Neue Wege Über die Situation und Rezeption moderner Malerei in der Münchner Nachkriegszeit
Annette Doms
Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München
vorgelegt von Annette Doms
München 2004 Erstgutachter: Prof. Dr. Frank Büttner Zweitgutachter: Prof. Dr. Hubertus Kohle Tag der mündlichen Prüfung: 03.02.2004 3
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung ...... 5 Die Entwicklung moderner Malerei in München seit Beginn der Sezessionsbewegungen...... 5 Eingrenzung des Themas...... 8 Methodik ...... 10 Moderne Malerei in München nach 1945 als Forschungsgegenstand...... 11
II. Neuanfänge ...... 14 1. Ausgangssituation moderner Kunst in der Westdeutschen Nachkriegszeit.....14 1.1. Gesellschaftspolitische Skizze der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg...... 14 1.2. Wunden des Hitlerreichs kultureller Wiederaufbau in der Nachkriegszeit...... 17 2. Moderne Kunst in der Nachkriegszeit Versuch einer stilistischen Begriffsbestimmung ...... 24 2.1. Ende des Krieges Hoffen auf einen Neuanfang ...... 25 2.2. Ein verändertes Weltbild Wiederaufnahme des Surrealismus und der Abstraktion...... 31 2.4. Künstlerische Fragestellungen vor und während des Kalten Krieges...... 41 2.5. Abstrakt- moderne Kunst in der zeitgenössischen Kunstdiskussion...... 44 3. Rezeption moderner Kunst in der unmittelbaren Nachkriegszeit beim Publikum...... 48
III. Situation, Produktion und Präsentation moderner Malerei in München ...... 55 1. Ausgangsbedingungen der Bildenden Kunst in München ...... 55 1.1. Die politische Ausgangssituation...... 55 1.2. Anfängliche Erfolge, Notstand und erneuter Aufschwung der Kultur ...... 57 2. Geburtsstätten der Malerei ...... 62 2.1. Freischaffende Künstler der unmittelbaren Nachkriegszeit...... 62 2.2. Akademie der Bildenden Künste ...... 64 4
3. Künstlervereinigungen ...... 79 3.1. Münchner Künstlergenossenschaft ...... 81 3.2. Münchner Sezession...... 85 3.3. Neue Gruppe...... 87 3.4. ZEN 49 ...... 90 4.Öffentliche Kunstpräsentationen...... 97 4.1. Kunstpolitik der amerikanischen Alliierten...... 97 4.1.1. Kunstpolitische Gestaltung der amerikanischen Besatzungsbehörde. 98 4.1.2. Kulturstätten der Militärbehörde: Amerikahaus und Central Art Collecting Point ...... 100 4.2. Staatliche und städtische Kunstpolitik ...... 110 4.2.1. Ausstellungsforen des Staates: Neue Sammlung und Haus der Kunst 111 4.2.2. Neuanfänge in der Städtischen Galerie ...... 121 4.2.3. Regionale Ausstellungspolitik im Vergleich...... 126 4.3. Öffentliche Kunstförderung: Ankäufe und Kunstpreise ...... 130 4.4. Resümee ...... 139 5. Privatwirtschaftliche Kunstvermittlung...... 140 5.1.Allgemeine Aspekte des Kunsthandels ...... 140 5.2. Münchner privat- und halbprivatwirtschaftliche Initiativen Informationsquellen moderner Malerei in der unmittelbaren Nachkriegszeit...... 146 5.2.1. Kunstverein ...... 147 5.2.2. Galerien der allerersten Stunde 1945 bis 1946 ...... 151 5.2.3. Galerie Günther Franke ...... 155 5.2.4. Moderne Galerie Otto Stangl...... 162 5.2.5. Weitere kleine Galerien...... 167 5.3. Resümee ...... 169 6. Rezeption des Münchner Publikums ...... 170
IV. Schlussfolgerungen...... 175 Moderne Münchner Nachkriegsmalerei eine Zusammenfassung...... 175 Moden und Märkte institutionelle Seiten des Kunstprozesses...... 179 Bedeutung für die Gegenwart ...... 181
Ausstellungsliste...... 183 Bibliographie ...... 196 5
I. Einleitung
„Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel der Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert.“1 Theodor W. Adorno
Die Malerei der Moderne ist geprägt durch eine Vielfalt stilistischer Tendenzen und individueller Persönlichkeiten, bei denen das Neue als künstlerisches Kriterium bedeutungsvoll wird. Wegbereiter der Moderne wie Cézanne, Gauguin und van Gogh brachen mit den vorherrschenden Stilrichtungen der Zeit und schufen die Basis für weiterführende Entwicklungen, innerhalb derer die Künstler den Gegenstand zunehmend aus der subjektiven Wahrnehmung heraus abbildeten und die bloße mimetische Abbildfunktion zugunsten einer Eigengesetzlichkeit des Bildes revidierten. Wie auch aus dem Zitat Adornos hervorgeht, lebt die Moderne durch die rigorose Abgrenzung von vorgegebenen Strukturen, durch den totalen Bruch mit einer uniformen Tradition, gegen die es sich zu behaupten gilt. In dem Willen der Andersartigkeit stellt sie sich äußerlich wie inhaltlich gegen bisherige Erwartungen an die Kunst, bricht die vorherrschende Ordnung, wertet diese um und kämpft für eine neue Sicht der Wirklichkeit. Inwieweit dies auch auf die moderne Malerei nach 1945 übertragbar ist, wird in der vorliegenden Studie erhellt. Sie widmet sich den Entwicklungen in München und der hiesigen, seit Gründung der Sezession ausgebildeten modernen Malerei der Nachkriegszeit.
Die Entwicklung moderner Malerei in München seit Beginn der Sezessionsbewegungen Die Entwicklung der modernen Malerei in München nahm ihren Anfang gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gründung der Münchner Sezession im Jahre 1892. Progressive Ansätze zeigten sich in dem Gruppenzusammenschluss herausragender Künstler wie Franz von Stuck, Wilhelm Trübner und Fritz von Uhde, u.a., die von nun an geschlossen auf Konfrontationskurs mit einer nicht mehr als zeitgemäß empfundenen, im damaligen München aber vorherrschenden Kunstrichtung gingen. Auch die städtische Ausstellungspolitik galt in ihren Augen als provinziell und ablehnenswert. In bewusster Abspaltung von der herkömmlichen
1 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 41; 6
akademischen Lehre und der restriktiven Künstlergenossenschaft unternahmen die Sezessionisten den ersten großen Versuch einer Selbstorganisation, die der Durchsetzung neuer künstlerischer Ausdrucksformen galt. Mit Franz von Stuck oder Hermann Obrist traten so bedeutende Vertreter des Jugendstils in München hervor.
Parallel dazu wurde die ausgestellte Kunst der Stadt weiterhin von den Realitätsschilderungen eines Franz von Defregger oder Franz von Lenbach dominiert. Moderne Künstler wie Max Slevogt oder Lovis Corinth, die in Paris die Impressionisten schätzen gelernt hatten, übersiedelten deshalb Anfang des 20.Jahrhunderts nach Berlin, so dass der Impressionismus in München erst in seiner Spätform Einzug hielt.2
Innerhalb der öffentlichen Ausstellungspolitik wurden die modernen und auch internationalen Bestrebungen der Sezessionisten, ebenso wie die proklamierte Freiheit des künstlerischen Schaffens ignoriert. Unterstützung erhielten sie lediglich durch führende Kunsthändler wie Justin Thannhauser oder Josef Brakl , deren Erfolgsgeschichte wiederum eng mit den Sezessionen verbunden war, so dass die Kunsthandelsgeschichte ihrerseits eine vergleichbare Revolution erfuhr.
In steter Reaktion auf die Entwicklungen der Zeit kam es immer wieder zu neuen Ausdrucksformen und somit bald zu erneuten Abspaltungen innerhalb der Sezessionen selbst. Speziell für München zeigte sich dies in den der Münchner Sezession folgenden Gruppierungen Die Scholle 1899 , Phalanx 1901 , Die Neue Künstlervereinigung München e.V. 1909 oder Der Blaue Reiter 1911 , deren Geschichte die avantgardistische Situation in München vor dem Zweiten Weltkrieg vergegenwärtigt.
Die ständige Suche nach einer neuen, künstlerischen Ausdrucksform präsentierte sich visuell nachvollziehbar in der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Form- und Stilproblemen der Zeit. Sie trat durch den zunehmenden Verzicht auf perfekt gestaltete Raumperspektiven, auf wirklichkeitsgetreue Form- und Farbgebungen hervor und führte im letzten konsequenten Schritt zur vollkommenen Abkehr vom Naturvorbild zur Abstraktion, die in München durch Wassily Kandinsky vollzogen wurde.
2 Ebenso so spät wurde die wegbereitende Moderne mit Cézanne, Gaugin und van Gogh erst 1904 in einer Ausstellung des Münchner Kunstvereins präsentiert; 7
In anderen Ländern konnten sich derartig progressive Tendenzen kontinuierlich weiterentwickeln. In Deutschland bewirkte die Zeit des Nationalsozialismus und die damit einhergehende Kunstpolitik des „Dritten Reichs“ das Ende moderner Strömungen jeglicher Art. Die moderne Kunst wurde bald von einer spezifisch „deutschen“, einer sich an der Ästhetik des deutschen Idealismus orientierenden und von Adolf Hitler als „ewig“ gültig definierten Nationalkunst abgelöst.3 München wurde zur „Hauptstadt der deutschen Kunst“ erklärt und sollte als „Stätte des Erhabenen und Schönen“ wirken4, wodurch Wertevorstellungen eines rückwärtsgewandten und somit musealen Kunstideals der Zeit Ludwig I. in den Vordergrund traten.5 Als Wirkungsstätten dienten das neu errichtet „Haus der Deutschen Kunst“ sowie die Akademie der Bildenden Künste, deren Lehranstalt und Kunstproduktion durch NS-Künstler wie Adolf Ziegel, Josef Thorak oder Hermann Kaspar im Sinne der nationalsozialistischen Kunst zwar florierte, im Sinne der modernen Kunst jedoch stagnierte. Die moderne, spätestens 1937 von Hitler öffentlich als „entartet“ diffamierte Kunst wurde durch die staatlich gelenkte Kunstpolitik subtil aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verdrängen versucht. Der Kunstpolitik des Nachkriegsdeutschlands oblag somit die Aufgabe einer gründlichen Revision ihrer Auffassung von moderner Kunst.
Unter schwierigen Verhältnissen und finanziell kaum unterstützt traten viele Künstler der Vorkriegsmoderne nach 1945 erneut hervor und präsentierten dem Publikum den Fortbestand der überlieferten, inzwischen als „publikumsfremd“ geltenden modernen Kunst. Hierzu wurden öffentliche Kunstausstellungen zur Moderne, meist mit Unterstützung der alliierten Besatzungsmächte, organisiert. Die Moderne, allen voran der Expressionismus, wurde rehabilitiert. Private Kunsthändler eröffneten wieder ihre Galerien, etablierten seinerzeit als „entartet“ diffamierte Kunst und setzten sich erneut für progressive Künstler ein.
3 Zitat: „Bis zum Machtantritt des Nationalsozialismus hat es in Deutschland eine sogenannte
Deutschland wurde nach dem verlorenen Krieg in vier Besatzungszonen eingeteilt. Dies bedeutete, dass auch die Kultur eine dezentrale Entwicklung erfuhr und keine deutsche Stadt existierte, die wie zum Beispiel Paris alle Modernisierungsabsichten verband. So kam es, dass verschiedene Städte, im besonderen frühere Kunststädte wie München und Berlin die künstlerischen Nachkriegskräfte an sich zogen, wobei ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend die rheinischen Gebiete um Köln und Düsseldorf die führende Rolle in punkto moderner Kunst einnahmen.6
Eingrenzung des Themas Das Anliegen dieser Arbeit ist, den facettenreichen Weg zu verfolgen, den die moderne, westdeutsche Malerei am Beispiel München zwischen 1945 bis 1953 durchlief. Die speziell auf München bezogene Darlegung rechtfertigt sich aus seiner exemplarischen Entwicklung, in der die moderne Kunst trotz des Provinzialismus, der München bis heute anhaftet, nicht nur zum Gedeihen kam, sondern zudem auch wichtige Impulse für die gesamtdeutsche Kunstentwicklung nach 1945 lieferte.
Angefangen bei der Betrachtung der erneuten Aufnahme der traditionellen Münchner Atelierkultur, gefolgt von der Analyse der ersten Versuche der in München wiedererwachenden modernen Vorkriegskunst, bis hin zur Darlegung der abstrakten Entwicklung, deren Durchsetzung in Westdeutschland im besonderen mit der Gruppe ZEN 49 zusammenhing, gilt das Augenmerk nicht allein den avantgardistischen Höhepunkten der Münchner Nachkriegszeit. Viel mehr gilt es der Gegenüberstellung sowohl retardierender als auch progressiver Kräfte, wodurch die Gegebenheiten der Münchner Nachkriegsmoderne überzeugend erhellt werden können.
Die spezifische Ausgangssituation der Nachkriegszeit erfordert die Entwicklung der Kunst nicht isoliert, sondern im Zusammenhang von Politik und Gesellschaft darzustellen. Die Grundlage für die Bewertung moderner Kunst in München nach dem Krieg muss deshalb zunächst die Betrachtung der historischen Ausgangssituation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Sie markiert den einführenden zweiten Teil der Arbeit.
6 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Schmied, Wieland: Malerei nach 1945. In Deutschland, Österreich und der Schweiz, Franfurt a.M., Berlin, Wien 1974, 42; 9
Betrachtet werden allgemein gesellschaftspolitische Aspekte, ebenso wie die Kunstpolitik des „Dritten Reichs“, aus der die Malerei der Nachkriegszeit in Deutschland erwuchs. Interessant erscheint hierbei vor allem w i e sich die Kunst nach 1945 aus dieser belasteten Vergangenheit heraus entwickelte. Deshalb muss zunächst skizziert werden, welche Tendenzen innerhalb der vielfältigen Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen, nach einem geeigneten Stil für die Nachkriegszeit letztendlich als modern gedeutet werden können. In Orientierung an den modernen Werken der Vorkriegszeit kam es in den ersten Jahren nach 1945 zu einem Stilpluralismus, aus dem heraus nur wenige Künstlern hervortraten, die sich durch ihre spezifische Reaktion auf die äußeren Umstände ihrer Zeit als progressiv erwiesen. Einflussreiche Faktoren wie das zu jener Zeit aufgefasste veränderte Weltbild und die zahlreich geführten Kunstdiskussionen seit Beginn des Kalten Krieges finden in diesem Zusammenhang ebenso Erwähnung wie die Kunstrezeption durch das damalige Publikum, soweit sich dies aus der Quellenlage erschließen lässt.
Der Hauptteil der Studie beginnt mit der lokalspezifischen Ausgangssituation für die Malerei der Münchner Nachkriegszeit, deren Produktion unmittelbar nach 1945 begann. Sie gestaltete sich freischaffend, innerhalb der bald wieder eröffneten Akademie oder in diversen Künstlervereinigungen. Nach einer exemplarischen Betrachtung der Kunstproduktion folgt die Analyse des Ausstellungswesens und der Vermittlung von Kunstwerken, die sowohl auf öffentliche als auch private Initiativen hin stattfand. Ausgehend von der öffentlichen Ausstellungspolitik werden hier die kunstpolitische Gestaltung durch die amerikanischen Alliierten, die staatliche ebenso wie auch die städtische Kunstpolitik sowie die öffentlichen Kunstförderungen erfasst, auf ihre jeweiligen Modernisierungsabsichten hin geprüft und in Vergleich mit regionalen Ausstellungsaktivitäten gestellt. Dem gegenüber gestellt werden die Bemühungen privater Institutionen eingehender untersucht. Angefangen bei der Geschichte des halbprivatwirtschaftlichen Kunstvereins und einigen wenigen kleinen Privatgalerien der allerersten Stunde liegt das Augenmerk auf den modernen Galerien Günther Franke und Otto Stangl, deren Namen bis heute in der Geschichte des Kunsthandels verankert sind. Neben dem Schwerpunkt der Situation moderner Malerei der Münchner Nachkriegszeit liegt ein anderer im Bereich der Kunstrezeption, die sich sowohl in der wertenden Kritik der damaligen Presserezensionen als auch in den durch das vorgefundene Quellenmaterial belegbaren Reaktionen der Münchner Ausstellungsbesucher offenbart. 10
Begleitet wird der Hauptteil durch den steten Blick auf die Tradition sowie die zukünftigen Entwicklungen der Stadt, wodurch sich die Aussagekraft der Entwicklung moderner Malerei in München nach 1945 verstärkt.
Zusammengefasst gilt die vorliegende Arbeit der Darstellung des Münchner „Kunstklimas“ der Nachkriegszeit sowie der Hervorhebung progressiver künstlerischer Entwicklungen und ihrer Förderer. Betrachtet werden öffentliche und private Kultureinrichtungen und Initiativen, kulturell engagierte Personen, das kunstinteressierte Publikum, ebenso wie auch das geistige Klima der Stadt. Um dabei dem Interesse nach einer auf alle Initiativen gleichmäßig verteilten Überblicksdarstellung moderner Münchner Nachkriegsmalerei nachzukommen, musste in einigen Kapiteln indem über die Akademie oder den Kunstverein auf eine tiefer eingehende Betrachtung verzichtet werden, was jedoch Raum für weitere Einzelforschungen ermöglicht.
Den historischen Zeitraum der vorliegenden Arbeit in groben Zügen mit dem Jahr 1953, dem Todesjahr Josef Stalins, enden zu lassen, rechtfertigt sich aus den bis dahin ausgebildeten unterschiedlichen Entwicklungen der deutschen Nachkriegsmalerei. Denn während im Verlauf der diktatorisch geführten Kulturpolitik Stalins der sozialistische Realismus als allein gültiger Stil für die DDR erklärt worden war, kam es innerhalb der in Freiheit geäußerten Kunstrichtungen des polarisierten Westens zu einem „internationalen Stil“, der sich in der Weiterentwicklung einer nach dem Krieg aufgegriffenen, abstrakten Formensprache als alles verbindende „Weltsprache“ manifestierte. Für diesen „internationalen Stil“ steht in München die Gruppe ZEN 49.
Methodik Das zentrale Interesse der Arbeit gilt der Analyse der Situation und Rezeption moderner Kunst in der Münchner Nachkriegszeit, weshalb auf ikonographische und/ oder ikonologische Fragestellungen weitgehend verzichtet wird. Vielmehr werden die zu besprechenden Werke zunächst aus dem Kontext der allgemeinen kulturellen Entwicklung zu verstehen versucht: aus der ungestörten Entwicklung moderner Kunst bis zur ihrem Stillstand im „Dritten Reich“, gefolgt von der Wiederaufnahme vorkriegsmoderner Stilarten und deren Möglichkeit zur Weiterentwicklung innerhalb der Nachkriegskultur. 11
Primär werden zwei methodische Vorgehensweisen zum Einsatz gebracht: Die stilanalytische Methode, weil man durch sie Erkenntnis über den Zusammenhang der nach 1945 vielseitig geäußerten Ausdrucksformen erlangt. Sie erweist sich deshalb als besonders hilfreich, da durch sie das jeweils Charakteristische innerhalb der stilpluralistischen Nachkriegsmalerei fokussiert und bestimmte Ausdrucksformen hervorgehoben werden können, die sich als ausschlaggebend für weitere Entwicklungen der modernen Kunst erweisen. Gleichzeitig sollen mit Hilfe strukturanalytischer Überlegungen der Formwandel moderner Kunst und die Hintergründe der Formtradition nach vorne treten. In Berufung auf Sedlmayrs strukturanalytischen Methode werden die einzelnen Kunstwerke in ihrer Gesamtheit und innerhalb der Umstände und Beweggründe, aus denen heraus sich ein Kunstwerk zu jener Zeit entwickelte, erfasst, so das die Wandlung der Struktur historisch verständlich wird.7
Daneben verhelfen differenzierte Fragestellungen wie solche zur Sozialgeschichte der Kunst, zur Rezeptionsgeschichte oder zur Kunstpsychologie dazu, die Wahrnehmung und Rezeption moderner Kunst zu erklären. Sie werden dort gestellt, wo die historischen Rezeptionsbedingungen und die Wirkungsgeschichte der Moderne in den Vordergrund treten. Dabei war die Kunstrezeption ihrerseits wiederum eng mit der weit verbreiteten Kennerschaft der zeitgenössischen Kritik und deren Werturteilen verknüpft.
Moderne Malerei in München nach 1945 als Forschungsgegenstand Hinsichtlich der deutschen Malerei nach 1945 gibt es bisher einige große Publikationen, die das gesamte Spektrum, auch über die ersten Jahre hinaus, mehr oder weniger umfassend skizzieren.8 München und seine Kunstentwicklungen nach
7 Vgl. Sedlmayr, Hans: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, München 1958, 12, 104, 177; 8 Zu nennen wäre an dieser Stelle: Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20.Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001; Ausstellungskatalog: Kunst des Westens: deutsche Kunst 1945-1960, hrsg. von Ferdinand Ullrich, Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Köln 1996; Damus, Martin: Kunst in der BRD. 1945 1990. Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, Reinbeck bei Hamburg 1995; Borger, Hugo/ Mai, Ekkehard/ Waetzoldt, Stephan Hrsg. : ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln/Weimar/Wien 1991; Ausstellungskatalog: 1945 1985. Kunst in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Dieter Honisch, Nationalgalerie, Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985; Ausstellungskatalog: Grauzonen Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 12
dem Zweiten Weltkrieg werden hier jedoch entweder gar nicht oder nur sekundär erwähnt. Innerhalb dieser gesamtdeutschen Betrachtung markiert Karin Thomas mit ihrem im Dumont Verlag herausgegebenen Katalog „Kunst in Deutschland seit 1945“ den bisher jüngsten Stand der Forschung, indem sie den Schwerpunkt auf die Kunstentwicklung des geteilten Deutschland von 1945-1989 setzt.9 Eine verlässliche Basis für die Betrachtung der spezifischen Kunstentwicklungen in München existiert nur in wenigen Publikationen. Allen voran bietet die aufschlussreiche Zusammenfassung der städtischen Kulturpolitik Münchens von Marita Krauss einige auf Primärquellen basierende Ergebnisse, die auch die städtische Kunstpolitik bis 1954 in ihren groben Zügen erhellen.10 Daneben liefert der von Horst Ludwig zusammengestellte Katalog zur „Malerei in München im 20. Jahrhundert“ eine Zusammenfassung über die verschiedenen Kunstströmungen der Stadt, so auch eine knappe Zusammenfassung über die künstlerischen Entwicklungen der Nachkriegszeit.11 Etwas genauer betrachtet Friedrich Prinz, in der von ihm herausgegebenen Publikation „Trümmerzeit in München“, die Münchner Nachkriegskultur, indem er den „dialogischen Charakter“ Münchens hinsichtlich der traditionellen und einiger weniger innovativer Kräfte erkennt, diese Beobachtung jedoch unausgeführt lässt.12 Dafür befasst sich ein weiterer Beitrag von Marita Krauss noch einmal mit der städtischen Kunstpolitik der Jahre 1945- 1949, indem er gleichzeitig auf das Desiderat nach einer allumfassenden Beschreibung des Münchner Gesamtkunstklimas hinweist.13 Andere Darstellungen der Kunst während der Münchner Nachkriegszeit widmen sich der Etablierung der Gruppe ZEN 49. Die Publikation von Beate Frosch leistet in diesem Zusammenhang eine künstlerisch und kunstpolitisch bezogene Neubewertung der Gruppe und liefert vor allem hinsichtlich der Frage nach der amerikanischen Einflussnahme auf die zeitgenössische Münchner Kunst einige
1945 1955, hrsg. von Bernhard Schulz, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin/Wien 1983; Held, Jutta: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1981; 9 Vgl. Thomas, Karin: Kunst in Deutschland seit 1945, Köln 2002 sowie ihre vorausgegangene Publikation: Thomas, Karin: Zweimal deutsche Kunst nach 1945: 40 Jahre Nähe und Ferne, Köln 1985; 10 Vgl. Krauss, Marita: Nachkriegskultur in München. Münchner städtische Kulturpolitik 1945 1954, München 1985; 11 Ludwig, Horst G. Hrsg. : Vom „Blauen Reiter“ zu „Frisch gestrichen“ Malerei in München im 20. Jahrhundert, München 1997; 12 Vgl. Prinz, Friedrich Hrsg. : Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch: 1945 1949, München 1984; 13 Vgl. Krauss, Marita: Politik und Kultur, Provinzialität und Weltbürgertum Münchens Städtische Kulturpolitik 1945-1949, in: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945 1949, hrsg. von Friedrich Prinz, München 1984, 21-38; 13
aufschlussreiche Ergebnisse, die in der vorliegenden Arbeit erweitert werden konnten.14 Der Bereich privater Kunstvermittlung wird in groben Zügen durch die von den Galeristen Rupert Walser und Bernhard Wittenbrink herausgegebene Publikation über den Münchner Kunsthandel des 20. Jahrhunderts erhellt.15 Aufschlussreiche Einzelstudien existieren zu den Galerien Günther Franke und Otto Stangl.16
Das Ausmaß der Einzelforschungen macht deutlich, dass eine übergreifende und in sich geschlossene Bearbeitung der Geschichte der modernen Malerei im Nachkriegs-München fehlt. Die vorliegende Arbeit und deren wertende Betrachtung über die Anfänge der Münchner Malerei bis hin zur Konsolidierung abstrakter Kunst durch die Gruppe ZEN 49 beabsichtigt, diese Lücke zu schließen. Sie integriert einige hilfreiche Ergebnisse der genannten Einzelstudien, profitiert vor allem aber durch die Qualität des zur Verfügung stehenden Primärquellenmaterials, das bisher im Wesentlichen ungesichtet war. Zeitgenössische Briefwechsel zwischen den relevanten Persönlichkeiten und dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Berichte der zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften, wie auch die zu jener Zeit verfassten Ausstellungskataloge, geben dabei nicht nur den besten, sondern auch einen lebendigen Einblick in die Kultur und Gesellschaft der Nachkriegszeit. Basierend auf diesen Quellen konnte eine Ausstellungsliste zusammengestellt werden, welche die bisher lücken- und fehlerhaften Verzeichnisse der genannten Publikationen ergänzt und einen umfassenden Überblick über den öffentlichen Zugang zu moderner Kunst in München ermöglicht.
14 Frosch, Beate: Die Künstlergruppe ZEN 49 und ihr Beitrag zur Entwicklung der gegenstandslosen Kunst in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1957, Diss., Trossingen 1992; 15 Vgl. Walser, Rupert/ Wittenbrink, Bernhard Hrsg. : ohne Auftrag. Zur Geschichte des Kunsthandels, erschienen anläßlich der Ausstellung „ohne Auftrag. Zur Geschichte des Kunsthandels“, Sonderschau der Kunstmesse Art Frankfurt 1989, Band I, München 1989; 16 Vgl. Schmidt, Doris Hrsg. : Briefe an Günther Franke. Porträt eines deutschen Kunsthändlers, Köln 1970; Segieth, Clelia: Etta und Otto Stangl: Galeristen, Sammler und Museumsgründer, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Zentralarchiv des Internationalen Kunsthandels e.V., Köln 2000; 14
II. Neuanfänge
1. Ausgangssituation moderner Kunst in der Westdeutschen Nachkriegszeit
1.1. Gesellschaftspolitische Skizze der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Ausgangssituation, in der sich die deutsche Kunst in den ersten Jahren nach 1945 befand, war maßlos und folgenschwer: Das Ende des Zweiten Weltkrieges und somit das Ende der nationalsozialistischen Diktatur hinterließ nicht nur ein zerstörtes Staatswesen sowie ein in Trümmern liegendes Land. Es versetzte die Welt in Sprachlosigkeit und Schrecken als das Ausmaß der Greueltaten der Nationalsozialisten ans Tageslicht kam. Deutschland war in ein „ ... politisches und geistig- moralisches Vakuum im Zentrum des Kontinents“17 getreten.18
Der 8. Mai 1945 markierte den Worten Richard von Weizsäckers folgend zwar „ ... das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte ... .“19 Doch bedeutete dieses Ende zugleich auch Unsicherheit über die Zukunft des Landes, das auf Basis der „Vier- Mächte-Erklärung“ unter den vier alliierten Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion in vier Besatzungszonen geteilt worden war. Auf der Potsdamer Konferenz Juli-August 1945 wurde eine Politik der Demokratisierung, der Entmilitarisierung und der Entnazifizierung im ehemaligen Deutschen Reich bestimmt.20
17 Bracher, Karl-Dietrich: „Erlöst und vernichtet in einem...“ Die doppelte Herausforderung der Nachkriegszeit, in: Borger, Hugo/ Mai, Ekkehard/ Waetzoldt, Stephan Hrsg. : ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns Köln/ Weimar/Wien 1991, 1; 18 Der nach Amerika emigrierte Thomas Mann äußerte sich diesbezüglich am 10.05.1945 im BBC wie folgt: „Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt! Wie zeigt sich darin noch einmal schrecklich der Abgrund, der sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan hatte.“, zitiert nach: Bärnreuther, Andrea/ Schuster, Klaus Peter Hrsg. : Das XX. Jahrhundert. Kunst, Kultur, Politik und Gesellschaft in Deutschland, Köln 1999, o.S.; 19 Von Weizsäcker, Richard: Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Bonn 1985, 1; 20 Vgl. Bracher 1991, 2ff sowie Blanchebarbe, Ursula: Deutschland im Spannungsfeld der nationalen Krise und seine Öffnung in die neue Welt 1945-1955 , in Ausstellungskatalog: ZEN 49. Die ersten Jahre Orientierungen, hrsg. von Jochen Poetter, Kunsthalle, Baden-Baden 1986, 126f; 15
In den Nürnberger Prozessen wurden die Hauptkriegsverbrecher der nationalistischen Führung medienwirksam vor einem internationalen Tribunal gestellt, angeklagt und verurteilt.
Die anfängliche Angst der Deutschen vor den fremden Besatzungsmächten schien zumindest in den westlichen Zonen weniger begründet, führten doch die Pläne der Westalliierten zur Umerziehung des deutschen Volkes schnell zu dessen Einbeziehung21, vor allem dann, wenn es um die politische Gestaltung des Landes ging.22 Liberale Zukunftsaussichten sowie der Plan, Deutschland beim Aufbau eines demokratischen Staatssystems zu unterstützen23, es in die freiheitlich- demokratische Welt des Westens zu integrieren, ließen die von existentieller Not und vom Verlust der Freunde oder Familienmitglieder gequälte Bevölkerung erneut hoffen. Zudem wurde die Entnazifizierung in den westlichen Zonen schon bald nicht mehr konsequent durchgeführt, was sich darin zeigte, dass die Reintegration der zu langen Haftstrafen verurteilten Nazis im Laufe der 50er Jahre, vor allem unter der Regie der CIA, schnell vorangetrieben und viele der ehemaligen Kollaborateure bei der Verwaltung und dem Aufbau der Bundeswehr in der BRD beteiligt wurden. Impulsgebend wirkte sich hierbei der zunehmende Interessenkonflikt zwischen den politischen Systemen der USA, Großbritanniens und Frankreich einerseits und der UdSSR andererseits aus. Anlass des Konflikts waren unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Konzepte. Deren Unvereinbarkeit führte im September 1947 zur Bildung einer Bizone aus amerikanisch und britisch besetzten Gebieten, zu der im März 1948 die französische Besatzungszone hinzukam. Die daraus resultierende Trizone bildete die Grundlage der später gegründeten Bundesrepublik. Berlin, das mitten in der sowjetisch besetzten Zone lag, wurde in eine Vier-Sektoren-Stadt geteilt.
Eine der grundlegenden Differenzen zwischen Ost und West zeigte sich innerhalb des die Ostblockländer ausschließenden, mit Hilfe amerikanischer Kredite aus dem
21 Dazu ein Zitat von Karl Jaspers in Reaktion auf die Äußerungen der Siegermächte in der unmittelbaren Nachkriegszeit: „Das deutsche Volk solle nicht vernichtet werden, daß heißt, uns wird eine Chance gegeben. Und das deutsche Volk solle erzogen werden, daß heißt, wir dürfen unsere eigentliche gute geistige Welt wieder aufbauen und weiterentwickeln.“, Jaspers, Karl: Antwort an Siegfried Unseld, in: Die Neue Zeitung, 25.10.1945; 22 Vgl. hierzu die Ausführungen Glasers zur alliierten Besatzung „USA“: Der freundliche Feind, in: Glaser, Hermann: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, München 1997, 35-42 sowie Blanchebarbe 1986, 127; 23 Im Januar 1946 fanden in Deutschland erstmals seit 1933 wieder freie Wahlen statt; 16
Marshallplan geschaffenen „European Recovery Program“ 1947 , das die Wirtschaft im Westen nach dem Muster einer freien kapitalistischen Marktwirtschaft nach amerikanischen Vorbild aufzubauen verhalf, während die Ostzone an einer am Sozialismus der UdSSR orientierten Planwirtschaft festhielt. 1948 setzten die Westmächte ohne Abstimmung mit der Sowjetunion die Währungsreform durch, die zu einem schnellen wirtschaftlichen Aufschwung, dem westdeutschen „Wirtschaftswunder“ führte.24 Das Scheitern einer gemeinsamen Währung verstärkte den Bruch mit den Ostmächten und führte im Juni 1948 zu einer Blockade West-Berlins seitens der UdSSR. Bis zu ihrer Beendigung im Mai 1949 musste Berlin durch die westalliierte Luftbrücke mit den wichtigsten Gütern versorgt werden. Die Blockade bekräftigte im Westen die Ablehnung des Kommunismus und intensivierte das Vertrauen zu den Amerikanern, deren Besatzungsmacht als Schutzmacht verstanden wurde. Schließlich führte der immer stärker werdende Ost-West-Konflikt zur Gründung zweier unterschiedlicher Staaten: mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 kam es zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staatssystem einer parlamentarischen Demokratie. Aus der sowjetisch besetzten Zone wurde am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik, die sich am Zentralismus der UdSSR orientierte. Souveränität hatte die junge Bundesrepublik damit selbstverständlich noch nicht erreicht, sie hing weiterhin von den drei Westmächten ab. Innerhalb dieses Status begann die 14-jährige Ära des an der Westintegration interessierten Bundeskanzlers Conrad Adenauer CDU , wohingegen die DDR, mit Generalsekretär Walter Ulbricht SED eine Außenpolitik in Anlehnung an die Sowjetunion forcierte.
Während Westdeutschland, vor allem durch die amerikanische Hilfe, einen wirtschaftlichen Aufschwung und damit einhergehend eine allgemeine Steigerung des Lebensstandards erfuhr, lebte Ostdeutschland innerhalb des kommunistisches Systems. Im Vergleich zur sowjetischen Besatzungsmacht verhielt sich der anfängliche Feind Amerika somit insgesamt großzügiger gegenüber seinem Besatzungsland. Er trat als Verbündeter auf und verhalf Deutschland zu einer stabilen Demokratie, etablierte ein weitgehend funktionstüchtiges kapitalistisches System, unterstützte das Land beim Aufbau einer funktionierenden Marktwirtschaft und konstituierte so die Deutsche Bundesrepublik. Die Folge war freilich eine Amerikanisierung der deutschen Kultur.
24 Vgl. hierzu auch Blanchebarbe 1986, 128; 17
1.2. Wunden des Hitlerreichs — kultureller Wiederaufbau in der Nachkriegszeit
Neben der Lösung politischer Fragen zur Zukunft des Landes, galt es auch die von der NS-Zeit radikal unterbrochene und diffamierte moderne deutsche Kultur erneut zum Leben zu erwecken. Die Vielfalt des künstlerischen Schaffens während der Weimarer Republik war bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten vorbei. Schnell wurde die Bildende Kunst und die Kultur einer totalen staatlichen Kontrolle unterworfen und die vor dem Krieg kontinuierlich entwickelte Moderne diffamiert.25 Der Grund war die Unvereinbarkeit der modernen Kunst mit dem sich an einem heroischen Schönheitsideal orientierenden Kunstverständnis der nationalsozialistischen Ideologie. In einem unvorstellbaren Ausmaß kam es zur „Säuberung“ der deutschen Kunst, indem nicht nur jegliche Kritik verboten wurde26, sondern auch Bücher verbrannt, Museen geplündert, Akademien und Kunstvereine über die Personalpolitik des NS- Regimes kontrolliert, Künstler mit Malverbot belegt, über Museumskuratoren Berufsverbot verhängt und geplante Ausstellungen verhindert wurden.27 Den Gipfel der Repressionen bildete die am 19.Juli 1937 in München eröffnete Ausstellung „Entartete Kunst“28. Die von Joseph Goebbels initiierte und von Adolf Ziegler kuratierte Ausstellung präsentierte 650 konfiszierte Kunstwerke aus diversen deutschen Museen. Sie wanderte bis 1941 in zwölf weitere Städte des damaligen Reiches und wurde von rund drei Millionen Besucher gesehen. Als entartet galten vor allem die Werke des Expressionismus und der abstrakten Kunst. Man stellte ihnen Darstellungen von Krüppeln gegenüber und setzte sie mit Werken von geistig Behinderten gleich, mit dem Ziel bei den Rezipienten
25 Dies betraf vor allem die Stilrichtungen des Expressionismus, Impressionismus, Dadaismus, Surrealismus, Kubismus, Fauvismus und der Neuen Sachlichkeit. 26 Ab 1936 galt das Verbot der Kunstkritik, vgl. Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001, 170; 27 Eine gute kurze Zusammenfassung über die Diffamierung moderner Kunst im „Dritten Reich“ gibt der Beitrag „Zur Möglichkeit der individuellen künstlerischen Entwicklung während des Nationalsozialismus“, bei Straka, Barbara/ Suermann, Marie-Therese: „... die Kunst muß nämlich gar nichts!“, in Ausstellungskatalog: Grauzonen Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945 1955, hrsg. von Bernhard Schulz, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin/ Wien 1983, 241ff; vgl. auch Schuster 1987; 28 vgl. Glaser, Hermann: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, München 1997, 160; 18
Beklemmungen und Widerwillen auszulösen.29 Zudem wurde die Präsentation der als „jüdisch-bolschewistisch“ und „geisteskrank“ bezeichneter Kunst pädagogisch zur Legimitation der Judenverfolgung genutzt und versucht, die Theorie vom Zusammenhang zwischen Kunst und Rasse als allgemeine Tatsache zu manifestieren. 1938 folgte das „Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“, das die Beschlagnahmung von rund 16 000 Kunstwerken der Moderne legalisierte. Kunstwerke die nicht zerstört wurden, wurden für zum Teil geringe Summen ins Ausland verkauft. 30 Ein Großteil der öffentlich zusammengetragenen Werke einer ganzen Epoche ging dadurch verloren31 und private Sammler und Kunsthändler wurden ihrer modernen Gemälde, Graphiken, Zeichnungen und Skulpturen beraubt.
Die von den Nationalsozialisten propagierte neue „deutsche“ Kunst sollte eine Kunst des „nordisch-arischen Volkes“ sein. Wie man sich diese vorzustellen hatte, zeigte die parallel zur entarteten Kunstausstellung veranstaltete „Große Deutsche Kunstausstellung“ im Münchner „Haus der Deutschen Kunst“.32 Die Exponate thematisierten im Besonderen das Leben des einfachen Volkes. Stillende Mütter, arbeitende Bauern in idyllischer Atmosphäre, muskulöse Sportler, ästhetisierte Frauengestalten, aber auch mythologische Szenen oder arkadische Landschaften offenbarten sich als eine von den NS-Politikern bevorzugte Motivauswahl. Rein stilistisch orientierte sich die nationalsozialistische Kunst an der „Bauern- Blut- und Boden“- Ideologie der Heimatkunst und der von Kaiser Wilhelm favorisierten Historienmalerei des 19.Jahrhunderts.33 Der Erfolg dieser Verkaufsausstellung verdeutlicht die Identifikation eines Großteils der Bevölkerung mit den
29 Vgl. hierzu die Abbildungen in Ausstellungskatalog: Führer zur Ausstellung „Entartete Kunst“, Berlin 1937; 30 1939 wurden in Berlin ca. 4000 Bilder verbrannt, vgl. Glaser 1997, 163 sowie Hofmann, Werner: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der 40er, München 1998, 323-324; 31 Viele öffentliche Sammlungen wurden beschlagnahmt und moderne Abteilungen der Kunstmuseen aufgelöst, so dass die ein oder anderen Erzeugnisse von international bedeutsamen Künstlern wie Beckmann, Chagall, Klee, Kokoschka, Schlemmer, Mies van der Rohe, Barlach, Kandinsky u.a. verloren gingen; 32 Vgl. Ausstellungskatalog: Große Deutsche Kunstausstellung München 1937, Haus der Kunst, München 1937; 33 In diesem Zusammenhang prägte Werner Haftmann die Kunst des Nationalsozialismus mit dem Begriff des „glatten Klischee-Realismus“, vgl. Haftmann, Werner: Malerei des 20. Jahrhunderts, 1. Auflage München 1954, 9. aktualisierte Auflage München 2000, 365; 19
ästhetischen Idealen des Nationalsozialismus.34 Kriegsverherrlichende Bilder dienten der Propaganda der Nazipolitik.35
Die Fortführung der politisch und ideologisch geächteten Moderne vollzog sich während des „Dritten Reichs“ im Untergrund. Künstler, die nicht ins Ausland emigriert waren36, zogen sich in die „innere Emigration“ zurück. 37 Moderne Kunst wurde nur noch inoffiziell, unter den Gefahren der Vernichtung sowie strafrechtlicher Folgen für den Besitzer produziert und verkauft.38 Folglich blieben dem durch den Nationalsozialismus geprägten jungen Künstler die Berührungspunkte mit moderner Kunst versagt es sei denn, er hatte das Glück, „ ... in seinem Elternhaus ... Verbindungen mit der Tradition der künstlerischen Entwicklung zu finden, von den Expressionisten, von den Ideen und Zielen der „Brücke“ oder des Bauhauskreises, von den Bestrebungen der Abstrakten oder der Surrealisten ... “39 zu hören. 40 Der Aufbau des persönlichen Kontaktes zu Vertretern der älteren Künstlergeneration wurde für die interessierten Jüngeren wichtiger denn je.41
34 Vgl. Glaser 1997, 43; 35 Zur „Kunst des deutschen Totalitarismus“ vgl. Haftmann 2000, 364 366 sowie Berthold Hinz: Die Malerei im deutschen Faschismus, München 1974; 36 Unter den zahlreichen Emigranten befanden nicht nur Künstler wie Josef Albers, Max Beckmann, Max Ernst, Walter Grophius, Wassiliy Kandinsky, Lyonel Feininger oder Lazlo Moholy-Nagy auch namhafte Kunsthändler, wie zum Beispiel Justin Thannhauser in München, emigrierten in die Schweiz, Paris oder New York. Es waren Orte, in denen sich die moderne Kunst frei entwickeln konnte, was zu einer Verlagerung des modernen Kunstmarktes ins Ausland führte; 37 Künstler, die während des Krieges in „innerer Emigration“ moderne Bilder schufen waren z.B. Max Ackermann, Willi Baumeister, Georg Meistermann, Ernst Wilhelm Nay, Otto Ritschl, Theodor Werner oder Fritz Winter; 38 Zitat: „Tief deprimiert, verzweifelt und in ständiger Furcht, verhaftet zu werden, konnte beispielsweise der Berliner Maler Werner Heldt zwischen 1932 und 1945 kaum arbeiten.“, Mühlhaupt, Freya: „... und was lebt, flieht die Norm“. Aspekte der Nachkriegskunst, in Ausstellungskatalog: Grauzonen Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945 1955, hrsg. von Bernhard Schulz, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin/ Wien 1983, 184. Zwar gab es Kunsthändler, wie Günther Franke in München, bei denen nach wie vor moderne Kunstwerke erhältlich waren, doch blieb dies für alle Beteiligten ein gefährliches Geschäft; 39 Reindl, L.E.: Moderne Kunst in Konstanz, in: Das Kunstwerk, H. 2, 1946/47, 32; 40 So z.B. Hermann Bluth *1926 , der in Erinnerung an das Studium an der Berliner Akademie festhielt: „Die Welt hörte damals auf mit Cézanne und van Gogh.“ Expressionistische Kunstwerke existierten für ihn nur unbewußt. Wie Bluth als Zeitgenosse hier noch einmal bestätigt waren diese aus der Öffentlichkeit verbannt, vgl. Straka/Suermann 1983, 247 41 Vgl. hierzu Straka/ Suermann 1983, 314; 20
Das Ende dieser künstlerischen, kulturellen wie auch geistigen Unfreiheit kam mit dem Ende des Hitlerreiches.42 Der Weg danach war dennoch schwer. Man suchte nach einem Anschluss an die Generation der Vorkriegsmoderne. Verunsicherung prägte die zum Teil an traditionellen Werten festhaltende, zum Teil aber auch Innovationen offen gegenüber stehende „jungen“ Kunst. Die Wunden des Krieges zeigten sich in dem Verlust herausragender Künstler, die entweder im Krieg umgekommen waren, sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden oder aber ihre neu gegründete Existenz am Ort ihrer Emigration nicht mehr verlassen wollten.43 Im Besonderen aber fehlte eine ganze Generation, die an einer natürlichen Weiterentwicklung der Moderne beteiligt hätte sein können. Hinzu kamen die katastrophalen Arbeitsbedingungen nach dem Krieg. Viele Ateliers waren zerbombt und es fehlte an künstlerischem Material.44
Trotz dieser Probleme war das Verlangen nach Kultur und geistiger Auseinandersetzung groß. Dies belegen zeitgenössische Quellen und Tageszeitungen. Sie berichten nicht nur von zahlreichen Ausstellungen, Konzerten und Theateraufführungen, sondern auch von dem regen Zuspruch, den diese durch die Bevölkerung erfuhr.
42 Die Befreiung glich einer Erlösung vom Druck des Totalitarismus in allen Bereichen: „Nach dem Stau von zwölf Jahren ergoß sich mit Vehemenz, was in Schubladen versteckt, in Köpfen verborgen gewesen war ... Bei dem Elend war es eine Lust, in Freiheit zu schreiben und zu lesen.“, Eschenburg, Theodor: Jahre der Besatzung 1945-49, in: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in fünf Bänden, hrsg. von Karl Dietrich Bracher u.a., Bd. 1, Stuttgart, Wiesbaden 1983, 157; Die Freiheit der Kunst zumindest der westdeutschen wurde wenige Jahre später im Grundgesetz garantiert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“, „Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind ganz frei.“, vgl. Artikel 2 und 5, Absatz 3 der Grundrechte von 1949; 43 Beispielsweise verstarben im „Dritten Reich“ Ernst Ludwig Kirchner, Christian Rohlfs oder Oskar Schlemmer, zählten zu den Kriegsgefangenen Manfred Bluth 1945/47 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft oder Fritz Winter in russischer Krieggefangenschaft und emigrierten Josef Albers, Max Beckmann, Hans Hartung, Josef Scharl oder Wols nach Amerika oder Paris; 44 Eine Beschreibung des facettenreichen Materialmangels gibt beispielsweise: Grochowiak, Thomas: Neuanfänge ’45 aus Sicht des Künstlers, in: ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, hrsg. von Hugo Borger/ Ekkehard Mai und Stephan Waetzold, Köln/ Weimar/Wien 1991, 175/176; Zudem bezeugt ein Brief von K.O. Götz an Will Grohmann vom 20.11.1945 die schwierige Situation der arbeitshungrigen Maler der Nachkriegszeit: „Vorgestern aus der Gefangenschaft zurück. Wohne hier auf dem Lande ... Ich sehe mich gezwungen, mit Kaffeesatz auf Klosettpapier zu malen.“, in Ausstellungskatalog: Kunst in Deutschland 1898 1973, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1973/74, im Jahre 1945; zur Ausgangssituation der Kunst nach 1945 vgl. auch Thomas 2002, 12 ff; 21
Ein kultureller Aufschwung war somit präsent, wenngleich die Qualität dieses Aufschwunges innerhalb der divergierenden Künstlergenerationen differenziert bewertet werden muss. Stellvertretend hierfür sei eine Aussage Willi Baumeisters erwähnt, der den künstlerischen Neuanfang als eher schleppend definierte, während die junge Nachkriegsgeneration mit Gerhard Fietz einen mit Elan begleiteten künstlerischen Neuanfang verspürte.45 Ein Grund für die unterschiedliche Einschätzung basiert darauf, dass Künstler wie Willy Baumeister die „allgemeine künstlerische Wiedergeburt in Deutschland“ mit der von ihnen erlebten Zeit nach dem ersten Weltkrieg verglichen.46 Doch muss in der Bewertung der Kunst nach 1945 dem unterschiedlichen Wahrnehmungshorizont der Urteilenden Rechnung getragen werden. Zu Recht begründete Baumeister seine Beobachtung anhand der nachhallenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Kunstpolitik, die der Jugend jegliche Form der Moderne über Jahre hinweg versagte. Die Erwartung an die Kunst war bei etablierten Positionen wie Baumeister somit eine andere als beispielsweise bei Fietz, der unvoreingenommen in die Zukunft blickte. Bestätigt wird diese Beobachtung durch die Analyse der Ausgangssituation nach 1945, die eine durch die nationalsozialistische Politik verursachte, radikale Unterbrechung moderner Kunstentwicklung war, währenddessen die Situation nach 1919 eine übergangslose Fortentwicklung der Moderne war. Somit stellte die Zurschaustellung der Moderne nach 1945 für manche der an den Ästhetizismus der nationalsozialistischen Kunst gewöhnten Rezipienten keine Wiedergeburt, sondern Neuland dar. Dies wiederum erforderte ein neu zu entdeckendes Bewusstsein gegenüber der als deformiert empfundenen Ausrucksformen der modernen Kunst, für die es sukzessiv ein neues Verständnis aufzubauen galt. Die ständige Präsenz und Diskussionen rund um die moderne Kunst trugen dem Gelingen dieses Erfordernisses bei.
Fiel die Moderne nach 1919 durch die stetige Suche nach neuen künstlerischen Ausrucksformen auf, so besann sich die Kunst nach 1945 zunächst auf Tendenzen aus der Vergangenheit.
45 Zitat: „Erst nach dem Krieg konnte ich mich wieder künstlerisch entfalten ... . Eine neue Zeit fing an die alte war zerstört, war aus.“, zitiert in Ausstellungskatalog: ZEN 49. Die ersten Jahre Orientierungen, hrsg. von Jochen Poetter, Kunsthalle, Baden-Baden 1986, 157; 46 Tagebuchnotiz Baumeisters vom 20.10.1945: „Das Jahr 1945 brachte nicht die allgemeine künstlerische Wiedergeburt in Deutschland, wie sie sich 1919 ereignete. Der Elan der Schaffenden war durch die vielen Jahre der gründlichen Irreführung und Einschüchterung gehemmt. Die Jugend hatte keine zeitgemäße Kunst gesehen ... “, zitiert bei Götz, Adriani Hrsg. : Baumeister, Köln 1971, 189; 22
Im Rahmen der vorliegenden Studie interessiert vor allem w e l c h e Orientierungspunkte für die Zukunft gelten sollten. Traditionsbewusste Stimmen postulierten einen Rückgriff auf gesicherte Werte, die dem Christentum oder Humanismus entsprangen.47 Daneben fällt ein Wiederanknüpfen an und die Rezeption der Epochen der deutschen Romantik und Klassik auf.48 Doch sei dies nur am Rande erwähnt, da die innovativen Entwicklungen nach 1945 hier im Fokus stehen sollen.
Als wichtige Orientierungspunkte für die Wiederentdeckung moderner Kunst erwiesen sich Berichte über die bald nach Kriegsende stattfindenden Überblicksausstellungen und die Werke der im Ausland tätigen Künstler. Sie hatten in der damals fernsehlosen Zeit einen hohen Stellenwert, wenn es darum ging Tendenzen der modernen Malerei ausfindig zu machen.49 Viele der Kulturschaffenden und Interessenten der modernen Kunst waren auf solche Berichte angewiesen, schließlich war der internationale Austausch und die Mobilität durch die oftmals zerstörte Infrastruktur der Verkehrswege stark eingeschränkt.50 Medienrezensionen lieferten wichtige Quellen für die Auseinandersetzung mit moderner Kunst und gaben Inspirationen für den künstlerischen Wiederbeginn.51 Eine wesentliche Bedeutung für den künstlerische Entwicklungen betreffenden Informationsaustausch spielte die westalliierte Kulturpolitik. Innerhalb ihrer Bemühungen um eine internationale Einbindung deutscher Kunst organisierten die Alliierten nicht nur Ausstellungen zur internationalen wie auch zur deutschen
47 Beispielsweise schrieb Friedrich Wolf in einem Beitrag der kurz nach dem Krieg erschienen Zeitschrift „Der Aufbau“: „Wir wollen den Humanismus der besten deutschen Geister wieder zu dem unseren machen den Geist der Gerechtigkeit, der Wahrheitsliebe, des Bekennermutes.“, Friedrich Wolf, in: Aufbau, 3, 1945, 204; vgl. hierzu auch Haftmann 2000, 422-423; 48 Auffallend oft wurde Goethes „Iphigenie“ neu rezipiert oder Lessings „Nathan der Weise“ aufgeführt, vgl. Damus 1995, 70-71; siehe auch die Ausführungen bei Glaser unter dem Titel „Auf Goethe hoffend“, Glaser 1997, 107f.; 49 Eines der wichtigsten Medien für moderne Kunst war zu jener Zeit die im Woldemar-Klein Verlag, Baden-Baden, publizierte Kunstzeitschrift „Das Kunstwerk“, vgl. Das Kunstwerk, hrsg. von Leopold Zahn, Baden-Baden, 1946ff; 50 Die Schwierigkeit des Informationserwerbs zu modernen Ausstellungen der Nachkriegszeit wird durch die Erinnerung des Künstler Thomas Grochowiak bestätigt: „Man hörte und wußte meist nur zufällig davon“, Grochowiak 1991, 184; 51 Die bei Straka und Suermann geführten Interviews mit einigen Künstlern der Nachkriegszeit bestätigen die Wichtigkeit des die moderne Malerei betreffenden Informationsaustausches, vgl. Straka/Surmann 1983, 252ff.; 23
modernen Kunst.52 Sie sorgten zudem für den Zugang und die Verbreitung von internationalen Zeitungen und Zeitschriften, so dass Informationen über künstlerische Entwicklungen und Tendenzen des Auslandes nach Deutschland und nach und nach in das Bewusstsein der deutschen Kunstszene gelangen konnten.53 Dass auch diese einer Zensur unterlagen soll nicht unerwähnt bleiben. Der Förderung einer wieder beginnenden modernen Kunstproduktion auf der einen Seite stand die Ablehnung der ideologischen Wertestruktur des „Dritten Reichs“ auf der anderen Seite gegenüber. Kunstwerke von Künstlern, die für das nationalsozialistische Regime tätig waren, wurden beschlagnahmt und die Kunstproduktion nach 1945 streng überwacht. Der Einflussbereich des Entnazifizierungsprogramms der Alliierten traf alle Bereiche, so auch die Bildende Kunst. Künstler, die nachweislich nicht in Verbindung mit den Nationalsozialisten zu bringen waren, erhielten sehr schnell die lang ersehnte künstlerische Entfaltungsfreiheit zurück und schufen ihre Kunstwerke ohne ideologische Gesinnungsprüfung.54 Das Verlangen nach absoluter künstlerischer Freiheit war nach 1945 größer denn je.
Bevor nun jedoch die Neuanfänge in der Malerei am Beispiel München näher beleuchtet werden, erscheint es notwendig, die einzelnen nach 1945 auftauchenden Kunststile vorzustellen und einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu unterziehen.
52 Zur Bedeutung der alliierten Besatzungsmacht und deren Einfluß auf die Kunst nach 1945 vgl. auch Damus 1995, 18 28; 53 Die Unterstützungen äußerten sich in den verschiedenen Zonen und von Stadt zu Stadt unterschiedlich. In der vorliegenden Arbeit wird an späterer Stelle die exemplarisch in München durchgeführte Kunstpolitik der Amerikaner ausgeführt; 54 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Ergebnisse der Malerei den alliierten Lizenzbestimmungen weit weniger stark unterworfen waren, wie die des Theater-, Zeitungs- und Verlagswesens, vgl. Hermand, Jost: Freiheit im Kalten Krieg. Zum Siegeszug der abstrakten Malerei in Westdeutschland, in: ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, hrsg. von Hugo Borger, Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt, Köln/ Weimar/Wien 1991, 135; Der Grund lag in den Wiedergutmachungsgedanken gegenüber der zuvor stark diffamierten modernen Malerei; 24
2. Moderne Kunst in der Nachkriegszeit — Versuch einer stilistischen Begriffsbestimmung
Die Schwierigkeit der zeitgenössischen Begriffsbestimmung „moderner Kunst“ in der ersten Nachkriegszeit liegt darin, dass sie heute aus der historischen Distanz bewertet werden muss. Sie wird mit Kunstrichtungen wie dem Tachismus und seinen Vertretern Wols, Georges Mathieu oder Roger Bissière, dem Informel mit Hans Hartung, Emil Schumacher, Bernhard Schultze, Fred Thieler oder Hann Trier, dem abstrakten Expressionismus aus Amerika, mit Mitgliedern aus der Gruppe Cobra, etc. in Verbindung gebracht. Dabei handelt es sich um Stilrichtungen und Vertreter einer von Anfang an international geprägten, abstrakten Kunst, die gegen Ende der 40er, vor allem aber seit Beginn der 50er Jahre verstärkt in neu gegründeten Künstlergruppen auffielen.55 Die Rede ist von einer Kunst, die nach heftigen Diskussionen56 zur dominierenden Stilrichtung der 50er Jahre avancierte.57 Erst in den 60er Jahren wurde sie wieder von mehr realitätsbezogenen Ausdrucksformen abgelöst.58 Ein letztes Mal bestätigt wurde die abstrakte Entwicklung auf der documenta II 1959 . Wie die Exponate des Ausstellungskataloges belegen, wurde diese Schau im besonderen durch die internationalen Spielarten der Abstraktion in den Formen des „Informel“ und des „Abstrakten Expressionismus“ bestimmt sie werden gleich im Anschluss näher benannt.59 Beide der genannten Ausdrucksformen gelten heute als d i e progressivsten Kunstrichtungen der ersten Nachkriegszeit.
Nur wenige Namen der direkt nach dem Krieg national agierenden Künstler sind uns noch gegenwärtig, obwohl ihre Werke bereits ab 1945 in Ausstellungen präsentiert und von den Zeitgenossen als modern empfunden wurden. Die vorliegende Betrachtung widmet sich den Wegbereitern der bereits erwähnten abstrakten Entwicklungen und zeigt die vergessenen Neuanfänge in der Kunst. Sie bezieht sich auf zeitgenössische Aussagen innerhalb des vorgefundenen
55 Einige der Gruppen werden später genannt; 56 Die Diskussion um moderne Kunst folgt im Punkt II.2.5.; 57 Und nebenbei bemerkt heute sehr hochwertig im Handel steht; 58 Zwar wurde in den 60er Jahren noch viele abstrakte Werke von Künstlern wie Günter Fuhrtrunk, Georg Pfahler, Lucio Fontana oder Yves Klein produziert. Das Hauptinteresse lag aber auf der aus Amerika importierten Pop-Art Kultur eines Wahrhol oder Lichtenstein; 59 Dagegen war die documenta I 1955 viel weniger progressiv. Im Vordergrund stand die „Klassische Moderne“ mit expressionistischen Künstlern aus den Gruppen Die Brücke und Der Blauen Reiter. Aktuellen Strömungen der zeitgenössischen internationalen Kunst erhielten hier bedeutend weniger Raum; 25
Quellenmaterials und berücksichtigt darüber hinaus all jene künstlerischen Tendenzen, die in der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich geführten Diskussion um eine neue Kunst auftauchen. Das Ziel ist die Darlegung des facettenreichen und spannenden Wiederbeginns innerhalb der modernen Kunstproduktion. Doch zunächst zur Frage: Was wurde in der deutschen Malerei in den ersten Jahren nach 1945 produziert? Und anhand welcher Kriterien lassen sich die Merkmale moderner Kunst zu jener Zeit bestimmen?
2.1. Ende des Krieges — Hoffen auf einen Neuanfang
Die ersten „modernen“ Kunstausstellungen im Nachkriegsdeutschland waren die Ausstellungen „Deutsche Kunst unserer Zeit“ in Überlingen 1945 sowie die Ausstellung „Maler der Gegenwart I“ in Augsburg 1945 .60 Es folgten die Ausstellungen „Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“ in Dresden 1946 61, „Kunst der Gegenwart“ im Hessischen Landesmuseum 1946 , „Neue deutsche Kunst“ in Konstanz 1946 , „Maler der Gegenwart III: Extreme Kunst“ in Augsburg 1947 62 wie auch die Ausstellung „Deutsche Kunst der Gegenwart“ in Baden-Baden 1947 .
Das diese Überblicksausstellungen verbindende Merkmal war die starke Präsentation jener Künstler, deren Werke seit 1933 aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit vollkommen verdrängt worden waren63 und eine auffallend periphere Präsenz gesellschaftskritischer Äußerungen zur jüngsten Vergangenheit.64 Auch im
60 Die in deutsch und englisch organisierte Ausstellung „Art Exhibition/ Modern Painting I Kunst-Ausstellung/ Maler der Gegenwart I“ wurde auf Anregung der amerikanischen Militärbehörde im Dezember 1945 im Palais Schäzler in Augsburg organisiert; Wie bei den meisten der nach 1945 organisierten Kunstausstellungen handelte es sich auch in Augsburg um eine Verkaufsausstellung; 61 Die Dresdner Ausstellung stellte die erste gesamtdeutsche Ausstellung dar; 62 Die Augsburger Ausstellung „Extreme Malerei“ wird in der Kunstbetrachtung Münchens einen größeren Rahmen einnehmen; 63 Walter Grasskamp spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kulturpolitik des schlechten Gewissens“, vgl. Grasskamp Walter: Die unbewältigte Moderne, Kunst und Öffentlichkeit, München 1994, 148; Gemeint ist der Gedanken der Wiedergutmachung gegenüber der so lange diffamierten Kunst, die zu dieser Zeit ihre wahrscheinlich größte Daseinsberechtigung genoss; 64 Jost Hermand’s Statistik malerischer Sujets in der Trümmerzeit belegt etwa 4 bis 5 % gesellschaftskritische Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit, vgl. Hermand 1991, 135; Die eher am Rande stehenden Gesellschaftskritiker wie beispielsweise die für die in 26
Ausland wurde die deutsche Kunst in erster Linie durch die Werke der Vorkriegsmoderne rezipiert, so zum Beispiel 1946 in der Ausstellung verfemter deutscher Künstler in Bern.
Eine der Ursachen dafür, dass die sozialkritische Kunst nach dem zweiten Weltkrieg weitgehend unreflektiert blieb, lag wie bereits an früherer Stelle festgestellt, an der extremen Ausgangssituation. Und wie die Zeitgenossen berichteten, war auch das Bedürfnis nach einem kritischen Realismus im Vergleich zu der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gering. Dies lag nicht etwa an der unterschiedlichen Brutalität der Kriege, denn diese war bei beiden enorm. Die Gründe lagen viel mehr an dem wesentlich größeren Ausmaß des Krieges mit großflächigen Bombardierungen der Städte, die verheerende Zerstörungen hinterließen. Zudem aber auch an dem ideologisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungskrieg, der verstärkt zu gewaltsamen Übergriffen auch auf die Zivilbevölkerung führte, so dass die Zahl der Opfer eine weitaus größere war. Die Dimension an Zerstörungen nach 1945 war groß und wollte nicht in künstlerischen Darstellungen kritisch wahrgenommen werden.65 Im Vordergrund stand die Verdrängung der realen Misere, die Sehnsucht nach Frieden und nach einem positiven Neuanfang, auch in der Kunst.66
Tatsächlich markierte die Kunst kurz nach 1945 aber keinen eigenen, gar radikalen Neuanfang. Die Exponate der ersten modernen öffentlichen
München publizierte Zeitschrift „Simpl“ tätigen Künstler M. Radler, Rudolf Schlichter oder Max Unold wurden damals zwar von einigen satirischen Blättern unterstützt, ein ernsthaftes Interesse an dieser Kunst erfolgte allerdings erst in den 60er Jahren innerhalb der Aufarbeitung der Nazizeit, vgl. hierzu Hoffmann, K.L./Präger, Ch.: „Uhlenspiegel“, „Wespennest“ und „Simpl“, Drei satirische Zeitschriften in der Nachkriegszeit, in Ausstellungskatalog: Zwischen Krieg und Frieden, Berlin 1980 oder Hofer, Karl: Kunst und Politik, in: Bildende Kunst, H.10, 1948, 20; 65 Dazu ein Zitat von Thomas Grochowiak: „Kritischer Realismus war nicht gefragt ... . Der Realismus hatte keine Chance, nicht weil man gegen die Realisten war, wir waren doch alle realistisch ausgebildet worden. Es war kein Affront gegen realistische Dinge, sondern die Tatsache des uns umgebenen grausamen Realismus ... .“, in: Straka/ Suermann 1983, 292; Auch Rupprecht Geiger stellte diesbezüglich fest: „Es war nicht die Aufgabe der Kunst, sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen ... . Ich sehe es eher so, das die Künstler sich eigentlich abgewendet haben von den Scheußlichkeiten, die sie erlebt haben ... .“, in: Straka/Suermann 1983, 288; vgl. hierzu auch den Ausstellungskatalog: Kunst des Westens. Deutsche Kunst 1945-1960, hrsg. von Ferdinand Ullrich, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Köln 1996, 16; 66 Zitat Ernst Wiechert: „ ... nach den dunklen Zeiten, in denen unserer Gedanken nur um das Gewesene kreisten ... wird es nun Zeit, daß wir dieses Gewesene abtun aus unserem Leben und zusehen, ob die neue Erde nun Frucht zu tragen beginnt.“, E. Wiechert „Wir haben die neue Zeit nicht richtig angefangen“, in: Prisma, H.1, 1946, 3; vgl. hierzu auch Ullrich 1996, 16; 27
Nachkriegsausstellungen belegen eindeutig eine Orientierung an den überlieferten Werken aus der Vorkriegszeit. Dies bestätigen auch zahlreiche zeitgenössische Medien, in denen vielfach über die verschiedenen Adaptionen der vorkriegsmodernen Ausdrucksformen in der Kunst nach 1945 berichtet wird. Als Beispiel sei ein Bericht der Zeitschrift Prisma erwähnt, in dem ein „ungleichzeitiges Gebilde“ in der Kunst sowie ein „Nebeneinander verschiedener Richtungen künstlerischen Schaffens“ festgestellt und die Kunst von damals kurz als eine noch „suchende“ bezeichnet wird.67 Gesucht wurde nach einem richtungweisenden Stil für eine zeitgemäße Ausdrucksform.
Innerhalb der schnell nach Kriegsende organisierten Kunstausstellungen richtete sich das anfängliche Augenmerk auf die Präsentation der durch das nationalsozialistische Regime liquidierten Kunst, allen voran auf die expressionistische Kunst.68 Sie entwickelte sich im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts als Kunst des seelischen Ausdrucks, die dem Realismus und Impressionismus, sprich: der Abbildung der äußeren Merkmale der Welt radikal entgegentrat. Im Vordergrund stand eine expressive Ausdrucksweise, die den Gefühlszustand des jeweiligen Künstlers in subjektiv gesteigerter Form und den Wunsch nach Erneuerung des künstlerischen Geistes beschrieb. Mimetisch die natürliche Welt nachzeichnende Aspekte traten zugunsten von expressiven in den Hintergrund. Die bevorzugten Themen des Expressionismus waren das soziale Leben, politische Revolutionen sowie der Krieg. Wirklichkeitsgetreue Darstellungen wurden negiert, konventionelle künstlerische Ausdrucksformen wurden rigoros abgelehnt. Der Expressionismus richteten sich als Protest gegen jegliche Form der Tradition, das bürgerliche Leben und der damals existierenden Weltenordnung. Ziel war, die bürgerliche Gesellschaft durch die revolutionäre Malerei zu provozieren. Gruppen schlossen sich zusammen, künstlerische Zeitschriften etablierten sich und dienten als Diskussionsforum für die expressionistische Kunst.
67 Zitat: „Was wir gemeinhin moderne Kunst nennen, ist ein mehrschichtiges und keineswegs gleichzeitiges Gebilde. Nebeneinander stehen so verschiedenartige Richtungen künstlerischen Schaffens, wie Expressionismus, abstrakte, gegenstandslose Kunst, Surrealismus und eine neue durch die Abstraktion hindurchgegangene Natürlichkeit ... . Welche dieser Richtungen kann man im eigentlichen Sinne als moderne, d.h. gegenwärtige bezeichnen? ... Die Kunst der Gegenwart ist immer noch eine suchende Kunst.“, Kurtz, Waldemar: Elementare Kunst, in: Prisma, H.10, 1947, 19; 68 Bei der Analyse der Ausstellungskataloge fallen unter den expressionistischen Exponaten insbesondere die des Blauen Reiters ins Auge, so dass die bereits von Karin Thomas festgestellte Beobachtung, die neue Kunst nach 1945 hätte sich eher an Kandinsky und Klee als an den Malern der Brücke orientiert, nur unterstrichen werden kann, vgl. Thomas 1985, 9 ff; 28
Nach 1945 galt die Zurschaustellung expressionistischer Exponate in erster Linie der Rehabilitierung dieser während des Krieges am stärksten diffamierten Kunst. Jedoch fällt bei der Analyse der Ausstellungskataloge die dominierende Präsenz an Werken der Gruppe des Blauen Reiters auf, die im Vergleich zu den wirklichkeitsnäheren Darstellungen der Gruppe Die Brücke die romantischere Strömung unter den Expressionisten war. In Orientierung am Fauvismus ging es dem Blauen Reiter weniger um die Darstellung der seelisch-psychischen Zerrüttungen wie sie die Brücke Maler zeigten, als vier mehr um die malerischen Elemente der Farb- und Bildkompositionen. Auch die Motivauswahl des Blauen Reiters galt nicht in erster Linie einer aufrüttelnden Provokation, den Großstadtkulissen und Konfliktdarstellungen der Zeit, sondern harmloseren Sujets wie den Tiersymboliken Franz Marcs, den Farbphantasien August Mackes, den märchenhaften Wesen Paul Klees oder den „musikalischen“ Abstraktionen Wassily Kandinskys. Diese Beobachtung verdeutlicht, dass auch innerhalb der Expressionisten- Rezeption nach 1945 kein Bedürfnis nach sozial-kritischen, provozierenden und den Krieg betreffende Themen bestand. Bevorzugt rezipiert wurden die formal- ästhetischen, wenn auch deformierende Aspekte der expressionistischen Kunst und weniger die einst intendierten Proteste gegen die bürgerliche Gesellschaftsform. Bestätigt wird diese Beobachtung dadurch, dass auch andere, als Protest gegen die Bürgerlichkeit gerichtete Stilrichtungen wie der Dadaismus oder Futurismus nach 1945 kaum übernommen wurden. Allgemein betrachtet lag die Faszination am Expressionismus aber auch an der ihm zugrunde liegenden Prämisse von der Autonomie der Kunst, an der Sehnsucht nach einer in Freiheit ausgeübten Kunst, die dem kreativen Individuum keine akademischen Grenzen setzt. Das wünschenswerte Ziel war ein wieder zu erlangendes, neues Selbstwertgefühl, das dem des Expressionismus annähernd entsprach.
Neben den Expressionisten galt der prozentual größte Teil der Nachkriegsausstellungen einem mit ausgeprägt realistischen Tendenzen, expressiven, den Gegenstand oftmals abstrahierenden Stil. Jost Hermand umschreibt diese Beobachtung mit dem Begriff „eklektisch-halbmodern“ und ordnet etwa 85 90 % aller damaligen Maler in diese Richtung ein.69 Die Orientierung lag an den Gemälden der um die Jahrhundertwende geborenen, so genannten „verschollenen Generation“, deren künstlerischer Gesamtbewegung
69 vgl. Hermand 1991, 135, 139 ff; 29
Rainer Zimmermann die Bezeichnung „Expressiver Realismus“ gab.70 Er folgte auf die expressionistischen und ungegenständlichen Ausdrucksformen der Malerei und lässt sich kurz durch die Kombinationen moderner „Vorkriegs-Ismen“ mit dem Impressionismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts charakterisieren.71 Die revolutionären Ausdrucksformen der Jahrhundertwende wurden dadurch nicht gänzlich negiert, jedoch durch die erneute Hinwendung zur Realität zu überwinden versucht. Eine natürliche Weiterentwicklung des Expressiven Realismus unterblieb dennoch. Auch sie wurde durch die nationalsozialistische Kunstdiktatur beeinträchtigt und diffamiert. Eine angemessene Rehabilitierung erfährt diese Stilrichtung erst in der gegenwärtigen Zeit. Nach 1945 lebte der Expressive Realismus kurz wieder auf, doch geriet er bald in Vergessenheit.72 Der Grund für sein dennoch quantitativ hohes in Erscheinung treten lag an dem Bedürfnis dieser Malergeneration wieder bei dem anzusetzen, was bei Abschluss ihrer Ausbildung nicht mehr möglich gewesen war: an der Produktion von Werken, die den Werken der letzten modernen Kunstsprache vor dem Krieg entsprach. Hinzu kam, dass es an Grundlagen für eine Auseinandersetzung mit neueren und neuesten Kunstströmungen mangelte. Für Auslandsreisen fehlte es an finanziellen Mitteln, Sammlungen der Gegenwartskunst gab es in deutschen Museen noch nicht und Sonderausstellungen waren rar. Neuere Tendenzen in der bildenden Kunst der Nachkriegszeit wurden in den städtischen Kunstausstellungen kaum gezeigt. Die öffentliche Ausstellungspolitik der Stadt bewegte sich auf sicherem Terrain. Der Expressive Realismus war in diesem Zusammenhang ein idealer Kompromiss, um die Gegenständlichkeit in der Malerei zu erhalten und den Sehgewohnheiten eines breiten Publikums weiterhin entgegen kommen zu können; einem Publikum, das sich nur langsam wieder an die Formensprache der Modernen gewöhnen konnte und in den von Impressionismus und Expressionismus gleichermaßen beeinflussten
70 Rainer Zimmermann sieht im Expressiven Realismus keinen Stil, sondern vielmehr eine künstlerische Grundhaltung, die sich in den 20er und 30er Jahren manifestierte. Rein äußerlich beschreibt er den Expressiven Realismus wie folgt: „Das Spannungsfeld der Gruppierungen des Expressiven Realismus reicht von malerischen Realitätsdeutungen an der Grenze zur Auflösung des Gegenstandes durch expressionistische Verzerrung oder radikale Abstraktion bis zu einer plastisch- dinghaften Wirklichkeitserfassung, deren Ausdrucksgehalt nur noch durch eine verhaltene Poetisierung wahrnehmbar ist. Die Übergänge sind stufenlos und unmerklich, die Beziehungen auch scheinbar weit auseinander liegenden Gruppierungen oft überraschend und vielfältig.“, Zimmermann, Rainer: Expressiver Realismus. Malerei einer verschollenen Generation, München 1994, 157; 71 Vgl. Zimmermann 1994, 209; 72 Vgl. Zimmermann 1994, 191f.; 30
Gemälden einen schnelleren Zugang fand als zu der rein expressionistischen und abstrakten Kunst. Der Grund für sein dennoch schnelles Wiederableben lag darin, dass er langfristig nicht die gewünschte Progressivität erfüllte, die mit dem Einsetzen der öffentlich geführten Kunstdiskussionen und deren Postulat nach internationalem Anschluss begann. Jüngere Künstler bemühten sich vorzugsweise um den Anschluss an internationale Entwicklungen, andere Kunstformen traten in den Vordergrund und verdrängten den Expressiven Realismus langfristig aus der Diskussion und dem modernen Ausstellungsbetrieb. Für die jüngere Künstlergeneration galt er als überholt und seine Bedeutung für die Gegenwart als zweifelhaft.
Insgesamt betrachtet ergaben die ersten Ausstellungen der Nachkriegszeit das Bild eines bunten Nebeneinanders verschiedener Stile auch Werke der Bauhaus- Künstler, der Surrealisten sowie gegenstandslose Bilder wurden präsentiert und diskutiert -, was in der Literatur kurz als „Stilpluralismus“ bezeichnet wird.73
Den Befürwortern einer international orientierten Moderne erschien dieser Stilpluralismus jedoch nicht länger zeitgemäß. Sie postulierten entsprechend dem einleitenden Zitat von Adorno eine klare Abgrenzung von der Vergangenheit und eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart74, die dem kulturell zusammenwachsenden West-Europa entsprach. Die Zukunft der Kunst sah man im Besonderen durch formale Kriterien erfüllt, durch eine Freiheit der Form wie sie sich in den modernen Kunstmetropolen Europas beobachten ließ.75
73 Die Vielfältigkeit der Stile zeigt sich insbesondere in dem Katalog der mit Werken aus allen Zonen zusammengetragenen Schau in Dresden 1946 , vgl. Ausstellungskatalog: Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1946; Ähnlich wie der Aufgriff früherer Stilformen zu Zeiten des Klassizismus, unterlag nach 1945 die Wiederaufnahme von „Ismen“ der Klassischen Moderne einer normativen Gültigkeit; 74 Zitat: „Jeder neue Aufbau setzt eine klare Abrechnung mit der Vergangenheit und eine wache Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation voraus ... “, Pfister, Kurt: Oskar Coester, in: Prisma, H.1, 1946, 32; 75 Bereits 1945 wurden erste Stimmen für eine neue, an der Moderne orientierte Ausdrucksform laut, so von Alfred Dahlmann in der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, der über die Moderne schrieb: „ ... von ihr erwartet man den ersten Schritt: in das weite Tatfeld des Bekennertums zur neuen Gegenwart.“; Laut Dahlmann lag die „damalige“ Kernfrage in der Frage nach der Form, die da gewesen wäre „ ... eine condition sine qua non, über das Wissen um die Bedeutung der Form, das Bekenntnis zur kommenden Kunst zu leisten.“ vgl. Dahlmann, Alfred: Moderne Kunst als Hoffnung?, in: SZ, 06.10.1945, 3/4; Ebenso wollte auch Ernst Wiechert die Kunst vor einer neuen Stunde sehen, indem er insbesondere die Jugend aufrief, sich dieser Aufgabe anzunehmen. „Sind diese Künstler der heute beginnenden sogenannten neuen Zeit sich bewußt, welche ungeheure 31
Bestätigt wird diese Beobachtung durch die genaue Analyse der zeitgenössischen Medienberichte, die eine zunehmend negative Kritik an der Orientierung an den genannten vorkriegmodernen Arbeiten aufweisen. Die Bedeutung des Expressionismus wurde alsbald relativiert76 und stattdessen zwei andere Stilrichtungen favorisiert77: der Surrealismus und die Abstraktion. Sie sollten den Weg für die Kunst der 50er Jahre ebnen.78
2.2. Ein verändertes Weltbild — Wiederaufnahme des Surrealismus und der Abstraktion
Der Surrealismus und die Abstraktion waren künstlerische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, die sich für die Darstellung der Wirklichkeit des Menschen im Unbewussten interessierten, das Bild von seiner bloßen Abbildungsfunktion befreiten und sich mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln um eine Bewusstseinserweiterung bemühten. Stark differenziert war die jeweilige Ausdrucksform, doch trafen sich diese beiden Kunstformen in der die Gefühle und das Unterbewusstsein betonenden Intention.
Aufgabe vor ihnen liegt, welche schwere, kaum zu tragende Verantwortung in ihren Händen ruht?“, Wiechert, Ernst: Wir haben die neue Zeit nicht richtig angefangen..., in: Prisma, H.1, 1946, 4; 76 „Ist der Expressionismus noch ‚Junge Kunst’?“, so lautete im Dezember 1946 ein Beitrag der Zeitschrift Prisma, in dem beklagt wird, dass die Kunst des Expressionismus zwar noch im Sinne einer „geistigen Struktur“ der ersten Jahrhunderthälfte gelten, nicht aber für den sich anbahnenden „neuen Lebens- und Weltbegriff“ fundieren könne. Demnach wurde die Aktualität expressionistischer Kunst in Frage gestellt. Stattdessen sollte die Bewertung von Farbe und Form neu überdacht und die Erziehung der Jugend verantwortungsvoll überprüft werden, vgl. von Scheltema: Ist der Expressionismus noch „Junge Kunst?“, in: Prisma, H.2, 1946, 17; Weitere Kritiken zum Expressionismus: Friedrich, H.E.: Von Schuld, Ursache und Wahrheit, in: Prisma, H.2, 1946, 1; Grundig, Hans: Dresdner Bilanz, in: Prisma, H.2, 1946, 33; 77 1947 veröffentlichte die Zeitschrift „Das Kunstwerk“ ein Sonderheft, welches der Abstraktion sowie dem Surrealismus gewidmet war, vgl. Das Kunstwerk/ Sonderheft zur abstrakten Kunst, 1947; ebenso berichteten auch die anderen in der Literatur aufgenommenen Zeitschriften verstärkt über Werke des Surrealismus und der Abstraktion; 78 Die Behauptung, dass diese beiden Stilformen für die Kunst der 50er Jahre letztendlich richtungsweisend waren, offenbart sich in der Weiterentwicklung des durch André Breton und Matta begründeten „psychischen Automatismus“ der Surrealisten hin zum „Informel“ der 50er Jahre. Die progressive Entwicklung der Abstraktion findet sich im amerikanischen „Expressiven Realismus“ bestätigt, welcher ebenfalls aus der surrealistischen „écricure automatique“ entsprungen war; 32
Nicht ohne Grund lebten sie nach 1945 beinahe gleichwertig wieder auf und bildeten die Basis für weitere Entwicklungen in der modernen Kunst. Doch zunächst auch hier zur Frage, was unter der jeweiligen Kunstrichtung verstanden wird und wie sich dieses Verständnis zum ursprünglichen Selbstverständnis der rezipierten Künstler verhält.
Der Surrealismus war eine in den 20er Jahren beginnende Bewegung, die sich durch die psychoanalytischen Erkundungen des Menscheninneren, dem Unbewussten, inspirieren ließ. In dem Versuch, das Unbewusste künstlerisch darzustellen, kam es zur Auflösung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit und der Abbildung von ausgeprägt gegenständlichen Dingen, zwar unter Anwendung der traditionellen Formensprache, jedoch in völlig absurden und skurrilen Kombinationen, die dem Betrachter eine Welt hinter den Dingen nahe bringen wollte; eine Welt, die sich über Symbole und Zeichen assoziativ offenbart und sich nicht bis ins letzte Detail enträtseln lässt. Angeführt wurde die surrealistische Bewegung von dem französischen Schriftsteller und Kritiker André Breton, der 1924 durch sein „Manifeste du Surréalism“ die theoretischen Grundlagen dieser Bewegung definierte. Traum- und Tranceerlebnisse dienten als Quelle für die Motivfindung des Unbewussten. Breton charakterisierte die Methode des „psychischen Automatismus“ und der nicht steuerbaren „écricure automatique“ als adäquate Ausdruckform. Rationales Denken geriet in den Hintergrund, das im Rauschzustand erfahrbare Unbewusste wollte man darstellen, wobei auch die Geschwindigkeit während des Schaffensprozesses in die intendierte, traumnahe Wiedergabe der inneren Wirklichkeit einbezogen wurde. Der Inhalt surrealistischer Bilder konzentrierte sich auf Themen, die im Unterbewusstsein anknüpften: Traum, Fantasie, Kindheit, Halluzinationen, Sexualität und Märchen. Zudem angeregt durch die Erkenntnisse Sigmund Freuds und hervorgerufen durch den Dadaismus in Paris vertrat der Surrealismus im Vergleich zum Dadaismus allerdings ohne den Wunsch, mit der bisherigen Kunst brechen zu wollen eine revolutionäre Kunstauffassung, die das Irrationale in den Vordergrund stellte und damit radikal gegen das logisch-rationale Wertesystem der Zeit und die bestehende Moral der Bourgeois antrat. In diesem Zusammenhang wirkten auch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges auf die Vertreter des Surrealismus ein, die nicht mehr so recht an die Vernunft des Menschen glauben wollten und sich stattdessen für das Faszinosum des Unbewussten und die Irrationalität interessierten. Dennoch war der Surrealismus kein einheitlicher Stil. Die Ausdrucksweisen des Surrealismus zeugen von hoher Diversität. Als Schlüsselwerke des Surrealismus gelten die „pittura mettafisica“ eines Giorgio de Chirico oder Arbeiten von Carlo 33
Carrà, der „veristische Surrealismus“ von Salvador Dali oder Yves Tanguy sowie der „abstrakte Surrealimus“ von André Masson, Juan Miró oder Hans Arp. Vertreter des Surrealismus saßen in vielen europäischen Länder, darunter Frankreich, Belgien, Dänemark, Schweden oder die Tschechoslowakei. Während des Zweiten Weltkrieges leistete der eskapistische Charakter der surrealistischen Kunst einen großen Beitrag im Kampf gegen die faschistische Kunst. Viele Künstler, beispielsweise Max Ernst, André Masson und Yves Tanguy, emigrierten in die USA. Nach 1945 lebte eine surrealistische Tendenz in der Kunst wieder auf, doch erlangte sie nicht die Bedeutung, die der Surrealismus in den 20er Jahren besaß.
Die abstrakte Kunst ist eine Kunstrichtung unterschiedlicher Ausprägungen, die auf eine gegenstandsbezogene Assoziation des Dargestellten fast völlig verzichtet und die reine Komposition in den Vordergrund stellt. Sie basiert auf Farben, Formen, Linien, und Bewegungen in gegenstandloser oder abstrahierender Form. Dingliches kann ansatzweise noch erkennbar sein, konkrete Gebilde können als assoziative Anregungen aus sinnlich wahrnehmbaren, rein formalen Mitteln bestehen. Vollkommen gegenstandslose Darstellungen bezeichnet man als absolut. In der europäischen Malerei kam es, vorbereitet durch moderne, anti- naturalistische Ausdrucksformen in der französischen Kunst, nach 1910 zum allmählichen Durchbruch der abstrakten Kunst mit Werken von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee, Robert Delaunay, u.a. Es folgten weitere Entwicklungen wie das Bauhaus, die holländische Bewegung „De Stijl“ oder die von Russland ausgehenden Richtungen Suprematismus, Rayonismus und Konstruktivismus. In den 30er Jahren beherrschte die 1931 in Paris gegründete internationale Künstlergruppe „Abstraction-Création“ zeitweilig die weiteren Entwicklungen in der abstrakten Malerei. Auch Polen, England und die USA wurden während des Zweiten Weltkrieges Zentren der abstrakten Malerei. Nach 1945 galt sie als dominierende Stilrichtung der europäischen Malerei. Der Ursprung der abstakten Malerei des 20. Jahrhunderts basierte auf vielseitigen Veränderungen der damaligen Zeit. Es kam zu Wandlungen innerhalb der Kunst und des Kunstverständnisses. An den Veränderungen waren auch neue Ausdrucksformen wie die des Surrealismus oder Dadaismus beteiligt. Was die Künstler beschäftigte waren das Verlangen nach Abgrenzung von der spätbürgerlichen Gesellschaft und deren Wertesystem, der Wunsch, den Geist von materiellen Gedanken und der umgebenen, imperialistisch geprägten Realität zu befreien, die Ablehnung rein rationaler Erkenntnisse und der damit einhergehende Hang zum Agnostizismus oder der Glaube an eine durch die abstrakte Kunst 34
bewußtseinssteigernde Sinneswahrnehmung. Erkenntnisse aus der Psychologie, der Wissenschaft und ein stark ausgeprägter Fortschrittsglaube trugen Wesentliches für ein erweitertes Raum- Farb- Form- und Zeitverständnis bei und relativierten die Angriffe auf die Formensprache der abstrakten Kunst. Hinzu kamen der Wunsch und die Möglichkeit außerhalb des Akademismus und innerhalb der erlangten Kunstautonomie, die gesteigerte Subjektivität des Individuums auszuleben. Summa summarum galt die abstrakte Kunst unter ihren Vertretern als gemäßer Ausdruck und Formwille der Zeit; an ihre lebensbereichernden Eigenschaften im Sinne einer ästhetischen Sensibilisierung des Rezipienten und an ihre formale Gültigkeit für die zukünftigen Entwicklung in der Kunst wurde geglaubt.
Dem Surrealismus und der abstrakten Kunst gemein waren die Negation der rein äußerlich sichtbaren Realität sowie die Entdeckung des Unbewussten für die Kunst. Beide Stilrichtungen fielen durch die Faszination an einer spontanen und zufallsbedingten Ausdrucksweise auf, ebenso wie durch die Anwendung der freien Assoziation und die Bewunderung für naive, kindliche, schizophrene und archaische Kunst.
Wie Anfangs behauptet, bildeten die abstrakten und surrealistischen Ausdrucksformen nach dem Zweiten Weltkrieg die Basis für die weiteren Entwicklungen in der modernen Kunst zumindest dort, wo sich die abstrakte Kunst mit der abstrakten Linie des Surrealismus traf. Viele Künstler, die nach einem eigenen stilistischen Weg suchten, orientierten sich an internationalen Strömungen und reflektierten den Surrealismus und die abstrakte Malerei aus Paris und New York; den Surrealismus in seiner Weiterentwicklung des von Breton propagierten Automatismus, die abstrakte Kunst in der durch Kandinsky eingeleiteten gestisch-freien Abstraktion. Die Gründe für die Wiederaufnahme waren ebenso vielseitig wie die jeweiligen Ergebnisse ihrer Ausdrucksform. Ein gemeinsamer Grund war sicherlich der Hang zum Eskapismus, der von der umgebenen Welt der Trümmer ablenken ließ. Ein anderer galt der durch individuelle Gesten befreienden Wirkung von den bedrückenden Erlebnissen der Nachkriegswelt. Der Aufarbeitung dieser Extremsituation entsprach der Kunstgriff der Verfremdung, in Form einer differenzierten, symbolhaften Sprache, die zum einen der subjektiven Gefühlswelt des jeweiligen Künstlers und zum anderen einem Gegenentwurf zur Alltagswelt Ausdruck verlieh, was durch Aussagen d er Zeitgenossen bestätigt wurde.79 Eine
79 Dies konnte auch in einer Zusammenfassung der bei Straka/Suermann interviewten Künstlern der Nachkriegszeit bestätigt werden: „So bot der Surrealismus ... die Möglichkeit, sich von einer als 35
sozialkritische Kunst die eine Verarbeitung der Kriegserlebnisse in realistischer Form erfordert hätte, schien nicht adäquat, eine direkte Konfrontation mit den Schrecken des Krieges wie nach dem Ersten Weltkrieg war nicht gefragt, galt als demoralisierend und überholt. Es herrschte allgemeine Sprachlosigkeit und Verdrängung, sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur, im Theater und anderen künstlerischen Ausdrucksformen.
Auf der anderen Seite implizierte der Ausnahmezustand der speziellen Ausgangssituation nach 1945 den Wunsch nach einer gesellschaftlichen Revolution, weshalb eine Orientierung an früheren Avantgarde-Bewegungen mit Drang nach Aufrüttelung und der Suche nach alternativen Weltentwürfen nahe liegt. Kunst sollte Impulse schaffen für eine andere, bessere Welt. Die Erwartungen, Ansprüche und Hoffnungen an sie waren besonders hoch. Kunst sollte ein Abbild ihrer Zeit geben, wofür die beiden genannten Stilrichtungen, auch im Hinblick ihrer eskapistischen Tendenzen, als geeignet schienen. Die von dem Surrealismus und der abstrakten Kunst ursprünglich ausgehende Kritik an der Gesellschaft und ihre bewusst provozierende Haltung blieben von den sie rezipierenden Künstlern nach 1945 jedoch offensichtlich aus. Denn wie die meisten Quellen mit Aussagen der zeitgenössischen Künstler belegen, galt die Anwendung formalistischer Ausdrucksmittel anfangs weniger als Instrument moralischer Erziehung als vielmehr der Reflektion des Zeitgeschehens und der wissenschaftlichen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts allgemein. Dass sie wenig später zum Politikum des geteilten Deutschlands zweckentfremdet wurde, hatte andere Gründe und sei an späterer Stelle ausgeführt.
Die Beobachtung, dass die Kunst an Entwicklungen anknüpfte, die einst neue Wege hervorbrachte, in Deutschland jedoch unterbrochen wurden, bestätigt beispielsweise der Zeitgenosse Heinz Trökes, indem er 1946 in der Zeitschrift „Das Kunstwerk“ schreibt, dass „der Entwicklungsprozeß der surrealistischen Kunst, der vor 20 Jahren begann, ... noch nicht abgeschlossen“, sondern noch immer „mit der allgemeinen geistigen Entwicklung“ verbunden und als „positiver und aktiver Bestandteil eines Zeitganzen“ wirksam sei.80 Trökes verband die Aktualität des
überholt angesehenen gegenständlichen und illustrativ-realistischen Kunst abzugrenzen und die Kriegserfahrungen ebenso die Nachkriegswirklichkeit verfremdet, doch dem eigenen Erleben adäquat, aufzuarbeiten Trökes, Schultze, Bluth ...“, Straka/Suermann 1983, 314; vgl. auch Wirth, Günther: Kunst im deutschen Südwesten von 1945 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1982, 13; 80 Vgl. Trökes, Heinz: Der Surrealismus, in: Das Kunstwerk/ Sonderheft zur abstrakten Kunst, 1947, 36; 36
Surrealismus mit den genannten Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bedingt durch die Technisierung und Mechanisierung der Welt wurde das tägliche Leben zunehmend automatisiert und bedingt durch die Atomforschung und der damit einhergehenden physikalischen Entmaterialisierung wurden Bereiche entdeckt, die sich dem Sichtbaren verschlossen und die Relevanz der gegenständlichen Welt in Frage stellten. Diese Veränderungen wurden laut Trökes im Besonderen durch den Surrealismus und durch die Abstraktion zum Ausdruck gebracht. Die Analyse der surrealistischen Werke der Nachkriegszeit aber zeigt, dass die künstlerische Umsetzung des Surrealismus vornehmlich in Anlehnung an die „pittura metafisicia“ De Chiricos zum Ausdruck kam, währenddessen das Prinzip des Zufalls und des Auffindens wie bei Max Ernst nach 1945 viel mehr in der spontanen Kunst der „lyrischen Abstraktion“ seinen Widerhall fand. Dies belegen die nach 1945 surrealistische Tendenzen integrierende Werke von Edgar Ende, Mac Zimmermann, Richard Oelze oder Rudolph Schlichter. Hier war der Surrealismus vor allem durch die bewusste Darstellung einer überscharfen, traumhaften Realität präsent, welche die Aspekte des Überwirklichen verblassen ließ. Viel mehr als an den Surrealismus erinnern sie deshalb an den bereits in den 20er Jahren aus der „pittura metafisicia“ heraus entwickelten Magischen Realismus sowie an die symbolistische Tradition eines Redon. Die auf dem Zufallsprinzip basierenden Aspekte des „abstrakten“ Surrealismus präsentierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie in der in Frankreich weiterentwickelten „lyrischen Abstraktion“ wie dies durch Hans Hartung oder Wols erfolgte. In Amerika wurden sie durch den „abstrakten Expressionismus“, vertreten durch Jackson Pollock oder Robert Motherwell, zum Ausdruck gebracht. Der Surrealismus der 20er Jahre war nach 1945 obsolet und wie Werner Haftmann es treffend ausdrückt „durch die Entwicklung in der expressiven und abstrakten Malerei in seiner Substanz aufgezehrt ... .“81
Es lässt sich feststellen, dass die künstlerische Rezeption des seit Beginn des 20.Jahrhunderts veränderten Weltbildes in erster Linie durch die Wiederaufnahme der abstrakten Formensprache zum Ausdruck kam. Atomare Kernphysik, Quanten- und Relativitätstheorie also Theorien, die ein entmaterialisiertes Dasein zu erklären versuchten, waren auch nach 1945 ein Thema, über das die Medien berichteten und spiegelten ein Weltbild wider, durch das Willi Baumeister die Entwicklung hin zur Abstraktion, als „Parallele zur ... Wissenschaft“, bestätigt sah.82 Wie überzeugt
81 Vgl. Haftmann 2000, 439; 82 Vgl. Baumeister, Willi: „Bild und Weltbild“, in: Prisma, H. 8, 1947, 15; 37
Baumeister von der abstrakten Kunst war, belegt auch folgendes Zitat: „Angesichts dieses neuen Weltbildes seien die Fragen erlaubt: Hält der alte, von außen beobachtende Naturalismus und seine Gefolgschaft eine Wertposition innerhalb der neuen Front aus oder ist die ungegenständliche oder weitgehend ungegenständliche Kunst eher die Parallele zur heutigen Wissenschaft? ... Durch Ordnung kann der Mensch in der verwirrenden Vielheit der Welt einen Standpunkt gewinnen. Der neuzeitliche Maler sucht diesen Standpunkt nicht durch Nachbilden der äußeren Naturerscheinung, sondern er bildet aus sich. Er bildet nicht nach der Natur, sondern wie die Natur."83 Baumeister legitimiert hier die abstrakte Kunst, indem er Parallelen zur Wissenschaft zieht und der abstrakten Kunst im Vergleich zur gegenständlichen Kunst den Vorrang zuspricht. Als künstlerische Antwort auf die nur mehr theoretisch abstrakt vorstellbaren Phänomene der Natur kam es nach 1945 erneut zur Auseinandersetzung mit künstlerischer Abstraktion, die für den Großteil der Bevölkerung nach wie vor ebenso unverständlich und rätselhaft erschien wie die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie wurde bewusst als Ausdrucksmittel der veränderten Welt genutzt.84 Berühmte Vertreter der abstrakten Malerei im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit waren Willi Baumeister, Max Ackermann oder Georg Meistermann.
Daneben fiel die Abstraktion, viel mehr als andere Stilrichtungen, durch den Wunsch nach künstlerischer Befreiung aus der Gefangenschaft der diktatorisch ausgeübten Kunstpolitik des „Dritten Reichs“ ins Auge. Dadurch, dass ihre Kunst sich dem Gegenstand vollkommen entzog, bildete sie nach Jahren der erzwungenen Herrschaft realistischer Nazimalerei die größte Angriffsfläche für das der Moderne entwöhnte Publikum. Wider den Behauptungen ihrer Gegner, ging es diesen Künstlern jedoch nicht um eine Deformation der Wirklichkeit, deren Naturgesetze die Künstler zu schätzen wussten.85 Vielmehr ging es darum, die Möglichkeiten der
83 Baumeister, Willi: „Über Kunst“, in: Aussaat 2, 3/4 1947 , 116f; 84 Zitat: „Die Wende zur Abstraktion war eigentlich ein großer Befreiungsprozeß, der soweit ging, daß man sich auch vom Objekt befreite. Und daß man der Meinung war, daß man mit den Mitteln der abstrakten, also der gegenstandslosen Malerei, die Probleme der Welt darstellen kann ... “, Heinz Trökes, in: Straka/Suermann 1983, 289; 85 Dies bestätigte Franz Roh: „Die neuen Maler halten ... gewisse Naturausschnitte geradezu für vollkommen, für so vollendet, daß es leichtsinnig wäre, hiermit überhaupt konkurrieren zu wollen ... “, Roh, Franz, in Ausstellungskatalog: Maler der Gegenwart III: Extreme Malerei, Palais Schäzler, Augsburg, 1947, o.S.; Und auch Willi Baumeister äußerte, wie bereits oben zitiert, seinen Respekt gegenüber der Natur, die in seiner abstrakten Kunst eine wesentliche Rolle einnahm: „Die moderne Kunst bildet nicht nach der Natur, sondern wie die Natur, parallel zur Natur ... “, Baumeister, W.: Warum ich gegenstandslos male, in: Die Kunst und das Schöne Heim, Nr.9, 38
Farbe und Form zu erforschen, die Wirkung der „ ... Farben, Formen, Raumsuggestionen, Flächenrhythmen ... “86 für die Darstellung intuitiver Prozesse zu nutzen und somit an einer Tradition anzuknüpfen, welche die materialistische Haltung des 19. Jahrhunderts zu überwinden versuchte.
Tatsächlich wurden in kaum einem anderen Bereich als der Abstraktion nach 1945 die romantische Sehnsucht nach Reinheit, Freiheit und Unvoreingenommenheit so stark zum Ausdruck gebracht. Es war eine Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Welt, die einer Heilung bedurfte. Wieder aufgenommene Aspekte der Romantik waren etwa die Flucht aus der Realität in irrationale Welten, die Bildung von Gegenströmungen zur Vernunft, die Thematisierung des Unterbewusstseins, die Befreiung der Form und des Inhaltes, die Verflechtung unterschiedlicher Bereiche aus Wissenschaft und Kunst oder das Verlangen des freischaffenden Künstlers nach Autonomie. Die Abstraktions-Bewegung bemühte sich um eine Reinheit der Form und um die Reduktion auf elementare Grund- und Urformen. In diesen Zusammenhang wurde Goethe nach 1945 nicht nur rezipiert, sondern auch gerne zitiert, vor allem dann, wenn es um die Legitimierung abstrakter Formensprachen ging. So äußern sich moderne Kritiker wie Hans Eckstein, der 1950 in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung über die „Malerei der jungen Generation“ die abstrakte Formensprache mehr oder weniger verteidigt, indem er Goethe zitierend - den Höhepunkt ihrer Ausdrucksform dort sieht, „ ... wo der Kunst der Gegenstand gleichgültig, rein absolut wird, der Gegenstand nur Träger ist ... “.87 Eckstein bezieht sich hier offensichtlich auf eine naive, bindungslose, ursprüngliche Art der Darstellung, die auf ein unreflektiertes, reines und offenes Weltverständnis zielt und unterstreicht in seinem Artikel den zeitgemäßen Prozess der Objektbefreiung, den der Künstler mit den Mitteln der abstrakten Malerei anstrebte. Die beschriebene Sehnsucht nach einer zwar noch undefinierbaren, jedoch hoffnungsvollen Zukunft wird von Eckstein zum Ausdruck gebracht und die moderne Kunst im allgemeinen durch den Bezug auf die geschichtlich fundierte und anerkannte Romantik zu legitimieren versucht. Der nach Goethe zitierte Begriff des Absoluten in der Kunst war für die Kunst des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen mit der von Adolf Hoelzel formulierte Definition einer streng abstrakten Bildgestaltung, die lediglich aus autonomen Grundformen
1949/50, 326; vgl. auch Baumeister, Willi: Einführung in die neue Phase der Malerei, in: Kulturarbeit, H.8, 1949, 179; 86 Roh, Franz, in Ausstellungskatalog: Maler der Gegenwart III: Extreme Malerei, Palais Schäzler, Augsburg, 1947, o.S.; 87 Zitat Goethes in einem Brief an Sulpiz Boisserée 1815 , zitiert nach: Eckstein, Hans: Malerei der jungen Generation, in: SZ, 01.03.1950, 3; 39
besteht und sich jeglicher Notwendigkeit nach einem Gegenstand entzieht. Für die Inhalt-Form-Beziehung eines Kunstwerkes bedeutete dies die Dominanz der Form, die autonom von der Wirklichkeit existierte. Sinnlich erfahrbare Kriterien und ästhetische Aspekte traten in den Vordergrund und bedurften eines Umdenkens in der Ästhetik des an die realistischen Bilder der Nazizeit gewöhnten Publikums. Nicht das Wirkliche, die bloßen äußeren Tatsachen, sollten dargestellt sein, sondern das darüber hinausgehend Existente, das losgelöst von seinem Gegenstand zu finden war. Mehr oder weniger bewusst folgten die Künstler nach 1945 damit den Vorstellungen Goethes von einer „geistig-sinnlichen“ Welterfassung, die ihren eigenen Gesetzen folgte und nicht zwangsläufig mit der Wirklichkeit im Einklang stand. Hans Eckstein versuchte in seinem Artikel die Sinnlichkeit der Form und das Empfinden für Farben und Formen dem Publikum näher zu bringen. Die Berufung auf Goethe und dessen Fähigkeit, durch sinnliche Wahrnehmung die treibenden Kräfte hinter den äußeren Erscheinungen zu erfassen, erhöhte seine Glaubwürdigkeit. Dem formempfänglichen Betrachter wurde dadurch die Eigenschaft eines weltoffenen Menschen zuerkannt. Die Diskussion um den Formbegriff war typisch für die Jahre nach dem Krieg: sie entsprach dem Glauben an einen Neuanfang, half bei der Verdrängung der Kriegszeit und rechtfertigte die Suche nach reinen und einfachen Aspekten in der Kunst. „Abstrakt“ wurden nach 1945 nahezu alle modernen Werke deren Lesbarkeit sich einer Eindeutigkeit entzog genannt. Konsens darüber, was abstrakte Kunst sei, gab es nicht. Die Pluralität der Begriffe zwischen "abstrakt", "konkret"88, „realité nouvelle“89, "absolut", "konstruktiv" belegt dies und zeigt, dass sich schon früh im 20. Jahrhundert unterschiedliche Arten von autonomen Darstellungen herausgebildet haben.
Bestätigt wurden die Werke der Abstraktion vor allem durch den Blick auf die ausländischen Kunstentwicklungen.90 Denn im Ausland war die Abstraktionsbewegung in ihrer ununterbrochenen Weiterentwicklung zu
88 Der Begriff „konkret“ wurde erstmals 1930, in der nur einmal erschienen Zeitschrift „Art concret“ von Theo van Doesburg benutzt. Abstrakte Linien und Farben lieferten für van Doesburg konkretes Bildmaterial, währenddessen der Begriff des „Gegenstandes“ für ihn auf bloße Assoziationen zurückzuführen sei und nicht real auf der Leinwand existierte, vgl. Roh, Franz: Gegenstandslose Kunst, in Ausstellungskatalog: ZEN 49, Central Art Collecting Point, München 1951, 1; 89 So der Begriff für die neue, abstrakte Wirklichkeit in der französischen Kunst; 90 vgl. Warnke, Martin: Von der Gegenständlichkeit und der Ausbreitung der Abstraktion, in: Die fünfziger Jahre. Beiträge zur Politik und Kultur, hrsg. von Dieter Bänsch, Tübingen 1985, 209; 40
beobachten.91 In Paris wurden beispielsweise die geometrisch-konstruktivistischen Bilder der internationalen Künstlervereinigung „Abstraction-Création“ 1931-1936 unter Beeinflussung der „écricure automatique“ des Surrealismus durch spontan improvisierte Abstraktionen der „École de Paris“ abgelöst. Werke von Hans Hartung, Wols oder Georges Mathieu als Vertreter der „École de Paris“ wurden seit 1947 als „abstraction lyrique“ definiert und bald darauf von einigen deutschen Künstlern rezipiert. In Amerika dagegen entwickelte sich die abstrakte Formensprache des Emigranten Kandinsky fort. Zusammen mit den unkontrolliert spontanen Gestaltungsweisen der „écricure automatique“, welche das Land durch die geflohenen europäischen Surrealisten während des Zweiten Weltkrieges erreichte, kam es in den 40er und 50er Jahren zu abstrakten Bildern, die man heute als „abstrakten Expressionismus“ kennt. Frühe Vertreter waren Wilhelm De Kooning, Robert Motherwell, Franz Kline oder Jackson Pollock, durch den es in den 50er Jahre zu einer nochmaligen Steigerung der Abstraktion, dem „Actionpainting“, kam. Die in Frankreich und Amerika entwickelten Stilrichtungen bestimmten in den 50er Jahren die gesamte westeuropäische Kunstszene. Die „lyrische Abstraktion“ zeigte sich bald nach dem Krieg in ihrer Fortentwicklung zur Kunst des „Informel“. Der „abstrakte Expressionismus“ wurde dagegen erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre übernommen, obwohl seine Bilder bereits 1951 in einer Wanderausstellung zu sehen waren.92
Für die in Deutschland anfangs wenig verstandenen rein abstrakt arbeitenden Künstler der Nachkriegszeit hatten diese internationalen Entwicklungen eine „globale Gültigkeit“93. Wurde doch die Abstraktion vom Ausland und in den 50er Jahren dann auch in Deutschland als eine „Weltsprache“ aufgefasst.94 In Deutschland nutzten kurz nach dem Kriegsende nur wenige Künstler die Mittel der Abstraktion. Die zunehmenden politischen Spannungen in Ost- und Westdeutschland bewirkten jedoch bald eine weitereichende Bestätigung der Abstraktion im Westen des Landes.
91 So wies Franz Roh in seinem Vorwort des Kataloges zur Ausstellung „Extreme Malerei“ 1947 darauf hin, dass sich in den anderen Ländern nichts ereignete, „ ... das den gesamten Antinaturalismus unserer Kunst überwunden hätte.“ Dass es sich bei der modernen Kunst, um eine „Gesamtbewegung, wie etwa das Barock“, handelte, welche „ ... noch viele Generationen umfassen wird“, Roh 1947, o.S.; 92 Vgl. Warnke 1985, 209 sowie Kapitel III.4.; 93 Hann Trier, in: Straka/Suerman 1983, 290; 94 Zitat: „’Abstraktion als Weltsprache’ war damals ja ein Wort, das auch Grohmann sehr beschäftigte und eine Form des Esperanto beinahe war, auf jeden Fall eine Möglichkeit, zu neuen Ufern zu kommen ... “, Bernard Schultze, in: Straka/Suermann 1983, 291; 41
2.4. Künstlerische Fragestellungen vor und während des Kalten Krieges
Die Zunahme des Ost-West-Konfliktes, auch innerhalb der Diskussion um eine zeitgemäße Ausdrucksform, lässt sich exemplarisch anhand der Quellen zur „Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung“ in Dresden nachvollziehen.95 So nahm die im Osten publizierte Zeitschrift „Bildende Kunst“ im Jahre 1946 deutlich Stellung für den Facettenreichtum der dort ausgestellten Werke, im besonderen aber auch für die zu jener Zeit schwer zugänglichen Werke des Surrealismus und der Abstraktion. Beide Stillrichtungen versteht man in dem Zeitschriftenbericht als ein Zeichen der Freiheit bzw. der „Demokratie der Kunst“96. 1949 gab ein Kritiker derselben Zeitschrift ein ganz anderes Bild über die in Dresden veranstalte Kunstausstellung. Sie war die letzte gesamtdeutsche Schau und präsentierte noch einmal den Stilpluralismus, der typisch für die ersten fünf Jahre in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war. Wie aus der Einleitung des Ausstellungsberichtes hervorgeht, äußerte sich der Autor zwar durchaus positiv über die stilistische Vielfalt der gezeigten Werke, indem er die Ausstellung an sich ein letztes Mal als „ethische Werbekraft für die Einheit der deutschen Kultur und die Einheit der deutschen Nation“97 bezeichnete. Doch machte die Hervorhebung der im Stil des sozialistischen Realismus geschaffenen Wandbilder als „Weg zu einer neuen demokratischen Kunst“ eine Abspaltung deutlich, die sich in den nächsten Sätzen durch die gleichzeitige Ablehnung der künstlerischen Werke des Westens verstärkt. Demnach hätten die Kunstwerke des Westens aufgrund der dort angeblich „stagnierenden gesellschaftlichen Form“ nichts Neues zu zeigen vermocht, währenddessen der sozialistische Realismus des Ostens erneut hoch gepriesen wird.98 Was der Bericht nicht erwähnte, war die Tatsache, dass die westliche Moderne schon in der Auswahl der Exponate als nicht repräsentativ geltend war.99 Dem erhobenen Anspruch der Ausstellung, einen „Überblick über
95 Vgl. hierzu die Ausstellungskatalog: Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1946 und 1949; 96 Vgl. Linfert, Carl: Erinnerungen an die Dresdner Ausstellung, in: Bildende Kunst, H.1 1947, 12; 97 Pommeranz-Liedtke, G.: Ein gesamtdeutscher Überblick Dresden 1949, in: Bildende Kunst, H.9, 1949, 267; 98 Pommeranz-Liedtke, in: Bildende Kunst, H.9, 1949, 267; 99 Dies bestätigt nicht nur der Ausstellungskatalog selbst, sondern auch folgendes Zitat: „Ein objektives Dokument der gesamtdeutschen Kunstsituation, das klärend oder gar richtungsweisend hätte wirken können, war sie nicht.“ Von der westlichen Kunst seien „ ... ein paar hundert, bisher nur im provinziellen Maßstab bekanntgewordene ... Begabungen ... “ ausgewählt worden, aus denen „ ... nur spärlich wirklich nennenswerte künstlerische Leistungen ... “ auffielen, Kinkel, Hans: Zweite deutsche Kunstausstellung in Dresden 1950, in: Das Kunstwerk, H.1, 1950, 44; 42
das gesamtdeutsche Kunstschaffen der Gegenwart“100 zu zeigen, wurden die Organisatoren nicht gerecht. Das Ziel, eine deutsche Einheit in der Kultur darzustellen wurde durch die offensichtliche Ablehnung gewisser Tendenzen verfehlt. Auch in den nachfolgenden Heften der Zeitschrift „Bildende Kunst“ werden die modernen Ausdrucksformen aus dem Westen immer wieder attackiert und das von Lenin geäußerte Postulat „Die Kunst gehört dem Volke“ propagiert.101 Das primäre Ziel war hier die Vorführung einer für das Volk leicht zugänglichen, realistischen Kunst. Die Absicht, diese Kunst als Propaganda für den Kommunismus einzusetzen, führte zwangsläufig zu Parallelen mit der Kunstdiktatur der NS. Verstärkt wurden diese Assoziationen mit Zunahme des Ost-West-Konfliktes, den unvereinbaren Weltbildern und den divergierende Ansichten der jeweiligen Kunstpolitik: denn während sich die Moderne in Westdeutschland von Anfang an frei entwickeln konnte, wurde den Künstlern des Ostens die Kunst des „sozialistischen Realismus“ nach Vorbild der marxistisch-lenistischen Ideologie nicht nur nahe gelegt, sondern spätestens nach der Teilung Deutschlands auch explizit vorgeschrieben. Waren moderne Formexperimente im Osten gebrandmarkt, wurden sie im liberalen Westen zunehmend „ ... als Ausdruck der neuen politischen Ordnung, als Manifestation demokratischen und republikanischen Geistes ... “102, kurz: als „Sinnbild und Garant für Freiheit“ 103 geschätzt.104 Gleichzeitig symbolisierte die Identifikation mit der Abstraktion in den 50er Jahren die Ablehnung des Sowjetkommunismus, der seinerseits den sozialistischen Realismus als „offizielle Kunstrichtung gegenüber westlich- kapitalistischer Dekadenz“ propagierte.105 Die moderne westdeutsche Kunst wurde im Osten verwerflich bourgeois denunziert.
Die Unterschiede der künstlerischen Ergebnisse in Ost und West verstärkten sich also zunehmend mit den politischen Spannungen zwischen den besetzten Zonen des deutschen Staates im Kalten Krieg. Es kam zur Visualisierung des Kalten Krieges in der Kunst.
Weitere Kritik bei K: Zweite deutsche Kunstausstellung in Dresden, in: Das Kunstblatt, H 5/6, 1949, 4-5; 100 Pommeranz-Liedke, in: Bildende Kunst, H.9, 1949, 267; 101 vgl. Engel, Rudolf: Zur Situation der deutschen Kunst, in: Bildenden Kunst, H. 10, 1949, 311-312; 102 Glaser 1997, 291; 103 Schneede 2001, 189; 104 Viele der zitierten zeitgenössischen Quellen belegen, dass bereits die Abstraktion der späten 40er Jahre als Ausdruck der individuellen Freiheitsverwirklichung des Westens galt; 105 Glaser 1997, 291 ; 43
Dies führte soweit, dass die realistische Malerei allgemein in Verbindung mit dem „sozialistischen Realismus“ des Ostens gebracht wurde und auf starke Ablehnung stieß. Die gegenständliche Kunst litt somit zweifach: durch ihre Vergleiche mit der Nazikunst und dessen Pendant im sowjetischen Einflussgebiet. Die abstrakte Kunst dagegen erreichte in den 50er Jahren ihre Alleinherrschaft, wurde sie doch zunehmend als Inbegriff der Demokratie und als Zeichen der Westintegration ideologisiert und auch politisch unterstützt. Im Besonderen zeigte sich dies in der Förderung abstrakter Kunst durch die CIA, welche die ersten europäischen Ausstellungen der „Abstrakten Expressionisten“ mehr als offensichtlich als Zeichen der westlichen Freiheit wider die östliche Unfreiheit finanzierte.106 Aber nicht nur die Anweisungen aus Amerika offenbarten eine politisch motivierte Förderung der Abstraktion, sondern auch die nachweisbaren staatlichen Ankäufe abstrakter Kunstwerke, die Vergabe von öffentlichen Kunstpreisen an abstrakt arbeitende Künstler107 und die Werkauswahl für öffentliche Kunstausstellungen, die in den 50er Jahren vor allem durch zahlreiche Retrospektiven der Väter der Abstraktion zum Ausdruck kam.108 Neben der amerikanischen und staatlichen Unterstützung kam einen dritte, die industrielle hinzu: die seit etwa 1951 mäzenatische Förderung der Abstraktion durch den Bundesverband der deutschen Industrie BDI . Der in ihm gegründete „Kulturkreis“ förderte ausschließlich die abstrakte Kunst, indem er Preise verlieh, Stipendien vergab, abstrakte Bildwerke kaufte oder ab 1954 das Periodikum „Jahresring“ herausgab, indem einige der damaligen Starkritiker wie Franz Roh oder Werner Haftmann sich den ästhetischen Reizen der Abstraktion widmen konnten.109 So wurde das Informel auf mehreren Ebene als Bekenntnis zum freien Westen hervorgehoben. Und es wurde zur Staatskunst, indem man ihm politische Macht verlieh. Die direkte Beeinflussung „von oben“ ging allseitig auf und wirkte sich bis in die Kunstrezeption aus: bald war die anfangs noch „publikumsfremde“ Kunst auch gesellschaftlich akzeptiert und führte zu einer Zunahme privater Sammler abstrakter Kunst.
106 Vgl. Schneede 2001, 189; 107 Vgl. Andritzky, Christoph: Deutsche Kunstpreise 1946-1961. Eine dokumentarische Übersicht, hrsg. vom Deutschen Kunstrat und der deutschen Sektion der internat. Gesellschaft der Bildenden Künste, 2. ergänzte Auflage, Köln 1962; 108 Einige Retrospektiven waren: Kandinsky 1953 in Köln und 1954 in München, Paul Klee 1954 in München, Jean Arp 1955 in Hannover, Kurt Switters 1956 in Hannover usw., vgl. Hermand 1991, 154; 109 Vgl. Wenk, Silke: Der Kulturkreis im BDI und die Macht der Kunst, in Ausstellungskatalog: Zwischen Krieg und Frieden 1980, 80ff; vgl. weiter Glaser, 1997, 291, Warnke 1985, 212 und Roh, Juliane: Industrie als Mäzen, in: Die Kunst und das Schöne Heim, H.4, 1954, 136-139; 44
Bis Ende der 50er Jahre machte sich ein Ausschließlichkeitsanspruch der Abstraktion bemerkbar: „Die Kunst ist abstrakt geworden“, so Werner Haftmann in dem von ihm aufgestellten Motto für die der Gegenwartskunst gewidmeten documenta II 1959 , die durch die Alleinherrschaft der abstrakten Kunst, im besonderen aber durch ihre jüngsten Spielarten „Informel“, „Abstrakter Expressionismus“ auffiel. Auch die documenta III 1964 hatte die „Abstraktion als Weltsprache“ unter Einbeziehung ihrer historischen Entwicklungen noch aufrecht zu erhalten versucht, obwohl der genannte Ausschließlichkeitsanspruch zu dieser Zeit kaum noch haltbar war.110 Die bisher aufgeführten Entwicklungen wurden durch ein starkes Sendungsbewusstsein seitens der Künstler und Kunstkritiker sowie durch intensiv geführte Kunstdebatten unterstützt.
2.5. Abstrakt- moderne Kunst in der zeitgenössischen Kunstdiskussion
Diskussionen um die moderne Kunst wurden bereits ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zu den ersten Ausstellungen, geführt. Die abstrakte Kunst stand verstärkt seit 1947 zur Diskussion. Es wurde heftig über die moderne Kunst, ihr Verhältnis zu früheren Epochen, ihre Möglichkeiten und Aufgaben, ihre zeitgemäße Ausdrucksform und ihre Ablehnung von der Mehrheit der Bevölkerung debattiert. Darüber hinaus ging es um die formalistische Frage: gegenständlich oder abstrakt. Konservative Kritiker protestierten gegen die Zunahme stark abstrahierender und abstrakter Kunst und deren Förderung durch öffentliche Initiativen und zogen Vergleiche mit der totalitären Kunstinszenierung des Nationalsozialismus.111 Bestätigt wird dies in den öffentlichen Medien, in denen es bis in die 50er Jahre hinein zu verbalen Attacken zwischen den Gegnern und Befürworter der Abstraktion kam. Das Verbot der Kunstkritik war offensichtlich aufgehoben und ermöglichte Diskussionen über Formfragen, Kunstströmungen und aufgaben,
110 Werke der in den 60er Jahren populär gewordenen „Pop Art- Künstler“ aus Amerika wurden von einigen der Ausstellungsmacher nicht gewürdigt; 111 Bereits 1946 äußerte sich Franz Roh im Bayerischen Rundfunk zu den Entwicklungen moderner Kunst wie folgt: „Es wäre falsch, wenn ein Gerede entstände, daß während des Dritten Reiches nur die altmodischere Kunst, jetzt aber nur extrem moderne zugelassen würde. Schwätzen doch schon allzu konservative Gemüter von „neuer Diktatur“ im Kunstwesen ... “, Roh, Franz: Kommentare zur Kunst. Rundfunk- Kritiken, München 1948, 91; 45
wenngleich die Medien bis 1949 noch von den Besatzungsmächten zensiert wurden. In Zeitschriften, Zeitungen, öffentlichen Diskussionsrunden und wissenschaftlichen Publikationen wurden die jeweiligen Standpunkte für oder gegen die Abstraktion verteidigt. Einflussreiche Bücher wie „Das Unbekannte in der Kunst“ 1947 von Willi Baumeister112 als Befürworter der Modernen, „Verlust der Mitte“ 1948 von Hans Sedlmayr113 oder „Was bedeutet die moderne Kunst?“ 1949 von Wilhelm Hausenstein114 als Gegner, dienten als Diskussionsgrundlage für die Öffentlichkeit.115 Den Höhepunkt der Streitgespräche bildet das legendäre Darmstädter Gespräch 1950 , bei dem Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Künstler und interdisziplinäre Wissenschaftler versammelt waren, um drei Tage lang anläßlich der Darmstädter Ausstellung „Das Menschenbild unserer Zeit“ über die aktuelle Kunstrezeption
112 Willi Baumeister begann bereits während des Zweiten Weltkrieges an der 1947 publizierten Publikation „Das Unbekannte in der Kunst“ zu schreiben. Dieser nach glaubte er an die schöpferische Kraft und Arbeit des Künstlers, der aus der „Lust, Formen, entstehen zu lassen“ und ohne Bezug auf Vorgegebenes, Unbekanntes in der Kunst auf die Leinwand zu übertragen vermochte. Dabei waren abstrakte Bilder für ihn keineswegs inhaltslos, im Gegenteil: für ihn waren sie der Ausdruck metaphysischer Kräfte sowie eine den wissenschaftlichen Entwicklungen zeitgemäße Ausdrucksform, vgl. Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947; 113 Hans Sedlmayr sah in der Abstraktion vor allem ein „Symptom“ für die sich seiner Meinung nach im Zerfall befindliche Gesellschaft. Moderne Kunst galt für ihn als Zeichen für den Verlust eines humanistischen und religiösen Weltbildes, dessen Heilung lediglich durch eine erneute Hinwendung zu Gott und durch die Rückkehr zu seiner Mitte erfolgreich sei. Das Motto „Verlust der Mitte“, welches die Publikation benennt, bedeutete den Verlust der „Menschlichkeit“ bzw. den Verlust des Glaubens, daß der Mensch egal in welcher Weltordnung potentiell Ebenbild Gottes sei, vgl. Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, 88, 133 sowie Skrandies, Timo: Verlust der Mitte, in: Flächenland: Die abstrakte Malerei im frühen Nachkriegsdeutschland und in der jungen Bundesrepublik, hrsg. von Hans Körner, Tübingen/ Basel 1996, 20-51; Sedlmayr sprach mit seinen Thesen die Meinung vieler Zeitgenossen und Gegner der Modernen aus. Sein Buch „Verlust der Mitte“ wurde zum Besteller und bildete die Grundlage für die kritischen Gegner der Abstraktion; 114 Auch Hausenstein offenbarte eine rückwärtsgewandte Kunstgesinnung, die von theologischen Thesen ausging. Auch er sah in der abstrakten Kunst, die Grenzen der Natur als überschritten und mit ihr den Glauben an Gott als gefährdet. Nicht nur, dass sie Zeichen eines Nihilismus und des Chaos sei, sie sei lediglich für einen kleinen Kreis an Kennern geschaffen und entzöge sich somit jeglichem gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein. Wie Sedlmayr sah auch Hausenstein den Ausweg in der Rückkehr in die Wertvorstellungen des Christentums, vgl. Hausenstein, Wilhelm: Was bedeutet die moderne Kunst? Wort der Besinnung, München 1949; 115 Vgl. hierzu Herlemann, Falko: Zwischen unbedingter Tradition und bedingungslosem Fortschritt. Zur Auseinandersetzung um die moderne Kunst in der BRD der 50er Jahre, Diss., Frankfurt a.M./Bern/N.Y./Paris 1989, 19-24, 31-34; 46
zu diskutieren.116 Die Anteilnahme an dieser Diskussion war groß, der Saal der Stadthalle war „ ... meist bis auf den letzten Platz von einem lebhaft für und wider interessierten Publikum gefüllt ... .“117 Schon allein das Thema induziert die zur damaligen Zeit hohe Erwartung an die Kunst, die zur Klärung des Bildes vom Menschen mehr als andere Gesellschaftsbereiche die Aufmerksamkeit an sich zog.
Fasst man dieses Gespräch sowie alle anderen geführten Diskussionen um die moderne Kunst zusammen, so waren dies in erster Linie eine Grundsatzdiskussion zwischen progressiven Befürworten und traditionellen Gegner über die Vorstellung einer „neuen“ Welt, deren Werte verloren gegangen schien.118 Der genannte Stilpluralismus wurde in diesen Zusammenhang als „Signatur der Zeit“, sprich als Zeichen für die „Gespaltenheit und Problematik“ der Zeit aufgefasst.119 Ohne diese Diskussion hätte der Stilpluralismus vermutlich fortgelebt, hätten sich die verschiedenen Stilrichtungen vielleicht gegenseitig beeinflusst oder ignoriert.
Ausgelöst durch das bereits angesprochene, zu jener Zeit verändert aufgefasste Weltbild, sprach man von „Bewußtseinskrisen der Menschheit120, von einer „Krise der Wirklichkeit121, welche die Gegner der Moderne vornehmlich in der abstrakten Kunst zu erkennen glaubten. Während diese in dem zunehmenden Materialismus, der zunehmenden Mechanisierung, Technisierung und physikalischen Entmaterialisierung, Gefahren für die Weiterentwicklung der Menschheit, ebenso auch einen Verlust des religiösen Weltbildes sahen, fühlten sich die fortschrittlich denkenden Anderen durch die neuen Zeiterscheinungen inspiriert.122 Für letztere
116 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem auf die in diesem Gespräch zitierten Publikationen von Willi Baumeister und Hans Sedlmayr sowie auf die Zusammenfassung dieses Gespräches bei Evers, Hans Gerhard: Das Menschenbild unserer Zeit Darmstädter Gespräch 1950 , Darmstadt 1950 sowie Herlemann 1989, 51ff.; 117 Leonhard, Kurt: Kunstgespräche in Darmstadt, in: Das Kunstwerk, H.8/9, 1950, 103; 118 Die Wertekrise wird in der damaligen Presse vielfach diskutiert: vgl. z.B. die Berichte von Walter, Otto: Zweiter Deutscher Kunsthistorikertag in München, in: SZ, 10.09.1949, 6; Bach, Rudolf: Was bedeutet die moderne Kunst?, in: SZ, 02.02.1950, 6; Trökes, Heinz: Moderne Kunst und Zeitbewußtsein, in: Bildenden Kunst, H.3, 1948, 17 19; Lex, Alice: Die Kunst im Werden eines neuen Weltbildes, Bildenden Kunst, H.4, 1948, 18 20 oder Henze, Anton: Die Malerei der Gegenwart, in: Das Kunstwerk, H.6, 1949, 58; 119 Vgl. Nemitz, Fritz: Kunstschaffen in Deutschland Malerei, in: Die Kunst und das Schöne Heim, H.4, 1949, 128; 120 W.K.: Das Für und Wider moderner Bildkunst, in: SZ, 01.03.1950, 3; 121 Braun, Hans: Zur Kunst und zur Krise künstlerischen Schaffens, in: SZ, 07.02.1948, 5; 122 Vergleiche zu den Entwicklungen in der Physik, welche „nur noch ... in abstrakten mathematischen Formeln“ zu erfassen waren, wurden innerhalb der Rechtfertigung der modernen Kunst des öfteren herangezogen, vgl. Höver, Otto: Feststellungen zur Zeitwende. Das Abstrakte als 47
offenbarte die Abstraktion einen neuen Weg, eine neue Form der Auseinandersetzung über künstlerische Fragestellungen und gab Anlass, alte Denkhorizonte zu überwinden, neue anzuregen oder zu erweitern.123 Es galt die Ansicht, dass die moderne Kunst aus dem von vielen empfundenen Chaos „neue kosmische Entwürfe“124 formen könne, ja sogar in der Lage wäre, das Chaos in eine gewünschte Ordnung zu bringen.125 Die abstrakte Kunst wurde von ihren Befürwortern als der Höhepunkt der Moderne erklärt. Man versuchte, sie durch die Vermittlung eines Fortschrittoptimismus gesellschaftlich zu etablieren. Ihre schöpferischen, überzeitlichen Prinzipien verwiesen auf ihre originelle Qualität, die keiner Naturnachahmung bedurfte, sondern, wie in der Natur, aus sich selbst heraus entsteht.
Die hier kurz angesprochenen, artifiziell aufgeladenen Streitgespräche um die Frage nach einer zeitgemäßen Kunst wurden in erster Linie von Kunstkritikern, Künstlern und Wissenschaftlern geführt. Von Interesse sind aber auch die Reaktionen des breiten Publikums auf die moderne Kunst der Nachkriegszeit, soweit sich diese aus den Quellen erschließen lassen.
schöpferische Ausdrucksform, in: Die Kunst, 1948, 62; Auch Franz Roh schloss nicht aus, dass „ ... zwischen den riesigen Denkabstraktionen neuester Physik und den kosmischen, ungegenständlichen Empfinden der Maler ... ein unterirdischer Gefühlszusammenhang ... “ bestehen könnte, vgl. Roh 1951, 4, vgl. auch Horacek, Martin: Naturwissenschaftliches Weltbild und abstrakte Malerei, in: Körner, Hans Hrsg. : Flächeland: Die abstrakte Malerei im frühen Nachkriegsdeutschland und in der jungen Bundesrepublik, Tübingen/ Basel 1996, 149 182; 123 Vgl. hierzu auch Prieur, Renate: „Wir haben doch die Sammlung Haubrich ...“ Diskussion um die moderne Kunst in Köln 1945-1960, in: Freier Eintritt, Freie Fragen, Freie Antworten. Die Kölner Mittwochsgespräche 1950-56, hrsg. von Wilfried Dörstel u.a., Köln 1991, 123; 124 Leonhard, in: Das Kunstwerk, H.8/9, 1950, 103; 125 Zitat: „Um Ordnung in unser eigenes Leben und unsere Umwelt zu bringen, ist diese Kunst so wichtig für unser unbewußtes Leben und Wohlbefinden ... “, Rebay, Hilla: Gegenstandslose Malerei, in: Die Kunst, 1948, 3; vgl. zudem K.F.M: Ordnung des Chaos durch die Kunst, in: SZ, 30.11.1950, 2, Leonhard, in: Das Kunstwerk, H.8/9, 1950, 103 oder Rebay, Hilla: Ein Brief aus Amerika und sein europäisches Echo, in: Das Kunstwerk, H.8/9, 1950, 105; Wie diese Quellen belegen, existierte der Wunsch nach Ordnung und Harmonie wesentlich früher als oftmals in der Forschungsliteratur angenommen wird: hier am Beispiel Martin Damus, der diesen Wunsch erst Mitte der 50er Jahre mit der Entwicklung des „Informel“ zu erkennen glaubt, vgl. Damus, Martin: Malerei in Deutschland Ost und West 1945 bis 1990, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter, 9/2001, 2; 48
3. Rezeption moderner Kunst in der unmittelbaren Nachkriegszeit beim Publikum
Im Zusammenhang mit der Haltung des Publikums muss noch einmal die Wichtigkeit der zeitgenössischen modernen Kunstausstellungen sowie deren Rezensionen in der Presse hervorgehoben werden. Dienten sie unmittelbar nach dem Krieg als wichtigste Informationsquellen für die Künstler und für das an moderner Kunst interessierte Publikum, so stellen sie heute die Grundlage für die Untersuchung der zeitgenössischen Kunstrezeption dar. Verstärkt ab 1947 finden sich zahlreiche Artikel, die das Phänomen der Abstraktion zum Thema haben und dem Leser ihre Stellung als zeitgemäße Ausdrucksform einerseits bzw. ihre Symmetrie des Verfalls andererseits suggerieren.
Laut dieser Artikel schien die Zahl der Besucher zu Ausstellungen moderner Kunst groß.126 Und wie der Münchner Kritiker Hans Eckstein in Bezug auf die Ausstellung „Extreme Malerei“ in Augsburg in der Süddeutschen Zeitung bestätigte, war das Publikum zudem „im geradezu erstaunlichen Maße“ an der zur Diskussion gestellten Kunst interessiert.127 Die breite Analyse der Primärquellen besagt jedoch, dass auch beim Publikum eine „zweigeteilte Meinung“, mehr wider als für die moderne Kunst, existierte.128 Dies belegen beispielsweise die Erinnerungen Heinz Trökes an die erste Nachkriegszeit: „Wir Künstler hatten eine euphorische Stimmung, dann gab es aber Leute, die nie etwas anderes gesehen hatten als diese Nazikunst. Die waren völlig konsterniert und reagierten mit denselben Worten, die sie 12 Jahre lang gehört hatten: ‚Kulturbolschewismus’, ‚entartet’, ,jüdische Kunst’.“129 Offensichtlich gab es gegen die moderne Kunst in der Öffentlichkeit weiterhin starke Widerstände. Dass die Gegner moderner Kunst nach 1945 sich an dem Wortschatz der Nationalsozialisten bedienten, geben auch die Erinnerungen des Künstlers Thomas
126 So der Zeitgenosse Bruno E. Werner über die Vernissage der Ausstellung „Maler der Gegenwart III: Extreme Malerei“ in Augsburg 1947: „Es waren sichtlich arme Irre, denn sie waren zu diesem Zweck und keinem anderen in eisverschalten überfüllten Zügen aus München, aus Tübingen, aus Stuttgart, vom Staffelsee und wer weiß woher nach Augsburg gefahren. Sie kamen nicht in Geschäften, sondern sie kamen, um eine Ausstellung zu besichtigen!“, Werner, B.E.: Zwischen Kopfschütteln und Anerkennung, Neue Zeitung, 03.02.1974, zitiert nach Finckh, Gerhard: Zur historischen Bedeutung der Gruppe ZEN 49, in Ausstellungskatalog: ZEN 49. Die ersten Jahre Orientierungen, hrsg. von Jochen Poetter, Kunsthalle, Baden-Baden 1986, 75; 127 Vgl. Eckstein, Hans: „Extreme Kunst“ in Augsburg, in: SZ, 25.02.1947, 3; 128 Vgl. Heinz Trökes, in: Straka/Suerman 1983, 282; vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Damus 1995, 25ff sowie Hermand 1991, 155f. 129 Heinz Trökes, in: Straka/Suerman 1983, 282; 49
Grochowiak an die Ausstellung „Befreite Kunst“ in Braunschweig wieder130: „Die damalige Ausstellung ... war ein totaler Mißerfolg ... . Die Leute haben geschimpft, Gift und Galle gespuckt und haben gesagt, das ist entartet, und Hitler hat recht gehabt, und die Nazis haben recht gehabt, also das Gegenteil von dem, was man eigentlich wollte ... .“131 Wie Grochowiack sieht auch Franz Roh Kritiker und Publizist der allerersten Nachkriegszeit die insgesamt breite Ablehnung moderner Ausdrucksformen in der nationalsozialistischen Vergangenheit begründet, welche „ ... die moderne Kunst vielen zu einer fremden, ja auch befremdeten Welt ... “ werden ließ.132 Franz Roh spricht in diesem Zusammenhang von einem „Trägheitsgesetz unseres Seelenlebens“133, indem er den trägen Geschmack des Bürgertums kritisiert und das Gefühl für die neue Kunst den Kunstexperten vorbehält. In Wahrheit verhielt es sich bei der Kunstrezeption damals nicht anders als heute, bedarf es in breiten Kreisen doch erst einer Gewöhnung gegenüber neuen Frontlinien in der Kunst. Den allmählichen Zugang zur Kunst bekommt der Laie durch deren ständige Medienpräsenz, durch Ausstellungsbesuche zeitgenössischer Kunst und heute vor allem durch die inflationäre Präsentation neuer Positionen im Kunstmessenbetrieb. Dies bedeutet: neue Wege werden zunächst von einem kleinen Kreis an Kunstexperten entdeckt und durch eine propagandistische Aufbauarbeit sowie durch Ankäufe renommierter Sammler publik gemacht. Handelt es sich heute um einen unüberschaubaren Facettenreichtum an neuen Ausdrucksformen, so etablierte sich in den 50er Jahren die Abstraktion zur ausdrucksstärksten, zeitkritischen Kunst. Ihre Präsenz sorgte schnell für ihre Akzeptanz im breiten Publikum.
Abgesehen davon, dass ungewöhnte Ausdrucksformen in ihrer Entstehungszeit generell zunächst von einem eher kleinen, elitären Kreis angenommen werden, war die Situation nach 1945 besonders prekär. Die Kunstpolitik des „Dritten Reichs“ wurde immer wieder in Zusammenhang mit der Kluft zwischen moderner Kunst und dem Publikum gebracht:
130 Gezeigt wurden hier vor allem Werke der einst ‚entarteten’ Künstler aus der Vorkriegszeit; 131 Thomas Grochowiak in: Straka/ Suermann 1983, 283; 132 Hans Eckstein: Zum Geleit, in Ausstellungskatalog: Maler der Gegenwart I, Palais Schäzler, Augsburg 1945, o.S.; 133 Zitat: „Wir wollen im Geschmack da stehen bleiben, wo sich die fortschrittlichen Maler aus der Zeit unserer Großmutter befanden, während die Originelleren und Neutöner von heute längst zu neuen Zielen vorstürmen. ... In 30 Jahren wird man sich lächelnd fragen, warum man einst so opponiert hatte.“, Franz Roh, in Ausstellungskatalog: Extreme Malerei, Augsburg 1946, o.S.; vgl. hierzu auch Rebay, in: Die Kunst, 1948, 103-110; Eckstein, Hans: Modernität und Tradition. Die neue Ausstellung im Augsburger Schäzler-Palais, in: SZ, 17.09.1946, 5 sowie Thwaites, John Antony: Ich hasse die moderne Kunst, 1. Auflage 1957, Frankfurt a.M. 1960, 92; 50
„je mehr aber die kunst die prätention hat, nichts als kunst und reine kunst zu sein und die moderne kunst hat zweifellos diese prätention , desto mehr schien die brücke zum breiten publikum abgebrochen, desto mehr schieden sich bild- und kunstinteresse, publikum und kunst. ... die nationalistische liebedienerei vor dem geschmack der massen bei gleichzeitiger brutaler unterdrückung aller modernen echten kunst hat vorerst diese kluft nur vertieft. Noch ist nicht zu übersehen, wie tief der angerichtete schaden reicht. Es ist in dieser situation wohl wichtiger, für die erkenntnis des wesens und der aufgabe der kunst zu wirken als auf allgemeines echtes kunstverständnis zu spekulieren. denn hier gilt Goethes wort: ‚den stoff sieht jedermann vor sich, den gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, die form aber ist ein geheimnis der meisten.‘“134
Aus den Worten von Hans Eckstein geht nicht nur eine Schuldzuweisung an die nationalsozialistische Kunstpolitik hervor. Unter erneuter Berufung auf Goethe und dessen Fähigkeit, das „unsichtbare in der Kunst“ zu erkennen sowie durch die Verbalisierung der „romantischen Reinheitsgebote“ unternimmt Eckstein abermals den Legitimierungsversuch für die zeitgenössische moderne Kunst. Für das durch traditionelle Sehgewohnheiten blockierte Verständnis gegenüber neuen Ausdrucksformen sieht er eine gezielte Vermittlungsarbeit als Desiderat. Hans Eckstein weist darauf hin, dass dem Geschmack der Massen die Bereitschaft bzw. Fähigkeit, neue Sinneseindrücke wahrzunehmen fehlte, so dass die Vermittlung eines Zugangs zu dieser Wahrnehmung nicht nur in diesem Zusammenhang als wichtigste Voraussetzung eines jeden ästhetischen Empfindens angesehen werden kann. Interessant wird die Feststellung besonders dann, wenn progressive zeitgenössische Kunst im Mittelpunkt der Kritik erscheint. Denn wie bereits erwähnt, benötigt der Großteil der Rezipienten stets etwas Zeit, um sich auf die von einem modernen Bild ausgehenden „ungewohnten“, „reinen“ Reize einzulassen. Dabei drängt sich immer wieder die Frage auf: Was ist Kunst und wer bestimmt, was Kunst sein darf?135 Schon oft wurde über diese Frage diskutiert, doch scheint die einfachste Antwort bei W. Hofmann formuliert: „Kunst ist das, was wir als solche gelten lassen.“136 Das Verständnis für Kunst erlangt, wer durch die Interaktion Zugang zu einem Werk erlangt. Die Gültigkeit von Kunstwerken ist
134 Eckstein, Hans: Kunst und Publikum, in Ausstellungskatalog: Ausstellung moderner Malerei Graphik Plastik. Künstlergruppe ROTER REITER, Traunstein 1946, 5; 135 Verwiesen sei hier auf die kurzen Essays zu den wichtigsten Stationen der Ästhetik von der Antike bis zur Gegenwart, in: Hauskeller, Michael: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Plato bis Danto, München 1999; 136 Zitiert nach Schneede 2001, 8; 51
wiederum untrennbar mit den historischen Ausgangsbedingungen des Betrachters in Abhängigkeit seiner gesellschaftlichen Gewohnheiten vernetzt.137 Indem die Wahrnehmung in der Kulturgeschichte des Sehens also von der Sichtweise des jeweiligen Rezipienten innerhalb seines historischen Umfeldes abhängt, kann sie auch keine gleich bleibende Größe darstellen kann sich die Anziehungskraft eines Bildes im Laufe der Historie positiv und auch negativ entwickeln.
Mit der durch die Nazipolitik herbeigeführten Ausschaltung der internationalen Moderne konnte eine natürliche Weiterentwicklung und als Folge eine mögliche Ausweitung der Seherfahrung verhindert werden.138 Die Möglichkeit, sich an die in ihrer Entstehungszeit ebenso wenig breit akzeptierte moderne Kunst zu gewöhnen war somit nicht gegeben. Der Kunstgeschmack während der Nazizeit wurde durch die Alleingültigkeit der repräsentativen, pseudo-realistischen Nazikunst geformt und Ausstellungen wie die „entarte Kunst“ bestätigten negative Assoziationen mit der modernen Kunst.139 Die Breite des Kunstverständnisses nach 1945 wurde somit nachhaltig durch den Ästhetizismus der nationalsozialistischen Kunst bestimmt, der das Kunstwerk auf seinen volksnahen Inhalt und seiner propagandistischen Wirkung reduzierte. Auf der anderen Seite existierte ein Ästhetik-Empfinden, das in erster Linie die vermeintliche Schönheit eines Objektes und weniger die gesellschaftliche Funktion der Ästhetik, sprich die soziale Funktion von Kunst und Stil in den Vordergrund stellt. Als schön galt ein Bild, das im Wesentlichen der Abbildung der Wirklichkeit und den gesellschaftlichen Wertevorstellungen entsprach. Verschlüsselte oder gar abstrakte „Bildinhalte“ wurden deshalb lange Zeit von einem Großteil der Bevölkerung negiert. Und dass ein Wissenschaftler wie Hans Sedlmayer die
137 In diesem Zusammenhang haben sich die in der Kunstwissenschaft, Anfang des 20. Jahrhunderts, von Aby Warburg und Erwin Panofsky entwickelten Methoden der Ikonologie zum Verständnis und zur Analyse eines Kunstwerkes bewährt. Interessant ist dabei der Blick über die symbolische Bedeutung eines Bildes hinaus und hinein in den Hintergrund eines geistigen Gesamtkonzepts, in die jeweilige Funktion eines Bildes sowie in die Geschichte seiner Entstehungszeit; 138 Dagegen wurden die von Hitler als „schön“ empfundenen Bilder in die Wahrnehmung und somit auch psycho-physischen Vorgänge der Bevölkerung transferiert; vgl. hierzu von Campenhausen, Christoph: Die Sinne des Menschen. Einführung in die Psychophysik der Wahrnehmung, Stuttgart 1993; 139 Auch Bernard Schultze sah die Ursachen des geringen Interesses an dem Mangel, der durch die Nationalsozialisten verhinderten Auseinandersetzung mit moderner Kunst: „Das Volk war total verbildet durch die Nazikunst in Deutschland. Die haben die 12 Jahre, die die Nazis am Ruder waren, nur diese deutsche Kunst gesehen ... “, Bernard Schultze, in: Straka/ Suermann 1983, 284; vgl. auch Grasskamp 1994, 149; 52
moderne Kunst als Symptom eines allgemeinen Werteverfalls ansah, bestätigte die Kunstlaien, die sich nicht länger Ungebildetheit vorzuwerfen lassen brauchten.
Neben dem einseitigen Ästhetikbewusstsein basierte das damalige Kunstverständnis mehr als heute auf dem menschlichen Verlangen nach einer eindeutigen Bedeutungszuweisung. Kunsthistorisch gesehen wird ein Werk durch die Verknüpfung einzelner Bildelemente interpretiert, um den Bildinhalt wie auch dessen inkonographische Bedeutung erschließen zu können.140 Aus psychologischer Sicht erfolgt die Suche nach einem Bedeutungssinn unbewußt aufgrund des jeweiligen Erfahrungshorizontes und der im Gedächtnis abrufbaren visuellen Sinninformationen. Gegenstandslose Bilder zielen auf eine rein formale Wirkung. Die Informationsverarbeitungen ihrer Reizmerkmale führen nicht mehr automatisch zu einem Bedeutungsinhalt, die Kombination der Farben nicht mehr automatisch zu einem im Gedächtnis gespeicherten Bildinhalt.141 Der Inhalt gegenstandsloser Bilder ist nicht auf deskriptiver narrativer Ebene zu finden. Künstler, die sich zu jener Zeit für die Abstraktion entschieden, war dies bewusst. Im Vordergrund standen die Abkehr von der rein technischen Kenntnis der Pinselführung und Farbgebung „formschöner“ Bilder sowie die Flucht vor der Wirklichkeit in eine imaginäre Scheinwirklichkeit. Dies bedurfte der Phantasie des Betrachters. Das Verständnis für moderne Kunst wurde dadurch nicht erleichtert. Was dem Großteil der Betrachter fehlte waren nicht nur die Toleranz gegenüber den künstlerischen Antworten auf die Symptome der Zeit, aus denen heraus diese Werke entstanden sind, sondern auch der Wille, sich auf die ästhetischen oder rein visuellen Reize eines abstrakten Bildes einzulassen, die Sinnesqualitäten der Farbe oder des Farbträgers zu erfassen sowie die Neugier auf vielleicht neue Entdeckungen in einem modernen Bild.
Die subjektiv möglichen, jedoch nicht jedem zugänglichen Entdeckungen in der Abstraktion führte lange Zeit zu Angriffen gegen die „Extremen“ der Nachkriegszeit: „Die exklusive Geheimsprache ihrer Formen, die skeptische und unverhüllte Beschränkung auf Probleme, die wiederum nur ein Künstler nachempfinden kann, die Alchimistenfreude am Experiment und der prophetische,
140 Vgl. hierzu die systematische Methode der Werkinterpretation zur schrittweisen Erschließung der Sinndimensionen eines Kunstwerkes von Panofsky, Erwin: Studies in Iconology, New York 1939 und ders. Meaning in Visual Arts, Garden City, New York 1955; 141 vgl. hierzu Kebeck, Günther: Wahrnehmung Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie, Weinheim/München 1997 sowie Tunner, Wolfgang: Kunst und Psychologie Vom Sehen zur sinnlichen Erkenntnis, Wien 1999; 53
bald höhnende, bald leidenschaftliche Griff nach dem Unbekannten, trennen sie vom Publikum.“142 Immer wieder war die Rede von einer „Kunst für Eingeweihte“, einer „höheren“ Kunst, einer Kunst für einen elitären Kennerkreis, der laut den gegnerischen Stimmen allein die Bedeutung des Bildes zu kennen wüsste. Der Laie dagegen stand laut „Augenzeugen“ oft ratlos vor einem abstrakten Bild: „ ... mit den abstrakten Künstlern weiß der Einheimische nicht recht, wohin, wenn er auch in der Öffentlichkeit nicht gerne darüber diskutiert ... . Ratlos blickt der Besucher umher und müht sich vergebens ab, durch die gemalten viereckigen Fenster einen Blick in das Seelenleben ihrer Schöpfer zu tun.“143
Erst die andauernde Diskussion um die abstrakte Kunst, ihre ständige Präsenz, ihre Gleichsetzung mit der Naturwissenschaft und Technik, der ihr zugestandene Ausdruck der Weltoffenheit und des Fortschritts, die kulturpolitische Unterstützung, ihre Bestätigung durch ausländische Entwicklungen und die Betonung auf ihre schöpferischen, überzeitlichen Kräfte führten zu einer allmählichen Akzeptanz in der breiten Bevölkerungsschicht. Sie wurde auch durch das starke Sendungsbewusstsein diverser Kunsthistoriker und kritiker unterstützt. Man redete und schrieb über die Problematik moderner Kunst, bat um Geduld144, um den Besuch von möglichst vielen Ausstellungen zum Zwecke einer Schulung des Auges145, dessen Seherfahrung als ein „Schlüssel zum
142 Klie, Barbara: Hat die Bildende Kunst unserer Zeit eine Chance?, in: SZ, 03./04.02.1951, 5; 143 Sommer, Sigfried: Spinat auf Leinwand, in: SZ, 05.04.1951, 4; 144 So Hans Eckstein in dem folgenden Zitat: „Die Sprache erschließt sich dem Ungeübten nicht sofort; darum erfordert Kunstverständnis sowohl Geduld als Duldung.“, Hans Eckstein: Zum Geleit, in Ausstellungskatalog: Maler der Gegenwart I, Palais Schäzler, Augsburg 1945, o.S.; vgl. auch Rebay, in: Die Kunst, 1948, 103; 145 Zitat: „Durch den Besuch vieler Ausstellungen schärfen sich die Augen. Nicht durch Intellekt und Theorie kommen stabilere Urteile zustande, sondern nur durch naive Anschauung ... “, Baumeister, Willi: Einführung in die neue Phase der Malerei, in: Kulturarbeit, H.8, 1949, 179; vgl. auch Baumeister, Willi: Warum ich gegenstandslos male, in: Die Kunst und das Schöne Heim, 1949/50, Nr.9, 1950, 326; Im Münchner Schauspielhaus waren es dagegen die Vergleiche zur Musik, deren Genuß wie in der modernen Malerei, um so höher würde, je mehr „das aufnehmende Organ“ geübt sei, Eckstein, Hans: Kleine Bilderschau, in: SZ, 06.11.1945, 3; 54
Verständnis“146 gegenüber die erstarkende Rolle der sich vom Gegenstand abwendenden modernen Form147 fungieren könne.148 Es war die Kennerschaft weniger Intellektueller, die sich um die Vermittlung der „publikumsfremden“149 modernen Kunst bemühten: Symposien, Informationsabende, Vorträge oder Diskussionsrunden wurden organisiert, Erklärungsmodelle aufgestellt oder Einführungen zur veränderten Sichtweise in der Kunst erstellt. Wie diese Vermittlungen im Einzelnen aussahen und ob diese innerhalb den traditionellen Sichtweisen des breiten Publikum erfolgreich waren, wird im Folgenden die konkrete Situation der exemplarisch gewählten Stadt München verdeutlichen.
146 Grundig, Hans: Gedanken zur realistischen Kunstauffassung, in: Prisma, H.8, 1947, 19; Grundig kritisierte hier v.a. die Ratlosigkeit der Jugend gegenüber der Moderne, weshalb er den Realismus als die einzig „publikumsverständliche“ Kunstrichtung erklärte, vgl. ebd., 20; 147 Bezüglich der Augsburger Ausstellung stellte Hans Eckstein fest: „In der Kunst bedeutet der Gegenstand wenig, die Form aber alles“, Eckstein, Hans: Moderne Malerei in Augsburg, in: SZ, 04.12.1945, 4; 148 Vgl. auch Henze, A.: Zum Verständnis abstrakter Malerei, in: Das Kunstwerk, Sonderheft zur abstrakten Kunst, 1947, 8-9; Trökes, in: Bildende Kunst, H.3, 1948, 18; Roh; Juliane: Wie betrachte ich ein gegenstandsloses Bild?, in: Die Kunst und das Schöne Heim, H.9, 1951, 321; 149 So Wilhelm Worringer in seiner Schrift „Problematik der Gegenwartskunst“: „Und ich wiederhole: naturfremde Kunst ist publikumsfremde Kunst“, zitiert nach: Bildende Kunst, H.10, 1948, 30; 55
III. Situation, Produktion und Präsentation moderner Malerei in München
1. Ausgangsbedingungen der Bildenden Kunst in München
1.1. Die politische Ausgangssituation
Unter der Regierung von Ludwig I. von Bayern erlangte München den Ruf einer „Kunststadt“ mit akademischem Führungsanspruch. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war München als eine der weltweit führenden Kunstmetropolen anerkannt, in der bedeutende Vertreter der Münchner Schule wie Franz von Lenbach, Wilhelm Leibl, Max Liebermann oder Ludwig Thoma wirkten. Um die Jahrhundertwende wurde Schwabing zu einem blühenden Künstlerviertel, in dem zahlreiche berühmte Literaten und Maler verkehrten. Das Klima dieser Zeit beschrieb Thomas Mann in seiner berühmten Novelle „Gladius Dei", die für München das geflügelte Wort „München leuchtete“ prägte.150 Mit der Gründung der Künstlervereinigung Der Blaue Reiter im Jahre 1911 gewann München eine maßgebliche Bedeutung als Zentrum expressionistischer Kunst. Die Aufgeschlossenheit gegenüber derartig modernen Strömungen endete mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. München wurde im „Dritten Reich“ zur „Hauptstadt der Bewegung“151 erklärt. Sie war als „Stadt der deutschen Kunst“ Veranstaltungsort der großen Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 und diente als Schaubühne Hitlers während der Nazizeit.152
Trotz ihres belasteten Rufes als „Kunststadt des Deutschen Reichs“ zog München nach dem verlorenen Krieg erneut viele Fremde, darunter auch viele kulturelle Persönlichkeiten, an.153 Es war das frühere Ansehen Münchens, das die Stadt auch
150 Mann, Thomas: Gladius Dei 1902, in: Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Thomas Mann, Frankfurt a.M. 1963, 155; 151 Vgl. hierzu Rohnert, Ernst Theodor: Bayern in Geschichte und Gegenwart, München 1956, 182; 152 Zur Kunstsituation in München während der Hitlerzeit, vgl. Ludwig 1997, 165-175 sowie Schuster, Klaus- Peter: Die Entartetet Kunst, in: Gliewe, Gert Hrsg. : Kunst in München, Hamburg 1988, 44- 47 und Schuster 1987; 153 Der Wunsch nach München zu ziehen wurde aufgrund der anfänglichen Wohnungsnot und der strengen Zuzugspolitik nur wenigen gebilligt, vgl. Krauss 1985, 33-36; Erst ab 1951 wurden die positiven Folgen des Zuzugs erkannt, so die Auflockerung der in Bayern typischen römisch- katholischen Konfession sowie eine Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses, worin Walter Panofsky eine „ ... neue Voraussetzung für das gesamte bayerische Leben ... “ sah, vgl. Panofsky, Walter: Kultur-Politik, in: SZ, 20/21.01.1951, 1/2; vgl. auch D.T.: Jeder vierte in Bayern ein „Zugereister“, in: SZ, 14.03.1951, 5; 56
nach 1945 wieder zu einem Treffpunkt für die kulturelle Szene in Süddeutschland machte und Erich Kästner beschrieb dies wie folgt: „München ist der Treffpunkt derer geworden, die bei Kriegsende nicht in Berlin, sondern in West- oder Süddeutschland steckten. Mitten auf der Straße fallen sie einander um den Hals. Schauspieler, Dichter, Maler, Regisseure, Journalisten, Sänger, Filmleute tags und abends stehen sie im Hof der Kammerspiele, begrüßen die Neuankömmlinge, erfahren Todesnachrichten, erörtern die Zukunft Deutschlands und der Zunft, wollen nach Berlin, können’s nicht, wägen ab, ob’s richtiger sei, hier oder in Hamburg anzufangen.“154 Aus dem Zitat Kästners geht auch die starke kulturelle Anziehung Berlins hervor, das seit Beginn der Moderne, wie bereits angedeutet, stets Anziehungspunkt für progressive Positionen war. Inspirierend war das Flair der Großstadt, das zu Zeiten der Expressionisten immer wieder als Motiv auftauchte, wenngleich die Anonymität und Hektik der Großstadt von vielen auch als abstoßend empfunden wurde. Kästner sah neben München Berlin und Hamburg als Städte des kulturellen Neubeginns.
Den politischen Rahmen bildete zunächst die alliierte Zonenaufteilung, innerhalb derer Bayern als das größte deutsche Bundesland der amerikanischen Militärregierung unterstellt gewesen war.155 Zu diesem Zwecke richteten die Amerikaner das „Office of Military Government, United States“ OMGUS ein, welches auch für Hessen und Baden-Württemberg zuständig war. Im Vordergrund standen zunächst die Entnazifizierung156 sowie die „Re-education“ Umerziehung zur Demokratie der Deutschen, neben Maßnahmen zur Linderung der allgemeinen Not. Wie einleitend beschrieben unterstützten die Amerikaner den Münchner Wiederaufbau des Kulturlebens wohlwollend und freundlich.157 Innerhalb der alliierten Verwaltung waren es die bayerischen Minister Fritz Schäffer und kurz darauf Wilhelm Hoegner, die den Neuanfang des bayerischen
154 Zitiert nach Hay, G.: Literarische Positionen im München der Nachkriegszeit, in: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945 1949, hrsg. von Friedrich Prinz, Münchner Stadtmuseum, München 1984, Anm. 1, 209; vgl. auch die Beschreibung des Nachkriegsklimas in München bei Krauss 1985, 33ff; 155 Vgl. im folgenden Latour, Conrad F./Vogelsang, Thilo: Okkupation und Wiederaufbau. Die Tätigkeit der Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands 1944-1947, Stuttgart 1973, 86-92 sowie Roth, Rainer A.: Freistaat Bayern. Die politische Wirklichkeit eines Landes der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, München 1986, 46ff; Eine ausführliche Darlegung zur amerikanischen Besatzungspolitik in Süddeutschland bietet: Henke, Klaus- Dietmar: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, 2. Auflage, München 1996, 777ff; 156 Vgl. Latour /Vogelsang 1973, 132-144; 157 Auch Marita Krauss wies auf die auffallend „kultur- und deutschfreundliche Haltung der Amerikaner“ hin, vgl. Krauss 1985 39, 40; 57
Staates aktiv begleiteten. Neben Hoegner als Ministerpräsident und Justizminister wirkten noch drei weitere Sozialdemokraten und Regierungsmitglieder mit: Josef Seifried als Innenminister, Albert Roßhaupter als Arbeitsminister und Dr. Franz Fendt als bayerischer Kultusminister.
Das Kulturreferat in München unterstand zuerst dem ersten Oberbürgermeister Karl Scharnagel, der in der nationalsozialistischen Zeit von seinem Amt enthobenen und nun nach 1945 wieder eingestellt wurde.158 1949 folgte ihm der Oberbürgermeister Dr. Walther von Miller. Bei der personellen Neubesetzung des Kulturreferates setzte sich die Stadt München auf bewährte Persönlichkeiten aus der Vorkriegszeit. Die im September 1945 erfolgte Wahl für den Kulturbeauftragten gewann der Stadtbibliotheksdirektor Hans Ludwig Held, der neben vielen anderen Tätigkeiten auch für die Betreuung der Bildenden Kunst, des Kunsthandels und Kunstgewerbes zuständig war.159 Wie viele seiner in der NS-Zeit entlassenen Kollegen160 wurde er rehabilitiert und stand für die personelle Kontinuität, die für Münchens gesamte Stadtpolitik nach 1945 typisch war.
1.2. Anfängliche Erfolge, Notstand und erneuter Aufschwung der Kultur
Das kulturelle Engagement spielte im Vergleich zu den Wiederaufbaumaßnahmen vor allem des zerstörten Verkehrssystems eine Nebenrolle.161 Doch bestand in München von Anfang an ein starkes Bedürfnis nach Kunst und Kultur. Dies belegen beispielsweise die ersten Jahrgänge der Süddeutschen Zeitung, in denen zahlreiche Artikel zu Theateraufführungen, Konzerte wie auch Kunstausstellungen zu finden sind. Schwabing einst „Anziehungspunkt für Künstler aus aller Welt“, blühendes Künstlerviertel der 20er Jahre, auch bezeichnet als das „bayerische Montmartre“162
158 Vgl. hierzu Krauss 1984, 24 sowie Krauss 1985, 138, Anm.31; 159 Zu Hans Ludwig Held vgl. Krauss 1985, 13 28; 160 In der NS-Zeit entlassene und nach 1945 wieder eingestellte Persönlichkeiten waren auch z.B. Otto Hipp, Franz Fendt, Alois Hundhammer oder Josef Schwalber, vgl. Tradition und Perspektive. 150 Jahre Bayerisches Kultusministerium, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, München 1997, 311; 161 Im besonderen offenbarte sich dies anhand der Wohnungspolitik wie bei Marita Krauss erwähnt: „ ... den ‚geistigen Facharbeitern’ gestand das Wohnungsamt keineswegs die gleiche Wichtigkeit zu wie Sozialarbeitern, die für den Wiederaufbau gebraucht wurden“, Krauss 1984, 25; 162 Dumont, S.: Wo ist das alte Schwabing? Auf der Suche nach dem Münchner Künstlerviertel/ Die Küche als Atelier, in: SZ, 09.08.1947, 4; 58