l’homme se concevoir autre qu’il n’est». L’héroïne de Flaubert nous donne, de ce pouvoir de méprise, un exemple complet et tragique.

Hiermit glaubt sich Segalen in der Lage, den ”mécanisme du silence de Rimbaud” erklären zu können: Rimbaud hat in den Augen Segalens nicht erkannt, daß seine wahre Bestimmung die eines Dichters gewesen ist. Er sah sich als Vagabund und hoffte, auf diesem Wege – ”désireux de tout sentir, de tout voir” – die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln. Vielleicht war dies einer der ersten Bausteine zum ‘Mythos Rimbaud‘, schon Segalen war weniger an den Fakten, mehr am Mythos interessiert. Und er ging weiter, hin zu einer allgemeinen Auffassung von Dichtung, wie sie vielfach auf ähnliche Weise später im 20. Jahrhundert formuliert worden ist. In Le double Rimbaud zitiert er Rimbauds Prosagedicht Mystique und meint dazu:

Ne cherchons pas à comprendre. Comprendre est le plus souvent en art un jeu puéril et naïf, l’aveu d’une sensibilité ralentie, la revanche intellectuelle du specta- teur affligé d’anesthésie artistique.

Dies trifft sich mit Segalens Auffassung vom Exotismus. In seinem nicht vollende- ten, erst lange nach seinem Tod veröffentlichten Essai sur l’Exotisme heißt es an einer Stelle:

L’Exotisme n’est donc pas une adaptation; n’est donc pas la compréhension parfaite d’un hors soi-même qu’on étreindrait en soi, mais la perception aiguë et immédiate d’une incompréhensibilité éternelle.

Im Mittelpunkt steht also das Nicht-Verstehen: Wir können die anderen (‘L’autrui, les exo-tes‘) nicht gänzlich verstehen, ebenso wie wir die Dichtung nicht bis ins Letzte verstehen können. Daß hier für Segalen Vergleichbares vorliegt, ergibt sich aus einem Brief an seinen Freund Max Prat vom 23. Dezember 1908, in dem es heißt: ”L’incompréhension même des hommes vers Orphée n’est qu’un moment d’exotisme éternel” Und Orpheus steht hier für den Dichter. Für Segalen hat dies aber nichts Negatives: Wahre Dichtung ist letztlich unverständlich, es bleibt in ihr etwas Geheimnisvolles. Dem Geheimnisvollen wollte Segalen einen weiteren Essay widmen, den er aber auch nicht vollenden konnte, und der erst lange nach seinem Tod erschienen ist: den Essai sur le Mystérieux. Vereinfachend gesagt, geht Segalen davon aus, daß ‘es in einer homogenen Welt nichts Geheimnisvolles mehr gibt‘, daß der Mensch aber das Geheimnisvolle brauche, um existieren zu können, und daß er es in der Begeg- nung mit dem Fremden und mit der Dichtung finden könne. Folglich ist im Essai sur le Mystérieux vielfach von Dichtern die Rede, von Maurice Scève, Victor Hugo, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und einigen anderen und eben auch von Rimbaud:

Une transition solide entre le Mystérieux de l’Enfant et le Mystérieux de l’homme mûr se trouve dans l’oeuvre de Rimbaud, - dont le Mystérieux devenu incom- préhensible pour l’enfant a cependant de profondes et d’exclusives racines enfan- tines. (L’alphabet coloré correspondant exactement au sonnet des Voyelles. Autre raison: tout Rimbaud fut, avant quize ans.)

Hier findet sich implizit die schon von den Romantikern vertretene Auffassung, daß man erst wieder Kind werden müsse, um Dichter zu sein. Wichtiger für Segalen ist allerdings die Kategorie des Geheimnisvollen, des Unverständlichen, die zu einer grundlegenden Kategorie seiner Poetik geworden ist. Segalens Werk ist lange Jahre, wenn überhaupt, nur am Rande rezipiert worden, erstaunlich ist jedoch, daß sich die Kategorie des Geheimnisvollen (oder des Wunderbaren, des Magischen) sich ähnlich in den theoretischen Überlegungen von Dichtern und Künstlern des 20. Jahrhunderts wiederfindet. Die Surrealisten waren auf der Suche nach dem Merveilleux, aber auch ein eher nüchterner Schriftsteller wie Jean Paulhan (1884-1968), der als langjähriger Chefredakteur der Nouvelle Revue Française den Avantgardisten eher kritisch gegenüberstand, hat zeit seines Lebens immer wieder ähnliche Gedanken geäußert. In seiner poetologischen Schrift Clef de la poésie (1944) ist er ganz deutlich. Für ihn besteht die Dichtung zum einen aus klaren, nachvollziehbaren Gesetzen und Regeln, zum anderen aus einem ‘Geheimnis‘, das sich letztlich nicht lösen läßt:

Ce trait de la poésie est celui que l’on appelle son mystère ou son secret. Tantôt le critique avoue ce mystère, et marque loyalement le point où ses analyses cessent d’être valables, et ses lois se trouvent en défaut. Tantôt il le trahit malgré lui, et la meilleure preuve du mystère devient l’abitraire ou la vanité des règles qu’il nous propose.

Rimbaud war in den Augen Paulhans für diese Feststellung ein gutes Beispiel, Paulhan widmete ihm viele Jahre später (1965) einen kurzen Artikel, in dem es heißt: ”Plus on avance dans la lecture de Rimbaud et plus il devient difficile de le tolérer, plus il semble impossible à suivre.”

Der Leser kann nicht mehr folgen, die Texte werden unverständlich (”incon- cevable”), aber dieses Element ist für Paulhan ein lebensnotwendiges Element der Dichtung:

Je supposerai [...] que la poésie française – et peut-être toute poésie – ait été longtemps privée de cet élément démoniaque (mais nécessaire à sa respiration) que Rimbaud lui apportait généreusement.

Paulhan stand dem nicht unkritisch gegenüber, er tendierte zur Klarheit. Nicht ohne Ironie schrieb er an anderer Stelle: ”Et ce n’est pas sans solides raisons que nous avons fait un saint de Rimbaud [...]”. Aber er konnte das Geheimnisvolle, Unver- ständliche, Obskure, Dämonische nicht leugnen und hat es als ein für die Dichtung lebensnotwendiges Element anerkannt. Dies ist kein Freibrief für Geheimniskrämerei; viele haben absichtlich dunkel geschrieben, um als Dichter anerkannt zu werden. Andererseits waren die Dichter oft die Exoten ihrer Gesellschaft, und sie sind es heute, in Zeiten einer leicht konsumierbaren Freizeit- und Spaßkultur, in besonderem Maße. Vielleicht sollte man auch hier das Exotische akzeptieren, ohne es bis in den letzten Winkel verste- hen und interpretieren zu wollen.

Erstmals erschienen in Französisch heute. Heft 2, 1992. S. 103 – 106. Clownesk und tragisch

Jean Rouaud erzählt aus seiner Jugend

Kurz vor Heines 200. Geburtstag sei zu Beginn ein Zitat erlaubt: ”Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passiert, dem bricht das Herz entzwei.” Eine solche Liebesgeschichte, wie sie viele erlebt haben, gehört für mich zum Anrührendsten in Jean Rouauds neuem autobiographischen Roman Die ungefähre Welt. Das Mädchen mit dem seltsamen Spitznamen Théo verläßt den Helden gleich nach der ersten Nacht, weil sie einen andern liebt. Der unbeholfene, kurzsichtige Jean hat wieder einmal Pech gehabt und damit Anlaß genug, sich selbst zu bedauern. Von Kindheit an hatte er sich wegen seiner Kurzsichtigkeit, wegen der billigen Brillen, die er tragen mußte, benachteiligt gefühlt, hatte seinen großen Kameraden Gyf bewundert, der aus gutbürgerlichen Verhältnissen kam, dem alles leicht fiel, der den gemeinsamen Lehrern im Internat ein Schrecken war. Rouaud erzählt aus seinem Leben, herrlich clowneske Begebenheiten und tragische Ereignisse, von der Zeit im Internat bis zu den wilden Studententagen, doch sein Erzähler-Ich ist ein anderer, dem er als erwachsener Autor fast schüchtern gegenüber steht.

Es ist eine alte Geschichte, das Erwachsenwerden, die damit verbundenen Ängste, die Fallen, die man sich selber stellt, die falschen Wege, die man einschlägt, die falschen Lehrer, denen man zu naiv vertraut. Rouaud läßt Jean erzählen, fast plaudern, die Leser werden mit einbezogen, denken dabei an ihre eigene Kindheit und Jugend und sagen sich vielleicht: Ja, so ähnlich habe ich das alles auch erlebt. Ein paar Kleinigkeiten sind allerdings nur aus dem französischen Zusammenhang heraus zu verstehen, Details, deren Witz dem deutschen Leser verloren geht. Wenn zum Beispiel den Internatszöglingen die Dreifaltigkeit erklärt wird und der freche Gyf herausposaunt: ”Die reinste Dreierwette!” Dann ist damit das Tiercé gemeint, die Pferdewette, die sich in Frankreich großer Beliebtheit erfreut, bei der auf die ersten drei Pferde gesetzt wird; und der französische Leser sieht Gottvater, den Sohn und den Heiligen Geist nacheinander durchs Ziel galoppieren. Das höchst unanständige Lied von den Mädels aus Camaret, den ”Filles de Camaret”, kennt fast jeder in Frankreich; wenn Rouaud es nennt, wissen die Franzosen, welche derben Schlüpfrigkeiten er meint.

Doch sonst können wir ihm gut folgen, dem Helden Jean, der ohne Brille die ihn umgebende Welt nur ungefähr erkennen kann. Auch ein schönes Bild für seine Unsicherheit, sein Herumtappen im Leben. Wir verstehen seine hochtrabenden Pläne, mit seinem geplanten Roman über den Dichter Jean-Arthur Rimbaud einmal als großer Schriftsteller bekannt zu werden, wir verstehen sein Scheitern. Ähnliche Wunschträume hatten wir alle einmal gehabt, wenn wir nicht von frühester Jugend an die Beamtenlaufbahn anstrebten, ähnlich sind wir dabei fast alle gescheitert. Der Roman ist voller kurioser Begebenheiten, die man mit Schmunzeln registriert. Höhepunkt ist wohl Gyfs Kurzfilm Festakt für Großmutter, zu dem der Erzähler die Musik beisteuern soll. Die Zuschauer sehen in diesem Film nur Großmutters altes Bett, das auf ihrem Acker steht, und Gyf, der darauf sich mit seiner Freundin der Liebe hingibt. Bei der ersten Probevorführung kommt es allerdings zu einer Katastrophe für den jungen Filmemacher... Nach seinen beiden ersten Romanen, in denen er die Geschichte seines Vaters und seiner Familie erzählt, ist Rouaud nun bei sich selber angekommen. Ein angenehm leicht dahingeplauderter Roman mit viel Witz und Tiefgang ist entstanden. Man darf gespannt sein, wie es weitergehen wird.

Jean Rouaud: Die ungefähre Welt. Roman. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn. München 1997. Piper-Verlag.

Der Dichter ist radioaktiv

Anmerkungen zu Saint-Pol-Roux (1861 – 1940)

Man könnte es sich leicht machen, und Saint-Pol-Roux als einen Vorläufer der Surrealisten bezeichnen. Auch ich habe dies so gesehen, denn die Beweise dafür sind leicht zu finden: André Breton zählt ihn neben Baudelaire, Rimbaud und einigen anderen im Ersten surrealistischen Manifest zu den Surrealisten avant la lettre: ”Saint-Pol-Roux ist surrealistisch im Symbol”. Später widmete er ihm seinen Gedichtband Clair de terre mit den Worten: ”Dem großen Dichter Saint-Pol-Roux, denjenigen, die wie er sich das wunderbare Vergnügen gönnen, sich vergessen zu lassen”. Am 9. Mai 1925 erschien in den Nouvelles Littéraires eine ganze Seite mit Texten der Surrealisten zu Ehren des damals schon über sechzigjährigen Dichters. Im Juni reist er selbst auf Einladung der Surrealsiten nach Paris, um vor ihnen und Pariser Studenten einen Vortrag über den Schatz des Menschen, die Ein- bildungskraft, zu halten. Auf dem anschließenden Bankett in der Closerie des Lilas kommt es zu einer Schlägerei zwischen den Surrealisten und anderen etablierten Literaten um Rachilde, die damals wortführende Mitherausgeberin des Mercure de France, deren nationalistische, deutschfeindliche Töne die jungen Avantgardisten, die einen Max Ernst in ihren Reihen hatten, in Rage brachten. All dies ist damals schon Walter Benjamin nicht entgangen, er erwähnt Saint-Pol-Roux und dieses Bankett in seinem 1929 erschienenen Essay über den Sürrealismus. Dort findet man auch die Anekdote, die Breton zuerst erzählt wenn nicht gar erfunden hat: Saint-Pol-Roux hänge immer, wenn er schlafe, ein Schild mit den Worten «Der Dichter arbeitet» vor die Tür. Hier kommen wir zu den Ursprüngen für die Bewunderung Saint-Pol-Roux‘ von seiten der Surrealisten: die Elemente des Traums hat schon er für die Dichtung entdeckt. Am meisten war es wohl Saint-Pol- Roux‘ Lebensweise, die den Surrealisten imponierte: sich ganz zurückziehen, in einem selbst erbauten, phantastischen Schlößchen am Ende der Welt in der Bretagne leben, um dort eine unio mystica mit dem Universum zu suchen – so war er für die Surrealisten der Dichter par excellence. Und es wundert nicht, daß sie einen seiner Aphorismen, die er 1894 in der Revue Blanche veröffentlicht hat, in ihrer Hommage à Saint-Pol-Roux in den Nouvelles Littéraires zitieren: ”Vor den Menschen fliehen, um sich besser der Menschheit nähern zu können; sich der Natur nähern, um – mit wachsender Vertrautheit – vor ihr zu fliehen; dann, zwischen dieser Flucht und dieser Annäherung, sich verwurzeln, sich im Zentrum einnisten, wie in einem Schnittpunkt, durch eine Über-Schöpfung, die aus einem selbst entspringt, in einem Vergessen, das sich manchmal erinnert”. Das gefiel den Surrealisten, das war echte Poetenhaltung, die den unbewußten Kräften der Ein- bildungskraft freien Lauf zu lassen schien. Doch Saint-Pol-Roux hat mehr zu bieten, was schon deutlich wird, wenn man sein fast achtzigjähriges Leben Revue passieren läßt, die Stationen seiner Prozession, wie man nach dem Titel seiner dreibändigen Sammlung von Prosastücken for- mulieren könnte. 1861 wurde er als Sohn eines Ziegelfabrikanten in Saint-Henry bei Marseille als Paul Pierre Roux geboren. Er wird diese nach ‘Thymian, Lavendel und Rosmarin duftende‘ Provence sein Leben lang nicht vergessen, außerdem wird ihm ein bescheidenes Erbe gelegentlich dabei helfen, sein unabhängiges Dichterle- ben zu führen. Schon in jungen Jahren fängt er an zu dichten, so ist zum Beispiel der Theaterzettel eines fünfaktigen Dramas mit dem Titel Raphaelo le Pèlerin (Raphaelo, der Pilger) erhalten geblieben, es wurde am 4. April 1880 von seinen Mitschülern in einem Jesuitenkolleg in Lyon aufgeführt. Es ist also nicht verwun- derlich, daß die Absicht, Jura zu studieren, nur Vorwand ist, um nach Paris zu gehen (1882). Hier taucht er sofort ein in das pulsierende literarische Leben der symbolistischen Gruppen und Einzelgänger, die sich mit Manifesten und Pam- phleten bekriegen; so sehr, daß Saint-Pol-Roux in seinem Manifest La trêve (Die Waffenruhe. Oktober 1891) die Kontrahenten zur Versöhnung aufruft. Kurze Zeit ist er Mitglied des Künstler-Rosenkreuzerordens um den Sâr Joséphin Péladan, bei einem Bankett nennt ihn Malarmé ‘seinen Sohn‘, mit Maurice Maeterlinck und anderen Dichtern gründet er die kurzlebige Zeitschrift La Pléiade (1886), aus der 1890 der Mercure de France entsteht. Saint-Pol-Roux debütiert mit ausgefeilten, langen Gedichten (Seul et la flamme, Lazare, Golgotha ...), die formal noch ganz in der Tradition des Parnasse stehen, doch der Höhepunkt dieser zweiten Station seines Lebens ist das Manifest Le Magnificisme, das er für Jules Hurets Umfrage zur modernen Literatur (1891) geschrieben hat. Voller Stolz und wie ein selbstherrlicher Dichterfürst (als Saint- Pol-Roux-le-Magnifique, wie er sich nennt) verkündet er: ”Die Herrlichen, Argo- nauten der Schönheit, werden das Göttliche Vlies im Kolchis der Wahrheit finden”. Dieses Manifest ist das erste einer großen Anzahl von Manifesten und Deklara- tionen, programmatischen Vorworten und Verlautbarungen, mit denen er wie ein Baum, der die Zahl seiner Jahresringe immer weiter vergrößert, seine vom Sym- bolismus ausgehende Poetik, seinen Ideorealismus, wie er sie nennt, nach und nach aufbaut. Man könnte ihm Eklektizismus vorwerfen, und tatsächlich beruft er sich auf Platon, Plotin, Goethe, Hegel, Schopenhauer, auf die großen und kleinen Denker des Idealismus seit der Antike, aber auch auf die Illuminaten des 18. Jahrhunderts und auf die Lehren eines pantheistischen Christentums. Er ist auf der Suche nach den Ideen: nach den einzelnen Ideen, die den Dingen und Lebewesen innewohnen, aber auch nach der universellen Idee, die man wie er ‘Gott‘, aber auch Weltgeist nennen könnte. In den Jahren zwischen 1890 und 1907 schreibt er an seinen beiden großen Haupt- werken, die er zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Zum einen sind es die in drei Bänden erschienenen Reposoirs de la procession (Die Ruhaltäre oder Stationen der Prozession), zum anderen das monumentale Drama La Dame à la faulx (Die Dame mit der Sense). Leben konnte er von all dem nicht, eher schon von seiner Arbeit als Ghostwriter; so hat er zum Beispiel für den Komponisten Gustave Charpentier das Libretto der Oper Louise (1900) geschrieben. Die Reposoirs (1893; 1901, 1904, 1907) hat er selbst als eine Art Roman bezeichnet, es sind Prosastücke, ein bis fünfzehn Seiten lang, die durchaus autobiographisch gelesen werden können. Er beschreibt die Stationen seines äußeren und inneren Lebens, seine Erlebnisse als selbstbewußter aber auch mißachteter Dichter und die Entwicklung seiner barocken Poetik. Formal könnte man sie als Prosagedichte bezeichnen, die den denen Baudelaires und Rimbauds verpflichtet sind, doch sie sind durchsetzt mit vielfältigen Elementen anderer Kurzgattungen: Märchen, Mythos, Legende, Gebet, Litanei und anderen. Er versucht, die Ideen der Dinge und Lebewesen heraufzubeschwören und benutzt dazu Bilder und Metaphern, wegen der ihn seine Zeitgenossen bewunderten. Einen Meister der Bilder und Metaphern nannte ihn Remy de Gourmont 1896 in seinem Buch der Masken; wie Lautréamont (Regen- schirm und Nähmaschine auf dem Seziertisch) verbindet er weit auseinanderlieg- ende Dinge, was den Surrealisten wiederum sehr gut gefallen mußte. 1899 erscheint die bereits 1896 abgeschlossene erste Fassung der Dame à la faulx, ein Drama, das man heute, ähnlich wie Tankred Dorsts Merlin, aufführen könnte. Es ist ein allegorisches Menschheitsdrama wie viele Dramen des Symbolismus: ein Held vor mittelalterlicher Kulisse auf der Suche nach einen unerreichbaren Ideal. Wagners Einfluß ist spürbar, und in der Tat könnte man Saint-Pol-Roux mit diesem Stück als Vertreter eines dekadenten Wagnerismus bezeichnen, den Erwin Koppen in seiner so betitelten Monographie analysiert hat. Es ist der Versuch, Leben und Tod zu vereinbaren: dem Ritter Magnus begegnet der Tod (la mort – die Tödin) in Gestalt einer verführerischen femme fatale. Nun ist es an ihm, dieser Versuchung zu widerstehen und seiner Verlobten, der reinen Divine, die das Leben repräsen- tiert, treu zu bleiben. Es ist jedoch kein Dreipersonenstück, achtzehn namentlich benannte Personen treten auf, in verschiedenen Gruppen und Chören wird die gesamte Menschheit auf die Bühne gebracht. Die Comédie Française war interess- iert, Saint-Pol-Roux hat für sie das Stück mehrfach überarbeitet und hätte gerne Sarah Bernhardt, die von dem Stück begeistert war, als Darstellerin der Titelrolle gesehen; doch zu einer Aufführung ist es bis heute nicht gekommen. Im Gegenteil: einige tonangebende Kritiker reagieren voller Hohn und Spott auf die Buchausgabe, wie sie meist auch seine anderen Veröffentlichungen behandelten. Saint-Pol-Roux antwortet empört, zieht sich jedoch immer mehr in die Rolle des verkannten Dichters zurück, beziehungsweise errichtet um sich eine Legende vom einsamen Dichter. Er flieht vor den Menschen, zuerst nach Belgien in die Ardennen (1895), später in den äußersten Zipfel der Bretagne, auf die Halbinsel Crozon, wo er sich dann 1905 endgültig in Camaret, in einem nach eigenen Plänen erbauten Phantasieschloß hoch über dem Atlantik für die zweite Hälfte seines Lebens niederläßt. Junge Dichter besuchen ihn, Victor Segalen und André Breton und andere, er fährt gelegentlich nach Paris, so 1925 zu den Surrealisten oder 1932, um die schon von Apollinaire angeregte Ernennung zum Richter der Ehrenlegion entgegenzunehmen, doch ansonsten wird die Bretagne zu seiner wirklichen und mystischen Heimat. 1933 befragte die Zeitschrift Minotaure eine Reihe von Schriftstellern und Kün- stlern nach der entscheidenden Begegnung ihres Lebens. Für Saint-Pol-Roux war dies die Begegnung mit der Bretagne, dort, so schreibt er in seiner Antwort, sei er in die Mystik der Elemente und des Geistes getreten. Eine solche unio mystica von Welt und Geist ist nun für über dreißig Jahre sein Thema: er schreibt an einer Répoétique (einer Res poetica), seinem programmatischen Hauptwerk, in dem alle seine bisherigen poetologischen Überlegungen zum Ideorealismus aber auch Überlegungen, die ihm die moderne Technik, der Film und der Rundfunk, ein- gaben, zusammenfinden sollten. ‘Der Dichter ist radioaktiv‘, schreibt er, und wir müssen für einen Augenblick die Bedrohung, die für uns heute in diesem Satz liegt, vergessen, um Saint-Pol-Roux zu verstehen: der Dichter, der Künstler, muß wie die radioaktive Strahlung die ganze Welt erfassen, durchdringen und darstellen, von den kleinsten Teilen des Atoms bis zur weit entfernten Heavisidenschicht; vielleicht nur eine metaphorische Ausdrucksweise, vielleicht die Tendenz zu einem absoluten Gesamtkunstwerk, an dem buchstäblich alle Medien und Sin- neswahrnehmungen beteiligt sein sollen. Alle Texte, die Saint-Pol-Roux bis zu seinem Tod noch in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat und die, aus dieser Zeit stammend, in seinem Nachlaß gefunden wurden, sind Entwürfe aus dieser großen Poetik oder sind ihr zuzuordnen; mit Ausnahme des Gedichts La Supplique du Christ (Christi Bittschrift), das er Einstein gewidmet und mit dem er gegen die beginnende Verfolgung der Juden in Deutschland protestiert hat (Mer- cure de France, 1. 11. 1933). Es ist, als hätte er damit sein tragisches Ende heraufbeschworen: in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1940 überfällt ein deutscher Soldat sein Haus, tötet die Haushälterin, vergewaltigt die Tochter. Der fast achtzigjährige Dichter überlebt diese Tragödie nicht lange, er stirbt am 18. Oktober in Brest. Deutsche Soldaten plündern seinen Manoir, 1944 zerstören ihn bei der Belagerung von Brest die Bomben der Allierten. Noch heute, 50 Jahre nach seinem Tod, stehen die Ruinen, niemand hat das Geld, um hier eine Gedenkstätte zu errichten. Man sollte nun nicht Saint-Pol-Roux, wie bereits geschehen, als einen Propheten er Postmoderne ausrufen, obwohl die Versuchung groß ist, in ihm den ersten Vertreter eines Anything goes zu sehen. Man darf nicht vergessen, daß Saint-Pol-Roux zwar in allen Dingen und Formen des Lebens die Ideen der Schönheit versteckt sah, daß er sie aber alle auf eine Einheit, auf eine universelle Grundidee zurückgeführt hat. Gleichwohl liegt die fragmentarische Schreibweise, die wir insbesondere in seinem Spätwerk finden, sehr nahe den Schreibweisen eines Cioran, eines Roland Barthes, eines Jean Baudrillard oder auch eines Ludwig Hohl, um vier ganz unterschiedliche Schreiber von heute zu nennen. Man muß berücksichtigen, daß Saint-Pol-Roux auch in der äußeren Form seines Spätwerks eine Einheit anstrebte, und daß es wohl in einer ganz anderen Form vorliegen würde, wenn er es hätte vollenden können.

Erstmals erschienen in Akzente 2 / 1991.

Saint-Pol-Roux: Werkausgabe. Hg. von Joachim Schultz und Rolf A. Burkart. Verlag Rolf A. Burkart. Berlin, später Bad Kreuzznach. 1986ff (bisher 8 Bände). Seine Modernität zeigt sich vor allem in seinem Buch über das Kino: Cinéma vivant (Lebendiges Kino).

Die französische Ausgabe der Werke Saint-Pol-Roux’ ist im Verlag Rougerie (Mortemart) erschienen.

Zum Begriff der Geschwindkeit bei Saint-Pol-Roux

Geschwindigkeit, Tempo, Beschleunigung beschäftigen den Menschen seit jeher, doch mit dem Aufkommen der mechanischen Geschwindigkeit, der Maschi- nengeschwindigkeit, wird dieses Thema zu einem Problem, da man schnell erkennt, daß der Mensch für diese Form der Schnelligkeit womöglich nicht geschaffen sein könnte. Schon bei Heinrich Heine finden wir erste Bedenken, und Nietzsche schreibt in Menschliches, Allzumenschliches (1878): ”Bei der ungeheuren Beschle- unigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen.” Physikalisch gesehen ist Geschwindigkeit eine ganz einfache Sache zu sein, jedes Lexikon bietet die folgende Definition: Geschwindigkeit: bei der Bewegung eines Körpers das Verhältnis (v) der zurückge- legten Wegstrecke (s) zu der hierzu benötigten Zeit (t). Als Formel: v = s / t. Wie und und wo wirkt dies auf den Menschen, auf seinen Körper, sein Geist? Wo liegen die guten Seiten, wo die Gefahren, insbesondere dann, wenn der Mensch zu immer größerer Geschwindigkeit in der Lage ist? Mit diesen und anderen Fragen hat sich der französische Dichter Saint-Pol-Roux (SPR: 1861 – 1940) beschäftigt; genauer: Er wollte diesen Fragen in einem Buch über die Geschwindigkeit nachge- hen, doch dieses Buch, an dem er in den zwanziger und dreißiger Jahren arbeitete, wurde nie vollendet, nur ein Konvolut von Notizen ist entstanden, das aber vielleicht gerade durch diesen fragmentarischen Charakter seinen besonderen Reiz ausübt. Ungewollt liegt hier eine Schreibweise vor, derer sich viele moderne Autoren und Denker bedient haben. Doch zunächst: Wer war SPR? Bekannt ist er wohl den meisten durch die (vielleicht erfundene) Anekdote, die André Breton in seinem ersten Surrealis- tischen Manifest erzählt: Immer wenn SPR schlafen ging, hängte er ein Schild an seine Tür mit den Worten: DER DICHTER ARBEITET. SPR gehört zu den, auch in diesem Manifest aufgelisteten, verehrten Vorläufern des Surrealismus, doch seine dichterische Laufbahn begann Ende des 19. Jahrhunderts, als die vielen symbolis- tischen Schulen und Grüppchen das literarische Paris in Aufregung versetzen. Bekannt wurde er, wenn auch nur im kleinen Kreis, mit seinen Prosagedichten, die er in drei Bänden unter dem Titel Les Reposoirs de la procession (Die Ruhaltäre oder die Stationen der Prozession) veröffentlicht hat. Des weiteren durch sein monumetales Drama La dame à la faulx (Die Dame mit der Sense) über die Macht und die verführerische Schönheit des Todes (frz. ‚la mort‘ – die Tödin), das aber nie aufgeführt wurde, und dem, als es als Buch erschien, nur André Gide Bewun- derung zollte. Verbittert zog sich SPR Anfang des 20. Jahrhunderts nach Camaret in die Bretagne zurück, und hier begann seine zweite Schaffensphase, in der er sich vom Symbolismus abwandte und anfing, sich mit dem modernen Leben zu beschäftigen. Das Kino, das damals noch in den Kinderschuhen steckte, faszinierte ihn... und eben die Geschwindigkeit. Den Anstoß gab vielleicht der Futuristen- führer F. T. Marinetti, den SPR wohl persönlich kannte, zumindet hat er ihm eines seiner Prosagedichte gewidmet. Doch Marinetti, der ab 1909 in seinen Manifesten die Geschwindigkeit und die moderne Technik feierte, war für SPR hierin viel zu eindeutig und einseitig. Während die Futuristen bedingungslos die Zerstörung der alten Welt forderten, sah SPR auch die Gefahren, die Technik und Geschwindigkeit mit sich brachten. ”Geschwindigkeit ist ein Aufschwung hin zu Gott”, schreibt er, doch er fügt hinzu: ”oder zum Teufel”. Und dass die Geschwindigkeit sehr eng mit dem Tod in Verbindug steht, bringt er schon in seinen ersten Notizen zum Aus- druck. Ganz deutlich wird seine Kritik, wenn er notiert: ”Die mechanische Gesch- windigkeit ist nur eine futuristische Kolik in den Gedärmen der Erde.” Gleichwohl war es ihm klar, daß der moderne Mensch wesentlich von der Gesch- windigkeit definiert wird. Sicher wußte er, daß das französische Wort ‚vitesse‘ etymologisch nichts mit ‚vita‘ (Leben) zu tun hat, doch für ihn galt in vielen Bereichen diese Gleichsetzung: (modernes) Leben = Geschwindigkeit. Allerdings führen ihn seine Gedanken von dieser Gleichsetzung zu vielen Verzweigungen, so auch zum Gegensatz zwischen Ruhe und Geschwindigkeit und von dort zur Geschwindigkeit der Gedanken, mit denen man weitaus schneller von einem Ort zum andern gelangen kann. Die Reisen im Kopf waren ihm wichtiger als die der Globetrotter. Es ergibt sich von selbst, daß in diesem Zusammenhang auch vom Reisen die Rede sein muss, von der Unrast des modernen Menschen, von seinem Größenwahn, von seiner Gier, immer schneller, grösser, mächtiger zu werden. Und an anderer Stelle führt seine Ideenbahn zum Film, der mit seinen unzähligen Bildern pro Sekunde eine Metapher der Geschwindigkeit ist. All dem setzt SPR immer wieder die Ruhe gegenüber, oder Formen der Bewegung – wie den Tanz oder den Sport - , die zwar auch mit Ehrgeiz betrieben werden, aber nicht mit dem Hang zur Zerstörung, sondern mit dem Hang zur Schönheit. Das klingt sehr sprunghaft, und man muß davon ausgehen, daß diese Notizen später anders angeordnet worden wären. Doch vielleicht darf man froh sein, daß dies nicht geschehen ist. So haben wir hier ein vielfältiges Konglomerat von Ideen, dass als Fundgrube heutiger Denker gedient haben könnte. Einige Ideen von Paul Virilio scheinen fast wortwörtlich von SPR übernommen worden zu sein. Auch bei Virilio lesen wir, ”daß der Mensch, der eigentlich den ganzen technologischen Wirbel entfesselt hat, letztlich selbst zum Stillstand kommen wird”. Auch er stellt fest, daß der Autofahrer ‚in einem nur noch filmischen Blick die Landschaft vorbeifliegen sieht‘. Bei SPR heißt das knapp: ”Autositz = Kinosessel.” Wie für SPR, der das Phänomen Napoleon durch den Begriff der Geschwindigkeit erklärt, ist auch für Virilio Geschwindigkeit ”ein unabdingbares Moment in der Analyse der Welt- geschichte”. Virilios Essay über die Revolutionen der Geschwindkeit (1991) kann als eine Zusammenfassung und Fortführung der Gedanken SPRs gelesen werden. Wie in seinem Buch über das Lebendige Kino (deutsche Ausgabe 1995) erweist sich SPR auch hier als wichtiger, bisher zu wenig wahrgenommener Vordenker der Postmoderne.

N. B. SPRs Notizen zur Geschwindigkeit sind als weiterer Band der deutschen SPR-Ausgabe vorgesehen, acht Bände liegen bereits vor. Doch die Finanzierung dieses Projekts, das viele positive Stimmen im In- und Ausland gefunden hat, ist zur Zeit nicht gesichert. Anregungen, die zur Fortführung der Werkausgabe führen, werden gerne entgegen genommen.

(Ursprünglich verfaßt für die Basler Zeitung.)

So beginnen Saint-Pol-Roux‘ Aufzeichnungen über die Geschwindigkeit:

”Reisen haben mich nie interessiert. Auf dem Kai von Camaret höre ich das Gerede der alten Matrosen: ”Damals, als ich in China war... Damals in Madagaskar...” Und mit ihren Gesten formen sie märchenhafte ferne Landstriche. Ich aber reise von meiner Düne viel weiter, in eine Welt, die von einer Schläfe zur anderen reicht. Aber ich traue mich nicht, ihnen zu sagen, daß ich von einem neuen Stern komme, so sehr habe ich Angst, daß sie mich, von Backbord nach Steuerbord und von Steuerbord nach Backbord schlingernd, Tabak kauend, in irgendeine Anstalt in Quimper einweisen.”

(Deutsch von J. S. Vitesse erschien erstmals im Verlag Rougerie, Mortemart, 1973.)

Landschafts-Bild und Poetik.

Notizen zu Saint-Pol-Roux‘ Der Ausflug

Die Übersetzung der Texte von Saint-Pol-Roux erweist sich als außerordentlich schwierig. Seine gewagte Metaphorik, seine Wortspiele und seine kühnen Bilder lassen sich nicht leicht in eine andere Sprache übertragen. Wir haben uns einerseits bemüht, möglichst nahe am französischen Original zu bleiben, haben anderseits aber auch versucht, die Wortspiel- und Metapherntechnik des Autors analog im Deutschen wiederzugeben. So haben wir den französischen Titel dieses Buches (La Randonnée) mit Der Ausflug übersetzt, wodurch das für den Text wichtige ‘Fliegen‘ bereits im Titel hervorgehoben wird. Im französischen ”randonneée” findet sich dies zwar nicht, aber an vielen Stellen des Textes werden das Fliegen, der Flug und der Vogel zu Chiffren für die künstlerische Aktivität der Ein- bildungskraft: ”Wenn der Mensch seine Vorstellungskraft verloren hat, wird er sie wiederfinden, sobald er gelernt hat davonzufliegen” (S. 25). Wissenschaft, Kunst und Philosophie fliegen wie Raketen (S. 69) immer neuen Zielen zu. Wie das Fliegen ist auch das Reisen von außerordentlicher metaphorischer Bedeu- tung für Saint-Pol-Roux. Seine Reise von Camaret nach Brest und zurück spiegelt seine Reise ins Innere, in sich selbst – eine Reise, die weitaus abenteuerlicher ist als eine Reise in das fernste Land (S. 72). Es gilt, ”das verborgene Amerika zu ent- decken, dessen Kern sich im Inneren eines jeden bildet” (S. 12).

Bedeutsam ist die Geschwindigkeit, mit der eine solche Reise unternommen wird, wobei Saint-Pol-Roux sehr scharf zwischen einer mechanischen und einer geistigen Geschwindigkeit unterscheidet. Die Geschwindigkeit der Maschinen ist für ihn ein Bild für die des Geistes, obwohl auch er wie viele seiner Zeitgenossen (Marinetti z. B.) begeistert ist von der Schnelligkeit der Autos, Lokomotiven und Flugzeuge. Doch es ist offensichtlich, daß für Saint-Pol-Roux die Fähigkeit des Geistes, blitzschnell in einer Metapher die entferntesten Dinge zusammenzubringen, von weitaus größerer Bedeutung ist. Mit mehr als tausend Kilometern in der Sekunde ist der Gedanke in der Lage, ein Ende der Welt mit dem anderen zu verbinden, die größten Entfernungen zu überwinden (S. 53).

Wir finden im Ausflug eine Bewunderung für die Errungenschaften der modernen Wissenschaft und Technik (S. 69), die wir heute nicht mehr vorbehaltlos teilen können. Aber auch hier stößt man auf kritische Töne: ”Der wissenschaftliche Fortschritt ist oft nur die Karikatur dessen, was die Menschen erhoffen” (S. 72). Die Wissenschaft und ihre atemberaubenden Erfolge sind bei Saint-Pol-Roux letztlich auch ein Bild für die Möglichkeiten des künstlerischen Geistes.

Ähnlich verhält es sich mit Gott bzw. Christus, der bei Saint-Pol-Roux (wie schon in Apollinaires Gedicht Zone) als der größte Meister der Geschwindigkeit und des Fliegens gesehen wird. Hier zeigt sich, wie die verschiedenen Ebenen des Textes unlösbar miteinander verbunden sind: Gewiß müssen wir auch von der Frömmig- keit des Autors ausgehen, ebenso wie von der durch den Katholizismus tief geprägten Bretagne, wofür die Calvaires ein beeindruckendes Zeichen sind. Christus ist aber auch die Personifizierung der Fähigkeit des menschlichen Geistes, ”seine Ankunft blendete, so wie ein großer Sieg der Wissenschaft” (S. 87); und Gott ist eine Metapher für das Unendliche (S. 73), das der Künstler und der Wis- senschaftler als nie zu erreichendes Ziel vor Augen haben sollten.

Diese nicht nur bildliche Religiösität ist dem heutigen Leser vielleicht fremd, ebenso wie Saint-Pol-Roux‘ Bewunderung für Napoleon und andere ‘Helden‘ der Geschichte (S. 25). Man findet im Ausflug einige Bemerkungen zur Rolle der Mächtigen und zum Krieg, die bedenklich stimmen mögen. Hier zeigt sich der Autor als ein Kind seiner Zeit, in der das Mißtrauen gegenüber Macht und Gewalt noch nicht so groß war, um einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Aber auch in diesem Fall dürfen wie die metaphorische Seite nicht außerachtlassen. Wenn Saint- Pol-Roux Napoleon mit Christus gleichsetzt (S. 89), so verweist dies darauf, daß beide Gestalten der Geschichte als Personifikation der künstlerischen und gedankli- chen Aktivität zu sehen sind.

Saint-Pol-Roux‘ Bilder sind nicht nur hier mehrschichtig. In der Landschaft, die er beschreibt, entstehen vor unserem inneren Auge ihre äußeren Gegenstände genauso wie ihre Geschichte, ihre Form genauso wie ihr durch die Ereignisse und die Menschen geprägter Charakter (Bakterio, S, 17ff.; Meine Vision von Brest, S. 61ff.). Die Gemälde Arcimboldis kommen uns in den Sinn, wobei die Technik dieses Renaissance-Malers, aus Früchten und Pflanzen in anthropomorphen Köpfen z. B. die verschiedenen Jahreszeiten darzustellen, bei Saint-Pol-Roux noch um eine gedankliche Ebenen erweitert wird. Der Ausflug ist vielleicht das beste Beispiel für Saint-Pol-Roux‘ Ideorealismus: Landschaft, Geschichte, Menschen und Ideen des Dichters verschmelzen zu einem einheitlichen Bild, dessen verschiedene Ebenen mehrfach miteinander verbunden sind. Eine dieser Ebenen ist Saint-Pol-Roux‘ Poetik selbst, die sich gleichfalls in der Landschaft, in ihren festen und beweglichen Gegebenheiten widerspiegelt. Der Autor findet hier die Gesetze der Metrik ebenso wie den von ihm bevorzugten freien Rhythmus, das freie künstlerische Schaffen, das sich wie die Lerche im Flug (!) von allen Gesetzen befreit (S. 71). Was Saint-Pol-Roux an anderer Stelle abstrakt formuliert hat, hat er im Ausflug auf faszinierende Weise realisiert.

Erschienen als Nachwort in: Saint-Pol-Roux: Der Ausflug. Aus dem Französischen von Joachim Schultz und Chantal Strasser. Berlin 1986. Verlag Rolf A. Burkart.

Eine faszinierende Gestalt

Philippe Sollers‘ biographischer Roman über den ersten Direktor des Louvre

Philippe Sollers (*1936) gilt als einer der führenden Köpfe des intellektuellen Frankreich, was ihm hierzulande allerdings auch den Ruf eines schwierigen Autors eingebracht hat. Von daher kommt es wohl, dass bisher erst zwei seiner neueren Romane übersetzt worden sind: Porträt des Spielers und – jüngst erschienen – Der Kavalier im Louvre. Vivant Denon. Beide Romane sind im kleinen Heidelberger Wunderhorn-Verlag erschienen, die großen Verlage hatten offensichtlich kein Interesse. Dabei ist sein biographischer Roman über Vivant Denon durchaus mit Vergnügen zu lesen, was zu einem großen Teil allerdings auf diese faszinierende, schillernde Gestalt zurückzuführen ist. Denon (1747 – 1825) war ein typischer Mensch des vorrevolutionären Frankreich, des Ancien régime, von dem Tayllerand gesagt hat: Wer diese Zeit nicht kannte, weiß nicht, wie süß das Leben sein kann. Aus dem heimatlichen Burgund, mit dessen Weinen er später gute Geschäfte machte, kam Denon schon als junger Mann an den Hof Ludwigs XV., wo er Karriere machte. Diese erstaunliche Karriere beruhte nicht zuletzt auf seinem Erfolg bei Frauen und der wiederum auf seiner großen Diskretion in diesen Dingen. Eine Ausnahme war die Novelle Nur eine Nacht, in der er ein ganz außergewöhnli- ches Liebesabenteuer schildert. Als Gesandter des französischen Hofes lebte er später in Petersburg, dann in Neapel. Für kurze Zeit fiel er in Ungnade und zog sich nach Venedig zurück, wo er seine Fertigkeiten als Zeichner und Graveur ver- vollkommnete. In den Schreckenstagen der Französischen Revolution ging er zurück nach Paris, um seinen Besitz zu retten. Ein mutiger Schritt, er hätte genau- sogut unter der Guillotine enden können, doch es gelang ihm, sogar Robespierre für sich einzunehmen. Napoleon war begeistert von diesem gewandten Mann, der mittlerweile zu einem anerkannten Kunstkenner und –sammler geworden war. Denon begleitete Napoleon auf dessen Ägyptenfeldzug, wohl auch mit dem Auftrag, dort Kunstwerke zu sammeln. Sein Buch über diese Reise wurde zum Bestseller. Später sprach man von Napoleons Kunsträubereien in ganz Europa, doch so entstand der Grundstock für den Louvre, dessen Leitung Denon von Napoleon übertragen wurde. Unter Denon entstand eine der wichtigsten Kunstsammlungen Europas, die – auch darüber berichtet Sollers – schon von Friedrich Hölderlin bewunderte wurde. Denon war es auch, der die sog. Primitiven des italienischen Mittelalters wiederentdeckte (Giotto, Cimabue, Fra Angelico u. a.). Die Begeisterung für den sogenannten Primitivismus in der europäischen Kunstgeschichte nahm hier ihren Anfang.

Auch nach dem Sturz des Kaisers gelang es Denon unter den zurückgekehrten Bourbonen in Amt und Würden zu bleiben. Erst aus Altersgründen zog er sich zurück und starb am 27. April 1825 in seiner Wohnung an der Seine, nur wenig entfernt von dem Haus, wo der von ihm verehrte Voltaire 1778 gestorben war. Sollers erzählt dies alles mit beeindruckender Eloquenz, manchmal ein bißchen geschwätzig und nicht ohne Eigenlob, denn dem Leser wird bald eines klar: Würdige Nachfolger hat Denon nicht gehabt, abgesehen von Philippe Sollers, der wie sein Held einsam, hochintelligent und weltgewandt seinen Weg verfolgt. Doch man verzeiht dies dem Autor, denn er hat uns ein großartiges Panorama mit diesem Buch geschenkt, von einer vielseitigen Persönlichkeit in einer stürmischen Zeit, die einzigartig in der europäischen Geschichte war.

Philippe Sollers: Der Kavalier im Louvre. Vivant Denon. Aus dem Französischen von Hans Thill. Heidelberg. Wunderhorn. 2000. 304 S. 49,80 DM

Moses besucht die Indianer

Michel Tournier gefällt es, alte Mythen neu zu verspinnen

Der französische Romancier Michel Tournier mag alte Mythen, Märchen und Legenden, am liebsten die aus der Bibel, wobei die Apokryphen als gleich- berechtigt behandelt werden. Aber auch der Oger, der Kinderfresser aus dem Märchen, paßt in seine Pläne, wird aber kurz noch mit dem heiligen Christophorus und dem Erlkönig, dem Elfenkönig, gekreuzt. Schön archaisch muß alles klingen, urtümlich, als würde uns Robinsons Freitag die Weltgeschichte neu, besser natür- lich, erzählen.

In seinem jüngsten Roman erzählt er die Lebensgeschichte des irischen Schafhirten und späteren protestantischen Pastors Eleasar O’Braid (des guten Hirten!), der um 1850 mit Frau und zwei kleinen Kindern seine Heimat verläßt, um in der Neuen Welt, im Gelobten Land, sein Heil zu suchen. Im Gelobten Land, wo Milch und Honig fließen, und schon weiß der gebildete Leser, daß Eleasar für Moses steht, der das auserwählte Volk aus der Verbannung führte.

Jedes Ereignis in Eleasars Leben hat sein Gegenstück in der Bibel, der Leser muß nur zuerst die Seiten 107 und 108 lesen, wo ihm das alles pedantisch genau gegenüberstellt wird, dann kann er der Geschichte besser folgen. Moses tötet den ägyptischen Aufseher, Eleasar einen irischen Großknecht, der die Partei der Grundbesitzer vertritt. Moses hat seinen Stab, mit dem er Wasser aus dem Felsen schlug. Eleasar hat seinen Schlangenstab mit ähnlich magischen Kräften und so weiter...

In Tourniers großem Roman vom Erlkönig, den Volker Schlöndorff so platt verfilmt hat, geht es ähnlich bedeutungsschwanger zu, doch drum herum gibt es immerhin eine pralle Geschichte. Aber in diesem neuen Kurzroman wird wie in einem philosophisch-belletristischen Puzzle jedes Teil gleich mit einem biblischen Hintergrundteilchen ergänzt. Da paßt eines zum anderen, und er Leser muß die Vor-Bilder nur in der Bibel suchen; nein, suchen muß er nicht, denn die entspre- chenden Bibelstellen werden in den meisten Fällen gleich mitgeliefert.

Daneben gibt es manche Anspielungen auf frühere Romane der Verfassers, in denen findet man zum Beispiel bereits das geniale Kind, das für alles Ge- heimnisvolle oder Unverständliche gleich die richtige Erklärung parat hat, aber das kennen wir schon aus Erzählungen der deutschen Romantik. Gewissermaßen als Höhepunkt sitzen Eleasar, der mit seiner Familie nach Kalifornien zieht, und der Indianerhäuptling Eherne Schlange am Lagerfeuer beisammen und tauschen Kulturgüter aus, über Adam und Eva, Luzifer und so weiter.

Und der Roman endet, wie er enden muß: Eleasar/Moses darf nicht nach Kali- fornien (= Kanaan), er entscheidet sich für den Dornbusch, für das Heilige, nicht für die Quelle, das Profane, und er stirbt mit einem Blick auf das Gelobte Land. Schade, man hätte sich gerne noch mal die Geschichte von Johann Sutter und seiner Suche nach dem kalifornischen Gold neu erzählen lassen, aber die kann man in Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit oder in Blaise Cendrars‘ Roman Gold nachlesen.

Postmoderne Literatur, würde der gewiefte Literaturwissenschaftler noch erklärend hinzufügen und diesen Roman in seinen Musterkatalog aufnehmen. Eine gewisse Zeit lang liest man das mit Vergnügen, doch dann werden diese Übereinstimmun- gen und Verbindungen ermüdend. Zum Glück sind es nur gerade mal knapp 150 Seiten.

Michel Tournier: Eleasar oder Quelle und Dornbusch. Roman. Aus dem Französischen von Hellmut Waller. Hoffmann & Campe Verlag 1998, 144 S.

Meine Wörter

Michel Tourniers Wörterbuch Le pied de la lettre als Anregung für Privatleben und Unterricht

1. ”Vom doppelten Umgang mit Nachschlagewerken”

Schon seit einigen Jahren sind Wörterbücher nicht mehr allein der Ort bierernster Alphabetisierung, zu beobachten ist ein anderer, kreativer Umgang mit dem Prinzip des Wörterbuchs. Vielleicht können wir solche Tendenzen auch auf den Mai 68 und seine Vorläufer zurückführen, in diesem Jahr jedenfalls erschien der Diction- naire des Onomatopées von Bernard Miot (Limoges. Robert Morel Editeur). ”Pour la fermeture de la chasse”, heißt es abschließend, was zeigt, daß hier keine akade- mischen Klimmzüge versucht wurden. Das Wörterbuch beginnt (schön typog- raphisch gestaltet) mit

”AH: joie, admiration, Plaisir, extase, impatience, commisération, douleur. Var. HA etc. Oh! Ah! Je suis mort. C’est au moins un coup de canon que j’ai reçu. (Ubu Roi)”

Es folgen weitere Beispielsätze aus der Literatur.

In den folgenden fünfundzwanzig Jahren erschienen in Frankreich und Deutschland ähnliche Wörterbücher, die allerdings wegen ihrer scheinbar mangelnden Ernsthaf- tigkeit nicht gerade in den Fachzeitschriften besprochen wurden; so zum Beispiel Das Wörterbuch des Gutmenschen über ”Plapperjargon und Gesinnungsprache” von Wiglaf Droste und Klaus Bittermann (2 Bände. Berlin 1995. Edition Tiamat) oder Dummdeutsch von Eckhard Henscheid, Carl Lierow und Elsemarie Maletzke (Ffm. 1985. Fischer). Daneben gibt es andere Wörterbücher, in denen versucht wird, eine Epoche, einen Bereich der Wissenschaft an Hand ihrer zentralen Be- griffe zu umreißen (z. B.: Ib Ravn Chaos, Quarks und scharze Löcher. Das ABC der neuen Wissenschaften. München 1995. Verlag Antje Kunstmann). Das Alpha- bet ist nur rein äußerlich das Ordnungsprinzip dieser Bücher, denn man muß nicht von A bis Z stur Seite für Seite lesen. Man darf springen, Querverweisen folgen. Solche Bücher laden ein zum ”nomadischen Lesen” (Aurel Schmidt), doch man wird hinterher vielleicht mehr wissen als nach dem Studium einer voluminösen, rein wissenschaftlichen Abhandlung. Weitere Beispiele wären Georges Hugnets Dictionnaire du Dadaisme (Paris 1976. Simoën) und Giuseppe Scaraffias Petit dictionnaire du dandy (Paris 1988. Sand), in denen Kunst- und Kulturstömungen exemplarisch an Hand ihrer zentralen Begriffe, Themen und Persönlichkeiten vorgestellt werden. Aurel Schmidt sieht die Gefahren beim Lesen solcher Wörter- bücher, das dem Zappen mit der Fernbedienung ähnelt, doch er bleibt gleichwohl fasziniert. Daß junge Leser davon begeistert werden können, darf man gewiß annehmen. Es wäre zumindest zu überlegen, diesen Umgang mit dem Prinzip des Wörterbuchs für den Sprachenunterricht zu nutzen.

2. Michel Tourniers Wörterbuch Le pied de la lettre

Michel Tourniers 1994 erschienenes Wörterbuch ist sicher anders zu bewerten, doch auch bei ihm kommt der Spieltrieb zu seinem Recht. Für ihn ist ein Wörter- buch ”un grenier à mots avec pour chaque mot son mode d’emploi”, und Wörter- bücher sind die ”mines inépuisables” eines Schriftstellers (S. 13). Worin besteht nun sein Wörterbuch, das man auf den ersten Blick leicht gering und läppisch einschätzen könnte? ”J’ai glané environ 300 vocables ayant tous quelque chose d’intéressant à mes yeux” (S. 13). Einige hat er ausgewählt wegen ihrer fremdarti- gen Schönheit; andere, weil man sie eigentlich nicht mehr benützen könne; andere, weil er sie erfunden hat (S. 14). Man kann diese von ihm so formulierten Auswahl- prinzipien ein wenig spezifizieren. Da findet man Wörter, die oft falsch verwendet werden:

«Androgyne. Qui possède les caractères de l’un et l’autre sexe. [...] On commet un contresens en évoquant le ‹charme androgyne› de certains adolescents.» (S. 27)

Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, daß viele Wörter nicht einfach aufgrund einer beliebigen Vorliebe ausgewählt wurden, sondern daß sie auch zum Themenkom- plex anderer Bücher des Autors gehören. In manchen Fällen macht er ausdrücklich darauf aufmerksam: «Diable. Dans le roman de Michel Tournier Le Roi des Aulnes, l’un des person- nages oppose symbole (un signe qui unit) et diable (un signe qui désunit), confor- mément à l’étymologie.» (S. 60)

Man darf also nicht die Definitionen, die ‚Gebrauchsanweisungen‘ normaler Wörterbücher erwarten, sondern Erklärungen aus dem Blickwinkel und dem Bildungshorizont des Autors, auch dann wenn er einen Blick auf die Verwendung des Wortes bei anderen Autoren wirft; zum Beispiel:

«Calembour. Jeu de mots reposant sur une homophonie équivoque, le même son évoquant deux sens différents. Après avoir été longtemps méprisé (Victor Hugo en faisait ‹la fiente de l’esprit qui vole›), on lui prête de secrètes vertus, soit psycho- analytiques (Freud), soit métaphysiques (Heidegger).» (S. 44)

Die Etymologie beschäftigt ihn immer wieder, daß ihn gerade Verbindungen zum Deutschen interessieren, verwundert wiederum nicht, wobei allerdings manche Sprachforscher mit ihm streiten würden.

«Boche. Au dèbut du siècle, une mode populaire consistait à terminer certains mots par oche. On disait la Bastoche et le cinoche pour la Bastille et le cinéma. C’est ainsi que les allemands devinrent en 1914 les Alboches, puis par abréviation les Boches.» (S. 38)

Andere Wörter sind für ihn einfach perfekt (épi; S. 71), andere kurios (gravide; S. 92: hier entdeckt der Leser das Adjektiv ,vide‘ und wundert sich, daß das ganze Wort trächtig oder schwanger bedeutet); andere wieder sind aus unserem Alltag verschwunden, bzw. die Gegenstände, die sie bezeichnen (encensoir, reposoir, ostensoir; S. 68); gerne bringt er auch eigene Wortschöpfungen, zum Beispiel:

«Anatopisme. Mot créé par Michel Tournier dans son livre Vues de dos. Equivalent pour l’espace de ce qu’est l’anachronisme pour le temps. Le surréalisme use volontiers de l’anatopisme. Exemple: figurer la tour Eiffel en plein Sahara.» (S. 27)

Manche Leser mögen ihm Eitelkeit vorwerfen und ihn fragen, was das Ganze denn solle. Subjektiv ist es in der Tat, dieses Wörterbuch, doch genau darin liegt sein Reiz. Beziehungsweise: Was hindert uns daran, diesem Muster mehr oder weniger folgend, unser eigenes Wörterbuch zusammenzustellen?

3. Eine Anregung

Tournier regt selbst dazu an: ”Ainsi ce petit livre, chacun pourrait le refaire pour son compte, et ce serait à chaque fois un livre différent, mais toujours son auteur y gagnerait quelque chose, je pense, car ce modeste exercice ressemble un peu à un examen de conscience.” (S. 15) Die eigenen Wörter zusammenzustellen, ,les mots propres‘, auch wenn sie ,impropres‘ sein sollten, schlägt Tournier, mit den Worten spielend, dem Leser vor. So bleibt dieses Wörterbuch vielleicht das einzige Buch Tourniers, das wohl nie übersetzt wird, nicht übersetzt werden kann, das aber gewissermaßen sehr viele Ableger bekommen könnte. Man mag andere Autoren, die sich mit ihren Wörtern auseinandergesetzt haben, zu Rate ziehen, auch bei ihnen – bei Proust, Lichtenberg, Goethe und anderen – findet man Wörter, die sie lange beschäftigt haben. Aber interessanter wird es doch mit den eigenen Wörtern, die uns gefallen oder mißfallen, deren Herkunft uns Rätsel aufgibt, die wir vielleicht sogar erfunden haben. Der Linguist spricht hier wohl von Ideolekt, aber jeder kann ganz unwissenschaftlich mit seinem Wortschatz umgehen, denn ein Schatz ist es wirklich, dessen Wert die meisten noch nicht erkannt haben. Ich persönlich könnte lange über die Wörter Aal, Mansarde, Wallfahrt sprechen, oder über das Wort Sowjetunion, das man bald vergessen haben wird. Als Kind habe ich es vollkommen falsch verstanden, bzw. in dem Sinn, wie es die bei uns in den fünfziger Jahren herrschende antikommunistische Ideologie wollte. Ich verstand ,Sowirtunion‘ im Sinn von ,So wird man dort bewirtet‘, schlecht natürlich. Jeder wird solche Beispiele parat haben, ich brauche hier keine eigenen Beispiele mehr zu bringen. Doch wie schon angedeutet und gerade im Kontext dieser Zeitschrift, wird man darüber nachdenken dürfen, ob dieser Umgang mit den Wörtern für den Sprachenunterricht, für den muttersprachlichen und den fremdsprachlichen, von Nutzen sein könnte. Im Fremdsprachenunterricht sehe ich zwei Möglichkeiten. a) Man weiß aus eigener Erfahrung, daß sich beim Erlernen einer Sprache bestim- mte Wörter irgendwie einnisten. Das können ganz banale oder besonders seltene, schwierige Wörter sein. Manche Wörter gefallen gut, andere versteht man vollkommen falsch oder bezieht ihre Schreibweise auf ein ähnlich geschriebenes oder ähnlich klingendes Wort in der Muttersprache oder einer anderen Sprache. Der ,archevêque‘ reizte mich und meine Mitschüler jedenfalls zum respektlosen Gelächter, da wir uns vorstellten, dem Erzbischof wäre der Hintern abhanden gekommen. Bei der Meuse bekamen manche, vom Klang ausgehend, eine rote Birne. Dem orthodoxen Sprachlehrer mögen solche Beispiele mißfallen, in meinen Augen regen sie an zum Spiel mit der Sprache, was dem Spracherwerb nur nützlich sein kann. Vokabellisten könnten so nach ganz anderen Gesichtspunkten geführt werden, ganz einfach zum Vergnügen mit einem ernst zu nehmenden didaktisch- methodischen Hintergrund. Vor skatologisch-obszönen Beispielen darf man dabei allerdings nicht zurückschrecken. b) Man wird Wörter auch nach solchen eher kuriosen Gesichtspunkten beim Literaturunterricht auswählen und zusammenstellen können. Nehmen wir als Beispiel die Erzählung La fin de Robinson Crusoé von Tournier, die auch schon in eine Schulauswahl aufgenommen wurde. Die Auswahl von Willi Jung und seine Annotationen zeigen allerdings, daß in unserem Fall ganz andere Wörter ,aufgegriffen werden, wobei die Erklärungsstufe unserem Vorhaben vorangehen kann aber nicht muß. Auf der ersten Seite (nach der Originalausgabe: Le Coq de bruyère. Paris 1978, S. 21) werden Wörter auffallen wie ,ivrogne‘, das man vielleicht mit Wörtern mit der gleichen Endung in Verbindung bringt: charogne, besogne usw.; Sinnzusammenhänge dürfen konstruiert werden. Bei ,éraillée‘ denkt mancher womöglich an die ,rails‘, an verrostete Schienen, die aber erstaunlicher- weise ähnliche Laute von sich geben können wie eine heisere Stimme. Bei ,hirsute‘ könnte einem Leser die Hirse einfallen, an die Pflanze, die dem im Wind zerzaus- ten Haar gleichen kann. Beim ,perroquet‘ werden nur ganz ausgefuchste Leser an einen ,père au quai‘ denken, andere vielleicht eher an eine Perücke, die einem ja wie etwas Künstliches vorkommt. Erstellt wird also eine Liste von Wörtern, die uns kurios, seltsam, perfekt oder komisch vorkommen, ohne daß zunächst auf den wirklichen Wortsinn eingegangen wird. Wir suchen vielmehr zunächst nach mehr oder weniger plausiblen Zusammenhängen mit anderen Wörtern in der Fremdspra- che oder in der Muttersprache. Sicher haben sich Linguisten schon mit diesen Aspekten der Sprache beschäftigt; womöglich haben die Vertreter der Dekonstruktion, in deren Zusammenhang vom sogenannten ”misreading” die Rede ist, etwas dazu zu sagen. Tatsache ist, daß der Text auf einmal ganz andere Dimensionen erhält. Manch einer sieht diesen alten Robinson nun vor sich: mit einem Papagei auf der Schulter, obwohl davon gar nicht die Rede ist. Und warum sollte er keine komische Perücke tragen, dieses alte Aas, über den alle lachen, wenn er da mit seinen falschen struppigen Haaren in der Kneipe hockt, seinen Hirsebrei löffelt und dabei mit heiserer, quietschender Stimme seine Geschichten erzählt. Ein Spiel, gewiß, und man müßte Schülern klar machen, daß es ein (gefährliches?) Spiel mit Fehlern ist. Aber über dieses Spiel gelingt es uns, in den Text und seine Horizonte einzusteigen. Ich eigne mir die Wörter an, sie werden zu meinen Wörtern. Sich etwas aneignen hat immer etwas Gewaltsames an sich, aber es kann Spaß machen, wie man zugeben muß. Ich gebe den Wörtern etwas von ihrer Freiheit zurück, bevor ich ihre wirkliche Bedeutung anerkenne. An diesem Punkt wäre vom Sprachethos zu sprechen, doch das wäre ein anderer Artikel. Abschließend möchte ich noch auf ein anderes Wörterbuch hinweisen. Michel Leiris ist in seinem Wörterbuch Langage Tangage ou Ce que les mots nous disent (Paris. Gallimard. 1985) weitaus freier mit der Sprache umgegangen; hier einige Beispiele für seine Worterklärungen: Afrique: à affres épiques; Hasard: vaste bazar; Raison: hors de saison; Syntaxe: saint axe; Zèle: les élus ont des ailes. Ein Wörterbuch ist für ihn ein ”Dictionnaire (ou fictionnaire?): que des milliers d’x à réduire sillonnèrent”. Leiris entdeckt, vom Klang oder der Orthographie ausgehend, höchst subjektive Bedeutungen, die aber dann, wie man in vielen Fällen zugeben muß, irgendwie doch stimmen. Der Zufall ist in der Tat ein weiträumiger Basar, in dem vieles möglich ist. Es wird zu kreativen Sprachspielen angeregt, die keinem schaden sollten und zu denen auch mein Artikel ermutigen soll.

Zuerst erschienen in Französisch heute. Dezember 1996. S. 321 - 325

Seltsam Normal

Die Geschichte einer bemerkenswerten Familie

Jean Vautrin erzählt in seinem Roman Haarscharf am Leben die Geschichte einer französischen Familie seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die historischen Ereignisse (Okkupation, Algerienkrieg usw.) bilden den Hintergrund für ”ein großes Historiengemälde von wahren Geschichten, entworfen von einem erstaunli- chen Erzähler”, wie man in Le Monde urteilte. Ja, keine Geschichte, sondern wahre Geschichten über diese so seltsam normale Familie. Da ist Charlie, der Vater, ein Schriftsteller und Filmemacher (alter ego des Autors?), der von sich behauptet: ”Ich bin an der Kindheit verletzt.” (S. 150), der trotzdem versucht, glücklich zu werden. Seine Frau Victoire Samothracre ist nicht die berühmte Statue aus dem Louvre, sondern Schauspielerin, die als Heilige Johanna der Schlachthöfe brilliert, ”mit den Worten eines Herrn Brechts, eines Typen, der in verschiedenen zeitgenös- sischen Stücken sehr böse geworden war” (S. 84). Den ältesten Sohn Antoine bekommt man kaum zu Gesicht, er treibt sich als Hippie in Paris herum. Die Tochter Marie schreibt altkluge Briefe an ihre Tante Zo, auch Tante Giraffe genannt, - die reizvollsten Passagen dieses Romans. Einen von diesen Briefen beendet sie mit den Worten: ”Oh, lala! Mama steht am Fenster und ruft, weil ich Benjamin hüten soll, zusammen mit Herrn Johann Sebastian Bach, der Jesus meine Freude spielt. Ich verlasse Dich eilends, denn nach ihrem Gesicht zu urteilen, ist sie nicht gerade zum Spaßen aufgelegt. Deine ergebene Ich-weiß-alles-Marie.” (S. 98) Benjamin, der jüngste Sohn, ist das Problem der Familie, das auch in Familien- sitzungen beim Therapeuten nicht zu lösen ist. Er ist autistisch, eine Tatsache, die Vautrin fast poetisch zu beschreiben weiß: ”Ben ist auf seinem Zimmer, hängt an einem Faden. Er wickelt ab. Er webt. Die Einsamkeit ist ein Gebiet. Er herrscht über das Weiß. Er wiegt sich Takt seines inneren Tam-Tams.” (S. 22).

Vautrin erzählt, stets aus anderen Blickwinkeln, was die Lektüre nicht immer zu einem Vergnügen macht. Die Geschichten dieser so seltsam normalen Familie packt er in fast artifizielle Erzählkonturen. Und er erzählt die Geschichte ihres Hauses – des Bauchhauses, wie Marie es nennt -, das irgendwo in einem kleinen Dorf steht, in dem sich alle immer wieder treffen. Der Leser muß auf dieses Karussell aufspringen, muß diesen Sprung wagen, andernfalls steht er vor einer in sich geschlossenen Welt ohne Zugang. Aber wenn er sich mit dreht und den Personen auf ihren oft banalen, dann wieder abstrusen Wegen folgt, kann er sich sagen: Das ist haarscharf am Leben, und mein eigenes Leben und das meiner Familie könnte genauso erzählt werden. Dazu muß der Leser schon eine besondere Art von Phantasie entwickeln, aber vielleicht hat Jean Vautrin gerade mit dieser Absicht seinen Roman geschrieben: Er wollte die Phantasie der Leser in neue Bahnen lenken.

Jean Vautrin: Haarscharf am Leben. Aus dem Französischen von Marie Luise Knott. Rotbuch Verlag. Berlin 1991.

Vom vergeblichen Kampf der Vögel gegen die Diktatur der Massen

Über den Roman Alto solo von Antoine Volodine

Einer der Erzähler dieses Mini-Romans ist der Schriftsteller Jakub Khadischi- bakiro, von dem es heißt: ”Er litt darunter, Werke zu verfassen, die kaum dem Publikumsgeschmack entsprachen, Texte für schräge Vögel, die ihm nicht den geringsten Erfolg brachten und das Mißfallen der frondistischen Geheimdienste erregte.” (S. 30).Volodine liefert hier ein kleines Selbstporträt und gleichzeitig die wichtigsten Themen seines Romans. Er spielt in einer fiktiven Diktatur, für die es aber in aller Welt Vorbilder gab und gibt. Der Staat wird von der Partei der Frondisten beherrscht, die zum Schein von der Macht zurückgetreten ist und die Politik von ”Narrenpatrioten” und ”Sozialmarionetten” betreiben läßt. Halt! Ist das noch die Parabel einer Diktatur oder doch schon das Bild einer modernen Ge- sellschaft, die sich zwar demokratisch gibt, deren Machtzentren für das Volk jedoch nicht erreichbar sind? Geht es um Institutionen wie Schule und Universität, in denen vor allem Anpassung gelehrt und gefordert werden? Die Fragen bleiben offen.

In Volodines Roman sind es die Vögel, oder seltsame Vogelmenschen, die noch vergeblich gegen die Diktatur ankämpfen; und die Rebellen aus einem mythischen Süden, aber auch ihnen ist kein Erfolg beschieden. Höhepunkt des schmalen Romans ist ein Konzert des Dschylas-Quartetts, das von den Frondisten auf grausame Weise gestört wird: Die letzten Rebellen werden erschossen, die Musiker und Konzertbesucher mit Handgranaten ‘zur Räson gebracht‘. Denn die Frondisten sind für die Volkskultur, wie sie es nennen, gegen eine intellektuelle Kultur der ”Überflieger und aufgeplusterten Nichtstuer” (S. 105), gegen die sie mit Terror und Gewalt zu Felde ziehen. Auch hier ist man versucht, an gar nicht so diktatorische Verhältnisse zu denken, beziehungsweise an eine Diktatur der breiten Masse, für die Bierfeste und Fußballorgien an erster Stelle stehen.

Josyane Savigneau schrieb in Le Monde: ”Volodine zeigt, ohne jemals zu moralis- ieren, wohin Populismus, Volkstümelei und die Verachtung der Intellektuellen führen können.” Und Jean-Didier Wagneur in Libération: ”Seine erfundene, fiktive Welt verdichtet alles, was aus der Politik als Barbarei hervorgeht.” Dies ist das zentrale Thema. Entstanden ist ein spannender, phantastisch-realistischer Roman in der Tradition von Orwells 1984, mit Anklängen an Kafka, Ernst Jüngers Auf Marmorklippen, auch an Dino Buzattis Tartarenwüste. Aber Volodines Roman endet mit einer positiven Note: ”Er weiß, trotz seines verletzten Flügels wird er fliegen können. Er lauscht der Musik. Er lauscht dem Murmeln Tschaki Estherk- hans, die ihn umsingt, und als er sich emporschwingt, sieht er sie.”

Der 1950 geborene französische Autor mit dem slawischen Pseudonym gibt damit sein Debüt in Deutschland, und es bleibt zu hoffen, daß noch weitere Bücher von ihm bei uns erscheinen; möglichst in der Übersetzung von Holger Fock, dem es gelungen ist, den extravaganten Ton von Alto solo gut lesbar ins Deutsche zu übertragen.

Antoine Volodine: Alto solo. Aus dem Französischen von Holger Fock. Rotbuch Verlag. Berlin 1992. 124 S.

Joachim Schultz (*1949) studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Er unterrichtete an den Universitäten von Paris-X (Nanterre), Fribourg, Limoges und Metz. Heute leitet er den begleitenden Studiengang ”Literaturwissenschaft: berufsbezogen” an der Universität Bayreuth. In Bayreuth leitet er auch das 1986 von ihm gegründete Kleine Plakatmuseum.

PUBLIKATIONEN (Auswahl)

Selbständige Monographien:

Literarische Manifeste der Belle Epoque. Frankreich 1886 – 1909. Versuch einer Gattungsbes- timmung. Frankfurt/Main, Bern. 1981. (= Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 2). 300 Seiten.

Ist Begegnung möglich? Die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur. Schwerpunkt Schwarzarfrika. Abiddjan, Fuldabrück. 1986. 104 Seiten.

Wild, irre und rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940. Gießen. 1995. 248 Seiten.

Das ist die Poesie. Plakatkunst in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und im Bayreuther Kleinen Plakatmuseum. Bayreuth 1996. 80 Seiten.

Die Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Music-Hall und andere Essays über Kion-Poeten, Boxer, Plakate und Literatur, Wälder und Wildnis, Arbeit und Müßiggang. Bayreuth. 1999. 108 Seiten.

Herausgeberschriften:

Insel-Buch der Faulheit. Mit Gerhard Köpf. Ffm. 1983.

Saint-Pol-Roux: Deutsche Werkausgabe. Mit Rolf A. Burkart. Berlin, dann Bad Kreuznach 1986ff. Bisher 8 Bände erschienen (siehe unten).

Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet. Farben in der deutschen Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart. München. 1994. 192 Seiten.

Richard Wagner in Paris. Zwei vergessene Texte von Jules Champfleury und Léon Bloy. Bamberg 1995.

Bayreuth. Ein literarisches Porträt. Mit Frank Piontek. Ffm. 1996.

Der Mensch in der Gesellschaft. Aphorismen und Maximen aus Frankreich, England, Italien. 16 – 18. Jahrhundert. Bamberg. 1997.

Essen und Trinken mit Goethe. München 1998.

Zwischen Idylle, Krieg und Kolonialismus. Europäische Jugendliteratur: 1945 – 1960. 1997

Goethe in guter Gesellschaft. Ein Katalog allumfassender Goethe-Verehrung zur Ausstellung mit Plakaten, Büchern und anderen Druckerzeugnissen im Bayreuther Plakatmuseum. 1999.

Jean Paul und seine Zeit auf Plakaten. Katalog zur Ausstellung im Bayreuhter Plakatmuseum. 2000.

Die schönsten Schlösser und Burgen Deutschlands. Ein literarischer Reiseführer. Ffm. 2001.

Übersetzungen aus dem Französischen:

Saint-Pol-Roux: Der Ausflug. Mit Chantal Strasser. Berlin 1986. Mit einem Nachwort.

Saint-Pol-Roux / Victor Segalen: Briefwechsel. Berlin 1986. Mit einem Nachwort.

Saint-Pol-Roux: Die Traditionen der Zukunft. Berlin 1987. Mit einem Nachwort.

Der Elefant, der auf Eiern geht. Kongolesische Märchen erzählt von Badibanga. Mit Gudrun von Vivis. Bayreuth 1987.

Alexandre Dumas: Der Vicomte de Bragelonne. Band 1. Stuttgart 1991.

George Sand: Flavie. Cadolzburg 1991. Mit Studenten des Studiengangs ”Literaturwissenschaft: berufsbezogen”.

Saint-Pol-Roux: Die Stationen der Prozession. Band 1: Die Rose und die Dornen auf dem Weg. Berlin 1992. Mit einem Nachwort.

Eugène Delacroix: Das Jugendtagebuch. 1822 – 1824. Ffm. 1994.

George Sand: Pauline. Cadolzburg 1994.

Saint-Pol-Roux: Lebendiges Kino. Bad Kreuznach 1995. Mit einem Nachwort.

Marceline Desbordes-Valmore: Domenica. Ffm. 2000. Mit einem Nachwort.