Reden, die die Republik bewegten Horst Ferdinand (Hrsg.)

Reden, die die Republik bewegten 2. erweiterte und überarbeitete Auflage

Leske + Budrich, Opladen 2002 Über den Herausgeber

Horst Ferdinand, geb. 1921 in Ettenheim (Baden), Prof. Dr. phil., war nach Kriegsdienst und Gefangenschaft (1939-1948) von 1949-1985 Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung in Bonn. Er ist Verfasser oder Herausgeber von Veröffent• lichungen über zeitgeschichtliche Themen (u.a. "Für Europa - Hans Furlers Le• bensweg", 1977 - mit A. Kohler), "Beginn in Bonn", 1985, "Die VI. Interparla• mentarische KSZE-Konferenz", 1986, "Reden, die die Republik bewegten", 1988, "Der Deutsche und die interparlamentarischen Versammlungen", 1989, "internationale beziehungen, Bundestagsabgeordnete in interparlamentarischen Gremien", 51990) und schrieb Beittäge u.a. zu den von Günther Neske herausge• gebenen Bänden ,,40 Jahre Deutscher Bundestag", 1989, "Der Deutsche Bundes• tag, Porträt eines Parlaments, Die zwölfte Wahlperiode", 1994, zu dem von U. Andersen/W. Woyke herausgegebenen "Handwörterbuch internationaler Organi• sationen", 1995, und zu dem von U. Kempf/H.-G. Merz herausgegebenen "Bio• graphischen Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Kanzler und Minister 1949-1998", 2001. Er ist korrespondierendes Mitglied der Kommission für ge• schichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg und verfasste seit 1980 viele Biographien (darunter 18 von früheren Bundestagsabgeordneten) für die von die• ser Kommission herausgegebenen "Badischen" und "Baden-Württembergischen Biographien".

Gedruckt auf alterungsbeständigem und säurefreiem Papier

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahrne Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

ISBN 978-3-8100-3338-3 ISBN 978-3-322-97558-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97558-4

© 2002 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer• tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervieWiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Leske + Budrich, Opladen Gesamtherstellung: Bercker, Kevelaer Inhalt

Geleitwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages ...... 11

Vorwort...... 13

Vorwort zur 1. Auflage ...... 15

Fester Sinn: PAULLöBE ...... 21 Erste Aufgabe: Wiedergewinnung der deutschen Einheit (Deutscher Bundestag Bonn 7.9 .1949) ...... 24

Landesvater: ...... 31 Gerechtigkeit erhöhet ein Volk (Bundestag/Bundesrat Bonn 12.9.1949) ...... 34

Patriot: ...... 41 Die Opposition ist Bestandteil des Staatslebens (Deutscher Bundestag Bonn 21.9.1949) ...... 44

S o,?!ale Marktwirtschaft: ...... 67 Wohlstand für alle (Deutscher Bundestag Bonn 9.2.1950) ...... 70

Früh vollendet: ...... 81 Deutsche wieder im Weltforum der Parlamente (40. Interparlamentarische Konferenz Istanbul 31.8.1951) ...... 86

5 Urgestein: FRANZJOSEF STRAUSS ...... 93 Rückkehr zu internationaler Gleichberechtigung: der Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik (Deutscher Bundestag Bonn 7.2.1952) ...... 96

Widerstand: ...... 117 Der Israel-Vertrag: Dokument einer neuen Gesinnung (Deutscher Bundestag Bonn 18.3.1953) ...... 122

Gleichberechtigung: MARIE-ELISABETH LÜDERS ...... 127 Nach vier Jahren Bundesrepublik - ein neuer Staatsinhalt (Deutscher Bundestag Bonn 6.10.1953) ...... 131

Rhetor: ...... 139 Die Pariser Verträge - die Bundesrepublik wird souverän (Deutscher Bundestag Bonn 15.12.1954) ...... 144

Pater patriae: (I) ...... 163 Diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion ? "Europäisierung" der Saar? (Bochum2.9.1955) ...... 170

Tapferster der Tapferen: FRANZ BÖHM ...... 173 Die Wiedergutmachung ist eine Lebensfrage unseres Staates Deutscher Bundestag (Bonn 14.12.1955) ...... 176

Gegenspieler Adenauers: ...... 185 Entwicklung in der Sowjetzone (Deutscher Bundestag Bonn 30.5.1956) ...... 188

Gegen den Strom: ...... 217 Bürger in Uniform- der Wehrbeauftragte als Kronanwalt des Parlaments (Deutscher Bundestag Bonn 6.7.1956) ...... 221

6 Versö'hnende Begegnung: ...... 227 Europa muss zusammenwachsen - die Gemeinschaft nimmt Gestalt an (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl- Gemeinsame Versammlung Straßburg 27.11.1956) ...... 231

Hurrikan: ...... 237 Bot Stalin die Wiedervereinigung an? (Deutscher Bundestag Bann 28.1.1958) ...... 242

Zuchtmeister: ...... 261 Die Verträge sind Grundlage der Deutschland• und Außenpolitik - und die Sozialdemokratie steht loyal dazu (Deutscher Bundestag Bann 30.6.1960) ...... 265

Das Recht atif unserer Seite: KONRAD ADENAUER (I1) ...... 287 Die Mauer - Bankrotterklärung der Gewaltherrschaft (Deutscher Bundestag Bann 18.8.1961) ...... 289

Repräsentant des anderen Deutschland: W1LLY BRANDT (I) ...... 301 Der Viermächtestatus unter den Panzerketten der Volksarmee (Deutscher Bundestag Bann 18.8.1961) ...... 305

Preußisches Ethos: ...... 315 Die Opposition hat diesen Staat mitgeschaffen (Deutscher Bundestag Bann 6.12.1961) ...... 318

Protestant: GUSTAV HE1NEMANN ...... 335 Die Studentenunruhen - drei Finger der deutenden Hand weisen zurück (Rundfunk- und Fernseherklärung 14.4.1968) ...... 340

7 Nobelpreis: (II) ...... 343 Ostpolitik (Deutscher Bundestag Bonn 28.10.1969) ...... 347

Adenauers S chüter: KARL THEODOR FREIHERR VON UND ZU GUTTENBERG...... 365 Preisgabe deutscher Interessen? (Deutscher Bundestag Bonn 27.5.1970) ...... 368

Grandseigneur: CARLO SCHMID ...... 385 "Wackre neue Welt" - im Smog (parlamentarische Versammlung des Europarates Straßburg 10.5.1971) ...... 390

Säule der Exekutive: GERHARD SCHRÖDER (Düsseldorf) ...... 397 Versuch eines Regierungssturzes (Deutscher Bundestag Bonn 27.4.1972) ...... 401

Erste Dame: ANNEMARIE REN GER ...... 407 Frauen wünschen keine Ausnahmestellung (Deutscher Bundestag Bonn 13.12.1972) ...... 411

Nachfahr der Schwertschmiede: WALTERSCHEEL ...... 419 Terrorismus - Grimasse der Freiheit (Stuttgart 25.10.1977) ...... 424

Alles hö'rt auf mein Kommando: ...... 433 Mißtrauensvotum legal, aber moralisch gerechtfertigt? (Deutscher Bundestag Bonn 1.10.1982) ...... 439

Steiler Aufstieg -jäher Fall: RAINERBARZEL ...... 451 Wende nach vorn (Deutscher Bundestag Bonn 1.10.1982) ...... 459

8 Gewissen Deutschlands: RICHARD VON WEIZSACKER ...... 469 Nach vierzig Jahren (Bundestag/Bundesrat Bann 8.5.1985) ...... 473

Fehlschlag- die "erlebte" Rede: PHILIPP JENNINGR ...... 489 Der Staat als Organisator des Verbrechens (Deutscher Bundestag Bann 10.11.1988)...... 492

Einmalige Verdienste, spektakuläre Fehler: HELMUT KOHL ...... 507 Vertragsgemeinschaft - Föderation - Wiedervereinigung (Deutscher Bundestag Bann 28.11.1989) ...... 511

Dauerliiufer im Auswärtigen Amt: HANs-DIETRICH GENSCHER...... 521 Der wichtigste und chancenreichste Vertrag, den wir je geschlossen haben (Deutscher Bundestag Bonn 5.1 0.1990) ...... 526

In Wahrheit geht es um die Zukutif/ Deutschlands: WOLFGANG SCHAUBLE ...... 531 Die Entscheidung für ist eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas (Deutscher Bundestag Bann 20.6.1991) ...... 534

Bonn ist die Metapher für die iJVeite deutsche Republik: PETER GLOTZ ...... 539 Bann muß Regierungs- und Parlaments sitz bleiben (Deutscher Bundestag Bann 20.6.1991) ...... 541

Präsidentin, nicht Parteisoldatin: RITA SÜSSMUTH ...... 549 Heute ist für mich kein schwarzer Tag (Deutscher Bundestag Bann 29.6.1995) ...... 553

Weil wir Deutschlands Krcift vertrauen: GERHARD SCHRÖDER (Hannover) ...... 559 Nicht die Partei entscheidet, sondern das Volk (Deutscher Bundestag Bann 10.11.1998) ...... 563

9 Aufdem langen Lauf Zu sich selbst: JOSEPH FISCHER ...... 613 Stabilität für den Balkan (Deutscher Bundestag Bonn 25.2.1999) ...... 617

Humanist: Orro SCHILY ...... 623 Recht und Ordnung (Deutscher Bundestag Berlin 7 .5.1999) ...... 626

Mitgestalter des demokratischen Neuanfangs: WOLFGANG THIERSE ...... •...... 637 "Wir sind ein Volk" (Deutscher Bundestag Berlin 19.4.1999) ...... 640

Personenregister...... 655

10 Geleitwort

"Reden, die die Republik bewegten" - wie der Vorgängerband bietet auch diese erweiterte Neubearbeitung eine interessante Zu• sammenstellung von Reden, die im "Herzen unserer Demokra• tie", dem Deutschen Bundestag, gehalten wurden und weit über ihn hinaus in unsere Gesellschaft hinein gewirkt haben. Erläute• rungen zum jeweiligen Redeanlass wie zu den einzelnen Redne• rinnen und Rednern sind den dokumentierten Ansprachen aus fünf Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland vorangestellt. In einer "Tour d'horizon" spiegeln die einzelnen Reden die politi• sche Entwicklung Deutschlands über 50 Jahre wider: den Aufbau der parlamentarischen Demokratie in einem zerstörten Land, den Weg nach Europa, das Engagement für soziale Gerechtigkeit, Entspannung und Frieden, die langen Jahre der Teilung Deutsch• lands und ihre Überwindung durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen. Unverwechselbare Persönlichkeiten wie Theodor Heuss, Kurt Schumacher, Konrad Adenauer, Hermann Ehlers, Willy Brandt und Franz-Josef Strauß treten wieder vor das geisti• ge Auge und Ohr des Lesers. Aber auch die Reden von Politikern und Politikerinnen wie Marie-Elisabeth Lüders, Richard Jaeger, Franz Böhm oder Hans Furler sind ungemein lesenswert. Alle in diesem Band dokumentierten Ansprachen verbindet, dass sie in besonders eindrucksvoller Weise brisante Fragen thematisiert, öf• fentliches Bewusstsein geprägt und notwendiges politisches Han• deln angestoßen haben. In unseren Feuilletons findet sich immer wieder die Behaup• tung, Deutschland sei ein Land ohne nennenswerte rhetorische Traditionen. Das vorliegende Buch beweist - zumindest für unse• re jüngere Vergangenheit - das Gegenteil: Im Deutschen Bun• destag sind über fünf Jahrzehnte immer wieder Reden gehalten

11 worden, die die Republik und die Menschen bewegt haben. Das unterstreicht die Bedeutung unseres Parlaments als Forum des öf• fentlich gesprochenen Wortes.

Wolfgang Thierse Präsident des Deutschen Bundestages

12 Vorwort

1988 schrieb ich im Vorwort zur ersten Auflage dieses Buches, dass das Hauptziel deutscher Politik nach 1945, die Wiedervereinigung, noch nicht erreicht worden sei. Niemand ahnte damals, dass mutige Bürgerinnen und Bürger in der DDR ein Jahr später in einer fried• lichen Revolution die Diktatur des Unrechtsstaates beseitigen wür• den. Den Jubelszenen des 9. November 1989, als die Berliner aus Ost und West ein Volksfest auf der Mauerkrone feierten, folgten die in dieser aktualisierten Auflage mit den entsprechenden Reden dokumentierten politischen Stationen der Wiedervereinigung bis zum Einzug des Deutschen Bundestages in das umgebaute Reichs• tagsgebäude am 19. April 1999. Auch Bnden sich in dieser Neuauf• lage Reden, die im Zusammenhang mit einigen für die Gesetzge• bung des wiedervereinigten Deutschland bedeutsamen Bundestags• beschlüssen zu Themen wie § 218, Staatsangehörigkeit oder Bun• deswehreinsatz im Kosovo gehalten wurden. Die nunmehr 39 Re• den umfassende Sammlung umschließt den Zeitraum von 1949 bis 1999 und darf damit wohl als ein "deutsches Nachkriegs-Ge• schichtsbuch" - so nannte es ein Rezensent - bezeichnet werden. Der Dank des Autors gilt Herrn Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der die aktualisierte Neuauflage dieses Buches anregte, und Herrn Verleger Dr. Hermann Herder, der die seinem Verlag über• tragenen Rechte an dem Buch an den Herausgeber zurückfallen ließ.

Horst Ferdinand

13 Vorwort zur 1. Auflage

,Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd gewor• den. Es ist, das müssen Sie zugeben, ein beängstigendes Land", schrieb Thomas Mann in sein zwischen 1942 und 1944 geführtes Ta• gebuch. Und heute? Ist Deutschland tatsächlich noch immer ein be• ängstigendes Land? In diesem Taschenbuch werden 25 Politiker und Politikerinnen vorgestellt, deren nachstehend publizierte Reden An• sätze zu einer anderen Betrachtungsweise liefern können. Die Texte dokumentieren, dass sich nach den Irrungen und Wirrungen des "Dritten Reiches", nach dem der Katastrophe folgenden Elend und nach einem erfolgreichen Wiederaufbau, bei dessen Tempo wenig Zeit zur Rückschau blieb, wenigstens in Umrissen etwas wie ein "un• befangenes, ruhiges, natürliches Nationalgefühl" herausgebildet hat - bei allen Unvollkommenheiten des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland. Es sind Schritte in Richtung auf eine Normalität hin getan worden, die Werner Bergengruen noch 1945 für unmöglich hielt: "Der Deutsche ... bewegte sich ständig zwischen den Extremen der würdelosen Verleugnung und der überhitzten Gewaltsamkeit." Mit der Edition dieser Texte wird beabsichtigt, Hinweise darauf zu geben, dass die Deutschen im freien Teil ihres Landes gelernt haben, einen - immer im legitimen Streit der Parteien stehenden - vernünf• tigen Mittelweg zwischen der würdelosen Verleugnung und der über• hitzten Gewaltsamkeit einzuschlagen. Da das Instrumentarium für diesen Neubeginn vorwiegend von der parlamentarischen Demokra• tie geliefert wurde, entstammen die für die Edition ausgewählten Redner ausnahmslos dem Deutschen Bundestag, sei es, dass sie ihm nur wenige Tage angehört haben wie Theodor Heuss, sei es, dass sie jahrzehntelang dort oder in hohen Staatsämtern ihren Beitrag zum Auf• bau des freiheitlichsten Staates leisteten, den die Deutschen in ihrer Ge• schichte je besaßen. Die ausgewählten Reden haben alle etwas bewirkt. Sie haben po• litische Entwicklungen oder Ereignisse signalisiert, ausgelöst oder

15 abgeschlossen. Das gilt nicht nur für die berühmten Reden etwa von Theodor Heuss im Jahre 1949, nach der sich erstmals in der neuen Bundesrepublik ein Gefühl der Geborgenheit, ja der schüch• ternen Hoffnung auf einen Neuanfang verbreitete, oder von Her• bert Wehner, der im Jahre 1960 der sprachlosen Öffentlichkeit eine Neuorientierung der Sozialdemokratie verkündete, oder von Richard von Weizsäcker, dessen Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 mit ihrem Leitsatz der "Erinnerung als Erlösung" ein ungeahntes Echo im In- und Ausland fand. Es gilt auch für Reden, die seinerzeit zwar registriert wurden, aber schnell wieder im Blätterwald oder in den Archiven verschwanden. Wer denkt heute noch an den muti• gen Auftritt von Hermann Ehlers im Jahre 1951, der sich, erstmals nach dem Krieg, auf einer großen internationalen Parlamentarier• konferenz, in Istanbul, zu behaupten hatte, in einer gegenüber al• lem und allen Deutschen feindseligen Atmosphäre? Wer denkt noch an Franz Böhm, dessen Lauterkeit selbst die - verständli• cherweise - in eisiger Abwehr verharrenden Israelis bewog, schon in der Mitte der 50er-Jahre in einen Akt der deutschen Wiedergut• machung einzuwilligen? Viele Vorgänge aus den zurückliegenden Jahrzehnten sind heute dem Gedächtnis entschwunden. Der Herausgeber hat es deshalb unternommen, das politische Umfeld der Reden in einleitenden Kommentaren zu beschreiben und auch die Persönlichkeit der Redner zu würdigen. Er hofft, dass diese notwendigerweise skiz• zenhaften Texte in ihrer Gesamtheit ein zeitgeschichtliches Relief der letzten Jahrzehnte bilden. Historische Vollständigkeit konnte nicht das Ziel sein. Es ging darum, anhand der unmittelbar zum Leser sprechenden Quellen le• bendige und unverfälschte Eindrücke aus dem Geschehen dieser Jahrzehnte zu präsentieren. Dabei ließ es sich leider aus Raum• gründen nicht vermeiden, einige Reden etwas zu kürzen. Die Rei• henfolge der Redner ergibt sich aus dem zeitlichen Ablauf der geschil• derten Ereignisse. Der Herausgeber, der von 1949 bis 1985 in Diensten des Deut• schen Bundestages stand, hat von allen in diesem Taschenbuch auf• tretenden Rednern einen persönlichen Eindruck gewonnen, sei es aus der Distanz des amtlichen Protokollführers in den Bundestags• gremien, sei es aus der dienstlichen Nähe des Sekretärs interparla• mentarischer Bundestagsdelegationen, sei es aus der größeren Nähe des Mitarbeiters. Die Schilderung vieler Szenen in den folgenden Blättern beruht auf eigenem Erleben, das auch, bis zu einem be-

16 stimmten Grad, für die Auswahl der Reden maßgeblich war. Die wesentlichsten Gesichtspunkte für die Zusammenstellung gerade dieser 27 Reden waren jedoch die "die Republik bewegenden" Si• gnale und Folgen. Dabei wird nicht übersehen, dass es außer den publizierten Texten viele andere wichtige und in ihrer Bedeutung gleichrangige Reden von Mitgliedern des Bundestages gibt, die ebenso eine Edition verdient hätten; insoweit waren aber durch den hier zur Verfügung stehenden Raum Grenzen gezogen, deren Ein• haltung eine - zugegebenermaßen auch subjektiv bedingte - Aus• wahl veranlasste. Als Autor hat der Herausgeber versucht, mit der Erfahrung der funktionalen Nähe seines Amtes und dem kritischen Blick des Zeit• zeugen (er war es vom "Beginn in Bonn" an, wie der Titel des von ihm herausgegebenen Taschenbuchs Nr. 1235 in der Herderbüche• rei lautet) ein doppeltes Ziel zu erreichen: Einmal soll das Engagement der Akteure auf der Bonner politi• schen Bühne gezeigt werden, jenes Engagement, das man mit dem oft missverstandenen Niccolo Machiavelli die "virtli" nennen kann. Der Florentiner meint damit die der antiken virtus entsprechende Begabung, den Mut, das Talent, sich politische Macht zu erobern und sie dann für die Erneuerung und "Wiedervereinigung" - wie wir sagen würden - seines damals zum Teil von "Barbaren" be• herrschten Vaterlandes Italien einzusetzen. Wie sich diese "virtit" - mit all ihrer menschlichen Begrenztheit - in den Fallstricken der "fortuna" - des Schicksals, des Glücks oder Unglücks - verfangen kann, dafür finden sich auf den folgenden Seiten sprechende Belege. Das zweite Ziel: Dieser Versuch einer Synthese aus persönlicher Charakterisierung und dokumentiertem Wort will die Behauptung stützen, dass die ersten vier Jahrzehnte der zweiten deutschen Re• publik als menschenwürdiger Erfolg in der Geschichte Westdeutsch• lands und Westeuropas zu werten sind, als ein Erfolg, der auf der parlamentarisch-demokratischen Willens bildung basiert. Sicher, vie• les ist nicht erreicht worden, so das Hauptziel deutscher Politik, die Wiedervereinigung (in Italien dauerte es, von Machiavelli an gerech• net, noch über dreihundert Jahre bis zur Bildung des einheitlichen Nationalstaats). Aber sollten nicht die tragfähigen Grundlagen, die in den letzten vier Jahrzehnten gelegt worden sind, auch Lösungen von Proble• men ermöglichen - Umwelt, Abrüstung, Arbeitslosigkeit -, von de• ren Dimension man sich beim "Beginn in Bonn" kaum eine Vor• stellung machen konnte? Und sollte nicht eine heutige Politikerge-

17 neration auf dieser gut gegründeten Basis die gewaltigen Heraus• forderungen unserer Tage - auch die einer weltweit durch die Me• dien manipulierten Anspruchsgesellschaft - bestehen können? In einem Essay zum dreißigjährigen Bestehen des Bundestages schrieb Carlo Schmid, dass "die Zeiten - leider! - vorbei sind, in denen man mit einer gewaltigen Rede, die die einzelnen Abgeord• neten erschütterte und umstimmte, die Mehrheiten im Parlament verschieben konnte". Das trifft sicher weitgehend zu, aber es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, den Meinungsaustausch nicht auf Fernschreiben zu verlagern und die Rede als nach wie vor wichtig• stes Element der parlamentarischen Demokratie beizubehalten - und auch gelegentlich ausgewählte Reden in besonderer Form zu publizieren. Schmid nennt dafür folgende Gründe: "Warum hält man denn so viele und lange Reden, wenn man doch nicht damit rechnen kann, die Abgeordneten auf der anderen Seite zu überzeu• gen? Man hält diese Reden, damit das Volk sie höre; man hält diese Reden vor den Wählern von morgen; man hält sie, um den Bürgern die Gründe darzutun, warum man sich so und nicht anders verhält - wie sonst sollte der Wähler bei dem nächsten Wahlgang wissen, wessen er sich bei dieser und jener Partei zu versehen hat?" Inso• weit haben "Reden zum Fenster hinaus", wie man sie oft abschät• zig nennt, ihren wohl begründeten Sinn. Lessing beklagte seinerzeit, dass Klopstock zwar viel zitiert, aber wenig gelesen werde. Der Herausgeber macht sich den Wunsch Lessings für die von ihm edierten Reden zu eigen:

Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? - Nein. Wir wollen weniger erhoben Und fleißiger gelesen sein.

Horst Ferdinand

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