Plenarprotokoll 16/183

Deutscher

Stenografischer Bericht

183. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 19433 B nung ...... 19419 A (SPD) ...... 19435 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 18, 19, (FDP) ...... 19436 D 32, 33 und 40 h ...... 19420 D (CDU/CSU) ...... 19438 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 19420 D (SPD) ...... 19439 D (CDU/CSU) ...... 19440 D Tagesordnungspunkt 3: (Hamm) (CDU/CSU) ...... 19442 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über zwingende Arbeitsbedingun- Tagesordnungspunkt 4: gen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäf- Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva tigte Arbeitnehmer und Arbeitnehme- Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer rinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: AEntG) Energiekosten sozial ausrichten – Sozialta- (Drucksache 16/10486) ...... 19421 A rife einführen, wirksame Strompreisauf- sicht schaffen, Energiesparen ermöglichen b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/10510) ...... 19443 C rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestar- in Verbindung mit beitsbedingungen (Drucksache 16/10485) ...... 19421 A Zusatztagesordnungspunkt 3: , Bundesminister Antrag der Abgeordneten Renate Künast, BMAS ...... 19421 B Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abge- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 19424 C ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energiesparen für alle – Kosten Andreas Steppuhn (SPD) ...... 19424 D senken, Klima schützen (DIE LINKE) ...... 19425 D (Drucksache 16/10585) ...... 19443 C Dr. (CDU/CSU) ...... 19427 A Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 19443 D Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 19429 C Dr. (CDU/CSU) ...... 19445 C Gudrun Kopp (FDP) ...... Dirk Niebel (FDP) ...... 19430 C 19447 A Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 19448 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19432 A (SPD) ...... 19449 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Gudrun Kopp (FDP) ...... 19451 D e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ zes zur Änderung des Straßenverkehrs- DIE GRÜNEN) ...... 19452 C gesetzes und zur Änderung des Gesetzes Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 19454 A zur Änderung der Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/10534, 16/10583) . . . . . 19465 C DIE GRÜNEN) ...... 19455 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD) ...... 19456 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 19458 B zes zu den Änderungen vom 28. April und 5. Mai 2008 des Übereinkommens Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 19459 C über den Internationalen Währungs- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 19460 A fonds (IWF) (Drucksache 16/10535) ...... 19465 D Gudrun Kopp (FDP) ...... 19461 A g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ulrich Kelber (SPD) ...... 19461 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 19461 D zes zur Umsetzung der Beteiligungs- richtlinie Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 19463 B (Drucksache 16/10536) ...... 19465 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 19464 B h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über den Zugang zu digitalen Geo- Tagesordnungspunkt 39: daten (Geodatenzugangsgesetz – a) Erste Beratung des von der Bundes- GeoZG) regierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 16/10530, 16/10580) . . . . . 19465 D Zweiten Gesetzes zur Änderung des Au- tobahnmautgesetzes für schwere Nutz- i) Antrag der Abgeordneten Patrick fahrzeuge Meinhardt, , , (Drucksache 16/10388) ...... 19465 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Potential von eLearning nut- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- zen – Schulen bei der Umsetzung unter- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- stützen zes zu den Abkommen vom 26. Mai (Drucksache 16/8904) ...... 19466 A 2006 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- j) Antrag der Abgeordneten Dr. , gierung der Sonderverwaltungsregion Dr. , Cornelia Hirsch, Hongkong der Volksrepublik China Volker Schneider (Saarbrücken) und der über die gegenseitige Rechtshilfe in Fraktion DIE LINKE: Perspektiven für Strafsachen und über die Überstellung den wissenschaftlichen Mittelbau öff- flüchtiger Straftäter nen – Karrierewege absichern – Gleich- (Drucksache 16/10390) ...... 19465 B stellung durchsetzen – Selbständigkeit c) Erste Beratung des von der Bundes- fördern regierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 16/10592) ...... 19466 A Vierten Gesetzes zur Änderung ver- k) Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar waltungsverfahrensrechtlicher Vor- Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, schriften (4. VwVfÄndG) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/10493) ...... 19465 C DIE LINKE: Finanzierung zur Bewah- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung des deutschen Filmerbes sicher- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- stellen zes zu dem Vertrag vom 26. Februar (Drucksache 16/10509) ...... 19466 B 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen l) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, über den Bau und die Instandhaltung Ulrike Höfken, (Bre- von Grenzbrücken in der Bundesrepu- men), weiterer Abgeordneter und der blik Deutschland im Zuge von Schie- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: nenwegen des Bundes, in der Republik Überschüssige Mittel aus EU-Agrar- Polen im Zuge von Eisenbahnstrecken haushalt für Bekämpfung der Hunger- mit staatlicher Bedeutung krise nutzen (Drucksache 16/10533) ...... 19465 C (Drucksache 16/10591) ...... 19466 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Sta- bilisierungs- und Assoziierungsabkom- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- men zwischen den Europäischen rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Gemeinschaften und ihren Mitglied- ten Gesetzes zur Änderung des Straßen- staaten einerseits und der Republik Al- verkehrsgesetzes banien andererseits (Drucksache 16/10175) ...... 19466 C (Drucksachen 16/9395, 16/10354) ...... 19467 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- b) Zweite und dritte Beratung des von der ten Gesetzes zur Änderung des Weinge- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs setzes eines Gesetzes zur Änderung von Vor- schriften über das Deutsche Rote Kreuz (Drucksache 16/10552) ...... 19466 C (Drucksachen 16/9396, 16/10433) ...... 19467 C c) Erste Beratung des von den Abgeordneten , (Köln), Kai c) Zweite und dritte Beratung des von den Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zusammenführung der Regelun- zur … Änderung des Urheberrechtsge- gen über befriedete Bezirke für Verfas- setzes sungsorgane des Bundes (Drucksache 16/10566) ...... 19466 C (Drucksachen 16/9741, 16/10551) ...... 19467 D d) Erste Beratung des von den Fraktionen der d) Zweite und dritte Beratung des von der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur eines Gesetzes zur Anpassung der Vor- Änderung des Urheberrechtsgesetzes schriften des Internationalen Privat- (Drucksache 16/10569) ...... 19466 C rechts an die Verordnung (EG) Nr. 864/ 2007 e) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksachen 16/9995, 16/10606) ...... 19468 B CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung e) Zweite und dritte Beratung des von der des Gesetzes zur Entlastung der Rechts- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs pflege eines Dritten Gesetzes zur Änderung (Drucksache 16/10570) ...... 19466 D des Gesetzes über Meldungen über Marktordnungswaren f) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksachen 16/10033, 16/10597) . . . . . 19468 C CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung f) Zweite und dritte Beratung des von der einer Stiftung „Deutsches Historisches Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Museum“ eines Gesetzes zur Durchführung des (Drucksache 16/10571) ...... 19466 D Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständig- g) Erste Beratung des von den Fraktionen keit und die Anerkennung und Vollstre- CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ ckung von Entscheidungen in Zivil- und DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Handelssachen eines Gesetzes zur Änderung der Straf- (Drucksachen 16/10119, 16/10607) . . . . . 19468 D prozessordnung – Erweiterung des Be- schlagnahmeschutzes bei Abgeordneten g) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksache 16/10572) ...... 19467 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung ge- h) Antrag der Abgeordneten , meinschaftlicher Vorschriften über das Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und Lippold, weiterer Abgeordneter und der des Inverkehrbringens von Katzen- und Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Hundefellen (Katzen- und Hundefell- ordneten Annette Faße, Sören Bartol, Uwe Einfuhr-Verbotsgesetz – KHfEVerbG) Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und (Drucksachen 16/10122, 16/10598) . . . . . 19469 A der Fraktion der SPD: Infrastruktur und Marketing für den Wassertourismus in i) Zweite und dritte Beratung des von der Deutschland verbessern Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/10593) ...... 19467 A eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände- rung des Luftverkehrsgesetzes (Drucksachen 16/10297, 16/10573) . . . . . 19469 B Tagesordnungspunkt 40: j) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- des von der Bundesregierung eingebrach- entwicklung zu der Unterrichtung durch IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

die Bundesregierung: Geänderter Vor- e) Antrag der Abgeordneten , schlag für eine Richtlinie des Europäi- , Priska Hinz (Herborn), wei- schen Parlaments und des Rates über terer Abgeordneter und der Fraktion die Förderung sauberer und energie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die finan- effizienter Straßenfahrzeuge ziellen Grundlagen für den Bildungs- KOM (2007) 817 endg.; Ratsdok. 5113/08 aufbruch schaffen (Drucksachen 16/8135 Nr. 2.52, 16/10273) 19469 C (Drucksache 16/10587) ...... 19471 C k) Beschlussempfehlung und Bericht des f) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Ausschusses für Menschenrechte und (Herborn), Ekin Deligöz, Kai Gehring, Humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung weiterer Abgeordneter und der Fraktion durch die Bundesregierung: Der Fall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungs- afghanischen Journalisten Perwiz gipfel muss Ergebnisgipfel werden – Kambakhsh: Entschließung des Euro- Für ein gerechtes und besseres Bil- päischen Parlaments vom 13. März dungswesen 2008 zum Fall des afghanischen Journa- (Drucksache 16/10586) ...... 19471 D listen Perwiz Kambakhsh g) Zweite und dritte Beratung des von der EuB-EP 1687; P6_TA-PROV(2008)0106 Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksachen 16/9169 A.13, 16/10395) . . 19469 D eines Gesetzes zur Änderung des Fünf- ten Vermögensbildungsgesetzes l) – w) (Drucksachen 16/9560, 16/10604) ...... 19471 D Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- h) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses: Sammelübersichten 452, 453, Ausschusses für Bildung, Forschung und 454, 455, 456, 457, 458, 459, 460, 461, Technikfolgenabschätzung zu dem An- 462 und 463 zu Petitionen trag der Abgeordneten Krista Sager, Kai (Drucksachen 16/10342, 16/10343, 16/10344, Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer 16/10345, 16/10346, 16/10347, 16/10348, Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 16/10349, 16/10350, 16/10351, 16/10352, NIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine starke 16/10353) ...... 19470 A Wissenschaftsinfrastruktur im gemein- samen Interesse von Bund und Ländern (Drucksachen 16/1643, 16/10560) ...... 19472 A Tagesordnungspunkt 5: i) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Ausschusses für Bildung, Forschung und Nationaler Bildungsbericht 2008 – Bil- Technikfolgenabschätzung dung in Deutschland und Stellung- – zu dem Antrag der Abgeordneten nahme der Bundesregierung Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, (Drucksache 16/10206) ...... 19471 B Dr. Lukrezia Jochimsen, Volker Schneider (Saarbrücken) und der Frak- b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, tion DIE LINKE: Studienfinanzie- Dr. Petra Sitte, , Volker rung ausbauen – Soziale Hürden ab- Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion bauen DIE LINKE: Bildungsgipfel nutzen – Bes- sere Bildung für alle – Bildung als Ge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai meinschaftsaufgabe von Bund und Län- Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista dern Sager, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 16/9808) ...... 19471 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Auswirkungen von Studienge- c) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, bühren evaluieren – Monitoringsys- Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer tem umgehend aufbauen Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Solide Grundlage für Hochschulpakt – (Drucksachen 16/8741, 16/8749, 16/10584) . 19472 A Beitrag zur systematischen Verbesse- Dr. , Bundesministerin rung der Hochschullehre BMBF ...... 19472 D (Drucksache 16/10327) ...... 19471 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 19474 B d) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Dr. Annette Schavan, Bundesministerin Patrick Meinhardt, Ulrike Flach, weiterer BMBF ...... 19474 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Aufbau von privatem Bildungskapital Cornelia Pieper (FDP) ...... 19474 D fördern – Grundlage für Bildungsinves- (SPD) ...... 19476 A titionen schaffen (Drucksache 16/10328) ...... 19471 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 19478 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 V

Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19479 A DIE GRÜNEN) ...... 19496 C (CDU/CSU) ...... 19480 D Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundes- ministerin BMZ ...... 19498 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 19481 C Hellmut Königshaus (FDP) ...... 19500 A Uwe Barth (FDP) ...... 19482 D (CDU/CSU) ...... 19501 C (Spandau) (SPD) ...... 19484 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 19502 C Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 19485 B (SPD) ...... 19503 D (CDU/CSU) ...... 19486 A Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) ...... 19505 C (SPD) ...... 19487 D Henry Nitzsche (fraktionslos) ...... 19506 C Dr. (SPD) ...... 19489 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 19507 D Henry Nitzsche (fraktionslos) ...... 19508 A Tagesordnungspunkt 6: (Wiesloch) a) – Beschlussempfehlung und Bericht des (SPD) ...... 19508 B Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung: Fortset- (BÜNDNIS 90/ zung der Beteiligung bewaffneter DIE GRÜNEN) ...... 19509 B deutscher Streitkräfte an dem Gert Weisskirchen (Wiesloch) Einsatz der Internationalen Sicher- (SPD) ...... 19509 D heitsunterstützungstruppe in Afgha- nistan (International Security Assis- Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 19510 A tance Force, ISAF) unter Führung Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 19511 A der NATO auf Grundlage der Reso- lution 1386 (2001) und folgender Re- solutionen, zuletzt Resolution 1833 Namentliche Abstimmung ...... 19512 A (2008) des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen Ergebnis ...... 19515 C (Drucksachen 16/10473, 16/10567) 19491 A – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Tagesordnungspunkt 7: (Drucksache 16/10620) ...... 19491 A a) Erste Beratung des von den Abgeordneten b) Beschlussempfehlung und Bericht des , Dr. , Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- , weiteren Abgeordne- schließungsantrag der Abgeordneten Paul ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und Gesetzes zur Sicherstellung von Eisen- der Fraktion DIE LINKE zu dem Antrag bahninfrastrukturqualität und Fern- der Bundesregierung: Fortsetzung der verkehrsangebot Beteiligung bewaffneter deutscher (Drucksache 16/9797) ...... 19512 C Streitkräfte an dem Einsatz der Inter- b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- nationalen Sicherheitsunterstützungs- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Si- truppe in Afghanistan (International cherstellung von Eisenbahninfrastruk- Security Assistance Force, ISAF) unter turqualität und Fernverkehrsangebot Führung der NATO auf Grundlage der (Drucksache 16/9903) ...... 19512 D Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833 c) Antrag der Abgeordneten , (2008) des Sicherheitsrates der Verein- Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, ten Nationen weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 16/10473, 16/10479, 16/10568) 19491 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bahn- Börsengang angesichts der internatio- (SPD) ...... 19491 C nalen Finanzkrise verschieben Birgit Homburger (FDP) ...... 19492 D (Drucksache 16/10455) ...... 19512 D Dr. (CDU/CSU) . . . . . 19494 A d) Antrag der Abgeordneten Dorothée Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 19495 B Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

tion DIE LINKE: Veräußerung von An- Tagesordnungspunkt 9: teilen an der Deutschen Bahn AG stop- pen Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, (Drucksache 16/10525) ...... 19513 A Dr. Heinrich L. Kolb, , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente DIE GRÜNEN) ...... 19513 B Maßnahmen konzentrieren (Drucksache 16/9093) ...... 19529 A (CDU/CSU) ...... 19517 A

Patrick Döring (FDP) ...... 19518 C Tagesordnungspunkt 10: (SPD) ...... 19519 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 19521 B Beschleunigung des Ausbaus der Höchst- spannungsnetze (Drucksache 16/10491) ...... 19529 B Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von der Bundes- in Verbindung mit regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung Zusatztagesordnungspunkt 6: (Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz) Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, (Drucksache 16/10531) ...... 19522 B , Bärbel Höhn, weiterer Ab- b) Beschlussempfehlung und Bericht des geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- DIE GRÜNEN: Stromnetze zukunftsfähig gie zu dem Antrag der Abgeordneten ausbauen Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf (Frank- (Drucksache 16/10590) ...... 19529 B furt), Kerstin Andreae, weiterer Abgeord- , Parl. Staatssekretär neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE BMWi ...... 19529 C GRÜNEN: Partnerschaftliche Unter- nehmenskultur stärken – Mitarbeiter- Gudrun Kopp (FDP) ...... 19530 C beteiligung fördern Bodo Ramelow (DIE LINKE) ...... 19531 B (Drucksachen 16/2653, 16/4599) ...... 19522 B Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 19532 B in Verbindung mit Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19533 D

Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. , Carl-Ludwig Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Thiele, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer tion der FDP: Mitarbeiterbeteiligung – Ei- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: genverantwortliche Vorsorge stärken Bundesverantwortung für den Steuervoll- zug wahrnehmen (Drucksache 16/9337) ...... 19522 C (Drucksache 16/9479) ...... 19535 A Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMAS ...... 19522 D Tagesordnungspunkt 12: Frank Schäffler (FDP) ...... 19523 C Erste Beratung des von der Bundesregierung Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 19524 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Überfüh- Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 19525 B rung der Anteilsrechte an der Volkswagen- werk Gesellschaft mit beschränkter Haf- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ tung in private Hand DIE GRÜNEN) ...... 19526 B (Drucksache 16/10389) ...... 19535 A Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 19527 B , Bundesministerin BMJ ...... 19535 B Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) ...... 19528 A Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 19536 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 VII

Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 19537 A genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/10532, 16/10582) ...... 19541 D DIE GRÜNEN) ...... 19538 D Garrelt Duin (SPD) ...... 19539 D Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 13: Klaus Ernst, Dr. , weiterer Abge- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Woh- schusses für Arbeit und Soziales nungslosigkeit vermeiden – Wohnungslose unterstützen – SGB II überarbeiten – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus (Drucksache 16/9487) ...... 19542 A Kurth, Kerstin Andreae, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 19542 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Ein- Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 19543 A gliederungshilfe für Menschen mit Be- hinderungen weiterentwickeln Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 19544 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Seifert, Klaus Ernst, Dr. , DIE GRÜNEN) ...... 19545 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesetz zum Ausgleich be- hinderungsbedingter Nachteile vorle- Tagesordnungspunkt 20: gen (Nachteilsausgleichsgesetz – NAG) Erste Beratung des von der Bundesregierung – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens zes zur Änderung des Vierten Buches So- Ackermann, weiterer Abgeordneter und zialgesetzbuch und anderer Gesetze der Fraktion der FDP: Wettbewerb in der (Drucksache 16/10488) ...... 19546 C Eingliederungshilfe stärken – Wahlfrei- heit und Selbstbestimmung der Men- schen mit Behinderung erhöhen Tagesordnungspunkt 21: (Drucksachen 16/7748, 16/3698, 16/9451, 16/10601) ...... 19540 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union zu dem Antrag der Fraktionen Tagesordnungspunkt 14: CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: EU-Übersetzungsstrategie Erste Beratung des von der Bundesregierung überarbeiten – Nationalen Parlamenten die eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über umfassende Mitwirkung in EU-Angelegen- Personalausweise und den elektronischen heiten ermöglichen Identitätsnachweis sowie zur Änderung (Drucksachen 16/9596, 16/10556) ...... 19546 D weiterer Vorschriften (Drucksache 16/10489) ...... 19541 B

Tagesordnungspunkt 22: Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregierung Antrag der Abgeordneten Dr. Christel eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Einführung Unterstützter Beschäftigung Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeord- (Drucksache 16/10487) ...... 19547 B neter und der Fraktion der FDP: Biotechnolo- gische Innovationen im Interesse von Ver- brauchern und Landwirten weltweit Tagesordnungspunkt 23: nutzen – Biotechnologie ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und Hunger in a) Zweite und dritte Beratung des von der den Entwicklungsländern Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/6714) ...... 19541 C eines Gesetzes zur Anpassung von Vor- schriften auf dem Gebiet des ökologi- schen Landbaus an die Verordnung Tagesordnungspunkt 16: (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/bio- Erste Beratung des von der Bundesregierung logische Produktion und die Kennzeich- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über nung von ökologischen/biologischen Er- VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

zeugnissen und zur Aufhebung der Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 DIE GRÜNEN) ...... 19559 D (Drucksachen 16/10174, 16/10595) . . . . . 19547 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 27: Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung trag der Abgeordneten , des von der Bundesregierung eingebrach- Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- trag vom 3. März 2008 zwischen der NIS 90/DIE GRÜNEN: Forschung für Bundesrepublik Deutschland und dem den ökologischen Landbau ausbauen Zentralrat der Juden in Deutschland (Drucksachen 16/9345, 16/10603) ...... 19547 C – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundes- Tagesordnungspunkt 24: republik Deutschland und dem Zentral- rat der Juden in Deutschland – Körper- Erste Beratung des von der Bundesregierung schaft des öffentlichen Rechts – eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- (Drucksachen 16/10296, 16/10594) . . . . . zes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Wirtschaft (Drittes Mittelstandsentlas- § 96 der Geschäftsordnung tungsgesetz) (Drucksache 16/10621) ...... 19560 D (Drucksache 16/10490) ...... 19548 A Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 19548 B (CDU/CSU) ...... 19561 A Garrelt Duin (SPD) ...... 19549 A Maik Reichel (SPD) ...... 19562 A Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 19550 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19563 A Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 19551 A (DIE LINKE) ...... 19564 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19551 D DIE GRÜNEN) ...... 19564 B

Tagesordnungspunkt 25: Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Erste Beratung des von der Bundesregierung schusses für Ernährung, Landwirtschaft und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- das Verfahren des elektronischen Entgelt- ordneten , Julia Klöckner, Uda nachweises (ELENA-Verfahrensgesetz) Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneter (Drucksache 16/10492) ...... 19552 D und der Fraktion der CDU/CSU sowie der (CDU/CSU) ...... 19553 A Abgeordneten , , Dr. , weiterer Abge- (SPD) ...... 19553 D ordneter und der Fraktion der SPD: Schutz Ulrike Flach (FDP) ...... 19555 A vor Pflanzenschutzmittelrückständen in Lebensmitteln verstärken (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/6958, 16/8136) ...... 19564 D DIE GRÜNEN) ...... 19555 C Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 19565 A Gustav Herzog (SPD) ...... 19566 D Tagesordnungspunkt 26: Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 19567 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre (DIE LINKE) ...... 19568 C Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ CSU und der SPD: Menschenrechte in der DIE GRÜNEN) ...... 19569 B ASEAN-Staatengemeinschaft stärken (Drucksachen 16/7490, 16/10561) ...... 19556 D Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 19557 A Tagesordnungspunkt 29: (FDP) ...... 19558 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- (DIE LINKE) ...... 19559 A torsicherheit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 IX

– zu der Verordnung der Bundesregierung: Anlage 1 Verordnung zur Vereinfachung des De- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 19579 A ponierechts – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Anlage 2 Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak- Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abstimmung über die Beschlussempfehlung Grenzwerte bei Müllverbrennungsanla- zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortset- gen dem technischen Fortschritt anpas- zung der Beteiligung bewaffneter deutscher sen und deutlich absenken Streitkräfte an dem Einsatz der Internationa- len Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha- (Drucksachen 16/10330, 16/10398 Nr. 2, nistan (International Security Assistance 16/5775, 16/10602) ...... 19570 C Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution Tagesordnungspunkt 30: 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Verein- ten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ zes zur Änderung des Staatsangehörig- DIE GRÜNEN) ...... 19579 D keitsgesetzes (CDU/CSU) ...... 19580 D (Drucksache 16/10528) ...... 19571 A (SPD) ...... 19581 A b) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Dr. (SPD) ...... 19581 B Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Fraktion DIE LINKE: Für die Abschaf- (CDU/CSU) ...... 19582 A fung der Optionspflicht im Staatsange- Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ hörigkeitsgesetz DIE GRÜNEN) ...... 19582 C (Drucksache 16/9165) ...... 19571 A Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ c) Antrag der Abgeordneten Sevim DIE GRÜNEN) ...... 19582 D Dağdelen, , Dr. Hakki Keskin, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE: Dr. (CDU/CSU) ...... 19583 C Klare Grenzen für die Rücknahme und Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 19583 D den Verlust der deutschen Staatsange- hörigkeit ziehen Jürgen Koppelin (FDP) ...... 19584 A (Drucksache 16/9654) ...... 19571 A Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19584 B (CDU/CSU) ...... 19571 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 19572 B DIE GRÜNEN) ...... 19584 D (CDU/CSU) ...... 19585 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 19573 B Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 19574 C DIE GRÜNEN) ...... 19585 D Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19576 A DIE GRÜNEN) ...... 19586 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19587 C Tagesordnungspunkt 31: (CDU/CSU) ...... 19588 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Wolfgang Spanier (SPD) ...... 19588 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines (CDU/CSU) ...... 19589 B Gesetzes zur Veröffentlichung von Infor- mationen über die Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Fonds für Landwirt- Anlage 3 schaft und Fischerei (Agrar- und Fischerei- fonds-Informationen-Gesetz – AFIG) Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten (Drucksachen 16/10299, 16/10596) ...... 19577 A Kerstin Andreae, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn) und Dr. Thea Dückert (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung ...... 19577 C zur namentlichen Abstimmung über die Be- X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 schlussempfehlung zu dem Antrag der Bun- Ulrike Höfken (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be- NEN) zur namentlichen Abstimmung über die waffneter deutscher Streitkräfte an dem Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Einsatz der Internationalen Sicherheitsunter- Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili- stützungstruppe in Afghanistan (International gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- dem Einsatz der Internationalen Sicherheits- rung der NATO auf Grundlage der Resolution unterstützungstruppe in Afghanistan (Interna- 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zu- tional Security Assistance Force, ISAF) unter letzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheits- Führung der NATO auf Grundlage der Reso- rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs- lution 1386 (2001) und folgender Resolutio- punkt 6 a) ...... 19589 D nen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) ...... 19592 B Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Anlage 7 Ekin Deligöz, Jerzy Montag, Elisabeth Scharfenberg und Christine Scheel (alle Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentli- des Antrags: Arbeitsmarktinstrumente auf ef- chen Abstimmung über die Beschlussempfeh- fiziente Maßnahmen konzentrieren (Tages- lung zu dem Antrag der Bundesregierung: ordnungspunkt 9) Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 19593 D scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Dirk Niebel (FDP) ...... 19594 D Afghanistan (International Security Assis- Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 19596 B tance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu- DIE GRÜNEN) ...... 19597 A tion 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) . . 19590 D Anlage 8

Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten – Entwurf eines Gesetzes zur Beschleuni- gung des Ausbaus der Höchstspannungs- Sylvia Kotting-Uhl, , Winfried netze Hermann, Hans-Christian Ströbele, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Irmingard – Antrag: Stromnetze zukunftsfähig aus- Schewe-Gerigk, Dr. Harald Terpe und Peter bauen Hettlich (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Be- (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- schlussempfehlung zu dem Antrag der Bun- nungspunkt 6) desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be- Marko Mühlstein (SPD) ...... 19597 D waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunter- Engelbert Wistuba (SPD) ...... 19598 B stützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- rung der NATO auf Grundlage der Resolution Anlage 9 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zu- letzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheits- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs- des Antrags: Bundesverantwortung für den punkt 6 a) ...... 19591 C Steuervollzug wahrnehmen (Tagesordnungs- punkt 11) (CDU/CSU) ...... 19599 C Anlage 6 Lydia Westrich (SPD) ...... 19601 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Winfried Nachtwei, (Augs- Dr. (FDP) ...... 19602 D burg), Kerstin Müller (Köln), Bärbel Höhn, Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 19603 C Britta Haßelmann, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Rainder Steenblock, Katrin Göring-Eckardt, Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln) und DIE GRÜNEN) ...... 19604 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 XI

Anlage 10 Johannes Röring (CDU/CSU) ...... 19617 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 19618 D Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Überführung der Anteils- Dr. (SPD) ...... 19619 B rechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 19620 B mit beschränkter Haftung in private Hand (Tagesordnungspunkt 12) Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 19621 B Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 19604 C Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19622 A

Anlage 11 Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung zu den Anträgen: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über genetische – Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnos- Behinderungen weiterentwickeln tikgesetz – GenDG) (Tagesordnungspunkt 16) – Gesetz zum Ausgleich behinderungsbe- Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 19623 B dingter Nachteile vorlegen (Nachteilsaus- gleichsgesetz – NAG) Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 19624 C – Wettbewerb in der Eingliederungshilfe Heinz Lanfermann (FDP) ...... 19625 C stärken – Wahlfreiheit und Selbstbestim- Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 19626 D mung der Menschen mit Behinderung er- höhen Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19628 A (Tagesordnungspunkt 13) , Parl. Staatssekretär Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 19605 D BMG ...... 19628 D Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 19607 A Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 19608 D Anlage 15 Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 19610 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur DIE GRÜNEN) ...... 19611 C Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- buch und anderer Gesetze (Tagesordnungs- punkt 20) Anlage 12 Peter Rauen (CDU/CSU) ...... 19629 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Personal- Andreas Steppuhn (SPD) ...... 19630 D ausweise und den elektronischen Identitäts- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 19632 B nachweis sowie zur Änderung weiterer Vor- schriften (Tagesordnungspunkt 14) Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 19633 B (CDU/CSU) ...... 19612 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19634 A Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 19613 D Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Gisela Piltz (FDP) ...... 19614 C BMAS ...... 19634 D (DIE LINKE) ...... 19615 C Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Anlage 16 DIE GRÜNEN) ...... 19616 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Anlage 13 EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten – Na- tionalen Parlamenten die umfassende Mitwir- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung kung in EU-Angelegenheiten ermöglichen des Antrags: Biotechnologische Innovationen (Tagesordnungspunkt 21) im Interesse von Verbrauchern und Landwir- ten weltweit nutzen – Biotechnologie ein In- Hans Peter Thul (CDU/CSU) ...... 19635 A strument zur Bekämpfung von Armut und Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 19636 D Hunger in den Entwicklungsländern (Tages- ordnungspunkt 15) Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 19637 D XII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. (DIE LINKE) ...... 19638 C Michael Brand (CDU/CSU) ...... 19647 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 19648 B DIE GRÜNEN) ...... 19639 A Horst Meierhofer (FDP) ...... 19649 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 19650 A Anlage 17 Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 19650 D des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung Unterstützter Beschäftigung (Tagesordnungs- punkt 22) Anlage 20 Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 19639 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Veröffentli- Jörg Rohde (FDP) ...... 19640 D chung von Informationen über die Zahlung Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 19641 B von Mitteln aus den Europäischen Fonds für Landwirtschaft und Fischerei (Agrar- und Fi- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ schereifonds-Informationen-Gesetz – AFIG) DIE GRÜNEN) ...... 19642 D (Tagesordnungspunkt 31) Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 19651 D BMAS ...... 19643 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 19652 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19653 B Anlage 18 Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 19653 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ – Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung DIE GRÜNEN) ...... 19654 C von Vorschriften auf dem Gebiet des öko- logischen Landbaus an die Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni Anlage 21 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von Mündliche Frage 42 ökologischen/biologischen Erzeugnissen Petra Pau (DIE LINKE) und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 Kenntnis der Bundesregierung über die Maß- nahmen der Deutschen Telekom AG zur Ge- – Beschlussempfehlung und Bericht: For- währleistung des Schutzes der Privatsphäre schung für den ökologischen Landbau ihrer Kunden nach der Entwendung der Da- ausbauen tensätze von über 17 Millionen T-Mobile- (Tagesordnungspunkt 23 a und b) Kunden sowie Bewertung der Sicherheit der von der Deutschen Telekom im Rahmen der Marlene Mortler (CDU/CSU) ...... 19644 C Telekommunikationsüberwachungsmaßnah- men gesammelten Daten Gustav Herzog (SPD) ...... 19645 B Antwort Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19645 D Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 19646 A BMWi ...... 19655 B (182. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19647 A Anlage 22 Anlage 19 Mündliche Frage 45 Elke Reinke (DIE LINKE) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Haltung und Maßnahmen der Bundesregie- rung zur Durchsetzung eines Stromsozialtarifs – zu der Verordnung der Bundesregierung: für Haushalte mit geringem Einkommen und Verordnung zur Vereinfachung des De- zur Einführung einer Strompreisaufsicht mit ponierechts Zuständigkeit bei den Ländern – zu dem Antrag: Grenzwerte bei Müllver- Antwort brennungsanlagen dem technischen Fort- schritt anpassen und deutlich absenken Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 19655 C (Tagesordnungspunkt 29) (182. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19419

(A) (C) Redetext

183. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. fahren Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle (Ergänzung zu TOP 39) herzlich und darf, wie häufig vor Eintritt in unsere Ta- gesordnung, einige wenige Hinweise geben. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Wir haben interfraktionell vereinbart, die verbun- Änderung des Straßenverkehrsgesetzes dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- geführten Punkte zu erweitern: – Drucksache 16/10175 – Überweisungsvorschlag: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Bundeskanzlerin Rechtsausschuss (B) ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (D) CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpa- Änderung des Weingesetzes kets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Fi- – Drucksache 16/10552 – nanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG) Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/10600 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Rechtsausschuss Finanzausschuss Montag, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weite- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs (ZP 1 und 2 siehe 182. Sitzung) eines Gesetzes zur … Änderung des Urheber- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate rechtsgesetzes Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer – Drucksache 16/10566 – Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Energiesparen für alle – Kosten senken, Klima Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung schützen Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 16/10585 – d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Überweisungsvorschlag: CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Sechsten Gesetzes zur Änderung des Urheber- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) rechtsgesetzes Rechtsausschuss Finanzausschuss – Drucksache 16/10569 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Haushaltsausschuss Technikfolgenabschätzung Federführung strittig Ausschuss für Kultur und Medien 19420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- (C) CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Josef Fell, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weite- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ent- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- lastung der Rechtspflege NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/10570 – Stromnetze zukunftsfähig ausbauen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/10590 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: f) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Rechtsausschuss Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deut- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sches Historisches Museum“ Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Drucksache 16/10571 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Ausschuss für Kultur und Medien (f) nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung eines Rechtsausschuss Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Fi- Ausschuss für Bildung, Forschung und nanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsge- Technikfolgenabschätzung setz – FMStG) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/10600 – Haushaltsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- g) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ ausschusses (8. Ausschuss) CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berichterstattung: Änderung der Strafprozessordnung – Erweite- Abgeordneter rung des Beschlagnahmeschutzes bei Abge- Dr. Gesine Lötzsch ordneten Steffen Kampeter – Drucksache 16/10572 – (Erfurt) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- (B) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und weit erforderlich, abgewichen werden. (D) Geschäftsordnung Die Tagesordnungspunkte 18, 19, 32, 33 und 40 h h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate werden abgesetzt und in der Folge die Tagesordnungs- Blank, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. punkte 34 und 35 getauscht. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Außerdem mache ich auf zwei nachträgliche Aus- schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste sowie der Abgeordneten Annette Faße, Sören aufmerksam: Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die in der 179. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zu- Infrastruktur und Marketing für den Wasser- sätzlich dem Rechtsausschuss (6. Ausschuss) zur Mit- tourismus in Deutschland verbessern beratung überwiesen werden. – Drucksache 16/10593 – Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie serung der Rahmenbedingungen für die Absi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit cherung flexibler Arbeitszeitregelungen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss – Drucksache 16/10289 – überwiesen: ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Rechtsausschuss Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der FDP Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Mitarbeiterbeteiligung – Eigenverantwortliche gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Vorsorge stärken Änderung des Energieeinsparungsgesetzes – Drucksache 16/9337 – – Drucksachen 16/10290, 16/10331 – Überweisungsvorschlag: überwiesen: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19421

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Wir wissen, dass ökonomische Krisen voll auf die Le- (C) Verbraucherschutz gitimation unserer gesellschaftlichen und wirtschaftli- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit chen Verfassung durchschlagen. Deswegen kann der Ich vermute, dass Sie mit diesen Änderungen einver- Staat nicht nach dem Prinzip des Laisser-faire daneben- standen sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist stehen. Ein kluger Ordnungsrahmen und manchmal auch das so beschlossen. gezielte Interventionen sind wichtig. Wenn wir aber die Akzeptanz für unsere Wirtschaftsordnung erhalten wol- Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b len, dann muss auch erkennbar sein, dass sie das liefert, auf: was sie verspricht. Die Milliardengarantien in Rich- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tung Finanzwirtschaft sind wichtig, um den Kollaps zu gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwin- verhindern. Aber darin erschöpft sich soziale Verantwor- gende Arbeitsbedingungen für grenzüberschrei- tung nicht. tend entsandte und für regelmäßig im Inland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehme- der CDU/CSU) rinnen (Arbeitnehmer–Entsendegesetz – AEntG) Zu einer klugen Rahmung des wirtschaftlichen Ge- – Drucksache 16/10486 – schehens gehören auch die beiden Gesetze, die wir heute Überweisungsvorschlag: beraten. Durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) das Mindestarbeitsbedingungengesetz sollen überall dort Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Mindestlöhne ermöglicht werden, wo sie von den So- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zialpartnern, aber auch von Experten und den jeweiligen Branchenvertretern für richtig gehalten werden. Min- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- destlöhne gehören zu einer modernen Marktwirtschaft gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur dazu. Änderung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen Ich glaube, dass wir eines ganz klar sehen sollten: Gäbe es noch heute eine Tarifbindung, wie wir sie in frü- – Drucksache 16/10485 – heren Jahrzehnten gekannt haben, und wäre es noch Überweisungsvorschlag: heute so, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) gemeinsam fast alle sozialen Bedingungen zwischen Ar- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beitnehmern und Arbeitgebern regelten, dann würden Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wir heute nicht über diese Gesetze diskutieren. (B) (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Andrea Nahles [SPD]: Ja!) die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Dass es zu einer Mindestlohndebatte gekommen ist, nen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart. ist auch das Verdienst derjenigen, die in den letzten Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem 25 Jahren durch alle möglichen Talkshows gezogen sind, Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz. die immer wieder gefordert haben, es müsse Schluss sein mit der Sozialpartnerschaft, die Tarifverträge für schlecht Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- gehalten haben und die das Ende der Kompromisse ver- les: langt haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: So Kollegen! Der Staat hat eine Rolle in wirtschaftlichen ein Quatsch! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Prozessen. Wenn selbst wirtschaftsliberale Banker staat- Sie waren doch diejenigen, die den Niedrig- liche Interventionen loben, dann kann daran kein Zwei- lohnsektor stärken wollten! Noch vor wenigen fel bestehen. Dass es für diese Erkenntnis erst eine welt- Jahren haben Sie genau das gefordert!) weite und tiefgreifende Kredit- und Börsenkrise geben musste, ist mehr als nur bedauerlich. Wenn daraus aber Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft in- alle lernen, dass die Forderung „Hands off!“ – Staat, frage stellt, der darf sich nicht wundern, was dabei he- halte dich da heraus! – falsch ist, dann wäre wenigstens rauskommt. Wenn man es nicht der Selbstregulierung von etwas gewonnen. Gewerkschaften und Arbeitgebern überlassen will, dann bekommt man den staatlichen Schutz als Ersatz dazu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb sind die Mindestlohndebatten, die wir heute der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Das ist führen, das Ergebnis des Handelns derjenigen, die die die falscheste Lehre, die man daraus ziehen Sozialpartnerschaft infrage gestellt haben. kann! Wenn eine Rede schon so schlecht an- fängt, was soll man dann noch erwarten?) (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) Denn aus der richtigen Erkenntnis, dass sich der Staat in Meine Damen und Herren, wenn Arbeitgeber und Ge- einer Marktwirtschaft nicht in alles einmischen soll, werkschaften alleine nicht in der Lage sind, in einer folgt noch lange nicht der Schluss, dass er sich aus allem Branche für stabile Verhältnisse zu sorgen, dann dürfen heraushalten soll. wir nicht danebenstehen, genauso wenig wie im Falle ei- ner Bank, die in die Insolvenz trudelt. Hier müssen wir (Andrea Nahles [SPD]: Ja!) etwas tun und Haltelinien einziehen. 19422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) Politik ist handlungsfähig. Und ich sage: Aus der Ak- können und müssen wir mit diesen Gesetzen auch sen- (C) zeptanzkrise unserer Wirtschaftsordnung wird eine Le- den. gitimationskrise der Demokratie, wenn wir nicht bereit sind, sozial regulierend einzugreifen und das Schlimmste Ein großer Teil unseres wirtschaftlichen Erfolgs be- zu verhindern. Wir als Politikerinnen und Politiker müs- ruht schließlich darauf, dass Arbeitnehmerinnen und Ar- sen dafür sorgen, dass die Löhne nicht ins Kellergeschoss beitnehmer ihre Arbeit gut machen wollen. An gute Ar- gedrückt werden. beit, an Engagement und Leistung knüpft sich das Versprechen, dass sich individuelle Anstrengung auch Meine Damen und Herren, moderne Industriegesell- lohnen wird. Dieses Versprechen muss auch in Zukunft schaften haben ausgeweitete Sektoren mit Niedriglöh- gelten. nen. Aber fast alle haben Mindestlöhne als ein notwendi- ges Korrektiv. Sie sind keine sozialromantische Idee, (Beifall bei der SPD) sondern eine ordnungspolitische Grundlage, die für un- Wer etwas leistet, wer sich reinhängt, wer sein Bestes sere soziale Marktwirtschaft unverzichtbar ist. Denn sie gibt, der muss wissen, dass sich das auszahlt. In der an- sollen auch verhindern, dass Unternehmen einen Wettbe- gemessenen Entlohnung von Arbeit drückt sich eine werb mit Lohndumping betreiben, indem sie mit staatli- Wertschätzung aus, die der Würde der Arbeit entspricht. chen Sozialleistungen kalkulieren. Mit den Entwürfen zum Arbeitnehmer-Entsendege- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setz und zum Mindestarbeitsbedingungengesetz, die wir der CDU/CSU) jetzt beraten, ermöglichen wir aus all diesen Gründen die Paul Krugman, der in diesem Jahr den Nobelpreis für Festsetzung von branchenspezifischen Mindestlöh- Wirtschaft bekommt, hat kürzlich darauf hingewiesen, nen. Sie lösen zwar nicht alle Probleme, aber doch ei- dass die Debatte über Mindestlöhne in Deutschland sinn- nige sehr wesentliche. voll sei, und in diesem Zusammenhang von einem gro- Beide Gesetze sind das Ergebnis einer Lösung, auf ßen politischen Gewinn gesprochen. Recht hat er, meine die sich die Koalition im Sommer des letzten Jahres ver- Damen und Herren. ständigt hat. Was wir hier weiterentwickeln, hat sich be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten währt; denn beide Gesetze gibt es schon lange. Das Ar- der CDU/CSU) beitnehmer-Entsendegesetz hat Auswirkungen auf die Praxis. Für das Baugewerbe gibt es schon Mindestlöhne, Die Mindestlohndebatte ist nicht nur volkswirtschaft- die sich dort positiv ausgewirkt haben. Viele loben das lich sinnvoll, sondern sie ist auch gut für diejenigen, um nach dem Motto: Es ist nicht alles Gold, aber Bronze ist die es geht. Ich will darauf hinweisen, dass es nicht in auch eine Menge. Nachdem nun auch das Gebäudereini- (B) Ordnung ist, dass eine Friseurin in Sachsen Vollzeit ar- gerhandwerk und die Briefdienstleistungsbranche aufge- (D) beiten geht und nach der Gesellenprüfung am Ende des nommen wurden, ist es uns mittlerweile gelungen, dafür Monats mit 755 Euro brutto dasteht und dann zur Arbeits- zu sorgen, dass 1,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und agentur muss, um ihre Familie zu ernähren. Arbeitnehmer durch Mindestlöhne geschützt sind. Das (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb ist eine gute Sache. [FDP]: Das ist eine Entscheidung der Tarif- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf partner gewesen, Herr Scholz!) Brauksiepe [CDU/CSU]) Es ist auch nicht in Ordnung, dass ein Wachmann im Re- Wir sorgen dafür, dass weitere Arbeitnehmerinnen vierwachdienst in Brandenburg in Vollzeit in der unters- und Arbeitnehmer diesen Schutz erhalten. Acht weitere ten Tarifgruppe mit unter 1 000 Euro dasteht und seine Branchen haben sich gemeldet. Eine Arbeitsgruppe un- Miete nicht ohne staatliche Hilfe bezahlen kann. ter meiner Leitung beschäftigt sich mit dem Thema. Wir (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb werden prüfen, ob die Kriterien, auf die wir uns in der [FDP]: Was ist mit der Tarifautonomie?) Koalition verständigt haben, bei diesen jeweiligen Bran- chen erfüllt sind. Solche Löhne – und ich kann dafür viele weitere Bei- spiele nennen – verletzen die Ehre hart arbeitender Bür- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Dro- gerinnen und Bürger. hung!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja Ge- Es ist ganz klar: Wir haben gesagt, dass nur diejenigen werkschaftsschelte, was Sie betreiben!) aufgenommen werden können, bei denen eine Tarifbin- dung von mindestens 50 Prozent gegeben ist. Die Mehr- Dass es Tariflöhne sind, macht die Sache nicht besser, heit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der meine Damen und Herren. Branche muss also bei Arbeitgebern beschäftigt sein, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Tarifbindung unterliegen. Das werden wir prüfen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Die Branchen, bei denen wir feststellen, dass das so ist, Heinrich L. Kolb [FDP]: Sonst singen Sie im- werden aufgenommen werden. mer das Hohe Lied der Tarifautonomie!) Als Zweites gibt es das Gesetz über die Festsetzung Auch wenn wir diese individuellen Probleme nicht von Mindestarbeitsbedingungen, das auch schon lange alle mit den beiden Gesetzen lösen können – das starke existiert. Mit diesem Gesetz wird ermöglicht, dass wir Signal, dass Löhne eine ordentliche Höhe haben müssen, dort, wo eine geringe Tarifbindung herrscht, ebenfalls Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19423

Bundesminister Olaf Scholz (A) schützen können. Dort, wo Arbeitgeberverbände und nen sich ergeben soll, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze (C) Gewerkschaften keine Möglichkeit haben, die Arbeit- kosten. Wenn wir uns aber in der Welt umschauen, dann nehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, können wir sehen wir, dass alle möglichen Staaten über Mindest- dann mithilfe einer staatlichen Gesetzgebung dafür sor- lohnregelungen verfügen, gen, dass sie nicht alleine bleiben und schlimmsten Aus- beutungsbedingungen ausgesetzt sind. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 2,50 Euro!) (Beifall bei der SPD) dass sie dort, wo sie in jüngster Zeit eingeführt worden sind, keine Arbeitsplätze gekostet haben und dass dort Ich will gerne ergänzen: Aus meiner Sicht hat es Sinn, vielmehr ein Aufwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt zu dass diese beiden Gesetze von einer Großen Koalition verzeichnen war. Das kann man am Beispiel Großbritan- beraten werden; denn beide Gesetze stammen aus Zei- niens sehen. ten, in denen beide Parteien jeweils etwas dazu beigetra- gen haben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Das Mindestarbeitsbedingungengesetz stammt aus Dirk Niebel [FDP]: Großbritannien ist ein tol- dem Jahre 1952. les Beispiel!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb will ich auch ausdrücklich sagen, dass ich Aha!) mir sicher bin, welches Schicksal diese Berechnungen Es gab damals einen Antrag der SPD-Fraktion, und mit und Bücher haben werden: Sie werden in den Regalen der Mehrheit der CDU/CSU-Stimmen im Deutschen verstauben. Die gleichen Professoren und Politiker, die Bundestag wurde es dann beschlossen. Insofern steht es jetzt sagen, dass Mindestlöhne eine Bedrohung für die in einer guten Tradition, dass wir es jetzt mit Leben er- Marktwirtschaft sind, werden in zehn Jahren sagen, dass füllen und dafür sorgen, dass es endlich auch zur An- es in der Marktwirtschaft schon immer Mindestlöhne ge- wendung kommt. geben hat und dass sie eines der besten Argumente für eine soziale Marktwirtschaft sind. Recht haben sie dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – in zehn Jahren. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurde während Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – der Koalition von CDU/CSU und FDP verabschiedet. Es Andrea Nahles [SPD]: Danach stellen wir mal wurde damals zwar so geschrieben, dass es nicht zur An- die Uhr!) wendung kommt, aber als Gerhard Schröder die Regie- (B) rung übernommen hatte, war es dann doch so weit. Für Ich glaube, dass wir hier etwas voranbringen, durch (D) die Bauwirtschaft hat es geklappt. das die Tarifautonomie in Deutschland gestärkt wird und das dazu beitragen kann, dass die Sozialpartnerschaft, (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb die in unserem Lande eine gute und lange Tradition hat, [FDP]: Das hätte schon längst ausgelaufen wieder eine größere Rolle spielt. Am Ende dieses Pro- sein sollen! Das war nämlich befristet!) zesses werden Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- An diese gute Tradition knüpfen wir an, indem wir nehmer besser als heute dastehen, und sie werden unmit- Gesetze auf den Weg bringen, mit denen wir dafür sor- telbar spüren, dass es Sinn hat, dass sich der Deutsche gen, dass das, was die Tarifvertragsparteien vor Ort und Bundestag, der Gesetzgeber, mit ihren Angelegenheiten diejenigen, die in der Branche engagiert sind, richtig fin- befasst und dazu beigetragen hat, dass es besser geht. Sie den, zur Geltung kommen kann. Wir schützen die Ar- werden nicht alleingelassen. Das ist ein wichtiger Bei- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer schlimmen trag zur politischen Stabilität in unserem Lande und zur Ausbeutung. Ich glaube, das ist eine gute Tradition, die Verbesserung der Situation dieser Arbeitnehmerinnen wir hier weiterentwickeln. und Arbeitnehmer. Wenn wir in diesen Zeiten, in denen alles ein bisschen drunter und drüber geht, dazu beitra- Meine Damen und Herren, wenn über Mindestlöhne gen würden, dass viele wieder daran glauben, dass die gesprochen wird, dann gibt es eine ganze Reihe von Ar- soziale Stabilität in unserer Gesellschaft noch funktio- gumenten, die vorgetragen werden, aber nicht immer niert, dann hätten wir damit einen großen Beitrag geleis- sehr stichhaltig sind. Das am häufigsten vorgetragene tet. Argument lautet, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kos- ten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja gerade bei der PIN AG unter Beweis gestellt worden! Ich bin davon überzeugt, dass wir dabei sind, wich- 6 000 Arbeitsplätze!) tige Gesetze voranzubringen und dass wir mit dem, was wir heute beschließen wollen, für die soziale Marktwirt- Ich kann Ihnen nur sagen: Dafür gibt es keinerlei empiri- schaft werben. Ich bin mir sicher, dass das sehr wichtig sche Belege. ist. Denn wenn sich die Bürgerinnen und Bürger allein- (Beifall bei der SPD) gelassen fühlen und das Gefühl haben, dass ihr Schicksal allen egal ist, man zynische Reden hält und ihnen nicht Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die mit ab- konkret hilft, dann ist das wirklich eine Bedrohung für strakten Berechnungen vollgeschrieben werden, aus de- unser soziales Zusammenleben. Deshalb bin ich davon 19424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) überzeugt, dass das, was wir hier tun, für den Fortschritt (Beifall bei der FDP) (C) in unserer Gesellschaft, für den sozialen Zusammenhalt und für die soziale Marktwirtschaft wichtig ist. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Was ich gerade ausgeführt habe, ist sozusagen ein Ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich genargument zu einem Argument, das ich gestern gehört teile Ihre Auffassung, Herr Minister Scholz, dass Min- habe und das mich empört hat. Deshalb will ich zum destlöhne sozusagen das Gebot der Stunde sind, nicht. Schluss noch darauf eingehen. Ein Redner der Links- Im Gegenteil: Unser Land steht mit den heute zu bera- fraktion hat gesagt, das sei doch keine Demokratie. tenden Gesetzesinitiativen an einem Scheideweg. Die Einführung eines flächendeckenden Systems von Min- (Dr. [DIE LINKE]: Bitte? – destlöhnen – darum geht es Ihnen doch letzten Endes, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: War das nicht ein Herr Scholz – durch die Ausweitung des Entsendegeset- Sozialdemokrat?) zes und die Wiederbelebung des in Vergessenheit gerate- Das hat er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen ge- nen Mindestarbeitsbedingungsgesetzes ist eine strategi- stellt. Ich finde, dass man sehr vorsichtig sein muss. sche Fehlentscheidung, die geeignet ist, unser Land und unsere Volkswirtschaft auf Jahrzehnte hinaus schwer zu (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das belasten und zu schädigen, hat er in einem bestimmten Zusammenhang gesagt! – Gegenruf des Abg. Dr. Ralf (Beifall bei der FDP) Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein! Das hat jeder und die vor allem diejenigen, die arbeitslos sind oder verstanden!) werden und die über eine geringe Qualifikation verfü- gen, auf Dauer faktisch vom ersten Arbeitsmarkt aus- – Er hat gesagt, das sei doch keine Demokratie. Er hat schließt. das rhetorisch mehrfach wiederholt. (Beifall bei der FDP) (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Die Finanz- krise ist eine Krise der Demokratie!) Diese Fehlentscheidung ist in ihrer Wirkung allenfalls mit dem Irrweg der Arbeitszeitverkürzung mit vollem – Ja, selbstverständlich. Wir haben ein Problem, und es Lohnausgleich vergleichbar, der dazu geführt hat, dass geschehen Dinge, die nicht in Ordnung sind und uns alle durch die sprunghafte Verteuerung von Arbeit viele ein- empören müssen. fache Tätigkeiten – damals hat man von Hilfsarbeitertä- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Demokratie heißt tigkeiten gesprochen – faktisch aus den Unternehmen Volksherrschaft!) verschwunden sind. Aber es ist ungleich schwerer zu (B) korrigieren. Denn während gerade in den letzten Jahren (D) Aber dann müssen wir, der Bundestag, als demokratisch in den Betrieben der in den 80er-Jahren begangene Feh- Verantwortliche und als Gesetzgeber dafür sorgen, dass ler Zug um Zug geheilt wurde, wird es sehr schwer wer- die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung eine Rolle den, Mindestlöhne – wenn sie erst einmal eingeführt spielen. sind – durch gesetzgeberisches Handeln wieder zurück- (Dr. Lothar Bisky [DIE LINKE]: Eben! – zunehmen. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau Ich rufe den Menschen, die diese Debatte heute an das hat er angemahnt!) den Bildschirmen verfolgen, zu: Glauben Sie nicht den Aber man darf nicht die Demokratie und die Handlungs- Politikern mit den einfachen Botschaften, möglichkeiten, die wir haben, infrage stellen und ein biss- (Lachen bei der SPD – Andrea Nahles [SPD]: chen den Eindruck erwecken, dass die Alternative zu Das sagen ausgerechnet Sie!) dem, was wir vorhaben, eine Art Volksdemokratie wäre. etwa der Art: „Wer Vollzeit arbeitet, muss auch davon le- ben können!“. Milton Friedman, der Wirtschaftsnobel- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Kein bisschen! preisträger, hat einmal gesagt: „There’s no such thing as Euch geht es nur um die parlamentarische a free lunch“. Frei übersetzt heißt das: Es gibt kein freies Mehrheit, nicht um die Mehrheit der Bevölke- Mittagessen. Irgendjemand zahlt immer die Zeche. rung!) Danach klang die Äußerung gestern viel zu stark. Von Präsident Dr. Norbert Lammert: jemandem, der sich in der Linkspartei verortet, ist das Herr Kollege Kolb, möchten Sie eine Zwischenfrage ein bisschen geschichtsvergessen. des Kollegen Steppuhn beantworten? Schönen Dank. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Gerne. Bitte. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Andreas Steppuhn (SPD): Sehr geehrter Herr Kolb, es ist richtig, dass wir in die- Präsident Dr. Norbert Lammert: sem Hohen Hause den Menschen im Land sagen, wer für Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb welche Politik steht. Wenn ich nach Europa blicke, dann für die FDP-Fraktion. stelle ich fest – das wissen Sie sicherlich besser als wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19425

Andreas Steppuhn (A) Sozialdemokraten –: Nach dem Ablauf der Übergangs- schaffen; Sie wollten genau das. Wenn Sie das nun wie- (C) fristen werden Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit der ändern wollen, dann werden wir Sie nicht daran hin- herrschen. dern können. Schließlich haben Sie zusammen mit der Union die Mehrheit. Aber Sie sollten wissen: Die Ar- (Dirk Niebel [FDP]: Das wird auch Zeit!) beitsplätze im Niedriglohnsektor werden genauso Halten Sie es für richtig, dass sich dann zum Beispiel ein schnell verschwinden, wie sie entstanden sind. Friseur aus einem osteuropäischen Land auf einen Damit wende ich mich an die Kollegen der Union. Ih- Marktplatz in Deutschland stellt und die Haare für nen habe ich im Dezember 2007 von dieser Stelle aus 1 Euro schneidet? Was soll dann der deutsche Friseurla- prophezeit, dass Sie nach Ihrer Zustimmung zum Min- den machen? Soll er Insolvenz anmelden? destlohn in den Bereichen Gebäudereinigung und Post- dienstleistungen Zug um Zug bei weiteren Branchen Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): über den Tisch gezogen werden. Heute kommt es erneut Herr Kollege Steppuhn, Sie werden die europäische zum Schwur. Heute werden Sie sich erneut in die falsche Einigung und ihre Konsequenzen nicht aufhalten kön- Richtung bewegen. nen. Wenn wir uns entschieden haben, einen gemeinsa- men europäischen Markt zu schaffen, werden wir erle- Präsident Dr. Norbert Lammert: ben, dass auch Selbstständige aus anderen europäischen Herr Kollege Kolb, darf auch der Kollege Ernst eine Ländern zu uns kommen und versuchen werden, uns ihre Zwischenfrage stellen? Dienstleistungen und Produkte zu verkaufen, und zwar zu den Preisen, die auf dem Markt erzielt werden kön- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): nen. Ja, bitte. Ich sehe ein anderes Problem, das Minister Scholz be- reits angesprochen hat. Es gibt schon heute niedrige Präsident Dr. Norbert Lammert: Löhne zum Beispiel im Bereich der Friseurdienstleistun- Dann muss es aber auch gut sein, weil die Redezeiten gen. Diese werden zwar beklagt, sind aber das Ergebnis durch Zwischenfragen eigentlich nicht vervielfacht wer- der Abschlüsse der Tarifparteien; das hat Herr Scholz je- den sollen. doch unterschlagen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer ha- ben ihre Unterschrift unter einen Tarifvertrag geleistet (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!) und sich darauf verständigt, dass zum Beispiel für Fri- seurinnen und Friseure in Sachsen, im Erzgebirge Klaus Ernst (DIE LINKE): (B) 4,50 Euro in der Stunde gezahlt werden. Wenn wir uns Das ist auch nicht meine Absicht. Danke, dass Sie (D) zur sozialen Marktwirtschaft und zur Tarifautonomie be- meine Zwischenfrage zulassen. – Meine Frage ist leicht kennen, dann werden wir auch mit den Konsequenzen zu beantworten, Herr Dr. Kolb. Sie stellen immer einen leben müssen, selbst wenn sie uns im Einzelfall nicht ge- Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Mindest- fallen. – Herr Steppuhn, Sie können gerne noch stehen löhnen her. Glauben Sie denn, dass das Pferd nicht vom bleiben. Dann läuft die Uhr weiterhin nicht zu meinen Traktor ersetzt worden wäre, wenn es versprochen hätte, Lasten. weniger zu saufen und zu fressen? Letztendlich läuft das Ich will sehr deutlich und unmissverständlich sagen: darauf hinaus. Natürlich ist es eine Tatsache, dass Ar- Mindestlöhne sind nicht frei von Risiken und Nebenwir- beitsplätze abwandern. Das hat aber teilweise gar nichts kungen. Sie verteuern Produkte und Dienstleistungen, mit den Löhnen zu tun, sondern mit dem technischen Herr Kollege Steppuhn. Sie verringern die Nachfrage Fortschritt. Des Weiteren ist es eine Tatsache, dass über nach Produkten und Dienstleistungen. Sie kosten Ar- die Länder, in denen es Mindestlöhne gibt, das Gegenteil beitsplätze. Das IWH in Halle geht davon aus, dass ein von dem berichtet wird, was Sie sagen. Meine Frage: Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro zu einem Verlust Kann man Jobs erhalten, wenn man die Löhne so stark von rund 620 000 Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor senkt, dass man davon nicht mehr leben kann? führen wird, und zwar insbesondere in den neuen Bun- desländern wegen der dort größeren Bedeutung des Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Niedriglohnsektors für die Gesamtzahl der Beschäftig- Herr Kollege Ernst, ich bin davon überzeugt, dass auf ten, Herr Kollege Dreibus. Dauer die gezahlten Löhne und der Wert der in einer Zeiteinheit hergestellten Produkte und erbrachten Herr Minister Scholz, ich wundere mich über die Dienstleistungen korrespondieren müssen. Kein Arbeit- Sprunghaftigkeit der politischen Diskussion. Es war geber kann auf Dauer Löhne zahlen, die nicht durch die doch die SPD, die gemeinsam mit den Grünen erst vor Erlöse aus dem gedeckt sind, was produziert wurde. Wer wenigen Jahren die Einrichtung eines Niedriglohnsek- das auf Dauer tun würde, würde unweigerlich in den tors zu einem wesentlichen Ziel ihrer Politik erhoben Konkurs, in die Insolvenz geraten und mit der Existenz hatte. Jetzt haben Menschen mit geringer Qualifikation seines Unternehmens bezahlen. Davon bin ich über- Beschäftigungschancen zu niedrigeren Löhnen. Aber zeugt. Das ist der erste Punkt. wieder ist das Geschrei groß: Skandal! Wie kann es sein, dass man von seiner Arbeit nicht leben kann? – Kollege Der zweite Punkt betrifft – das ist vorhin schon ange- Steppuhn, wir lassen Sie da nicht aus der Verantwortung. sprochen worden – die Mindestlöhne in den anderen eu- Denn Sie haben genau dafür die Voraussetzungen ge- ropäischen Ländern. Ich habe mir das übrigens einmal 19426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) anhand einer Schrift, die vom DGB verlegt wurde, ange- wie Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung zu (C) schaut. In den allermeisten Fällen liegen die Mindest- Recht ausgeführt hat. Er wirft die Frage auf: löhne in den anderen EU-Staaten unter 3,50 Euro. Wie eigentlich will die SPD – und ich füge hinzu: (Werner Dreibus [DIE LINKE]: In Ost- wie will die CDU – erklären, dass ungelernte Post- europa!) boten mindestens 9,80 Euro, ausgebildete Friseu- – Ich sagte, in den allermeisten Fällen liegen sie unter rinnen aber vielleicht nur 6,50 Euro erhalten sollen? 3,50 Euro. Darunter sind viele osteuropäische Staaten. Ist das gerecht? Das ist keine Frage. – Es gibt insgesamt sieben Staaten (Dirk Niebel [FDP]: Gute Frage!) in Europa – – Ich sage: Nein, gerecht ist das nicht. Vieles spricht dafür, (Zurufe von der SPD) dass die vorgesehenen Regelungen zudem ein verfas- – Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden. Ich gehe sungswidriger Eingriff in die grundgesetzlich garantierte davon aus, dass das alles nicht auf meine Redezeit ange- Tarifautonomie sind. rechnet wird, Herr Präsident. (Beifall bei der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Diesen Fragen werden wir in der Anhörung zu Ihren Ge- Mit Ausnahme der Rückfragen, nicht. setzentwürfen besondere Bedeutung zukommen lassen. Ich meine, der Spuk muss ein Ende haben. Die Party Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der letzten Jahre, in denen Sie sich an mehr oder weniger Herr Kollege Ernst, es gibt insgesamt sieben Staaten verdienten Arbeitsmarkterfolgen selbstzufrieden gesonnt in Europa, die einen Mindestlohn etwa in der Größen- haben, ist vorbei. Was den Mindestlohn angeht, so gilt ordnung von 7,50 Euro haben, die von Ihnen zumindest angesichts des Übergreifens der Finanzmarktkrise auf in der Vergangenheit gefordert wurde. Mittlerweile ist die Realwirtschaft: Nie war er so falsch wie heute. der Benchmark eher bei 9 Euro bis 9,80 Euro. Dann muss man aber auch sehen, dass beispielsweise Großbri- Der Kollege Wend hat gestern in der Debatte zu den tannien ganz andere Lohnnebenkosten hat, als wir sie in Turbulenzen an den Finanzmärkten und mit Blick auf Deutschland haben, und dass die Arbeitsmarktregulie- die zu erwartende konjunkturelle Abschwächung mit rung in Großbritannien eine vollkommen andere ist, als sorgenvollem Gesicht gefragt: Was können wir tun, um wir sie in Deutschland haben. Sie dürfen nicht Äpfel mit dem Mittelstand zu helfen? – Herr Wend, ich kann Ihnen Birnen vergleichen, sondern es müssen gleiche Sachver- sagen, was Sie nicht tun sollten, wenn es Ihnen wirklich (B) halte verglichen werden. Wenn man glaubt, man könne um den Mittelstand geht: Sie sollten diese Mindestlohn- (D) die Löhne anheben und die starke Regulierung beibehal- gesetze nicht verabschieden. In den Unternehmen, in de- ten, dann – das sage ich Ihnen – wird man am Ende ge- nen der Mindestlohn wirklich greifen würde, ist die nau das erleben, was ich hier prophezeit habe, nämlich zwangsweise Anhebung von Löhnen durch den Gesetz- dass in großer Zahl – da stehe ich nicht alleine als Kas- geber bei einer rückläufigen Konjunktur so wirksam wie sandra, sondern alle bedeutenden Wirtschaftsinstitute in die Verabreichung von K.-o.-Tropfen. Dass die Warnung Deutschland kommen zu ähnlichen Ergebnissen – Ar- einen realen Hintergrund hat, haben wir bei der Post- beitsplätze verloren gehen. dienstleistungsbranche sehen müssen, in der innerhalb von wenigen Monaten 6 000 Arbeitsplätze verschwun- Nun zurück zur Union. Es ist uns nicht verborgen ge- den sind. blieben, wie Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ein Ringer beim Kampf auf der Matte gewunden ha- (Andrea Nahles [SPD]: Stimmt doch gar ben. Wie Sie versucht haben, Herr Kollege Straubinger, nicht!) sich aus dem Klammergriff des politischen Gegners zu lösen. Ich komme zum Schluss. Wir sollten nicht länger über Mindestlöhne reden, sondern über ein Mindestein- (Zuruf von der CDU/CSU: Oh!) kommen. Wer seinen Bedarf nicht aus dem Ergebnis ei- Aber so sehr Sie sich auch bemüht haben: Aus dem gener Arbeit decken kann, der muss zur vollen Bedarfs- Schwitzkasten, in den die SPD Sie beim Thema Min- deckung einen staatlichen, steuerfinanzierten Zuschuss destlohn genommen hat, konnten Sie sich nicht mehr be- bekommen. Die FDP hat dazu das Konzept – freien. Herr Kollege Lehrieder, es leuchtet mir nicht ein, wie Präsident Dr. Norbert Lammert: man auf der einen Seite – wie die Kanzlerin höchstper- Herr Kollege. sönlich – gegen einen einheitlichen gesetzlichen Min- destlohn sein kann, auf der anderen Seite aber die Hand Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): dafür heben kann, Branche für Branche spezifische – des liberalen Bürgergeldes entwickelt, das mein Mindestlöhne einzuführen. Kollege Niebel in seinem Redebeitrag näher erläutern (Beifall bei der FDP) wird. Das empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit. Es gibt nicht gute und weniger gute Mindestlöhne. Auch (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und dem die branchenspezifischen Mindestlöhne sind ein Irrweg, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19427

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Ich bedanke mich, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit Dieses Land ist nicht durch einen Wettbewerb um die (C) haben zuteil werden lassen. niedrigsten Löhne wirtschaftlich groß und stark gewor- den, sondern durch vernünftige Lohnuntergrenzen im (Beifall bei der FDP) Wettbewerb um Innovationen und Qualität.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen anständigen Lohn für eine anständige Arbeit zu zahlen, das ist ein urchristliches Anliegen. Die Päpste, Nun erhält der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe das Wort die das schon vor Jahrhunderten gefordert haben, waren für die CDU/CSU-Fraktion. keine Sozialisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gibt es im neten der SPD) Vatikan denn einen Mindestlohn?) Es ist ein urchristliches Anliegen, dass man für eine an- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): ständige Arbeit einen anständigen Lohn bekommt. Das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ist in einer sozialen Marktwirtschaft möglich, und es ist Arbeitsmarktpolitik der Regierung Merkel ist erfolgreich die beste Voraussetzung für eine soziale Marktwirt- wie keine andere zuvor. Keine andere Bundesregierung schaft. hat es geschafft, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um fast 2 Millionen zu reduzieren. Wir erleben gegen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wärtig gleichzeitig Tarifabschlüsse, die deutlich über neten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Mindest- den Tarifforderungen der Gewerkschaften früherer Jahre löhne für Päpste!) des wirtschaftlichen Abschwungs liegen. Das zeigt uns Es ist unverkennbar, dass die Regelungen, auf die wir und bestätigt: Hohe Beschäftigung ist das beste Mittel uns in der Konsequenz dessen, was wir schon früher ver- gegen niedrige Löhne, und deswegen haben wir mit gu- einbart haben, verständigt haben, viele Gegner haben. ter Politik etwas gegen niedrige Löhne in diesem Land Da gibt es die FDP, die sagt: Das soll alles so weiterge- getan. hen; der Staat soll sich da heraushalten. Wir sagen: In ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ner Situation, in der die Tarifbindung in unserem Land neten der SPD) leider sinkt – sie ist mittlerweile bei rund 52 Prozent an- gekommen –, kann man nicht so tun, als könnte alles so Hohe Beschäftigung bleibt auch das beste Mittel ge- weitergehen wie bisher. Wir brauchen in diesem Land gen niedrige Löhne. eine Renaissance der Tarifautonomie, wenn wir keine staatliche Lohnfestsetzung wollen. Wir wollen keine (B) Gleichzeitig werden wir als Große Koalition und wird (D) die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht, er- staatliche Lohnfestsetzung; deswegen wollen wir die Ta- gänzend einen rechtlichen Rahmen dafür zu setzen, dass rifautonomie stärken. in diesem Land gerechte Löhne gezahlt werden. Dazu (Beifall bei der CDU/CSU) gehört die Ausweitung des Entsendegesetzes, und dazu gehört das doppelte Angebot, das wir für die Branchen Genauso klar ist für uns, dass es auf der anderen Seite machen, die eine hohe Tarifbindung haben und die die in einem Land, in dem die Situation in den verschiede- Aufnahme in das Entsendegesetz wollen. Denjenigen, nen Branchen und Regionen so unterschiedlich ist, wie die nicht die Chance haben, eine solche Tarifbindung zu sie es bei uns ist, keinen einheitlichen flächendeckenden erreichen, dient die Modernisierung des Mindest- gesetzlichen Mindestlohn geben kann. Die Lage ist dif- arbeitsbedingungengesetzes aus der Zeit von Konrad ferenziert, und wir brauchen deswegen auch den Mut zu Adenauer und Ludwig Erhard. Meines Wissens war auch differenzierten – nicht zu einfachen – Lösungen. Daher die FDP damals an der Regierung beteiligt. legen wir diese Gesetzentwürfe vor. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gucken wir Was ich meine, will ich an der unterschiedlichen uns einmal genau an! Das war befristet! Das Situation, die wir in diesem Land haben, verdeutlichen. war begrenzt und mit klaren Voraussetzungen Die wirtschaftliche Situation in Nordrhein-Westfalen, versehen!) woher ich komme, ist natürlich mit der seiner Nachbar- länder, beispielsweise Belgien und Niederlande, ver- Dieses Gesetz stammt also aus einer Zeit, in der wir gleichbar. Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine – so- ebenfalls eine gute Regierung hatten. zial sehr verantwortungsvolle – Landesregierung, die dafür gesorgt hat, dass bereits in drei Branchen Flächen- Wir setzen damit den Weg tariflicher Mindestlöhne tarifverträge landesweit für allgemeinverbindlich erklärt fort. Unser Grundsatz ist: Wir wollen die Tarifvertrags- werden können, und zwar mit Löhnen, wie sie auch hier parteien stärken; wir wollen sie nicht ersetzen. Die in Debatten um flächendeckende gesetzliche Mindest- Tarifautonomie lebt davon, dass nicht jeder von dem löhne gefordert werden. Recht auf negative Koalitionsfreiheit Gebrauch macht. Dass man davon Gebrauch macht, das gibt es auch. Ta- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) rifautonomie kann nur wirklich lebendig sein, wenn es auch welche gibt, die bei der Tarifautonomie mitmachen. Karl-Josef Laumann hat beispielsweise im Friseurge- werbe einen von Tarifvertragsparteien vereinbarten Min- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und destlohn von 7,60 Euro für allgemeinverbindlich erklärt. der SPD) Sie werden doch nicht sagen, dass die FDP in NRW da- 19428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Ralf Brauksiepe (A) bei nur wegen der schönen Dienstwagen der Landes- lamentarischer Beratungen über die Frage, welche der (C) regierungsmitglieder mitgemacht hat. Sie waren doch Branchen, die einen entsprechenden Antrag gestellt ha- aus voller Überzeugung für einen tariflichen Mindest- ben, in das Entsendegesetz aufgenommen werden kön- lohn für Friseure in Nordrhein-Westfalen. nen. Es gibt bei der SPD eine Vorabfestlegung: alle Branchen. Wir kennen das. Seit Monaten erzählt der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kollege Struck – er schaut mich gerade an –: Wir treiben der SPD) die Union von Branche zu Branche zum Mindestlohn. Wir machen eine gute, soziale Politik in NRW, und Sie machen sogar mit. Stellen Sie sich doch hier nicht (Andreas Steppuhn [SPD]: Das machen wir dümmer an, als Sie in NRW regieren. auch weiter so!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Das ist euer politisches Ziel. Das ist legitim. Klappen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wird es nicht. GRÜNEN und der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na! Den So machen wir es doch vernünftig in Nordrhein-West- Ring habt ihr in der Nase! Ihr werdet zum Tan- falen. zen geführt!) Gleichzeitig ist klar: Wir machen hier nicht nur Poli- Wir haben uns nur an einer Stelle festgelegt, nämlich: tik für Nordrhein-Westfalen; wir machen hier Gesetze, Die Voraussetzungen für die Aufnahme der Zeit- die in Aachen genauso gelten können müssen wie in arbeitsbranche ins Entsendegesetz sind nicht erfüllt. Frankfurt/Oder. Dort besteht seit mehreren Jahren dieselbe Situation. Deswegen ist das entscheidungsreif. In dieser Branche (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und in Bayern!) besteht eine Tarifbindung von annähernd 100 Prozent. In den verschiedenen Teilen unseres Landes ist die Wenn wir sagen: „Wir wollen die Tarifvertragsparteien Situation unterschiedlich. In unserem Nachbarland stärken, aber nicht ersetzen“, dann macht es bei einer Ta- Polen beträgt der gesetzliche Mindestlohn umgerechnet rifbindung von bundesweit nur noch etwas über 1,92 Euro, in Tschechien 1,97 Euro. Da soll niemand so 50 Prozent keinen Sinn, bei einer Branche anzusetzen, tun, als würde der Markt nicht merken, wenn die Lohn- die fast 100 Prozent Tarifbindung hat. Das ist die Lage. unterschiede so groß sind. Bei uns sind die Löhne, von Deswegen haben wir das so erklärt. Tarifvertragsparteien vereinbart, deutlich höher. Wir un- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. terstützen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, dass es Kolb [FDP]: Herr Steppuhn, was sagen Sie möglich ist, westlich der Oder deutlich höhere Löhne zu dazu?) (B) zahlen als östlich der Oder. (D) Ich will nur noch einmal daran erinnern, wie die Lage Wenn die Tarifvertragsparteien, die auch in den ist. Es gibt einen Tarifvertrag des DGB mit einer unteren neuen Ländern vielfach gute Löhne vereinbart haben, Lohngruppe von 7,31 Euro im Westen. Es gibt einen erklären: „Wir trauen uns zu, dass wir viermal besser CGB-Tarifvertrag mit 7,21 Euro. Grundsätzlich können sind als unsere polnischen Konkurrenten, und wir trauen wir Tarifverträge verdrängen – das ist wahr –, aber es uns zu, dass wir viermal höhere Tariflöhne zahlen kön- muss Güter von Verfassungsrang geben, die das rechtfer- nen als die 1,92 Euro östlich der Oder“, dann sagen wir tigen. Niemand kann uns erzählen, dass zwischen als Politik doch nicht: Das darf nicht sein. Wir wollen 7,21 Euro und 7,31 Euro die Grenze liegt, von der an doch, dass die Tarifverträge gelten. Aber wenn beispiels- beispielsweise die Berufsfreiheit – Art. 12 Grundgesetz – weise die Tarifvertragsparteien im Sicherheitsgewerbe oder die Menschenwürde verletzt ist. Herr Sommer, der erklären: „6 Euro können wir verkraften – in Branden- DGB-Vorsitzende, hat im letzten Jahr auf einer Mai- burg, in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo“ Kundgebung, als wir das Angebot gemacht hatten, die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wie ist das Regelung über sittenwidrige Löhne im Gesetz noch wei- bei der Zeitarbeit?) ter zu verschärfen, gesagt, Löhne unter 7,50 Euro seien sittenwidrig. Das heißt, aus DGB-Sicht hat der DGB und das so vereinbaren, dann wären wir doch mit dem selbst einen sittenwidrigen Tarifvertrag abgeschlossen. Klammerbeutel gepudert, wenn wir sagen würden: Ich schließe mich dieser Einschätzung ausdrücklich 7,50 Euro muss gesetzlich vorgeschrieben werden. Es nicht an. Für uns gilt die Richtigkeitsgewähr von Tarif- wäre doch Hybris, sich so über die Tarifvertragsparteien verträgen. Ich sage klipp und klar: Es ist kein Rechtsgut hinwegzusetzen. Das machen wir nicht. von Verfassungsrang erkennbar, das es wegen 10 Cent (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn der Unterschied rechtfertigen würde, an der Stelle einen Ta- Unterschied bei der Zeitarbeit, Herr Kollege rifvertrag über den anderen zu erstrecken und zu ver- Brauksiepe?) drängen. Deswegen machen wir das nicht. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einem (Beifall bei der CDU/CSU) gesetzlichen Mindestlohn und einer branchenspezifi- Ich möchte mich bei all denjenigen, die den Grund- schen Regelung von Tarifvertragsparteien, die wir ak- stein für die Gesetzentwürfe gelegt haben, die wir jetzt zeptieren und zu stärken bereit sind. beraten, herzlich bedanken. CDU und CSU haben die Wir sind jetzt – darauf hat der Bundesarbeitsminister Position, Tarifvertragsparteien zu stärken, aber nicht zu zu Recht hingewiesen – am Beginn ergebnisoffener par- ersetzen, durchgesetzt. Das gilt für die Bundesregierung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19429

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Das gilt für die CDU/CSU-Fraktion. Wir waren als Frak- Werner Dreibus (DIE LINKE): (C) tion sehr eng in die Entwurfserstellung eingebunden. Ich Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- freue mich, dass wir zu diesem Ergebnis gekommen gen! Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen räumt die sind. Ich freue mich auch, dass es möglich ist, dass wir Bundesregierung immerhin ein, dass Armut trotz dies als Koalition gemeinsam machen, nachdem Kurt Arbeit in Deutschland ein gravierendes – ich betone: Beck, an den sich die Älteren in diesem Hause sicherlich gravierendes – Problem ist und dass Politik endlich han- noch erinnern, seinerzeit gesagt hat, es sei eine große deln muss. Niederlage für die SPD, den flächendeckenden Mindest- lohn nicht durchgesetzt zu haben. Es ist gut, dass wir uns (Beifall bei der LINKEN) gemeinsam auf diesen Weg der Stärkung der Tarifver- Das ist ein Fortschritt, den wir begrüßen, auch wenn er tragsparteien begeben haben, liebe Kolleginnen und – das ist schon bitter – für die Menschen, die seit Jahren Kollegen. für Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro arbeiten müssen, Ehre, wem Ehre gebührt: Ich erinnere daran, dass wir viel zu spät kommt. Die entscheidende Frage, die wir auf den Schultern derer stehen – darauf hat Olaf Scholz uns stellen müssen, lautet aber: Reicht das, was die Bun- zu Recht hingewiesen –, die in den 90er-Jahren das Ent- desregierung hier vorlegt, aus, um das Problem tatsäch- sendegesetz geschaffen haben. Norbert Blüm, der dama- lich in den Griff zu bekommen? lige Bundesarbeitsminister, und Heinrich Kolb, der da- Rund 6,5 Millionen Menschen verdienen in Vollzeit- malige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, arbeit weniger als drei Viertel des durchschnittlichen sind die Väter dieses Gesetzes. Auf den Schultern von Bruttoeinkommens. Das ist ein Viertel aller abhängig Norbert Blüm und Heinrich Kolb bauen wir heute auf. Beschäftigten, Tendenz steigend. Von diesen 6,5 Millio- nen Menschen verdienen rund 3,8 Millionen weniger als (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der 50 Prozent des Durchschnittslohns, also weniger als FDP – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der 50 Prozent von 1 470 Euro im Monat. Wir sprechen, wie FDP) gesagt, über Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro. Das Sie haben das Entsendegesetz auf den Weg gebracht; das sind Armutslöhne. Von diesen Armutslöhnen sind in be- ist die Wahrheit. Die Grünen dagegen haben in sieben sonderer Weise, nämlich zu 70 bis 80 Prozent, Frauen Jahren Mitregierung keine einzige Branche ins Entsen- betroffen. Die Folgen werden regelmäßig nicht nur von degesetz aufgenommen. Alle Branchen sind unter CDU- uns beklagt: sinkende Reallöhne, Nachfrageschwäche, Kanzlerinnen und -Kanzlern ins Entsendegesetz aufge- sinkender Anteil der Erwerbseinkommen, wachsende nommen worden. CDU/CSU und FDP sind in diesem Lücke zwischen niedrigen und hohen Einkommen, eine wachsende Zahl von Familien und Kindern in Armut (B) Hause die Parteien für tarifliche Mindestlöhne. (D) usw. (Lachen bei der SPD) Wir brauchen eine Untergrenze für Löhne, die ge- Diese sozial gerechte Politik für die arbeitenden Men- währleistet, dass ein Lohn für Vollzeittätigkeit auch tat- schen werden wir fortsetzen, auch wenn Sie die Vater- sächlich zum Leben reicht. Deshalb muss – egal, wie das schaft im Nachhinein bestreiten. Damals waren Sie gut, Gesetz letztendlich heißt – an erster Stelle die Festle- und wenn Sie wieder gut sind, dann können Sie auch gung einer allgemeinen Lohnuntergrenze liegen, die wieder mitregieren, Herr Kolb. sicherstellt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, davon tatsächlich auch leben können. Schönen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- In dieser Hinsicht sind leider die Gesetzentwürfe der neten der SPD) Bundesregierung substanzlos. Die wesentliche Frage, die wir uns heute stellen und die sich Millionen Men- Präsident Dr. Norbert Lammert: schen stellen, wie hoch der Lohn sein sollte, wird in den Herr Kollege Brauksiepe, da Sie die Gruß- und beiden Gesetzentwürfen noch nicht einmal gestreift. Glückwunschadressen an die vermeintlichen Väter ein- Stattdessen konzentrieren Sie sich auf Verfahrensfragen; schlägiger Gesetzgebung heute Morgen nur an einen von sie sind auch wichtig, kommen aber immer an zweiter beiden persönlich haben richten können, werden Sie si- Stelle. Vorschläge zum Verfahren können die fehlende cherstellen, dass es der andere in geeigneter Weise er- Substanz nicht ersetzen. fährt. Was soll nach den Vorstellungen der Koalition passie- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau! – ren? Sie wollen die untersten Tariflöhne zu Mindest- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir gehen davon löhnen erklären. In vielen Bereichen ist dies nichts aus, dass Norbert Blüm vor dem Fernseher anderes als Etikettenschwindel. In Deutschland gibt es sitzt, Herr Präsident!) massenweise Tariflöhne von 3, 4 oder 5 Euro pro Stunde: im Einzelhandel, im Fleischerhandwerk, im Bewachungs- Nun hat der Kollege Werner Dreibus für die Fraktion gewerbe usw. Keinem Mann und keiner Frau – betroffen Die Linke das Wort. sind, wie gesagt, vor allen Dingen Frauen – wäre damit gedient, wenn wir als Gesetzgeber Tariflöhne von (Beifall bei der LINKEN) 3,50 Euro per Gesetz zu Mindestlöhnen erklärten. Im 19430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Werner Dreibus (A) Gegenteil; dann bekäme Lohndumping auch noch den Hätten wir in Deutschland einen Mindestlohn wie in (C) Segen des Gesetzgebers. Frankreich, würde bei einer Vollzeitarbeit ein Netto- lohn ermöglicht, der mindestens auf der Höhe der Pfän- (Beifall bei der LINKEN) dungsfreigrenze in Deutschland läge. Der Mindestlohn An dieser Stelle eine Zwischenbemerkung. Gewerk- in Frankreich beträgt derzeit 8,71 Euro die Stunde. Das schaften können dann gute Löhne durchsetzen, wenn sollte auch für einen Mindestlohn in Deutschland eine Beschäftigte selbstbewusst sind und sich organisieren. Orientierungszahl sein. Wer aber in einem 400-Euro-Job schafft, nur einen be- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – fristeten Arbeitsvertrag hat oder als Leiharbeiter einge- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nur vo- setzt ist – heute hier, morgen da –, hat schlicht und er- rübergehend, oder?) greifend Existenzangst. Er fragt sich zu Recht: Fliege ich raus, wenn ich mich engagiere? Ist mein Job dann ganz weg? Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Dreibus, nun möchte der Kollege So sieht die Wirklichkeit von Millionen von Men- Niebel, wie beinahe vorprogrammiert, die von Ihnen schen mit prekären Arbeitsverhältnissen aus. Dafür trifft provozierte Zwischenfrage stellen. nicht diese Menschen die Schuld, sondern einzig und al- lein die Politik, Werner Dreibus (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Das war ja fast schon eine Vorlage. – Bitte schön, allen voran SPD und Grüne, die mit den Hartz-Gesetzen Herr Niebel. die Menschen gedemütigt und – bewusst oder unbewusst – den Gewerkschaften einen Knüppel zwischen die Beine Dirk Niebel (FDP): geworfen haben. Gedemütigte Menschen engagieren Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe mich mit die- sich nicht, organisieren sich nicht, setzen auch nicht über ser Frage lange zurückgehalten und gedacht, ich könne die Gewerkschaften gerechte Arbeitsbedingungen durch. sie umgehen. Aber dem Handbuch des Deutschen Bun- Union und FDP haben – das wissen wir alle; das ist auch destages ist zu entnehmen, dass Sie, Herr Kollege heute Morgen wieder geschehen – diesen Zuständen Dreibus, im Hauptberuf Gewerkschaftssekretär sind, noch applaudiert und Hurra gerufen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sieht es aus. Jetzt beklagen wir, dass es so viele Das ist doch kein Verbrechen, Herr Niebel, Menschen gibt, die von ihrer Arbeit nicht leben können. oder?) Dafür sind Sie verantwortlich und niemand anderes. (B) (D) Aber obwohl nun endlich die Erkenntnis reift, dass es so also durchaus jemand, wie Sie gesagt haben, der sich mit nicht weitergehen kann, schaffen Sie es nicht einmal, Tarifverhandlungen auskennt. Da Sie jetzt aber im Rah- wenigstens eine klare Grenze für Lohndumping einzu- men Ihres Wortbeitrages schon mehrfach gesagt haben, führen. Damit nicht genug: Letztlich missachtet die Ko- dass die untersten Tariflöhne, die von der Regierung alition mit den beiden Gesetzentwürfen eine Lohnunter- – ich bin gegen Mindestlöhne, nur dass das nicht verges- grenze, die der Gesetzgeber faktisch längst festgelegt sen wird – hat. Ich meine die Pfändungsfreigrenze, die derzeit bei (Andrea Nahles [SPD]: Was für eine Überra- rund 1 000 Euro netto liegt. Die Pfändungsfreigrenze be- schung!) sagt, dass einem verschuldeten alleinstehenden Arbeit- nehmer oder einer verschuldeten alleinstehenden Arbeit- als allgemein verbindliche Mindestlöhne eingeführt wer- nehmerin ein Einkommen mindestens in dieser Höhe den sollen, sittenwidrige Dumpinglöhne sind – so unge- zusteht und nicht gepfändet werden darf; denn weniger fähr haben Sie es formuliert –, frage ich mich, warum als 1 000 Euro reichen nicht zum Leben. Aber Sie wol- Ihre Kolleginnen und Kollegen Gewerkschaftssekretäre len allen Ernstes mit den vorliegenden Gesetzentwürfen Tarifverträge mit solchen sittenwidrigen Dum- Tariflöhne zu Mindestlöhnen erklären, bei denen nicht pinglöhnen unterschreiben. einmal 1 000 Euro brutto auf dem Lohnzettel stehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, das frage ich (Dr. Lothar Bisky [DIE LINKE]: So ist das!) mich auch!)

Eine Friseurin in Brandenburg, um ein zugegebenerma- Werner Dreibus (DIE LINKE): ßen extremes, aber leider nicht gering verbreitetes Bei- Ich gebe Ihnen zwei Antworten darauf. Erstens. Wenn spiel zu nennen, bekommt 2,75 Euro die Stunde per Ta- Sie mir vor der Formulierung Ihrer Frage bei meiner rifvertrag. Das wollen Sie mit diesen Gesetzen zum Rede zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich die Mindestlohn erklären. Das ist zynisch und menschenun- Antwort bereits gegeben habe. würdig. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Sie sind doch Gewerkschaftssekretär!) Zweitens. Ich bin als Gewerkschafter bei diesen Ent- wicklungen Täter und Opfer zugleich. Ich bin als Ge- – Deshalb habe ich es ja gesagt, Herr Niebel. Im Gegen- werkschafter in vielen Fällen – wenn die Bedingungen satz zu Ihnen weiß ich, wovon ich rede. so sind, dass Menschen, beispielsweise Leiharbeiterin- (Beifall bei der LINKEN) nen und Leiharbeiter, nicht in der Lage sind, sich enga- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19431

Werner Dreibus (A) giert für ihre Interessen einzusetzen, weil sie Angst ha- mission bilden, und es müssten Verhandlungen geführt (C) ben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren – werden. Das würde einen riesigen Aufwand bedeuten. Am Ende wäre noch nicht einmal sichergestellt, dass bei (Dirk Niebel [FDP]: Nehmen Sie doch mal die solchen Gesprächen ein vernünftiger Mindestlohn he- Friseurin!) rauskommt. Dass Hunderte von Branchenmindestlöhnen gezwungen, gemeinsam mit diesen Menschen das Min- zudem völlig intransparent wären, sei hier nur am Rande deste herauszuholen, was herauszuholen ist, und das sind erwähnt. oft sittenwidrige Löhne. Die Experten des Wirtschafts- und Sozialwissen- (Dirk Niebel [FDP]: Was ist mit den Friseu- schaftlichen Instituts des DGB haben in ihrer Studie da- ren? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das heißt, rauf hingewiesen: Sie handeln vorsätzlich sittenwidrig!) Zu erwarten ist auch, dass zahlreiche Lücken blei- Aber wenigstens bin ich in der Lage, mein eigenes Tun ben, wenn nicht systematisch und flächendeckend kritisch zu sehen und festzustellen, dass Voraussetzun- für alle in Betracht kommenden Niedriglohnbran- gen geschaffen werden müssen, um das in Zukunft zu chen Verfahren in Gang gesetzt werden. ändern. Das Fazit der Wissenschaftler des DGB lautet: Die er- (Beifall bei der LINKEN) wartbaren Dieses Maß an Selbstkritik würde ich auch bei Ihnen Regelungslücken werden auch in Deutschland da- gerne erkennen. für sorgen, dass eine universelle Lösung im Sinne eines allgemeinen, branchenübergreifenden Min- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein Ar- destlohns auf der Tagesordnung bleibt. mutszeugnis, Herr Kollege Dreibus!) An dieser Stelle eine zweite Zwischenbemerkung, ge- Ich wiederhole: Hätten wir in Deutschland einen Min- richtet an diejenigen, die meinen, der deutsche Kapitalis- destlohn wie in Frankreich, dann hätten wir ihn in einer mus breche zusammen, wenn ein gesetzlicher Mindest- Größenordnung von 8,71 Euro. Wenn Sie es wirklich lohn eingeführt wird. ernst meinen mit Mindestlöhnen, dann müssen Sie in der Koalition über solche Größenordnungen sprechen, Herr (Andrea Nahles [SPD]: Der bricht auch ohne Minister. Nur dann kommen wir ein Stück weiter. zusammen!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist schon davon gesprochen worden: In 20 EU- Staaten gibt es Mindestlöhne. Darunter sind Staaten wie Zur Redlichkeit der Politik gehört auch, den Willen (B) Großbritannien oder die Niederlande. In beiden Ländern (D) der Menschen zu achten. Drei Viertel der Deutschen sind liegt der Mindestlohn deutlich über 8 Euro, und er scha- für gesetzliche Mindestlöhne. Alle Umfragen zeigen das. det dem Arbeitsmarkt in keiner Weise. Da überall im Auch unter den Wählern der CDU gibt es dafür eine Kapitalismus dieselben ökonomischen Gesetze gelten, deutliche Mehrheit. Das wissen Sie. Sie handeln somit ist zu erwarten, dass die deutsche Wirtschaft unter einem gegen den Willen Ihrer Wählerinnen und Wähler. Mindestlohn von 8,71 Euro – wie die Franzosen ihn ha- Demokratie heißt Volksherrschaft. Darum geht es ben – nicht zusammenbrechen wird. bei diesem Thema genauso wie bei dem Thema Finanz- Der wahre Grund dafür, weshalb die Regierung und krise. Nur so sind die Worte meines Fraktionsvorsitzen- die FDP – zumindest die CDU und die FDP – den ge- den gestern zu verstehen, gemeint und auch gesagt wor- setzlichen Mindestlohn so nachhaltig ablehnen, ist doch den. Die Finanzkrise ist eine Krise der Demokratie, weil ein ganz anderer. Wir alle wissen, dass billige Löhne wir die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Des- letztlich höhere Profite bedeuten. Das sagen Sie so na- halb besteht für uns die verdammte Pflicht und Notwen- türlich nicht. Um Gottes Willen. Jetzt schon gar nicht in digkeit, mit demokratischen Entscheidungen Korrektu- diesen Zeiten. Täten Sie es, wäre allen sofort klar, dass ren herbeizuführen – im Bereich der internationalen Sie die einen bei schmaler Kost halten wollen, damit es Finanzkrise genauso wie beim Thema Dumpinglöhne. den anderen besser geht. Deshalb müssen wir uns von (Beifall bei der LINKEN) Ihnen immer wieder die Mär anhören, ein gesetzlicher Mindestlohn würde Arbeitsplätze vernichten. Das ist Nicht nur wir kritisieren die vorliegenden Gesetzent- blanker Unsinn. würfe. Viele Experten haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten damit beschäftigt und darauf hin- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. gewiesen, dass manches in diesen Gesetzentwürfen ei- Kolb [FDP]: Für jemanden, der vorsätzlich sit- nen Schritt darstellt, dass aber das eigentliche Problem, tenwidrige Löhne vereinbart, hauen Sie ganz nämlich die Schaffung einer sicheren Lohnuntergrenze, schön auf die Pauke!) mit diesen Gesetzentwürfen nicht gelöst wird. Dies ist jedenfalls kein Ersatz für einen allgemeinen gesetzlichen Wer einen klaren Blick hat, der weiß, was zu tun ist. Mindestlohn. Wir brauchen ein Gesetz, das erstens einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn festlegt und das zweitens den Auch der Weg über das Gesetz über die Festsetzung Tarifparteien ermöglicht, branchenspezifische Mindest- von Mindestarbeitsbedingungen ist keine Alternative. löhne zu vereinbaren, sofern diese über dem gesetz- Wir müssten für jede heute tariflose Branche eine Kom- lichen Mindestlohn liegen. 19432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Werner Dreibus (A) Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2006 Eckpunkte Ich will Ihnen einmal sagen, wie sich die Mindest- (C) für ein solches Gesetzgebungsverfahren in den Bundes- löhne im letzten Jahr in den anderen Ländern entwickelt tag eingebracht. Dabei orientieren wir uns an den schon haben: In Großbritannien liegt der Mindestlohn bei mehrfach zitierten positiven Erfahrungen Großbritan- 5,73 Pfund, in den Niederlanden bei 8,33 Euro, in Bel- niens. gien bei 8,41 Euro, in Frankreich bei 8,71 Euro und in Luxemburg bei 9,30 Euro. Jetzt kommen Sie mir nicht, Dazu ein letztes Zitat. Auf einer Anhörung meiner Herr Kolb, mit den östlichen europäischen Ländern. Na- Fraktion stellte John Cridland dazu fest: türlich hat die Festsetzung der Höhe des Mindestlohns Bisher war der Mindestlohn ein großer Erfolg. Für auch etwas mit den Lebenshaltungskosten in den jeweili- mehr als eine Million Arbeitnehmer sind die Löhne gen Ländern zu tun. deutlich angehoben worden, ohne dass dies Ar- (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) beitsplätze gekostet hätte. Auch die Wirtschaft ist nicht behindert worden. Natürlich geht es um vergleichbare Volkswirtschaften, Herr Kolb. Wenn das mal in Ihren Kopf ginge! Herr Cridland ist stellvertretender Vorsitzender des briti- schen Industrieverbandes, also sozusagen des BDI von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Großbritannien, und Mitglied der britischen Low Pay sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Commission. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. KEN) Vielen Dank. Ich frage Sie: Warum soll bei uns etwas nicht gehen, was in den anderen europäischen Ländern seit Jahren (Beifall bei der LINKEN) überaus erfolgreich funktioniert,

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer, sowie bei Abgeordneten der SPD) Bündnis 90/Die Grünen. und zwar ohne dass damit Arbeitsplätze vernichtet wer- den? Wenn es nach Ihrer Propaganda ginge, meine Da- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men und Herren von der FDP Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 20 von (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben ja 27 europäischen Mitgliedstaaten haben gesetzliche keinen Gesetzentwurf vorgelegt! Nur dass Sie Mindestlöhne. Nun ist es nicht etwa so, dass die ande- das mal klarstellen!) ren europäischen Staaten keine Mindestlohnregelungen (B) hätten. Nein, sie haben äquivalente Regelungen, die da- – ich spreche an dieser Stelle, Herr Brauksiepe, aus- (D) für sorgen, dass eine bestimmte Lohnuntergrenze nicht drücklich auch die CDU/CSU an –, dann wären Großbri- unterschritten wird. In Deutschland ist das leider immer tannien, die Niederlande, Belgien, Frankreich und noch anders. Luxemburg längst erledigt. Im letzten Jahr sind die Mindestlöhne in sehr vielen (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Grenzen Ländern angehoben worden. Bei uns sind im letzten Jahr die alle an Polen?) die Löhne gerade im untersten Bereich noch einmal Untergegangen wären sie auf dem Weg in eine sozialisti- deutlich gesenkt worden. sche Planwirtschaft. Das ist doch die Propaganda, die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ergebnis rot- Sie hier immer vortragen. grüner Politik!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Mindestlohn in den anderen europäischen Län- und bei der LINKEN) dern hat dafür Sorge getragen, dass diejenigen, die am Aber die Wirklichkeit widerlegt Sie. Was soll ich Ihnen schlechtesten verdienen, vom wirtschaftlichen Auf- sagen: Noch immer hat sich die Propaganda an der schwung profitieren, der noch im letzten Jahr zu ver- Wirklichkeit gebrochen. Die jedenfalls werden Sie pro- zeichnen war. pagandistisch nicht überlisten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frau Pothmer, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wollten doch den Niedriglohnsektor!) Deutschland hält einen traurigen Rekord: Deutsch- – Wir wollten den Niedriglohnsektor keineswegs. Wir land hat den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. wollten immer, dass Mindeststandards festgeschrieben Innerhalb dieses Niedriglohnsektors arbeiten 2 Millio- werden, Herr Kolb. nen Menschen in Deutschland für Löhne unterhalb von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 5 Euro die Stunde. Das sind noch nicht einmal 200 Euro Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also Niedrig- in der Woche. Das sind knapp 800 Euro im Monat. Herr lohnsektor ohne Niedriglöhne!) Kolb, Sie aber haben lautstark dagegengebrüllt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich beschäftige diese Leute nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie haben für 800 Euro halten Sie doch noch nicht einmal einen regiert!) Vortrag; um die Dimension deutlich zu machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19433

Brigitte Pothmer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kolb, Sie jedenfalls waren damals nicht an unserer (C) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Seite. der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ist das wahr, Herr Kolb? – Dr. Heinrich L. (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk Kolb [FDP]: Erstaunlich, zu welchen Preisen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Heinrich die Kollegin Pothmer antritt!) L. Kolb [FDP]: Sie waren schuld, Frau Nahles! Das ist ja interessant! – Dr. Ralf Sie von der FDP und große Teile der CDU/CSU sind Brauksiepe [CDU/CSU]: Herr Struck, waren für diese Hungerlöhne persönlich mitverantwortlich. Sie so hartherzig?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kolb, ich will Ihnen einmal sagen, welches Vo- und bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb ting es zurzeit bei Spiegel-Online gibt. Da steht: [FDP]: Sie haben regiert! Was haben Sie ge- macht? Null!) Die FDP hat sich stets für die freie Marktwirtschaft eingesetzt. Jetzt erschüttert eine Bankenkrise die Sie haben all die Jahre jede Form einer vernünftigen ganze Welt. Muss die FDP jetzt verboten werden staatlichen Regelung blockiert. Das Ergebnis dieser Blo- oder nicht? ckade sind diese Löhne. Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, Mindestlöhne seien der Untergang des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abendlandes, Mindestlöhne würden die Marktwirtschaft Der Abg. Dirk Niebel [FDP] meldet sich zu ei- ruinieren. Das war Ihre Propaganda. Aber heute, in den ner Zwischenfrage) Fieberschüben der weltweiten Finanzkrise, in einer Zeit, Das Ergebnis dieses Votings sollten Sie sich einmal an- in der Ihre marktradikale Welt am Abgrund taumelt, schauen, bevor Sie in dieser Debatte weiterreden. können Sie nicht schnell und laut genug nach dem Staat rufen. Sie messen mit zweierlei Maß. Das werden Ihnen (Dirk Niebel [FDP]: Die Kollegin müsste der die Leute aber nicht durchgehen lassen. guten Ordnung halber sagen, dass das auf der Satireseite von Spiegel-Online steht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehr schön. Das nehmen wir als Zwischenruf zu Pro- Frau Kollegin Pothmer, möchten Sie nun dem Kolle- tokoll. – Im Übrigen bitte ich, ein bisschen daran zu den- gen Kolb Gelegenheit zur Fortsetzung seiner Propa- ken, dass unsere heutige Sitzung, wenn es bei den Rede- ganda geben? (B) zeiten bleibt, bis weit nach Mitternacht dauert. All das, (D) (Heiterkeit) was wir uns jetzt an Großzügigkeiten erlauben, geht auf Kosten der nachfolgenden Tagesordnungspunkte. Ein bisschen Disziplin würde ich im Interesse der nachfol- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): genden Kollegen erbitten. Ich finde, er sollte die Frage stellen, und ich überlege mir dann, ob ich sie beantworte. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE Mich können Sie damit nicht gemeint haben. GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Versuchen wir es einmal, Frau Kollegin Pothmer. Sie Präsident Dr. Norbert Lammert: haben den Eindruck erweckt, die FDP sei schuld an al- lem Übel. Mir geht Folgendes durch den Kopf: Ich Das bestätige ich ausdrücklich, Frau Kollegin. glaube mich zu erinnern, dass Sie nach 1998 acht Jahre lang in diesem Land regiert und die Verantwortung ge- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tragen haben. Können Sie mir noch einmal sagen, was Meine Damen und Herren! Die politische Auseinan- die Gründe dafür waren, dass Rot-Grün damals keinen dersetzung über den Mindestlohn in Deutschland ist, gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat? wenn Sie so wollen, ein Lehrstück. Jahrelang haben die Union und die FDP tatenlos zugesehen, wie sich der Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Niedriglohnsektor immer weiter ausgebreitet hat. Den Wir haben schon zu rot-grünen Zeiten Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, haben Sie ei- nen Schutzschild verweigert. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Uns nicht durchsetzen können!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Quatsch!) Initiativen zur Einführung von Mindestlöhnen ergriffen. Den von den Geringqualifizierten und Geringverdienen- Damals haben wir uns leider nicht durchsetzen können. den so dringend gebrauchten Schutz haben Sie verwei- gert. Sie haben den Mindestlohn zerredet. Sie haben ihn (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und denunziert. Sie haben ihn verzögert, und sie haben ihn der FDP) blockiert. 19434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Brigitte Pothmer (A) Was den Geringverdienern an staatlichem Schutz ter bestehen und Vorrang vor den Regelungen zum Min- (C) über Jahre verwehrt wurde, kann für die Banken offen- destlohn haben, selbst wenn die vereinbarten Löhne sichtlich schon in 48 Stunden geregelt werden. Es ist noch so niedrig sind. schon erstaunlich, wie sich einige Propheten der Deregu- lierung angesichts der Zuspitzung der internationalen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Irgendwann ist Finanzkrise heute zu entschiedenen Befürwortern von auch Ihre Redezeit zu Ende!) Staatsinterventionen gewandelt haben. Das muss man So wird man jedenfalls keine existenzsichernden Löhne einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Herr Kolb, es sind durchsetzen können. aber die gleichen Leute – das gilt auch heute wieder –, die eine Staatsintervention ablehnen, wenn es um den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mindestlohn geht, wenn es darum geht, die kleinen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Leute zu schützen. Sie schreien: Das ist der Untergang Diese Politik kostet den Staat oder auch den Steuerzahler des Abendlandes. 1,5 Milliarden Euro im Jahr, weil diese Löhne aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stockt werden müssen. In diesem Gesetz ist keine allge- meine Lohnuntergrenze vorgesehen. Deswegen wird das Dabei hat der Mindestlohn seine Praxistauglichkeit Gesetz in vielen Bereichen, wo es dringend gebraucht längst unter Beweis gestellt. Er hat sich bewährt. Ich wird, nicht wirken. sage es noch einmal ganz deutlich: Wir brauchen einen Mindestlohn in Deutschland, und zwar dringend. Ich be- Ich sage Ihnen: Für mich ist der Qualitätsmaßstab für fürchte allerdings, dass die vorgelegten Gesetzentwürfe dieses Gesetz der Wirkungsgrad. Die Frage ist also: Wie nicht wirklich dabei helfen, dass wir diesem Ziel fak- viele Menschen werden von den Regelungen dieses Ge- tisch näherkommen. Das will die eine Seite dieses Hau- setzes tatsächlich profitieren? Die Antwort ist: Dieses ses ganz offensichtlich auch gar nicht. Herr Oettinger Gesetz hat den Wirkungsgrad eines alten Atommeilers. stellt sich hin und sagt ganz freimütig: Ich will so wenig Es wird nicht wirklich etwas bringen. Wir werden das Mindestlohn wie möglich in so wenigen Branchen wie Gesetz nicht abschalten, sondern es verändern und irgend möglich. – So sieht das Gesetz auch aus. Hier ha- verbessern. Wir werden Änderungsanträge zu unter- ben wir die Situation, dass die CDU ein Mindestlohnge- schiedlichen Punkten stellen. Wir wollen eine allge- setz zwar mitunterschreiben wird, aber dieses Gesetz da- meine Lohnuntergrenze. Wir wollen die Einrichtung ei- von gekennzeichnet ist, dass es so wenig wie möglich ner Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild. greift und so wenig wie möglich Anwendung finden (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das werden Sie uns wird. aber nicht mehr alles erzählen können!) (B) (D) Ich will das an ein paar Punkten deutlich machen. Welche Branchen jetzt tatsächlich zusätzlich ins Ent- Präsident Dr. Norbert Lammert: sendegesetz aufgenommen werden, steht doch in den Frau Kollegin, ich hatte Sie vorhin leichtfertigerweise Sternen. Sie, Herr Struck, haben Anfang des Jahres im- für die Einhaltung der Redezeit gelobt. Ich möchte Sie mer wieder formuliert, Sie gingen davon aus, dass nun aber vorsichtig auf dieselbe hinweisen. 4,4 Millionen Menschen von der Einführung des Min- destlohns profitieren werden. – Darauf deutet allerdings Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nichts, aber auch gar nichts hin. Bis jetzt haben sich acht Branchen gemeldet, das sind 1,7 Millionen Beschäftigte. Aber hier ist angezeigt, dass ich noch über eine Mi- Eine große Gruppe unter ihnen, nämlich 700 000 Men- nute habe. schen, sind Zeitarbeiter. Da hat aber die Union schon (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Davor steht ein gesagt: Zeitarbeiter? Njet! Diese Gruppe wird nicht vom Minus!) Gesetz erfasst. – Genau so wird das weitergehen. Eine Branche nach der anderen wird von Ihnen abgelehnt, weil Sie dieses Mindestlohngesetz, so wie das Oettinger Präsident Dr. Norbert Lammert: formuliert, gar nicht wollen. Ich sage Ihnen: Auf diesem Umgekehrt. Gesetzentwurf steht zwar „Scholz“ drauf, aber da ist (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – „Glos“ drin. Deswegen wird es auch keine Wirkung ent- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Diese Sou- falten. veränität durchzieht Ihre ganze Rede!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er ist noch nicht Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einmal da und wird gelobt!) Dann komme ich jetzt zum Schluss. – Lassen Sie mich noch Folgendes sagen: Beim Mindestlohn geht es Ich komme zu einem weiteren Punkt, der hier schon um mehr als eine gesetzliche Regelung für Niedriglohn- angesprochen worden ist. Ich frage Sie: Was hat die be- empfänger. Der Mindestlohn ist auch ein Symbol für die rühmte Friseurin in Sachsen, die laut Tarifvertrag Frage, ob die Politik bereit ist, sich als Schutzmacht der 3,06 Euro die Stunde verdient, von diesem Gesetz? Für kleinen Leute einzusetzen. diese junge Frau ändert sich nichts, aber auch gar nichts. Das liegt daran, dass Sie in diesem Gesetz festgeschrie- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So wie die ben haben, dass bestehende Tarifverträge dauerhaft wei- Grünen zu ihrer Regierungszeit!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19435

Brigitte Pothmer (A) Herr Brauksiepe, wenn Sie sagen, das sei ein urchristli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – (C) ches Anliegen, dann müssen Sie dieses Gesetz dringend Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auch die Zeit- verbessern. arbeit?) Ich danke Ihnen. Ich bin froh, dass es Bewegung gibt. Denn wir haben hier eben über die Schuldfrage diskutiert: Wieso? Wer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war schuld? – Ich muss hinzufügen: Ich war in der letz- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ten Legislaturperiode nicht im Bundestag. (Dirk Niebel [FDP]: Das war eine gute Zeit!) Präsident Dr. Norbert Lammert: – Das war eine gute Zeit. Ich lasse mir dann einmal ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, entsprechend dem nauer berichten, Herr Niebel, wie das war. – Es geht hier Thema der Debatte will ich noch einmal darauf hinwei- aber nicht um Schuld, sondern um die Frage: Haben wir sen, dass es sich bei den vereinbarten Redezeiten nicht eigentlich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland um Mindestzeiten handelt. Mindestlöhne gebraucht? Ich betone: Wir haben starke Sozialpartner, die für das Gemeinwohl und für soziale (Heiterkeit) Demokratie gestanden haben. Wir hatten über Jahr- Jetzt hat die Kollegin Nahles für die SPD-Fraktion das zehnte eine hohe Tarifautonomie und hohe Tarifbindung. Wort. Ich kann mich gut erinnern, dass ich im Gewerkschafts- rat meiner Partei Monate gebraucht habe, um die ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sind schuld, schiedenen Einzelgewerkschaften Ende 2005 beim Min- Frau Nahles! Mit den Grünen hätten Sie das destlohn auf eine gemeinsame Position zu bringen. Erst alles machen können!) in dem Moment, als klar wurde – auch meiner IG Metall, die in Lohngruppe 1 11 Euro Stundenlohn vorsieht, Andrea Nahles (SPD): (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Und das in der Das ist jetzt natürlich eine schwere Bürde. – Herr Prä- Metallindustrie!) sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema und der IG BCE –, dass die Tarifbindung in vielen passt gut in diese außerordentliche Woche, weil wir in Branchen mittlerweile so schwach ist, dass starke Ge- dieser Woche ein Rettungspaket für die Banken, für un- werkschaften ihre Kraft schwächeren leihen müssen, da- sere Wirtschaft und für unsere Unternehmen auf den mit es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Weg bringen müssen. Hinter dieses Rettungspaket ge- diesem Land insgesamt besser geht, haben wir eine (B) hört aus Sicht der Sozialdemokraten ein Doppelpunkt handlungsfähige Struktur branchenbezogener Mindest- (D) und kein Punkt, weil es auch darum gehen muss, die löhne gemeinsam geschaffen. Schutzfunktion und die Stärke, die wir als Staat dem Bankensektor leihen, natürlich auch den Arbeitnehme- (Beifall bei der SPD) rinnen und Arbeitnehmern zugutekommen zu lassen. Das scheint mir keine Schuldfrage zu sein, sondern Genau darum geht es beim Thema Mindestlohn und den eine Frage der Entwicklung in diesem Land. In West- Gesetzentwürfen, die hier heute auf dem Tisch liegen. deutschland sind nur noch 52 Prozent und in Ostdeutsch- land nur noch 33 Prozent der Arbeitnehmerinnen und (Beifall bei der SPD) Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern be- Ich denke zum Zweiten, dass wir mit den beiden Ge- schäftigt. setzentwürfen einen großen Schritt machen. Ich bedanke (Dirk Niebel [FDP]: Wie viele von denen sind mich ausdrücklich beim Bundesarbeitsminister dafür, in der SPD?) dass er hier in der Ressortabstimmung eine solide Grundlage geschaffen hat. Wir haben nun die Chance, Was ist das für eine bittere Zahl? Das ist ein Rückgang neben den 1,8 Millionen Menschen, die im Baubereich, um 14 Prozentpunkte in den letzten zehn Jahren. Der in der Gebäudereinigung und im Postbereich bereits Sockelabbau in Westdeutschland ist immer noch nicht Mindestlohn haben, in diesem Jahr weiteren 1,6 Millio- gestoppt. Deswegen brauchen wir flächendeckende Min- nen Menschen den Schutz von Mindestlöhnen zu bieten. destlöhne in diesem Land. Darum muss es uns gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen sagen wir für die SPD – auch an die Damit werden Sie die Gewerkschaften nicht Adresse unseres Koalitionspartners –, dass es darum ge- stärken!) hen muss, die vereinbarten Kriterien in diesem Gesetz daraufhin zu prüfen, ob sie auf die acht Branchen, die Ich weise darauf hin, dass es auch keine – man könnte sich gemeldet haben, passen. Nach unserer Einschätzung ja sagen, man hätte das durch Haustarifverträge auffan- ist es so, dass diese acht Branchen die Kriterien erfüllen. gen können – Zunahme von Haustarifverträgen gibt. Das Es gibt da noch einiges zu diskutieren. Aber wir – das ist wäre ja noch eine Möglichkeit, aber auch das ist nicht die erste Prüfung, die wir gemacht haben – gehen davon der Fall. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir aus, dass alle diese acht Branchen die Kriterien erfüllen da, wo es besonders dringend ist, zum Beispiel in der und deswegen Mindestlöhne in acht Branchen eingeführt Zeitarbeitsbranche, den Unterbietungswettbewerb bei werden. den Löhnen stoppen. Keine Branche erfüllt die Kriterien 19436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Andrea Nahles (A) unserer Gesetze so einwandfrei wie die Zeitarbeitsbran- sondern dabei handelt es sich um einen europäischen (C) che. Binnenmarkt für Arbeitskräfte. Als ich neulich beim Zentralverband des Deutschen Handwerks war, habe ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erstaunlicherweise festgestellt, dass sehr wohl viele des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Handwerker und Handwerksbetriebe Mindestlöhne be- Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, warum diese fürworten, und zwar deshalb, weil dadurch Wettbe- Branche nicht einbezogen werden sollte. werbsverzerrungen verhindert werden können. Beim Mindestlohn geht es nämlich auch darum, die Mittel- Ich bin an dieser Stelle so frei und zitiere jetzt die ständler zu schützen, auch im Hinblick auf den ab 2011 Vollversammlung des Katholikenrates aus meinem Bis- geltenden europäischen Arbeitsmarkt. tum Trier. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das überzeugt Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ralf Brauksiepe besonders!) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Andrea Nahles, Der Katholikenrat des Bistums Trier schreibt: die Schutzherrin des deutschen Handwerks! Das ist wunderbar!) Es gilt zu verhindern, dass Lohndumping zum do- minierenden Geschäftsmodell wird und die Skru- Die Anträge liegen auf dem Tisch, und die Argumente pellosen die Sozialstandards in unserem Land be- sind bekannt. Nun geht es nur noch darum, zu prüfen, ob stimmen. die erforderlichen Kriterien erfüllt werden oder nicht. Jetzt müssen sich diejenigen, die wir dazu aufgefordert Das ist genau das, worum es in dieser Frage geht. haben, Anträge zu stellen, auch darauf verlassen können, Wir haben die Beschäftigungsschwelle in den letzten dass wir die Kriterien sauber prüfen und den Anträgen Jahren gesenkt; das ist auch gut so. Das wird in den dann, wenn die Kriterien erfüllt sind, auch zustimmen. nächsten Jahren, in denen es wahrscheinlich eine wirt- Im Übrigen brauchen wir einen flächendeckenden Min- schaftliche Stagnation, wenn es nichts Schlimmeres ge- destlohn. ben wird, wichtig sein. Ich stehe dazu, dass wir die Be- schäftigungsschwelle gesenkt haben. Wir haben aber Vielen Dank. niemals das Ziel von Armutslöhnen verfolgt. Im Gegen- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb teil, zu Zeiten von Rot-Grün haben wir Armutslöhne im- [FDP]: Aha! Flächendeckend sogar! Das wird mer bekämpft. Das sage ich, damit auch das hier ein für ja immer besser!) allemal klargestellt ist. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nun hat der Kollege Dirk Niebel das Wort für die Wie war das doch gleich mit Ihren konkreten FDP-Fraktion. Maßnahmen?) (Beifall bei der FDP) Eine weitere Branche, die für uns wichtig ist, ist der Pflegebereich. Ich freue mich, dass Herr Neher, der Prä- sident des Deutschen Caritasverbandes, eine angemes- Dirk Niebel (FDP): sene Bezahlung im Pflegebereich im letzten Monat aus- Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten drücklich begrüßt hat. In dieser Frage brauchen wir die Damen und Herren! Die Diskussion über die beiden Kirchen, um das Kriterium der 50-prozentigen Tarifbin- Mindestlohngesetze, die die Bundesregierung heute vor- dung zu erfüllen. Im Pflegebereich besteht Regulie- legt, zeigt, was im nächsten Jahr auf die Menschen in rungsbedarf; das stellen mittlerweile alle fest. Daher ap- diesem Land zukommen wird. pelliere ich an die Beteiligten: Jetzt müssen sich alle aufeinander zubewegen – auch Verdi und die Kirchen –, (Zuruf von der SPD: Gutes!) damit wir eine Lösung für die 600 000 Menschen im Es kommt zu einem ideologischen Schlagabtausch mit Pflegebereich finden. einem Wettbewerb darum, wer am meisten zu bieten hat. In Richtung FDP möchte ich sagen: Wettbewerb ist All denen, die den Linken auf den Leim gehen, sage ich: immer gut. Aber Wettbewerb auf Kosten der Pflegebe- Sie können gar nicht so schnell rennen, wie die schon dürftigen darf es in diesem Land nicht geben. Deswegen unterwegs sind. Egal was die vorschlagen, Sie werden ist es dringend erforderlich, dass wir für den Pflegebe- mit Ihren Vorschlägen immer darunter bleiben. Deswe- reich einen Mindestlohn organisieren. gen sollten wir wieder ein bisschen wirtschaftspolitische Vernunft in diese Diskussion einbringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des (Beifall bei der FDP) Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Auch wenn Frau Nahles sagt, der geringe Organisa- Ich komme zum Schluss. Ab dem Jahr 2011 wird die tionsgrad im Osten gebiete zur Stärkung der Tarifauto- volle Freizügigkeit gelten; das ist nicht mit FKK zu ver- nomie Mindestlöhne, wechseln, (Andrea Nahles [SPD]: Auch im Westen! Das (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) habe ich doch gesagt!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19437

Dirk Niebel (A) bleibt es ein Fakt, dass man mit Mindestlöhnen keinen wegen haben wir das Arbeitslosengeld II als Ergänzung. (C) Menschen motiviert, in eine Gewerkschaft einzutreten. Das ist faktisch der Mindestlohn in Deutschland. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Andrea Nahles [SPD]: Was sind das denn für NEN]: Da zeigt sich wieder einmal die tiefe Beispiele!) Sorge der FDP um die Gewerkschaften!) – Sie können sehr gerne eine Zwischenfrage stellen. Denn warum sollte man sich noch von einer Gewerk- schaft vertreten lassen, wenn es schon der Staat macht? Es wird darüber lamentiert, dass es in Deutschland Aufstocker gibt. Hier müssen wir mehr Seriosität in die Auf der anderen Seite – das kennzeichne ich gerne als Diskussion bringen. Wenn jemand Vollzeit arbeitet und Werbeblock –: Wer sich die Rede der Kollegin Pothmer zusätzlich Arbeitslosengeld II benötigt, dann wird das angehört hat, hat festgestellt, dass die Stimme der Bürge- von Ihnen beklagt, weil er nicht von seinem eigenen rinnen und Bürger bei der FDP offenkundig am besten Lohn leben kann. Fakt ist allerdings, dass die Hälfte der angelegt ist. All das, was wir hier durchgesetzt oder ver- vollzeitbeschäftigten Aufstocker einen Stundenlohn von hindert haben, obwohl wir schon seit zehn Jahren gar 9 Euro und mehr hat und dass insgesamt zwei Drittel der nicht mehr regieren, zeigt, dass wir wirklich eine sehr ef- Aufstocker einen Stundenlohn von über 7,50 Euro ha- fiziente Politik machen. ben; das stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) schung fest. Was Sie uns dargeboten haben, ist realitätsfern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die haben eine Familie und Kinder!) Es bleibt dabei: Mindestlöhne sind maximaler Un- sinn. Wenn sie zu niedrig sind, wirken sie nicht. Wenn Höchstens 15 000 vollzeitbeschäftigte alleinstehende Men- sie zu hoch sind, vernichten sie Arbeitsplätze in der le- schen haben einen zu geringen Stundenlohn und müssen galen Wirtschaft im Inland, gerade solche für Gering- deshalb aufstocken. qualifizierte oder diejenigen Menschen, denen wir am Jetzt lassen Sie uns einmal ehrlich sein. Es geht doch ehesten eine Chance geben sollten, in Arbeit zu kom- gar nicht um Mindestlöhne. Was nützt einem ein hoher men. Bruttomindestlohn, wenn netto zu wenig übrig bleibt? – (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es geht um den Nettolohn. Diese Nettofrage müssen wir NEN]: Was ist mit Frankreich, England, Bel- beantworten, gien und den Niederlanden?) (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Wie (B) Ich kann Ihnen das auch begründen, liebe Kollegin viele von denen zahlen denn Steuern?) (D) Pothmer. Ich weiß ja, dass man, wenn man bei den Grü- nen ist, jetzt mächtig nach links rücken muss. An den und gerade jetzt müssen wir den Menschen und Betrie- Wahlergebnissen Ihres Fraktionsvorsitzenden in Baden- ben mehr vom selbst verdienten Geld übrig lassen. Ge- Württemberg wird deutlich, dass man bei den Grünen rade jetzt dürfen wir nicht den Fehler begehen, vor dem nur noch als Linker wieder aufgestellt wird. Hintergrund der Finanzkrise plötzliche alle Schleusen zu öffnen. Jetzt müssen die Bürger entlastet werden. Jetzt Fakt ist, dass ein Arbeitgeber, egal wie sozial er ein- brauchen wir eine Diskussion über Mindesteinkünfte, gestellt ist, einem Arbeitnehmer nicht mehr Geld zahlen nicht aber über Mindestlöhne. kann, als dieser erwirtschaftet. Das ist vielleicht über ei- nen begrenzten Zeitraum möglich. Wenn der Arbeitge- (Beifall bei der FDP) ber dies aber zu lange macht, gefährdet er dadurch alle Die Liberalen haben hierfür einen Vorschlag gemacht. anderen Arbeitsplätze in seinem Betrieb. Das ist unso- Wir nennen das unser liberales bedarfsorientiertes Bür- zial. gergeld. Es ist eine Verbindung des Steuersystems mit (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb dem Transfersystem, bei der die steuerfinanzierten Trans- [FDP]: Das ist richtig! Damit fängt das ganze ferleistungen, die es heute ohnehin schon gibt – diese Schlamassel an!) werden von 136 verschiedenen Leistungen gespeist und von über 40 Behörden verwaltet werden –, mit dem Eine ideologisierte Diskussion bringt uns an dieser Stelle Steuersystem kombiniert werden. nicht weiter. Ich sage ausdrücklich, dass es ein bedarfsorientiertes Jeder in diesem Haus, wahrscheinlich auch jeder Bürgergeld ist. Es soll kein bedingungsloses Grundein- Fernsehzuschauer und jeder Besucher auf der Tribüne kommen sein. Bedingungslosigkeit ist leistungsfeind- würde doch emotional den Satz unterstützen: Wer arbei- lich. Bedingungslosigkeit bedeutet nämlich, dass der tet, soll von seinem Lohn leben können. Das ist doch Lotto-Millionär genauso von den Steuergeldern der Flei- nicht der Punkt. Der Punkt ist doch, dass jeder Mensch schereifachverkäuferin profitieren könnte wie derjenige, eine bestimmte Produktivität hat. Es gibt allerdings der hartnäckig Arbeit verweigert. Deswegen wollen wir Menschen – das sind gar keine schlechten Menschen, eine Bedarfsorientierung beim Bürgergeld. sondern welche, um die wir uns kümmern müssen –, die mit ihrer Produktivität nicht die Wirtschaftsleistung er- In diesem Punkt hat sich der abgewählte Kanzler, der zielen können, die wir für ein menschenwürdiges und Gasmann aus Hannover, einmal geirrt. Er hat hier einmal selbstbestimmtes Leben als ausreichend ansehen. Des- gesagt, es gebe kein Recht auf Faulheit. Das stimmt na- 19438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dirk Niebel (A) türlich nicht. In einer freien Gesellschaft gibt es aus- (Dirk Niebel [FDP]: Ich habe 16 Sekunden ge- (C) drücklich auch ein Recht auf Faulheit. schenkt!) (Zuruf von der SPD: Das verteidigt die FDP!) Nun hat der Kollege Max Straubinger für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. Es gibt allerdings nicht den Anspruch darauf, dass die Allgemeinheit die Faulheit finanzieren muss. Und das (Beifall bei der CDU/CSU) spricht für die Bedarfsorientierung und gegen die Bedin- gungslosigkeit. Max Straubinger (CDU/CSU): (Beifall bei der FDP – Andreas Steppuhn Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! [SPD]: Darum geht es gar nicht! Herr Niebel, Dass gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig sind, es geht um Mindestlöhne!) zeigen die bevorstehenden Beschlüsse dieser Woche, und hier pflichte ich ausdrücklich bei, dass diese für Wir brauchen ein Mindesteinkommen, das in einem viele Bereiche in unserem Leben, in unserer Gesellschaft kombinierten Steuer- und Transfersystem das soziokul- und sicherlich auch für einzelne Bereiche unseres Ar- turelle Existenzminimum gewährleistet, Anreize schafft, beitsmarktes notwendig sind. eine Arbeit auch dann, wenn sie gering entlohnt ist, auf- zunehmen, und die Chance eröffnet, durch eigene Leis- Ich möchte mit dem beginnen, was der Kollege tung in diesem System aus der Transferleistung heraus- Brauksiepe bereits dargestellt hat: Den Schutz der Ar- zukommen und in die Steuerpflicht hineinzuwachsen beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, den Schutz der Ar- und sich den größten Teil seines Lebensunterhaltes beitsplätze in unserem Land und den Schutz eines guten durch eigene Arbeit zu finanzieren. und ausreichenden Einkommens für die Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer erreicht man dadurch, eine gute (Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Wirtschaftspolitik zu betreiben, wie das die Bundesre- Das ist ja unglaublich!) gierung unter Bundeskanzlerin und Bun- Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich deswirtschaftsminister auch getan haben, mit vollem Selbstbewusstsein: Die Freie Demokratische indem sie die Grundlagen dafür gelegt haben, dass jetzt Partei ist die Partei der sozialen Verantwortung, 2 Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jahren, zu Beginn der Arbeit dieser Bundesregierung, zu verzeich- (Lachen bei der LINKEN) nen sind. Dies ist meines Erachtens etwas Entscheiden- des, das immer wieder darzustellen ist. weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeit zumindest teilweise (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (B) selbst finanzieren können. Deswegen brauchen wir die- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (D) ses Bürgergeld als kombiniertes Steuer- und Transfersys- In der Vergangenheit und auch in der heutigen Dis- tem, wie wir es vorschlagen. kussion ist in manchen Redebeiträgen angeklungen, dass Vielen herzlichen Dank. niedrige Löhne Armut bedeuten und dass Armut be- kämpft werden muss, worin wir alle übereinstimmen. Ich (Beifall bei der FDP – Andreas Steppuhn sage aber auch ganz deutlich: Die Lohnpolitik kann die [SPD]: Gut, dass das die Menschen anders se- Sozialpolitik nicht ersetzen; denn die Lohnpolitik – hier hen!) stimme ich durchaus mit dem Kollegen Niebel überein – muss sich an der Produktivität in unserem Land orien- Präsident Dr. Norbert Lammert: tieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da es eine eigendy- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) namische Entwicklung von Zwischenfragen und Kurzin- terventionsmeldungen gibt, möchte in aller Ruhe auf Dies ist sicherlich eine Grundlage dafür, dass es ver- Folgendes aufmerksam machen: Wir haben zu Beginn nünftige Löhne gibt. Diese wird es nur mit starken Tarif- dieser Debatte 90 Minuten Redezeit vereinbart; diese partnern geben. Es gilt, diese in unserem Land zu stär- sind jetzt fast vorbei. Mir liegen jetzt noch angemeldete ken. Damit es in Deutschland eine gute Lohnfindung für vereinbarte Redezeiten von fast einer halben Stunde vor. unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben kann, sind die Gewerkschaften genauso wie die Tarif- Wir können natürlich so verfahren, dass wir gewisser- partner der Arbeitgeber zu stärken. maßen die selbst getroffenen Vereinbarungen zur Rede- zeit schon beim ersten Tagesordnungspunkt atomisieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann dürfen wir uns jedoch nicht darüber beklagen, dass wir am Ende nicht in der Lage sind, eine Tagesordnung Deshalb sagen wir Ja zu gesetzlichen Rahmenbedin- abzuwickeln, die wir miteinander vereinbart haben. gungen, zu den Möglichkeiten nach dem Arbeitnehmer- Entsendegesetz und zu den Möglichkeiten nach dem Ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist gerade so setz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingun- schön, Herr Präsident!) gen. In der Vergangenheit haben viele Parteien hier ge- sagt, dies mitregeln zu wollen. Das gilt nicht nur für die Deswegen werde ich jetzt restriktiv mit der Zulassung CDU als soziale Partei, für die CSU als soziale Partei solcher Zwischenfragen und Kurzinterventionen umge- und für die SPD, sondern genauso hat auch die FDP hen, die mir nicht in jedem Fall zwingend erforderlich erscheinen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Soziale Partei!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19439

Max Straubinger (A) hier in der Vergangenheit ihren Beitrag geleistet. Der ist. Es kann doch nicht so weit gehen, dass zwar wie mitt- (C) Kollege Brauksiepe hat das bereits dargestellt: Auch der lerweile in Frankreich ein hoher gesetzlicher Mindest- ehemalige Staatssekretär Heinrich Kolb hat hier seinen lohn garantiert ist, aber kleine und mittlere Betriebe vom Beitrag geleistet. Staat bei der Zahlung der Mindestlöhne unterstützt wer- den müssen, um Beschäftigung zu sichern. Ich glaube, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe mich das wäre eine weitere Fehlleistung in der Festsetzung enthalten, Herr Kollege Straubinger! Ich habe von gesetzlichen Rahmenbedingungen. Deshalb werden nicht dafür gestimmt!) wir die beiden Gesetzentwürfe in den kommenden Wo- Das gilt es jetzt fortzusetzen, und zwar mit diesen bei- chen und Monaten sehr intensiv diskutieren und heraus- den Gesetzentwürfen, die heute vorgestellt worden sind. finden, welche Branchen mit aufgenommen werden Ich möchte ausdrücklich festhalten: Durch sie muss und müssen. Hier gibt es keinen Automatismus. Wir werden wird eine Stärkung der Tarifautonomie bewirkt werden. sicherlich gute und vernünftige Lösungen dafür finden. Die Tarifpartner sind aufgefordert, besonders darauf zu Ich fordere alle auf und bitte Sie, sich an der Diskus- achten, auch zukünftig gute und vernünftige Tarifab- sion zu beteiligen. Es geht darum, den Menschen eine schlüsse im Sinne der Beschäftigung und der Beschäf- gute Grundlage für sichere Arbeitsverhältnisse in unse- tigten zu erreichen. rem Land zu schaffen. Damit dürfen aber wirtschaftliche Deshalb wenden wir uns dezidiert gegen gesetzliche Möglichkeiten nicht abgewürgt werden. Die Wirtschaft Mindestlöhne, die von einem Gesetzgeber verordnet muss weiter einen Aufschwung erleben, damit die Ar- werden, der weit von der Tariflandschaft entfernt ist. beitsplätze gesichert werden. Kollege Brauksiepe hat das ja dargestellt: Im Westen Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. gibt es eine andere Situation als im Osten, der an die öst- lichen Länder in Europa grenzt. Darum gibt es auch eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehr differenzierte Tariflandschaft, in die kein hoher ge- neten der SPD) setzlicher Mindestlohn passt, sondern es muss differen- zierte Möglichkeiten geben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich glaube, mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz Die Kollegin Kramme ist die nächste Rednerin für die gibt es die beste Möglichkeit, dies auf Branchen abzu- SPD-Fraktion. stellen und die einzelnen Erfordernisse in diesen Bran- chen aufzunehmen, um sicherlich auch gesetzliche Un- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) terregelungen zu treffen, wobei aber auch festzustellen (B) ist: Es gibt Branchen, für die wir gesetzliche Unterrege- Anette Kramme (SPD): (D) lungen und Mindestregelungen getroffen haben. Da- Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- durch wird aber noch lange nicht garantiert, dass damit legen! Wir setzen heute Grundpfeiler für Mindestlöhne auch die Arbeitsplätze erhalten werden. In der Bauindus- in Deutschland. Wir können auf der Aufgabenliste, die trie hat sich die Anzahl der Arbeitsplätze halbiert, ob- wir als Koalition vereinbart haben, einen weiteren Ha- wohl es eine Entsenderegelung gibt. Das muss man ein- ken machen. Es ist ein sozialer Fortschritt für den Ar- fach sehen. beitsmarkt, und es ist ein Erfolg für die Koalition, vor al- len Dingen für den sozialdemokratischen Teil dieser (Dirk Niebel [FDP]: 44 000 Arbeitsplätze! – Großen Koalition. Andreas Steppuhn [SPD]: Das hat damit nichts zu tun!) (Beifall bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Na, na!) Ich möchte nur darauf hinweisen, dass eine soge- nannte Mindestregelung nicht unbedingt auch eine Vor einigen Tagen hat mir ein kleines Mädchen ihr Schutzfunktion beinhaltet. Da die Rednerinnen und Red- Freundschaftsbuch gereicht. Beim Durchblättern bin ich ner heute vielfältig dargelegt haben, dass es in vielen eu- auf den Eintrag ihres Lehrers gestoßen. Darin stand ein ropäischen Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn Satz, den ich schön fand: „Das Gras wächst nicht schnel- gibt, möchte ich fragen, welche Auswirkungen solche ler, wenn man daran zieht.“ Diese Weisheit erinnert ein gesetzlichen Mindestlöhne haben. Frankreich wurde wenig an die Verfahrensabläufe beim Arbeitnehmer-Ent- heute häufig angeführt. Man muss einfach feststellen, sendegesetz und beim Mindestarbeitsbedingungenge- dass in Frankreich eine weit höhere Arbeitslosigkeit als setz. in Deutschland zu verzeichnen ist. Beide Gesetze wurden schon vor einiger Zeit auf den (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) Weg gebracht: Das eine Pflänzchen wurde in den 50er- Jahren, das andere in den 90er-Jahren gesetzt. Das eine In Frankreich ist vor allen Dingen eine sehr hohe Ju- kümmerte ein wenig vor sich hin; das andere wuchs un- gendarbeitslosigkeit zu verzeichnen. ter der sozialdemokratischen Regierung recht ordentlich. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt da- Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat die Pflänzchen von!) nun eifrig gegossen, um ihnen zu einem besseren Gedei- hen zu verhelfen. Auch das zeigt sehr deutlich, dass hohe Mindestlöhne ein Eintrittshemmnis ins Erwerbsleben bedeuten kön- (Dirk Niebel [FDP]: Und Sie hören das Gras nen. Ich bin überzeugt, dass dies letztlich eine Tatsache wachsen!) 19440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Anette Kramme (A) Die Opposition hat Anträge gestellt. Sie hat sozusa- nes zuvor gemeinsam abgeschlossenen Tarifvertrages. (C) gen an den Halmen gezogen, und trotzdem erfolgte das Mindestlöhne liegen auch im Interesse der Arbeitgeber, Wachstum nicht schneller. Die Arbeitgeberverbände und nämlich solcher, die anständige Löhne zahlen wollen die Union, insbesondere Bundesminister Glos, trampel- ten auf der Wiese und versuchten, den Rasen möglichst (Dirk Niebel [FDP]: Dann brauchen sie keine kurz zu mähen. Mindestlöhne!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch und die Sorge wegen der Dumpingkonkurrenz haben, Maulwürfe, die ihre Hügel graben!) die ihnen gegenübertritt. Wirtschaftlicher Erfolg in der Bundesrepublik Deutschland darf nicht auf Ausbeutung Die klimatischen und politischen Bedingungen waren von Menschen beruhen. nicht ganz einfach. Aber nun – kurz nach dem Ernte- Beide Gesetze sind geeignete Instrumente gegen dankfest – sehen wir einige Fortschritte: Der Rasen sieht Armutslöhne. Wir müssen nun die Klaviatur spielen, sehr ordentlich aus. Von blühenden Landschaften zu müssen die Instrumente nutzen. Das bedeutet, dass wir sprechen, ist vielleicht ein wenig vorschnell, aber es drei Dinge vorzunehmen haben. Erstens. Wir müssen die bleibt festzuhalten: Unser Rasen steht in saftigem, fet- vorliegenden Gesetzentwürfe verabschieden. Zweitens. tem Grün. Wir müssen schnellstmöglich die Ausschüsse nach dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Mindestarbeitsbedingungengesetz einsetzen. Drittens. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt muss der Alle Branchen, die Anträge gestellt haben, müssen – vor Rasen nur noch rot lackiert werden!) allen Dingen das ist relevant – in das Arbeitnehmer-Ent- sendegesetz aufgenommen werden. Es ist auch höchste Zeit, dass wir etwas tun. Millio- nen von Arbeitnehmern erhalten Armutslöhne. 6Pro- Herr Brauksiepe, Sie haben gesagt, ein Mindestlohn zent der Erwerbstätigen sind arm. 370 000 Vollzeitar- sei bei der Zeitarbeit wegen der hohen Tarifbindung beitnehmer beziehen zusätzlich zum Lohn Leistungen nicht erforderlich. Dazu kann ich nur sagen: Das nach dem SGB II. stimmte vielleicht, wenn vermeintliche Gewerkschaften gewerkschaftlichen Aufgaben nachkämen, wenn es in Niemand kann vor diesen Fakten seine Augen ver- diesen Gewerkschaften Arbeitnehmer gäbe, die für ihre schließen. Niemand – auch Sie nicht, Herr Kolb – kann Interessen auch streikten. Wenn sie aber lediglich Erfül- behaupten, dass kein Handlungsbedarf besteht. Niemand lungsgehilfen der Arbeitgeber sind, dann macht man den kann gegen eine Ordnung des Niedriglohnsektors sein. Bock zum Gärtner. Eine solche Ignoranz, Herr Kolb, wäre einfach nur zy- nisch. In diesem Sinne ganz herzlichen Dank. (B) (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Gesetz (Beifall bei der SPD) stammt von Ihnen, Frau Kramme!) Selbst in Zeiten des Aufschwungs ist der Niedrig- Präsident Dr. Norbert Lammert: lohnsektor nicht wesentlich kleiner geworden. Wir ha- Das Wort erhält der Kollege Paul Lehrieder, CDU/ ben es nun mit einer sich ausweitenden Finanzmarkt- CSU-Fraktion. krise zu tun. Möglicherweise droht eine Rezession. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) als Politiker haben die Verantwortung, dagegen Vorsorge zu treffen. Dazu gehören auch Mindestlöhne. Ist es nicht sehr schön, eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter Paul Lehrieder (CDU/CSU): sich zu wissen? 80 Prozent der Menschen in der Bundes- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Her- republik Deutschland wollen Mindestlöhne. ren! Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Ich möchte noch ein Sprichwort voranstellen: Halbwahrhei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten sind oft schlimmer als Lügen. Wir haben in der Dis- Sie wollen keine ideologische Blockadehaltung, wie sie kussion sehr viel von Mindestlöhnen – diese gibt es be- hier manchmal zu sehen ist. reits in Deutschland – gehört. Herr Dreibus, Sie haben moniert, dass die Lohnhöhe nicht gesetzlich geregelt ist, Die Grundsätze des Mindestarbeitsbedingungengeset- und haben mehrfach – völlig zu Recht – auf den franzö- zes und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sind be- sischen Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro hingewie- kannt. Weniger als 50 Prozent Tarifbindung bedeutet sen. Der Kollege Niebel hat gesagt, jeder solle von sei- Mindestarbeitsbedingungengesetz. Mehr als 50 Prozent nem Lohn leben können. Wir sollten das Ganze näher Tarifbindung bedeutet Arbeitnehmer-Entsendegesetz. betrachten. Gerade für die Zuschauerinnen und Zu- Wir nehmen keine politische Lohnfestsetzung vor. Ich schauer auf der Tribüne und an den Fernsehgeräten be- finde, das gehört sich aus Respekt vor den Gewerkschaf- darf es der Klarstellung. Wir müssen definieren, wer ten und der Wirtschaft so. Nach dem Mindestarbeitsbe- mit „jeder“ gemeint ist. Haben Sie damit den alleinste- dingungengesetz wird der Hauptausschuss mit Gewerk- henden, vollbeschäftigten Single gemeint? Dann haben schaftern und Vertretern der Wirtschaft besetzt. Gleiches Sie recht. Diesem können Sie mit 8,71 Euro – ich gehe gilt für den kleineren Ausschuss, der die Höhe der Min- noch etwas weiter und verweise auf den luxemburgi- destlöhne festsetzt. Nach dem Arbeitnehmer-Entsende- schen Mindestlohn in Höhe von 9,30 Euro – eine Exis- gesetz gilt Ähnliches. Gewerkschafter und Arbeitgeber tenzsicherung verschaffen. Es geht aber auch um den Fa- beantragen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ei- milienvater, dessen Frau wegen der Erziehung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19441

Paul Lehrieder (A) minderjährigen Kinder – das gibt es noch in Deutschland – findet sich das Ziel, entschieden gegen Billiglohnkon- (C) zu Hause bleibt. Dieser würde mit dem französischen kurrenz aus dem Ausland, Dumpinglöhne und ruinöse Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro und erst recht mit Konkurrenz für mittelständische Betriebe vorzugehen. dem luxemburgischen Mindestlohn in Höhe von Wir wollen verhindern, dass unfairer Wettbewerb insbe- 9,30 Euro in Deutschland besser fahren. Er bekäme in sondere die hier ansässigen kleinen und mittleren Unter- Deutschland zu den 9,30 Euro als Aufstocker noch etwa nehmen und damit eine große Zahl von Arbeitsplätzen 3 Euro hinzu. Das heißt, wenn wir über die Höhe des gefährdet. Für die Union haben der Schutz der Tarif- Mindestlohns diskutieren – egal ob es um 8,71 Euro, autonomie und ein fairer Wettbewerb Vorrang vor staat- 9,30 Euro oder sogar um 9,50 Euro geht –, dann geht es licher Lohnfestsetzung. Es ist unser Ziel, mit dem bis- immer nur um den alleinstehenden Singlehaushalt. herigen Vorgehen in Bezug auf tarifvertragliche Mindestlohnvereinbarungen die Tarifvertragsparteien zu Frau Pothmer, Sie haben ausgeführt, durch unsere re- stärken. Wir wollen und dürfen sie nicht ersetzen. Wenn striktive Haltung gegenüber dem Mindestlohn würden es darum gehen soll, sittenwidrig niedrige Löhne für die wir Geringverdienern den Schutz verweigern. Sie ha- Zukunft unmöglich zu machen, muss die Politik gemein- ben zur Höhe des Mindestlohns wohlweislich nichts ge- sam – ich betone: gemeinsam – mit den Tarifpartnern ei- sagt. Sie haben die Problematik offensichtlich erkannt. nen Teil der Verantwortung tragen. Dies muss aber scho- Wir sagen dazu: Die Geringverdiener sind – so glaube nend und vor allem in solchen Branchen geschehen, in ich – in keinem europäischen Land, egal ob dort ein denen nachweislich soziale Verwerfungen drohen. Mindestlohn existiert oder nicht – im Übrigen liegen die Mindestlöhne zum Teil bei 1 Euro oder wie im Falle von (Beifall bei der CDU/CSU) Rumänien sogar bei unter 1 Euro –, besser geschützt als in Deutschland, und zwar durch die Sozialgesetzgebung, Allerdings haben wir in der Baubranche sehen kön- durch SGB II und die Regelung über die Aufstocker. nen, dass das Entsendegesetz und tarifliche Mindest- löhne keine Allheilmittel gegen Arbeitsplatzabbau und (Beifall bei der CDU/CSU) rechtswidrige Dumpinglöhne sein können. Hier zeigt sich deutlich, wie in den letzten Tagen auch in anderen – Da kann man gerne einmal klatschen. – Diese Große Wirtschaftsbereichen, dass wir nicht alles dem freien Koalition hat das SGB II weiterentwickelt. Wir haben Markt überlassen können. Politik kann über Gesetze den Kinderzuschlag entfristet. Wir haben hier in diesem Kontroll-, Evaluations- und Sanktionsmöglichkeiten er- Hohen Hause vor wenigen Wochen eine weitere Siche- öffnen und so für Rechtssicherheit sorgen. rungsschranke eingezogen, damit Familien mit Kindern nicht in SGB-II-Bezug geraten. Das gehört zur politi- Das Mindestarbeitsbedingungengesetz schiebt Versu- chen einen Riegel vor, Arbeitnehmer zum Verzicht auf (B) schen Ehrlichkeit. Dann können wir gemeinsam mitein- (D) ander diskutieren. Der Mindestlohn muss sich per defini- ein festgesetztes Mindestarbeitsentgelt zu drängen. Ein tionem auf Alleinstehende, auf vollbeschäftigte Singles solches Vorgehen ist grundsätzlich nur im Rahmen eines beziehen. gerichtlichen Vergleichs zulässig. Es ist ausgeschlossen, dass ein Beschäftigter seinen Anspruch auf das Mindest- Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren tiefgrei- arbeitsentgelt verwirkt. Die beiden uns hier vorliegenden fend gewandelt. Das ist uns allen bewusst. Jeder Wandel Gesetzentwürfe sind im Kampf gegen sittenwidrige bringt aber auch Verwerfungen mit sich. Auch die Ta- Löhne unverzichtbar. Sie achten die Tarifautonomie – es rifvertragsparteien sind von den Verwerfungen der letz- ist erstaunlich, dass wir für die Tarifautonomie mehr ten Jahre nicht verschont geblieben. Die Vorredner ha- kämpfen müssen als manche andere Parteien in diesem ben bereits darauf hingewiesen. Immer mehr Hohen Hause – und bieten Rechtssicherheit in einer sich Arbeitgeber kehren den Arbeitgeberverbänden den verändernden Arbeitswelt. Das Vorliegen der jeweiligen Rücken, in den Gewerkschaften organisieren sich immer Voraussetzungen für die einzelnen Branchen der acht an- weniger Arbeitnehmer. Herr Arbeitsminister Scholz hat gemeldeten Berufsgruppen wird nunmehr nach der ers- diese Entwicklung in seiner Eingangsrede zu Recht mo- ten Lesung im Verfahren zu prüfen sein. Die Kollegin- niert. In manchen Branchen sind deshalb die Tarifver- nen und Kollegen der Opposition sollten ohne tragsparteien längst nicht mehr repräsentativ für alle Be- ideologische Scheuklappen anerkennen, dass es zu den schäftigten. Diese Situation haben leider einzelne Vorschlägen der Großen Koalition keine ernstzuneh- Arbeitgeber teilweise zu Lohndumping ausgenutzt. Das mende Alternative gibt. müssen wir feststellen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Die Große Koalition tut nun etwas dagegen. Anstelle der von unserem Koalitionspartner geforderten Einfüh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung von flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen neten der SPD) halten wir den Weg, über das Arbeitnehmer-Entsendege- setz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz bei Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: werfungen in einzelnen Branchen Lohnuntergrenzen Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der einzuziehen, die mit den Tarifvertragsparteien abzustim- Kollege Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion. men sind, für den richtigen Weg. Die Mittel liegen in Gestalt des Mindestarbeitsbedingungengesetzes und des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arbeitnehmer-Entsendegesetzes heute zur ersten Lesung Andrea Nahles [SPD]: Jetzt sind wir gespannt, vor. Bereits im Koalitionsvertrag von Union und SPD was Herr Meyer sagt!) 19442 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Mehr als die Hälfte der Aufstocker – 1,2 Millionen; (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Herr Scholz, Sie verweisen immer wieder auf diese Zahl – habe mir diese Debatte ganz in Ruhe angehört und ein- ist teilzeitbeschäftigt. Diese Menschen haben 400-Euro- fach einmal auf mich wirken lassen. Ich muss als Erstes Jobs oder 100- bis 200-Euro-Mini-/Midijobs. Ihnen kann sagen: Ich verstehe überhaupt nicht, warum ein Großteil man auch mit einem noch so hohen Mindestlohn nicht der Kollegen hier meint – man begründet dies damit, helfen. dass man sich für Mindestlöhne ausspricht –, unser Land (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Leider!) so schlecht machen zu müssen. Die Debatte hat gezeigt: In keinem einzigen anderen europäischen Land ist die – Hallo, Entschuldigung! Wollen Sie den Mindestlohn soziale Absicherung eines Großteils der Arbeitnehmer, wirklich so festsetzen, dass man mit zehn Stunden im zumindest aller Familien, besser als in Deutschland. Monat aus der Aufstockerposition herauskommt? Nun fangen Sie hier doch nicht an zu spinnen und durchzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie drehen. Das ist nun wirklich nicht der Punkt. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das liegt daran, dass wir das Thema Mindestlohn nicht isoliert betrachten. Für die Höhe der Mindestlöhne Ich bin froh, dass wir hier die Frage diskutieren: Was ist für uns nicht ausschließlich die Höhe des Mindestloh- wollen wir eigentlich? Wir haben zwei Ebenen der Dis- nes von Alleinstehenden ausschlaggebend. Wir haben in kussion. Die eine Ebene sind die Gesetzentwürfe als sol- Deutschland Lösungen gefunden, die viel sozialer sind che; darüber diskutieren wir heute. Die andere Ebene ist – das sage ich auch an die Adresse der Linken – als in al- die Ausfüllung der Gesetzentwürfe. len anderen Ländern. Wir haben sogar Lösungen gefun- Ich sage zu den Gesetzentwürfen als solchen eines den, die der Situation der Familien Rechnung tragen. – das ist auch in der Debatte deutlich geworden –: Mit Mancher von denen, die Vollzeit arbeiten, bekommt uns werden bestehende und zukünftige Tarifverträge leider Gottes immer noch einen Schock – stellen Sie in nicht außer Kraft gesetzt. Wir werden bei der Beratung Ihren Veranstaltungen einmal entsprechende Fragen –, der Gesetzentwürfe erhebliche Diskussionen zu führen wenn er hört, dass er, Familienvater von zwei Kindern, haben. möglicherweise mehr Einkommen hätte, wenn er nicht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mal schauen, arbeitete. In meiner Heimatstadt kann man monatlich wer sich da durchsetzt!) – ohne die vielen Ranken, die es da gibt – bis zu 1 900 Euro an Sozialleistungen bekommen. Das liegt Zum Zweiten – da besteht eine Parallele zu den Dis- weit über den Beträgen, die Sie eben angesprochen ha- kussionen um unsere Finanzverfassung –: Die soziale (B) (D) ben. Angesichts dessen fragt mich mancher Arbeitneh- Marktwirtschaft setzt einen Ordnungsrahmen gegen mer: Warum mache ich das denn eigentlich? Egoismen. In dieser Diskussion gibt es eine ganze Menge verschiedener Egoismen. Wir dürfen da nicht auf Wir sollten die ganze Debatte hier mit einem Kompli- einem Auge blind sein. Es gibt Arbeitgeber, die die Not- ment an all diejenigen verbinden, die jeden Morgen zur lage von Arbeitnehmern mit Dumpinglöhnen ausnutzen. Arbeit gehen, obwohl sie die sozialen Bedingungen in Diese Arbeitnehmer müssen von uns geschützt werden. unserem Land kennen. Eigentlich müsste man ihnen am Werktor jeden Morgen die Hand geben und sie dafür lo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ben, dass sie so viel Ehre im Leib haben und jeden Mor- Heinz-Peter Haustein [FDP]) gen pünktlich zur Arbeit erscheinen. Es gibt darüber hinaus Arbeitgeber – auch das erleben wir in dieser Situation –, die die derzeitige Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um das sozialpolitische Instrument Mindestlohn dazu Das ist das soziale Deutschland, das über 50 Jahre ge- nutzen, ihre eigene Wettbewerbsposition gegenüber klei- wachsen ist. Ich lehne es für unsere Fraktion einfach ab, neren Wettbewerbern zu verbessern. dass das schlechtgeredet wird, nur um immer wieder (Dirk Niebel [FDP]: Die Post zum Beispiel!) kurzfristig Populismus zu betreiben. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf diesem Auge Sie – das muss ich an die Adresse der Kollegin blind sind. Kramme sagen – haben von 370 000 Vollzeitbeschäftig- ten gesprochen. Davon sind ungefähr – nur von denen Aus den Gestzentwürfen, die uns vorliegen, Herr reden wir – 50 000 alleinstehend. Den anderen 320 000 Scholz, will ich drei Beispiele herausgreifen: würden Sie mit der Umsetzung der Vorschläge, die wir Erstens. Nach meinem persönlichen Eindruck haben heute besprechen, nicht helfen. wir es beim Wach- und Sicherheitsgewerbe mit einem (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) Bereich zu tun, in dem Arbeitgeber derzeit zum Teil die Notlage von Menschen ausnutzen, um zu Dumpinglöh- Das müssen wir einfach einmal sagen. Die große Mehr- nen zu kommen. Da werden wir möglicherweise etwas heit, auch der Vollzeitbeschäftigten, ist von dem, was tun müssen. hier debattiert wird, gar nicht betroffen. Zweitens. Bei der Entsorgung liegt der Fall ganz an- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann lasst es ders. Da versucht zurzeit gerade der öffentliche Entsor- doch!) gungsbereich, der ohnehin schon mit Mehrwertsteuer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19443

Laurenz Meyer (Hamm) (A) privileg sowie Anschluss- und Benutzungszwang nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- (C) gesegnet ist, schlossen. (Dirk Niebel [FDP]: Wie bei der Post!) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatzpunkt 3 auf: sich auf Kosten der Verbraucher gegen den privaten Ent- sorgungsbereich durchzusetzen, und das dürfen wir nicht 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- zulassen. So einfach ist das. Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. LINKE Kolb [FDP]: Das habt ihr bei der Post ge- macht!) Energiekosten sozial ausrichten – Sozialtarife einführen, wirksame Strompreisaufsicht schaf- – Da gab es das Postgesetz. Lasst das raus! Ihr macht es fen, Energiesparen ermöglichen euch nur schwer, wenn ihr immer darauf verweist. Bleibt bei den Beispielen hier! – Drucksache 16/10510 – (Dirk Niebel [FDP]: Das tut weh! Ich verstehe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) das!) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Da habt ihr genug zu tun. Dabei sehe ich von eurer Ver- Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales antwortung ab, die eben schon angesprochen worden ist. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Der dritte Bereich, den wir ernsthaft diskutieren müs- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sen, ist der der textilen Dienstleistungen. Hier ist es be- Haushaltsausschuss sonders eklatant. Da führen zehn Große einen Kampf ge- gen tausend Kleine. Da werde ich zunächst die Frage ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate stellen müssen: Hat es etwas mit sozialer Absicherung Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer oder mit Wettbewerb zu tun, wenn hier Leute ihre Wett- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ bewerbsposition beinhart auf Kosten der Kleinen und DIE GRÜNEN damit auf Kosten der Arbeitsplätze verbessern wollen? Energiesparen für alle – Kosten senken, Klima Nachdem die Diskussion schon so lange dauert, habe schützen ich nun Gott sei Dank den Eindruck, dass die populisti- – Drucksache 16/10585 – schen Klamaukattitüden sich langsam, aber sicher – das Überweisungsvorschlag: (B) haben wir heute morgen erlebt – totlaufen. Frau Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) (D) Pothmer, auch Ihre Rede hörte sich an wie von vorges- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) tern. Rechtsausschuss Finanzausschuss (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und NEN]: Können Sie das auch begründen?) Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Präsident Dr. Norbert Lammert: Haushaltsausschuss Herr Kollege Meyer. Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktio- nellen Vereinbarung 90 Minuten dauern. – Dazu sehe ich Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Die Frage ist: Was hilft – nur daran dürfen wir es nächst dem Kollegen Hans-Kurt Hill für die Fraktion messen –, soziale Verwerfungen zu beseitigen, was hilft, Die Linke. die Grundfesten der Tarifautonomie zu stärken, und was (Beifall bei der LINKEN) ist umgekehrt schlecht für Arbeitsplätze und damit aus- gerechnet für weniger qualifizierte Arbeitnehmer? Eine kluge Abwägung in dieser Hinsicht wird allen in Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Deutschland weiterhelfen, aber nicht populistische Sprü- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die che. Finanzkrise überdeckt ein wichtiges Thema. Die Ener- giepreise steigen und steigen. Die Folge ist: Armut per Vielen Dank. Steckdose. Das fatale Treiben der Banker wird diese so- (Beifall bei der CDU/CSU) ziale Schieflage weiter verschärfen, und es kostet bereits Arbeitsplätze. Deshalb fordert die Linke: Energie muss bezahlbar sein und auch bleiben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der LINKEN) Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- Das bedeutet: Nur Sozialtarife, also die Halbierung würfe auf den Drucksachen 16/10486 und 16/10485 an der herkömmlichen Tarife, können Männern, Frauen und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Kindern in armen Haushalten sofort helfen. Wir müssen schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist den Energiekonzernen auf die Finger schauen. Dann 19444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Hans-Kurt Hill (A) werden wir gerechte Preise bekommen. Auch die Bürge- Drittens brauchen wir eine kostenfreie Sockelversor- (C) rinnen und Bürger mit geringem Einkommen wollen gung, die Haushalte mit geringem und durchschnitt- Energie sparen. Das muss gefördert werden. Wer aber lichem Energieverbrauch entlastet. mehr Einkommen zur Verfügung hat, kann auch mehr für Energie bezahlen und fürs eigene Energiesparen sor- (Beifall bei der LINKEN) gen. Viertens brauchen wir eine wirksame Strompreisauf- sicht durch die Länder, um die Preise überprüfbar zu ma- Die Bilanz der Kanzlerin und ihres bayerischen Bun- chen. deswirtschaftsministers können sich wirklich sehen las- sen: Seit Antritt dieser Bundesregierung ist Strom um Fünftens brauchen wir die Abschöpfung der überhöh- 20 Prozent teurer geworden, und Heizenergie verteuerte ten Profite bei den Energiekonzernen. Damit finanzieren sich sogar um 40 Prozent. So sieht die soziale Gerechtig- wir langfristige Maßnahmen für Energieeffizienz, Ener- keit der Regierungskoalition aus. Das ist auch ein Grund gieeinsparung und die Zuschüsse für energiesparende für das zunehmende Auseinanderklaffen der Schere zwi- Geräte. schen Arm und Reich in Deutschland; denn gleichzeitig Die Linke will, dass sich alle Menschen Energie leis- sind gerade die unteren Einkommen gesunken. Es ist ge- ten können. Niemand soll im Dunkeln oder im Kalten radezu zynisch, wenn der Berliner SPD-Senator Sarrazin sitzen, meine Damen und Herren. die Empfehlung ausspricht, sich warm anzuziehen. Die Rentnerinnen und Rentner werden mit einer Rentenerhö- (Beifall bei der LINKEN) hung von 1,1 Prozent abgespeist, und dann wundern Sie Aus den anderen Fraktionen habe ich von einigen, zu- sich, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn es in einem meist halbherzigen Vorschlägen gehört. Klar ist: Wer Land, das seine Wirtschaftskraft rühmt und einen Spit- glaubt, man könne Menschen mit kleinem Geldbeutel zenplatz in der Welt einnehmen will, mittlerweile über helfen, indem man ihnen ausschließlich Energiesparen 800 000 Stromsperrungen gibt. Das ist mit nichts zu verordnet, der kann wirklich gleich Wollpullover vertei- rechtfertigen. len. Ist Ihnen eigentlich klar, was es bedeutet, mit Energie ist lebensnotwendig wie der Zugang zu sau- 351 Euro Hartz IV im Monat auskommen zu müssen? berem Trinkwasser. Sie lassen es zu, dass es in Deutsch- Auch die Grünen frage ich: Wie wollen Sie Menschen land ein neues Phänomen gibt: Energiearmut. Wenn helfen, die schon alles gemacht haben, um Strom zu spa- man im Land unterwegs ist, bemerkt man, dass sich im- ren, und trotzdem ihre Stromrechnung nicht bezahlen mer mehr Menschen in Deutschland keinen angemesse- können? Sie, die Hartz IV mitbeschlossen haben, sollten nen Zugang zu Energie mehr leisten können. Während- aufhören, die Menschen zu schikanieren, die Sie selbst (B) dessen lachen sich die Energiekonzerne ins Fäustchen mit arm gemacht haben. (D) und stopfen sich ungehindert die Taschen voll. Was (Beifall bei der LINKEN) macht die Energiekanzlerin der Merkel-Regierung? Als Freundin der Strombosse verhindert sie eine europaweite Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihre Idee ei- und wirksame Kontrolle der Energiekartelle. Die Linke ner verbilligten Sockelversorgung ist gut. Sie greift bei sagt hierzu: So nicht, Frau Merkel! armen Haushalten aber zu kurz und muss mit Sozialtari- fen gekoppelt werden. Nur gemeinsam wird ein Schuh (Beifall bei der LINKEN) daraus. Jetzt schreien Sie von CDU/CSU und SPD wahr- Sozialtarife helfen Menschen, die aufgrund der Ener- scheinlich, man habe die Netzgebühren gesenkt und das gieteuerung in Not geraten sind. Die Sockelversorgung Kartellrecht verschärft, was zu Preissenkungen geführt hilft auch Familien mit unteren und mittleren Einkom- habe. Verzeihen Sie, die Realität ist eine andere; die men oberhalb von Transferleistungen. Ein Sockelbetrag, Leute fühlen sich von Ihnen veräppelt. Die Strompreise der von allen solidarisch getragen wird und hohen Ver- steigen immer schneller, und Wirtschaftsminister Glos brauch verteuert, ist richtig und findet unsere Zustim- stochert weiter nur im Nebel herum. Ihre Papiertiger ha- mung. Es handelt sich dabei aber um eine rein ökologi- ben auf den Stromrechnungen der Verbraucherinnen und sche Maßnahme. Sie erfassen die soziale Situation der Verbraucher keine Spuren hinterlassen, meine Damen betroffenen Menschen nicht. Das ist der Punkt, den Sie und Herren von der Regierung. dabei übersehen. Deshalb sind solche Vorschläge ein Anfang; aber sie sind wirkungslos, wenn die Menschen Die Linke hat natürlich die Sorgen der Verbraucherin- ohnehin kein Geld in der Tasche haben. Ich kann nicht nen und Verbraucher im Auge. Deshalb schlagen wir verstehen, werte Kolleginnen und Kollegen, insbeson- dem Bundestag vor, im Strombereich mit wirksamen dere von der SPD, dass Sie dem Parlament bis heute kei- Maßnahmen zu beginnen. Es sind fünf Punkte: nen geeigneten Vorschlag vorgelegt haben. Ich bedaure das sehr. Erstens brauchen wir gezielte Energieberatung, um die machbaren Sparpotenziale auszuschöpfen. Die Bundesregierung ist nicht bereit, die Sozialleistun- gen für die über 7 Millionen Betroffenen – zum Beispiel Zweitens brauchen wir Sozialtarife, die deutlich unter Hartz-IV-, Wohngeld-, Sozialhilfe-, BAföG-Empfängerin- den Normalkosten liegen. Damit bleiben bei den Bürge- nen und -Empfänger, Rentnerinnen und Rentner; auch rinnen und Bürgern, die nicht so viel Einkommen haben, Asylbewerberinnen und Asylbewerber gehören dazu – das Licht an und die Heizung warm. zu verbessern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19445

Hans-Kurt Hill (A) (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist unwahr! Wohn- (Beifall bei der LINKEN) (C) gelderhöhung ist beschlossen! Falsch aufge- schrieben, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Linke fordert, diese Menschen wenigstens bei der Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege teuren Energie zu entlasten und beim Kauf Strom spa- Dr. Joachim Pfeiffer das Wort. render Geräte zu unterstützen. Wir fordern – ich glaube, (Beifall bei der CDU/CSU) ein ähnlicher Vorschlag kam vor kurzem auch aus der SPD – Klimaschecks, mit denen arme Haushalte in die Lage versetzt werden, sich neue Geräte mit geringem Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Verbrauch zu leisten. Bei den Sozialtarifen ist eine echte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und und spürbare Entlastung wichtig. Eine Halbierung der Herren! Wir debattieren heute über diesen Antrag der Stromrechnung ist gerechtfertigt; denn die Energiepreise Linken. Herr Hill, Sie stellen sich hier hin und fordern schlagen sich langfristig in den Preisen aller Produkte günstige Stromtarife für alle. Das ist an Populismus des täglichen Lebens nieder. nicht zu überbieten; denn Ihre Forderungen und vorge- schlagenen Maßnahmen würden den Strom nur teurer Natürlich muss die Inanspruchnahme eines Sozialta- machen. rifs an eine Energieberatung gekoppelt sein. So können machbare Sparpotenziale gehoben werden. Das Ziel ist, Sie fordern einen beschleunigten Ausstieg aus der eine Verbrauchssenkung bei allen zu erreichen. Ein Kernenergie. Sie wollen keine neuen Kohlekraftwerke wirksamer Klimaschutz ist Aufgabe für alle, nebenbei mehr bauen. Sie wollen insgesamt aus der Nutzung fos- bemerkt: auch für die Industrie. siler Energieträger aussteigen. Vor Ort sind Sie gegen den Neubau von Leitungen, in denen erneuerbare Ener- Noch ein Punkt. Es kann nicht sein, dass die Bundes- gien aus Windkraftanlagen in die Verbrauchszentren regierung den Stromkonzernen auch noch soziale Rege- transportiert werden sollen, und, und, und. Die Liste lungen im Energiebereich überlässt. Die Folge ist: Eon lässt sich fortsetzen. und Co legen in ihrem eigenen Interesse willkürliche Re- geln fest, meist zeitlich begrenzt oder nur für wenige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Kunden. Darüber hinaus werben sie mit der Not der Lehrieder [CDU/CSU]: Höherer Populismus! – Menschen, während sie hinterrücks weiter den Strom- Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sagen Sie mal markt manipulieren. was zu den Sozialtarifen!) Die Linke sagt: Energie ist öffentliches Gut, und die Nach dem Motto „Freibier für alle“ stellen Sie Forde- Regelung von Sozialtarifen ist Sache des Staates. rungen in einer Größenordnung von 130 Milliarden bis (B) 140 Milliarden Euro auf; das ist einmal zusammenge- (D) (Beifall bei der LINKEN) rechnet worden. Dann stellen Sie fest, dass dies auch fi- nanziert werden muss; denn es fällt ja nicht vom Him- Das Energiewirtschaftsgesetz muss sozial und ökolo- mel. Wie soll dies finanziert werden? Über Steuern und gisch ausgestaltet werden. Den Strombossen sind in ih- Abgaben, die den Bürger belasten. Schließlich sagen rem grenzenlosen Schalten und Walten endlich die Dau- Sie: Der arme Bürger ist so sehr belastet. Deshalb brau- menschrauben anzulegen. Zuallererst muss deshalb eine chen wir Sozialtarife. wirksame Strompreisaufsicht eingeführt werden. Es geht nicht darum, wie von der CDU immer gerne be- (Beifall bei der CDU/CSU) hauptet wird, die Preise staatlich zu verordnen. Vielmehr müssen die Unternehmen endlich ihre Preisgestaltung Lieber Herr Hill, es ist ziemlich durchsichtig, was Sie offenlegen, damit diese umfassend überprüft werden betreiben. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Anstatt ge- kann, selbstverständlich auch von den Verbraucherinnen gen Castor-Transporte zu sein, sollten Sie sich lieber von und Verbrauchern. der Fidel-Castro-Politik lossagen, die mit populistischen Forderungen und Sprüchen am Thema vorbei geht, und Ich fasse zusammen. Bezahlbare Energie und Klima- sich an einer Politik orientieren, die nicht an Symptomen schutz gehen zusammen, wenn die Maßnahmen sozial kuriert, sondern an den Wurzeln ansetzt. ausgewogen sind. Erstens. Nur Sozialtarife im Energie- bereich können Energiearmut verhindern. Zweitens. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Kommen Sie Energiesparen ist Pflicht für alle. Drittens. Nur wenn das doch mal zur Sache!) Stromkartell umfassend kontrolliert wird, sinken die Das ist das, was wir in der Union und auch in der Großen Preise. Viertens. Wir brauchen ein Konjunkturprogramm Koalition machen, nämlich an den Wurzeln ansetzen und mit einem Energiesparfonds, durch den Bürgerinnen und nicht an den Symptomen kurieren. Das will ich Ihnen Bürger dazu angehalten werden, effizient zu handeln und jetzt darlegen. sparsam mit Energie umzugehen. Mit dem Integrierten Energie- und Klimapaket (Beifall bei der LINKEN) schaffen wir es, bis zum Jahr 2020 20 Prozent des Ener- Davon sollen vor allem die Menschen mit kleinem Geld- gieverbrauchs einzusparen. Das heißt, dass wir an erster beutel profitieren. Wir Linke wollen nicht, dass es bei Stelle den Königsweg der Energieeffizienz beschreiten. diesen Menschen zappenduster wird. Das ist die beste Energiepolitik: Die Energie, die nicht verbraucht wird, ist gut für das Klima. Sie kostet den Vielen Dank. Bürger nichts, also spart er Geld. Dies ist letztlich auch 19446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Joachim Pfeiffer (A) ein Mittelstandsbeschäftigungsprogramm, wenn man verbrauches einsparen kann, weil er mit dem Smart Me- (C) beispielsweise an die CO2-Gebäudesanierungen oder tering in der Lage ist, sekundengenau zu wissen, wie viel den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien zur Hei- Strom er verbraucht und wie viel ihn das kostet. Es ist zung oder Kühlung im Haus denkt. Schluss mit der Blackbox. Heute ist es so, dass der Bür- ger zwölfmal im Jahr eine Abschlagszahlung leistet und Was machen wir im Strombereich ganz konkret? Wir nach einem Jahr eine Gesamtrechnung bekommt, ohne wollen und werden die staatlichen Belastungen – anders zu wissen, wie sich diese im Einzelnen zusammensetzt. als Sie es für andere Bereiche vorschlagen – nicht weiter Zukünftig kann er seinen Verbrauchsverlauf genau nach- erhöhen. Die Grenze der Belastung ist hier nämlich er- vollziehen. reicht. Ab 2010 – wir haben das im Gesetz vorgesehen – (Beifall bei der CDU/CSU) werden lastvariable Tarife angeboten. Das heißt, der Wir wollen und werden mit den neuen Maßnahmen des Bürger kann reagieren: Da er weiß, wann der Strom Emissionshandels den Bürger entlasten. günstiger ist, kann er entsprechend die Waschmaschine, den Wäschetrockner oder was auch immer laufen lassen. Was haben wir bisher schon erreicht? Stichwort: Das, was bei der Telekommunikation zu einer Preis- Netznutzungsentgelte. Überall steigen die Preise. Wir spirale nach unten und einer Erhöhung der Wettbe- haben bei den Netznutzungsentgelten in den vergange- werbsintensität geführt hat, kann jetzt endlich auch im nen Jahren sehr viel erreicht – das ist ein Erfolgsmodell; Strombereich eingeführt werden. Dies gibt dem Bürger das muss man sich einmal vergegenwärtigen –: Seit dem Souveränität über seine Rechnung und seinen Stromver- Jahr 2005, als wir die Regulierung eingeführt haben, brauch, was ihm hilft, wenn er sich engagiert, Kosten zu sind die Netznutzungsentgelte in der ersten Regulie- sparen. rungsperiode von 2006 auf 2007 – um einmal die Ge- samtsumme zu nennen – um 2,5 Milliarden Euro nicht Die Große Koalition hat – da wird schlicht die Un- erhöht, sondern gekürzt worden; ich verweise auf den wahrheit behauptet; Kollege Kelber hat völlig recht – kürzlich durch die Bundesnetzagentur vorgelegten Mo- das Wohngeld rückwirkend zum 1. Oktober dieses Jah- nitoringbericht 2008. Das ergibt für den Bürger weitere res angehoben. 1,6 Milliarden Euro, die ihn nicht mehr belasten. Bei (Zuruf des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]) Netznutzungsentgelten von insgesamt 23 Milliarden Euro im Jahr 2005 beschreiten wir mit der Anreizregu- Wir haben eine Heizkostenkomponente eingeführt. Ge- lierung, die im nächsten Jahr beginnt, einen Pfad, auf rade dies entlastet die einkommensschwache Bevölke- dem wir in vier bis fünf Jahren auf 18 Milliarden Euro rung. Wir sehen auch in anderen Bereichen Verbesserun- kommen – und das in einem Umfeld, in dem die Preise gen vor: zum Beispiel beim Kinderfreibetrag, beim (B) (D) insgesamt steigen. Dies ist eine Entlastung, die der Bür- Kindergeld; um nur einige Stichworte zu nennen. Für die ger auch zu spüren bekommt. Leistungsträger in unserer Gesellschaft, für diejenigen, die arbeiten, wird der Arbeitslosenversicherungsbeitrag Laut Monitoringbericht – um für den Bürger auch weiter auf 2,8 Prozent von einstmals 6,5 Prozent ge- Konkretes zu nennen – sind die Preise von April 2007 senkt. Das bedeutet für den Durchschnittsverdiener in bis April 2008 um 3,3 Prozent bis 7,7 Prozent zurückge- diesem Land eine Entlastung von 750 Euro pro Jahr. Das gangen. Wäre dieses Instrument so nicht eingesetzt wor- ist die Politik der Großen Koalition. Sie entlastet den den, wäre der Strompreis für den normalen Durch- Bürger konkret mit einem austarierten Maßnahmenpaket schnittshaushalt um 21,7 Prozent höher gewesen, als er im Energiebereich, aber auch im Bereich von Wirtschaft jetzt ist, und für den energieintensiven Verbraucher in und Arbeitsmarkt. der Industrie wäre er um 15 Prozent höher gewesen als jetzt. (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern wirkt unsere Politik ganz konkret nicht nur Zum Abschluss möchte ich den Verbraucher direkt kostendämpfend, sondern sogar kostenentlastend. ansprechen; denn auch der Verbraucher ist gefordert. Es Des Weiteren haben wir den Wettbewerb im Blick ist zwar Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen zu setzen, und Aufgabe der Energiewirtschaft, entspre- und wollen ihn weiter stärken. Stichworte sind hier: GWB-Novelle und Netzanschlussverordnung. chende Angebote zu machen. Diese Angebote müssen aber auch vom Verbraucher angenommen werden. Lei- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das erklären der kam vieles erst sehr zögerlich in Gang. Von 1998 bis Sie schon seit drei Jahren! Was ist denn pas- 2007 haben nur knapp 2 Millionen Menschen den siert?) Stromanbieter gewechselt. Im letzten Jahr ist Gott sei Dank Dynamik hineingekommen, sodass jetzt insgesamt Nur mit mehr Anbietern und mehr Liquidität erreichen 4,5 Millionen Menschen einen Wechsel vollzogen ha- wir einen besseren Wettbewerb, aber nicht mit der Ver- ben. hinderung von Kraftwerksneubauten. Wenn Sie die Leute fragen, wie oft sie ihren Handy- (Beifall bei der CDU/CSU) anbieter gewechselt haben, dann stellen Sie fest, dass Wir haben jetzt das Instrument des Smart Metering fast jeder schon einmal eine Veränderung vorgenommen eingeführt. Die ersten Feldversuche zeigen, dass der hat. Im Strombereich sind wir noch nicht so weit. Der Bürger – auch der Bürger ist gefordert; es geht um Kon- Verbraucher hat es in der Hand, etwas zu unternehmen. sumentensouveränität – bis zu 30 Prozent seines Strom- Die Verbraucherverbände sagen ganz klar: Schon bei der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19447

Dr. Joachim Pfeiffer (A) heutigen Wettbewerbssituation kann der einzelne Ver- ckelung. – Wir hingegen möchten von diesen hohen (C) braucher bis zu 30 Prozent seiner Stromrechnung einspa- Steuern und Abgaben herunterkommen. ren, wenn er die günstigste Variante wählt. Deshalb kann Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass die ich an dieser Stelle nur die Verbraucher auffordern, ihren von der Linken geforderten Sozialtarife höchst unsozial Teil beizutragen. sind. Das alles ist ein Gesamtpaket und keine Mogelpa- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) ckung, wie es Sozialtarife wären. Damit bekommen wir das Energieproblem in den Griff. Sie treffen nämlich nicht die Durchschnittsverdiener. Das Durchschnittseinkommen in Deutschland liegt bei Vielen Dank. rund 3 100 Euro brutto pro Kopf und Monat. Diese Men- schen werden doppelt belastet: Als Arbeitnehmer zahlen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sie Steuern und müssen darüber hinaus auch noch die Garrelt Duin [SPD]) Lasten durch Sozialtarife und andere Sondertatbestände schultern. Ferner schwächen Sie die kleineren Stroman- Vizepräsidentin Petra Pau: bieter am Markt, beispielsweise die Stadtwerke. Rund Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Gudrun die Hälfte aller Strom- und Energiebezieher sind immer Kopp das Wort. noch Kunden von Stadtwerken. Genau diese Anbieter schwächen Sie und stärken die Oligopolisten am Markt. (Beifall bei der FDP) Das kann nicht sein; das ist nicht FDP-Politik, weil das nicht zielführend ist. Gudrun Kopp (FDP): (Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte uns auch Damen! Auch angesichts der Finanzmarktkrise kommen gewundert! – Ulrich Kelber [SPD]: Aber bei wir am heutigen Tage zu anderen politischen Problem- den Atomreaktoren wollen Sie das Oligopol fällen. Die hohen Energiepreise sind natürlich ein Dau- stärken!) erproblem, dessen Lösung wir seit vielen Monaten vor uns herschieben. Viele Bürger und Bürgerinnen draußen – Ja, lieber Kollege Kelber, auch der breite Energiemix im Lande wissen nicht mehr, wie sie ihre Stromrechnung gehört dazu. Vor allen Dingen gehört dazu – das sage ich bezahlen sollen. Es ist völlig klar, dass es hier zu einer ganz deutlich an Ihre Adresse –, dass wir die Scheuklap- Entlastung kommen muss. Wir Liberale sehen dafür völ- pen abnehmen. lig andere Instrumente vor als Sie, Herr Hill, von den (Ulrich Kelber [SPD]: Dann fangen Sie doch (B) Linken und als die Grünen, die heute hierzu ebenfalls ei- einmal an! Die sind bei Ihnen doppelt vorhan- (D) nen Antrag vorgelegt haben. Wir haben bereits vor eini- den!) gen Wochen unsere Vorstellung von einer Entlastung der Bürger eingebracht; darauf komme ich gleich zu spre- – Ich sage: Wir brauchen einen breiten Energiemix. Wir müssen der Gefahr einer Stromlücke, die auf uns zukom- chen. men kann, begegnen. Wir können die Stromversorgung Wenn beide Fraktionen, die eben von mir genannt wur- in Deutschland nicht ohne die Nutzung von Kernkraft- den, einen Energiesparfonds einfordern – die eine politi- werken und Kohle gewährleisten. Das ist nun einmal sche Gruppierung in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, die nicht möglich, ob Sie das nun toll finden oder nicht. andere sogar in Höhe von über 3 Milliarden Euro –, wenn (Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND- pro Kopf der Bevölkerung eine Energiesparprämie von NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie reden von 50 Euro bzw. eine sogenannte Geräteabsatzprämie von Ideologie! Sie sind doch voll von Ideologie!) 250 Euro gefordert wird – der Bundeswirtschaftsminis- ter kann sich eine sogenannte Kühlschrankprämie in Die FDP hat in den Deutschen Bundestag einen An- Höhe von 150 Euro pro Gerät als Zuschuss sehr gut vor- trag zur Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf stellen; Minister Tiefensee packt noch einen drauf und 7 Prozent eingebracht. Das wäre ein gangbarer Weg, von möchte eine steuerliche Vergünstigung für sogenannte dem alle profitieren würden. Es gäbe keine Ausnahme- Ökoautos –, dann kann ich nur sagen: Das alles sind po- tatbestände, keine Bevorzugung bestimmter Bevölke- pulistische Maßnahmen, die viele Mitnahmeeffekte aus- rungsgruppen und keine Benachteiligung anderer. Viel- lösen, die die breite Bevölkerung, die eine Entlastung mehr hätten wir mit Blick auf die Grundversorgung eine nötig hätte, aber nicht treffen. Insofern sind diese Maß- Basis, auf der man agieren könnte. Also: Mehrwertsteu- nahmen ungeeignet. erreduzierung. (Beifall bei der FDP) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie selbst erhöht haben während Ihrer Re- Lieber Herr Kollege Pfeiffer, das Folgende betrifft gierungszeit!) Sie, die Vertreter der Regierungskoalition und die Bun- – Ich erinnere daran, dass die jetzige Bundesregierung desregierung: Sie haben auch heute keinen Vorschlag eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte eingebracht, der geeignet wäre, die hohen Steuern und vollzogen hat, liebe Kollegin Höhn. Auch Sie werden Abgaben auf Strom – die Belastungen liegen bei 40 Pro- sich sicher noch daran erinnern. zent – zu senken. Sie gehen immer vom Status quo aus und sagen: Da machen wir Schluss; das ist unsere De- (Beifall bei der FDP) 19448 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Gudrun Kopp (A) Auch die Grünen haben ihren Anteil an den hohen Sub- nem besseren Ausbau von Netzen kommen! Wir wollen (C) ventionen und an den milliardenschweren Belastungen bei dieser Gelegenheit die vier Regelzonen, die es der- der Bürger, insbesondere der Stromkunden. Seien Sie zeit noch in Deutschland gibt, zu einer Regelzone zu- also ganz friedlich! sammenfassen und so die Effizienz erhöhen und dabei Kosten sparen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viertens. Wir wollen den Wettbewerb auf den Gas- Es gibt keine Regierungspartei, die die Mehr- märkten stärken. Auch da haben wir große Defizite. wertsteuer so stark erhöht hat wie Sie!) Hier muss dringend etwas geschehen. Wir wollen, dass Ferner fordere ich insbesondere die Union, deren Ver- Gas vollständig an der Börse gehandelt werden kann. treter hier eben noch einmal dargestellt hat, wie wichtig Auch da tut die Bundesregierung im Moment nichts, je- der Emissionshandel und die Einnahmen daraus sind, denfalls nicht so, dass man irgendetwas bemerken auf, die Dinge auch tatsächlich umzusetzen. könnte. Wir wünschen uns auf jeden Fall mehr Transpa- renz an der Börse, nämlich in Form einer Marktbeobach- (Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ tungsstelle, damit mögliche Manipulationen bereits beim CSU]) Handel aufgedeckt und eliminiert werden können. In diesem Jahr starten wir in Deutschland mit einer Ver- steigerung von knapp 10 Prozent der CO2-Zertifikate. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Einnahmen in Höhe von rund 900 Millionen Euro Kollegin Kopp, gestatten Sie eine Zwischenfrage des brutto müssen an die Stromkunden zurückgegeben und Kollegen Pfeiffer? dürfen nicht in einzelne Förderprojekte gesteckt werden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Andreas Gudrun Kopp (FDP): G. Lämmel [CDU/CSU]) Sehr gerne. Wir halten den Emissionshandel für das geeignete (Ulrich Kelber [SPD]: Herr Pfeiffer, immer Klimaschutz- und Ressourcenschutzinstrument, das es zum Äußersten greifen!) möglich macht, dass alle anderen Parallelinstrumente entfallen. Wir wünschen uns, dass es hier endlich Klar- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): heit gibt. Frau Kollegin Kopp, Sie haben das Allheilmittel Folgende Punkte sind für die FDP wichtig: Ownership-Unbundling – oder auf Deutsch: Netz AG – angesprochen. Sind Sie nicht vielmehr mit uns der Mei- (B) Erstens. Wir machen nicht dabei mit, dass die Einnah- nung, dass es richtiger wäre, die einheitliche Regelzone (D) men aus dem Emissionshandel, die immer weiter steigen einzuführen, mit der wir ein Einsparungs- und Optimie- und ab 2013 wahrscheinlich in zweistelliger Milliarden- rungspotenzial von mehreren Hundert Millionen Euro höhe liegen, nicht an die Energiekunden zurückgegeben erreichen würden? Würden Sie nicht lieber an Themen werden. Wir wollen eine Rückschleusung und wollen die wie Interkonnektoren arbeiten? Die Netz AG allein ist, Bürger entlasten. wie das Ownership-Unbundling, eine Monstranz, die Zweitens. Wir möchten, dass auf EU-Ebene und in man vor sich herträgt, die aber dem Wettbewerb nichts Deutschland Klarheit darüber besteht, was mit den strom- bringt. Oder sehen Sie das anders? intensiven Industrien passieren soll. Wenn im Umwelt- ausschuss des Europa-Parlaments und in der EU-Kom- Gudrun Kopp (FDP): mission beschlossen wurde, sich erst nach dem Jahr Wir sind einer Meinung – das habe ich eben auch dar- 2011 zu entscheiden, dann muss ich sagen: Das ist das gestellt –, dass der Netzausbau dringend nötig ist, gerade Gegenteil von verlässlicher Politik. Ich fordere die Bun- an den Grenzkuppelstellen. Es ist in der Tat richtig, dass desregierung auf, auf der europäischen Ebene Klarheit wir an dieser Stelle dringend weiterkommen müssen. zu schaffen. Wir brauchen vor dem Jahr 2011 für unsere Beim Netzausbau sind wir also völlig einer Meinung. Wirtschaft die klare Ansage, was energieintensive Indus- trien, die ja im internationalen Wettbewerb stehen, mit (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Da hat der ihren 600 000 Arbeitsplätzen in Deutschland erwartet. Pfeiffer recht!) Wir möchten nicht, dass aus Deutschland Industrien ab- Von einem Ownership-Unbundling habe ich eben wandern, mit der Folge, dass die Emissionen in Nach- nichts gesagt, sondern ich habe von einer Netz AG ge- barländern entstehen und nicht abgebaut werden. sprochen. Wir möchten keine Enteignung vornehmen, (Beifall bei der FDP) weil eine Enteignung in diesem Fall rechtlich sehr schwierig wäre und nicht nachweislich zu mehr Wettbe- Drittens. Wir wünschen uns – das haben wir bereits werb führen würde; jedenfalls haben das alle Experten klargemacht –, dass die Bundesregierung endlich eine bisher so gesagt. Deswegen – das ist gerade der Charme Netz AG, wie wir sie bereits vorgeschlagen haben, ein- einer Netz AG – wollen wir, dass alle vier Übertragungs- richtet. Widersetzen Sie sich nicht länger einer Trennung netzbetreiber ihre Netze in diese AG einbringen, dass von Vertrieb und Netz beim Strom, sondern lassen Sie wir dadurch eine Regelzone schaffen uns die Netz AG, in die alle vier großen Netzbetreiber ihre Netze einbringen, gemeinsam angehen, damit wir (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Auch die auch in diesem Bereich zu mehr Wettbewerb und zu ei- Regelzone erfordert eine Netz AG!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19449

Gudrun Kopp (A) und dass die Übertragungsnetzbetreiber Anteile entspre- Vielen Dank. (C) chend dem Wert ihrer Netze erhalten. (Beifall bei der FDP) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das wider- spricht sich doch jetzt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie selbst sollen aber in dieser Netz AG nicht über den Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Garrelt Ausbau entscheiden dürfen. Das ist das Entscheidende. Duin das Wort. Das wäre rechtlich sehr viel eleganter, gäbe weniger Pro- bleme, wir brauchten dabei keine Enteignung, und wir Garrelt Duin (SPD): würden den Wettbewerb, den wir wünschen, sehr wohl Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! befördern. Für Enteignung sind wir nicht. Wir halten das Manchmal – das ist, glaube ich, unser aller Erfahrung – für keinen gangbaren Weg. schmeckt Aufgewärmtes besonders gut. Manchmal ist es aber leider so, dass Aufgewärmtes fast ungenießbar wird (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: oder jedenfalls sehr fade und langweilig schmeckt. So ist Aber eine Zwangszusammenführung ist doch es in diesem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegen von eine Enteignung!) der Linken. Es ist schon ein bisschen enttäuschend, dass Ich möchte zum Schluss noch auf eine weitere Ent- Sie uns hier mit dem gleichen Thema und einem fast wicklung zu sprechen kommen. Neben der Energiepreis- identischen Antrag innerhalb von wenigen Wochen das steigerung, über die wir hier heute Morgen diskutieren, zweite Mal quasi mit Aufgewärmtem beglücken. ist ganz wichtig, zu fragen: Was folgt eigentlich realpoli- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ein tisch aus dieser Finanzmarktkrise? Natürlich trägt sie steter Tropfen …!) stark zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Der klas- sische Fall einer Enteignung gerade des kleinen Mannes, Es war erst am 20. Juni 2008, also unmittelbar vor der der kleinen Frau im Land ist natürlich der Preisauftrieb. Sommerpause, als wir hier über einen Antrag von Ihnen Wir sollten daher die Inflationsrate im Auge behalten. diskutiert haben, der in zwei von drei Punkten mit Ihrem jetzigen Antrag identisch ist. Die Debatte zeigt auch, Ich mache mir Sorgen, wenn ich sehe, dass der An- dass ein Teil der Argumente oft wiederkehrt. stieg der Verbraucherpreise in 2007 und 2008 im Schnitt bei 2,8 Prozent liegt; das ergibt sich aus dem Herbstgut- Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zur achten. Es wird geschätzt, dass der Preisauftrieb im Kenntnis zu geben, was wir als Große Koalition in dieser nächsten Jahr bei in etwa 2,3 bis 2 Prozent liegen wird. Wahlperiode alles schon auf den Weg gebracht haben. Wenn es eine solche Inflationsrate – keiner kann das Zunächst einmal zu Ihrer Forderung nach Wiedereinfüh- (B) (D) heute verlässlich vorhersagen – geben oder wenn sie so- rung der staatlichen Strom- und Gaspreisaufsicht auf gar noch steigen sollte, dann würde das eine weitere Länderebene. Schwächung der Menschen bedeuten, die ein geringes (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Jetzt bin ich oder ein mittleres Einkommen haben. Das muss uns aber gespannt!) Sorge bereiten. Denn wir haben es mit einer Wirtschafts- flaute zu tun – im nächsten Jahr werden wir das noch Diesen Vorschlag haben wir, wie Sie wissen, schon im mehr spüren –, wahrscheinlich mit einem Arbeitsplatz- Juni dieses Jahres abgelehnt. Auch die Bundesratsinitia- abbau und mit einer sinkenden Nachfrage. Auch an der tive, die es dazu gegeben hat, ist im Grunde sang- und Stelle werden wir merken, dass es den Bürgern ange- klanglos verpufft. Das ist auch gut so; denn die staatliche sichts aller notwendigen Maßnahmen, die ergriffen wer- Preisaufsicht hat sich immer nur auf den Vertrieb bezo- den müssen, um Energieeffizienz und Energieeinsparung gen. Hier hilft uns kein Rückfall in staatliche Preisauf- zu befördern, immer schwerer fällt, gerade ihren tägli- sicht, sondern mehr Wettbewerb. chen Bedarf, auch den Energiebedarf, zu finanzieren. Im Stromendkundenmarkt kommt der Wettbewerb mittlerweile in Gang, auch wenn wir uns noch mehr Es gibt aber eine Grenze. Von daher kann ich heute wünschen. Im vergangenen Jahr haben nach Angaben Morgen nur noch einmal mahnen: Wir müssen die Bür- der Bundesnetzagentur rund 1,3 Millionen Stromkunden ger entlasten, damit sie für das, was im nächsten und im den Versorger oder zumindest den Tarif gewechselt. Herr darauffolgenden Jahr wahrscheinlich auf uns alle zu- Kollege Pfeiffer hat schon darauf hingewiesen, dass kommen wird, gewappnet sind. Daher ist es notwendig, noch nicht die Zahlen und die Selbstverständlichkeit er- die von mir genannten Maßnahmen umzusetzen. Ich for- reicht wurden, die wir aus anderen Bereichen kennen. dere die Bundesregierung auf, das zu tun und sich nicht Hier kommt aber etwas in Bewegung. Das wünschen wir immer auf Einzelmaßnahmen zu beschränken. Ich wün- uns natürlich auch für den Gasmarkt. Was den Gasend- sche mir, dass auch Bundesminister Glos zu den realpo- kundenmarkt angeht, kann sicherlich noch viel mehr er- litischen Auswirkungen, die die Finanzmarktkrise in reicht werden. Deutschland, international und europaweit hat, Stellung nimmt. Das wäre am heutigen Morgen wichtig als Signal Mit der Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbe- und als Orientierung für die Bürger draußen, damit sie schränkungen haben wir dem Bundeskartellamt Ende wissen, was auf sie zukommt. Die Politik muss sich da- letzten Jahren mehr Möglichkeiten im Kampf gegen rauf einstellen und darf sich nicht ideologisch verhalten, missbräuchlich überhöhte Endkundenpreise eingeräumt. sich in weiteren Subventionstatbeständen ergehen und Das ist der richtige Weg. Es sind bereits erste Erfolge zu die Bürger milliardenschwer belasten. verzeichnen, wie die Einstellung des Missbrauchsver- 19450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Garrelt Duin (A) fahrens gegen sechs regionale Eon-Gasversorger Anfang tausende von Arbeitsplätzen im lokalen Handwerk gesi- (C) Oktober dieses Jahres gezeigt hat. Obwohl § 29 des chert und zum Teil neu geschaffen. Wegen der hohen GWB noch nicht einmal zehn Monate alt ist, können wir Nachfrage haben wir die Mittel für energetische Sanie- schon jetzt feststellen, dass dieses Instrument in die rich- rungen im Bereich privater Haushalte Mitte dieses Jah- tige Richtung weist. Im bereits erwähnten Verfahren res von 900 Millionen Euro auf 1,4 Milliarden Euro wurde entschieden, dass durch eine Verschiebung der aufgestockt. Wir haben uns geeinigt, das CO2-Gebäude- Preiserhöhung bzw. im Rahmen von Boni 55 Millionen sanierungsprogramm mindestens bis 2011 mit mindes- Euro an die Kunden zurückgezahlt werden müssen. Wei- tens 900 Millionen Euro jährlich fortzuführen. tere knapp 30 Verfahren gegen Gasversorger stehen nach Ein weiteres Element – ich will es hier noch einmal Aussage des Bundeskartellamtes kurz vor dem Ab- ausdrücklich erwähnen – ist das ebenfalls im Juni, als schluss. wir diese Diskussion führten, verabschiedete Gesetz zur Die von Ihnen geforderte staatliche Preisaufsicht auf Liberalisierung des Zähl- und Messwesens. Spätes- Länderebene konnte die Verbraucher früher nicht in die- tens 2010 haben Endkunden die Möglichkeit, sich intel- sem Umfang vor Preiserhöhungen schützen, und sie ligente Strom- und Gaszähler einbauen zu lassen, wird dies auch in Zukunft nicht können. Deswegen wodurch wir Transparenz über den tatsächlichen Ener- bleibt es bei dem eingeschlagenen Weg. gieverbrauch und neue Möglichkeiten zur gezielten Ver- brauchssteuerung schaffen. Wir haben in dieses Gesetz Richtig ist – das wird auch von niemandem in Zweifel auch die Pflicht der Energieversorgungsunternehmen gezogen –, dass die Energiekostenentwicklung der ver- aufgenommen, tageszeit- und lastvariable Tarife anzu- gangenen Jahre und insbesondere der vergangenen Mo- bieten. Auch damit wird der Energieverbraucher zuneh- nate für immer mehr Haushalte eine erhebliche Belas- mend zu einem wirklich mündigen Kunden. tung darstellt. Richtig ist auch, dass die Menschen von der Politik Handlungsoptionen erwarten. Was sie nicht Ich will an dieser Stelle auch die Ausweitung des erwarten, sind unhaltbare Versprechungen. Die Bürger- Contractings im Mietwohnungsbereich erwähnen. Con- innen und Bürger wissen genau, dass es in Zeiten einer tracting ist zwar eine zunächst kompliziert anmutende wachsenden globalen Energienachfrage bei gleichzeitig Materie, bringt aber eine tatsächliche Entlastung der knapper werdenden Ressourcen falsch wäre, Hoffnun- Bürgerinnen und Bürger mit sich. Contracting ist die gen auf dauerhaft niedrige Energiepreise zu wecken. Ins- Brücke in das Zeitalter der Energiedienstleistungen. Es besondere wäre es angesichts der Entwicklungen auf ermöglicht ein professionelles Management der Energie- dem Weltmarkt falsch, den Eindruck zu erwecken, dass verbräuche und generiert, sofern es gut ausgestaltet ist, diese Probleme durch nationale Politik gelöst werden spürbare Einsparungen von Energiekosten. könnten; dieser Ansatz kommt in Ihrer Programmatik (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) aber immer wieder zum Vorschein. Darüber hinaus macht Contracting Schluss mit der kon- Die Politik kann aber helfen, die Kostenbelastung traproduktiven Anbieterphilosophie, möglichst viele Ki- der Verbraucherinnen und Verbraucher in einem bezahl- lowattstunden absetzen zu wollen. Wir wollen deshalb baren Rahmen zu halten. Deswegen muss ganz oben auf möglichst noch im parlamentarischen Verfahren zum der Tagesordnung stehen – das ist unsere Leitlinie –, Energieeinspargesetz eine Regelung zur Erleichterung gleichen Lebenskomfort bei sinkendem Energiever- von Contracting im Mietwohnungsbereich einbringen. brauch zu ermöglichen. Das ist im Grunde die Maxime, nach der wir unsere Politik ausgerichtet haben; darauf Ich komme jetzt zu Ihrer Forderung nach den Sozial- hat Herr Kollege Pfeiffer schon hingewiesen. Im Rah- tarifen. Ich freue mich über jeden Energieversorger, der men des Integrierten Energie- und Klimaprogramms diese auf freiwilliger Basis anbietet; wir kennen Stadt- haben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen aus ver- werke und andere Regionalgesellschaften großer Ener- schiedenen Politikbereichen gebündelt. Das war auch gieversorger, die solche Tarife anbieten. Ich warne aller- notwendig. dings im gleichen Atemzug vor staatlich verordneten Sozialtarifen, wie Sie sie heute erneut fordern. Ein sol- Die Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, das cher Tarif bietet im Übrigen keinerlei Anreiz zum spar- KWK-Gesetz und das Erneuerbare-Energien-Wärmege- samen Umgang mit Energie. Er gäbe möglicherweise so- setz gehen in die richtige Richtung. Durch Kraft- gar Fehlanreize in Richtung von Energieverschwendung. Wärme-Kopplung und den verstärkten Einsatz erneuer- barer Energien im Strom- und Wärmesektor werden un- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) sere Importabhängigkeit und die Belastung der privaten Natürlich ist uns sehr bewusst, dass gerade Haushalte Haushalte durch den Preisanstieg auf den Weltenergie- mit niedrigem Einkommen oder Haushalte von Transfer- märkten verringert. leistungsbeziehern ganz besonders von steigenden Ener- Schon seit Jahren schaffen wir darüber hinaus mit giekosten betroffen sind, sofern sie diese Mehrkosten dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm Anreize zur nicht vom Amt erstattet bekommen. Wir halten es jedoch energetischen Gebäudesanierung. Allein in den Jahren für verfehlt, dieses Problem über Zwangstarife, über 2005 bis 2007 wurden 650 000 Wohnungen mithilfe von staatliche Sozialtarife zu lösen. Ich glaube, dass wir im staatlichen Zinsverbilligungen oder Zuschüssen saniert Bereich der klassischen Sozialpolitik einiges auf den oder energiesparend neu gebaut. Durch diese dauerhafte Weg gebracht haben – auch davon ist schon gesprochen Entlastung der Haushalte im Hinblick auf ihre Energie- worden –, was sich wirklich als positiv darzustellen kostenrechnung wurden außerdem Tausende, ja Zehn- lohnt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19451

Garrelt Duin (A) Die Novelle zum Wohngeldgesetz will ich an erster andere Transferleistungen beziehen, nicht lösen. Sie (C) Stelle nennen. Es ist verabschiedet, die Fördersätze deut- müssen es viel breiter diskutieren. lich zu erhöhen und die Heizkosten einzubeziehen. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das wollen wir (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Dafür haben doch so gar nicht lösen! Haben Sie unseren Sie aber lange gebraucht!) Antrag nicht gelesen?) – Nicht so lange, wie Sie vielleicht glauben. Es ist am – Doch, ich habe ihn sehr genau gelesen. Ende sogar viel schneller gegangen. Wir haben uns im ersten Halbjahr dieses Jahres in ei- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wir haben Sie ner Arbeitsgruppe sehr viel Zeit genommen und mit vie- schon vor drei Jahren dazu aufgefordert!) len externen Sachverständigen intensiv darüber gespro- chen, wie man es machen kann. Statt eines speziellen Wir haben es jetzt geschafft, die gesamte Heizperiode Tarifs für sozial Schwache gibt es die Idee eines für alle einzubeziehen. Das ist ein großer Erfolg, der in dieser Haushalte wählbaren Effizienztarifs. Ich denke, dass Koalition erzielt worden ist. Herr Kollege Kelber im weiteren Verlauf dieser Debatte (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der noch einiges dazu sagen wird. Wir werden das weiter CDU/CSU – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: prüfen, weil wir glauben, dass das ein wesentlich intelli- Das war zu lange!) genteres Mittel ist, dieses Problem zu lösen. Lassen Sie sich diese Zahlen noch einmal sagen: Von Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, las- den Änderungen, die wir beim Wohngeld vorgenommen sen Sie mich abschließend noch etwas zu den Lösungs- haben, sind in Deutschland rund 800 000 Haushalte mit vorschlägen der Kollegin Kopp sagen. Das, was Sie hier niedrigem Einkommen und rund 300 000 Haushalte von vorgeschlagen haben – zum einen durch einen Zwi- Rentnerinnen und Rentnern positiv betroffen. Insofern schenruf ausgelöst, zum anderen war das aber auch Teil können Sie doch nicht sagen, das sei alles viel zu spät Ihrer grundsätzlichen Ausführungen –, läuft am Ende gekommen. auf die Aussage hinaus, dass man die steigenden Ener- giepreise und die Belastung der Bürgerinnen und Bürger (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Deshalb haben hauptsächlich durch zwei Maßnahmen in den Griff be- wir das schon vor drei Jahren gefordert!) kommen kann, nämlich durch eine Verlängerung von Ursprünglich war vereinbart, das zu Beginn des nächsten Laufzeiten der Atomkraftwerke und durch Steuersen- Jahres zu machen. Wir haben es jetzt vorgezogen; das ist kungen. Sehr verehrte Frau Kollegin Kopp, beides ist ein absolut notwendiger und richtiger Schritt in die rich- völlig irreführend. Ich lade Sie gerne nach Niedersach- (B) tige Richtung. sen ein. Wir können einmal mit den Bürgerinnen und (D) Bürgern im Landkreis Wolfenbüttel, die oberhalb der (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das hätten Sie Asse leben, darüber sprechen, wie sie das Thema Verlän- schon vor drei Jahren tun können! Sie hätten gerung von Laufzeiten der Atomkraftwerke beurtei- nur unserem Antrag zustimmen müssen!) len. Solange das Problem des Endlagers in Deutschland Insofern bin ich sehr froh, dass Herr Tiefensee und an- nicht abschließend und eindeutig geklärt ist, stellt sich dere, die daran mitgewirkt haben, sich in diesem Punkt die Frage der Verlängerung von Laufzeiten der Atom- haben durchsetzen können. kraftwerke überhaupt nicht. Wenn es um die Anpassung von Regelsätzen beim (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe geht, werden wir DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Kurt Hill nach Vorlage des Existenzminimumsberichts die not- [DIE LINKE]) wendigen Schlussfolgerungen ziehen und diese in der Politik konkret umsetzen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp? Da kann man ja gespannt sein!) (Ulrich Kelber [SPD]: Frau Kopp hat doch Aber tun Sie doch nicht immer so, als ob von steigenden schon geredet!) und sehr hohen Energiepreisen in unserem Land nur Ich erinnere allerdings an die getroffene Regelung, um Transferleistungsempfänger betroffen wären. die Sitzung heute unterbrechen zu können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Garrelt Duin (SPD): Das ist doch nicht der Fall. Möglicherweise sind Frau Kopp und ich ja selber da- von betroffen, weil wir dann später zu einem anderen Ta- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das sagen wir gesordnungspunkt noch einmal sprechen werden. – Bitte doch gar nicht! Sie haben unseren Antrag nicht sehr. gelesen! Lesen Sie doch mal unseren Antrag!) In der Mitte der Gesellschaft spielt dieses Thema eine Gudrun Kopp (FDP): große Rolle. Deswegen werden Sie dieses Problem über Ich versuche, mich sehr kurz zu fassen, Herr Kollege die Instrumente, die sich auf das Arbeitslosengeld II und Duin. 19452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Gudrun Kopp (A) Sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, dass in Ihrem halt kommen, das wir durch Mittel von anderen Stellen (C) Koalitionsvertrag, also dem Koalitionsvertrag von SPD wieder stopfen müssten. Für die Bürgerinnen und Bürger und Union, steht, dass Sie sich darauf verständigt haben, käme dabei nichts Positives heraus. noch in dieser Legislaturperiode das Problem der Endla- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gerung von Atommüll einer Lösung zuzuführen? Wo ist diese Lösung? Reden Sie sich bitte nicht mit dem Thema Ich will abschließend sagen: Beide Wege – sowohl Asse heraus; das hat mit diesem Thema nichts zu tun. der staatlich verordnete Sozialtarif als auch Steuersen- kungen und Atomkraft – sind irreführend. Wir müssen (Ulrich Kelber [SPD]: Doch! Auch wenn Sie auf dem Weg weitergehen, den diese Koalition auf der es nicht hören wollen!) Basis der von Rot-Grün in diesem Punkt eingeleiteten – Nein, es geht um stark strahlende Abfälle. Politik geebnet hat. Effizienzsteigerungen, erneuerbare Energien – das und nicht das, was wir hier in diesem (Ulrich Kelber [SPD]: Die sind in Asse auch Saal von links und rechts dazu gehört haben, ist der Weg, drin!) um eine wirkliche Lösung dieses Problems zu erarbei- Wo ist Ihre Endlagerlösung für den Atommüll, wie ten. Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben? Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Garrelt Duin (SPD): Frau Kollegin Kopp, natürlich steht das so in der Vizepräsidentin Petra Pau: Koalitionsvereinbarung; Sie haben sie sinngemäß richtig zitiert. Wenn sich aber während dieser Überprüfung er- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die gibt, dass es zurzeit keine Lösung für dieses Endlager- Kollegin Bärbel Höhn das Wort. problem gibt – die Vorkommnisse in der Asse sind ein Beleg dafür, dass wir dort weder technisch noch anders Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auf einem guten Weg sind –, dann muss das in der Gro- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ßen Koalition eben auch zur Kenntnis genommen wer- Wir haben in den letzten Wochen bei der Bankenkrise den. gemerkt, wie schnell die Bundesregierung aktiv wird, um ein gravierendes Problem anzupacken. Wir wollen, (Gudrun Kopp [FDP]: Sie wollen es nicht!) dass andere Probleme, die die Menschen betreffen, Es gibt jetzt ein anderes verabredetes Verfahren. Wir ebenso schnell angepackt werden. Durch die Auswir- werden weiter prüfen, weil wir ja ein Interesse daran ha- kungen der Finanzkrise werden die Bürgerinnen und (B) ben, dass wir irgendwann zu einer entsprechenden Lö- Bürger mehrfach belastet. Wir werden nicht nur den (D) sung kommen. Dass diese Lösung noch nicht vorliegt, Haushalt mit mehreren Hundert Milliarden Euro belas- hat aber nichts damit zu tun, dass man sich im Bun- ten, sondern ein Teil der Belastungen wird auch real auf desumweltministerium oder an anderer Stelle nicht um die Menschen zukommen. Wir stehen vor einer Rezes- diese Dinge kümmern würde, sondern das hat schlicht- sion, und wir müssen uns mit hohen Energiepreisen aus- weg damit etwas zu tun, dass alle Erfahrungen, die bis- einandersetzen. Das ist eine dreifache Belastung der Be- her gemacht worden sind, nicht ausreichen, um ein si- völkerung. Deshalb ist es richtig, dass wir angesichts des cheres Endlager in Deutschland zu definieren. Solange wachsenden sozialen Problems heute eine Debatte da- das nicht der Fall ist, kann über eine Verlängerung von rüber führen, wie die Lösung aussehen könnte. Laufzeiten der Atomkraftwerke nicht gesprochen wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den. Ehrlich gesagt hat mich die Lösung, die CDU/CSU (Beifall bei der SPD – Gudrun Kopp [FDP]: und SPD für dieses Problem vorschlagen, nicht über- Sie prüfen ja nicht einmal weiter!) zeugt. Herr Duin hat eben zu Recht festgestellt, dass – Doch, natürlich. nicht nur Hartz-IV-Empfänger bzw. Wohngeldempfän- ger betroffen sind. Insofern ist es zwar richtig, dass Sie Auch mit dem zweiten Punkt, den Sie hier vorschla- das Wohngeld erhöht und einen Heizkostenzuschuss gen, nämlich Steuersenkungsprogrammen, liegen Sie vorgesehen haben; aber wir haben auch eine Mittel- falsch. Das kann nicht die Lösung der Probleme sein. schicht. Es gibt Familien mit kleinen Einkommen, die Wir haben das in den letzten Monaten an den Tankstellen massiv von den drei Punkten betroffen sind, die ich ge- immer wieder erlebt, auch wenn es jetzt eine Entwick- nannt habe. Dafür brauchen wir eine Lösung. lung hin zu sinkenden Spritpreisen gibt. Wer glaubt denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ernsthaft, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher Gudrun Kopp [FDP]: So ist es!) länger als drei oder vier Tage etwas von einer Senkung der Mehrwertsteuer oder der Ökosteuer hätten? Das lan- Mit der Wohngelderhöhung und dem Heizkostenzu- det am Ende doch wieder bei den Konzernen. Die Preis- schuss laufen Sie dem Problem hinterher. Allein im Ok- gestaltung, die insbesondere bei den Tankstellen vorge- tober haben 300 Gasanbieter ihre Gaspreise um durch- nommen wird, ist doch für niemanden nachvollziehbar. schnittlich 15 Prozent erhöht. Mit Ihrer Feststellung, Sie glauben doch nicht wirklich, dass dabei am Ende dass die Menschen im Winter nicht im Kalten sitzen sol- eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger herauskom- len, haben sie recht, Herr Hill. Aber in Ihrem Antrag ge- men würde. Es würde zu einem riesigen Loch im Haus- hen Sie auf das Problem der Heizkosten gar nicht ein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19453

Bärbel Höhn (A) Sie kündigen zwar an, dafür sorgen zu wollen, dass die Jahr ein ÖPNV-Ticket bezahlt, eine Energieberatung in (C) Menschen nicht frieren, aber Sie schlagen keine Lösung Anspruch nimmt oder – wenn sie die Schecks sammelt – für dieses Problem vor. Sie beschäftigen sich nur mit einen energieeffizienteren Kühlschrank kauft. Auch das dem Strom, aber nicht mit den Heizkosten und dem Ver- ist wichtig, um den Menschen vor Ort individuell eine kehr. Möglichkeit zu geben, etwas zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir brauchen darüber hinaus ein entsprechendes Ord- sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ nungsrecht. Ich kann nicht verstehen, dass es nur die Ja- CSU]) paner mithilfe des Ordnungsrechts schaffen sollen, einen Top-Runner-Ansatz zu verfolgen. Das effizienteste Die Menschen werden einen zusätzlichen Schock er- Elektrogerät setzt den Standard. Alle diejenigen, die es leben, wenn sie im nächsten Frühjahr ihre Heizkostenab- in drei bis fünf Jahren nicht geschafft haben, diesen rechnung bekommen. Jetzt zahlen sie noch nach der Vor- Standard einzuhalten, sind weg vom Markt. Ein solches ausberechnung vom letzten Jahr. Im Sommer war das Top-Runner-Modell brauchen wir in der EU, auch in Heizöl teilweise doppelt so teuer als im Vorjahr. Das Deutschland. heißt umgekehrt: Wer zu diesem Zeitpunkt Heizöl einge- kellert hat, wird den Mietern erhebliche Kosten in Rech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung stellen müssen. Das wird die Menschen im nächs- sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. ten Frühjahr erwarten. Deshalb sind nicht nur eine Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) Wohngelderhöhung und ein Heizkostenzuschuss not- wendig; wir brauchen vor allen Dingen eine Lösung, mit Ich muss ganz ehrlich sagen: Die Kennzeichnungs- der wir unabhängiger vom teuren Öl werden und wert- regelungen in der EU müssen überarbeitet werden. Die volle Energie einsparen, um dem nächsten Preisschock Kennzeichnung ist für die Verbraucher nicht nachvoll- vorzubeugen. Wir müssen handeln, wir müssen reagie- ziehbar. So gibt es bei den Elektrogeräten ein Labeling ren. von A, B, C und D. Das kann man noch verstehen. Wenn man aber ein Gerät der Stufe A kauft und meint, dies sei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das beste, muss man sich erklären lassen, dass es auch Der beste Weg dorthin besteht in erneuerbaren Ener- Geräte der Stufen A+ und A++ gibt. Wenn man einen gien, Energieeinsparung und Energieeffizienz. Wir ha- Kühlschrank der Stufe A++ gekauft hat, dann hat man ben ein großes Energieeinsparpotenzial. Deshalb brau- einen Kühlschrank, der teilweise 45 Prozent effizienter chen wir – das ist der Vorschlag der Grünen – eine ist als ein Kühlschrank der Stufe A. Das verstehen die Energiesparoffensive; denn jede eingesparte Kilowatt- Menschen nicht. Das müssen wir ändern. Wir brauchen (B) stunde ist billiger als jede verbrauchte Kilowattstunde. eine bessere Kennzeichnung, die die Menschen verste- (D) hen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wie wollen wir vorgehen? Wir fordern beispielsweise sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. einen Energiesparfonds; denn gerade in den Bereichen, Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]) in denen es Einzelne nicht schaffen, muss es eine Unter- stützung der Infrastruktur geben. Das heißt, dass wir Das wäre auch gut für die Wirtschaft; denn die Wirt- zum Beispiel mehr in Dämmmaßnahmen investieren schaft produzierte dann bessere Geräte. Die Exportmög- müssen. Herr Duin, Sie haben zu Recht gesagt, dass in lichkeiten nähmen zu. Wir wären damit besser dran. Wir diesem Bereich bereits investiert wird. Aber wir sehen sehen an der Krise der Automobilindustrie in den USA, doch, dass gerade im Mietwohnungsbau viel zu wenig wie schlimm es ist, wenn man auf die falschen Produkte geschieht. Auf diese Weise bräuchten wir 100 Jahre, bis setzt. Damit werden letzten Endes Arbeitsplätze gefähr- dieses Problem gelöst wäre. Aber wir haben keine det. 100 Jahre. Wir können den Menschen nicht sagen, dass sie noch 100 Jahre warten müssen, bis die letzte Woh- Ich komme zum Schluss. Wir brauchen mehr Wettbe- nung gedämmt ist. werb auf dem Energiemarkt. Es gibt ein Kartell von vier großen Energiekonzernen, die 88 Prozent der Stromver- Das heißt, wir brauchen bessere Contracting-Maß- sorgung kontrollieren. Das geht nicht, weil das zu unfai- nahmen; denn die bestehenden Maßnahmen greifen ren Preisen führt. nicht. Wir brauchen Finanz-Contracting. Wir brauchen gerade im Wohnungsbau mehr Unterstützung. Wir brau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen auch im Verkehrsbereich mehr Unterstützung. Der ÖPNV muss ausgebaut werden, damit die Menschen Wir Grüne fordern mehr Wettbewerb, mehr Effizienz- eine Alternative zu den steigenden Spritkosten in diesem standards und mehr Energieeinsparoffensiven. Aber hier Land haben. tut die Bundesregierung zu wenig. Wir müssen jetzt agieren und vor der nächsten Energiepreiserhöhung han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deln, damit die Menschen wissen, dass wir etwas getan haben. Wir wollen nicht nur durch einen Energiesparfonds die Infrastruktur verbessern. Wir wollen auch einen Energie- Danke schön. sparscheck. Jede Person in diesem Land soll entschei- den, ob sie mit diesem Scheck im Wert von 50 Euro pro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finan- (C) Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die zieren? Unionsfraktion. Sie denken nur über neue Steuern für diese Personen- (Beifall bei der CDU/CSU) gruppen nach; Sie wollen ihnen nur neue Lasten auferle- gen, was man zum Beispiel an der Regelung zur Erb- schaftsteuer erkennt. Danach soll es den Erben Franz Obermeier (CDU/CSU): möglichst schwer gemacht werden, den Betrieb weiter- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wieder zuführen. einmal wird versucht, mit alten planwirtschaftlichen In- strumenten auf Stimmenfang zu gehen. Es ist ja so ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fach: Die Strompreise werden quasi staatlich festgesetzt. Ihr Prinzip ist: Neid hat immer Konjunktur. Vorgeschlagen wird: Sockelversorgung kostenlos, 50 Pro- zent Vergünstigung für Bezieher sozialer Leistungen, Was verbirgt sich nun hinter den Vorschlägen, und eine höhere Besteuerung der Energieunternehmen zur wer trägt die Kosten? Die Antwort ist: Das sind die an- Deckung des Freifahrtscheins für Strom, einen neuen deren privaten Verbraucher, auf die diese Kosten durch Energieeinsparfonds, dazu noch eine neue Strompreis- Preiserhöhungen umgelegt werden. Sie zahlen höhere aufsicht auf Länderebene und ein neuer Verbraucherbei- Preise, um das auszugleichen. rat, nicht zu vergessen ein Klimascheck in jährlicher Höhe von 250 Euro. Bei dieser Gelegenheit will ich auf einige Instrumente zu sprechen kommen. Natürlich ist es richtig, dass wir (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar alles daransetzen, Wettbewerb auf dem Energiesektor Enkelmann [DIE LINKE]: Schönen Dank! einzuführen. Die Große Koalition ist dabei, die Dinge Sehr freundlich!) voranzubringen. Natürlich ist es auch Aufgabe des Staa- tes und des Gesetzgebers, die Voraussetzungen für einen Selbst wenn ich etwas vergessen haben sollte: Es reicht effizienten Markt zu schaffen. uns schon. Warum soll es Sozialtarife eigentlich nur für Energie geben? Warum gibt es denn keine Sozialtarife Da vorhin von der Kernenergie die Rede war, will für Nahrungsmittel? Warum gibt es keine Sozialtarife für ich auf diesen Punkt eingehen. Ich weiß, dass Sie aus Kleidung? Warum gibt es keine Sozialtarife für Urlaubs- Niedersachsen kommen, Herr Duin. Wenn man die End- reisen? Das alles könnten Sie beantragen. lagerfrage zum Casus knacksus macht, dann stellt sich natürlich die Frage, ob durch das bestehende Morato- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Dafür ist die rium die Endlagerfrage irgendwann gelöst werden kann. (B) CSU zuständig!) Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass ein Morato- (D) Nein, der richtige Ansatz ist, dass der soziale Aus- rium schon einmal ein Problem gelöst hat. Deswegen ist gleich bei uns über Sozialtransfers und über das Steuer- der Hinweis auf den Koalitionsvertrag natürlich nach- system stattfindet und nicht bei einzelnen Gütern an- vollziehbar. Wir sollten uns in der verbleibenden Zeit setzt. Wir verzetteln uns sonst und bringen die soziale schon bemühen, dass wenigstens dort, wo die wissen- Marktwirtschaft durch immer mehr Eingriffe und Zu- schaftliche Erkundung weitgehend abgeschlossen ist, satzkosten aus dem Lot. Ihre Vorschläge strotzen nur so festgelegt wird, ob der Standort geeignet ist oder nicht. von zusätzlicher Bürokratie, Geld, das uns dann an ande- Frau Höhn, Sie bringen die Rezession und die hohen rer Stelle fehlt. Energiepreise in einen direkten Zusammenhang. (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ja, für die Not (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: leidenden Banken fehlt das Geld dann! Das Nein! Das ist eine Belastung!) stimmt!) Es ist wahr, dass wir in der Vergangenheit den Zusam- Das Kabinett hat gerade beschlossen, die ab 2009 ge- menhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und den plante Wohngelderhöhung um drei Monate vorzuzie- Energiepreisen verspürt haben. Aber Sie stellen die hen. Bedürftige erhalten rückwirkend ab dem 1. Oktober Frage, was die Bundesregierung in dieser Beziehung ge- rund 140 Euro statt bisher 90 Euro. Außerdem wird der tan hat. Dazu will ich Ihnen wegen der knappen Zeit nur Heizkostenzuschlag für Bedürftige über das Wohngeld einige Punkte nennen. aufgestockt. Der Zuschlag wird im kommenden Frühjahr gezahlt. Das beschlossene Schulbedarfspaket bringt eine Die Umstellung auf andere Energieformen ist bei den weitere Entlastung. Wie Herr Duin gerade gesagt hat, deutschen Verbrauchern voll im Gange. Ich sehe, dass kommt dies insgesamt 800 000 Haushalten in der kom- sehr viele Haushalte jetzt auf neue Formen der Energie menden Heizperiode zugute. umstellen, nicht zuletzt deswegen, weil die Große Koali- tion die Förderung neuer Energieformen verstärkt hat. Sie sprechen immer nur von den einkommensschwa- Ich stelle zum Beispiel fest, dass eine ganze Menge von chen Haushalten, die mit höheren Energiepreisen kon- Haushalten jetzt Pelletöfen und Hackschnitzelheizungen frontiert sind. Was ist eigentlich mit den ganz normalen einbauen und dass Wärmepumpen jeglicher Art hoch im Arbeitnehmern, den Familien mit Kindern, den Hand- Kurs stehen. Das ist eine Folge dieser Politik. Um Ihre werkern und den mittelständischen Unternehmen, die Frage zu beantworten: Der Bund reagiert für meine Be- sich anstrengen, Leistungen erbringen, ihren Lebensun- griffe auf die Herausforderungen richtig. Auch das CO2- terhalt selbst erwirtschaften und die Sozialtransfers mit Gebäudesanierungsprogramm hat erhebliche Erfolge Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19455

Franz Obermeier (A) gezeitigt. Es ist mittlerweile zu einer Stütze der Bauwirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) schaft geworden. Insbesondere das Innenausbaugewerbe und bei der LINKEN) zieht daraus erhebliche Vorteile. Wenn Sie von der Union das in Abrede stellen, dann ha- Ich will auf den Antrag der Linken zurückkommen. ben Sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Auf wen zielen Sie wirklich ab? Insbesondere für die einkommensschwächeren Haus- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Auf alle, Herr halte wird die Situation unter Einbeziehung der Miet- Obermeier!) kosten geradewegs bedrohlich. Wir haben nach Berech- nungen des Deutschen Mieterbundes bei den Im Rahmen der Grundsicherung werden die Energiekos- Niedrigeinkommenshaushalten Belastungen durch die ten bereits über die Erstattung der Wohnkosten abgegol- Warmmiete von insgesamt 50 Prozent. Das heißt, man ten. gibt die Hälfte seines Einkommens für diesen Bereich (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aus. Wenn wir das in die Zukunft projizieren, dann zeigt Falsch! Die Stromkosten nicht!) das die Dringlichkeit unseres Handelns. – Die Stromkosten nicht, aber die Heizkosten werden Das hat natürlich Konsequenzen für die Volkswirt- abgegolten. schaft und für die öffentlichen Haushalte; Frau Höhn hat darauf hingewiesen. Bei den angesichts der drohenden (Ulrich Kelber [SPD]: Warmwasser auch weltwirtschaftlichen Rezession bzw. der Abschwächung nicht!) des Wachstums erwartbaren Exportrückgängen fehlt je- – Warmwasser auch nicht; das spielt aber mit 10 Prozent der Euro, der für Energieimporte ausgegeben werden nur eine geringe Rolle. muss, zur Stärkung der Binnennachfrage, die jetzt so wichtig wäre. Wenn wir auf die öffentlichen Haushalte schauen, dann sollten wir die Kommunen in den Blick Vizepräsidentin Petra Pau: nehmen: Sie müssen in diesem Jahr voraussichtlich Kollege Obermeier, achten Sie bitte auf die Zeit. 1 Milliarde Euro mehr für die Kosten der Unterkunft der Arbeitslosengeld-II-Beziehenden ausgeben – allein we- Franz Obermeier (CDU/CSU): gen der gestiegenen Heizkostenanteile. Das heißt, die Vielen Dank. Ich komme gleich zum Ende. Notwendigkeit des Handelns ist überhaupt nicht abzu- streiten. Ich will nur sagen: Vorhin wurde ausgeführt, dass es in keinem europäischen Land eine derart gute soziale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Absicherung für Einkommensschwache gibt. Das ist un- (B) eingeschränkt zu unterstützen. Ihr Antrag ist ein Relikt Am meisten betroffen sind natürlich Hartz-IV-Bezie- (D) aus der DDR-Zeit, und die wollen wir nicht. hende; denn während der Regelsatz von der Großen Koalition seit seiner Einführung 2005 um insgesamt Vielen Dank. ganze 2 Prozent erhöht wurde, sind im gleichen Zeit- raum die Preise für Strom allein um 19 Prozent und die (Beifall bei der CDU/CSU) Nahrungsmittelpreise, die mit den Energiepreisen zu- sammenhängen, um 13 Prozent gestiegen. Herr Duin, Vizepräsidentin Petra Pau: streuen Sie den Leuten doch keinen Sand in die Augen, Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der indem Sie sagen: Wir werden uns mit dem Regelsatz be- Kollege Markus Kurth das Wort. schäftigen. Ich bin im Sozialausschuss, und ich höre, was der Arbeitsminister sagt. Während Sie noch regie- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren, macht er überhaupt keine Anstalten, am Regelsatz Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! irgendetwas zu ändern. Das ist die Wahrheit, die man sa- Wenn Herr Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion gen muss. Sie sollten hier keinen Nebel verbreiten. fragt, warum wir uns mit diesem Thema überhaupt be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schäftigen, dann scheint mir notwendig zu sein, zunächst einmal zwei oder drei Fakten zu präsentieren und sich Wir wollen die soziale Frage mit der ökologischen die Situation zu verdeutlichen. Frage verbinden. Ich kann angesichts der knappen Zeit hier nur auf den Bereich Stromtarife eingehen; Frau Nach Berechnungen des Verbraucherzentrale Bundes- Höhn hat zum Bereich Wärme schon einiges gesagt. Wir verbandes werden zum Beispiel die gesamten Energie- meinen nicht, dass es eine sinnvolle Lösung ist, Ihrem kosten eines Vierpersonenhaushaltes, also Strom-, simplen Modell – Motto „Freibier für alle“ – zu folgen Wärme- und Treibstoffkosten, im Jahr 2008 im Ver- und Sozialtarife unbeschränkt um 50 Prozent zu subven- gleich zum Vorjahr um rund 1 000 Euro auf 4 640 Euro tionieren. Mir liegen die DDR-Vergleiche mit Ihrer gestiegen sein. Es handelt sich folglich um einen erhebli- Fraktion normalerweise überhaupt nicht. Dennoch ziehe chen Anstieg. Im Vergleich zum Jahr 2000 beträgt der ich einen solchen Vergleich jetzt zum ersten Mal, weil Anstieg weitere 1 000 Euro. Innerhalb von acht Jahren das wirklich an die Zeiten erinnert, in denen die Raum- haben sich diese Kosten fast verdoppelt. Das heißt, die temperatur noch über das Fenster reguliert worden ist. Geschwindigkeit des Energiepreisanstiegs erfordert na- Das kann nicht funktionieren. türlich, insbesondere für die einkommensschwächeren Haushalte, eine Antwort. Insofern ist diese Debatte voll- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wir sind in der ständig berechtigt. Sache nur konsequenter als Sie!) 19456 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Markus Kurth (A) Wir wollen vielmehr einen gestaffelten, einen pro- sind so schlau, sich die Preise garantieren zu lassen. An- (C) gressiven Stromtarif. Wir diskutieren das. Wir sind der dere merken, dass es nur für einige und nur für einige Ansicht, dass das auf jeden Fall in die Überlegungen der Zeit eine Atempause ist. Noch haben die Nutzerinnen Bundesregierung einbezogen werden muss. Wir brau- und Nutzer von Gas keinen Vorteil. Auch bei den Strom- chen Tarifmodelle, wie sie von den Verbraucher- und preisen hat es keine Erholung gegeben. Das sind zwei Umweltverbänden zur Diskussion gestellt werden: Tarif- Punkte, wo Politik klar sagen muss: Wer Gaspreise un- modelle ohne Grundgebühren, mit vergünstigten Grund- ter Bezug auf die Kopplung an den Ölpreis auf den Welt- kontingenten und einem progressiven Tarifverlauf. Es märkten erhöht, der muss sie jetzt auch senken. kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einem niedrige- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren Preis belohnt wird, während diejenigen, die geringe DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlen müssen. CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Im November stehen die Entscheidungen für die SES 90/DIE GRÜNEN) Phase ab Januar an. Im November müssen die Stadt- Wir diskutieren diesen Tarif. Ich würde mir wün- werke und die Regionalversorger der Großen die Ent- schen, dass auch die SPD da weiterkäme. Aber sie tut es scheidung treffen, dass zum 1. Januar, noch mitten in der nicht. Herr Kelber – hören Sie einmal zu! Sie sind gleich Heizperiode, die Preise für Erdgas in Deutschland in dran! Dann können Sie diesen Widerspruch vielleicht er- dem Maß sinken, wie das die Ölnotierungen auf den läutern! –, Sie haben in der SPD-Arbeitsgruppe Energie Märkten hergeben. noch am 24. Januar 2008 ganz dicke Backen gemacht und vollmundig gesagt: Die Bundesregierung wird auf- Auch beim Strom gilt: Wer Strompreise unter Verweis gefordert, unverzüglich mit der Energieindustrie in Ver- auf Öl-, Gas- und Kohlepreise erhöht, muss sie in dem handlungen über die Einführung eines Sozialtarifs zu Augenblick, in dem Öl, Gas und Kohle auf den Welt- märkten billiger werden, ebenfalls senken. Es kann nicht treten. immer nur in eine Richtung gehen. Ich hoffe, dass das (Ulrich Kelber [SPD]: Nein! Sozialeffizienz- Kartellamt und die Bundesnetzagentur auch auf diesen tarif! Das ist ein Unterschied!) Bereich schauen, um festzustellen, ob es hier Macht- missbrauch gibt. – Das habe ich hier schwarz auf weiß. Eine Atempause zeichnet sich auch dadurch aus, dass Im letzten September gab es einen Zwischenbericht sie zu Ende geht. Das heißt, dass jetzt die Phase ist, Vor- der Energiearbeitsgruppe der SPD. In dem heißt es: Wir sorge für den Fall zu treffen, dass die Preise wieder an- verzichten jedoch auf sogenannte Sozialtarife für Ener- ziehen. Wir haben es beim Öl nach wie vor mit einem (B) gie. Wir schlagen daher vor, Geringverdiener durch das (D) Verkäufermarkt zu tun. Es sind wenige Regionen. Das Vorziehen der Wohngeldnovelle zusätzlich zu entlasten. – Gleiche gilt beim Gas. Wir haben einen nach wie vor Die dicken Backen sind also zusammengefallen wie steigenden Verbrauch bei sinkenden Ressourcen und sin- nichts. kenden Fördermöglichkeiten. Das heißt, die Preise wer- Gehen Sie mit uns einen Weg der Energieeinsparung, den wieder steigen. Deswegen muss die Atempause ge- der soziale Postulate und ökologische Postulate effektiv nutzt werden, um jetzt vorzusorgen. miteinander verbindet, um das absehbar drohende Pro- Es gibt drei Schritte: blem energiepreisbedingter Armut anzugehen. Vielen Dank. Erstens mehr Effizienz, das heißt weniger verbrau- chen. Einsparen und Energieproduktivität erhöhen sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Möglichkeiten. Zweitens umstellen auf preisstabile erneuerbare Ener- Vizepräsidentin Petra Pau: gien, um als Land, aber auch als einzelne Verbraucherin Von nahezu allen bisherigen Rednern in dieser De- bzw. einzelner Verbraucher ein Stückchen Energieauto- batte angekündigt, hat nun tatsächlich der Kollege nomie zurückzugewinnen. Kelber für die SPD-Fraktion das Wort. Drittens. Wir werden soziale Härten dieses Prozesses abfedern müssen. Ulrich Kelber (SPD): Dazu muss ich aber sagen: Ich habe dafür nichts be- Was nicht funktioniert – das sage ich sowohl in Rich- zahlt. tung der linken Seite im Plenum, zur Linkspartei, als auch in Richtung der rechten Seite im Plenum, zur FDP –, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sind die verschiedenen Vorschläge, gegen steigende Das wird so behauptet!) Weltmarktpreise anzusubventionieren. Ich meine sowohl Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und direkte Überweisungen en masse als auch das Verspre- Herren! Die in den letzten Wochen und Monaten gesun- chen, beliebige Steuern und Abgaben zu senken, wobei kenen Ölpreise verschaffen den Verbraucherinnen und gleichzeitig behauptet wird, dass man den Haushalt kon- Verbrauchern eine Atempause, nicht weniger, aber auch solidieren will. Das sind zwei Seiten der gleichen Me- nicht mehr. Einige nutzen diese Atempause. Die Bestel- daille. Es sind unrealistische populistische Versprechun- lungen von Heizöl sind in den letzten Wochen massiv gen, die nicht funktionieren können. Es ist nicht möglich, gestiegen. Es gibt schon fast Lieferengpässe. Manche gegen Weltmarktpreise national anzusubventionieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19457

Ulrich Kelber (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für sehr wichtig, dass beide Koalitionsfraktionen das (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE klare politische Signal in ihre energiepolitischen Papiere GRÜNEN) aufgenommen haben, dass wir das Wohnraumsanie- rungsprogramm durchfinanzieren. Jede Maßnahme, Kommen wir zum ersten Punkt: Erhöhung der Effi- die 2008 und 2009 beantragt wird, wird bezuschusst zienz. Schauen wir uns eine Familie an – zwei Erwach- werden. Beide, CDU/CSU und SPD, wollen dieses Pro- sene, zwei Kinder –, die in einem Einfamilienhaus gramm bis 2015 mindestens auf dieser Höhe fortsetzen. wohnt. – Man könnte die gleiche Berechnung für eine Das ist ein klares Signal an den Markt: zum Ersten an Familie anstellen, die in einer Etagenwohnung lebt. – die Verbraucherinnen und Verbraucher, ihre Wohnungen Diese Familie zahlt heute in etwa 3 500 Euro an Ener- zu sanieren, zum Zweiten an die Hersteller der entspre- giekosten im Jahr. Dass die Menschen Angst haben, chenden Materialien, in neue Fertigungsanlagen zu in- wenn die Grundpreise jeder dieser Energieeinheiten, die vestieren, damit mehr und preisgünstigere Materialien sie verbrauchen, weiter steigen, kann man sich gut vor- vorhanden sind, und zum Dritten an das Handwerk, Mit- stellen. 300 Euro netto pro Monat ist eine Menge Geld arbeiter und Auszubildende einzustellen, damit diese und muss erst einmal aufgebracht werden. Mit den vor- wichtigen Maßnahmen von noch mehr Menschen umge- handenen wirtschaftlichen Technologien kann die Fami- lie ihre Energiekosten auf 350 Euro im Jahr, auf ein setzt werden können. Zehntel, reduzieren. Mit Contracting werden wir dafür sorgen, dass auch Jetzt ist die entscheidende Frage: Wie geht das? Dazu die kleinen Vermieterinnen und Vermieter, die heute den sind Investitionen notwendig. Wir sollten einmal über hohen Aufwand scheuen, die Möglichkeit haben, sich Investitionen und nicht immer nur über – angebliche – daran zu beteiligen. Sie werden dann Dritte beauftragen Kosten sprechen. Sich lohnende Investitionen sind keine können, die Maßnahmen für sie durchzuführen. Kosten, sondern sind ein Gewinn. Natürlich müssen wir auch über Vorschriften spre- Deswegen wird Politik sagen müssen: Im Kampf ge- chen. Es ist richtig, dass wir die Energieeinsparverord- gen steigende Energiepreise werden die Bürgerinnen nung für Neubauten verschärfen. Aus meiner Sicht soll- und Bürger sowie die Unternehmen in diesem Land in- ten wir 2020 bereits beim Passivhausstandard vestieren müssen. Es lohnt sich. Denen, die diese Inves- angekommen sein. Ferner sollten wir in Ruhe noch ein- tition nicht aus eigener Kraft bewältigen können, müssen mal darüber sprechen, ob wir zusätzlich zu den beste- wir ganz besonders helfen. Wir brauchen noch gezielter henden Programmen auch beim Altbaubestand einfor- ausgerichtete Förderprogramme als in der Vergangen- dern, dass bestimmte Dinge zum Schutz der Mieterinnen heit. Dies ist nicht nur für die Menschen gut, die mit die- und Mieter passieren, die nicht der Entscheidung des (B) ser Investition ihre laufenden Kosten senken und sich Vermieters ausgeliefert bleiben dürfen, ob er ihnen hilft (D) gegen künftig steigende Kosten absichern können – In- oder nicht. vestitionen sind eine Lebensversicherung gegen stei- gende Energiepreise, seien es Weltmarktpreise oder (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- überzogene Renditen von Monopolisten oder Oligopo- Kurt Hill [DIE LINKE]) listen im eigenen Land –, sondern auch für das eigene Land, weil jeder Euro, der nicht für einen Energieträger, Wir können bei den Geräten vorangehen. Ich bin ein sondern für einen Handwerker, der ein Haus dämmt, Anhänger des Top-Runner-Prinzips. Wir haben es noch oder für ein neu hergestelltes Gerät, das weniger Energie als rot-grüne Koalition im Juli 2005 beschlossen, und es braucht, ausgegeben wird, sehr viel mehr neue Jobs als steht im Koalitionsvertrag. In Brüssel fällt im Rahmen der Import von Energieträgern schafft. der Öko-Design-Richtlinie der Europäischen Union die Entscheidung, ob wir zumindest Elemente des Top-Run- Diese Investitionen sind auch die beste Rückgabe der ner-Prinzips dort hineinbekommen. Ich weiß, dass im Einnahmen aus den Emissionszertifikaten. Es ist falsch, Moment die Möglichkeit besteht, zumindest wichtige über eine direkte Rückgabe oder einen Ökobonus das Elemente in dieser Richtlinie zu verankern: erstens eine Geld zu verjubeln. Wenn man den Menschen hilft, die klare Kennzeichnung, die auf den ersten Blick erkennen richtigen Investitionen zu tätigen, werden sie ab dem lässt, ob ein Gerät im Betrieb teurer als ein besseres Ge- zweiten oder dritten Jahr Kumulationsgewinne, Zinses- rät ist, und zweitens eine dynamische Verbesserung der zinseffekte aus den Investitionen erzielen. Den Bürgerin- Standards, etwa einen Standard A++, damit niemand, nen und Bürgern Investitionen in Energieeffizienz zu er- der ein Gerät mit dem Standard A kauft, mehr elektroni- möglichen, ist die beste Rückgabe. Damit wird auch den schen Schrott bekommt. Auch sollten wir uns überlegen, Unternehmen geholfen, weil sie mit den besten Produk- was wir auf der nationalen Ebene tun können. Wir kön- ten und effizientesten Produktionsprozessen auf den nen kein Top-Runner-Programm eins zu eins umsetzen; Weltmarkt gehen können. Wir sollten den Schwerpunkt dies tangierte den EU-Binnenmarkt. Aber wir könnten auf die Investitionen legen; das ist gut für das Land und den Blauen Engel auf den Bereich Energieeffizienz aus- gut für die Menschen. weiten; ihn bekämen nur die 10 Prozent energieeffizien- (Beifall bei der SPD) testen Geräte einer Kategorie. Dann sähen die Bürgerin- nen und Bürger auch in Deutschland auf einen Blick, ob Ich nenne ein paar Beispiele dafür. Bei den Wohnun- das Gerät eines der besten ist oder ob es bessere gibt, gen können wir viel erreichen. Die Förderung ist bereits nach denen sie sich noch umschauen müssen. So muss massiv ausgebaut und muss weiter steigen. Ich halte es man den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Ge- 19458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Ulrich Kelber (A) schäft helfen, damit sie energieeffiziente Geräte kaufen ausgeschlossen werden und nicht im Dunkeln sitzen (C) können. müssen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Danke schön. In der Tat müssen manche Menschen, wenn sie ein (Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Gerät ersetzen oder ein neues beschaffen müssen, sehr Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie wissen nicht einmal, auf den Geldbeutel achten. Für sie besteht im Augen- wie es funktioniert! Das ist unglaublich!) blick des Kaufs eine Investitionshürde, die dazu führt, dass sie das billigere Gerät selbst dann kaufen, wenn es Ulrich Kelber (SPD): nach drei Jahren aufgrund des höheren Stromverbrauchs Wenn Sie den dritten Teil meiner Rede abgewartet im Betrieb teurer ist. Über diese Hürde müssen wir uns hätten, hätten Sie die Antwort bekommen. Meine Rede unterhalten. Niemand sollte das Copyright auf einen be- ist in drei Teile gegliedert: mehr Effizienz, erneuerbare stimmten Vorschlag haben. Ich gehöre zu denjenigen, Energien und die Abfederung sozialer Härten. Aber die befürchten, dass ein reiner Zuschuss etwa über einen ich ziehe den dritten Punkt für Sie gerne vor. Klimascheck zur Verteuerung dieser Geräte in den Ge- schäften um genau diesen Zuschussbetrag führen wird. (Elke Reinke [DIE LINKE]: Vielen Dank!) Aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen. Dazu zwei Punkte. Erstens. Zum einen muss genau Eine Alternative sind zinslose Minikredite oder ein betrachtet werden, wie jemand eine bestimmte Investi- zinsloses Mini-Contracting. Damit wird Geld für die An- tion tätigen kann. Dass man sich mit den bisherigen Re- schaffung des besseren Gerätes gegeben, das dann auf- gelsätzen für die Ansparung, vor allem, wenn man das grund der eingesparten Stromentgelte zurückgezahlt Pech hat, dass ein Gerät zu Beginn der Ansparungszeit werden kann. Der Geldbeutel wird also nicht belastet. kaputtgeht, kein energieeffizientes Haushaltsgerät leis- Das würde helfen. Es würde die erreichen, die diese ten kann, ist offensichtlich. Deswegen muss auf der Hilfe dringend benötigen. Darüber hinaus würde es Mit- Grundlage des Existenzminimumsberichts ganz genau nahmeeffekte und eine Verteuerung der Geräte in den geklärt werden: Wie hoch ist die Kilowattstundenzahl ei- Geschäften verhindern. nes ALG-II-Empfänger-Haushalts, und wie groß muss bei den heutigen Marktpreisen dafür der Anteil in der (Beifall bei der SPD) Pauschale sein? Ich glaube, er wird deutlich höher als Mit Blick auf die intelligenten Stromzähler – wir heute liegen. Zum anderen müssen wir uns darüber un- haben dafür gesorgt, dass ab 2010 bei einem neuen terhalten, wie solche Investitionen getätigt werden kön- Stromzähler ein Rechtsanspruch besteht – hoffe ich, dass nen. Müssen wir Einmalleistungen einführen, oder ist so (B) viele der Wettbewerber im Strommarkt dafür sorgen etwas wie ein zinsloses Mini-Contracting sinnvoll, wo- (D) werden, dass diese schneller auf den Markt kommen. bei zum Beispiel die Stadtwerke das Gerät stellen und eine Verrechnung über die Einsparungen im Laufe der Vizepräsidentin Petra Pau: zehn oder zwölf Jahre, die das Gerät benötigt wird, er- folgt? Auch das könnte funktionieren. Ich glaube, es ist Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der besser, sich darüber zu unterhalten, als das Geld sofort Kollegin Reinke? zu verteilen, nicht wissend, was damit eigentlich pas- siert. Ulrich Kelber (SPD): Ja, selbstverständlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der zweite Punkt. Sie können diesen Haushalten auch Elke Reinke (DIE LINKE): – ich bin Ihnen, Herr Hill, sehr dankbar, dass Sie das Vielleicht ist Ihnen ja der Regelsatz für Energie für vorhin angesprochen haben – mit einer gezielten Ener- Hartz-IV-Beziehende bekannt. Es sind 26,24 Euro; aber gieberatung helfen. Das haben wir übrigens in meiner darin sind auch Instandhaltung und Wohnen enthalten, Heimatstadt in den Stadtwerken auf meinen An- nicht nur die Energiekosten. Ich denke, die Energiekos- trag hin getan. Die örtliche Linkspartei hat dies abge- ten, die entstehen, sind weit mehr als doppelt so hoch. lehnt mit der Begründung, es sei eine Verhöhnung der Ich habe jetzt einen Lösungsvorschlag von den Sozialde- Menschen, wenn wir ihnen eine kostenlose Energiebera- mokraten erwartet. Uns wurde vorgeworfen, wir würden tung mit einem Energiestarterpaket anböten. Ich glaube, uns um die Hartz-IV-Beziehenden kümmern. Leider wir sollten da den Populismus und die Hetze ablegen. müssen wir uns auch um diese kümmern; denn Sie tun es Denn diese Menschen und alle Menschen in diesem nicht. Ich erwarte jetzt wirklich einen Vorschlag von Ih- Land brauchen mehrere Ansätze, um mit den Energie- nen, wie wir den Menschen helfen können. Das ist nur preisen klarzukommen. Es darf nicht der Einzelne dis- über den Sozialtarif möglich. Energieeffizienz und kreditiert werden, nur weil es gerade in die parteipoliti- Kennzeichnungen an Kühlschränken, von denen Sie sche Linie passt. – Vielen Dank. sprechen, sind gut und schön; aber diese Menschen ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke ben im Regelsatz gerade einmal 1,40 Euro für die An- Reinke [DIE LINKE]: Weil sie sich das so- sparung einer neuen Waschmaschine. Das heißt, sie wieso nicht leisten können! Das ist richtig!) brauchen neun Jahre für die Ansparung. Ich warte auf Vorschläge, mit denen den Menschen schnell geholfen Der zweite Bereich, mit dem ich mich in meiner Rede werden kann, damit sie nicht vom Zugang zu Energie befassen will, sind die erneuerbaren Energien. Sie sind Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19459

Ulrich Kelber (A) preisstabiler – ich lasse jetzt bei den Bioenergien be- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) stimmte Dinge außen vor –, und sie werden im Verhält- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nis bereits jetzt jedes Jahr preisgünstiger. Zu bestimmten Dr. Pfeiffer? Herr Kollege Hill hat sich außerdem gemel- Zeiten stabilisieren sie bereits die Märkte an der Börse. det. Vielleicht ein kleiner Einschub, Frau Kopp von der (Dr. [SPD]: Das ist rücksichtslos FDP; denn Sie haben davon gesprochen, dass die Scheu- gegenüber den Nachfolgern!) klappen abgelegt werden müssten, und Sie haben den Begriff „Stromlücke“ verwendet. Ich gestehe dem Be- Ulrich Kelber (SPD): griff „Stromlücke“ zu, dass er PR-technisch hervorra- Sowohl Koalition als auch Opposition sind herzlich gend ausgedacht ist. Aber ich nenne Ihnen jetzt sieben willkommen. Studien zu diesem Thema und bitte Sie, eine davon zu lesen. Das sind zunächst die drei Studien aus dem Ener- giegipfel bei Angela Merkel. Sie tragen die Unterschrift Vizepräsidentin Petra Pau: von Angela Merkel, Michael Glos und . Dann hat zunächst Herr Kollege Dr. Pfeiffer das Wort. Alle drei Studien ergeben, dass es keine Stromlücke gibt. Dann gibt es die Studie von dena, bei der sich Herr Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Kohler, der Chef der dena, dagegen verwahrt, dass diese Lieber Herr Kelber, ich bin etwas erstaunt über Ihre Studie in dem Sinne herangezogen wird, er hätte eine Zitierung der Gutachten. Sie haben beispielsweise Herrn Stromlücke festgestellt. Ferner gibt es die Studie des Kohler zitiert. Ich bin Vorsitzender des Beirates für Ener- Bundeswirtschaftsministers aus diesem Jahr, aus der klar gie der Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer hervorgeht, dass es keine Stromlücke gibt. Die Studie Fragen, Frau Kollegin Kopp ist dort stellvertretende Vor- des Umweltbundesamtes bringt ebenfalls zum Aus- sitzende. Wir hatten kürzlich Herrn Kohler zu diesem druck, dass es keine Stromlücke gibt. Frau Kopp und Thema zu Gast, der uns anhand eines Power-Point-Vor- Herr Pfeiffer, den Jahresbericht der Bundesnetzagentur trages basierend auf dieser Studie dargelegt hat, dass es hätten Sie vor unserem Treffen vor ein paar Wochen le- eine Stromlücke geben wird, wenn wir die Dinge nicht sen müssen. Auch in diesem steht, dass es keine Strom- ändern. lücke gibt. Sie hätten sich doch auf die Sitzung vorberei- ten und das lesen müssen. Dann hätten Sie nicht wieder Insofern bin ich etwas verwirrt über diese Aussage. das Gegenteil behauptet. Ich erwarte, dass Sie das we- Meine Informationen sind in der Tat differenzierter. Ich nigstens lesen, bevor Sie sagen, dass Sie keine ideologi- glaube, da müssen wir ein bisschen nacharbeiten. Ich schen Debatten wollen. weiß nicht, ob Sie Herrn Kohler richtig zitieren. (B) (D) (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Gudrun Kopp Ulrich Kelber (SPD): [FDP]) Herr Pfeiffer, zwei Dinge: Erstens möchte ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern empfehlen, eine Website Wir müssen die erneuerbaren Energien noch verstärk- aufzurufen, auf der etwas über die Gesellschaft nachzu- ter einführen. Wir haben einen sehr großen Erfolg im lesen ist, in deren Beirat Sie sind. Dann werden sie se- Bereich Strom zu verzeichnen: 14,2 Prozent. Im vergan- hen, dass sie nicht so ganz pluralistisch aufgestellt ist genen Jahr sind fast drei Prozentpunkte hinzugekom- und nicht die ganze Bandbreite der Diskussion abge- men. Wenn übrigens die Geschwindigkeit des letzten deckt wird. Jahres eingehalten würde, dann hätten wir im Jahr 2010 eine so große Strommenge aus erneuerbaren Energien, Zweitens zurück zu den Themen Herr Kohler, dena wie es die zuvor zitierte Studie des Wirtschaftsministers und Studie. Wenn Sie die Begriffe „Kohler“, „Stromlü- für das Jahr 2020 einschätzt und zudem davon spricht, cke“ und „dena“ bei Google oder bei einer anderen Suchmaschine eingeben, dann werden Sie die Stellen dass es keine Stromlücke gibt. Wir haben dann aber im- sehr schnell finden. Herr Kohler hat ganz klar gesagt: mer noch zehn Jahre der Einführung vor uns, in denen Daraus eine Stromlücke per se abzuleiten, ist falsch. Er wir einen Anteil erneuerbarer Energien von 30 Prozent, hat gesagt: Es gibt dann eine Stromlücke, wenn wir 40 Prozent bzw. 45 Prozent erreichen können. keine neuen Kraftwerke mehr in diesem Land bauen. Nicht so gut sind wir im Bereich Wärme; nicht so gut (Zuruf von der FDP: Das klingt wohl ein biss- sind wir im Bereich der Kraftstoffe. In diesem Bereich chen anders!) müssen wir noch einiges tun, um es allen Menschen zu ermöglichen, zu investieren. Ich finde es gut, dass wir im Das ist eine Binsenweisheit. Bereich des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes so (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch lo- weit gekommen sind, dass wir zwar nur für die Altbau- gisch!) ten Vorschriften gemacht haben, für Neubauten aber eine starke Förderung von 500 Millionen Euro pro Jahr bis Wenn in den nächsten zwölf Jahren kein abgeschalte- zum Jahr 2012 festgelegt haben. Die energiepolitischen tes Kraftwerk durch ein neues ersetzt wird, dann entsteht Papiere sagen, dass diese Programme bis mindestens ein Defizit. Frau Kopp hingegen hat versucht, zu erzäh- 2015 so weiterlaufen sollen. len: Wenn keine Atomkraftwerke mehr weiterbetrieben 19460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Ulrich Kelber (A) werden, dann entsteht eine Stromlücke. Herr Kohler sagt anderen ostdeutschen Städten mit der CDU –: Auch dort (C) hierzu, dass dies eindeutig falsch ist. dürfen Sie nicht all das, was Sie sich vorgenommen ha- ben, in den Stadtrat einbringen. (Beifall bei der SPD – Bärbel Höhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Das hat Ich hatte schon davon gesprochen, dass soziale Här- er mir auch gesagt!) ten abgefedert werden müssen. Ein Beispiel ist erwähnt worden: das Wohngeld. 800 000 Haushalte werden da- Er weist in der Studie nach: Atomausstieg plus Neubau von profitieren, dass in diese Pauschale ein Heizkosten- von ausfallenden Kraftwerken gewährt einen vollen Er- element eingerechnet worden ist; Herr Obermeier hat satz. Es gibt keine Stromlücke. Wir können ihn gern zur schon darauf hingewiesen, um wie viel die entsprechen- nächsten Sitzung des Umwelt- oder des Wirtschaftsaus- den Zahlen steigen. Das ist ein hoher Anstieg für den schusses einladen. Dann wird er Ihnen sagen, dass genau durchschnittlichen Haushalt. Dieses Geld wird Anfang das darin steht. des Jahres 2009 fließen. Genau dann, wenn aufgrund der im Vergleich zu den vorherigen Wintern deutlich gestie- Vizepräsidentin Petra Pau: genen Heizkosten eine hohe Nachforderung auf viele Jetzt stellt Herr Kollege Hill seine Frage. Ich mache Mieterinnen- und Mieterhaushalte zukommt, aber auch darauf aufmerksam, dass ich ab jetzt so verfahren werde, viele höhere Nachzahlungen von ihrem Gasversorger für wie es der Präsident bereits beim ersten Tagesordnungs- die Heizung in ihrem Einfamilienhaus erhalten werden, punkt getan hat, dass ich restriktiv bei denjenigen das werden 800 000 Haushalte zusätzliches Geld in der Fragerecht ein Stück weit einschränken werde, die schon Hand haben, um diese Nachforderung zu bezahlen. geredet und sich in die Debatte eingemischt haben. Hierzu haben wir heute Morgen eine Verabredung ge- Wir werden die Mobilität sichern müssen. Deswegen troffen. muss der Bund zusammen mit den Ländern und Kom- munen den ÖPNV-Ausbau angehen. Wer sich die Situa- tion in den Kommunen anschaut, weiß: Der ÖPNV ist in Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): den letzten Jahren nicht zurückgebaut worden, aber die Herr Kelber, ich erwarte von Ihnen eine Aussage zu Defizite sind verringert worden. Aus dieser Kraft heraus, einem Artikel, den ich heute in der Saarbrücker Zeitung dass der ÖPNV eine wesentlich bessere Deckung seiner gelesen habe. Dort wird berichtet, Mieter sollen Heiz- Ausgaben über seine Einnahmen erzielt, muss es jetzt kosten kürzen dürfen. Dabei geht Herr Gabriel mit sei- ein Ausbauprogramm geben. nem Kollegen Glos ein bisschen strenger ins Gericht. Wenn ich diese Forderung als Überschrift lese – ich gehe Als letzten Punkt spreche ich die Effizienztarife an. (B) davon aus, dass dies zitatfähig ist –, dann stellt sich für Ich danke dem Kollegen von den Grünen, dass er noch (D) mich die Frage, ob vor der Heizperiode damit zu rechnen einmal darauf verwiesen hat, dass die SPD in 2007 und ist. 2008 die erste Partei war, die darüber gesprochen hat. Aber es ging nie um einen Sozialtarif; es ging immer um Ulrich Kelber (SPD): einen sozialen Effizienztarif. Wir haben heute in Deutschland die Situation, dass die Kilowattstunde Da die Saarbrücker Zeitung leider, obwohl meine Strom umso teurer ist, umso weniger ich verbrauche. Frau in dieser Stadt geboren worden ist, nicht zu meiner Das muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden – sei täglichen Lektüre gehört, kenne ich den Artikel nicht es freiwillig, sei es gesetzlich. exakt. Aber das, was Sie zitieren, hat Sigmar Gabriel nicht das erste Mal gesagt. Übrigens, auch ich habe mich Sozialtarife sind falsch. Wir haben nichts zu ver- mehrfach dafür ausgesprochen. Deswegen habe ich ge- schenken, auch nicht Strom. Aber wir müssen die Dinge rade gesagt: Wir sollten darüber gemeinsam diskutieren. so gestalten, dass wir erstens einen fairen Wettbewerb Ich bin der Meinung, dass auch für den Altbaube- haben. Das fehlt mir manchmal. Ich möchte nicht, dass stand eine Energieeinsparverordnung gelten muss. Wir die Stadtwerke gezwungen sind, soziale Effizienztarife haben ja heute bereits zwei Vorschriften: Die oberste Ge- anzubieten, und die Eon-Tochter die lukrativen Kunden schossfläche muss gedämmt werden, und bestimmte alte übernehmen kann. Dies muss zweitens natürlich pro Heizungssysteme müssen ausgetauscht werden. Ich bin Kopf ausgestaltet sein; denn ich will keine Bevorteilung der Meinung, dass wir Stück für Stück – aber nie so wie des Singles gegenüber der Familie. Das kann man tun, beim Neubau – zusätzliche Vorschriften einführen müs- ohne bürokratische Hürden aufzurichten. Dann haben sen. Für den Fall, dass Vermieterinnen und Vermieter wir etwas erreicht, was allen hilft. Wir haben die Chance trotz aller Förderung diesen Vorschriften nicht nachkom- der Atempause genutzt, indem wir uns auf in Zukunft men, bin ich der Meinung, dass die Mieterinnen und wieder steigende Energiepreise vorbereitet haben. Mieter ihre Heizkosten auf das maximale Niveau, das Vielen Dank. bei Einhaltung der Vorschriften bestünde, kappen kön- nen. Dafür setze ich mich ein – sowohl innerhalb der ei- (Beifall bei der SPD) genen Partei, in der es sehr viele gibt, die das unterstüt- zen, als auch innerhalb der Koalition, wobei vom Koalitionspartner schon angekündigt wurde, dies nicht Vizepräsidentin Petra Pau: mitzutragen. Sie kennen das ja aus Koalitionen, in denen Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kopp das Sie beteiligt sind – sei es in Berlin mit der SPD, sei es in Wort. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19461

(A) Gudrun Kopp (FDP): ganz wichtiger Punkt –, dass es Ersatzkohlekraftwerke (C) Vielen Dank. – Herr Kollege Kelber, wir sollten uns für ausscheidende Atomkraftwerke geben muss, son- nicht gegenseitig vorwerfen, bestimmte Gutachten gele- dern, dass die ausscheidenden Kohlekraftwerke ersetzt sen oder nicht gelesen zu haben. Ich glaube, das ist unter werden müssen, sei es durch Kohle-, sei es durch Gas- Niveau. kraftwerke. (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) (Gudrun Kopp [FDP]: Die müssen ersetzt wer- den! Genau!) Ich danke dem Kollegen Pfeiffer sehr herzlich für die Richtigstellung. Ich habe die Ausführungen von Herrn In diesem Abschnitt des Gutachtens steht ganz klar: Kohler zu seinem Gutachten, das übrigens von der Bun- Wenn man beides macht, die Atomkraftwerke abschaltet desregierung bei ihm in Auftrag gegeben wurde, und alle fossilen Kraftwerke, die ausscheiden, nicht er- setzt, dann sieht er keine gesicherte Versorgung, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) zweimal gehört. Er hat gesagt: Wenn es dabei bleibt, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Also Strom- dass der Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen wird, lücke!) und wenn wir beim Neubau von konventionellen Kraft- und damit ist er auf der Linie der SPD-Bundestagsfrak- werken nicht nennenswert weiterkommen – er hat nicht tion. gesagt: „wenn keine weiteren neuen gebaut werden“, sondern: „wenn keine neuen Kohlekraftwerke gebaut Sie können nicht erst über Atomenergie sprechen – da- werden, wie es eigentlich nötig wäre; leider sind es meist nach setzen Sie vielleicht für sich ein geistiges Komma – Kohlekraftwerke, aber so ist es“ – und wenn wir beim und anschließend über eine Stromlücke, womit Sie beides Netzausbau nicht vorankommen, dann haben wir ein in einen Zusammenhang stellen. Problem, und dann ist die Stromlücke eine reale Gefahr, (Gudrun Kopp [FDP]: Mein geistiges Komma die wir sehen müssen. Da hat es überhaupt keinen muss Sie nicht interessieren!) Zweck, das vertuschen zu wollen. Dieser Zusammenhang ist falsch. Das ist unfair. Die Sie haben zwar eben etwas differenzierter in Ihrer Aussage von Herrn Kohler, die Sie zitiert haben, haben Antwort auf eine Nachfrage argumentiert. Aber ich bitte Sie entweder nicht richtig verstanden oder hier unrichtig Sie wirklich, mit solcherlei Totschlagargumenten wie dargestellt. „nicht gelesen“, „nicht zur Kenntnis genommen“ vor- sichtiger zu sein. Die Fakten sind andere. Die werden Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf auch durch Verdrängung nicht umdrehen. Ich bitte Sie, von der FDP: Es hat keinen Sinn!) (B) das einfach zur Kenntnis zu nehmen. (D) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP) Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion das Wort. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kelber, Sie haben das Wort zur Erwiderung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ulrich Kelber (SPD): Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Sie haben mehrere Sachen miteinander vermischt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich einleitend sage: Die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das haben Sie die Kollegin Höhn hat recht mit ihrer Problembeschreibung, ganze Zeit gemacht!) dass wir mittlerweile bis in die Mittelschicht hinein ein Das eine war die Aussage, dass Sie als Mitglied des Bei- Einkommensproblem haben. Deshalb sagen wir: Im rats der Bundesnetzagentur eigentlich die Pflicht gehabt Zentrum unserer Politik muss die Frage stehen, wie die hätten, den Entwurf des Jahresberichts der Bundesnetz- Leute in diesem Land wieder zu einem höheren Netto- agentur zu lesen, in dem steht: Die Versorgung in Deutsch- einkommen kommen. land ist gesichert. (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wie kommen Sie Thiele [FDP]: Sehr richtig!) zu der Unterstellung, dass sie das nicht gelesen Meine Damen und Herren von der Linken, dieses Pro- hat? Das ist eine Frechheit!) blem kann man nicht durch billigen oder, wie ein Kol- Die Bundesnetzagentur ist die staatliche Einrichtung. lege gesagt hat, „aufgewärmten“ Populismus lösen. Der Die andere ist die Deutsche Energie-Agentur. Sie wis- Kollege Pfeiffer hat das anschaulich mit dem Satz „Frei- sen, dass die dena-Studie nicht von der Bundesregierung bier für alle!“ beschrieben. Wenn es das wenigstens in Auftrag gegeben wurde, sondern von anderen. Herr wäre, hätte ich als Bayer eine gewisse Sympathie dafür. Kohler hat auf Nachfrage mehrfach gesagt: Deutschland Sie sagen aber nur: Freibier für unsere Klientel! kann die Versorgung mit einem Ausstieg aus der Atom- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wir haben energie dann sicherstellen, wenn es nicht einen organi- überhaupt kein Geld für Bier!) sierten politischen Widerstand gegen den Neubau der damit verbundenen Ersatzkraftwerke für ausscheidende Das ist die Problematik, über die wir hier reden. Sozial- Kohlekraftwerke gibt. Er hat nicht gesagt – das ist ein tarife beim Strom; warum nicht auch Sozialtarife für den 19462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Georg Nüßlein (A) täglichen Bedarf? Das ist heute schon gefragt worden. Der Kollege Kurth von den Grünen sagt, dass die (C) Ich kann die Frage beantworten: Weil Sie den Sozialis- Grünen die soziale Frage mit der ökologischen verbin- mus im Hinterkopf haben, weil Sie staatliche Preisfest- den wollen. Das haben sie schon einmal im negativen setzungen in den Bereichen Strom, Arbeit – Stichwort Sinne getan. Damals, als der Benzinpreis noch relativ Mindestlohn – usw. wollen und weil Sie natürlich die niedrig war, haben Sie gefordert, dass der Staat ihn auf Verstaatlichung der Energieversorger im Kopf haben. 5 DM heraufsetzen solle. Daran sieht man, was Sie unter der sozialen Frage verstehen und was Sie mit dieser Ver- (Beifall bei der LINKEN) knüpfung meinen. Auch deshalb kommen solche Anträge zustande. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Warum haben Sie denn die Mehrwertsteuer erhöht?) Das ist falsch. Das ist der falsche Weg. Wir gehen einen anderen. Ich bin davon überzeugt, dass er besser ist. Wir – Sie sprechen die Mehrwertsteuer an. Ein Strompreis- setzen auf mehr Wettbewerb und mehr Dynamik. treiber ist natürlich auch in einem nicht zu unterschät- zenden Umfang mit 40 Prozent der Staat. Aber wer Sen- Stichwort Sozialpolitik. Der Kollege Obermeier hat kungen fordert, der muss natürlich auch sagen, wo denn gesagt: Der soziale Ausgleich erfolgt in diesem Land die Einsparungen stattfinden sollen. Von den Linken über Sozialtransfers, über das Steuersystem, nicht über habe ich, seit sie wieder im Bundestag sitzen, von Ein- einzelne Güter. Ich möchte hinzufügen: Der soziale Aus- sparungen nie etwas gehört, sondern nur zur Frage, wo gleich erfolgt über den Staat, nicht über die Unterneh- es noch Möglichkeiten gibt, Geld auszugeben. men. Ich sage auch, warum Sie etwas anderes fordern: Sie wissen, dass unser Haushalt mittlerweile zu 50 Pro- (Zuruf von der LINKEN: Rüstungshaushalt!) zent aus einem Sozialhaushalt besteht. Da gibt es natür- lich keine zusätzlichen Spielräume. Also müssen Sie Wenn man über das Thema Strompreistreiber redet, sich für Ihre Klientel etwas Neues einfallen lassen, mög- muss man aus meiner Sicht auch dringend über das lichst etwas, was man nicht sieht, was man vertuschen Thema Emissionshandel sprechen. Wenn wir hier etwas kann, weil die Übersichtlichkeit fehlt. Da fallen Ihnen falsch machen, dann kann das eine gigantische Deindus- halt solche Dinge ein. trialisierungsstrategie für Deutschland bedeuten. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Hartz-IV-Emp- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fänger sind nicht Ihre Klientel?) neten der FDP) Ich stelle Ihnen die Frage: Wo bleiben die Bürger, die Ich kann jedem nur sagen: Wir müssen genau hin- (B) mit harter Arbeit jeden Tag das Überleben ihrer Familie schauen, was da letztlich abläuft. Wir können doch nicht (D) sichern? Wo bleiben die? die energieintensiven Branchen einfach so zusätzlich be- lasten und glauben, wir würden einen Beitrag zum Kli- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) maschutz dadurch leisten, dass man diese Branchen aus der Europäischen Union treibt. Herr Hill, da Sie sich hier so lautstark zu Wort mel- den: Ich habe Ihren Vorschlag vernommen. Sie fordern Was mich an dieser Stelle auch wurmt, ist die Indus- Energieschecks und damit einen neuen Fernseher für triepolitik, die in Europa betrieben wird. Die Franzosen die, die nicht arbeiten; die, die arbeiten, brauchen kei- lehnen sich zurück und sagen: 80 Prozent unseres nen, weil sie keine Zeit zum Schauen haben. Strombedarfs decken wir mit Kernenergie. Die Deut- schen sollen einmal sehen, wie sie mit dem Emissions- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der handel klarkommen und wie sie ihre Emissionen zurück- CDU/CSU – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: fahren. – Gleichzeitig werden in Frankreich zum Was hat das mit Fernsehen zu tun?) Beispiel die Chemieunternehmen durch einen Staatskon- – Sie haben doch einen neuen Fernseher gefordert. zern – die Liberalisierung ist da nicht angekommen – mit billigem Strom subventioniert. Über diese Dinge müssen (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wer hat das wir reden. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dank- gesagt?) bar, dass er das auch offen und klar tut. – Sie haben das vorhin gesagt. – Auch beim Thema Um- (Zuruf von der SPD: Das macht im Übrigen verteilung haben Sie ein Rezept. Sie schreiben in Ihrem der Bundesumweltminister!) Antrag: Diese Umverteilung findet zulasten der Ge- winne der Energieversorger statt. – Wenn Sie es realis- – Lieber Herr Kollege, wenn das der Herr Bundesum- tisch betrachten, würde die Umsetzung dieses Vor- weltminister auch macht, dann ist das eine feine Sache; schlags eine Umverteilung zulasten derjenigen bedeuten, denn dann haben wir die doppelte Durchschlagskraft und die nicht begünstigt sind, die keine Sozialtarife bekom- können zeigen, wie handlungsfähig die Große Koalition men und als Verbraucher wieder einmal die Zeche zah- an dieser Stelle ist. Ich hoffe nur, dass er das tatsächlich len. tut. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie haben das Lassen Sie mich kurz etwas zum Energiemix sagen. einfach nicht verstanden! – Elke Reinke [DIE Ich glaube nicht, dass dann, wenn man eine Ener- LINKE]: Er will es nicht verstehen, glaube gieform, mit der billig produziert wird, aus unserem ich!) Energiemix herausnimmt und durch eine offenkundig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19463

Dr. Georg Nüßlein (A) teurere ersetzt, in diesem Land die Energiepreise sinken stimmt, zum Beispiel beim Erneuerbare-Energien-Ge- (C) werden. Diese Rechnung muss mir erst einmal irgendje- setz. mand hier erklären. Ich habe vorhin erst wieder gehört, die Atomenergie sei wie ein Flieger ohne Landebahn, (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Haben Sie weil wir noch kein Endlager hätten. Dazu muss ich sa- nicht zugestimmt?) gen: Die Große Koalition hat in der Tat keinen Beitrag – Ich habe nicht zugestimmt; tut mir leid. dazu geleistet, dass wir an dieser Stelle vorankommen. Das liegt nicht an der Union. Nun sagen Sie den Verbrauchern auch ganz deutlich, Herr Hill, dass das Milliarden kostet. (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) (Gudrun Kopp [FDP]: Ja, genau!) Ich sage aus meiner Sicht ganz klar: Wir müssen das Moratorium für Gorleben aufheben, weil uns niemand Das kostet in den nächsten Jahren regelmäßig Milliarden glaubt, dass wir uns ernsthaft mit diesem Thema be- zusätzlich auf den Strompreis. schäftigen, wenn man gleichzeitig ein Moratorium auf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- rechterhält. wie der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) (Gudrun Kopp [FDP]: Das ist richtig!) Herr Hill, Sie kämpfen vor Ort gegen den Energie- Was aus meiner Sicht auch entscheidend ist, ist, dass mix in Deutschland. Sie kämpfen gegen die Braunkohle, wir bei alledem, was wir energiepolitisch machen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass die Braunkohle der schauen müssen, dass die Wertschöpfung in unserem einzige subventionsfreie Energieträger in Deutschland Land bleibt. Das gilt für die erneuerbaren Energien. Das ist. gilt aber ganz genauso auch für die Energieversorgung. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich möchte, dass bei uns Kraftwerke gebaut und bei uns SES 90/DIE GRÜNEN) betrieben werden, dass hier Arbeitsplätze entstehen und dass wir unabhängig und sicher Energie produzieren Sie kämpfen gegen die Steinkohle. 25 Prozent des Stroms können. Das muss gerade auch in einer Finanzkrise, in in Deutschland kommen aus der Steinkohle; 25 Prozent der man wieder einmal merkt, wie wichtig und wie zen- kommen aus der Braunkohle. Wenn Sie das alles be- tral der Schirm der Nation ist, ein Anliegen sein. kämpfen, müssen Sie dazu sagen, woher der Strom kom- men soll. Vielen herzlichen Dank. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie sagen die (Beifall bei der CDU/CSU) Unwahrheit!)

(B) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie kämpfen gegen den Atomstrom. (D) Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Da haben Sie lege Andreas Lämmel für die Unionsfraktion das Wort. recht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Auch das sind 25 Prozent. Herr Hill, insgesamt bekämp- fen Sie 75 Prozent der deutschen Stromproduktion. Sa- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): gen Sie doch bitte schön, woher dann bezahlbarer Strom Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ab- kommen soll. schließend bleibt festzuhalten, Herr Hill: Der Antrag der (Beifall bei der CDU/CSU) Linken ist einfach scheinheilig. Ich will Ihnen das ganz klar nachweisen. Sie kämpfen gegen Freileitungen. Sie wollen den Großteil der Kabel in die Erde vergraben. Das kostet (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Kommen Sie Geld und würde den Strompreis belasten. Kollege zur Sache!) Nüßlein hat zur Versteigerung der CO2-Zertifikate ge- Wir wollen kein VEB Energiekombinat mehr; Herr Hill, sprochen. Auch das wird nach Ansicht aller Experten zu das wollen Sie ja wieder einführen. Denn die Lasten des einem weiteren Schub bei den Preisen führen. Über all VEB Energiekombinats müssen wir noch heute abbezah- diese Maßnahmen diskutieren Sie nicht mit den Verbrau- len. Sie wissen, die ökologische Sanierung der alten chern. Das ist scheinheilig und kann einfach nicht die Braunkohletagebau- und Kraftwerkslandschaften in Politik sein, die Unterstützung findet. Ostdeutschland hat den Steuerzahler in Deutschland (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie schauen zu Milliarden gekostet. kurz!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wismut auch Jetzt noch zu dem Thema, wie wir weiterhin bezahl- noch!) bare Strompreise ermöglichen können. Ich plädiere wei- Das müssen Sie bei dieser Politik zu einem Energiekom- terhin für eine Verlängerung der Restlaufzeiten. Denn binat hin berücksichtigen. aus der gewonnenen Strommenge, die durch die Verlän- gerung entstehen würde, könnte man einen Fonds bilden, Sie wollen nun einen Sozialtarif einführen, erklären aus dem Energieeffizienzmaßnahmen oder andere Maß- aber den Verbrauchern nicht, woher die hohen Strom- nahmen, die verschiedentlich vorgeschlagen worden preise zum großen Teil kommen. 40 Prozent – Kollege sind, finanziert werden. Nüßlein hat es gesagt – sind staatlich verursacht. Sie ha- ben da überall mitgemacht. Sie haben überall zuge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 19464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Andreas G. Lämmel (A) Der Strom, der aus einer Verlängerung der Restlauf- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): (C) zeiten der Atomkraftwerke resultieren würde, ist der Ja. Vielleicht schicken Sie mir einmal ein Exemplar preiswerteste, der im Moment in Deutschland hergestellt vorbei. Ich habe sie nämlich noch nicht gelesen. werden kann. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Thiele [FDP]: Das ist völlig okay!) NEN]: Was?) Trotzdem bleibt es dabei: Eine 100-prozentige Ver- Wir müssten doch verrückt sein, wenn wir uns diese steigerung ab 2013, wie sie jetzt angelegt ist, wird zu ei- Quelle – vorausgesetzt natürlich, die Sicherheit der nem großen Strompreisschub führen; Kraftwerke ist gegeben – abschneiden würden. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Warum?) Noch zwei Argumente, Herr Hill, die zeigen, dass Sie das ist unbestritten. Nebelkerzen werfen, dass Sie den Leuten die Augen ver- kleistern wollen. Zum Thema Energieberatung: Wenn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sie einen Blick in den Haushaltsplan 2009 des Wirt- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schaftsministeriums werfen, sehen Sie, dass die Bereiche Nein! Das wird sehr wohl bestritten!) Energieberatung und Energieeffizienz doppelt so hoch Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben: Kein Redner ausgestattet sind wie im letzten Jahr. Das hätte Ihnen der Union hat gesagt, dass die unentgeltliche Zuteilung auffallen müssen. Damit werden zum Beispiel Energie- von Zertifikaten fortgeführt werden soll. Es ist ein gro- beratungen bei den Verbraucherzentralen finanziert. Das ßes Ärgernis, dass die Energiekonzerne die unentgeltlich heißt, wer Energieberatung wünscht, kann überall flä- ausgeteilten Zertifikate in den Strompreis eingepreist ha- chendeckend in Deutschland Energieberatung bekom- ben. Was das angeht, sind wir nicht unterschiedlicher men. Er bekommt, mit staatlichen Mitteln unterstützt, Meinung. eine Beratung vor Ort geboten. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie hätten eine Vizepräsidentin Petra Pau: Abschöpfungsteuer machen können! – Eva Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischenfrage Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Abschöpfen!) der Kollegin Bulling-Schröter? – Dass Sie immer wieder Ideen haben, wie der Staat hö- here Steuereinnahmen erzielen kann, wissen wir; das ist Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): uns klar. Ihre Anträge werden aber nicht besser, wenn (B) Bitte. Sie Ihre Forderungen ständig wiederholen. (D) Ich möchte noch ganz kurz auf Folgendes hinweisen: Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wenn Sie sich den Haushaltsplan ansehen, stellen Sie Danke schön, Kollege Lämmel. Sie haben uns unter- fest, dass die Mittel für die Energieforschung in allen stellt, dass wir die Strom- und Energiepreise erhöhen betreffenden Haushalten, im Umweltministerium, im wollen. Jetzt würde ich Sie gerne fragen, ob Ihnen be- Wissenschaftsministerium und im Wirtschaftsministe- kannt ist, dass für die Energieunternehmen von 2008 bis rium, enorm erhöht worden sind. Auch die Mittel für 2012 durch die Nichtversteigerung von 90 Prozent der Energieeffizienz in der Wirtschaft sind enorm erhöht Zertifikate ein Sonderprofit in Höhe von 35 Milliarden worden. Der Staat stellt für alle Bereiche der Energie- Euro entsteht. Das ist keine Berechnung der Linken, son- einsparung sehr viel Steuergeld zur Verfügung, dern eine des Öko-Instituts, das ja nicht in der Gefahr steht, so sehr links zu sein. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Dank Emis- sionshandel!) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Ja, die um auf diesem Gebiet in Deutschland voranzukommen. sind ganz links!) (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Aber nur dank – Darüber können wir später diskutieren. Emissionshandel, Herr Kollege!) Meine zweite Frage an Sie ist: Kennen Sie den Be- Ich komme zum Schluss. Sie betreiben Vernebelungs- richt des Öko-Instituts zum EU-Emissionshandel? Sie politik. Auf der einen Seite jammern Sie. haben vorhin gesagt: Wenn es nicht weiterhin kostenlose (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wir jammern Zertifikate gibt, dann wird die Industrie wegbrechen; das nicht! Wir fordern!) hat auch Ihr Vorredner gesagt. Auf der anderen Seite sagen Sie aber nicht, dass Sie den (Ulrich Kelber [SPD]: Dazu gibt es doch einen Maßnahmen, die letztlich bedauerlicherweise zu hohen Bundestagsbeschluss vom Mai!) Energiekosten geführt haben, selbst zugestimmt haben. Hierzu gibt es eine Studie, in der man zu dem Ergebnis Herr Hill, ich kann nur das wiederholen, was meine Kol- gekommen ist, dass die Kostensteigerung in diesem Be- legen bereits gesagt haben: Familien mit Kindern, deren reich 1 Prozent beträgt. Diese vom WWF in Auftrag ge- Haushaltseinkommen nur knapp über der Grenze der So- gebene Studie ist sehr neu. Ich würde Ihnen empfehlen, zialhilfe liegt, haben Sie in Ihrem Antrag überhaupt sie einmal zu lesen. nicht berücksichtigt; Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19465

Andreas G. Lämmel (A) (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Falsch!) gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen und (C) über die Überstellung flüchtiger Straftäter diesen Familien fällt es noch viel schwerer, diese hohen Kosten zu tragen. Daher können wir Ihrem Antrag nicht – Drucksache 16/10390 – zustimmen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Danke schön. Innenausschuss (Beifall bei der CDU/CSU) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Vizepräsidentin Petra Pau: Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften (4. VwVfÄndG) Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 16/10493 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 16/10510 an die in der Tagesordnung aufge- Innenausschuss (f) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Rechtsausschuss verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung so beschlossen. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Die Vorlage auf Drucksache 16/10585 soll ebenfalls gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse trag vom 26. Februar 2008 zwischen der Bun- überwiesen werden, jedoch ist die Federführung strittig. desrepublik Deutschland und der Republik Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Polen über den Bau und die Instandhaltung Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech- von Grenzbrücken in der Bundesrepublik nologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Deutschland im Zuge von Schienenwegen des Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz Bundes, in der Republik Polen im Zuge von und Reaktorsicherheit. Eisenbahnstrecken mit staatlicher Bedeutung Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der – Drucksache 16/10533 – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Federfüh- Überweisungsvorschlag: rung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aktorsicherheit, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (B) Enthaltungen? – Dann ist der Überweisungsvorschlag rung des Straßenverkehrsgesetzes und zur Än- (D) gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt. derung des Gesetzes zur Änderung der Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Feder- – Drucksachen 16/10534, 16/10583 – führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technolo- Überweisungsvorschlag: gie, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungs- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- Bündnis 90/Die Grünen von den übrigen Fraktionen an- derungen vom 28. April und 5. Mai 2008 des genommen. Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds (IWF) lch rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 l sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf: – Drucksache 16/10535 – Überweisungsvorschlag: 39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Finanzausschuss gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Änderung des Autobahnmautgesetzes für gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- schwere Nutzfahrzeuge zung der Beteiligungsrichtlinie – Drucksache 16/10388 – – Drucksache 16/10536 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss (f) Finanzausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Zugang zu digitalen Geodaten (Geodatenzu- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ab- gangsgesetz – GeoZG) kommen vom 26. Mai 2006 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und – Drucksachen 16/10530, 16/10580 – der Regierung der Sonderverwaltungsregion Überweisungsvorschlag: Hongkong der Volksrepublik China über die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 19466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Innenausschuss ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Änderung des Straßenverkehrsgesetzes Technikfolgenabschätzung – Drucksache 16/10175 – i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Überweisungsvorschlag: Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Potential von eLearning nutzen – Schulen bei gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur der Umsetzung unterstützen Änderung des Weingesetzes – Drucksache 16/8904 – – Drucksache 16/10552 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Technikfolgenabschätzung (f) Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weite- j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Hirsch, NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion eines Gesetzes zur … Änderung des Urheber- DIE LINKE rechtsgesetzes Perspektiven für den wissenschaftlichen Mit- – Drucksache 16/10566 – telbau öffnen – Karrierewege absichern – Überweisungsvorschlag: Gleichstellung durchsetzen – Selbständigkeit Rechtsausschuss (f) fördern Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/10592 – Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines (B) Sechsten Gesetzes zur Änderung des Urheber- (D) k) Beratung des Antrags der Abgeordneten rechtsgesetzes Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE – Drucksache 16/10569 – LINKE Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Finanzierung zur Bewahrung des deutschen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Filmerbes sicherstellen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 16/10509 – Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Kultur und Medien (f) CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Innenausschuss Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lastung der Rechtspflege Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 16/10570 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo f) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Hoppe, Ulrike Höfken, Marieluise Beck (Bre- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sches Historisches Museum“ Überschüssige Mittel aus EU-Agrarhaushalt – Drucksache 16/10571 – für Bekämpfung der Hungerkrise nutzen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/10591 – Ausschuss für Kultur und Medien (f) Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Rechtsausschuss Entwicklung (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Finanzausschuss Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Tourismus Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19467

Vizepräsidentin Petra Pau (A) g) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ Berichterstattung: (C) CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Guttenberg Änderung der Strafprozessordnung – Erweite- rung des Beschlagnahmeschutzes bei Abge- Harald Leibrecht ordneten Monika Knoche – Drucksache 16/10572 – Marieluise Beck (Bremen) Überweisungsvorschlag: Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Rechtsausschuss (f) schlussempfehlung auf Drucksache 16/10354, den Ge- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9395 Geschäftsordnung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt Blank, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Faße, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange- Abgeordneter und der Fraktion der SPD nommen. Infrastruktur und Marketing für den Wasser- Tagesordnungspunkt 40 b: tourismus in Deutschland verbessern Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 16/10593 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über das Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Deutsche Rote Kreuz Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/9396 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Haushaltsausschuss schusses (6. Ausschuss) Es handelt sich hier um Überweisungen im verein- – Drucksache 16/10433 – fachten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordnete Daniela Raab die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu (B) Dr. Carl-Christian Dressel (D) überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/10566 Mechthild Dyckmans und 16/10569 sollen zusätzlich an den Ausschuss für Wolfgang Nešković Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Zu den Jerzy Montag Gesetzentwürfen der Bundesregierung auf Drucksache 16/10534 – das ist der Tagesordnungspunkt 39 e – sowie Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- auf Drucksache 16/10530 – das betrifft den Tagesord- empfehlung auf Drucksache 16/10433, den Gesetzent- nungspunkt 39 h – liegen inzwischen die Gegenäußerun- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9396 an- gen der Bundesregierung zu den Stellungnahmen des Bun- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf desrates auf den Drucksachen 16/10583 und 16/10580 vor, zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt die wie der jeweilige Gesetzentwurf überwiesen werden dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unions- Dann ist das so beschlossen. fraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 40 a bis Fraktion Die Linke angenommen. 40 g sowie 40 i bis 40 w. Es handelt sich um die Be- schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Dritte Beratung che vorgesehen ist. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 40 a: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und As- Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die soziierungsabkommen zwischen den Europäi- Linke angenommen. schen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaa- ten einerseits und der Republik Albanien Tagesordnungspunkt 40 c: andererseits Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- – Drucksache 16/9395 – nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zusammenfüh- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- rung der Regelungen über befriedete Bezirke gen Ausschusses (3. Ausschuss) für Verfassungsorgane des Bundes – Drucksache 16/10354 – – Drucksache 16/9741 – 19468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Tagesordnungspunkt 40 e: (C) ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ordnung (1. Ausschuss) gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten – Drucksache 16/10551 – Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Mel- dungen über Marktordnungswaren Berichterstattung: Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten – Drucksache 16/10033 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Jörg van Essen ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Dr. Dagmar Enkelmann cherschutz (10. Ausschuss) Volker Beck (Köln) – Drucksache 16/10597 – Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Berichterstattung: lung auf Drucksache 16/10551, den Gesetzentwurf der Abgeordnete Marlene Mortler Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache Gustav Herzog 16/9741 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Hans-Michael Goldmann setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Dr. Kirsten Tackmann Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Cornelia Behm entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Frak- lung auf Drucksache 16/10597, den Gesetzentwurf der tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Bundesregierung auf Drucksache 16/10033 anzuneh- Dritte Beratung men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – zweiter Beratung angenommen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist mit dem Ergebnis der Abstimmung in zweiter Dritte Beratung Beratung angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 40 d: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- (B) (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- wurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes angenommen. zur Anpassung der Vorschriften des Internatio- nalen Privatrechts an die Verordnung (EG) Tagesordnungspunkt 40 f: Nr. 864/2007 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 16/9995 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung des Übereinkommens vom Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zustän- schusses (6. Ausschuss) digkeit und die Anerkennung und Vollstre- – Drucksache 16/10606 – ckung von Entscheidungen in Zivil- und Han- delssachen Berichterstattung: Abgeordnete Daniela Raab – Drucksache 16/10119 – Dirk Manzewski Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Mechthild Dyckmans schusses (6. Ausschuss) Wolfgang Nešković Jerzy Montag – Drucksache 16/10607 – Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Berichterstattung: empfehlung auf Drucksache 16/10606, den Gesetzent- Abgeordnete Daniela Raab wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9995 an- Dirk Manzewski zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Mechthild Dyckmans zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- Wolfgang Nešković men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Jerzy Montag zweiter Beratung einstimmig angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Dritte Beratung empfehlung auf Drucksache 16/10607, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10119 in und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19469

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenom- Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- (C) men. lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10573, den Gesetzentwurf der Bundesre- Dritte Beratung gierung auf Drucksache 16/10297 anzunehmen. Ich bitte und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen aller tung durch die Unionsfraktion, die SPD-Fraktion, die Fraktionen des Hauses angenommen. FDP-Fraktion, die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 g: Dritte Beratung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zur Durchführung gemeinschaftlicher Vor- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schriften über das Verbot der Einfuhr, der Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Ausfuhr und des Inverkehrbringens von Kat- wurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. zen- und Hundefellen (Katzen- und Hundefell- Einfuhr-Verbotsgesetz – KHfEVerbG) Tagesordnungspunkt 40 j: – Drucksache 16/10122 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- richtung durch die Bundesregierung cherschutz (10. Ausschuss) Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des – Drucksache 16/10598 – Europäischen Parlaments und des Rates über Berichterstattung: die Förderung sauberer und energieeffizienter Abgeordnete Dr. Peter Jahr Straßenfahrzeuge Dr. Wilhelm Priesmeier KOM (2007) 817 endg.; Ratsdok. 5113/08 Hans-Michael Goldmann – Drucksachen 16/8135 Nr. 2.52, 16/10273 – Dr. Kirsten Tackmann Undine Kurth (Quedlinburg) Berichterstattung: (B) (D) Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- lung auf Drucksache 16/10598, den Gesetzentwurf der tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Bundesregierung auf Drucksache 16/10122 in der Aus- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Beratung von allen Fraktionen des Hauses angenommen. Linke angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 40 k: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – richts des Ausschusses für Menschenrechte und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- wurf ist einstimmig angenommen. richtung durch die Bundesregierung Tagesordnungspunkt 40 i: Der Fall des afghanischen Journalisten Perwiz Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Kambakhsh gierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehn- Entschließung des Europäischen Parlaments ten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrs- vom 13. März 2008 zum Fall des afghanischen gesetzes Journalisten Perwiz Kambakhsh EuB-EP 1687; P6_TA-PROV(2008)0106 – Drucksache 16/10297 – – Drucksachen 16/9169 A.13, 16/10395 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Berichterstattung: Ausschuss) Abgeordnete – Drucksache 16/10573 – Angelika Graf (Rosenheim) Florian Toncar Berichterstattung: Michael Leutert Abgeordneter Winfried Hermann Volker Beck (Köln) 19470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- Tagesordnungspunkt 40 q: (C) tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- ausschusses (2. Ausschuss) genommen. Sammelübersicht 457 zu Petitionen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 16/10347 – titionsausschusses. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Tagesordnungspunkt 40 l: hält sich? – Die Sammelübersicht 457 ist mit den Stim- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- ausschusses (2. Ausschuss) Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung der Fraktion Die Linke angenommen. Sammelübersicht 452 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 40 r: – Drucksache 16/10342 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – ausschusses (2. Ausschuss) Die Sammelübersicht 452 ist einstimmig angenommen. Sammelübersicht 458 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 40 m: – Drucksache 16/10348 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen! – Enthaltun- Sammelübersicht 453 zu Petitionen gen? – Die Sammelübersicht 458 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion – Drucksache 16/10343 – und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 453 ist mit den Stimmen aller Tagesordnungspunkt 40 s: Fraktionen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 40 n: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 459 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) (B) – Drucksache 16/10349 – (D) Sammelübersicht 454 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- – Drucksache 16/10344 – hält sich? – Die Sammelübersicht 459 ist bei Ablehnung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen hält sich? – Die Sammelübersicht 454 ist einstimmig an- Fraktionen angenommen. genommen. Tagesordnungspunkt 40 t: Tagesordnungspunkt 40 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 460 zu Petitionen Sammelübersicht 455 zu Petitionen – Drucksache 16/10350 – – Drucksache 16/10345 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- hält sich? – Die Sammelübersicht 460 ist gegen die tungen? – Die Sammelübersicht 455 ist mit den Stim- Stimmen der FDP-Fraktion bei Zustimmung aller übri- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- gen Fraktionen angenommen. Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- Tagesordnungspunkt 40 u: nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 40 p: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 461 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/10351 – Sammelübersicht 456 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- – Drucksache 16/10346 – hält sich? – Die Sammelübersicht 461 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- nis 90/Die Grünen angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht 456 ist einstimmig an- genommen. Tagesordnungspunkt 40 v: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19471

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe (C) ausschusses (2. Ausschuss) Barth, Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sammelübersicht 462 zu Petitionen Solide Grundlage für Hochschulpakt – Beitrag – Drucksache 16/10352 – zur systematischen Verbesserung der Hoch- schullehre Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 462 ist gegen die Stim- – Drucksache 16/10327 – men der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Überweisungsvorschlag: Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses ange- Ausschuss für Bildung, Forschung und nommen. Technikfolgenabschätzung (f) Haushaltsausschuss Tagesordnungspunkt 40 w: d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Barth, Patrick Meinhardt, Ulrike Flach, weiterer Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordneter und der Fraktion der FDP ausschusses (2. Ausschuss) Aufbau von privatem Bildungskapital fördern – Sammelübersicht 463 zu Petitionen Grundlage für Bildungsinvestitionen schaffen – Drucksache 16/10353 – – Drucksache 16/10328 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Sammelübersicht 463 ist gegen die Stimmen der FDP- Technikfolgenabschätzung (f) Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- Finanzausschuss nis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Unionsfraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und der SPD-Fraktion angenommen. Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Geduld und Unter- Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei- stützung, liebe Kolleginnen und Kollegen. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Beifall) NIS 90/DIE GRÜNEN Die finanziellen Grundlagen für den Bildungs- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 i auf: aufbruch schaffen (B) (D) a) Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksache 16/10587 – Nationaler Bildungsbericht 2008 – Bildung in Überweisungsvorschlag: Deutschland und Stellungnahme der Bundes- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) regierung Finanzausschuss Haushaltsausschuss – Drucksache 16/10206 – f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Überweisungsvorschlag: Hinz (Herborn), Ekin Deligöz, Kai Gehring, wei- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Sportausschuss NIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bildungsgipfel muss Ergebnisgipfel werden – Haushaltsausschuss Für ein gerechtes und besseres Bildungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia – Drucksache 16/10586 – Hirsch, Dr. Petra Sitte, Bodo Ramelow, Volker Überweisungsvorschlag: Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE Ausschuss für Bildung, Forschung und LINKE Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bildungsgipfel nutzen – Bessere Bildung für Haushaltsausschuss alle – Bildung als Gemeinschaftsaufgabe von g) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Bund und Ländern gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Vermögensbildungs- – Drucksache 16/9808 – gesetzes Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/9560 – Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Finanzausschuss ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schuss) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss – Drucksache 16/10604 – 19472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Berichterstattung: wird an den neuen Instrumenten deutlich, die Bund und (C) Abgeordnete Dr. Thea Dückert Länder vereinbart haben; dazu gehört der Nationale Bil- dungsbericht. Das wird nicht zuletzt an der Qualifizie- h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- rungsinitiative der Bundesregierung und der sie tragen- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung den Fraktionen deutlich. Diese Initiative konzentriert und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) sich auf die Schnittstellen im Bildungssystem, die wie- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, derum den Schwerpunkt im 2. Nationalen Bildungsbe- Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Ab- richt bilden. Er widmet sich nicht diesem oder jenem geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschnitt des Bildungssystems, sondern der Frage nach GRÜNEN Bildung im Lebenslauf und listet im Vergleich zu frühe- Für eine starke Wissenschaftsinfrastruktur im ren Jahren auch Defizite und positive Veränderungen gemeinsamen Interesse von Bund und Län- auf. dern Zu den positiven Veränderungen gehört eine bessere – Drucksachen 16/1643, 16/10560 – Bewertung der frühkindlichen Bildung. Angebote der frühkindlichen Bildung werden heute verstärkt ange- Berichterstattung: nommen. Zu den positiven Nachrichten gehört: Mehr Abgeordnete Marcus Weinberg Kinder gehen auf das Gymnasium. Das Leistungsniveau der 15-Jährigen in Mathematik und den Naturwissen- Uwe Barth schaften steigt. Seit dem Jahr 2000, der ersten Vorlage Volker Schneider (Saarbrücken) einer PISA-Studie, wird die Koppelung von sozioökono- Krista Sager mischer Herkunft und erworbenen Kompetenzen schwä- i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- cher. Das gehört, finde ich, zu den Hauptthemen. Wir richts des Ausschusses für Bildung, Forschung müssen im Bildungssystem in Deutschland diese Koppe- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) lung, die Gott sei Dank schon schwächer geworden ist, weiter abschwächen, weil nicht Herkunft über Zukunft – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia entscheiden darf. Hirsch, Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen, Volker Schneider (Saarbrücken) und der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der tion DIE LINKE FDP) Studienfinanzierung ausbauen – Soziale Hür- Wer das erreichen will, braucht Bildung früher, braucht den abbauen Bildung mit besserer Qualität, braucht mehr Durchlässig- (B) keit und braucht ein Bildungssystem, in dem, egal welche (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Schule ein Kind besucht, klar sein muss: Die Entschei- Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, weiterer dung für eine bestimmte Schulart ist nicht die Entschei- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ dung für einen bestimmten Schulabschluss. Auf jeden DIE GRÜNEN Abschluss muss die Möglichkeit zum Anschluss folgen. Auswirkungen von Studiengebühren evaluie- Das heißt: Hauptgebot, um die Entkoppelung zu schaffen ren – Monitoringsystem umgehend aufbauen und um zu einer stimmigeren Bildungsbiografie zu kom- men, ist ein höheres Maß an Durchlässigkeit und mehr – Drucksachen 16/8741, 16/8749, 16/10584 – Akzeptanz von beruflicher und allgemeiner Bildung in Berichterstattung: Deutschland. Abgeordnete Monika Grütters (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Nürnberg) neten der SPD) Uwe Barth Cornelia Hirsch Kai Gehring Vizepräsidentin : Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für frage des Kollegen Seifert? die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- dung und Forschung: ministerin Dr. Annette Schavan. Nein. – Zu den bedenkenswerten Nachrichten gehört, dass wir einen Anstieg der Zahl der Studienanfänger ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ben. Er ist übrigens in diesem Semester erfreulicherweise der SPD) besonders hoch in den Natur- und Technikwissenschaf- ten. Wir haben einen Zuwachs von 5 Prozent generell, Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- von 11 Prozent im Bereich der Naturwissenschaften und dung und Forschung: von 16 Prozent in Teilen der Technikwissenschaften. Da Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist etwas erreicht worden. Fest steht aber auch: Damit Meine Damen und Herren! Die Bildungspolitik ist in der sind wir noch nicht zufrieden. Wir wollen auf 40 Prozent. Mitte der Politik angekommen. Das wird am großen In- Das heißt nicht nur, dass es einen weiteren Anstieg der teresse im Vorfeld des Bildungsgipfels deutlich. Das Zahl der Studienanfänger geben soll; was wir mindestens Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19473

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) so sehr brauchen, ist ein deutlich höherer Prozentsatz de- Herr Rossmann, was Ihnen guttut, soll mich nicht stö- (C) rer, die nicht nur ein Studium beginnen, sondern es auch ren. erfolgreich abschließen. (Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Entscheidend sind die Ergebnisse. Gleiches gilt für die Gruppe derer, die ohne Schulab- Wir wissen: Das alles ist noch kein vollständiges schluss bzw. ohne Ausbildungsabschluss bleiben. Auch Konzept für Bildungsfinanzierung. Dazu gehört Weite- hier gilt im Bereich der Schule: frühere Intervention, res, das, was international üblich ist: Stipendiensystem, Prävention statt Reparatur. Für die Ausbildung, übrigens Kreditwesen und Studienkredite. Heute Morgen hat in auch für das Studium, heißt das, dass wir neben manchen meinem Haus ein Gespräch zwischen Herrn Staatssekre- Maßnahmen, die auf dem Weg sind, eine bessere Bera- tär Storm und der Leitung der KfW stattgefunden. Ich tung junger Leute brauchen, weil erwiesenermaßen ein möchte Ihnen im Anschluss an dieses Gespräch das Er- Teil der Abbrecherquote sowohl im Bereich der berufli- gebnis mitteilen: chen Bildung als auch im Bereich der akademischen Stu- Erstens. Es ist festgestellt worden, dass zwischen diengänge darauf zurückzuführen ist, dass zu viele ohne KfW und BMBF Einigkeit über die hohe Priorität, Stu- Beratung das falsche Studium bzw. die falsche Ausbil- dienbereitschaft zu erhöhen, besteht. dung aufgenommen haben. Eine bessere Begleitung, Prävention und Beratung werden in den nächsten Jahren Zweitens. Es besteht ebenfalls Einvernehmen da- zu Verbesserungen führen können. rüber, dass Studienkredite auch in Zukunft ein attrakti- ves Angebot neben anderen Finanzierungsinstrumenten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sein müssen. neten der SPD) Drittens. Deshalb haben sich KfW und BMBF auf Mit Blick auf die Vorbereitung des Bildungsgipfels eine künftige strukturelle Veränderung der Studienkre- sage ich: Zum Bildungsgipfel gehört das klare Signal, dite unter Einbeziehung sämtlicher Bildungskredite des dass die Schnittstellen und damit verbundene Schwä- Bundes und der KfW verständigt. Ziel ist, eine dauerhaft chen nicht nur erkannt sind, sondern auch alle Akteure vertretbare Obergrenze der Zinsbelastung für die Studie- im Bildungssystem eine klare Perspektive und eine klare renden zu sichern und bei der Rückzahlung die individu- Vorstellung davon haben, wie wir in den nächsten Jahren elle Leistungsfähigkeit noch stärker zu berücksichtigen. zu mehr Qualität im Bildungssystem kommen, wie wir zu mehr Prävention kommen und wie wir Sorge dafür Viertens. Im Vorgriff auf die geplanten Anpassungen tragen können, dass kein Jugendlicher verloren geht und wird die KfW rückwirkend zum 1. Oktober 2008 den (B) (D) jeder zu einer Qualifikation kommt, die kulturelle Teil- Zinssatz für den Studienkredit von jetzt 7 Prozent auf habe, Selbstständigkeit und individuelle Lebenschancen nominal 6,5 Prozent reduzieren. ermöglicht. Das muss die Botschaft sein, die vom Bil- (Beifall bei der CDU/CSU) dungsgipfel ausgeht. Ich sage in diesem Zusammenhang das, was ich auch (Beifall bei der CDU/CSU) gestern gesagt habe: Studienkredit im Kontext der KfW Zur Frage der Bildungsrepublik und zu dem, was wir ist ein – das zeigt übrigens die Nachfrage – attraktives auf der Grundlage nicht zuletzt des empirischen Materials Instrument und muss es bleiben. Zu einem guten Bil- des Nationalen Bildungsberichts entwickeln wollen, kann dungsfinanzierungskonzept in Deutschland gehören ich nur sagen: Der Bildungsbericht enthält eine Menge viele Akteure. hochinteressanter Zahlen und auch Perspektiven, was die Entwicklungen in den letzten Jahren angeht. Zu den Kon- Ich gehe auf ein zweites Instrument ein. Auch hier zepten und Ideen, die entwickelt werden, gehört aber kann auf den Nationalen Bildungsbericht verwiesen wer- auch die Bildungsfinanzierung. Die Bundesregierung hat den, der eine – auch hier oft besprochene – Schwach- wichtige Schritte mit der Schaffung des Aufstiegsstipen- stelle in der Quote der Beteiligung an Weiterbildung diums, mit der Weiterentwicklung des Meister-BAföG sieht. Wir kommen aus einer Phase, in der im Zweifels- und des BAföG generell getan. Auf diesem Weg muss fall Frühverrentung an die Stelle von Weiterbildung trat. fortgefahren werden. Es ist wichtig, dass wir im ersten Schritt auf eine Weiter- bildungsquote von 50 Prozent kommen. Entsprechend (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird im Zuge der Bildungsprämie – auch darüber wird – Da können Sie ruhig klatschen. Denn dafür haben Sie heute beraten – eine Änderung des Fünften Vermögens- sich besonders eingesetzt. bildungsgesetzes vorgenommen. Das heißt, mit der Bil- dungsprämie gibt es ein an der Nachfrage orientiertes In- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir wis- strument zur Finanzierung individueller beruflicher sen, wie lange Sie gebraucht haben, das einzu- Weiterbildung. Spargeld aus den vermögenswirksamen sehen!) Leistungen kann in Weiterbildung investiert werden, ohne dass die Sparprämie verloren geht. Zusammen mit – Wenn es Ihnen jetzt guttut, dann sagen Sie es ruhig. dem Prämiengutschein ist das ein echter Anreiz, ver- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stärkt in die eigene Weiterbildung zu investieren. Das ist NEN]: Sie sind wieder sehr herzlich zueinan- ein weiterer Baustein zur Stärkung lebenslangen Ler- der!) nens. 19474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- übersetzt wird; Sie bestehen auf „Integration“. Sie wol- (C) neten der SPD) len offensichtlich gar nicht, dass Kinder mit Behinderun- gen Teil der Gesellschaft sind. Sie sondern erst aus und Ich denke, das ist der richtige Ansatz, staatliche In- stellen sich dann hin und sagen: Dann wollen wir mal so vestitionen in die Bildung weiterzuentwickeln und damit gnädig sein, sie einzubeziehen, also zu integrieren. auch zu erhöhen. Allein die Beschlüsse der Qualifizie- rungsinitiative belaufen sich auf Mehrinvestitionen in Liebe Frau Ministerin, wenn Sie nicht endlich einen Höhe von 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2012. Dies ist Arbeitsschwerpunkt auf die Förderschwerpunkte legen, mit attraktiven Möglichkeiten zur individuellen Bil- dann werden wir nie vorankommen. Ich finde, es wird dungsfinanzierung verbunden. höchste Zeit. Schließlich möchte ich den Blick noch einmal auf den (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Nationalen Bildungsbericht richten. Es sind im Wesent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lichen die Übergänge: vom Kindergarten in die Grund- schule, von der Schule in die Ausbildung, von der Aus- bildung in, wo gewünscht, die akademische Bildung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das ist und bleibt der Schwerpunkt unserer Gespräche Frau Minister, bitte sehr. mit den Ländern, mit der Wirtschaft, mit den Städten und Gemeinden. Ich bin davon überzeugt: Wir werden in der Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- nächsten Woche wichtige Eckdaten, wichtige Perspekti- dung und Forschung: ven für die nächsten Jahre auf dem Weg zur Bildungs- Herr Dr. Seifert, wir brauchen überhaupt nicht da- republik präsentieren. Eine gute Grundlage dazu war die rüber zu streiten, dass zur Leistungsfähigkeit des Bil- Verabschiedung der Qualifizierungsinitiative. dungssystems leistungsfähige Sonderpädagogik gehört – Vielen Dank. mit dem ganzen Spektrum dessen, was in Deutschland darunterfällt. Sie wissen, dass wir in Deutschland eine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hohe Qualität in der Sonderpädagogik haben – bis hin zu sonderpädagogischen Fakultäten –; international erwie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: senermaßen anerkannt. Das ist der erste Punkt. Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Der zweite Punkt. Wenn ich sage: „Kein Jugendlicher Dr. Seifert. darf verloren gehen“, dann bezieht sich das auf jeden. Ich habe über viele Schülergruppen nicht geredet, weil Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): ich nicht über Schule gesprochen habe, sondern über ei- (B) Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die Ministerin hat nen Nationalen Bildungsbericht. Für diesen Bericht ha- (D) gerade eine „große“ Rede gehalten ben Bund und Länder in Auftrag gegeben, sich speziell (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] – mit den Übergängen und mit der Frage lebenslanger Bil- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dungsbiografie zu befassen. Es gibt viele Initiativen, üb- NEN]: Eine Rede!) rigens auch im Bereich der Bildungsforschung, die sich detailliert mit der Sonderpädagogik beschäftigen und an – manchmal ist so etwas auch ironisch gemeint –, in der der Weiterentwicklung arbeiten, etwa wenn es um Mo- kein Wort über Lernende mit Behinderungen gesagt delle der integrativen Beschulung und um intensive Zu- wurde. Ich finde das schon ziemlich auffällig. Auch in sammenarbeit von allgemeinbildenden und sonderpäd- Ihrem Bildungsbericht kommt das kaum vor. Im „richti- agogischen Einrichtungen geht. gen Leben“ aber – das sollte vielleicht der Maßstab für unsere politische Arbeit sein – ist es so, dass inzwischen Da gibt es überhaupt kein Vertun: Die Frage, wie leis- fast 5 Prozent aller Kinder, die in die Schule gehen, in tungsfähig ein Bildungssystem ist, entscheidet sich ge- Sonderschulen ausgesondert werden. rade mit Blick auf Extremsituationen, auch solchen in der Pädagogik. Man redet immer von dem dreigliedrigen Schulsys- tem. Dass unter dem angeblich dreigliedrigen Schulsys- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tem noch acht Sonderschulformen existieren, kommt bei Ihnen gar nicht vor. Soweit ich informiert bin, ist auch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nicht vorgesehen, darüber auf dem Bildungsgipfel zu Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Cornelia diskutieren. Pieper für die FDP-Fraktion. Wo bleibt denn die Inklusion der Kinder, denen ein (Beifall bei der FDP) Förderschwerpunkt attestiert wird? Wie kommt es, dass immer mehr Kindern ein Förderschwerpunkt attestiert werden muss? Weil das Aussondern das Prinzip ist und Cornelia Pieper (FDP): nicht das Einbeziehen, die Inklusion. Deshalb wehren Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Sie – Sie und die Bildungsminister der Länder – sich Herren! Sehr verehrte Ministerin, in der Tat bleiben vor auch so vehement dagegen, dass zum Beispiel in der dem Bildungsgipfel sehr viele Fragen offen. Aber ich UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit will grundsätzlich erst einmal Folgendes sagen – so ha- Behinderungen, die wir im nächsten Monat behandeln ben es in dieser Woche auch die Arbeitgeberverbände werden, das englische Wort „inclusion“ mit „Inklusion“ und die Industrie formuliert –: Bildung ist für unser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19475

Cornelia Pieper (A) Land die Schlüsselfrage und gehört auf Platz eins der Deutschland. Herr Bundespräsident Köhler hat gerade (C) politischen Agenda. zu Recht formuliert: Wer an der Bildung spart, spart an der falschen Stelle. Die Kanzlerin spricht von einer Bildungsrepublik und ruft die Ministerpräsidenten zu einem Bildungsgipfel zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sammen. Sie macht das Thema zur Chefsache. Ich sage ausdrücklich: Ich halte das für richtig. Bildung muss in Das Institut der deutschen Wirtschaft hat jüngst ausge- unserem Land einen viel höheren Stellenwert bekom- rechnet, dass die mangelhafte Integration junger Menschen men, als sie ihn bisher hatte. in der Arbeitswelt ganz erhebliche gesellschaftliche Fol- gekosten verursacht. Das heißt, durch grundlegende bil- (Beifall bei der FDP) dungspolitische Weichenstellung könnten wir bis 2015 sogar 13,4 Milliarden Euro allein an direkten Kosten ein- Ich sage das nicht ohne Grund. Wir alle wissen: sparen. Deutschland braucht dringend eine Fitnesskur. Trotz al- ler positiven Anzeichen im Nationalen Bildungsbericht Wir brauchen mehr Investitionen in Bildung, Frau gilt – das will ich festhalten –: 20 bis 25 Prozent der Ju- Ministerin. Ich habe mich zunächst über die Ankündi- gendlichen sind weder in Ausbildung noch in Arbeit gung gefreut, Sie wollten in Vorbereitung auf den Bil- – der Durchschnitt in Europa liegt bei 19 Prozent –, und dungsgipfel 6 Milliarden Euro mehr investieren. Als ich fast jeder vierte 15-Jährige ist designierter Analphabet. genau hinschaute, stellte ich aber fest, dass all diese Mit- Diese dramatischen Zahlen müssen uns beunruhigen. tel schon in den Haushalten der Bundesbildungsministe- Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Leis- rin, des Bundesarbeitsministers und der Bundesfamilien- tungselite ist in Deutschland zu klein, die Zahl der Leis- ministerin stehen. Wir brauchen keine Luftbuchungen, tungsschwachen und Benachteiligten zu groß. Rund meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, 90 000 Schulabbrecher jährlich sind einfach zu viel. Uns wir brauchen neue frische Bildungsinvestitionen zusätz- sollte hier eigentlich jedes einzelne menschliche Schick- lich, die erkennbar einen Aufschwung nach sich ziehen. sal beschäftigen; das sind die sozialen Härtefälle von (Beifall bei der FDP) morgen. Das Ziel, das Sie sich gestellt haben, künftig Nach einer Emnid-Umfrage ist jeder zweite Deutsche 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und mit dem Bildungssystem unzufrieden und hält es sogar Forschung zu investieren, ist sehr ehrenwert. Wenn Sie für ungerecht. Dies ist aus meiner Sicht ein dramatischer dieses Ziel erreichen wollen, müssen Sie aber bis 2015 Tiefpunkt für ein Land, in dem Chancengleichheit zu – jedenfalls nach Ihren Berechnungen, Frau Ministerin – (B) den in unserer Verfassung verbrieften Grundrechten ge- 25 Milliarden Euro mehr ausgeben. Das bedeutet schon (D) hört. für das nächste Jahr, dass von Bund, Ländern und der (Beifall bei der FDP) Wirtschaft mindestens 3,5 Milliarden Euro zusätzlich aufgebracht werden müssen. Dies kann ich nicht erken- Wenn es der Kanzlerin auf dem bevorstehenden Bil- nen. Die Menschen draußen haben genug von leeren dungsgipfel nicht gelingt, die Weichen grundsätzlich neu Versprechungen; sie wollen eine ehrliche Politik, auch zu stellen, dann bleibt die „Bildungsrepublik Deutsch- was die haushaltspolitische Untersetzung anbelangt. land“ eine Illusion. Dann ist aber auch die Kultusminis- terkonferenz gescheitert, auf der sich die 16 Bundeslän- (Beifall bei der FDP) der auf eine nationale Bildungsstrategie zu einigen Für uns ist Bildung die Schlüsselfrage im Hinblick auf haben. Im Falle ihres Scheiterns muss man darüber die Zukunft Deutschlands. Wir müssen den wichtigsten nachdenken, wie man zwischen Bund und Ländern ver- Rohstoff, der uns zur Verfügung steht, besser erschlie- bindliche nationale Bildungsstandards formulieren kann – ßen: das Gold in den Köpfen der Kinder und der Men- von der frühkindlichen Bildung bis hin zu einer Weiter- schen. Machen Sie dies zum Thema, Frau Bundesminis- bildungsoffensive. Nach Auffassung von uns Liberalen terin! Wir brauchen dringend eine Allianz von Familien- brauchen wir dann ein effizienteres Gremium aus Bund und Bildungspolitik. Geben Sie Betreuungsgutscheine und Ländern, eine deutsche Bildungskonferenz, die für Krippen- und Kindergartenplätze als familienpoliti- grundgesetzlich verankert sein muss. Wir brauchen klare sche Leistung des Bundes an die Eltern heraus! Das wäre Zielvorgaben und klare Vergleichsgrößen für einen Bil- der beste Einstieg in eine kostenfreie vorschulische Bil- dungsaufschwung in Deutschland, für eine gemeinsame dung und ein klares Signal für gute Bildungsinvestitio- Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Wirtschaft. nen. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank. Es kann nicht sein, meine Damen und Herren, dass die Länder, jedenfalls einige, auf dem bevorstehenden (Beifall bei der FDP) Bildungsgipfel Geld einfordern, aber keine klaren Ziel- vorgaben formuliert werden. Wir alle wissen, dass der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Brutto- Nun hat die Kollegin Ulla Burchardt für die SPD- inlandsprodukt seit Jahren rückläufig ist. Gemessen am Fraktion das Wort. Bruttoinlandsprodukt investieren Portugal, Polen und Ungarn prozentual inzwischen mehr in die Bildung als (Beifall bei der SPD) 19476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Ulla Burchardt (SPD): Die Erwartungen an den Bildungsgipfel sind hoch, (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nicht zuletzt geweckt durch die Kanzlerin selbst. Sie Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutie- kann sich bei niemandem beschweren. Deswegen muss ren heute zum zweiten Mal über den Nationalen Bil- der Gipfel statt schönen Worten Substanz bringen und dungsbericht. Er ist ein wahres Wunderwerk der Statis- mehr als die von der Koalition bereits beschlossenen und tik, wörtlich zitiert: „die summative Bewertung des wirklich sinnvollen und richtigen Maßnahmen der Qua- gesamten Bildungsgeschehens“. lifizierungsinitiative. Was technisch klingt, ist politisch hoch brisant. Der (Beifall bei der SPD) Bericht übt scharfe Kritik an der mangelnden Durchläs- sigkeit und der starken sozialen Selektivität des deut- Zu Recht fordert Handwerkspräsident Schleyer ge- schen Bildungssystems. Noch immer verlassen 8 Pro- nauso wie nahezu alle Wirtschafts-, Lehrer- und Eltern- zent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss, vertreter die Vereinbarung von konkreten, verbindlichen, haben 40 Prozent der ehemaligen Hauptschüler nach nachprüfbaren Zielen und die entsprechenden notwendi- zwei Jahren keine Berufsausbildung und verschwenden gen Entscheidungen. Sie alle haben als Bildungspolitiker wertvolle Lebenszeit in Warteschleifen. Noch immer be- in den letzten Tagen darüber hinaus den Brief von BDA nachteiligt das dreigliedrige Schulsystem Kinder von und BDI erhalten, der betont, dass der bildungspolitische Migranten und aus sozial schwächeren Familien. Die Fortschritt messbar sein muss. Durchlässigkeit, so der empirische Beleg, hat sich weiter (Beifall bei der SPD) verschlechtert. Noch immer gibt es zu wenig Studie- rende. Die Hochschultüren sind für viele verriegelt – Nun wissen wir alle, dass sich in den letzten Tagen durch flächendeckende NCs, Studiengebühren und un- Vertreter des Bundeskanzleramtes und die Chefs der überschaubare Bewerbungsverfahren. Die Weiterbil- Staatskanzleien zusammengesetzt haben. Was in Bezug dungsbeteiligung stagniert. Die soziale Selektivität setzt auf die Vorbereitungen für die Abschlusserklärung sich auch hier fort. Wer einmal den Anschluss verpasst durchdringt, gibt Anlass zu großer Sorge. Selbst die we- hat, findet nur mit Glück oder durch Zufall eine zweite nigen vagen Konkretisierungen, die Sie, Frau Schavan, oder dritte Chance für den Aufstieg. Und schließlich: mit Ihren Länderkollegen abgestimmt haben, sollen Noch immer liegen die Bildungsinvestitionen in Deutsch- weitgehend verschwinden. Lediglich die Halbierung der land unter dem Schnitt aller westlichen Industrieländer Schulabbrecherzahl ist gerettet worden; weitere konkrete der OECD; ihr Anteil ist sogar rückläufig. Zahlen – nicht Bekenntnisse – sind in der Erklärung of- fensichtlich nicht unterzubringen. Das einzig Konkrete, Das ist die nüchterne Bilanz, mit der wir uns aus- was die Ministerpräsidenten fordern, ist mehr Geld vom (B) einandersetzen müssen. Es ist die Eröffnungsbilanz und Bund ohne jede Zweckbindung. Das ist vor dem Hinter- (D) zugleich das Pflichtenheft für das Treffen der Bundes- grund des Unionsländerkampfes gegen den angeblich kanzlerin mit den Ministerpräsidenten in der nächsten „goldenen Zügel“ des Geldes vom Bund im Rahmen der Woche. Föderalismusreform I schon fast ein Stück aus dem Toll- (Beifall bei der SPD) haus, muss ich ganz ehrlich sagen. Die SPD hat den Bildungsgipfel einhellig begrüßt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir halten ihn für notwendig und finden es richtig, dass DIE GRÜNEN) Bildung zur Chefsache gemacht wird. Die Zeit ist reif Damit wird wenige Tage vor dem Schwur deutlich, für einen nationalen Bildungspakt. dass Welten klaffen zwischen der neuen bildungspoliti- (Beifall bei der SPD) schen Sozialreformrhetorik der Union, mit der sie sozial- demokratische Begriffe und Forderungen aufgenommen Natürlich haben wir kein Geheimnis daraus gemacht, hat, zum Beispiel das 7- bzw. 10-Prozent-Ziel – Zei- dass sich Frau Merkel das populäre Thema Bildung ein tungsarchive belegen eindeutig, dass Professor Zöllner Jahr vor der Bundestagswahl auch aus wahltaktischen die Bildungsrepublik schon vor drei Jahren eingefordert Gründen zu eigen gemacht hat. hat; aber das ist ja alles nicht schlimm –, und der noch immer virulenten Ideologie der Bestenauslese. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein! Schon viel länger! – Renate Künast Gelegentlich hilft ein Blick zurück in die Geschichte, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Jahr und um die Gegenwart zu erklären und zu verstehen. Es gibt einen Tag vorher!) noch viele – zumindest in meinem Alter –, die sich noch gut daran erinnern können, wie mit der Regierungsüber- Wir sind auf diesem Feld ja alle nicht ganz unschuldig. nahme im Jahre 1982 mit der sogenannten geistig-mora- Aber das ist an sich nicht schädlich. Es ist gut, dass Bil- lischen Wende das Rad der Bildungsexpansion der 70er- dung auf diese Art und Weise zum Topthema auf der po- Jahre zurückgedreht werden sollte. litischen Agenda geworden ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Streben nach mehr Bildung sowie nach mehr Abiturienten und Studierenden aus Arbeiterfamilien und sich die politische Auseinandersetzung im Wettbe- wurde verantwortlich gemacht für die sogenannten Ver- werb der bildungspolitischen Konzepte zuspitzt. Ich will werfungen der 68er- und der 70er-Jahre. CDU-Politiker das, was da aufgeworfen worden ist, gleich gern noch wetterten gegen die gigantische Fehlsteuerung durch die einmal aufgreifen. Öffnung der Gymnasien und Universitäten. Ein CDU- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19477

Ulla Burchardt (A) Staatssekretär im Bundesbildungsministerium empfahl Meine Damen und Herren, mit diesem Denken und (C) den Bundesländern dringend, doch nicht mehr als mit einem politischen Instrumentenkasten, der im We- 16,5 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur zuzulassen. sentlichen besteht aus Wettbewerben, Modellprogram- men, Bestenauswahlstipendien und dem Outsourcen von In der konkreten Politik hatte dieses konservative politischer Verantwortung an Stiftungen lassen sich die Denken über 16 Jahre hinweg reale Folgen. Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewälti- (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wie alt ist gen. die Rede, die Sie vortragen?) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Dem BAföG-Kahlschlag der Kohl-Regierung mit der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Streichung der Schülerförderung und der Umstellung der Wir als Sozialdemokraten haben ein Konzept auf den Studierendenförderung ausschließlich auf Volldarlehen Tisch gelegt, das solide und stimmig ist. Das Wesentli- sowie den Einschränkungen beim Hochschulausbau che ist: Wenn man über die notwendigen Strategien re- folgten zugleich Schritte in den Ländern, den Zustrom det, dann muss man berücksichtigen, dass die staatlichen der Schüler an den Gymnasien zu drosseln. Das damals Handlungsinstrumente Recht, Geld und Infrastruktur konservativ regierte Rheinland-Pfalz war vorne mit da- voll zum Einsatz kommen müssen, um Durchlässigkeit bei und auch das Land Baden-Württemberg. und Aufstieg durch Bildung zu gewährleisten und um Die Warnung vor der vermeintlichen Akademiker- das Fachkräfteproblem zu lösen. schwemme hatte bis weit in die 90er-Jahre hinein Kon- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) junktur. In manchen konservativen Kreisen wird das auch heute noch weiter betrieben. Rechtsansprüche wie das Recht auf den nachholenden (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Was reden Schulabschluss spielen eine Rolle. Außerdem ist ein Sie überhaupt? Es ist unglaublich, was Sie für bundeseinheitlicher Hochschulzugang wichtig. Zeitge- vermeintliche Tatsachen in den Raum stellen!) mäße Infrastruktur heißt längeres gemeinsames Lernen, flächendeckender Ausbau der Ganztagsschule sowie Diese Politik zeigt tatsächlich Folgen, die wir heute im 200 000 neue Studienplätze. Hinblick auf die Bildungsbeteiligung sowie auf den Man- gel an Hochqualifizierten beklagen. Ohne die BAföG-Re- Wir brauchen mehr Geld für Bildung, erstens um das form unter Rot-Grün und den Einsatz der SPD für den formale und verfassungsmäßige Recht der Bürger auf Erhalt und Ausbau des BAföGs in dieser Koalition wä- freien Zugang zur Bildung materiell abzusichern. Es ren die Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichts noch nützt nämlich nichts, ein Recht zu haben, wenn man es deutlich schlechter ausgefallen. sich nicht leisten kann, es in Anspruch zu nehmen. Des- (B) halb sind Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Master- (D) (Beifall bei der SPD) studium, die Wiedereinführung des Schüler-BAföGs und ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz unverzicht- Schauen wir uns einmal an, was aus der Vergangen- bar. heit und den nicht gerade guten Ergebnissen, die eine solche Politik mit sich gebracht hat, gelernt wurde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn man sich die neuere Beschlusslage anschaut, dann der LINKEN) stellt man fest, dass Sie sich noch immer zu einem drei- gliedrigen Schulsystem bekennen, das der Ständegesell- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schaft des vorletzten Jahrhunderts entstammt. Anders Frau Kollegin, darf ich Sie an die Redezeit erinnern? kann man das doch nicht mehr bezeichnen, was da pas- siert. Ulla Burchardt (SPD): (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Letzter Satz: Mehr Geld ins System muss sein. Die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) demografische Rendite muss verbindlich gesichert wer- Bezeichnenderweise hat die damalige hessische Kul- den. Frau Schavan, das ist doch das Mindeste, was Sie tusministerin Wolff festgestellt, das dreigliedrige Schul- Ihren Unionsministerpräsidenten abhandeln müssen. system sei doch ganz in Ordnung; denn – das muss man (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – das sei die Haben Sie das alles mit Ihrem Finanzminister begabungsgerechte Chancenzuweisung. An dieser Stelle besprochen? Davon haben wir nichts ge- wird doch völlig klar, was dahintersteht, wenn man so merkt!) etwas heute noch will, oder man weiß nicht, was man sagt und was man tut. Diese haben sich gestern Abend noch immer geweigert, dies verbindlich festzulegen. Wer sich in diesen Zeiten trotz seiner sozialen Her- kunft bis zum Abitur durchgekämpft hat – das sind Gott sei Dank viele –, trifft beim Hochschulzugang auf eine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: neue soziale Hürde, die die unionsgeführten Länder er- Frau Kollegin, das waren schon mehrere Sätze. richtet haben, nämlich die Studiengebühren. So kann man Bildungsmobilität, Durchlässigkeit und Aufstieg Ulla Burchardt (SPD): für alle doch überhaupt nicht fördern. Ich weiß nicht, wie Zweitens. Wenn man das 7-Prozent-Ziel für Bil- man das überhaupt noch darstellen will. dungsausgaben erreichen will, dann muss man sich 19478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Ulla Burchardt (A) ernsthaft fragen, wie man auf 4 Milliarden Euro Einnah- Wenn Sie eine bessere Bildung haben wollen, dann (C) men aus der Erbschaftsteuer verzichten kann. Es reicht müssten Sie zumindest auf den europäischen Durch- doch das kleine Einmaleins, um festzustellen, dass diese schnitt kommen. Das würde pro Jahr 18 Milliarden Euro Rechnung überhaupt nicht aufgehen kann. Wer das mehr bedeuten. Dann hätten wir wirklich die Möglich- 7-Prozent-Ziel will, muss zur Erbschaftsteuer Ja sagen. keit, offene Hochschulen anzubieten und den Numerus Das ist in diesen Tagen der Lackmustest für die bil- clausus zu beseitigen. Dann hätten wir einen ausgebau- dungspolitische Glaubwürdigkeit. ten Kitabereich, eine bessere Ausstattung an den Schu- len und eine bessere Ganztagsschulbetreuung. Dafür (Beifall bei der SPD – Alexander Dobrindt setzt sich die Linke ein. [CDU/CSU]: So ein Unfug!) (Beifall bei der LINKEN – Marcus Weinberg [CDU/CSU]: Da haben Sie in Berlin alle Mög- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lichkeiten für den Bildungsbereich!) Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Cornelia Hirsch. Zweiter Punkt. Bildung für alle muss heißen: mehr Gerechtigkeit. Frau Schavan, Sie haben gerade in Ihrer (Beifall bei der LINKEN) Rede gesagt: Herkunft darf nicht über Zukunft, Herkunft darf nicht über Bildung entscheiden. – Sehr richtig! Aber wenn Sie das ernst meinen, dann müssen Sie und mit Ih- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): nen Ihre Partei sich endlich vom Irrweg des gegliederten Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Schulsystems verabschieden. Es kann doch nicht ange- Bildung für alle – das hat uns Frau Merkel hier vor weni- hen, dass bei Kindern im Alter von zehn Jahren darüber gen Wochen in der Haushaltsdebatte versprochen. Bil- entschieden wird, welche Bildungs- und damit auch Le- dung für alle – leider merken wir, sehr geehrte Frau Mi- benschancen ihnen zugeteilt werden, und zwar je nach- nisterin, bisher noch nicht sehr viel davon, dass Sie in dem, aus welcher sozialen Schicht sie kommen und wel- der Bundesregierung dieses Versprechen auch ernsthaft che kulturelle Herkunft sie haben. Dazu sagt die Linke: umsetzen wollen. Denn Bildung für alle erreicht man Das werden wir nicht mitmachen. Wir streiten für ein eben nicht, indem man die Bildungsrepublik ausruft. längeres gemeinsames Lernen. Wir brauchen endlich Man erreicht es auch nicht, wenn man sich auf Bildungs- bundesweit die Einführung von Gemeinschaftsschulen reise begibt, aber dabei von vornherein nur die prämier- und die Abschaffung des gegliederten Schulsystems. ten und preisgekrönten Einrichtungen besucht und um die im Bildungswesen viel häufiger anzutreffenden Pro- (Beifall bei der LINKEN) bleme einen weiten Bogen macht. Man erreicht es erst Mehr Gerechtigkeit muss dann auch heißen, dass end- (B) recht nicht, wenn man einen Bildungsgipfel konzipiert, lich der Zugang an die Hochschulen geöffnet wird und (D) der eigentlich nichts anderes als ein Marketinggipfel für Durchlässigkeit vorhanden ist. Das erreicht man eben die Bundesregierung ist, auf dem nur alle ohnehin schon nicht, so wie Sie es jetzt vorschlagen, mit einzelnen Auf- beschlossenen bildungspolitischen Maßnahmen noch stiegsstipendien oder einem Modellprojekt des Bundes einmal hervorgekramt und neu promotet werden. „Offene Universität“, sondern notwendig ist – dafür hät- ten Sie in der Bundesregierung die Kompetenz –, den (Beifall bei der LINKEN) Zugang an die Hochschulen flächendeckend für Men- Die Linke sagt: Bildung für alle darf kein leeres Ver- schen mit einem Berufsabschluss zu öffnen. sprechen bleiben. Bildung für alle muss endlich umge- Dritter Punkt. Bildung für alle muss auch heißen: Ge- setzt werden. Darum richten wir drei ganz konkrete For- bührenfreiheit. Denn das, was wir zurzeit erleben – an- derungen an den bevorstehenden Bildungsgipfel: gefangen in der Kita über die Schule, wo Eltern zur Finanzierung der Schulbücher, der Schülerbeförderung Erster Punkt. Bildung für alle muss heißen: mehr usw. und immer mehr über private Nachhilfe zur Kasse Geld für Bildung. Frau Schavan, ich meine mit „mehr gebeten werden, bis zu den Hochschulen; in vielen Bun- Geld für Bildung“ nicht Ihre ohnehin schon in den Haus- desländern sind Studiengebühren und übrigens auch die haltsplan eingestellten pillepalle 6 Milliarden Euro. von der SPD eingeführten Studienkonten Realität –, (Marcus Weinberg [CDU/CSU]: Pillepalle zeigt, dass wir Bildung für alle so nicht erreichen. Denn 6 Milliarden? – Weitere Zurufe von der CDU/ wenn es Gebühren gibt, dann entscheidet der Geldbeutel CSU) über die Teilhabe an Bildung, und das steht im Wider- spruch zum Ziel „Bildung für alle“. – Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen. – Alle, auch jene, die jetzt auf der Tribüne sitzen und zuhören, be- (Beifall bei der LINKEN) kommen mit, dass der Bundestag in dieser Woche ein Die Linke sagt deshalb: Für den Bildungsgipfel ist die Rettungspaket über mehrere Hundert Milliarden Euro klare, verbindliche Vereinbarung zwischen Bund und verabschieden wird. Zu Recht versteht niemand, der uns Ländern notwendig: Gebührenfreiheit von der Kita bis zusieht, dass gleichzeitig für die Bildung gerade einmal zur Weiterbildung. 6 Milliarden Euro mehr für mehrere Jahre zur Verfügung gestellt werden sollen und dass das alles sein soll. Ich fasse zusammen: Wenn Sie es ernst meinen mit Bildung für alle, dann muss die Messlatte für die Ergeb- (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ich ver- nisse des Bildungsgipfels sein: erstens ein Bildungspakt stehe Sie auch nicht!) für eine bessere Finanzierung – der erste Schritt wäre: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19479

Cornelia Hirsch (A) weg mit dem unsinnigen Kooperationsverbot im Schul- recht und durchlässig zu machen, und zwar vom Kinder- (C) bereich –, zweitens längeres gemeinsames Lernen statt garten bis zur beruflichen Weiterbildung. unsozialem Aussortieren und drittens die Gebührenfrei- heit von der Kita bis zur Weiterbildung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu dem, was Sie hier mit so warmen Worten erzählt Besten Dank. haben – immer mehr Kinder finden den Weg ins Gymna- (Beifall bei der LINKEN) sium –, sage ich Ihnen: In diesem Land gibt es viele Menschen, die Veränderungen erwarten. Ich muss Ihnen Beispiele nennen: Was sollen die alleinerziehenden Müt- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ter, die erwerbstätig sein wollen und müssen, aber quer Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für durchs Land keine gute und verlässliche Betreuung für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ihre Kinder finden, aus Ihrer Rede schließen? Was sollen die Lehrerinnen und Lehrer, die 30 oder mehr Kinder mit Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): immer mehr sozialen Problemen – gerade auch in sozia- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau len Brennpunkten – in einer Klasse unterrichten, aus Ih- Ministerin, ich muss ehrlich sagen: Bei Ihrem Redebei- rer Rede schließen? Was sollen die Jugendlichen, die trag zur Bildungspolitik kam ich mir schon beim ersten sich in diesem Land trotz Realschulabschluss weiterhin Satz veräppelt vor. Sie haben sich hier hingestellt und in einer Warteschleife statt in einer Ausbildung befinden, gesagt: „Die Bildungspolitik ist in der Mitte der Politik denken? Alle reden über Integration, aber was sollen die angekommen.“ – Wir sind nur dankbar dafür, dass wir Migrantenkinder denken, die die gleiche Leistung wie nicht nachts um 3 Uhr, sondern schon am frühen Nach- ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bringen, aber trotz- mittag über Bildungspolitik diskutieren. Wir können ei- dem keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen? gentlich nur dankbar dafür sein, dass die CDU/CSU und Was sollen eigentlich die denken, die meinen: „Ich die Kanzlerin endlich gemerkt haben, dass das ein Mar- könnte doch vielleicht …“, die für ein Studium aber Stu- ketingpunkt ist. Aus der Tatsache, dass Sie jetzt erst ge- dienkredite aufnehmen müssten und, weil sie noch nicht merkt haben, dass das ein Zukunfts- oder Marketing- genug Zutrauen haben, Angst und Sorge haben, sich auf punkt ist, dürfen Sie aber nicht schließen, dass dieser dem Weg der Bildung zu verschulden? Was sollen ei- Punkt erst jetzt in der Mitte der Politik oder der Gesell- gentlich hoch motivierte Frauen denken, die sich im Be- schaft angekommen ist. Da war er schon lange. ruf bewiesen haben und jetzt ihren Uni-Abschluss nach- holen wollen, aber mit Verweis auf ein fehlendes Abitur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht genommen werden? Was sollen mittelständische sowie bei Abgeordneten der SPD) Unternehmen denken, die händeringend Azubis suchen, (B) die ordentlich lesen, schreiben und rechnen können? (D) Wahr ist etwas ganz anderes: Diese Legislaturperiode Was sollen Eltern denken – das ist schon angesprochen hat mit einem Desaster begonnen, mit der Tatsache, dass worden –, die ein Kind mit Behinderung haben und es sich der Bund bei der Bildungspolitik quasi enthauptet auf die Schule für alle geben wollen, aber mit faden- hat. Wenn es so ist, dass die Bildung eine der zentralen scheinigen Begründungen daran gehindert werden? All Zukunftsaufgaben und eine der zentralen Gerechtigkeits- diesen Menschen mit ihren Fragen haben Sie mit Ihren fragen ist – und es ist so, weil sich jedes Kind und jeder warmen Worten keine Antwort gegeben. Erwachsene darüber Chancen im Leben erarbeiten kann –, dann war es einer der schlimmsten Fehler zu Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ginn dieser Legislaturperiode, dass wir zugelassen ha- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ben, dass sich der Bund bei der Föderalismusreform bil- Unser Bildungssystem leistet immer noch viel zu we- dungspolitisch enthauptet hat. Darunter leiden heute alle. nig, wenn ein Fünftel der Jugendlichen nach jahrelan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gem Schulbesuch nicht richtig lesen und schreiben kann. sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Was heißt das? Wir können wirklich sagen: Teilhabe- KEN) chancen gibt es in diesem Land nicht. Es ist eher noch so wie in Preußen: Die einen gehen aufs Gymnasium, der Ich muss ehrlich sagen: Ich habe ein Stück weit gelit- Mittelbau geht in die Mittelschule, und der Rest wird im ten, als Sie sich mit dem Satz, dass immer mehr Kinder wahrsten Sinne des Wortes in die Volksschule abgescho- den Weg ins Gymnasium finden, selbst entlarvt haben. ben. Wir müssen sagen: Wir brauchen endlich Chancen- Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist ein unchristlicher Satz. gleichheit. Wir brauchen einheitliche Standards statt Warum? Den Weg ins Gymnasium zu finden ist kein Länderegoismen. Suchauftrag für die Kinder, sondern der zentrale Gerech- tigkeitsauftrag des Landes. Ich will Ihnen in drei Leitsätzen sagen, was das heißt. Diese drei Dinge müssen wir verwirklichen, aber nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN irgendwann, sondern jetzt: Erstens. In diesem Land muss sowie bei Abgeordneten der SPD) jedes Kind lernen können. Zweitens. In diesem Land muss jeder und jede in jedem Alter Zugang zu Bildung Deshalb reicht es auch nicht, dass Sie jetzt die Marke- haben. Drittens. Wir alle – das ganze Land –, egal ob wir tingebene des Ganzen entdeckt haben. Wir Grünen er- Kinder haben oder nicht, sind für die Bildung verant- warten von Ihnen, dass auf dem Bildungsgipfel zwi- wortlich. Das ist Aufgabe des ganzen Staates. schen Bund und Ländern belastbare Vereinbarungen getroffen werden, dass es zu einem gesamtstaatlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kraftakt kommt, um unser Bildungssystem endlich ge- sowie der Abg. Ute Berg [SPD]) 19480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Renate Künast (A) Gehen wir einmal zu dem ersten Punkt: Jedes Kind grenzen müssen abgesenkt werden; auch dazu haben Sie (C) soll lernen können, und zwar von Anfang an, egal ob in nichts gesagt. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Statt Kre- Wedding oder Blankenese. Die Koalition lobt sich dafür, diten brauchen wir eine staatliche Studienfinanzierung. dass bis 2013 der Anteil der Kindertagespflege auf bis zu 30 Prozent erhöht werden soll. Was ist eigentlich mit de- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen, Frau Schavan, die schon heute keinen Platz in einer Wir brauchen einen Hochschulpakt, der wirklich ga- Kita bekommen haben? Die Union hält am System der rantiert, dass bis 2020 jeder und jede, der bzw. die stu- Auslese fest. Wir sagen: Wir brauchen den Rechtsan- dieren kann und will, einen Studienplatz bekommt. Wir spruch auf den Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr. Wir brauchen den Zugang zur Uni für beruflich Qualifizierte. brauchen eine Qualitätsoffensive. Wir brauchen ein Qua- litätssiegel, damit es wirklich Wettbewerb um gute Kin- Darüber hinaus – das ist der dritte Punkt – brauchen dergärten gibt und die Eltern wissen, wo sie ihre Kinder wir Geld. Die gesamte Gesellschaft ist für diese Aufgabe hinschicken können. zuständig. Weg und Schluss mit den Schwarzer-Peter- Spielchen. Wir brauchen längeres gemeinsames Lernen. Wir brauchen die individuelle Förderung eines jeden Kindes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das müssen wir leisten und bieten. Wir dürfen nicht er- Wir als Grüne wollen eines ganz klar: den Bildungs- warten, dass sich die Kinder dies suchen. Wir brauchen soli. Wir müssen die Hälfte der nicht verplanten Einnah- flächendeckend echte Ganztagsschulen mit einem kos- men aus dem Solidaritätszuschlag – das sind etwa tengünstigen Mittagessen. 23 Milliarden Euro – in Bildung investieren, und zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN definitiv nicht weniger. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum zweiten Punkt. Ich habe gesagt: Jeder und jede muss in jedem Alter Zugang zu Bildung haben. Wissen Wir müssen auch Bildung als Investition begreifen. Es Sie, was wir heute erleben? Zwei von drei Hauptschü- kann doch nicht sein, dass nur der Bau von Straßen als lern sind noch anderthalb Jahre nach ihrem Abschluss Investition gerechnet wird, obwohl der Bau von Bil- nicht in einer Ausbildung. Wir wissen, was es für junge dungsinstitutionen oder die Bereitstellung von Bildungs- Leuten bedeuten kann, wenn sie anderthalb Jahre auf der und Qualifizierungsangeboten eigentlich die zentralen Straße stehen. Das ist eine richtige Desozialisierung oder Investitionen im internationalen Wettbewerb sind. Dies Fehlsozialisierung. Wir brauchen ein anderes Ausbil- ist nötig, wenn man Gerechtigkeit herstellen will. dungssystem, weil die Haupt- und Realschüler gar nicht Ich kann also nur sagen: Schluss mit der Trickserei! (B) mehr integriert werden. Wir sind doch mittlerweile in Schluss mit den warmen Worten! Frau Schavan, wir er- (D) dem ganzen Bereich so weit, dass eine 30-jährige Mutter warten, dass nicht am Anfang der Legislaturperiode kein BAföG bekommt, wenn sie ihr Studium nach einer steht, dass sich der Bund bei der Bildungspolitik ent- Pause für das Kind beenden will. Wir sind in einem hauptet, und am Ende der Legislaturperiode eine gute Land, in dem selbst jemand wie Erwin Teufel Schwierig- Marketingaktion mit einem Bildungsgipfel steht. Wir keiten hat, einen Studienplatz zu bekommen, obwohl er wollen, dass Geld in die Hand genommen wird – min- doch eine gewisse Vorqualifizierung vorzuweisen hat. destens 23 Milliarden Euro brauchen wir – und das Sys- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tem für alle Kinder und alle Erwachsenen geöffnet wird. Jörg Tauss [SPD]: Das Studium hat er abge- Alles andere wäre am Ende nur PR. Da werden wir Sie brochen!) entlarven. – Na ja, er musste nachher an eine kirchliche Hoch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schule gehen, weil ihn eine staatliche nicht nahm. Das ist doch ein Armutszeugnis, abgesehen davon, dass er das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Studium am Ende doch aufgegeben hat; aber bitte. Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt Wir müssen an dieser Stelle feststellen: Sie loben sich für die CDU/CSU-Fraktion. für mehr Ausbildungsplätze, dabei ist dieser Zuwachs (Beifall bei der CDU/CSU) nur konjunkturbedingt. Dieses Eigenlob stinkt. Wir alle wissen: Die Zahl der Ausbildungsplätze wird infolge der Finanzkrise und der Rezession zurückgehen. Wir brau- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): chen ein Ausbildungssystem, das tatsächlich mit Modu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! len arbeitet, sodass es allen, auch den Migranten ermög- Frau Künast, ich glaube, dass das, was Sie hier machen, licht wird, trotz der fehlenden Vorbildung ihrer Väter hoch fahrlässig ist. Sie stellen sich hier hin und wollen und Mütter einen Bildungsabschluss zu machen. den Menschen draußen erzählen, dass das, was am Aus- bildungsmarkt und bei der Fortbildung der Menschen er- Überbetriebliche Ausbildungsstätten und ein Erwach- reicht wurde, alles nichts wert ist. Sie behaupten nicht senen-BAföG sind die Antwort statt der Kredite, die nur, dass es nichts wert ist, Sie streiten sogar ab, dass es auch bei Ihrem Modell, Frau Schavan, immer noch teu- das überhaupt gibt. rer sind, als sie früher einmal waren. Der Zinssatz von 6,5 Prozent, den Sie gerade angekündigt haben, liegt im- (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Fragen Sie mer noch über dem alten Satz. Die bisherigen Zinsober- doch draußen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19481

Alexander Dobrindt (A) Ich sage Ihnen: Das ist der blanke Hohn gegenüber den Cornelia Hirsch (DIE LINKE): (C) vielen jugendlichen Menschen, die Hoffnung brauchen, Besten Dank. Wenn Sie hier den Ausbildungspakt lo- weil sie einen Ausbildungsplatz wollen, und denen wir ben und die Gewerkschaften dafür verdammen, dass sie heute sagen können, dass zum ersten Mal seit 2001 – Sie nicht mitmachen – aus meiner Sicht zu Recht –, lautet erinnern sich, wer damals mitregiert hat – wieder mehr meine Frage an Sie: Ist Ihnen klar, dass der Ausbildungs- Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, als Bewerber pakt unter anderem auch das Ergebnis hatte, dass, wie da sind. Sie im Bildungsbericht, über den wir heute diskutieren, nachlesen können – vielleicht haben Sie ihn ja sogar ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lesen –, 385 000 Jugendliche schon mindestens ein Jahr, neten der SPD) viele sogar länger, auf der Suche nach einem Ausbil- Das betrifft 540 000 junge Menschen, die heute einen dungsplatz sind? Halten Sie es wirklich für einen Erfolg, Arbeitsplatz finden können; das war früher nicht mög- wenn ein Pakt dazu beiträgt, dass fast 400 000 Jugendli- lich. Ich glaube, dass es wichtig ist, festzustellen, was es che in diesem Land um ihre Zukunft betrogen werden? für einen jungen Menschen bedeutet, nach der Schule zu versuchen, seinen Lebensmittelpunkt in der Gesellschaft Alexander Dobrindt (CDU/CSU): zu finden, und dies nicht zu schaffen, weil diese Gesell- schaft unter Umständen keinen Arbeitsplatz für ihn zur Frau Kollegin Hirsch, würden Sie zur Kenntnis neh- Verfügung hat. All das konnten wir deutlich verbessern. men, dass durch den Ausbildungspakt erreicht wurde, All das haben wir in den letzten Jahren gemeinsam ge- dass in diesem Jahr erstmals wieder jedem Jugendlichen schafft. Ich glaube, dass dies es wert ist, dies hier in aller ein Angebot gemacht werden kann! Wer nicht in eine Deutlichkeit zu erwähnen. Ausbildung kommt, hat die Chance darauf, in einem Be- trieb eine Zusatzqualifikation, eine Einstiegsqualifika- Wir haben vieles verbessert. Wir haben erst vor kur- tion oder eine weitere Qualifikation finanziert durch zem im Gespräch mit den Kultusministern klargestellt, Wirtschaft und Politik zu erwerben. Ich denke, das soll- dass es entscheidend ist, dass die jungen Menschen den ten Sie als Ziel und Ergebnis des Ausbildungspakts zur Übergang von ihrer schulischen Ausbildung in die Ar- Kenntnis nehmen. beitsausbildung leichter schaffen, orientierter sind und schon mit einer bestimmten Vorstellung an die Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung herangehen. Ich glaube, dass dies Früchte trägt. Liebe Kollegin Burchardt – ich bin mir nicht ganz si- Die Kultusministerkonferenz hat zugesagt, dass sie mit cher; aber ich glaube, wir sind gemeinsam noch in einer uns ein Konzept erstellen wird, durch das die Berufs- Koalition –, orientierung schon in den Schulen deutlicher ausgeprägt (B) (D) werden soll. Das wäre ein Riesenvorteil für die Ausbil- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, noch! – dung der jungen Menschen. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau! „Noch“ ist das Wort des Tages! – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU neten der SPD) und der SPD) Wenn wir schon dabei sind, lassen Sie mich an dieser ich habe mich ein wenig wie in einer Zeitschleife gefan- Stelle sagen, dass der Ausbildungspakt ein wesentlicher gen gefühlt, wobei ich mir nicht sicher war, ob Sie in der Bestandteil des enormen Kraftaktes war, mehr Ausbil- Zeitschleife sind oder ich. Auf jeden Fall hat das, was dungsstellen zur Verfügung zu stellen, als Bewerber da Sie über die Bildungspolitik alter Zeiten berichtet haben, sind. nicht ganz gepasst. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!) Ich will Sie an dieser Stelle korrigieren. Es sich ein- Da haben alle mitgewirkt, nicht nur die Politik. In erster fach zu machen und zu sagen, dass man den Menschen Linie haben die Unternehmen, die Mittelständler und die durch die Erbschaftsteuer nur genug Geld abnehmen Verbände mitgewirkt, die sich auch in der Nachvermitt- muss lung engagiert haben, sodass man jedem etwas anbieten (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wem? Wem kann. Ich sage an dieser Stelle mit Bedauern, dass sich genau wollen Sie denn Geld abnehmen?) die Gewerkschaften dem Ausbildungspakt immer noch verweigern und nicht mitgeholfen haben, junge Men- und dann alle Kosten für die Ausbildung in Deutschland schen in Arbeit zu bringen. finanzieren kann, ist der grundfalsche Weg. Wir müssen den Unternehmen, die von einer Generation an die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nächste vererbt werden, die finanziellen Mittel lassen, damit sie weitergeführt werden können, damit die Ar- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: beitsplätze gesichert werden können und damit die Un- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der ternehmen nicht kaputtgehen. Derjenige, der in diesem Kollegin Hirsch? Land Arbeitsplätze sichert, schafft auch die Gelder he- ran, damit wir die Bildungspolitik bezahlen können. Alexander Dobrindt (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Kurt Hill Gerne. [DIE LINKE]: So ein Quatsch!) 19482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Alexander Dobrindt (A) Wir stimmen heute in zweiter und dritter Lesung über Weiterbildungskredit eine Lösung finden, die in ähnli- (C) Änderungen im Vermögensbildungsgesetz ab. In diesem cher Art und Weise die Möglichkeit eröffnet, den Men- Vermögensbildungsgesetz haben wir eine Bildungsprä- schen durch günstigere Darlehen eine Weiterbildung zu mie und ein Weiterbildungsdarlehen vorgesehen. Ich finanzieren. möchte zur Weiterbildungsprämie drei Grundthesen for- Wir haben ein neues Instrument geschaffen. Wir er- mulieren. öffnen jetzt im Rahmen der vermögenswirksamen Leis- Erstens. Wir haben in Zeiten der Globalisierung die tungen, die ohnehin schon viele im Betrieb nutzen, die Pflicht, die Qualifikation der Menschen deutlich zu stär- Chance, aus diesen vermögenswirksamen Leistungen, ken. Bildung ist zur Maßeinheit einer modernen Gesell- die eigentlich eine Bindungsfrist von sieben Jahren ha- schaft geworden. Deswegen gilt: Wenn die Konkurrenz ben, für Weiterbildungsmaßnahmen auch schon vorfällig zwischen den Arbeitnehmern weltweit größer wird, dann Geld herauszunehmen, ohne dass dies prämienschädlich muss dieses Kapital besser ausgebildet sein. wird. Ich glaube, dass es der Schlüsselsatz ist, den Leu- ten die Chance zu geben, während ihrer Arbeit Geld an- Zweitens. Es findet ein demografischer Wandel statt, zusparen – eben die vermögenswirksamen Leistungen – der dazu führt, dass es immer mehr ältere Arbeitnehmer und dieses nicht nach sieben Jahren für irgendetwas zu gibt. Die Altersgruppe der über 50-Jährigen beschäftigt verwenden, sondern bereits vorher für eine Ausbildung sich am allerwenigsten mit Weiterbildung. Statistisch ge- oder ein Weiterbildungsprogramm einzusetzen. Dies ge- sehen nutzen die über 50-Jährigen die Möglichkeiten zu- schieht prämienunschädlich, sodass sie die Chance ha- sätzlicher Ausbildung von allen Altersgruppen am we- ben, vom Staat auch weiterhin die Prämie auf vermö- nigsten. Genau diese Altersgruppe wird aber in Zukunft genswirksame Leistungen zu bekommen. einen immer größeren Beitrag im Arbeitsleben leisten. Bis zum Jahre 2020 wird der Anteil der über 50-Jährigen Das ist ein neuer Einstieg in Ansparen auf Fort- und an der gesamten Arbeitsbevölkerung auf 50 Prozent stei- Weiterbildung. Dieses Konzept müssen wir umsetzen, gen. Dann kann man nicht mehr sagen: Gelernt ist ge- und wenn wir dies heute beschließen, dann ist es ein gro- lernt. Das, was man kann, reicht noch für die restlichen ßer Tag für die Weiterbildung in Deutschland. Jahre bis zur Rente. – Zukünftig muss man sich auch im Danke schön. Alter weiterbilden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der dritte Punkt. Die Unternehmen haben in der Zwi- neten der SPD – Volker Schneider [Saarbrü- schenzeit Gott sei Dank erkannt, dass das Wissenspoten- cken] [DIE LINKE]: Ein böser Tag!) zial der Mitarbeiter ein viel größeres Betriebsvermögen ist, als es alle anderen Werte oftmals sein können. (B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Aha! Und des- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Uwe Barth wegen wird jetzt die Weiterbildung abgebaut? das Wort. Interessant!) (Beifall bei der FDP) Deswegen ist es unser Ziel, die Teilhabe der Menschen an der Weiterbildung zusätzlich zu fördern. Die Kernbot- Uwe Barth (FDP): schaft lautet: Wer bereit ist, sich an seiner Weiterbildung Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- finanziell ein Stück weit zu beteiligen, der wird vom legen! Wir erleben in diesen Tagen eine Inszenierung – Staat stärker gefördert. Das geschieht durch die Bil- eine Inszenierung mit dem Titel „Bildungsrepublik“. dungsprämie, die wir heute beschließen. Wie bei Inszenierungen üblich gilt auch hier: Kostüm Die Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkom- und Bühne sind wichtiger als der Inhalt. So ist die heu- men, die eine Fortbildung machen, können durch den tige Debatte offenbar auch in der Dramaturgie ihrer In- Gutschein, den wir einführen, in Zukunft 50 Prozent der szenierung das geeignete Sprungbrett hin zum großen Weiterbildungskosten – insgesamt zahlt der Staat bis zu Finale, dem Bildungsgipfel nächste Woche in Dresden. 154 Euro dazu – sparen; ich glaube, das ist ein richtiger (Zuruf von der CDU/CSU: Die FDP spielt Ansatz. Wer dieses Geld nimmt, etwas drauflegt und aber nur eine Statistenrolle!) eine Weiterbildung macht, hat die Chance, in seinem Be- ruf zukünftig mehr Einkommen zu generieren und sei- Auch die Reihenfolge ist kein Zufall. Denn es ist alle- nen Arbeitsplatz zu sichern. Deswegen ist es wichtig, mal einfacher, sich nach der Parlamentsdebatte nächste dass wir heute diese Entscheidung treffen. Woche im Blitzlichtgewitter ablichten zu lassen, als nach dem Gipfel hier im Parlament vielleicht darüber berich- (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Schneider ten zu müssen, dass die Blitzlichter der Fotografen das [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das ist ja un- einzige Licht waren, welches die Szenerie beleuchtet glaublich!) hat, und Geistesblitze oder gar ein intellektueller Flä- chenbrand zur tatsächlichen Verbesserung der Bildungs- Darüber hinaus haben wir in diesem Gesetz die Mög- situation in unserem Land bedauerlicherweise – es war lichkeit zinsgünstiger Weiterbildungskredite geschaffen. aber nicht anders zu erwarten – ausgeblieben sind. Ich gebe Ihnen recht, dass auch die Studienkredite über- dacht werden müssen. Ich bin dankbar, dass das Ministe- (Beifall bei der FDP – Dr. Andreas rium Gespräche mit der KfW geführt hat und dabei et- Schockenhoff [CDU/CSU]: Können Sie den was heraushandeln konnte. Ich hoffe sehr, dass wir beim Satz wiederholen?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19483

Uwe Barth (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wird denn beim das Ansparen bzw. den Aufbau von privatem Bildungs- (C) Bildungsgipfel herauskommen? – Eine strahlende Kanz- kapital deutlich unterstützen. Daneben müssen wir auch lerin, altbekannte Worthülsen, unverbindliche Vereinba- den Hochschulpakt auf solide Füße stellen. Die Hoch- rungen, die Betonung der überragenden Bedeutung der schulrektorenkonferenz hält eine Erhöhung von Bildung für alles und für jeden und natürlich das Jonglie- 25 Prozent für nötig. Wir teilen dies. Ich hoffe, dass wir ren mit großen Zahlen. hier im Hohen Hause eine breite Unterstützung dafür er- halten. Die Ministerin spricht von 6 Milliarden Euro. Meine Kollegin Pieper hat hier schon darauf hingewiesen: Das (Jörg Tauss [SPD]: Hoffentlich auch aus Bay- Problem bei diesen 6 Milliarden Euro ist, dass es sie im ern?) Bildungshaushalt überhaupt nicht gibt. Wenn der Bildungsgipfel zum Flop oder gar zum Liebe Frau Ministerin, ich möchte Ihnen wirklich Fiasko wird, dann liegt das mit Sicherheit nicht an der nicht vorschnell Etikettenschwindel vorwerfen, aber zu- Opposition. Wenn es nach der bemerkenswerten Rede mindest fragwürdig scheint das Ganze zu sein. Nein, der Kollegin Burchardt hier noch eines weiteren Kron- liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Bildungsgipfel zeugen bedarf, dann bringe ich ihn mit dem verehrten wird mit Sicherheit keinen Anlass bieten, die Inthroni- Kollegen Thomas Oppermann, seines Zeichens kein Ge- sierung einer Bildungskanzlerin zu feiern. ringerer als der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Vor die heutigen Debatte haben in der Inszenierung die Dramaturgen die sogenannte Bildungsreise gesetzt: (Jörg Tauss [SPD]: Guter Mann!) die Kanzlerin vor Ort in Kindertagesstätten und in Schu- der es auf den Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: Wenn len bei Betreuern und bei Lehrern. es nicht gelingt, die Länder verbindlich in die Pflicht zu (Jörg Tauss [SPD]: Reisen bildet!) nehmen, das Geld vom Bund zielgerichtet einzusetzen und zweckgebunden auszugeben und auch mehr eigene Gerhard Schröder hat Lehrer einmal als „faule Säcke“ Mittel in die politische Priorität Bildung zu investieren, bezeichnet. Dieses Bild geradezurücken und die Wert- dann bleibt das Ziel, Deutschland zur Bildungsrepublik schätzung der Politik für die Leistung unserer Pädago- zu machen, eine zugegebenermaßen rhetorisch schöne, gen einmal deutlich zu machen, war richtig. Sich einen aber eben sinn- und inhaltslose Floskel, eine Inszenie- Überblick zu verschaffen, tatsächlich Erkenntnisse zu rung. Das haben unsere Kinder aber nicht verdient. gewinnen und diese im Bildungsgipfel in greifbare Poli- tik zu übersetzen, war doch wohl das eigentliche Ziel (Beifall bei der FDP) dieser Bildungsreise, sofern ich es richtig verstanden Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Gestatten (B) (D) habe. Sie auch mir einige letzte Sätze. Nun stellen sich alle die Frage: Was hat die Kanzlerin (Heiterkeit bei der FDP und den LINKEN) gelernt? Auch wir haben uns diese Frage gestellt. Die wesentliche Erkenntnis – diese teilt uns die Bundesregie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rung mit – aus der Bildungsreise lautet: Das Bildungs- Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich system soll jeden Einzelnen in die Lage versetzen, seine bei jedem auf die Redezeit achte. Fähigkeiten und Talente bestmöglich auszuschöpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meinem Uwe Barth (FDP): Büro keinen Hubschrauberlandeplatz. Aber wenn sich Nachdem uns die Ministerin hier in ihrer Rede von die Kanzlerin zu Fuß bemüht hätte, dann hätte ich ihr das den harten Verhandlungen des Staatssekretärs mit der auch bei einer Tasse Kaffee erzählen können. KfW berichtet und uns einen Zinssatz von 6,5 Prozent (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für einen Studienkredit verkündet hatte, habe ich mein der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Aus Büro einmal gebeten, schnell im Internet zu recherchie- Ihrer Mitropa-Kaffeemaschine! – Jörg Tauss ren, zu welchen Konditionen man Konsumkredite erhal- [SPD]: Die bayerischen Koalitionsverhandlun- ten kann. Das war eine Sache von wenigen Minuten. Die gen waren aber auch nicht so toll!) Frau Ministerin war gerade mit ihrer Rede fertig, als das Fax schon hier war. Es ist überhaupt kein Problem, am Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bildungsgipfel freien Markt einen Kredit von 10 000 Euro für deutlich muss konkrete Punkte aufgreifen und verbindliche Ver- unter 5 Prozent zu bekommen. einbarungen treffen; einige sind hier schon genannt wor- den. In der vorschulischen Bildung und Betreuung brau- Frau Ministerin, mit Verlaub: Es muss doch möglich chen wir eine deutliche Entlastung der Eltern und ein sein, dass die Quasi-Staatsbank KfW in diesem Bereich stärkeres Engagement des Staates. Unter dem Gesichts- Kredite anbietet, mit denen sie im Wettbewerb an der punkt der Chancengleichheit zählen hierzu natürlich Spitze mithalten kann, und dass sie den Studentinnen auch und gerade integrative Angebote. und Studenten Angebote macht, mit denen sie sie wirk- lich nicht überfordert. Weiterführende Angebote in der akademischen Bil- Herzlichen Dank. dung und in der Weiterbildung müssen attraktiver wer- den. Hier ist nicht nur staatliche Unterstützung nötig, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hier ist auch jeder Einzelne gefragt. Der Staat muss aber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 19484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD – Cornelia Hirsch [DIE (C) Nun hat der Kollege Swen Schulz für die SPD-Frak- LINKE]: Ohne Studienkonten!) tion das Wort. Um das zu erreichen, müssen Bund und Länder zu- (Beifall bei der SPD) sammenarbeiten. Darum begrüßen wir es, dass die Bun- deskanzlerin die Ministerpräsidenten zu einem Bil- Swen Schulz (Spandau) (SPD): dungsgipfel eingeladen hat. Es hätte aber auch völlig Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ausgereicht, wenn unser Koalitionspartner CDU/CSU Der Nationale Bildungsbericht 2008 stellt dem deut- die Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion aufgenom- schen Bildungswesen kein gutes Zeugnis aus. Wir sind men hätte. Dann hätten wir ein Gesetz verabschiedet und gewissermaßen versetzungsgefährdet. in die Bundesratsberatung eingebracht. Aber wir sind für jeden Fortschritt dankbar. Ein massives Problem liegt darin, dass wir keine glei- chen Chancen bieten. Wir kennen das schon von den (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das hätten wir PISA-Ergebnissen für die Schulen: Die Kinder und Ju- auch ohne Gipfel geschafft!) gendlichen, deren Eltern keine höhere Bildung haben, Doch bei einem solchen Gipfel muss auch tatsächlich deren Eltern nicht so viel Geld haben und deren Eltern etwas herauskommen. Vor uns liegt sozusagen der nicht aus Deutschland stammen, schneiden in den Schu- Mount Everest und nicht etwa der Rodelberg um die len meist schlechter ab, und zwar nicht weil sie dümmer Ecke. sind, sondern weil sie in der Schule nicht ausreichend gefördert werden. (Uwe Barth [FDP]: Was für ein Berg?) Das setzt sich nach der Schule fort und verstärkt sich Wir fordern klare Botschaften und Absprachen. Das sogar. Nur zwei Zahlen aus dem Bildungsbericht: Ganze muss auch finanziert werden. Was man sonntags 95 Prozent der Kinder aus Beamtenfamilien, bei denen für wichtig hält, muss man unter der Woche auch tat- der Vater einen Hochschulabschluss hat, studieren. Das sächlich umsetzen. Wir Sozialdemokratinnen und So- sind fast alle. Dagegen finden nur 17 Prozent der Arbei- zialdemokraten haben in der Vergangenheit bereits be- terkinder den Weg an die Hochschulen. Noch nicht ein- wiesen, dass wir von Bundesseite aus Investitionen in mal jedes fünfte Kind aus Arbeiterfamilien studiert also. die Bildung vornehmen wollen. Das kann und muss auch Ich sage es noch einmal: Das liegt nicht an vererbten Be- mehr sein. Ich bin etwa dafür, dass wir den Solidarpakt gabungen, sondern dadurch wird gezeigt, dass unser Bil- Ost in einen Bildungspakt für ganz Deutschland umwan- dungswesen eklatant versagt. deln. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) LINKEN) NEN]: Aha!) Bildung ist von zentraler Bedeutung dafür, dass die Wir müssen einen Gang zulegen. Es reicht nicht, sich für Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Ver- das Erreichte selber auf die Schulter zu klopfen; es ist baute Bildungschancen sind für jeden Einzelnen eine mehr nötig. Katastrophe und für die Gesellschaft ein Skandal. Eines will ich noch anmerken: Mir gehen die Länder (Beifall bei der SPD) zunehmend auf die Nerven. Wir müssen energische Maßnahmen ergreifen, um Chan- (Jörg Tauss [SPD]: Mir auch!) cengleichheit zu erreichen. Nur so erreichen wir dann Die Bundesländer beten ständig ihr Mantra runter, dass tatsächlich auch soziale Gerechtigkeit. einzig und allein sie für die Bildung zuständig sind. (Markus Löning [FDP]: Was haben Sie denn (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- getan?) NEN]: Das habt ihr aber beschlossen!) Die SPD hat nicht erst gestern Vorschläge dafür auf Gleichzeitig halten sie ohne jedes schlechte Gewissen den Tisch gelegt. und geradezu schamlos beide Hände auf, (Ina Lenke [FDP]: Ja, dann los!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die Taschen hal- Wir wollen die vorschulische Bildung verbessern, Ganz- ten die auf!) tagsangebote, ein ordentliches Schüler-BAföG, eine in- damit der Bund ihnen die Ausübung ihrer Kompetenzen dividuelle Förderung, zweite und dritte Chancen und finanziert. So geht es nicht. Wir werden den Ländern eine verbesserte berufliche Ausbildung und Weiterbil- keine Blankoschecks ausstellen. dung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Priska Wir wollen die offenen Hochschulen bundesweit, da- Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit auch beruflich Qualifizierte studieren können. Wir NEN]: Sie haben mitbeschlossen, dass das so wollen einen Hochschulpakt II mit einem ordentlichen ist! Wir waren dagegen!) Ausbau der Studienplätze, und wir wollen einen Pakt für gute Lehre, damit die Qualität verbessert wird, und zwar Wir sollten vereinbaren, wer was wo machen kann. ohne Studiengebühren. Wir wollen gute Bildung für alle Dann stellen wir das zusätzliche Geld in den Bundes- von Anfang an. haushalt ein und nehmen die Kontrolle im Deutschen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19485

Swen Schulz (Spandau) (A) Bundestag auch ordentlich wahr, wie sich das für eine nenkreises ungleich höher sind, keinen Schulabschluss (C) parlamentarische Demokratie gehört. zu erwerben, auch nach vielen Warteschleifen keinen Ausbildungsplatz zu bekommen und als Erwachsener (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) keinen beruflichen Aufstieg durch Weiterbildung zu Schließlich möchte ich noch etwas zur Finanzmarkt- schaffen. Man muss vielleicht ein Linker sein, um sich krise sagen, die uns alle in diesen Tagen erheblich be- darüber zu empören, dass dieser Sachverhalt in eklatan- schäftigt. Wir stellen jetzt sehr viel Geld zur Bewälti- ter Weise das Recht auf Bildung und den Grundsatz der gung dieser Krise zur Verfügung – das muss sein –, aber Chancengerechtigkeit verletzt. Aber auch bei CDU/CSU dadurch dürfen die Zukunftsinvestitionen nicht herunter- und FDP muss man sich zumindest darüber empören, gefahren werden. Ich glaube, dass es wichtig ist, dies zu dass wir es uns aus wirtschaftlichen Grünen und ange- betonen. sichts des Fachkräftemangels nicht erlauben können, nicht die Ressourcen aller Personen in dieser Gesell- (Beifall bei der SPD – Alexander Dobrindt schaft, egal aus welcher Schicht sie kommen, optimal zu [CDU/CSU]: Haben Sie schon gehört, dass es nutzen. Bundesländer gibt? Wir haben ein föderales System!) (Beifall bei der LINKEN) Im Gegenteil: Wir sollten aktiv Maßnahmen gegen den Nun verkündet die Bundesregierung, dass man zu- drohenden Abschwung ergreifen. Dafür bietet sich der mindest im Bereich der Weiterbildung die Probleme Bildungsbereich geradezu an. nachhaltig angehen werde. Konkret beschließen wir (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü- heute über drei Maßnahmen: Erstens soll Weiterbil- cken] [DIE LINKE]) dungswilligen eine Weiterbildungsprämie in Höhe von bis zu 154 Euro gezahlt werden, wenn diese einen gleich Allein die bauliche Situation an vielen Schulen und hohen Eigenanteil aufbringen. Das sind also insgesamt Hochschulen und deren Infrastruktur zeigen, dass in die- 308 Euro. Ich habe mir in einem Programm der Volks- sem Bereich sehr viel erreicht werden kann. Wir könnten hochschule einmal angeschaut, was ich für dieses Geld gemeinsam mit den Ländern ein wunderbares Investi- bekomme: kommunikativer Kochkurs für Singles für tionsprogramm ins Leben rufen, das schnell positive 65 Euro, Keyboard für Anfänger und Anfängerinnen für Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt 79 Euro, ein Weinseminar über drei Abende für 20 Euro hätte und auch der Bildung helfen würde. Auch das ist pro Abend. Nichts gegen solche Angebote! Im Gegen- ein klarer Auftrag für den Bildungsgipfel. teil: Auch Bildung darf Spaß machen, darf Hobby sein Herzlichen Dank. und darf der Erholung dienen. Wenn ich aber etwas für (B) meine berufliche Bildung tun möchte, sieht es etwas an- (D) (Beifall bei der SPD) ders aus. Im selben Programm steht: Fachkraft Kleinst- kindpädagogik für 1 060 Euro, Kochen nicht als Hobby, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sondern als berufliche Weiterbildung aus dem Kursnet Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider für der Bundesagentur für Arbeit – diätische Küche – für die Fraktion Die Linke. 1 272 Euro, Verkaufstraining für 670 Euro, historische Maurertechniken für 546 Euro. Ich frage mich, was Sie (Beifall bei der LINKEN) tatsächlich und überwiegend fördern möchten.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Zweite Errungenschaft Ihres Gesetzes ist angeblich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Verwendung vermögenswirksamer Leistungen für „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ – die Weiterbildung. Ich muss mich fragen, in welcher diese Weisheit aus Kindertagen ist durch die Wissen- Welt Sie leben. Die betreffenden Personen schließen sol- schaft Gott sei Dank widerlegt. Dass aber Hans aus che Verträge zum überwiegenden Teil zum Ansparen auf Deutschland im Erwachsenenalter noch einmal die höherwertige und langlebige Konsumgüter ab. Wenn Sie Schulbank drückt, ist leider sehr viel unwahrscheinli- diesen Menschen sagen: „Wie wär es denn mit einer Ver- cher, als es bei Jean aus Frankreich oder John aus Eng- wendung für die Weiterbildung?“, dann schauen Sie land der Fall ist. Ist Hans zudem nicht auf der Sonnen- überwiegend in ungläubige Augen. Es wäre auch falsch, seite des Lebens in dieser Gesellschaft geboren, sinkt die den betreffenden Personen einen Vorwurf zu machen; Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an einer Weiterbil- denn es gibt eine weitere soziale Ungerechtigkeit im dung nochmals deutlich. Im internationalen Vergleich System der Weiterbildung. Für diejenigen, die schon et- gibt es kaum ein anderes Land, in dem die soziale Her- was haben, lohnt sich Weiterbildung ungleich mehr als kunft so stark die Chancen bestimmt, an einer Weiterbil- für diejenigen, die nichts haben. Während der Manager dung teilzunehmen. auf satte Lohnsteigerungen hoffen darf, müssen sich manche Arbeitnehmer weiterbilden, nur damit sie ihren Man muss kein Linker sein, um sich darüber zu Arbeitsplatz nicht verlieren. Lohnerhöhung? – Pusteku- empören, dass diejenigen, die in der „falschen“ gesell- chen! schaftlichen Schicht geboren wurden, seltener weiterfüh- rende Schulen besuchen, seltener eine Hochschulzu- Dritter Meilenstein sind angeblich die Weiterbil- gangsberechtigung erwerben, seltener studieren und sich dungskredite. Ob diese Zielgruppe die Bonitätsprüfung seltener weiterbilden. Man muss kein Linker sein, um überhaupt übersteht? Frau Schavan, auch 6,5 Prozent sich darüber zu empören, dass die Chancen dieses Perso- Zinsen wären für diese Personengruppe alles andere als 19486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) attraktiv. Wenn sich Weiterbildung für diese Personen- – Der Kollege aus Berlin fragt, wie es in Hamburg aus- (C) gruppe nicht auszahlt, warum sollte sie sich dann über- sieht. – Dann wollen wir die Situation in Hamburg ein- haupt in Schulden stürzen? mal aufarbeiten. Frau Künast ist leider nicht mehr da. Auch sie hat angemahnt, mehr für die Kitas zu tun. Als Fazit: Das ist kein Meilenstein, wie wir es oft gehört die CDU 2001 in Hamburg an die Regierung gekommen haben. Das ist vielleicht ein großer Schritt für die Bun- ist, hat sie den Kita-Etat um 16 Prozent gesteigert. Das desregierung, aber allenfalls ein kleiner für die Men- war die „böse, konservative“ CDU, die angeblich mit schen in diesem Land. Wir als Linke bleiben dabei: Wir Kindertagesbetreuung nichts am Hut hat. Wir mussten brauchen keine Geldscheine als Trostpflästerchen hier aber auch den Kita-Etat um 16 Prozent steigern, weil die und da – und das fast immer an den falschen Stellen –, rot-grüne Koalition den Kita-Etat vorher um 24 Millio- sondern ein umfassendes Erwachsenenbildungsförde- nen DM gesenkt hat. Ich nenne Ihnen einmal ein Bei- rungsgesetz. spiel, an welcher Stelle gesenkt wurde: im Bereich der Besten Dank. Weiterbildung von Erzieherinnen mit Migrationshinter- grund – 1 Million DM damals. Das war die Realität von (Beifall bei der LINKEN) Rot-Grün. Als die CDU an die Regierung kam, hat sie den Etat um 16 Prozent erhöht. So unterscheiden sich die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Reden und die tatsächliche Politik auch in den Ländern. Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg für (Beifall bei der CDU/CSU) die Fraktion der CDU/CSU. Frau Burchardt, ich habe mit Interesse und Faszina- (Beifall bei der CDU/CSU) tion Ihrer Rede gelauscht. (Cornelia Pieper [FDP]: Faszination!) Marcus Weinberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Aber da muss auch das eine oder das andere in die histo- Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, das eine oder an- rische Reihe gebracht werden. Sie haben den Vorwurf dere aufzuarbeiten. Herr Schneider, ich weiß, dass Sie erhoben, dass hier Wahlkampf betrieben wird. zum Ältestenrat müssen. Deswegen werde ich auf Ihre (Ulla Burchardt [SPD]: Ja, klar!) Rede nicht mehr so ausführlich eingehen. Aber es bleibt noch Frau Hirsch. Es macht immer riesigen Spaß, nach Die Objektivität Ihrer Rede fand ich übrigens relativ be- Frau Hirsch zu reden. grenzt. Fangen wir einmal mit dem ersten Vorwurf an, dass ausgerechnet jetzt, ein Jahr vor der Wahl, der Bil- Erster Punkt. Sie monieren, dass die Eltern nicht dungsgipfel ausgerufen werde. Der Bildungsgipfel (B) (D) überall von den Kitagebühren freigestellt werden. Wer wurde Ende Dezember 2007 von den Regierungschefs legt eigentlich die Kitagebühren fest? Das ist das Land. und der Bundeskanzlerin beschlossen, also nachdem wir Wie ist es um die Kitagebühren in Berlin bestellt? Sind zwei Jahre in der Regierung waren, quasi in der Mitte sie hoch oder niedrig? Sie haben hier in Berlin die Ver- der Regierungszeit der Großen Koalition. antwortung für die Kitagebühren und werfen anderen vor, dass sie die Gebühren nicht senken. Das ist Thema (Dr. [FDP]: Ein Tiefpunkt sozu- in Berlin. sagen für die Regierung! – Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Da wussten Sie schon, dass (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Informieren nächstes Jahr Wahlen sind!) Sie sich! Das letzte Jahr ist schon gebühren- frei! Die anderen werden folgen! Das ist ja al- Entschuldigen Sie bitte, das hat doch nichts mit Wahl- bern!) kampf zu tun. Das ist ein Vorwurf von Ihnen, um gegen den Bildungsgipfel zu argumentieren. Mein zweiter Punkt betrifft die Kinderpolitik in Ber- lin. Das geht auch den Kollegen der SPD an. Ich beziehe (Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt mich auf den Weltkindertag und verweise auf die Berli- [SPD]: Aber Millionen sehen es genauso wie ner Morgenpost vom 20. September 2008: „Bei Kinder- ich!) armut steht Berlin oben auf der Liste.“ Ich zitiere: Ich will auf einen weiteren Punkt hinaus. Ich möchte „Berlin steht ganz oben auf der Liste von Kinderar- mich auf den Nationalen Bildungsbericht und auf die mut …“, sagt Alex Jakob, Sprecherin des Deut- Frage konzentrieren, was dieser ergeben hat. In Ihrer schen Kinderschutzbundes, Landesverband Berlin. Rhetorik, Mimik und Gestik kam ausschließlich eine ne- Jedes dritte Kind sei bereits arm oder von Armut gative Darstellung des Bildungsgipfels zum Ausdruck. bedroht. Sie haben der Ministerin Vorwürfe gemacht. Dazu muss man Folgendes wissen: Die Datensätze stammen haupt- Das ist die Realität Ihrer Politik hier in Berlin. Des- sächlich aus den Jahren 2005 und 2006. Ich frage mich, wegen sollten Sie sich mit schlauen Bemerkungen zu- wer denn zuvor sieben Jahre im Bund regiert hat. Das rückhalten. war Rot-Grün. Das sind die Ergebnisse Ihrer Politik. Die können Sie der Ministerin nicht vorwerfen. (Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist unter Niveau! Wie (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf sieht es denn in Hamburg aus, in den Stadttei- [SPD]: Wir haben die Ganztagsbetreuung ein- len?) geführt! Gegen Ihren Willen! – Hartwig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19487

Marcus Weinberg (A) Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Tote Hose gen ist gestiegen. Es gibt mehr Abschlüsse im (C) war das damals!) Sekundarbereich II. Auch der Anteil der Studienberech- tigten steigt. Frau Burchardt, gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung, weil ich die geistig-moralische Wende, die Trotzdem gibt es – das macht der Bildungsbericht Sie in der historischen Betrachtung angesprochen haben, deutlich – Herausforderungen. Es stellt sich die Frage, als jemand verfolgen konnte, der betroffen war. Ich war wie wir, Bund und Länder, diese Herausforderungen ge- nämlich in dieser Zeit Schüler in einem Gymnasium, das meinsam meistern. Ich finde gewisse Ansätze in der Ko- in einer Arbeitergegend lag. Wir Arbeiterkinder waren operation durchaus sinnvoll. Im Übrigen ist das födera- stolz, ein Gymnasium in einer Großstadt wie Hamburg tive System natürlich kompliziert, schwierig und mit besuchen zu können. Das war für uns Bildungsaufstieg. einem hohen Abstimmungsbedarf verbunden; aber es Das Problem war nur, dass dieses Gymnasium gegen den lohnt sich, dafür einzutreten. Ich glaube, föderative Sys- Willen der Eltern, der Schüler und auch der Lehrer da- teme sind aufgrund ihrer größeren Vielfalt wesentlich mals von Sozialdemokraten geschlossen und die Ge- besser als zentralistische Systeme, in denen Dinge ein- samtschule eingeführt wurde. Wir wurden nicht gefragt, fach bestimmt werden. Bei dem, was wir in den nächsten und unser Bildungsaufstieg wurde damals zwangsweise Monaten aufarbeiten werden, geht es natürlich um durch Sozialdemokraten behindert. Punkte, die kritisiert worden sind; aufgrund meiner Re- dezeit kann ich jetzt nicht auf alle eingehen. (Jörg Tauss [SPD]: Das hat Ihnen nicht ge- schadet! – [CDU/CSU]: Angesichts der aktuellen Entwicklungen möchte ich So sind sie! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: noch auf das eingehen, was die Bundesregierung leistet. Nur darum sind Sie Abgeordneter! Meine Her- Als Beispiel möchte ich das Programm zur Berufsorien- ren!) tierung nennen – es wurde herausgearbeitet, Stichwort „Durchlässigkeit“, Stichwort „Übergang“, dass viele Dazu muss ich ganz deutlich sagen: So verhält es sich junge Menschen nach der Schule nicht den Weg in den mit der Gemeinschaftsschule. Beruf finden –: Mittlerweile haben sich 26 000 Schüler Im Übrigen möchte ich auf den Antrag der Linken für dieses Programm angemeldet. Stichwort „Kita“: Es eingehen. Frau Hirsch, Sie sprechen von der Bildung als ist bekannt, dass der Bund zum Ausbau der Kinderbe- Gemeinschaftsaufgabe. Ich zitiere aus Ihrem Antrag, in treuung 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Stich- dem die Bundesregierung aufgefordert wird, wort „berufliche Aufstiegsmöglichkeit“: Hier werden vom Bund 570 Millionen Euro investiert. Ich nenne wei- 5. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Bildung tere Stichwörter: Aufstiegsstipendien, Meister-BAföG, zu vereinbaren, dass das selektive mehrgliedrige Studium, Hochschulpakt. Zur Weiterbildungsförderung (B) Schulsystem abgeschafft wird. Stattdessen werden – das wurde auch von Ihnen sehr kritisch angesprochen –: (D) gut ausgestattete Gemeinschaftsschulen eingerich- Hierfür werden vom Bund demnächst 265 Millionen tet, … Euro zur Verfügung gestellt. Das heißt, die Reformen, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die jetzt wirken, werden – das bestätigt auch der Bil- dungsbericht – durch die Bundesregierung fortgeführt. Nun will ich gar nicht über den Inhalt diskutieren. Aber Sie stellen sich hierhin und sagen, Sie wollten die Mit der Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bil- Kooperation von Bund und Ländern vertiefen. Das ist dung“ hat die Bundesregierung die Grundlagen geschaf- keine Vertiefung von Kooperation. Sie wollen den Län- fen, um die Kräfte zur Gestaltung künftigen Wohlstands dern die Verantwortung aus der Hand schlagen. Das hat für alle und zur Eröffnung individueller Lebenschancen mit Kooperation nichts zu tun, das ist zwanghafter Zen- für alle zu bündeln. Bündeln bedeutet in diesem Zusam- tralismus, den Sie hier in Deutschland einführen wollen. menhang auch, alle Akteure einzubinden und auf das- Im Übrigen könnten ich und die Grünen dem Antrag gar selbe Ziel einzuschwören. Mit dem Bildungsgipfel wer- nicht zustimmen, weil die Kollegin Sager und ich in den wir diesen Weg in einem nächsten Schritt Hamburg mittlerweile eine Reform im Schulbereich konsequent beschreiten. durchführen. Es wäre fatal, wenn die Grünen einem sol- Herzlichen Dank. chen Antrag zustimmen würden und dann die Reform, die sie in eigener Verantwortung in einem Land – in die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sem Fall in Hamburg – durchführen, nicht durchführen neten der SPD) könnten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Lassen Sie Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg für die mich raten: Gemeinschaftsschule?) SPD-Fraktion. Lassen Sie mich noch ganz kurz auf zwei, drei As- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) pekte eingehen. Die Ministerin hat dargestellt, der Bil- dungsbericht hat nicht nur negative Ergebnisse – Sie ha- Ute Berg (SPD): ben das richtigerweise relativiert –, sondern auch positive Ergebnisse. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weinberg, Sie haben einen großen Teil Ihrer Rede- Angesprochen wurde die zunehmende Nutzung früh- zeit verbraucht, um auf das föderale System hinzuwei- kindlicher Bildung. Das Kompetenzniveau der 15-Jähri- sen, um Ihre Länder zu unterstützen und um zu zeigen, 19488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Ute Berg (A) welche CDU-Landesregierungen Ihrer Meinung nach kommen, selbst für sich zu sorgen, und damit nicht auf (C) eine hervorragende Politik machen etc. Ich möchte mich die Hilfe anderer angewiesen sind. jetzt stärker auf die Bundespolitik konzentrieren; denn dafür sind wir letztendlich verantwortlich. Wenn wir Das sind die Ziele, die wir erreichen wollen, und da- schon in die Historie gehen, dann sollten wir doch ein- für brauchen wir ein breitgefächertes Weiterbildungsan- mal auf den Bundesbildungsminister Rüttgers verwei- gebot. sen, der vor der rot-grünen Regierung an der Macht war Fakt ist aber: Die Weiterbildungsbeteiligung ist laut und der, soviel ich weiß, als einziger Bildungsminister Nationalem Bildungsbericht insgesamt zu niedrig, und seinen Etat zweimal zurückgeschraubt hat. So viel zu der sie stagniert obendrein. Vor allem gering qualifizierte Verantwortung der Bildungspolitiker des Bundes. und ältere Menschen sind noch zu wenig beteiligt. Dabei sind diejenigen, die sich nicht weiterbilden, nicht per se (Beifall bei der SPD) faul oder unmotiviert; viele haben schlicht und ergrei- Swen Schulz hat eben zu Recht gesagt: Wir wollen fend das nötige Geld dafür nicht übrig. gute Bildung von Anfang an. Viele Bildungspolitikerin- Deshalb beschließen wir heute auch eine Änderung nen und -politiker haben die Bildungsverläufe und die des Vermögensbildungsgesetzes. Wir wollen – ich sage wichtigen Punkte, an denen man ansetzen muss, darge- es noch einmal ganz dezidiert – Personen mit einem zu stellt. Ich möchte mich als Wirtschaftspolitikerin jetzt versteuernden Einkommen von bis zu 17 900 Euro – bei auf einen Bereich beschränken, wohl wissend, dass es Verheirateten sind es 35 000 Euro – eine Weiterbildungs- natürlich wichtig ist, das große Ganze im Kopf zu haben. prämie in Höhe von 154 Euro geben. Sie müssen dann Ich möchte mich heute auf die Weiterbildung konzen- einen Eigenanteil dazu leisten. Das ist ein zusätzlicher trieren, auf die Finanzierung von Weiterbildung in einem Anreiz zur individuellen beruflichen Weiterbildung. ganz bestimmten Segment durch das Vermögensbil- dungsgesetz. Herr Schneider, ehrlich gesagt, was Sie Wir wissen sehr wohl, dass das noch nicht genug ist. dazu aufgeführt haben, ist für meine Begriffe sehr ein- Wir wollen peu à peu auch mehr erreichen. Wir können seitig. Darauf komme ich aber gleich noch zu sprechen. nicht nach dem Motto „I like Genuss, aber sofort“ ver- fahren, sondern wir müssen peu à peu in die richtige Die lineare Berufsbiografie „Ausbildung, Einstellung, Richtung gehen. Wir erreichen mit dieser Änderung zu- Rente“ wird immer seltener. Für die Zukunft prognosti- sätzlich, dass die Zulage nicht verloren geht; auch das zieren Berufsforscher, dass Arbeitnehmer durchschnitt- haben wir eben schon herausgestellt. lich in fünf Berufsfeldern arbeiten werden, und zwar bei unterschiedlichen Arbeitgebern. Hinzu kommen Phasen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) der Weiterbildung, der Familienarbeit und unter Umstän- (D) den – auch damit muss man hin und wieder rechnen – Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit auf- kurze Phasen auch ohne Arbeit. In einer Zeit, in der von merksam machen. den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sehr viel Flexibilität verlangt wird und in der die technologische Ute Berg (SPD): Entwicklung zudem immer schneller voranschreitet, ist Ich sehe das gerade. Dadurch, dass ich für den An- Lernen für die berufliche Weiterentwicklung von heraus- fang viel mehr Zeit verbraucht habe als geplant, kann ich ragender Bedeutung. Unter Umständen ist es für das be- jetzt das, was noch zu sagen so wichtig wäre, heute nicht rufliche Überleben sogar notwendig. unterbringen. Zurzeit liegt die Weiterbildungsquote bei 43 Prozent. Das reicht uns nicht. Wir wollen deutlich mehr. Wir hof- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fen, dass wir es hinbekommen, bis 2015 10 Prozent Es hilft nichts. mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Weiterbil- dungsangeboten zu haben. Das wäre für uns zumindest Ute Berg (SPD): ein guter, kräftiger Schritt in die richtige Richtung. Ich weiß. Deshalb mein letzter Satz: Das Gesetz, das Was wollen wir damit erreichen? Wir wollen damit der Bildung von Vermögen dient, wollen wir zu einem erreichen, dass Geringqualifizierte bessere Chancen ha- Gesetz weiterentwickeln, das aus dem Vermögen heraus ben, einen Job zu finden. So können wir Arbeitslosigkeit auch Geld für Bildung mobilisiert. Letztlich soll die Prä- abbauen und Armutsrisiken verhindern. Wir wollen, mie nach unseren Vorstellungen auf 300 Euro erhöht dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer regelmäßig werden. Aber das schaffen wir nicht sofort. ihr Wissen auffrischen und ihre Fähigkeiten erweitern, Vielen Dank. damit sie in der Lage sind, neue Herausforderungen zu meistern. Wir wollen, dass Arbeitgeber, die nach Fach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kräften suchen, auch qualifizierte Leute finden; denn das der CDU/CSU) ist die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und Wachstum. Wir wollen, dass Eltern nach der Erziehungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zeit einfacher und besser vorbereitet wieder in den Beruf Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege einsteigen können, damit Beruf und Familie leichter ver- Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion. einbar werden und auch mehr Frauen berufstätig sein können. Wir wollen, dass die Menschen die Chance be- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19489

(A) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): mehr Durchlässigkeit und mehr soziale Integration er- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! reicht werden. Ein gemeinsames Leuchtturmprojekt ist hatte in den 70er-Jahren nicht unrecht, als hier die Ganztagsbeschulung in Form gemeinsamer Be- er einen Bildungsgesamtplan als Ausdruck der gemein- schulung. Der Wunsch der Sozialdemokraten geht dahin, samen Verantwortung von Bund und Ländern für Bil- dass Sie nach der 4-Milliarden-Investition, die Gerhard dungsangelegenheiten in Deutschland propagiert hat. Schröder und und am Ende auch wir Das soll jetzt etwa in der Form des Bildungsgipfels eine alle – ich will jetzt nicht beckmessern – gemeinsam in neue Form bekommen. Hauptsache, es wird ein Erfolg! die Schulen hineingetragen haben, bei diesem Bildungs- gipfel mit von Bund und Ländern finanzierter Schulso- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Richtig!) zialarbeit den nächsten Schritt tun. Damit hätten wir Es muss deshalb ein Erfolg werden, weil es von der nicht nur 6 000 Ganztagsschulen, sondern auch solche, Priorität Bildung her notwendig ist, die von Bund und Ländern gemeinsam personell ausge- stattet werden. (Marcus Weinberg [CDU/CSU]: Richtig!) Der dritte Leuchtturm: In der beruflichen Bildung weil es auch von den aktuellen Problemlagen her not- müssen sämtliche Bildungsmöglichkeiten für alle glei- wendig ist und weil es in der Logik der Bildungsbericht- chermaßen ausgeschöpft werden. Aus dem ersten Bil- erstattung liegt. Wenn man Bildungsberichterstattung dungsbericht haben wir lernen müssen, dass Deutsch- ernst nimmt, dann muss etwas daraus folgen. land noch nicht das erreicht hat, was andere Länder Nun hat die FDP eine nationale Bildungskonferenz bereits erreicht haben: die Förderung der Bildungspoten- vorgeschlagen. Wir sind da etwas bescheidener und sa- ziale von zugewanderten Kindern und Jugendlichen. gen: Alle zwei Jahre wird ein Nationaler Bildungsbericht Hier haben wir – das müssen wir leider ehrlich sagen – vorgelegt, der sowohl im Bundestag wie auch in den noch erheblichen Nachholbedarf. Es ist anzuerkennen, Landesparlamenten zu diskutieren ist. Es ist gut – es dass über den Integrationsgipfel Vorschläge entwickelt wird auch weiter gut sein –, wenn die jeweilige Kanzle- worden sind. Das Leuchtturmprojekt besteht hier darin, rin bzw. der jeweilige Kanzler dies zum Anlass nimmt, Maßnahmen so zu bündeln, dass nicht nur ein Viertel der in dem Zeitraum, für den Bericht erstattet worden ist, ei- zugewanderten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz hat nen Gipfel mit den Ministerpräsidenten einzuberufen, und nur wenige von ihnen einen gymnasialen Schulab- um nach zwei Jahren Rückschau zu halten: „Was ist aus schluss erlangen. Auf der anderen Seite sind 500 000 den Empfehlungen und Schwerpunkten des ersten Gip- Menschen mit einem akademischen Abschluss zugewan- fels geworden?“ und gleichzeitig eine gemeinsame Pla- dert, der bei uns nicht anerkannt wird. Hier geht es also nung zu verabreden, also das, was man in den nächsten darum, ein Bündel von Maßnahmen so zu verwirklichen, (B) vier Jahren, mit einer Überprüfung wiederum in zwei dass Integration durch Bildung möglich wird. (D) Jahren, tun will. Dies muss so sein, damit man am Ende (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht mit einem Basar von Spiegelstrichen, sondern mit wichtigen Projekten dasteht. Der vierte Leuchtturm: Zwischen dem ersten und dem Ein nationaler Bildungsgipfel gewinnt nur dann eine zweiten Bildungsbericht hat uns der Wissenschaftsrat Ausstrahlung und erzeugt Dynamik, wenn es wichtige damit konfrontiert, gute Lehre an Hochschulen ins Zen- Projekte gibt. Für die sozialdemokratische Seite im trum zu stellen. Wir streben an, dass gute Lehre, Offene Bund wie in den Ländern stelle ich unsere Vorstellungen Hochschule und ein vernünftiger, solide durchfinanzier- für solche wichtigen Leuchtturmprojekte dar. Bis zur ter Hochschulpakt für 200 000 zusätzliche Studienplätze letzten Minute werden wir dafür werben, dass die CDU/ in den Blickpunkt dieses Bildungsgipfels gerückt wer- CSU und die Ministerin unsere Vorstellungen in den Bil- den. dungsgipfel einbringen. Der fünfte Leuchtturm: Ein Rechtsanspruch auf Wei- Der erste Leuchtturm: Wir haben gelernt – das ist terbildung ist nötig. Die Länder und der Bund sollten breit akzeptiert –, dass Kindertagesstätten Bildungsein- vereinbaren, dass dieser Rechtsanspruch jedes Einzelnen richtungen sind. Dazu gehören die Gewinnung und Qua- und der Rechtsrahmen für gute Weiterbildung auf Bun- lifizierung möglichst aller Kinder sowie der kostenlose desebene durch ein Gesetz ausgestaltet werden können. Zugang für alle, die in diese Einrichtung hinein wollen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Diese fünf Leuchttürme, Kindertagesstätten als kos- Das Leuchtturmprojekt für den nationalen Bildungsgip- tenlose Bildungseinrichtungen, Schule als gemeinsame fel sollte ein zwischen Bund und Ländern verabredeter Ganztagsschule mit Schulsozialarbeit, Integration von Stufenplan sein, wie man zum kostenlosen Besuch der Migrantinnen und Migranten durch berufliche Bildung Kindertagesstätte für alle Kinder kommt. Es geht um ein und Qualifizierung, gute Lehre, Offene Hochschule und Grundrecht auf kostenlose Bildung für alle. mehr Hochschulbildung sowie Weiterbildung als Rechtsanspruch, sind die Wünsche der Sozialdemokra- Der zweite Leuchtturm: Die Schule kann man in vie- ten. Wir hoffen, dass sich der Bildungsgipfel mit diesen len Facetten neu gestalten; die Ministerin hat manche da- Leuchttürmen als eine Wegmarke für die „Bildungsrepu- von angesprochen. Man kann sich aber auch darauf kon- blik Deutschland“ beschäftigen wird. zentrieren, dass sich die Schule dann neu gestaltet, wenn dort mehr Zeit für Pädagogik zur Verfügung steht und so (Beifall bei der SPD) 19490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Dazu bedarf es finanzieller Mittel. Die Kolleginnen den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei- (C) und Kollegen von CDU/CSU mögen meinen Appell ver- sungen so beschlossen. zeihen. Wir wollen Sie dazu gewinnen, dass Sie alles mobilisieren, damit nicht folgende Schizophrenie ein- Tagesordnungspunkt 5 g. Wir kommen zur Abstim- tritt: Die Länder brauchen dafür Geld, und die Erbschaft- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten steuer ist eine Landessteuer. Sie ist nicht die wichtigste Gesetzentwurf zur Änderung des Fünften Vermögensbil- Steuer. Aber in ihrem Rahmen leisten Hochvermögende dungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Tech- – das sind 5 Prozent – im Erbschaftsfall einen Beitrag nologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf für die Allgemeinheit. Ob die Länder über diese Drucksache 16/10604, den Gesetzentwurf der Bundesre- 4 Milliarden Euro verfügen oder nicht, ist eine Frage der gierung auf Drucksache 16/9560 in der Ausschussfas- Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, dass sie den Bil- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- dungsgipfel auch finanziell mit unterfüttern können. entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim- DIE GRÜNEN) men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Ganz konkret entsprechen Einnahmen für die Länder in Linke sowie Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Höhe von 4 Milliarden Euro Jahr für Jahr 60 000 bis 70 000 Erzieherinnen und Sozialarbeiter oder 40 000 Dritte Beratung Lehrerinnen und Lehrer oder 30 000 Professorinnen und Professoren und andere Hochschulkräfte, die wir haben und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem oder nicht mehr haben. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ratung angenommen. Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Tagesordnungspunkt 5 h. Beschlussempfehlung des Aus- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Es geht nicht, dass wir uns da in eine Schizophrenie schätzung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die hineinbegeben. Deshalb noch einmal die Bitte an unsere Grünen mit dem Titel „Für eine starke Wissenschafts- Ministerin mit einem dringenden Wort: Sorgen Sie dafür, infrastruktur im gemeinsamen Interesse von Bund und dass das auch die Thurn-und-Taxis-Partei CSU in Bay- Ländern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- ern begreift; empfehlung auf Drucksache 16/10560, den Antrag der (B) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1643 (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordne- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- ten der CDU/CSU) fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die denn es sind auch dort 8 000 Lehrerinnen und Lehrer Grünen und die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der oder 6 000 Professorinnen und Professoren. FDP-Fraktion angenommen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Tagesordnungspunkt 5 i. Beschlussempfehlung des Herr Kollege, bevor Sie noch weitere Rechenbei- Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- spiele bringen, muss ich Sie endgültig auf die Redezeit abschätzung auf Drucksache 16/10584. Der Ausschuss hinweisen. empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8741 mit dem Titel „Studienfinanzierung Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): ausbauen – Soziale Hürden abbauen“. Wer stimmt für Die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin hängt daran, dass diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent- sie das mit nach vorne bringen kann, und wir wollen der haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Kanzlerin helfen, dass sie an der Stelle keine schizo- men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der phrene Politik machen muss. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Danke schön. Fraktion Die Linke angenommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8749 mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dem Titel „Auswirkungen von Studiengebühren evaluie- Ich schließe die Aussprache. ren – Monitoringsystem umgehend aufbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- Zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis 5 f wird inter- gen? – Enthaltung? – Die Beschlussempfehlung ist mit fraktionell Überweisung der Vorlagen auf den Druck- den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- sachen 16/10206, 16/9808, 16/10327, 16/10328, 16/10587 Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ und 16/10586 an die in der Tagesordnung aufgeführten Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an- Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- genommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19491

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b schlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung (C) auf: werden wir später namentlich abstimmen. a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung sehe dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so ver- fahren. Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in ner dem Kollegen Walter Kolbow für die SPD-Fraktion Afghanistan (International Security Assis- das Wort. tance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und Walter Kolbow (SPD): folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nationen Wir wissen alle, dass dieser Tagesordnungspunkt nicht nur in dieser Woche, sondern auch im Weiteren im Mit- – Drucksachen 16/10473, 16/10567 – telpunkt unserer parlamentarischen Erörterungen und Beratungen steht, auch wenn entschuldigt die Frau Bun- Berichterstattung: deskanzlerin und der Herr Außenminister heute nicht an- Abgeordnete Eckart von Klaeden wesend sein können. Gert Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Verlänge- Wolfgang Gehrcke rung des ISAF-Mandates mit sehr großer Mehrheit zu. Kerstin Müller (Köln) Diese Entscheidung ist eindeutig, spiegelt den schwieri- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gen Abwägungs- und Entscheidungsprozess – das ver- gemäß § 96 der Geschäftsordnung steht sich – aber nur unzureichend wider. Auch die siebte Verlängerung dieses Mandates hat sich meine Fraktion – Drucksache 16/10620 – mit unserer Taskforce Afghanistan und durch intensive Fraktions-, Arbeitsgruppen- und Ausschusstätigkeit im Berichterstattung: wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet. Abgeordnete Lothar Mark (Beifall bei der SPD) Jürgen Koppelin (B) Zwingendes Argument für eine weitere Verlängerung (D) Omid Nouripour ist zunächst sicherlich die mangelnde Alternative zur Fortführung des Engagements. Der sofortige Abzug der b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bundeswehr – wie es der Entschließungsantrag der Frak- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- tion Die Linke verlangt – stellt keine wirkliche Alterna- schuss) zu dem Entschließungsantrag der Abge- tive dar. Dies wäre ein Wortbruch gegenüber unseren af- ordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, ghanischen Partnern und die Flucht aus einer gemeinsam Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter übernommenen internationalen Verantwortung. und der Fraktion DIE LINKE zu dem Antrag der Bundesregierung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Wenn wir gingen, liebe Kolleginnen und Kollegen, scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- dann wäre dies eine Verletzung der Solidarität all denen tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in gegenüber, die bleiben. Wir würden das Ziel aufgeben, Afghanistan (International Security Assis- für das wir sieben Jahre lang in Afghanistan gearbeitet tance Force, ISAF) unter Führung der NATO haben, nämlich dem Land eine gute Zukunft zu sichern auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und und dabei für unsere eigene Sicherheit zu sorgen. folgender Resolutionen, zuletzt Resolution (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Das geht nicht ohne den weiteren Einsatz der Bundes- wehr in Afghanistan. Wir wissen, dass wir unseren Sol- – Drucksachen 16/10473, 16/10479, 16/10568 – datinnen und Soldaten weiter viel zumuten müssen. Na- Berichterstattung: mens meiner Fraktion danke ich allen herzlich, die sich Abgeordnete Eckart von Klaeden in Afghanistan bemühen und dort für uns sehr wichtige Gert Weisskirchen (Wiesloch) Aufgaben erfüllen. Dies gilt auch heute wieder beson- Dr. Werner Hoyer ders für die Bundeswehrangehörigen, für die das Parla- Wolfgang Gehrcke ment mit seiner Entsendungsentscheidung wieder und Kerstin Müller (Köln) weiter große Verantwortung übernimmt. Nehmen Sie auf der Tribüne und Sie, Herr Bundesminister der Verteidi- Zu dem Antrag der Bundesregierung liegen weiterhin gung, das bitte für unsere Fraktion mit. je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 19492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Walter Kolbow (A) Ich denke, dass aber auch all die anderen Frauen und rechte werfen. Nach internationalem Rechtsverständnis (C) Männer, die mit ihrer hohen fachlichen und sozialen ist es völlig unverständlich, dass dem inhaftierten Jour- Kompetenz unter Entbehrungen und Risiken Hoffnungs- nalisten Pervez Kambakhsh die Todesstrafe droht, weil anker und Mutmacher für die Überwindung der Gewalt er einen Artikel über die Rechte der Frauen im Islam aus und für den friedlichen Aufbau sind, diesen Dank ver- dem Internet heruntergeladen und verbreitet hat. dienen. Über die Tätigkeit beim Wiederaufbau wird Frau (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Ministerin Wieczorek-Zeul berichten. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der SPD) der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) Unser Ziel ist es, die Lebensbedingungen in Afgha- Ich sage – sicherlich in Übereinstimmung mit allen hier nistan zu verbessern, die afghanische Eigenverantwor- im Hause –, dass es unverständlich ist, dass Präsident tung zu stärken und lokale Kapazitäten sowie Strukturen Karzai dessen mögliche Begnadigung wegen angeblich aufzubauen. Sicherheit, Good Governance und Entwick- drohender Straßenrevolten immer noch ablehnt. Dies er- lung sind die Pfeiler, auf denen der erfolgreiche Wieder- warten wir nicht vom Staatspräsidenten Afghanistans. aufbau in Afghanistan ruhen muss. Wir wissen von unse- Wir erwarten hier die Anwendung selbstverständlicher ren afghanischen Partnern, dass sie Vorsorge für ihre Menschenrechte. Diese Forderungen dürfen und müssen eigene Sicherheit zwar leisten wollen und können. Aber wir stellen. sie brauchen noch die Hilfe der internationalen Staaten- (Beifall im ganzen Hause) gemeinschaft, also unsere Hilfe. Dabei müssen sie sich darauf verlassen können, dass diese Hilfe in nächster Ich denke, dass die Verlängerung des ISAF-Mandates Zeit weiter geleistet wird. Es geht um Verlässlichkeit auch angesichts dieses Hinweises kein Weiter-so bedeu- und um Vertrauen. Deswegen ist es richtig, die ISAF- ten kann. Sie ist, wie die Bundesregierung schlüssig dar- Mandatierung heute zu verlängern. gelegt hat, auf die Bedürfnisse der nächsten 14 Monate zugeschnitten. Mit all dem sorgen wir dafür, dass die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschen – in erster Linie die Afghanen selbst – die Ent- Meine Damen und Herren, meine Fraktion verbindet wicklung in Afghanistan tatsächlich spüren, sehen und mit der Zustimmung Erwartungen auf Fortsetzung und am eigenen Leib erfahren. sukzessive Anpassung der strategischen Zielsetzungen Der Antrag der Bundesregierung verdient die Zustim- der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen mung des Deutschen Bundestages, so wie es die SPD- Regierung. Dies spiegelt sich, liebe Kolleginnen und Fraktion mit großer Mehrheit tun wird. Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in Ich danke. (B) Ihrem Entschließungsantrag wider. Auch wir erwarten, (D) dass wir vor dem Hintergrund der Auffassung, dass dies (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein dynamisches Mandat ist, stets eine ehrliche und selbstkritische Bilanz der Leistungen, der Defizite und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Fehler sowie des internationalen und auch des deut- Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger schen Engagements vornehmen. Dass wir dazu fähig für die FDP-Fraktion. sind, beweisen der Afghanistan-Bericht der Bundesre- gierung und seine Fortschreibung, der Fortschrittsbericht (Beifall bei der FDP) der Taskforce meiner Fraktion unter Leitung von Detlef Dzembritzki, aber auch die Berichte der zuständigen Birgit Homburger (FDP): Ressorts sowie die weitere Bereitschaft der Bundesregie- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rung zur Evaluierung und zu künftigen Benchmarks. Die FDP-Bundestagsfraktion wird mit großer Mehrheit Dazu gehört, dass wir den Kampf gegen Korruption, der Verlängerung des ISAF-Mandats zustimmen. Für Ineffizienz und Missmanagement nicht nur auf der af- uns sind dafür vier Gründe ausschlaggebend. Wir sind ghanischen Seite, sondern auch aufseiten der internatio- auf Bitten der afghanischen Regierung zur Unterstüt- nalen Gemeinschaft fortführen. Dazu gehört die Klärung zung und zum Aufbau in Afghanistan. Dabei hat es in von strategischem Dissens und, dass die Verpflichtung den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gegeben. Dies aller internationalen Truppen auf den Unterstützungsan- gilt zunächst für den Bereich der Sicherheit. satz gerichtet ist und wir den dezentralen Governance- Ich denke daran, dass beispielsweise im Bezirk Kabul Ansatz intensivieren. Das heißt, wir wollen eine nach- Ende August die Übergabe an einheimische Kräfte statt- haltige Förderung lokaler Strukturen vornehmen, ohne gefunden hat, sodass dort jetzt afghanische Kräfte allein die Zentralregierung zu vernachlässigen. Dazu gehören und selbstständig für Sicherheit sorgen. Es gibt aber eine regionale Einbettung des Konfliktes in Afghanistan auch erhebliche Fortschritte im zivilen Bereich: 75 Pro- mit allen Nachbarstaaten unter besonderer Berücksichti- zent der Jungen und 35 Prozent der Mädchen gehen mit- gung des Schlüssellandes Pakistan und die weitere inten- tlerweile in die Schule. Wenn man weiß, dass 45 Prozent sive Bekämpfung des Drogenanbaus; dies werden wei- der Bevölkerung Afghanistans unter 14 Jahre alt sind, tere Redner meiner Fraktion ansprechen. dann erkennt man, wie wichtig der Bildungsaspekt ist. Ich will abschließend in Respekt vor der Arbeit der Es gibt Fortschritte in Afghanistan. Es gibt eine Menschenrechtspolitiker in diesem Hause und in meiner Chance auf ein besseres Leben. Das wollen die Men- Fraktion einen Blick auf die Situation der Menschen- schen dort. Der Fortschritt bringt Stabilität, und die Sta- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19493

Birgit Homburger (A) bilität Afghanistans liegt im Sicherheitsinteresse sich um Ihre eigene Fraktion! Da haben Sie genug zu (C) Deutschlands. Wir hören immer wieder: Wir wollen den tun! Aufbau, aber ohne Militär. – Das ist eine Illusion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ein überzeugendes Argument!) Bei der Instandsetzung des Kajaki-Staudamms, der im Frühjahr 2009 ans Netz gehen und weite Teile des Lan- Wenn wir mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen, hö- des mit Strom versorgen soll, gibt es häufig Widerstand, ren wir immer wieder die Frage: Haben die Afghanen ei- vor allem durch Aufständische. Weil diese Stromversor- gentlich ein Interesse am Wiederaufbau? Wie sieht es in gung für große Teile des Landes wichtig ist und dieser der Bevölkerung aus? Ich möchte an dieser Stelle sagen: Staudamm ein Symbol für Fortschritt und Entwicklung Ja, sie engagieren sich, und zwar trotz erheblicher Be- ist, wird dagegen vorgegangen. Deshalb gab es beim drohungen, denen sie ausgesetzt sind. Immer wieder Einbau der Turbinen eine große Schießerei. Das zeigt: kommen Stammesfürsten aus entlegenen Winkeln des Aufbau in Afghanistan ist ohne militärische Absiche- Landes zur Bundeswehr und bitten um Unterstützung, rung derzeit nicht möglich. Auch deshalb stimmen wir beispielsweise beim Aufbau einer Schule. Je öfter das dem Antrag zu. passiert, desto schlechter ist das für die Taliban und die Aufständischen. Die eigentliche Bedrohung der Taliban (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist nämlich nicht das Militär, die eigentliche Bedrohung der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE sind die Schulen, ist die Bildung. GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Die terroristischen Aktivitäten sind zurückgedrängt CDU/CSU) worden. Natürlich gibt es immer noch terroristische Ak- tivitäten; es gibt immer noch Ausbildungscamps in der Deshalb werden Lehrer eingeschüchtert und bedroht; es Grenzregion zu Pakistan. Die FDP-Bundestagsfraktion kommt sogar zu Erschießungen. Je mehr der Aufbau ist überzeugt: Wenn wir das Land jetzt verlassen, bedeu- voranschreitet, desto größer wird die Bedrohung, und tet das, dass wir zurückgeworfen werden. Bei einem Be- zwar nicht nur für Lehrer, sondern auch für Sprachmitt- such ist uns nicht nur von der afghanischen Regierung, ler, für Landarbeiter und für Polizisten. Den höchsten sondern auch von der Opposition sehr klar gesagt wor- Blutzoll in der Auseinandersetzung mit den Aufständi- den: Wenn die internationale Gemeinschaft Afghanistan schen zahlt die afghanische Polizei. Das zeigt, dass viele jetzt verlässt, dann ist Kabul morgen die Hauptstadt des Afghanen bereit sind, zum Aufbau ihres eigenen Landes Terrors. – Und das wollen wir nicht. beizutragen. Dabei verdienen sie unsere Unterstützung. (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU und der SPD) Wir verbinden mit unserer Zustimmung die Erwar- Der Abzug – jetzt – würde alles gefährden, was bisher tung an die Bundesregierung, dass das Konzept des ver- erreicht wurde. Diejenigen, die im Einsatz in Afghanis- netzten Ansatzes endlich umgesetzt wird. Dabei geht es tan ihr Leben ließen, wären umsonst gestorben. Der Ab- um den Wiederaufbau, nicht nur um mehr Geld, sondern zug würde sofort zu einer Destabilisierung Afghanistans, um eine bessere Koordination; es geht um den Aufbau zu einer Destabilisierung Pakistans und der ganzen Re- von Sicherheitsstrukturen in Afghanistan. An dieser gion führen und damit unmittelbar eine Verschlechte- Stelle sagen wir der Bundesregierung sehr deutlich: Wir rung der Sicherheitslage mit sich bringen. Deshalb sagen erwarten, dass über die Polizeiausbildung nicht nur gere- wir sehr deutlich: Dieser Einsatz erfolgt nicht nur, weil det wird, sondern dass Sie wirklich etwas tun. Es nützt wir den Afghanen helfen wollen, sondern er erfolgt auch überhaupt nichts, wenn Sie in dieser Woche bereits zum – wir stimmen dem Antrag zu –, weil er im Interesse un- vierten Mal öffentlich erklären, dass in Masar-i-Scharif serer eigenen Sicherheit, weil er im Interesse der Sicher- eine Polizeiausbildungsschule eröffnet wird. Den Wor- heit Deutschlands ist. ten müssen Taten folgen. Es ist entscheidend wichtig, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass es jetzt beim Aufbau der Sicherheitsstrukturen bes- der CDU/CSU und der SPD) ser und schneller vorangeht. Die Haltung der FDP-Bundestagsfraktion ist klar. Die (Beifall bei der FDP) Grünen sind hier ohne Linie. Herr Trittin, ich möchte Sie Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich ganz bewusst ansprechen: Sie haben hier, in diesem möchte an dieser Stelle allen Dank sagen, die sich enga- Haus, meine Fraktion für eine einmütig getroffene Ent- gieren: den Entwicklungshelfern, den Diplomaten, den scheidung in anderer Sache kritisiert, weil sie nicht Ihrer Polizisten und den Soldatinnen und Soldaten. Sie ma- Meinung entsprach. chen im Einsatz für die Sicherheit Deutschlands eine exzellente Arbeit unter Gefahr für Leib und Leben. Das (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verdient Dank und Anerkennung aller in diesem Haus. Das hat gesessen!) Vielen Dank. Ich kann dazu nur sagen: Wir brauchen keine Vorträge von Ihnen über außenpolitische Handlungsfähigkeit. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten FDP ist außenpolitisch handlungsfähig. Kümmern Sie der CDU/CSU und der SPD) 19494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ern, wenn alle Beteiligten ihre Anstrengungen verstär- (C) Ich gebe dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, ken, noch zielgerechter anpassen und das Konzept der CDU/CSU-Fraktion, das Wort. vernetzten Sicherheit, wie wir es in unserer Sicherheits- strategie vorgeschlagen haben, konsequent umsetzen. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Es ist richtig, dass die Bundesregierung in ihrem aktua- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lisierten Afghanistan-Konzept ankündigt, auch ihr zivi- Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Antrag der Bun- les Engagement zu verstärken. Wir sollten uns dabei vor- desregierung zur Verlängerung des ISAF-Mandats. Aber rangig auf drei Probleme fokussieren: Wir sollten erstens von der Mammutaufgabe, Afghanistan zu stabilisieren, Alternativen zum Schlafmohnanbau schaffen, um die kann das Militär, also auch die Bundeswehr, nur Drogenwirtschaft und die Drogenkriminalität abzu- 20 Prozent übernehmen. Die restlichen 80 Prozent müs- bauen, zweitens die Korruption eindämmen und die Re- sen durch zivile Anstrengungen erreicht werden. Gerade gierungsführung verbessern und drittens Pakistan stärker beim zivilen Teil, beim Aufbau des Landes, müssen wir in die Bekämpfung der Aufständischen einbinden. viele Rückschläge hinnehmen. Zudem hat die Korrup- tion ein enormes Ausmaß erreicht. Die Drogenwirtschaft Ich hoffe, dass die zusätzlichen 70 Millionen Euro für floriert. Das wiederum stärkt die Aufständischen und er- Entwicklungsprojekte helfen, die Wiederaufbauerfolge schwert die Stabilisierung. für die Menschen in Afghanistan schneller sichtbar zu machen und Alternativen zum Opiumanbau zu schaffen. Wir hören zwar immer mehr Erfolgsmeldungen: Ver- Die Bekämpfung der Drogenwirtschaft ist und bleibt pri- sorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Strom und mär die Aufgabe der afghanischen Sicherheitskräfte. Da- Krankenhäusern; Kinder, vor allem Mädchen, in den bei müssen wir sie unterstützen. Im Norden gibt es be- Schulen; Studentinnen an den Universitäten. Aber die reits viele drogenfreie Gebiete; am größten ist das guten Nachrichten wechseln sich mit Meldungen über Problem im Süden. Wenn die dort eingesetzten NATO- wiedererstarkende Taliban ab, über hinterhältige An- Partner von mehr Rauschgifttransporten, Laboren oder schläge nicht nur gegen unsere Soldaten, sondern auch Aktivitäten von Drogenbaronen wissen, als die neu aus- gegen Helfer von internationalen Organisationen und gebildeten afghanischen Sicherheitskräfte bekämpfen – wir haben es gerade gehört – gegen die Afghanen, die können, dann ist es richtig, wenn sie zusätzlich einige mit dem Westen zusammenarbeiten, zum Beispiel afgha- Operationen selbst durchführen. Dabei müssen sie den nische Lehrer oder Polizisten. Es gibt Warnungen vor ei- schwierigen Balanceakt vollbringen, die afghanische Ei- ner Abwärtsspirale oder gar vor einem Scheitern. genverantwortung trotzdem weiter zu fördern und mit Das hat bei vielen Zweifel an unserem Einsatz in ihren Aktivitäten nicht die Bevölkerung gegen sich auf- (B) Afghanistan ausgelöst. 70 Prozent der Bevölkerung leh- zubringen. (D) nen den Einsatz ab, das ist eine katastrophale Zahl. Sie Zugleich möchte ich daran erinnern, dass wir die un- macht deutlich, wie schwierig es ist, die Bevölkerung terstützende Rolle der Bundeswehr bei der Drogenbe- von der Notwendigkeit des Einsatzes zu überzeugen und kämpfung im Mandat detailliert definiert haben. Erstens: ihr die Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung zu Unterstützung der afghanischen Streitkräfte durch vermitteln. Dennoch werden wir das ISAF-Mandat heute Bereitstellung und Austausch von Informationen über verlängern und wohl noch einige Jahre verlängern müs- Drogenaktivitäten, die bei Routineoperationen gewon- sen. Unsere Soldaten, die sich dieser gefährlichen Auf- nen werden; zweitens: Unterstützung durch logistische gabe stellen, verdienen dabei unsere besondere Würdi- und medizinische Hilfe; drittens: Unterstützung bei Zu- gung; der Dank gilt ebenso ihren Familien. fallsfunden der Drogenkriminalität. Hier kann die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deswehr im Zusammenwirken mit den afghanischen neten der SPD und der FDP) Behörden auch unter Einsatz von Zwang Sicherungs- maßnahmen vornehmen. Angesichts der Zweifel und Widerstände ist es be- quem, aber in keinster Weise verantwortungsvoll, den Wir unterstützen, dass die Bundesregierung beim Einsatz abzulehnen oder sich, wie die meisten Grünen, Aufbau der afghanischen Justiz mehr tun will. Ein funk- zu enthalten, erst recht nicht gegenüber unseren Soldaten tionierendes Rechtssystem ist der Schlüssel zur Drogen- im Einsatz, die Sie noch in der letzten Wahlperiode in bekämpfung. Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der Ihrer eigenen Regierungszeit dorthin entsandt haben. Ihr Korruption. Auftrag von damals hat sich doch heute nicht verändert. Der Einsatz unserer Soldaten darf nicht von den Stim- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mungsschwankungen der grünen Basis abhängen. Die neten der SPD und der FDP) Bundeswehr ist keine Parteitagsarmee. Bei der Reform des Sicherheitssektors sind die Stei- Ich anerkenne deshalb umso mehr, dass sich die gerung der Qualität der landesweiten Regierungsführung Mehrheit hier im Hause darin einig ist, dass erstens die und der Aufbau eines Rechtsstaats die zentralen Ziele, deutsche Sicherheitspolitik die Probleme vor Ort zu lö- auf die wir alle Anstrengungen konzentrieren müssen. sen versucht, bevor sie unser Land erreichen, und dass Wir unterstützen ebenfalls, dass die Bundesregierung so- zweitens die Reaktion auf die schlechten Nachrichten wohl für die EU-Mission als auch bilateral mehr Polizei- aus Afghanistan nicht etwa ein Rückzug sein kann. Viel- ausbilder nach Afghanistan entsendet. Ich wünsche mir, mehr können wir den Rückschlägen nur entgegensteu- dass wir nicht nur beim Polizeiaufbau, sondern bei al- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19495

Dr. Andreas Schockenhoff (A) lem, was wir zum Aufbau Afghanistans beitragen, noch Camp Marmal, dem Bundeswehrcamp, auf Halbmast, (C) schneller, unbürokratischer und beherzter handeln. weil ISAF wieder Leute verloren hat. Inzwischen beur- teilt eine Mehrheit der Bevölkerung Afghanistans die Si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cherheitslage, wie die NATO selber ermittelt hat, als neten der SPD) eher schlecht bis schlecht, was auch damit zu tun hat, In Afghanistan läuft uns die Zeit weg. Deswegen ist dass die Zahl der zivilen Opfer weiter steigt. Die Ent- jeder zusätzliche Helfer, ob Polizist oder Experte für fremdung zwischen einem wachsenden Teil der Bevöl- Rechtsstaat, Landwirtschaft, Gesundheitswesen oder Er- kerung und einer Regierung, die sich in Kabul buchstäb- ziehung, höchst willkommen. Wenn wir militärisch nicht lich eingemauert hat – ich habe es gesehen –, wächst. mehr machen können, müssen wir mehr Softpower zur Wenn man sich das klarmacht, dann muss man zum Verfügung stellen. Ich sage das in Kenntnis unserer be- Schluss kommen: Die NATO-Mission am Hindukusch grenzten Kapazitäten. Deshalb muss es doch als Erstes ist gescheitert. darum gehen, die vorhandenen Fähigkeiten noch geziel- ter einzusetzen und die vorhandenen Reibungsverluste (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert auszuräumen. Hier kann noch einiges verbessert wer- Winkelmeier [fraktionslos]) den! Zur ungeschminkten Wahrheit gehört: Die Zahl der Zu mehr Konsequenz gehört auch, dass wir den regio- NATO/ISAF-Truppen ist von 32 000 Soldaten am Ende nalen Ansatz weiterverfolgen. Wir haben Afghanistan zu des Jahres 2006 auf inzwischen 53 000 Soldaten gestie- lange isoliert betrachtet. Dabei ist Pakistan in seinem gen. Die Gewalt hat aber nicht ab-, sondern zugenom- Grenzgebiet durch die dort agierenden Taliban und al- men. Die Zahl der Luftwaffeneinsätze mit Bombenab- Qaida genauso bedroht wie Afghanistan. Mit der neuen wurf im Rahmen von OEF ist – hören Sie jetzt gut zu – Regierung Zardari besteht die Möglichkeit, die Koopera- von 176 im Jahre 2005 auf 1 770 im Jahre 2006 und auf tion bei der Bekämpfung der Aufständischen zu verstär- 3 247 im Jahre 2007 gestiegen; die Air Force hat darüber ken und damit die Grenzregion sicherer für Entwick- berichtet. lungsprojekte zu machen. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb die Kom- Wenn wir also gemeinsam mit den über 40 Bündnis- mandeure und Soldaten vor Ort mit unserer abstrakten partnern in den Vereinten Nationen, in der EU, in der Diskussion, ob in Afghanistan ein Krieg stattfindet bzw. NATO und mit der afghanischen Regierung selbst in ob sich die NATO in einem Kriegseinsatz befindet, Afghanistan koordinierter, lernfähiger, unbürokratischer, nichts anfangen können. Bei ihnen hat sich längst der konsequenter und beherzter handeln, dann erhöht das Begriff „Insurgenten“, Aufständische, durchgesetzt. Sie (B) nicht nur die Aussichten auf Erfolg, sondern auch die wissen, dass sie mitten in einer militärischen Aufstands- (D) Akzeptanz für diesen Einsatz. bekämpfung sind. Dabei hat man aber verdammt (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schlechte Karten, weil die Aufständischen nicht gewin- Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) nen müssen und die NATO nicht gewinnen kann. Die Frage ist nicht: Sollten wir gehen, wenn es schwierig In diesem Sinne möchte ich zum Schluss ein Vorha- wird? ben des Afghanistan-Konzepts der Bundesregierung be- sonders betonen, nämlich dass die Bundesregierung – so Die Linke war von vornherein gegen diesen Einsatz. wörtlich – der Öffentlichkeit die Notwendigkeit des Ein- Aber selbst nach Ihrer Logik muss doch jetzt gelten: satzes aktiv vermitteln wird. Wir Parlamentarier stellen Wenn man sich in einer solchen Sackgasse befindet, uns der schwierigen Aufgabe, der Bevölkerung den dann muss man umkehren und einen neuen Weg ein- Afghanistan-Einsatz zu erklären, nicht nur in unseren schlagen. Wahlkreisen. Dabei können wir die Unterstützung der gesamten Bundesregierung sehr gut gebrauchen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Vielen Dank. Nun wird gesagt: Wir sind dabei. Es gibt ja kein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) „Weiter so“. Wir haben eine neue Strategie. – Die Grü- nen und die FDP setzen darauf ihre Hoffnung. Es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: stimmt, dass die Mittel für den Polizeiaufbau und für den Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer, Frak- Zivilaufbau in nicht unbeträchtlichem Umfang aufge- tion Die Linke. stockt werden; das habe auch ich gesehen. Dennoch be- zweifle ich, dass ein grundlegender Strategiewechsel (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert stattfindet. Als ein britischer General gesagt hat, man Winkelmeier [fraktionslos]) könne militärisch nicht gewinnen, hat sich prompt der kommandierende US-General zu Wort gemeldet und ge- Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): sagt: Nein, wir können sehr wohl obsiegen. – Das ist Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die nicht nur Rhetorik. Das zeigt sich an der Tatsache, dass NATO steht in Afghanistan nicht vor dem Scheitern. Se- die USA eine Aufstockung ihrer Truppen um hen wir uns die Lage an: Sieben Jahre nach Kriegsbe- 20 000 Soldaten in den nächsten zwei Jahren planen. Die ginn hat sich die Sicherheitslage immer weiter ver- Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan ist ein weite- schärft. An circa 27 von 31 Tagen wehen die Fahnen im res Indiz. 19496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Paul Schäfer (Köln) (A) Ich ziehe das Fazit: Der Militäreinsatz wird erheblich (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) intensiviert, in der vagen Hoffnung, dadurch das Blatt Winkelmeier [fraktionslos]) wenden zu können. Das gilt leider auch für die Bundes- Ohne den unverzüglichen Beginn eines geordneten wehr. Selbst wenn man unterstellt, dass der Einsatz im Rückzugs und ohne eine konkrete Abzugsperspektive Norden bisher einen ganz anderen Charakter als die har- wird der Frieden nicht zu erreichen sein. Wir können da- ten Kämpfe im Süden und im Osten hatte, ist festzustel- mit beginnen, indem wir den Antrag, das Mandat für den len: Die Intensität des deutschen Militäreinsatzes nimmt Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan zu verlängern, ab- immer weiter zu: Tornados, schnelle Eingreiftruppen, lehnen. Und das sollten wir dann auch tun. Anhebung der Obergrenze und jetzt AWACS. Wir sind genauso auf der Rutschbahn gelandet wie die anderen. Danke. Aber ein Mehr an Falschem kann nicht zu Richtigem führen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich sage Ihnen noch eines: Diese Doppelstrategie Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, wird nicht funktionieren. Mehr Entwicklungshilfe und Bündnis 90/Die Grünen. mehr Infanterie bzw. Luftwaffe, das passt nicht zusam- men. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Schlüssel zum Erfolg liegt bei den Afghaninnen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber und Afghanen. Das klingt zwar platt, ist aber so. In die- Paul Schäfer, es ist ein Irrtum, zu glauben: Wenn man sem Zusammenhang muss leider auch gesagt werden, die von den Vereinten Nationen beauftragten Truppen dass Sie die Sünden der Vergangenheit nicht loswerden. zur Unterstützung der gewählten afghanischen Regie- Wenn man eine Art Protektorat aufbaut und auf eine zen- rung – über das diskutieren wir hier – sofort abzieht, tralistische Staatsführung setzt – Hauptsache loyal –, dann führt dies zu mehr Frieden. – Ein Abzug würde ein dann hat das in der Regel zwei Konsequenzen: Erstens Wiederaufleben genau jenes blutigen Bürgerkrieges be- züchtet man die Korruption auf diese Art und Weise erst deuten, der Afghanistan seit über 30 Jahren heimsucht. richtig – Kai Eide hat bei unserem Gespräch in Kabul (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, keinen Zweifel daran gelassen, dass es damit zu tun hat –, bei der CDU/CSU und der SPD) und zweitens blockiert man den langwierigeren, aber nachhaltigen Staatsaufbau von unten, bei dem die Men- Liebe Frau Homburger, ich empfehle Ihnen, sich ein- (B) schen Staatlichkeit vor Ort positiv erfahren können. Das mal das Abstimmungsverhalten der FDP zu ISAF von (D) ist genau die Fehlentwicklung, mit der wir zu tun haben. 2001 bis heute anzuschauen. Dann werden Sie eine ganz gerade Linie entdecken – aber nur, wenn Sie so viel Pro- Nun scheint zum Glück die Anzahl der Afghaninnen mille im Blut haben, wie Herr Haider sie hatte. und Afghanen zu wachsen, die sagen: Wir haben genug vom Krieg, und wir müssen jetzt unser Schicksal in die (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das eigenen Hände nehmen. – Davon zeugt die Friedens- war wirklich voll daneben!) Jirga-Bewegung, die von paschtunischen Stammesfüh- Es sollte allen zu denken geben – rern ausgegangen ist und die versucht, mit den Men- schen in den Dörfern zu reden. Das ist der Ansatz der ( [CDU/CSU]: Pietätlos!) Selbstbestimmung, den wir nachdrücklich fördern müs- – ich weiß nicht, was daran pietätlos ist, wenn man da- sen. Eine andere Perspektive gibt es nicht. rauf hinweist, dass man sich mit 1,8 Promille nicht hin- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ters Steuer setzen sollte –, die hier für einen sofortigen Winkelmeier [fraktionslos]) Abzug plädieren und dafür sogar demonstrieren, dass gerade die, die dort Hilfe leisten – die Welthungerhilfe, Meine Damen und Herren, der britische General Medica Mondiale oder die Malteser –, in einer Stellung- Carleton-Smith hat etwas sehr Richtiges gesagt: Wir nahme eines ganz klar gefordert haben: Sie wollen einen müssen davon wegkommen, die Dinge mit den Gewehr- Vorrang für zivile Hilfe, und sie wollen eine andere Mili- läufen zu regeln, die durch Verhandlungen geregelt wer- tärstrategie. Sie wollen aber, wie auch jene bei uns in der den müssen. – Der Mann hat recht. Die Sprache der Ge- Fraktion, die mit Nein stimmen – nachzulesen ist dies in wehre muss jetzt durch die Sprache der Diplomatie der Stellungnahme von VENRO vom 6. Oktober dieses ersetzt werden. Das heißt, alle Kräfte müssen auf eine Jahres –, keinen Abzug. Und sie haben recht damit. politische Konfliktlösung konzentriert werden, und man muss diesen Prozess – man sagt ja, dass in Mekka ledig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich Smalltalk-Gespräche stattfinden, aber es ist doch sowie bei Abgeordneten der SPD – Paul mehr – von außen fördern und Wege zu einem nationa- Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Aber wenn die len Aussöhnungsprozess öffnen. Bedingungen nicht erfüllt sind, was dann?) Dabei steht für uns eines fest: Der Abzug der NATO- Meine Damen und Herren, genauso, wie es auf der ei- Truppen wird nicht am Ende eines solchen Prozesses nen Seite naiv und verantwortungslos ist, jetzt sofort die stehen. Er ist eine Vorbedingung dafür. Darüber müssen deutschen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, so ist es Sie nachdenken. auf der anderen Seite fahrlässig und verantwortungslos, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19497

Jürgen Trittin (A) sich immer noch um die Beantwortung der Frage zu Aufbau nicht in dem Ausmaß im Lande angekommen (C) drücken, mit welcher Perspektive wir in Afghanistan ist, wie wir alle uns das gewünscht und gemeinsam vor- präsent bleiben. genommen haben. Daraus muss man an einem solchen Tag doch einmal eine Konsequenz ziehen. hat dieser Tage gesagt, er fordere von seiner Kanzlerin eine klare Perspektive für die Beendi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie gung dieser Militäraktion in absehbarer Zeit. Ich stimme des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) ja nicht oft mit CSUlern überein, aber in diesem Punkt hat Peter Ramsauer recht. Die Bundeswehrsoldaten, die Das ist der Grund dafür, dass die Akzeptanz der interna- zivilen Helfer und die Polizisten in Afghanistan haben tionalen Präsenz vom letzten bis zu diesem Jahr geringer ein Recht darauf, zu wissen, welche Ziele sich die Bun- geworden ist. desrepublik Deutschland in Afghanistan setzt. Man kann Ich kann Ihnen ein anderes Beispiel nennen, den Poli- sich dabei nicht mit dem allgemeinen Satz begnügen, zeiaufbau. In diesem Bereich hat Deutschland die Füh- dass man so lange dort bleiben wolle, bis – ich zitiere rung. Schauen Sie sich die Zahlen an: Die USA geben aus dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung – für den Polizeiaufbau 800 Millionen Dollar aus, wäh- die afghanische Regierung selbst für ein sicheres rend Deutschland 36 Millionen Euro zur Verfügung Umfeld sorgen kann, das Wiederaufbau und nach- stellt. Zählen wir die 9,9 Millionen Euro hinzu, die in haltige Entwicklung erlaubt. das EU-Projekt fließen, dann ist das gegenüber dem, was die USA tun, noch immer vergleichsweise wenig. Das ist Ihre Zeitperspektive. Was machen Sie aber mit Selbst den eigenen Ansprüchen werden Sie nicht ge- dieser Ansage, wenn die Niederländer im Jahre 2010 ih- recht. Sie haben 60 Polizisten für EUPOL zugesagt; es ren Auftrag in Uruzgan beenden? Das wollen sie ja; dazu sind 33 vor Ort. Sie haben 100 Kurzzeittrainer zugesagt; gibt es einen Kabinettsbeschluss. Was machen Sie 2011, es sind 40 vor Ort. Das größte Kontingent für die Poli- wenn die Kanadier aus Kandahar abziehen und wenn zu zeiausbildung stellen noch immer die Soldaten, nämlich dem Zeitpunkt genau dieses sichere Umfeld, das Sie an- 45 Feldjäger. Ich kann mich bei diesen Soldaten nur be- gesprochen haben, nicht erreicht ist? Wollen Sie dann danken, weil sie das Versagen von Herrn Schäuble an den Abzug der anderen durch weitere Aufstockungen dieser Stelle ausgleichen. ausgleichen, oder wollen Sie dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit nicht vielmehr endlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einmal verbindliche und überprüfbare, das heißt auch mit Zeitangaben versehene, Zielvereinbarungen darüber Sie gleichen im Übrigen – diese Bemerkung sei mir er- vorlegen, was Deutschland in Afghanistan erreichen laubt – auch das Versagen Bayerns aus, das es bis heute (B) will? Daran fehlt es doch. nicht geschafft hat, einen einzigen Polizisten nach (D) Afghanistan zu schicken. Ich finde, auch damit sollte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich der Freistaat beschäftigen. Wir wollen keine Durchhalteparolen. Wir erwarten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Ihnen lediglich ein realistisches Lagebild und einen sowie bei Abgeordneten der SPD) Stufenplan dafür, in welchen Schritten die Verantwor- tung an die Afghanen übergeben werden soll. Ich sage Schließlich müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Si- Ihnen auch: Die Zögerlichkeiten im zivilen Aufbau müs- cherheitslage beschäftigen. Seit zwei Jahren diskutieren sen endlich beseitigt werden. wir in diesem Hause darüber, wie wir den Schutz der Zivilbevölkerung endlich sicherstellen können. Sie, Herr Es stimmt: Es kommt jetzt zu einer Aufstockung. Ich Jung, haben uns in der Debatte um den letzten Einsatz sage übrigens, dass diese Aufstockung des Militärs rich- erklärt, dass es neue Einsatzrichtlinien gebe, die für tig ist. Ich habe kein Problem damit. Ich füge aber hinzu, ISAF verbindlich und von OEF übernommen worden dass sie in den nächsten 14 Monaten 200 Millionen Euro seien. Das Problem ist, Herr Jung – Sie haben zwar kosten wird. Wenn Sie die Zahlen vergleichen – ich recht; für Ihren unmittelbaren Verantwortungsbereich weiß, dass militärische Kräfte teurer als zivile sind –, stimmt das auch –, dass man aber in Afghanistan im dann kommen Sie zu der Feststellung, dass wir es ge- Ganzen gesehen von dieser Änderung der Einsatztaktik schafft haben – von 80 Millionen Euro im Jahre 2006 nichts gemerkt hat. über 100 Millionen Euro im Jahre 2007 bis zu 140 Millionen Euro im nächsten Jahr –, außerordentlich Es ist eine Tatsache, dass die Zahl der Toten in Afgha- „bescheidene“ Steigerungsraten zu erreichen. nistan in 2007 so hoch war wie seit sieben Jahren nicht. Es ist eine Tatsache, dass die Zahl der zivilen Opfer in Nun kann man sagen, dass mehr vielleicht gar nicht diesem Jahr gegenüber 2007 um 40 Prozent gestiegen nötig ist. Sie belegen aber selber, dass mehr nötig ist; ist. Es ist auch eine Tatsache, dass dieser Anstieg der denn für das nächste Jahr stellen Sie zusätzlich zu diesen Zahl ziviler Opfer zur Hälfte auf Militäraktionen von Beträgen 30 Millionen Euro für Soforthilfe zur Verfü- ISAF, OEF und den afghanischen Sicherheitskräften zu- gung, um eine sich abzeichnende Hungerkatastrophe ab- rückgeht. Es ist mittlerweile eine Tatsache, dass die zuwenden. Auch das ist richtig. Aber was heißt das? Das Hälfte der Provinzen für zivile Hilfsorganisationen nicht heißt, dass die Situation nach sieben Jahren so ist, dass mehr zugänglich ist. Das ist keine Polemik von Herrn wir akut zusätzlich Geld in die Hand nehmen müssen, Schäfer oder sonst wem. Das belegen die offiziellen um eine Hungerkatastrophe abzuwenden, und dass der Zahlen der Vereinten Nationen. 19498 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Jürgen Trittin (A) Herr Jung, ich weise darauf hin, dass auch die andere Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für (C) Feststellung von VENRO richtig ist – Sie haben vorhin wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: dazu applaudiert –, die besagt, „dass ein Strategie- und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Prioritätenwechsel beim deutschen und internationalen Der Bürgerkrieg in Afghanistan hat 2001 geendet. Das Afghanistan-Engagement nicht erfolgt ist“. Sie sind da- ist sieben Jahre her; das ist eine lange Zeit. Es ist aber für. Sie haben ihn programmiert, und Sie stimmen uns in auch wahr, dass dies in der Entwicklung eines solchen dieser Hinsicht zu. Aber tatsächlich ist dieser Strategie- Landes eine Zeit ist, in der man dranbleiben muss; denn wechsel in Afghanistan bis heute nicht erfolgt. Das ist der Prozess bedarf der Nachhaltigkeit. das Problem. Jürgen Trittin, wir haben einer Regierung angehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir sind im Jahr 2001 gemeinsam eine Verpflichtung sowie bei Abgeordneten der SPD) gegenüber der afghanischen Bevölkerung eingegangen. Wir haben gesagt: Wir stehen an eurer Seite. – Es ist Jetzt droht etwas anderes. Die verfehlte Strategie der schwieriger geworden; das ist richtig. Aber wir können Luftschläge und offensiven Militäraktionen droht sich uns nicht auf einmal zurückziehen; das geht nicht. auf Pakistan auszuweiten. Ich betone das ausdrücklich, obwohl und weil die Bundeswehr im Norden einen ex- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zellenten Job macht. Sie führen dort keinen Krieg, liebe der CDU/CSU) Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sondern Die Konsequenz eines Rückzugs wäre – das hat Jürgen sie sichern dort den Aufbau ab. Das ist eine Tatsache. Trittin schon gesagt; das sage ich auch an die Adresse der Dafür haben wir uns bei ihnen zu bedanken. Linkspartei – ein Bürgerkrieg, in dem auch Frauen mas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sakriert würden. Ich habe 2001 versprochen, dass wir an und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der Seite der afghanischen Frauen stehen werden und es CDU/CSU) auch bleiben. Ich stehe zu dieser Verpflichtung und fühle mich daran gebunden. Die andere Seite der Wahrheit ist aber, dass die Stabi- lisierung scheitern wird, wenn beim Aufbau weiterhin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gekleckert wird, statt endlich zu klotzen, liebe Heidi des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Wieczorek-Zeul. Sie wird auch scheitern, wenn das De- Abg. [CDU/CSU]) saster beim Polizeiaufbau weitere zwei Jahre anhält. Sta- Wenn ich das sagen darf: Links bedeutet aus meiner bilisierung wird aber vor allen Dingen nur dann gelin- Sicht, dazu beizutragen, die Freiheitsrechte der Men- gen, wenn Afghanistan nicht weiter durch offensive (B) schen auszuweiten, wo auch immer sie leben. Wenn das (D) Kriegsführung in der Form, wie wir sie zuletzt in in Afghanistan geschehen soll, bedeutet das, dazu beizu- Shindand – übrigens wie vor zwei Jahren – erlebt haben, tragen, dass niemand, auch Frauen nicht, die entrechtet destabilisiert wird. Wer erst militärisch siegen will, um sind, massakriert wird. Links bedeutet nicht, sich heraus- dann aufzubauen, zerstört die Grundlagen für einen Auf- zuhalten, sondern an der Seite der Menschen zu stehen. bau und den Stabilisierungsansatz, wie ihn Deutschland Das ist meine feste Überzeugung. über Jahre hinweg praktiziert hat. Dieser Wahrheit haben Sie sich nie gestellt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Verschlechterung der Sicherheitslage zeigt, dass die Kriegsstrategie, wie sie im Süden praktiziert wird, Ich weiß, dass die Situation schwieriger geworden ist. dabei ist, die Aufbauerfolge im Norden existenziell zu Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Es hat gefährden. Weil es diesen Strategiewechsel nicht gege- große Fortschritte gegeben. Ich erinnere daran, dass die ben hat, wird die Mehrheit meiner Fraktion der in Ihrem Kindersterblichkeit zurückgegangen ist und dass 85 Pro- Antrag vorgesehenen Mandatsverlängerung nicht zu- zent der Menschen in Afghanistan Zugang zu medizini- stimmen können. Das wird der Verantwortung nicht ge- scher Versorgung haben. Wir, das Entwicklungsministe- recht. rium, zeigen Ihnen auf – das liegt Ihnen vor; das werden wir künftig für die ISAF-Mandatsdauer von einem Jahr Aber umgekehrt sagen Ihnen auch diejenigen, die bzw. 14 Monaten immer machen –, welche Erfolge beim heute zustimmen werden, in aller Deutlichkeit: So, wie Aufbau und welche entwicklungspolitischen Fortschritte Sie es bisher praktiziert haben, können Sie im zivilen durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Aufbau und in der Feigheit, sich mit der verfehlten Stra- Afghanistan erzielt wurden. Die Bilanz kann sich sehen tegie auseinanderzusetzen, nicht weitermachen. lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich nenne nur ein paar Punkte. Mit unserer Unterstüt- Ich gebe das Wort der Bundesministerin für wirt- zung ist die erste Mikrofinanzbank Afghanistans aufge- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, baut worden. Sie hat 13 Filialen und hat 70 000 Kredite Heidemarie Wieczorek-Zeul. vergeben. Das bedeutet, 70 000 Existenzen zu schaffen und zu unterstützen. Das ist wichtig und eine wunder- (Beifall bei der SPD) bare Leistung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19499

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten klasse Job als Bildungsminister gemacht. Wir setzen alle (C) der CDU/CSU) Erwartungen und Hoffnungen auf ihn, dass seine Amts- führung im Sinne dessen, was ich gesagt habe, erfolg- Mithilfe des nationalen Solidaritätsprogramms sind über reich sein möge. 20 000 Projekte fertiggestellt worden. 18 000 laufen noch. Diese Projekte werden von 21 000 gewählten Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten meinderäten im gesamten Land gesteuert. Die Wasser- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- kraftwerke Mahipar und Sarobi funktionieren und geben SES 90/DIE GRÜNEN) 800 000 Menschen wieder Zugang zu stabiler Stromver- sorgung. Mithilfe der Provinz- und Distriktentwick- Eines, was Herr Kollege Schockenhoff vorhin angespro- lungsfonds sind allein in diesem Jahr einkommenschaf- chen hat, ist wichtig: Im Jahr 2008 sind 18 von 34 Pro- fende Maßnahmen für über eine Million Menschen in vinzen in Afghanistan ohne Schlafmohnanbau, und zwar den Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan durch- in der Region, in der Deutsche Wiederaufbauhilfe leisten geführt worden. Das sind reale Fortschritte. und die deutschen ISAF-Soldaten stationiert sind. Das ist doch ein Erfolg, zu dem man weiterhin beitragen Jürgen Trittin, du selber weißt das doch viel besser. Es muss. gibt 30 Geberländer für Afghanistan. Deutschland muss den Aufbau dort doch nicht allein stemmen. Es handelt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sich vielmehr um eine große Gemeinschaftsaufgabe. der CDU/CSU) Deshalb müssen sowohl der Wiederaufbau als auch die militärischen Aktionen im Zusammenhang gesehen wer- Noch ein Wort – Jürgen Trittin, du hast das angespro- den. chen – zu den Finanzen. Wir haben 30 Millionen Euro zusätzlich für die Bekämpfung von Hunger und Unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ernährung zur Verfügung gestellt. Was sind die Ursachen der CDU/CSU) dafür? Dürre und hohe Nahrungsmittelpreise. Das ist auch in anderen Ländern so. Das hat doch nichts damit Seit fast einem Jahr unterstützt die GTZ International zu tun, dass wir in diesem Bereich bisher zu wenig Mit- Services auf Bitten der Niederlande – Sie haben es ange- tel investiert hätten. Ich will ausdrücklich sagen: Wir ha- sprochen – den zivilen Wiederaufbau im Süden und ver- ben diese zusätzlichen 30 Millionen Euro dem Welt- sucht, Alternativen zum Mohnanbau anzubieten. Es geht ernährungsprogramm zur Verfügung gestellt, und wir um einen Beitrag zur ländlichen Entwicklung in einem werden auf bilateraler Ebene Nothilfemaßnahmen in Gesamtrahmen von bis zu 34 Millionen Euro. Diese Er- Nord- und Südostafghanistan durchführen, damit die folge schaffen den Boden, auf dem Eigenverantwortung Nahrungsmittelkrise bekämpft wird und auf lokaler (B) Wurzeln schlagen kann. Ebene Beschäftigung geschaffen wird. 10 Millionen (D) Wir haben allen Anlass, den Mitarbeiterinnen und Euro werden in den Bereich der Energieversorgung und Mitarbeitern, die dort Wiederaufbau leisten, seien sie aus der beruflichen Bildung gehen. Das heißt, die Bundesre- den staatlichen Institutionen, seien sie aus Nichtregie- gierung stellt allein im Bereich des zivilen Wiederauf- rungsorganisationen, ein herzliches Dankeschön für die baus 170,7 Millionen Euro zur Verfügung. Hinzu kom- Arbeit zu sagen, die sie dort leisten. men humanitäre Hilfe, Nothilfe und Sondermittel des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Verbraucherschutz. Im Übrigen darf man nicht nur die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bilateralen Mittel sehen. Wir sind Mitglied der Welt- Wir haben aber auch allen Anlass, den deutschen Solda- bank, die ihrerseits zusammen mit der Asiatischen Ent- tinnen und Soldaten zu danken, die in der Region, in der wicklungsbank tätig ist. sie stationiert sind, ein Klima der Sicherheit schaffen Für die Zukunft Afghanistans – das haben viele von sollen. Der zivile Wiederaufbau ist Voraussetzung für Ihnen angesprochen; diese Ansicht teile ich – ist die Sta- den Erfolg Afghanistans. Die ISAF ist die Vorausset- bilisierung der Nachbarregionen von besonderer Bedeu- zung für den Erfolg des Wiederaufbaus und für die poli- tung. Dieser Stabilisierung dient es nicht, wenn US-Mili- tische Stabilisierung. tär unterschiedslos Raketenangriffe auf die sogenannten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten FATAs, also die Stammesgebiete an der Grenze zwi- der CDU/CSU) schen Pakistan und Afghanistan, durchführt und mut- maßlich Militante erschießt. Dies ist falsch und kontra- Die deutschen Soldaten werden von der Bevölkerung in produktiv. Afghanistan als Helfer verstanden, und ihnen wird für ihre Unterstützung von der Bevölkerung außerordentlich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gedankt. Das kann jeder, der selbst im Land war, bestäti- SES 90/DIE GRÜNEN) gen. Der pakistanische Finanzminister, mit dem ich am Notwendig sind Fortschritte bei der Regierungsfüh- Rande der Weltbanktagung ein längeres Gespräch hatte, rung, im Kampf gegen Korruption und Drogenhandel hat deutlich gesagt, er halte das für eine völlig falsche und bei der Ablösung korrupter Regierungsvertreter und Strategie der USA. Er hat ausdrücklich darauf hingewie- korrupter Polizisten. In diesem Zusammenhang möchte sen, dass sich gerade dadurch die Bevölkerungsgruppen ich meine große Erwartung und meine Hoffnung auf den in den FATAs mit den Taliban solidarisieren, obwohl sie Innenminister, Herrn Athmar, setzen. Der hat einen in keiner Position miteinander verbunden sind. 19500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Wir sind im Übrigen bemüht, unser Engagement in (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jürgen (C) der Northwest Frontier Province auszudehnen. Das ist Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unter den jetzigen Bedingungen – auch für die Durch- führung – sehr schwierig. Ich will ausdrücklich sagen: Das gilt, trotz eines Aufwuchses im Entwicklungshaus- Wir haben das auch der pakistanischen Seite angeboten, halt, auch für Afghanistan. Die Koalition tut derzeit viel damit die Menschen in diesen Regionen die Chance ha- zu wenig. ben, zu sehen, dass der Wiederaufbau auch in ihrem Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen ver- Sinne vorankommt. sucht, an verschiedenen Stellen etwas voranzubringen. Im Auswärtigen Ausschuss wurde ein Antrag der FDP, Ich komme zum Schluss. Ich habe der Verlängerung zusätzlich 10 Millionen Euro für den Polizeiaufbau zur dieses Einsatzes im Kabinett zugestimmt, und ich tue Verfügung zu stellen – immerhin sind wir dort eine der das auch als Abgeordnete. Das Ziel ist, die Eigenverant- entscheidenden Kräfte; wir haben dort Verantwortung wortung der afghanischen Seite und damit der Menschen übernommen –, abgelehnt. Im Entwicklungsausschuss zu stärken und ihnen Hoffnung zu geben. Dafür arbeiten haben wir gefordert – im Übrigen in Übereinstimmung wir. Ich bitte Sie, das zu unterstützen. mit der grundsätzlichen Zielsetzung der Grünen und Ich bedanke mich. auch der Linken, wenn ich das recht verstanden habe –, dass wir für den Aufbau in Afghanistan 50 Millionen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Euro draufsatteln. Auch das wurde abgelehnt. Wenn wir diesen Auftrag in Afghanistan wirklich ernst nehmen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wenn wir den Zusammenhang zwischen Aufbau und mi- Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus, litärischer Sicherheit ernst nehmen, wenn wir unsere FDP-Fraktion. Kräfte dort baldmöglichst wieder abziehen wollen, dann müssen wir den Aufbau voranbringen und dann müssen (Beifall bei der FDP) wir eben auch im finanziellen Bereich nicht so zurück- haltend sein, sondern noch etwas dazulegen. Hellmut Königshaus (FDP): Es gibt nach wie vor ein groteskes Missverhältnis Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt zwischen den Kosten für den Militäreinsatz und den tat- Fortschritte – das haben wir jetzt mehrfach gehört –, sächlich erbrachten Aufbauleistungen. Wir sind dort mi- aber leider nicht genug. Wer wirklich Fortschritt will, litärisch engagiert, weil wir aufbauen wollen, weil es der muss nicht nur schön reden, sondern auch entschlos- rückwärtsgewandte Kräfte gibt, die den Aufbau verhin- sen handeln, und er muss auch zurückschauen, damit er dern wollen, und nicht umgekehrt. Deshalb gilt der alte (B) für die Zukunft weiß, wie man das Ganze vernünftig an- Grundsatz, den wir Ihnen schon seit Jahren nahelegen: (D) geht. Man sollte zum Beispiel betrachten, was in der Je schleppender der Aufbau ist, desto länger müssen wir Vergangenheit versäumt wurde. dort bleiben. Als die Lage noch ruhig war – darüber waren wir da- (Beifall bei der FDP) mals alle sehr froh –, ist es versäumt worden, wirklich Bedarf ist vorhanden. Die Aufbauhelfer, mit denen schnell für einen spürbaren Aufschwung und Aufbau zu wir dort gesprochen haben, haben uns ganz dezidiert er- sorgen. Jetzt wird es natürlich immer schwieriger. Das klärt, dass sie in der Lage wären, deutlich mehr in ihren gilt für den Polizeiaufbau, das gilt für ein funktionieren- konkreten Projekten zu tun, aber auch jederzeit zusätzli- des Justizsystem. Wir wurden und werden unserer be- che Projekte zu übernehmen. Als wir mit dem Außenmi- sonderen Verantwortung dort bisher nicht gerecht. Den- nister da waren – ich habe das vor kurzem schon einmal ken Sie nur an die bereits angesprochenen Fälle wie in anderem Zusammenhang gesagt –, war mit Leichtig- Korruption und Drogenanbau. Der Drogenanbau geht in keit festzustellen, welche zusätzlichen Projekte sich dort einigen Bereichen zurück; das ist wahr. Er geht übrigens unmittelbar anbieten und auch erforderlich sind. überall dort zurück, wo sich die zuständigen Gouver- neure dafür verantwortlich fühlen; aber insgesamt gibt es Die Ministerin hat eben völlig zu Recht die Dürre und eben noch keinen signifikanten Rückgang. Das ist leider die katastrophalen Folgen für die Ernährungslage ange- traurige Wahrheit. sprochen. Pläne für Staudammprojekte sind fertig, man könnte anfangen, es fehlt am Geld – im Norden, in unse- (Beifall bei der FDP) rem eigenen Zuständigkeitsbereich! Es gäbe Möglich- Es wird jetzt immer schwieriger, Aufbauarbeit zu keiten, Stromverbindungen zu schaffen, um so im Wes- leisten. Dabei ist das die zentrale Frage, auch bei der Lö- ten den Großraum Herat besser zu versorgen. Viele sung der Sicherheitsprobleme, die wir dort leider immer andere Dinge mehr, Straßenbau zum Beispiel, wären noch haben. Oberst Gertz vom Deutschen Bundeswehr- noch zu nennen. Lassen Sie uns doch hier nun endlich Verband hat das noch einmal deutlich gemacht: Ohne Nägel mit Köpfen machen und die Mittel für einen ent- Aufbau wird sich die Sicherheitslage dauerhaft nicht sprechenden Beitrag zur Verfügung stellen! verbessern lassen. Wir müssen den Teufelskreis dort (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten endlich durchbrechen. Wir müssen mit dem Wiederauf- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bau endlich ernst machen. Lieber Kollege Trittin – auch ich habe mir das aufgeschrieben –, wir müssen endlich Eine positive Veränderung möchte ich ansprechen, aufhören zu kleckern, wir müssen endlich klotzen. nämlich die Sicherung unserer Aufbauhelfer. Dazu gibt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19501

Hellmut Königshaus (A) es endlich ein, soweit man das beurteilen kann, wirklich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) tragfähiges Konzept. Anders als das bisher der Fall war, Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem werden die Mittel für die Sicherheitskosten nunmehr ge- Kollegen Manfred Grund. tragen und müssen nicht mehr aus den eigentlichen Pro- jektmitteln bestritten werden. Dafür vielen Dank! Das ist (Beifall bei der CDU/CSU) richtig. Das ist etwas, was unsere Aufbauhelfer dort ver- dient haben. Wirkliche Hilfe ist viel wichtiger als der Manfred Grund (CDU/CSU): Dank an die Aufbauhelfer, der natürlich auch sein muss Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und und den ich hier für meine Fraktion ebenfalls gern aus- Herren! Unsere Afghanistan-Verantwortung geht weit spreche. über die Beseitigung humanitärer Notlagen oder die mi- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Walter litärische Absicherung der gewählten Regierung Karzai Kolbow [SPD]) hinaus. Es ist schlichtweg die Handlungsfähigkeit der in- ternationalen Staatengemeinschaft, die Handlungsfähig- Nicht nur beim Aufbau haben wir bisher zu zurück- keit der NATO und des Westens gegenüber Extremisten haltend agiert. Auch beim Militäreinsatz haben wir nach und Terroristen, die hier auf dem Prüfstand steht. Ein wie vor die alten Probleme. Die Ausrüstung ist nicht Versagen unsererseits hätte unabsehbare Folgen, Folgen, ausreichend. Fahrzeuge fehlen. Ich nenne die Frage der die sich bis vor unsere Haustür erstrecken würden. Hubschrauber. Herr Verteidigungsminister, das ist doch nach wie vor eine Katastrophe. Während die Chinesen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Zeit, in der wir dort engagiert sind, ein Weltraumpro- neten der SPD) gramm aus dem Boden gestampft haben und Taikonau- ten in den Weltraum schicken, waren der Verteidigungs- Richtig ist auch – dies wurde bereits gesagt –, dass die minister und seine Vorgänger hier nicht in der Lage, Taliban nicht allein mit militärischen Mitteln zu verdrän- noch zwei oder drei zusätzliche Hubschrauber dahinzu- gen sind. Weil wir wissen, dass es auf absehbare Zeit schicken. Was wir dort erleben, ist eine Katastrophe. keinen Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Si- cherheit gibt, ist die heutige Mandatsverlängerung für (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber Sie die Sicherheit und damit die Zukunft Afghanistans von wollen doch alles abrüsten!) so großer Bedeutung. Um unsere Soldaten aus Afghanis- tan wieder abziehen zu können, müssen wir an einen – Wir wollen nicht abrüsten. Da irren Sie sich gewaltig, Punkt gelangen, an dem sich die Afghanen selber gegen Herr von Klaeden. Was für einen Quatsch erzählen Sie die Taliban wehren, für ihre innere Sicherheit sorgen und denn da? die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Griff (B) (Beifall bei der FDP) bekommen können. (D) Es gilt, jetzt wirklich ein bisschen mehr Druck zu ma- Ein zentraler Punkt auf dem Weg dorthin ist die Ent- chen. Wenn es an der Industrie liegen sollte, muss man wicklungszusammenarbeit, die wirtschaftliche Zusam- eben deutlich machen, dass man das auf Dauer nicht ak- menarbeit. So hat allein die deutsche Entwicklungsarbeit zeptieren kann. über die Investitionsagentur dazu beigetragen, dass bis Ende dieses Jahres etwa 19 000 Unternehmen mit nahezu Ich muss leider zum Ende kommen – ich sehe das 550 000 neuen Arbeitsplätzen entstehen können. Über Zeichen, Frau Präsidentin –, und deshalb möchte ich nur Mikrofinanzierung – die Ministerin hat es bereits ausge- noch sagen: Es sollte aufhören, dass Leute der Bundesre- führt – wurden 56 Millionen Euro an 52 000 Handwer- gierung, die dafür nicht zuständig sind, insbesondere der ker, Gewerbetreibende, Privatpersonen und Dienstleister Außenminister, hier über die Rolle des KSK schwafeln. vergeben. Mit Darlehen zwischen 130 und 1 300 Euro Das KSK hat mit dem heute zur Abstimmung stehenden wurde ihnen der Aufbau einer Existenz erleichtert. Insge- Antrag nichts zu tun. Das ist eine andere Frage. Aber samt sind rund ein Viertel der 34 000 Kilometer ländli- wenn wir schon über das KSK reden, dann müssen wir cher Straßen wiederhergestellt. Es können 7 Millionen uns doch darüber im Klaren sein, dass das eine Truppe junger Menschen – viele davon Mädchen – wieder in die mit besonderen Fähigkeiten ist, die wir möglicherweise Schule gehen. Es hat sich vieles getan, und dies wird von einmal brauchen. den Afghanen auch geschätzt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir wissen um einige grundsätzliche und strukturelle Herr Kollege Königshaus. Probleme, etwa den Mangel an qualifiziertem Personal in der afghanischen Verwaltung, Defizite in der Verwal- tung, die den wirkungsvollen Staatsaufbau behindern, Hellmut Königshaus (FDP): die landesweite Korruption und die Verwicklung offi- Ich komme zum Schluss. – So etwas ohne Not zur zieller Mandatsträger in Drogenanbau und -handel. Wir Disposition zu stellen, ist schlichtweg unverantwortlich. wissen auch um Probleme bei der inhaltlichen und orga- Das sollten Sie hier wirklich klarstellen, Herr Verteidi- nisatorischen Abstimmung der vielen internationalen gungsminister; denn Sie sind dafür zuständig und auch Geber mit der afghanischen Regierung. Deshalb ist Fol- verantwortlich. gendes zu tun: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Erstens. Die Kapazitäten zur Selbsthilfe sind auf af- (Beifall bei der FDP) ghanischer Seite auszubauen. 19502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Manfred Grund (A) Zweitens. Die internationale Zusammenarbeit und ren Stabilität beitragen. Dazu sollten wir den Aufbau (C) Arbeitsteilung mit den afghanischen Regierungsstellen verantwortungsvoller staatlicher Strukturen fördern. Es ist deutlich zu verbessern. Dazu gehören klare Zielvor- gilt, die bisherige Arbeit im Sozialsektor voranzubringen gaben für die internationalen Geldgeber, aber auch für und durch die Arbeit von Stiftungen, Nichtregierungsor- die Regierung Karzai. Auch könnte und sollte die Zu- ganisationen und des Deutschen Akademischen Aus- sammenarbeit unserer deutschen Regierungsstellen en- tauschdienstes die Zivilgesellschaft zu stärken. ger werden. Lassen Sie uns gemeinsam einen Ansatz für eine kon- Drittens. Wir müssen – das ist beim Kampf um die zertierte, im besten Sinne grenzüberschreitende Zusam- Herzen ein zentraler Punkt – unsere Mittel im zivilen menarbeit finden! Vielen Dank allen, die kooperativ da- Bereich noch unmittelbarer der Bevölkerung und damit ran mitwirken. den Bedürftigen zukommen lassen. Wir fangen da nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bei null an. Es gibt sehr erfolgreiche Arbeiten und gute Ansätze, die weiterzuführen und zu stärken sind. So er- halten beim arbeitsintensiven Straßenausbau in unserem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Verantwortungsbereich im Norden des Landes Arbeiter Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke, circa zwei Euro am Tag, was dort relativ viel Geld ist, Fraktion Die Linke. für ihre sehr verantwortungsvolle Arbeit. Mit diesen Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert beiten werden bisherige Trampelpfade in entlegene Dör- Winkelmeier [fraktionslos]) fer befahrbar gemacht. Damit wird den örtlichen Händ- lern die Möglichkeit gegeben, Zugang zu den lokalen Märkten und Dienstleistungsmärkten zu finden. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich (Beifall bei der CDU/CSU) wundere mich über die große Verdrängungsleistung in dieser Debatte; denn viele Tatsachen werden einfach Wir haben unsere finanziellen Ansätze für die Ent- ausgeblendet. Ich wundere mich, dass man nicht bereit wicklungszusammenarbeit mehrfach aufgestockt. Es ist ist, einen anderen politischen Grundansatz, der nicht auf richtig, dass wir für das nächste Jahr wieder einen bilate- militärische Lösungen setzt, ernsthaft zu durchdenken. ralen Verpflichtungsspielraum in Höhe von 70 Millionen Euro vorsehen. Diese Mittel sind so einzusetzen, dass Ich unternehme noch einmal den Versuch, Ihnen die die Bevölkerung unmittelbar etwas davon hat, also im Friedensvorschläge der Linken darzustellen, und er- Straßenausbau, in der Wasserversorgung und in der En- warte, dass diese Vorschläge ernsthaft diskutiert werden. ergieversorgung. Diese Leistungen kommen der afghani- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (B) schen Bevölkerung direkt zugute; sie werden von ihr an- (D) erkannt. Es sind Leistungen, die die Taliban nicht Winkelmeier [fraktionslos]) erbringen können und nicht erbringen wollen. Ich nenne Ihnen auch die Bedingungen dafür. Bei der Drogenbekämpfung sind wir dann am erfolg- Es ist doch auffällig, dass in der ganzen Debatte nur reichsten, wenn wir die afghanischen Bauern in die Lage von der Linken der Begriff „Selbstbestimmung“ in Be- versetzen, ihren Lebensunterhalt ohne Drogenanbau zu zug auf das afghanische Volk verwandt wird. bestreiten, etwa durch die Instandsetzung der alten Be- wässerungssysteme. Die entwicklungsorientierte Dro- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert genbekämpfung muss durch Maßnahmen der aktiven Winkelmeier [fraktionslos] – Christian Drogenbekämpfung flankiert werden. Erfolge zeigen sich Carstensen [SPD]: Was? – Hartwig Fischer – auch dies wurde zweimal gesagt – in dem von uns be- [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie haben doch gar treuten Norden, wo der Drogenanbau praktisch zum Er- keine Chance!) liegen gekommen ist. Ich möchte, dass die Afghaninnen und Afghanen endlich selber bestimmen. Es ist unerträglich, dass der afghani- Meine Damen und Herren, ohne ein stabiles Pakistan sche Präsident und die Regierung nicht einmal darüber ist – das ist eben schon gesagt worden – auch nicht an entscheiden können, wo welche Bomben in Afghanistan ein stabiles Afghanistan zu denken. Doch angesichts der abgeworfen werden. angespannten Sicherheitslage in den Grenzgebieten zu Pakistan sind Entwicklungsmaßnahmen dort schwerer (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert umzusetzen. Wir sollten dennoch auf die dortige Lage Winkelmeier [fraktionslos]) reagieren. Wir sollten unser Engagement, auch unser ziviles, auf das benachbarte Pakistan und die dort vor- All das wird in Washington bzw. von den Militärs ent- handenen sensiblen Armutsregionen ausweiten. schieden. Es ist unerträglich, dass der Präsident von Pa- kistan nicht darüber entscheiden kann, ob sein Land (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bombardiert wird oder nicht. Wir fordern Selbstbestim- neten der SPD) mung. Das ist der erste Ansatz. Auch hier geht es um Mikrofinanzierung, um Gesund- Zweitens möchte ich, dass von der deutschen Politik heit und Bildung. Grenzüberschreitende Pilotprojekte der Prozess einer nationalen Versöhnung in Afghanistan zwischen Pakistan und Afghanistan könnten so die regio- gefördert wird. Auf diesen Prozess muss man bauen. Ich nale Stabilität erhöhen. Wir können mit unserer Ent- halte die Friedens-Jirga für einen ganz bedeutenden wicklungszusammenarbeit auch zur Stärkung der inne- Fortschritt; denn so versuchen die Afghaninnen und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19503

Wolfgang Gehrcke (A) Afghanen, ihre Probleme selber zu lösen. Ich denke, es Deutschland in diese Richtung unternehmen will. Ohne (C) wäre sinnvoll, eine Politik zu machen, die bereits im die Zusammenarbeit mit Pakistan – die Destabilisierung nächsten Jahr Waffenstillstandsvereinbarungen ermög- Pakistans geht auch vom Krieg in Afghanistan aus –, licht, damit die Waffen in Afghanistan endlich schwei- ohne eine Stabilisierung Pakistans, ohne Krieg und gen. Darüber muss ernsthaft verhandelt werden. Bombenangriffe, ohne eine Kooperation mit Indien, ohne eine Kooperation mit Iran – der Iran ist wichtig für (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert diese Zusammenarbeit –, ohne dass man die Schanghai- Winkelmeier [fraktionslos]) Gruppe mit China und Russland in diesen Prozess einbe- Waffenstillstand wäre ein denkbarer nächster Schritt, zieht, schafft man keine Stabilisierung in der Region. wenn man ernsthaft in dieser Richtung vorgehen will. Das ist Politik. Politik ist aber nicht gleichzusetzen mit Militär. (Zuruf von der SPD: Wer hat denn was dage- gen?) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Interessant war, dass niemand von Ihnen den Mekka- Prozess hier erwähnt hat. Auch der Außenminister Das sind die Wege, die gegangen werden können. spricht nicht darüber. Im Ausschuss sagte er, er müsse Wenn Sie aber aus der Logik des Militärischen nicht her- telefonieren, um zu erfahren, was dort los sei. Sie sind in auskommen, dann wird eine andere Logik Raum greifen. keinem Friedensprozess richtig verankert und täuschen Die Spirale ist doch: mehr Militär, mehr der Eindruck das Parlament mit Ihren Aussagen. der Besatzung in Afghanistan, mehr Widerstand, und dann kommen Sie wieder mit der Forderung nach mehr (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Militär. Winkelmeier [fraktionslos] – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: An diesem Deutschland stellt einen Teil der NATO-Truppen in Platz hat Herr Steinmeier darüber geredet!) Afghanistan. Somit verantwortet Deutschland auch die Gesamtpolitik der NATO in Afghanistan. Diese Spirale – Das beweise ich Ihnen. muss man durchbrechen. Das kann man nur mit Politik, In das Waffenstillstandspaket gehört, dass Fortschritte aber nicht dadurch, dass man immer mehr Soldaten in Afghanistan festgeschrieben und gesichert werden. schickt. Das ist das, was jetzt getan werden kann. Dazu gehören Bildung, Frauenrechte, Rechtstaatlichkeit Schönen Dank. und Polizeiaufbau, der Aufbau einer nicht korrupten Po- lizei, die dann auch besser bezahlt werden kann. Es ist (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Unsinn, wenn Sie hier behaupten, dass zur Absicherung Winkelmeier [fraktionslos]) (B) der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen Militär (D) unbedingt notwendig sei. Indien hat 3 000 Entwick- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lungshelfer nach Afghanistan entsandt, aber keinen ein- Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainer Arnold von zigen Militär. Die indische Regierung hat uns immer ge- der SPD-Fraktion. sagt, dass der Einsatz von Militär den Einsatz der Entwicklungshelfer eher gefährdet als erleichtert. Rainer Arnold (SPD): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Gehrcke, während Ihrer Rede musste ich manchmal Also, Bildung, Frauenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Po- auf die Uhr schauen, weil ich das Gefühl hatte, dass es lizeiaufbau. nicht 16 Uhr, sondern dass es schon Geisterstunde ist. Wenn man diese Wege geht, muss drittens eine Hilfe (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei für eine andere Ökonomie in Afghanistan dazugehören. Abgeordneten der CDU/CSU) In Afghanistan braucht man Infrastrukturhilfe. Die Afghaninnen und Afghanen sagen aber immer auch, Sie zeichnen ein Bild, das mit der Wirklichkeit nichts dass sie gern selbst darüber entscheiden möchten, wel- zu tun hat. Als ob wir nicht wüssten, dass Bildung und ches Projekt umgesetzt und welches Projekt nicht umge- Aufbau zentral sind. Wir bemühen uns doch jeden Tag setzt wird. Auch in diesem Fall entsteht der Eindruck, darum. Zudem lügen Sie, wenn Sie sagen, Frank-Walter dass die eigentlichen Entscheidungen im Ausland, aber Steinmeier hätte nichts zu den Verhandlungen gesagt. nicht in Afghanistan selbst fallen. Deshalb muss man Von hier aus hat er in seiner letzten Rede zu diesem eine andere Ökonomie durchsetzen, die wegführt von Thema gesprochen. der Drogenökonomie. Wenn erst einmal ein Krieg gegen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Lesen Sie Drogen geführt wird, wenn Sie glauben, das Problem doch die Rede nach!) durch das Abbrennen der Drogenfelder zu lösen, dann schaffen Sie sich noch ganz andere Probleme an den Lesen Sie doch einmal das ISAF-Mandat. Dort heißt Hals. es, dass wir in Afghanistan sind, um die Afghanen zu unterstützen. Das ist alles festgeschrieben, und so verste- Dieser Prozess muss in eine regionale Sicherheitskon- hen wir diesen Auftrag. ferenz und in regionale Sicherheitsstrukturen eingebaut werden. Es ist notwendig, dass man in der UNO dafür Der Unterschied besteht darin, dass Sie versuchen, wirbt. Es wäre interessant – Sie haben diese Idee eben- den Menschen einzureden, dass in Afghanistan einfach falls vertreten, Kollege Erler –, zu erfahren, was alles gut wird, wenn die europäischen und amerikani- 19504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Rainer Arnold (A) schen Soldaten gehen. Das ist naiv. Sie könnten als Somalia und vielen anderen geht es in Afghanistan (C) Linke genauso gut beschließen, dass der Himmel grün voran. Dies ist die Orientierung. sei. Der Himmel wird aber nicht grün, wenn Sie das be- schließen. Die Welt ist nun einmal anders. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Es lohnt sich, die Art und Weise zu betrachten, wie GRÜNEN) Ihre Partei mit diesem Thema umgeht. In diesem Hohen Hause sitzen viele Kolleginnen und Kollegen, die in Wir sollten zum anderen daran denken, dass es vor Afghanistan waren. Ich glaube, alle führenden Politiker wenigen Monaten einen sozialdemokratischen Spitzen- der Parteien haben sich dieser Mühe unterzogen. Die politiker gab, der, als er aus Afghanistan zurückgekom- beiden politischen „Vorderlader“ Ihrer Fraktion jedoch men ist, gesagt hat: Man muss natürlich auch verhan- waren nie in Afghanistan. Dies zeigt, dass Ihnen die deln, und zwar an der Spitze der Regierung, aber auch Menschen in Afghanistan, um die es geht, ziemlich egal draußen, dezentral, bei den PRTs. – Über ihn ist Häme sind. und Spott ausgeschüttet worden. Heute, vor einer Stunde, hat der amerikanische General Petraeus genau (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP dies gefordert. Dies ist natürlich ein notwendiger und und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richtiger Weg. Um auf diese Idee zu kommen, brauchen Das zeigt auch, dass es sehr bequem ist, am warmen wir überhaupt keine Linke in diesem Bereich. Schreibtisch in Deutschland Anträge zu Afghanistan zu schreiben, während man die Wirklichkeit in Afghanistan (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gar nicht kennenlernen will. Es könnte ja sein, dass man CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE dabei etwas lernt. LINKE]: Ihr seid oberschlau!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Ich bekenne mich dazu, dass ich nicht alles über bei Abgeordenten des BÜNDNISSES 90/DIE Afghanistan weiß und in zwei Punkten immer wieder GRÜNEN) mit mir ringe. Ich glaube, das geht vielen so. Die erste Frage ist: Haben wir noch die richtige Antwort auf diese Das zeigt außerdem, welches Bild Sie von den Soldaten ernste Situation im Norden, in der Provinz Kunduz? Das haben. Die Soldaten verstehen das Signal, das Sie ihnen ist ein Thema, das uns beschäftigen muss. Ich weiß senden, dass Sie sich nicht um ihren Einsatz kümmern. nicht, ob die deutsche Vorgehensweise ausreichend ist. Nein, in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Ich bin sehr dafür, dass die deutschen Soldaten vorsich- darf eine Opposition selbstverständlich die Regierung tig und besonnen sind. Das macht sie stark. Aber ich kritisieren und anderer Meinung sein. habe manchmal die Sorge, dass wir zu oft fragen: Was (B) (D) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Großzü- wollen wir, was dürfen wir? Ich glaube, wir müssten gig!) häufiger fragen: Was hilft in dieser Situation? Ich wün- sche mir – das sage ich mit Blick auf die militärische Aber in der Geschichte unseres Landes hat sich eine Op- Führung –, dass die Soldaten, die Erfahrungen vor Ort position in einer ernsten und schwierigen Situation nie haben, die besonnen sind und ihre Einschätzungen nach so billig und schändlich aus einem Minimum an Verant- Deutschland tragen, von der militärischen Führung ernst wortung, die wir alle als Demokraten spüren sollten, ge- genommen werden und ihr Rat abgewogen wird und in stohlen, wie es die Linken bei diesem Thema tun. die weitere Strategie einfließt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Zweite, wovon ich meine, dass wir darüber nach- der CDU/CSU und der FDP) denken müssen, ist ein Thema, das hier schon angespro- Lassen Sie mich zu Wichtigerem kommen, zu Fragen chen worden ist: der Faktor Zeit. Wir alle sagen: Wir der Strategie; dazu wurde schon sehr viel gesagt. Natür- brauchen Geduld. Gleichzeitig spüren wir in der deut- lich wird die Strategie in vielen Konferenzen ständig schen Debatte ebenso wie in Afghanistan: Die Zeit läuft nachjustiert. Natürlich braucht man sie nicht neu zu er- uns in Afghanistan davon. Wenn dies so ist, ist es schlüs- finden. Es wurde schon deutlich, was konsequenter ge- sig, dass wir jetzt mehr tun müssen – dies gilt auch für macht werden muss. Man muss das, was man in Afgha- die 1 000 Soldaten –, damit wir dieses Mandat eines Ta- nistan erkannt hat, entschlossen tun. Das ist eines der ges so verändern können, dass die deutschen Soldaten Probleme. nicht in erster Linie draußen für Stabilität sorgen müs- sen, sondern dass sie zunehmend, Schritt für Schritt, in Ich möchte zwei Bereiche ansprechen, von denen ich eine Assistentenfunktion für die afghanischen Sicher- glaube, dass man weiterdenken muss. Wir reden zum ei- heitsorgane kommen. Das ist etwas ganz Wichtiges. nen davon, dass der zivile Aufbau zu schleppend ist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir da einen fal- Herr Kollege Trittin, an einem Punkt machen Sie ei- schen Maßstab anlegen. In Deutschland kann sich nie- nen Fehler. Den Faktor Zeit sozusagen einem Gleis mand mehr vorstellen, dass in Afghanistan der Brunnen gleichzusetzen und einen Bahnhof zu definieren, an dem für die Familie, das Dach und die Heizung für eine man anhalten muss, kann nicht funktionieren. Ich glaube Schule oder eine Hebamme, die das Leben eines Kindes schon, dass es richtig ist, ein grobes Ziel zu definieren. rettet, ein ungeheurer Fortschritt sind. Wir sollten dieses Es lautet, Stabilität zu schaffen, Terror zurückzudrängen Land nicht an uns messen, sondern an anderen bettelar- und gleichzeitig afghanische Sicherheitsorgane aufzu- men Ländern. Im Vergleich zum Sudan, zum Kongo, zu bauen, damit sie selbst damit umgehen können. Es ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19505

Rainer Arnold (A) richtig: Die Regierung wird Evaluierungsberichte vorle- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) gen. Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Beck, CDU/CSU-Fraktion. GRÜNEN]: Das hat sie noch nie gemacht! – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre aber neu, Herr Arnold!) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): – Die Regierung hat zugesagt, dass zukünftig jedes Jahr Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen ein solcher Bericht erstellt wird. Das begrüßen wir aus- drücklich. und Kollegen! Auf der Tribüne sitzen Soldaten der Luft- landeaufklärungskompanie 260 aus Zweibrücken, die in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Afghanistan im Einsatz waren und diese Debatte sicher CDU/CSU) mit großem Interesse verfolgen. Die einzelnen Etappen muss man prüfen. Man kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sie aber nicht mit einem Datum versehen. Das ISAF-Mandat, wie es heute zur Abstimmung Herr Trittin, ich möchte an die drei Länder Norwegen, steht, unterscheidet sich in mehreren Punkten von dem Kanada und Niederlande erinnern. bisherigen: Es ist auf 14 statt auf 12 Monate angelegt; das Kontingent umfasst 4 500 statt wie bisher 3 500 Sol- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: datinnen und Soldaten, darunter auch Kräfte, die im Sü- Herr Kollege Arnold, darf ich Sie an Ihre Zeit erin- den Afghanistans eingesetzt sind, nämlich unsere Fern- nern? melder in Kandahar.

Rainer Arnold (SPD): Es ist schon oft gesagt worden, dass es auch im sieb- – Ich komme sofort zum Ende. – Die Niederländer ten Jahr des Afghanistan-Einsatzes Licht und Schatten zum Beispiel, die eine Armee von 46 000 Soldaten ha- gibt. Es ist nicht entscheidend, ob wir den Einsatz als ben, sind mit 1 700 Soldaten in Afghanistan. Das halten Stabilisierungs- oder als Kampfeinsatz bezeichnen. sie nicht auf Dauer durch. Ich glaube, Deutschland muss Wichtig ist, wie der Einsatz von der afghanischen Bevöl- sich an Frankreich und Großbritannien orientieren, aber kerung, von unseren Bürgerinnen und Bürgern hier im da wird die Sache eben kompliziert. Land, aber auch von den Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan wahrgenommen und erlebt wird. Zu einem Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir alle realistischen Umgang gehört – daran muss man auch (B) wissen, dass es um deutsche Interessen der Stabilität und hier erinnern; es ist bereits gesagt worden –, dass Pro- (D) der Sicherheit geht. bleme, Gefahren und Risiken angesprochen werden: schleppender Aufbau, Korruption, Drogen, nichtkoope- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rative Nachbarländer. Es geht darum, Chancen und Risi- Herr Kollege Arnold! ken beim Namen zu nennen, aber auch darum, bereits er- zielte Erfolge nicht kleinzureden. Rainer Arnold (SPD): Ich glaube, dass wir uns manchmal fragen müssen: Ich bin fertig. Führen wir hier in Deutschland, auch hier im Parlament, die richtigen Diskussionen, die richtigen Debatten, wenn Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wir operative Details des Einsatzes in den Mittelpunkt Danke schön. stellen? Wir erwarten und fordern regelmäßig, wie ich meine, zu Recht eine verantwortliche militärische Füh- Rainer Arnold (SPD): rung vor Ort. Dann müssen wir aber auch darauf ver- Es geht auch um die Menschen in Afghanistan. trauen, dass diese Führung die richtigen Entscheidungen trifft. Das haben unsere Soldaten und ihre verantwortli- chen militärischen Führer verdient. Solidarität und nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Distanzierung ist gefragt, auch wenn einmal Fehler ge- Herr Kollege Arnold! macht werden. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Rainer Arnold (SPD): Der Erfolg des Einsatzes hängt letztlich von vielen Wir sehen, dass der Erfolg die Mühen und Anstren- Faktoren ab, ganz entscheidend ist aber die Motivation gungen der Soldatinnen und Soldaten sowie der zivilen unserer Soldaten vor Ort. Das sind nicht nur die Stäbe, Aufbauhelfer, die hohe Risiken eingehen, wert ist. Wir sondern auch die Feldwebel und Mannschaften, die in unterstützen sie auch in Zukunft. Afghanistan auf Patrouille und an Checkpoints unter- wegs sind. Sie wissen, wofür sie stehen. Sie genießen bei Danke schön. der afghanischen Bevölkerung Vertrauen, ein Vertrauen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das der afghanischen Regierung vielerorts abgeht, um der CDU/CSU) das sie sich, wie ich meine, viel stärker bemühen muss. 19506 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) Verunsichert werden unsere Soldaten weniger durch Haus. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten haben (C) den Gegner als durch Diskussionen, wie sie hier bei uns diese Unterstützung nötig. Sie haben sie auch verdient. regelmäßig nach Anschlägen oder aus Anlass von zivi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) len Opfern ausbrechen. Jedes Mal, wenn Zivilisten bei militärischen Einsätzen verletzt oder gar getötet werden Ich freue mich sehr über die Stiftung des Ehrenkreu- – das sage ich ganz klar –, ist das eine Tragödie und zes der Bundeswehr für Tapferkeit. Ich danke dem Bun- schmälert zudem die Sicherheit unserer Soldatinnen und despräsidenten und dem Verteidigungsminister für diese Soldaten vor Ort. Dennoch – das gehört zur Realität – Entscheidung. Die Soldatinnen und Soldaten können wird das auch in Zukunft nicht völlig zu vermeiden sein. fortan für besonders herausragende Leistungen im Ein- Potenzielle Attentäter sind äußerlich von Zivilisten nicht satz ausgezeichnet werden. Angesichts der neuen Anfor- zu unterscheiden. Genau das nützen die Taliban und die derungen in den Einsätzen ist dies ein wichtiges Zeichen Aufständischen ja aus. Gerade das macht den Einsatz so unserer Wertschätzung und unserer Anerkennung. gefährlich und so unberechenbar. Wir, die wir uns hier, im tiefen Frieden, die außerordentliche nervliche An- Unser Einsatz in Afghanistan wird nicht einfacher. spannung unserer Soldaten vorstellen, die im Grunde Uns stehen schwierige Monate bevor. Wir sind aber der hinter jedem Abfalleimer, hinter jedem Baum, an jeder festen Überzeugung, dass dieser Einsatz richtig und der- Ecke und in jedem Auto einen Selbstmordattentäter oder zeit ohne Alternative ist. Deshalb stimmen wir der Ver- eine Sprengfalle vermuten müssen, wir müssen auch sa- längerung des Mandats zu. gen, dass das die Realität des Einsatzes unserer Soldaten Vielen Dank. ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Als Ende August dieses Jahres drei afghanische Zivi- listen bei einem Zwischenfall in Kunduz starben, war Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: erst klar, dass es sich um Unschuldige handelte, nach- dem die Schüsse gefallen waren. Dass dieser Vorfall un- Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche. tersucht wird, ist notwendig und richtig. Ich erinnere aber auch daran, dass der örtliche paschtunische Stam- Henry Nitzsche (fraktionslos): mesführer Otmansei für die betroffene Familie erklärte: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Nicht die deutschen Soldaten waren schuld, sondern der mittlerweile sechs Jahren kämpft die Bundeswehr in afghanische Fahrer, der sich falsch verhalten hat. Afghanistan. Dieser Einsatz kostete den deutschen Steu- erzahler bisher rund 3 Milliarden Euro. Jetzt sollen wei- Als Folge dieses Vorfalls soll nun der Rechtsschutz tere 700 Millionen Euro draufgesattelt werden. für Soldatinnen und Soldaten verbessert werden. Ich (B) (D) halte diesen Schritt für überfällig und begrüße ihn aus- Eine Sache wiegt aber noch schwerer: Mindestens drücklich. 22 deutsche Soldaten verloren bisher in Afghanistan ihr Leben. Die meisten von ihnen starben durch Feindein- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wirkung. Wir können also getrost von gefallenen Solda- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ten sprechen, auch wenn sich die Bundesregierung GRÜNEN) krampfhaft bemüht, diese Bezeichnung zu vermeiden. Es kann nicht sein, dass gegen einen Soldaten, der im Was haben all diese Opfer gebracht? Was haben wir Einsatz von seiner Schusswaffe Gebrauch macht und da- in diesen sechs Jahren erreicht? Ich zitiere aus einem bei jemanden tötet, die Staatsanwaltschaft ermittelt und Text, der auf der Internetseite der Bundesregierung zu ihm der Dienstherr keinen Rechtsbeistand zur Verfügung finden ist: stellt. Zunehmend kann die afghanische Regierung Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP antwortung für den Wiederaufbau und die Sicher- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit übernehmen. Dies zeigt die Übernahme der Wir stimmen der Aufstockung des Mandats um Sicherheitsverantwortung für das Stadtgebiet von 1 000 Soldaten zu, weil wir durch die Aufstockung mehr Kabul … Flexibilität im Kontingentwechsel erreichen, weil wir Ist das alles? Derzeit sind fast 53 000 Soldaten aus dadurch besser auf eine veränderte Sicherheitslage rea- 40 Staaten im Einsatz. Insgesamt 900 Soldaten verloren gieren können, weil wir seit dem 1. Juli dieses Jahres die bisher ihr Leben. Und wofür? Damit Kabul halbwegs schnelle Eingreiftruppe für das Regionalkommando kontrolliert werden kann. Nord stellen, weil wir unsere Unterstützung bei der Aus- bildung der afghanischen Armee verstärken und nicht Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Bun- zuletzt die Absicherung der afghanischen Wahlen im desregierung, die afghanische Regierung, die Sie uns Herbst 2009 unterstützen wollen. hier als Erfolgsmeldung verkaufen, existiert überhaupt nicht. Es gibt vielleicht einen Bürgermeister von Kabul Ich möchte an dieser Stelle allen Soldatinnen und Sol- namens Hamid Karzai, aber selbst er ist zum Erhalt sei- daten, die in Afghanistan unter Einsatz ihres Lebens ei- ner Macht auf ausländische Soldaten angewiesen. So nen wertvollen und wichtigen Dienst leisten oder geleis- sieht die Wahrheit aus. tet haben – dies tun sie unter anderem für unsere Interessen und unsere Sicherheit –, herzlich danken. Ich Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass wir von der werbe deshalb für eine breite Unterstützung in diesem Mehrheit der Afghanen nicht als Befreier, sondern als Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19507

Henry Nitzsche (A) Besatzer angesehen werden, die diesem Land ein politi- Ihre „Soldaten sind Mörder“-Fraktion schreit immer am (C) sches System überstülpen wollen, das dort vehement ab- lautesten, dass die Bundeswehr aus Afghanistan gehen gelehnt wird. Woher nehmen wir eigentlich die Arro- soll. In Wahrheit scheren Sie sich einen Dreck um unsere ganz, zu glauben, dass dieses an simple Hierarchien Soldaten. Sie nutzen das Thema nur zu Ihrer Profilie- gewöhnte Bergvolk nach dem strebt, was wir als Demo- rung. Sie haben von allen hier die geringsten Skrupel, kratie bezeichnen? Dort zählen ganz andere Werte. Die unsere Soldaten in Afghanistan zu verheizen. Sie begrü- Afghanen mögen sich heutzutage für ihr Drogengeld ßen doch insgeheim deren Tod. westliche Musik und Kaugummi kaufen können. Der (Widerspruch bei der LINKEN – Volker Verkaufsschlager ist aber nach wir vor die Kalaschni- Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Frau kow. „Waffen für Drogen“ heißt die Devise. Wer die Präsidentin, das geht ein bisschen zu weit!) meisten Waffen hat, hat die meiste Macht. Das ist das wahre afghanische Staatsmodell. Wer mit einer Gruppe zusammenarbeitet, die den Tod deutscher Soldaten als Schritt zur Abrüstung feiert, Seit dem Sturz der Taliban blüht der Mohnanbau in sollte hier und heute besser schweigen. Afghanistan. Betrug die afghanische Opiumproduktion im Jahre 2001 noch 185 Tonnen, liegt sie heute bei fast (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Hetze!) 8 000 Tonnen. Der ranghöchste Befehlshaber in Afghanistan, Mark (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Carleton-Smith, hat vor kurzem gesagt: „Wir werden GRÜNEN]: Und warum ist er im Norden wie- diesen Krieg nicht gewinnen.“ Recht hat er. Wir sollten der zurückgegangen? Haben Sie das nicht mit- diese Realität akzeptieren. Wir haben heute die Möglich- bekommen?) keit, einen schwerwiegenden Fehler, den wir vor sechs Jahren begangen haben, zu korrigieren. Das sind mittlerweile 90 Prozent der weltweiten Opium- produktion. Die Ankündigungen der afghanischen Re- Diejenigen von Ihnen, denen Afghanistan wirklich so gierung, den Drogenhandel zu bekämpfen, sind nicht sehr am Herzen liegt, können sich als Erntehelfer auf mehr als Lippenbekenntnisse. Niemand, weder die af- den Opiumplantagen melden. Die Bundeswehr jeden- ghanische Regierung noch die internationale Schutz- falls hat nichts in diesem Land verloren. Jeder weitere truppe, wagt es, sich mit den Drogenbaronen anzulegen. Euro, den wir für diesen sinnlosen Einsatz vergeuden, ist Verteidigungsminister Jung wusste schon, warum er sich einer zu viel. vergangene Woche gegen eine Bekämpfung des Opium- handels durch deutsche Soldaten aussprach. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Nitzsche, ich muss Sie an Ihre Redezeit (B) (D) NEN]: Sind Sie für den Drogenkrieg?) erinnern. Man muss das einmal klarmachen: Wir lassen unsere Henry Nitzsche (fraktionslos): Soldaten bei ihrer Vereidigung schwören, dass sie der Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. – Bundesrepublik Deutschland treu dienen und das Recht Wenn Ihnen also schon unsere Soldaten egal sind, dann und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen. tun Sie wenigstens etwas für die Haushaltskonsolidie- Dann schicken wir sie ins afghanische Bergland, um dort rung, und stimmen Sie gegen den Antrag der Bundes- Opiumplantagen zu beschützen. Das ist eine unglaubli- regierung. che Schande.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: GRÜNEN]: Das ist eine Lüge!) Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention dem Deutschland setzt dem Ganzen zudem mit 10 Millionen Kollegen Gehrcke. Euro für die afghanischen Polizeigehälter die Krone auf. Es ist an der Zeit, dass wir diesen sinnlosen Einsatz end- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): lich beenden. Für Deutschland gibt es keinen Grund, Ich war ja schon froh, dass am Ende der Rede, die sich in Afghanistan zu engagieren. Auch das Gerede, hier gehalten worden ist – eine, wie ich finde, rechts- dass der internationale Terrorismus von irgendwelchen extreme Rede –, eine deutliche Distanz zur Fraktion Die Berghöhlen in Afghanistan aus gelenkt wird, glaubt Linke dargelegt worden ist. doch niemand mehr. Die Mehrheit der Deutschen lehnt (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert diesen Einsatz ab. Winkelmeier [fraktionslos]) Unsere Soldaten haben ein Recht darauf, dass wir un- In dieser Nachbarschaft möchte ich mich nicht einmal sere Entscheidung sorgfältig und gewissenhaft treffen. im Dunkeln bewegen. Wir möchten auf keinen Fall, dass Dabei sollten allein der Sinn des Einsatzes und der unsere Position mit dieser verwechselt wird. Hier gibt es Schutz unserer Soldaten ausschlaggebend sein und nicht ganz klare und deutliche Trennungsstriche, die verständ- die Fraktionsdisziplin oder parteitaktische Überlegun- lich sein müssen. Man weiß ja, was woher kommt. Ich gen. Das gilt vor allem auch für Sie, meine Damen und möchte mich dagegen verwahren und finde es empö- Herren von der Linken. rend, wenn irgendjemand behauptet, dass es in der Frak- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Mit Ihnen tion Die Linke Freude darüber gäbe, dass Soldatinnen wollen wir nichts zu tun haben!) und Soldaten in Afghanistan umkommen. 19508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Wolfgang Gehrcke (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und jene Exekutoren; das muss hier ganz deutlich gesagt (C) neten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier werden. [fraktionslos]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ganz im Gegenteil: Jeder Zivilist, der umkommt, und je- CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN der Soldat, der umkommt, ist entschieden zu viel. Ich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – möchte, dass endlich eine Politik gemacht wird, die dazu Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beiträgt, dass niemand in Afghanistan aufgrund von NEN]: Das ist doch Unsinn! Überleg dir bitte Krieg bzw. Kriegseinwirkung sein Leben lassen muss, noch mal, was du gerade gesagt hast! – Zurufe ob Zivilist oder Soldat. von der LINKEN: Das ist doch Quatsch! – Das ist eine Frechheit von Ihnen!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) – Lieber Winni, es tut mir leid. Hier müssen, wie gesagt, klare Trennungsstriche gezo- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen werden. So kann man keinen Frieden schaffen. Die NEN]: Mit „leidtun“ hat das nichts zu tun! Da- Art und Weise, in der hier gerade gesprochen wurde, für entschuldigt man sich!) muss man bekämpfen. Ich gehöre zu denen, die vor vielen Jahren, vor über Danke sehr. einem Jahrzehnt, der Meinung waren, dass die rot-grüne Koalition die Perspektive hat, unser Land zu verwandeln (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert und zu verbessern. Ich beklage, dass die Grünen nicht in Winkelmeier [fraktionslos]) der Lage sind, sich in der jetzigen Situation klar zu be- kennen und entweder Ja oder Nein zu sagen. Durch eine Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Enthaltung sorgt man auch dafür, dass diese Unsicher- Herr Kollege Nitzsche, Sie können antworten. heit übertragen wird. Winni, diejenigen, die eine andere Perspektive für Afghanistan für richtig und sinnvoll er- (Zurufe von der SPD: Oh nein! – Bitte nicht! – achten, bitte ich darum, sich darüber klar zu werden, Nicht der schon wieder!) dass eine Enthaltung in dieser Situation auch bedeutet, die Taliban zu stärken. Ich bitte euch, darüber noch ein- Henry Nitzsche (fraktionslos): mal neu nachzudenken. Meine Damen und Herren von der Linken, Sie unter- stützen eine Organisation, die ein Plakat veröffentlicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE (B) hat, auf dem es heißt: „Die Bundeswehr auf dem richti- (D) gen Weg“, „Schritt zur Abrüstung“ und „Wieder einer LINKE]: Und wie ist das mit den Kollegen in weniger“. Diese Organisation wird von Ihnen unter- deiner Fraktion? Unterstützen die etwa auch stützt. Sie geben ihr Ihre Stimme. Das war der Grund, die Taliban?) warum ich Sie so genannt habe. – Das gilt auch für alle anderen, die nicht den Mut ha- (Zuruf von der LINKEN: Nazi! – Gegenrufe ben, sich deutlich für das Mandat der Bundesregierung von der CDU/CSU: Na, na, na! – Das ist wirk- auszusprechen. lich allerhand! – Unerhört!) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Brunnen- vergifter! Das ist wirklich eine Frechheit, was Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie da von sich geben!) Ich gebe das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Argument, dass SPD-Fraktion. es für die Region eine andere Perspektive geben muss (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – dieses Argument ist vorgetragen worden –, ist richtig und zutreffend. Aber wer hat denn dafür gesorgt, dass die beiden Außenminister Afghanistans und Pakistans Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): zum G-8-Gipfel nach Potsdam eingeladen werden? Wer Frau Präsidentin! Ich erinnere an Malalai Kakar. hat dafür gesorgt, dass ein Prozess eingeleitet wurde, der Malalai Kakar ist vor 18 Tagen erschossen worden. Sie in der Region dazu führen wird, dass die Kooperations- war die bekannteste Polizistin Afghanistans. Ein Spre- beziehungen zwischen Indien, Pakistan, Afghanistan cher der Taliban hat den Mord an ihr wie folgt kommen- und Iran vorangebracht werden? – Es war Bundesaußen- tiert: Sie war unser Ziel, und wir haben unser Ziel elimi- minister Frank-Walter Steinmeier, der dafür gesorgt hat, niert. – Das ist die Sprache von Hinrichtern. Das ist die dass sich diese Beziehungen entwickeln, liebe Kollegin- Sprache der Taliban. Genau dagegen müssen wir uns nen und Kollegen. wenden. Wer sich bei der Abstimmung über die Fortset- zung des Mandats, die die Bundesregierung heute vor- (Beifall bei der SPD) schlägt, der Stimme verweigert oder der Stimme enthält, stärkt die Taliban Ein Zweites. Wer sagt, dass die Peace Jirga richtig und sinnvoll ist, der hat recht. Sie ist ein richtiges Kon- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE zept. Dann muss allerdings auch hinzugefügt werden, GRÜNEN]: Wie bitte? Das, was du da sagst, dass sich der pakistanische Ministerpräsident und Präsi- ist unerhört!) dent Karzai kürzlich getroffen und die Peace Jirga einbe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19509

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) rufen haben. Dann muss man auch dafür sorgen, dass Geschäfte der anderen Seite unterstützen. Das weißt du (C) demnächst ein weiteres Treffen der Peace Jirga stattfin- selbst. Du hast dich damals selbst gegen solche Vor- det. Es hat im letzten Jahr bereits mehrere lokale Konfe- würfe gewehrt. Insofern waren deine Ausführungen renzen der Peace Jirga gegeben. Das ist richtig. Aber wer wirklich völliger Schwachsinn. so tut, als ob die Bundesregierung beziehungsweise der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Außenminister nicht dafür sorgen werde, dass diese Be- DIE GRÜNEN) mühungen unterstützt werden, der führt die Öffentlich- keit hier in Deutschland in die Irre. Wir unterstützen die- Was sollen wir und auch ich persönlich tun? – Seit sen Prozess, und wir sorgen dafür, dass die Peace Jirga zwei Jahren mahne ich drängend in konstruktiver Kritik lokal, regional und auf der nationalen Ebene vorange- an: Bitte, Bundesregierung, strengt euch in der Sache bracht wird. mehr an. – Das sage ich am wenigsten in Richtung Bun- deswehr. Denn ich bekomme mit, wie sich die Bundes- Ein Letztes. Es gibt ein neues Buch – es ist gerade erst wehr anstrengt. Das ist kein persönlicher Vorwurf, son- erschienen – von Rashid mit dem Titel „Descent into dern betrifft meiner Meinung nach eher ein Chaos“, also „Abstieg ins Chaos“. Der Autor kommt aus Organisationsversagen. Schließlich hängen wir mit dem Pakistan und ist einer der besten Kenner der Region. Er Aufbau aus vielerlei Gründen schlimm zurück. hat am Schluss dieses Buches darauf aufmerksam ge- macht, dass sich Afghanistan gegenwärtig auf einer Einerseits haben wir seit dem letzten Herbst zehn An- schiefen Ebene befindet, und es bestehe die Gefahr, dass träge gestellt und seitens der Großen Koalition zustim- Afghanistan abrutsche. Leider ist dies zutreffend. mendes Nicken vernommen. Andererseits laufen wir ge- gen die Wand. Sollen wir vor diesem Hintergrund nun Jetzt kommt es darauf an, dass wir unsere Kräfte mo- sagen, unsere Kritik sei gar nicht so gemeint gewesen bilisieren, dass wir also zum Beispiel dafür sorgen, dass und wir würden nun immer mit zustimmen? Was sollen die Ergebnisse der Konferenz von Paris – dort waren wir als Opposition da machen? Das muss man sich doch 80 Nationen dieser Erde vertreten – umgesetzt werden. fragen. Es müssen 21 Milliarden Dollar in die Hand genommen werden, damit der zivile Aufbau gelingt. Darauf müssen Außerdem: Bei der ersten Lesung zum ISAF-Antrag wir hinwirken, damit die Schieflage in Afghanistan in habe ich hier geredet. Ich habe mitbekommen, wie viel Balance gebracht wird. Beifall ich für meine Kritik an der halbherzigen Politik der Bundesregierung aus euren Reihen, den Reihen der Das ist die Aufgabe, und sie kann nur gelingen, wenn CDU/CSU und der SPD, als Reaktion erhalten habe; sie wir dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Denn ist im Protokoll nachzulesen. Ich habe das Gefühl, dass nur wenn gewährleistet ist, dass der zivile Aufbau voran- wir Grünen damit, dass wir dazu sprechen und unsere (B) (D) kommt, wird auch Afghanistan eine Chance haben, sich konstruktive Kritik für einen vernünftigen und energi- in eine Zukunft zu entwickeln, die am Ende hoffentlich schen Aufbau in Afghanistan äußern, vielen Kolleginnen von Frieden geprägt sein wird. und Kollegen aus der Koalition aus dem Herzen spre- Aus diesen Gründen stimmen wir dem Antrag der chen. Ihr könnt nur aus Koalitionsloyalität einfach nicht Bundesregierung zu. immer so abstimmen, wie ihr es eigentlich möchtet. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Winfried Nachtwei. Jetzt hat der Kollege Weisskirchen das Wort.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Lieber Kollege Gert Weisskirchen, dir geht es in Sa- Lieber Winni, wir kennen uns gut und lange genug. chen Afghanistan so wie mir. Wir sind mit dem Herzen Ich sage: Wenn du den Eindruck hast, dass ich mit dem, dabei. Aber wenn man mit dem Herzen dabei ist, muss was ich gesagt habe, das Ziel, das uns gemeinsam ver- man aufpassen, in der Argumentation nicht grob fahrläs- bindet, infrage gestellt habe, dann sage ich: Das war sig zu werden. Insofern muss ich Folgendes deutlich zu- nicht meine Absicht, und das würde ich auch niemals ge- rückweisen: Diejenigen, die hier mit Nein stimmen oder sagt haben wollen. sich enthalten, zu bezichtigen, sie würden dadurch die (Dr. Peter Ramsauer ([CDU/CSU]: Macht das Taliban unterstützen, ist ungerechtfertigt, falsch und eine doch bitte draußen! – Dr. Holzhammermethode. [FDP]: Das ist hier doch kein Kindergarten! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja, geht raus! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hier ist das Parlament, nicht eine Selbsterfah- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten rungsgruppe!) der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Ich kann nur dem zustimmen, was du gesagt hast. Ich zitiere Winni Nachtwei: Diese Methode kennen wir noch aus der Zeit des Kalten Krieges, als allen möglichen Kritikern der etablierten (Hellmut Königshaus [FDP]: Geh doch ein Sicherheitspolitik vorgeworfen wurde, sie würden die Bier mit ihm trinken!) 19510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Ich sage ausdrücklich: Die Verlängerung des ISAF- Mann seit seiner Verhaftung im Oktober 2007 erlitten (C) Mandats ist richtig und unverzichtbar. hat? Offensichtlich hat niemand die objektiv vorhande- nen Möglichkeiten gegenüber dem afghanischen Präsi- Das hast du hier am 7. Oktober 2008, also vor wenigen denten ausgeschöpft. Hier könnte man einem Menschen Tagen, gesagt. ohne Militär konkret helfen. Ich hoffe, dass die Sorge, die du hast und die viele Beim Thema Bildung sieht die Realität so aus, dass die von uns auch haben, dass nämlich mit dem Mandat, das Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen von 36 Pro- wir heute verabschieden, die Situation in Afghanistan zent im Jahr 1999 auf heute 23,5 Prozent gefallen ist. gefährdet werden könnte, nicht Wirklichkeit wird. Des- Für die sozialistische Regierung nach dem Umsturz von wegen stimme ich dem zu. Damit möchte ich kein Ge- 1978 war die Alphabetisierung der Bevölkerung noch wissen von irgendeinem anderen Kollegen in Gefahr ein Hauptanliegen auf dem Weg einer nachholenden bringen. Modernisierung des Landes. Es war völlig normal, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frauen und Mädchen dort in die Schule gehen konnten. Dass dies scheiterte, haben wir unter anderem dem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: damaligen US-Sicherheitsberater Brzezinski zu verdan- Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier. ken, der darauf heute noch stolz ist. Hat man denn im Dezember 2001 auf dem Petersberg tatsächlich erwartet, (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt steigern sich dass sich die vom Westen erkorenen korrupten, reaktio- die Beiträge!) nären afghanischen Politiker und Warlords für Bildung einsetzen würden? Diese Auswahl war doch der ent- Gert Winkelmeier (fraktionslos): scheidende Geburtsfehler, der der gesamten Negativent- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! wicklung seit 2001 zugrunde liegt. Mit Genugtuung beobachte ich, dass die Zustimmung zu den Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan hier im Die Bundesregierung sollte sich endlich eingestehen, Deutschen Bundestag mehr und mehr bröckelt. Wenn dass sie sich auf dem Weg in ein Desaster befindet. Sie der Druck der Parteibasis zum richtigen Abstimmungs- sollte die Konsequenzen ziehen, wenn die amerikani- verhalten führt, dann finde ich das gut, und die überwäl- schen Geheimdienste wie kürzlich zu dem Schluss kom- tigende Mehrheit der Deutschen findet das ebenfalls gut. men, dass sich die USA in Afghanistan in einer Ab- wärtsspirale befinden. Im Leitartikel des Boston Globe Vielleicht hat ja auch das eine oder andere Argument hieß es gestern: „Mehr Truppen werden diesen höchst von unserer Seite dazu beigetragen; denn wir erleben ge- gefährlichen Krieg intensivieren“. (B) rade im Zeitraffer, wie die anderen Parteien, nachdem (D) die ganze Welt ins Finanzdebakel gestürzt wurde, Posi- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) tionen der Linken übernehmen. Und das ist auch gut so. Nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre und an- Goethe hatte offensichtlich recht. Zum wiederholten gesichts der Stimmen aus den USA ist mir völlig unver- Male zitiere ich: ständlich, dass Sie heute dem Druck der US-Regierung nachgeben. Wir erleben doch seit 2005, dass der Wider- Man muss das Wahre immer wieder wiederholen, stand der Afghanen ständig wächst, weil USA und weil auch der Irrtum um uns her immer wieder ge- NATO den Krieg immer mehr ausweiten. Jetzt ist sogar predigt wird ... Pakistan dran: Der Krieg wird nach Pakistan getragen. Der Irrtum, der an dieser Stelle seit sieben Jahren gepre- Wann wird endlich begriffen, dass das der falsche Weg digt wurde und auch heute wieder gepredigt wird, heißt: ist? Mehr Truppen werden Afghanistan befrieden und ihm (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildung und wirt- schaftlichen Aufschwung bringen. – Wäre die Realität Wann wird begriffen und zugegeben, dass dies nicht für die afghanische Bevölkerung nicht so entsetzlich und unser Krieg ist? Der ehemalige Vizefinanzminister von grauenvoll, dann müsste man angesichts einer derart ver- Ronald Reagan, Paul Craig Roberts, schreibt in seiner fehlten Vorgehensweise eigentlich in ein Höllengeläch- Kolumne am 6. Oktober – ich zitiere –: „Europäer ster- ter ausbrechen. ben in Afghanistan für die amerikanische Hegemonie“. Zur Rechtsstaatlichkeit will ich nur ein Beispiel nen- Was aber macht die Bundesregierung? Sie nötigt den nen, mit dem die Wirklichkeit wie in einem Brennglas deutschen ISAF-General Domröse zu einem PR-Inter- gespiegelt wird. Noch immer wartet der unter Verletzung view in der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zei- der elementarsten rechtsstaatlichen Regeln zum Tode tung, in dem er das Wort „Krieg“ zum „fight“ – also verurteilte und in Masar-i-Scharif, also im deutschen wohl zu einer Art sportlichen Wettkampf – umdefiniert. Verantwortungsbereich, festgenommene Journalistik- Student Kambakhsh in seiner Kabuler Zelle auf sein Be- Solche Spielchen mit der Öffentlichkeit werden Sie rufungsverfahren. Sein sogenanntes Verbrechen war das sich und uns allerdings sehr bald ersparen können. Denn Herunterladen korankritischer Seiten aus dem Internet. die globale Finanzkrise wird dazu führen, dass der Rest der Welt – besonders Asien – nicht mehr bereit ist, die Können Sie sich bitte ein einziges Mal vorstellen, Kriege der USA mit seinen Exporterlösen zu finanzie- welche Qualen der Ungewissheit dieser 23-jährige junge ren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19511

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Märkten bringen. – Das heißt nicht, dass dort alles in (C) Herr Kollege Winkelmeier, Ihre Redezeit ist abgelau- Ordnung wäre. Aber eines steht fest: Es gibt andere Ge- fen, und Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. genden in Afghanistan, über die man das nicht sagen kann. Insofern ist der Einsatz der Bundeswehr und der Gert Winkelmeier (fraktionslos): vielen zivilen Helfer erfolgreich gewesen. Das sollten wir nicht kleinreden. Ich komme zum Schluss. – Schon allein deswegen muss der Rückzug der Bundeswehr unverzüglich erfol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen. Handeln Sie jetzt! Denn jetzt haben Sie noch die der SPD) Entscheidungsfreiheit. Wenn die Folgen der Finanzkrise erst einmal durchschlagen, wird das nicht mehr der Fall Zum Thema ziviler Aufbau möchte ich gerne sagen: sein. Es ist richtig, dass wir dafür finanzielle Mittel einstellen müssen. Aber die finanziellen Mittel können nur dann Danke. greifen, wenn wir die entsprechenden Strukturen vor Ort (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) haben. Was nutzen uns mehr Mittel für den Aufbau von Polizei, Armee und Rechtsstaatlichkeit, wenn wir dafür keine Strukturen haben? Beides muss Hand in Hand ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. Natürlich ist es auch richtig, die Nachbarstaaten ein- zubinden. Es kann keine Befriedung Afghanistans ohne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pakistan geben. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Verant- wortung in der Region gewachsen ist. Aber ich will an Holger Haibach (CDU/CSU): dieser Stelle klar sagen: Das ist nichts, was der deutsche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außenminister verantworten und von sich aus verordnen Ich finde, es lohnt sich am Ende dieser Debatte, einen kann; das geht nicht. Wir müssen ein Bewusstsein dafür Moment darüber nachzudenken, worüber wir eigentlich schaffen, dass internationale und regionale Kooperatio- sprechen. Wir sprechen über eine Mitverantwortung, die nen notwendig sind. Dass dieses Bewusstsein wächst, ist wir beim Wiederaufbau und bei der Befriedung Afgha- trotz allem Negativen sicherlich ein gutes Zeichen. Das nistans übernommen haben. Wir sprechen über 4 500 ist nicht zuletzt auf das Engagement der Bundesregie- deutsche Soldatinnen und Soldaten, die wir – wenn wir rung zurückzuführen. die Mandatsverlängerung heute beschließen – in einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht ganz ungefährlichen Einsatz schicken. Wir reden (B) (D) über sehr viele freiwillige Helfer von Nichtregierungsor- Diejenigen, die heute – aus welchen Gründen auch ganisationen, die jeden Tag unter sehr schwierigen Be- immer – der Fortsetzung des Engagements nicht ihre Zu- dingungen ihrer Arbeit nachgehen. stimmung geben, müssen eine Alternative aufzeigen. Ich erkenne, dass das keine ganz einfache Sache ist. Ich er- Unter diesen Bedingungen finde ich das Niveau die- kenne auch ausdrücklich an, dass sich jeder von uns ser Debatte ehrlich gesagt mehr als bedauerlich. Wenn große Gedanken darüber macht, ob er dieses Engage- von „Schwachsinn“ geredet wird und historisch falsche ment weiterhin unterstützen will oder nicht. Aber eines Zitate in den Mund genommen werden, dann ist das, wie ist klar – ich habe eben versucht, das deutlich zu ma- ich finde, dieser Debatte nicht würdig und dem deut- chen –: Es gibt eine gute deutsche Strategie. Dass die schen Engagement in Afghanistan nicht angemessen. deutsche Strategie nicht nur in Deutschland, sondern in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zwischen auch anderswo Früchte trägt, kann man daran erkennen, dass zum Beispiel der US-amerikanische Ge- Es ist auch nicht angemessen, alles gutzureden oder neralstabschef Michael Mullen gesagt hat: Ohne einen alles schlechtzureden. Wenn man der einen Seite zuge- „breiteren Ansatz“ zur Bekämpfung der Probleme und hört hat, hätte man meinen können, alles sei wunderbar. eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Nachbarland Pa- Wenn man der anderen Seite zugehört hat, hätte man kistan würden „die Feinde immer nur weiterkommen“. meinen können, alles sei ganz furchtbar und schrecklich. Nach der Auffassung Admiral Mullens sind größere aus- Eines ist auf jeden Fall richtig: Es kann keine Entwick- ländische Investitionen in Afghanistan und erheblich lung ohne Sicherheit geben, genauso wie es keine Si- verstärkte Bemühungen beim Aufbau politischer Institu- cherheit ohne Entwicklung geben kann. Insofern gehö- tionen und der Entwicklung wirtschaftlicher Stabilität ren die beiden Komponenten zusammen. Dass die notwendig. Ein amerikanischer Generalstabschef sagt Bundeswehr in ihrem Verantwortungsbereich einiges er- dies vor zwei Monaten! Wenn das nicht auch ein Um- reicht hat, ist unbestritten. Wenn Sie mir nicht glauben, denken bei anderen Verbündeten bewirkt, die das viel- dann empfehle ich Ihnen einen Blick in die Presse in der leicht bis vor kurzem nicht so gesehen haben, weiß ich letzten Woche. Ich zitiere als Beispiel den Stern: Man nicht, worin der Fortschritt bestehen soll. mag es Kunduz nicht ansehen, aber es ist eine prosperie- rende Stadt. Die Märkte sind voll, und in der ganzen Pro- Ich plädiere insofern für einen nüchternen Blick auf vinz gehen mehr als 200 000 Kinder zur Schule im Ver- die Dinge. Es ist nicht alles schwarz. Es ist bei weitem gleich zu 15 000 im Jahr 2001. Eins greift in das andere. nicht alles weiß. Aber eines ist klar: Wenn wir heute Gibt es Kleinkredite, können Bauern neues Land urbar Afghanistan verlassen und dort kein Engagement mehr machen. Gibt es Straßen, können sie ihre Produkte zu zeigen, wird dieses Land im Terror versinken und unre- 19512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Holger Haibach (A) gierbar werden. All die Erfolge, die erzielt wurden – die gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen (C) Schulbildung wurde verbessert; junge Frauen können der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses ange- Schulen und Universitäten besuchen; die Rechtsstaat- nommen. lichkeit wurde verbessert –, werden in dem Moment ver- schwunden sein, in dem wir unser Engagement ohne Wir kommen nun zur Abstimmung über die weiteren eine vernünftige Lösung einstellen. Insofern gibt es gute Entschließungsanträge. Gründe, nicht im Sinne von „Weiter so“, sondern im Sinne einer Neujustierung und Prüfung – was muss an- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- ders gemacht werden? – das Engagement auszurichten, tion der FDP auf Drucksache 16/10588? – Gegenprobe! – heute der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen und Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den weiterhin daran zu arbeiten, dass diese für uns wichtige Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Region befriedet und stabilisiert werden kann. Enthaltung der Grünen und bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. Danke sehr. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10589? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- ßungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nis 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Ich schließe die Aussprache. Hauses abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Bevor ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- rufe, weise ich Sie darauf hin, dass wir wegen der ge- sache 16/10567 zu dem Antrag der Bundesregierung zur planten Fraktionssitzungen die Aussprache zum Tages- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- ordnungspunkt 8 a und 8 b auf eine halbe Stunde kräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheit- verkürzt haben. Ich gebe das nur zur Kenntnis, damit alle sunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der Bescheid wissen. NATO. Ich weise darauf hin, dass uns zu dieser Abstim- mung viele persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d Geschäftsordnung vorliegen.1) auf: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten lung, den Antrag auf Drucksache 16/10473 anzuneh- Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina (B) men. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte Herlitzius, weiteren Abgeordneten und der Frak- (D) alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwen- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung den, ihren Namen tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen von Eisenbahninfrastrukturqualität und Fern- und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh- verkehrsangebot men. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ich weise die Kol- – Drucksache 16/9797 – leginnen und Kollegen darauf hin, dass wir danach noch Überweisungsvorschlag: weitere Abstimmungen über dieses Thema haben. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- Verbraucherschutz nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung von Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die Plätze Eisenbahninfrastrukturqualität und Fernver- einzunehmen. Wir setzen die Abstimmungen fort. kehrsangebot Tagesordnungspunkt 6 b. Beschlussempfehlung des Aus- – Drucksache 16/9903 – wärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/10568 zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu dem An- Überweisungsvorschlag: trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan. Der Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Druck- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sache 16/10479 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Verbraucherschutz schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

1) Anlagen 2 bis 6 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz 2) Siehe Seite 19514 C Kuhn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19513

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ich glaube, es ist gut, wenn wir jetzt die Zeit nutzen, (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN innezuhalten und zu fragen: Wenn der Börsengang in dieser Art schon nicht zustande kommt – wir haben ihn Bahn-Börsengang angesichts der internationa- ja abgelehnt –, wie kann man die Sache dann anders an- len Finanzkrise verschieben gehen? Was ist zu regeln, bevor man privatisiert oder – Drucksache 16/10455 – wieder an einen Börsengang denkt? Überweisungsvorschlag: Es ist offenkundig, dass vieles nicht geregelt ist – je- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) denfalls gesetzlich –, was dringend regelungsbedürftig Finanzausschuss ist, wenn man diesen Weg beschreiten will. Was sind die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gefahren, was sind die Risiken, wenn man das nicht tut? Ausschuss für Tourismus Ich glaube, es ist eindeutig: Wenn man an die Börse Haushaltsausschuss geht, wenn man es wagt, Rendite in dieses Geschäft zu bringen, dann ist die Gefahr groß, dass das Netz rendite- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten orientiert bedient wird, dass das Netz ausgedünnt wird, Dorothée Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, dass sich die Bedienungsqualität verschlechtert, weil Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der sich eben nicht alles rechnet, was aus grundgesetzlichen Fraktion DIE LINKE Gründen, aus Gründen der Gerechtigkeit und der Da- Veräußerung von Anteilen an der Deutschen seinsvorsorge aber sinnvoll und notwendig ist. Bahn AG stoppen Dieser Gefährdung vor allem des Fernverkehrs wol- – Drucksache 16/10525 – len wir etwas entgegensetzen. Die Regierung und die Koalition wollen das offenbar nicht. Wir haben dazu ei- Überweisungsvorschlag: nen Vorstoß gewagt, übrigens nicht allein: Parallel dazu Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss hat der Bundesrat mit großer Mehrheit denselben Vor- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stoß gewagt. Wie Sie wissen, haben die Grünen dort Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit keine Mehrheit. – Frau Präsidentin, es ist irgendwie Ausschuss für Tourismus ziemlich ärgerlich, dass hier sehr laut geredet wird, wenn Haushaltsausschuss ich das einmal sagen darf. Es wäre nett, wenn die betref- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fenden Personen ihre Fraktionsverhandlungen draußen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die führten. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten Die Regierung hat jedenfalls nichts getan, um das soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- (B) Parlament in die Behandlung all dieser Probleme, die (D) schlossen. wir haben, ernsthaft einzubinden. Sie haben uns viel ver- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege sprochen, was die Parlamentsbeteiligung anbelangt. Wir Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen. als Parlament sind in all diesen Punkten, wenn über- haupt, nur informiert worden, aber wir haben nicht abge- stimmt, weder beim Beteiligungsvertrag noch bei der Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Es fehlt eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Anreizregulierung. Das alles sind Punkte – erinnern Sie Herren! Die Brüche im Parlament sind manchmal hart: sich einmal –, von denen Sie im Laufe der Debatte im- Nachdem wir gerade noch über das Thema Afghanistan mer wieder gesagt haben: Das wird zwingend notwen- gesprochen haben, kommen wir jetzt auf das Thema Ei- dig; da wollen wir das Parlament einbeziehen. senbahninfrastrukturqualität zu sprechen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem Der Börsengang musste – so haben wir in den letzten wir klare politische Ziele verfolgen: selbstverständlich Tagen vernommen – verschoben werden. Das war ver- mehr Verkehr, Personen- wie Güterverkehr, auf die mutlich die einzig positive Seite der globalen Finanz- Schiene. Wir wollen, dass das effizient geschieht. Wir krise. Wie ich finde, war es in der jetzigen Situation rich- wollen, dass die Politik die Steuerungskompetenz behält. tig, zu sagen: Wenn man mit den Aktien der Bahn jetzt Wir wollen eine gesetzliche Grundlage haben, auf der an die Börse gegangen wäre, wäre dies die Verschleude- beurteilt werden kann, wie sich die Sache entwickelt, rung von öffentlichem Eigentum, ein Notverkauf zu ei- und auf der Regierungshandeln stattfindet und auch kon- nem zu niedrigen Preis. Die Verschiebung war also rich- trollierbar sein muss. tig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe gehört, dass in Kreisen der Koalition, vor al- len Dingen der CDU, gesagt wird: Wir wollen das aber Die zentralen Punkte unseres Gesetzentwurfs sind: noch dieses Jahr über die Bühne bringen. Dazu kann ich Wir wollen – das ist die Mindestvoraussetzung – einen nur sagen: Es ist ziemlich naiv, zu glauben, dass sich die wirklich transparenten und informativen Infrastrukturbe- Börse so schnell erholt und dass es wirklich relevant bes- richt. Das ist mehr als der Netzzustandsbericht, den es sere Bedingungen für einen Börsengang geben wird. bisher gibt. Das ist nämlich nur eine Fülle von Daten ohne Aussagekraft. Wir wollen einen Infrastrukturbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richt, der etwas über die Leistungsfähigkeit des Netzes sowie bei Abgeordneten der LINKEN) aussagt. 19514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Winfried Hermann (A) Wir wollen eine Leistungs- und Finanzierungsverein- nen, muss ich sagen: Es ist erstaunlich, dass Sie so we- (C) barung, die einer externen Kontrolle unterliegt, sodass nig findig sind, wenn es darum geht, den Ländern eine sich die Regierung nicht überlegen kann: kontrolliere bestimmte Verantwortung zu übertragen, ohne dass Sie ich, oder kontrolliere ich nicht? Glaube ich der Bahn, das Eigentum vollständig abgeben müssen. oder glaube ich ihr nicht? Was dazu bisher vorliegt, hal- ten wir für ziemlich unzulänglich. Ich komme zum Schluss. Das Fazit lautet: Wir wollen einen besseren Schienenverkehr. Wir wollen mehr Wir wollen gerade den Fernverkehr sichern. Wir se- Schienenverkehr. Wer das will, wer auch den Grundge- hen nämlich, dass der gefährdet ist. Schon heute werden setzauftrag im Fernverkehr und in der Fläche ernsthaft Oberzentren abgehängt, gibt es interne Papiere der Bahn, und dauerhaft realisieren will, der muss einer gesetzli- nach denen in den nächsten Jahren ein Oberzentrum chen Grundlage zustimmen, die genau das alles regelt, nach dem anderen abgehängt wird, wenn es sich nicht nämlich unserem Gesetzentwurf. rechnet; zum Beispiel in Baden-Württemberg ist das Konstanz. In den neuen Bundesländern sind mittelgroße Vielen Dank. Städte schon heute abgehängt. Die werden natürlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine Chance haben, dass das Angebot verbessert wird.

Unser Gesetzentwurf besagt: Der Bundesgesetzgeber Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: muss eine bestimmte Bedienungsqualität festlegen, zum Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe Beispiel Fernschnellverbindungen. Es muss klar sein, ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh- dass es solche Verbindungen mehrfach am Tag gibt. Wir rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- als Grüne plädieren sogar für einen Deutschlandtakt, ge- mung bekannt. Es ging um die Beschlussempfehlung rade im Fernverkehr. des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Zu guter Letzt: Wir halten es auch für sinnvoll, dass Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan … unter man Teile des Netzes, die nur regionale Bedeutung ha- Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ben, den Ländern zur Bewirtschaftung und zur Sanie- (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution rung übergeben kann, wenn die Länder ein Interesse da- 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- ran haben. Den Einwand der Bundesregierung, das wäre nen“, Drucksachen 16/10473 und 16/10567. Abgege- grundgesetzlich nicht abgesichert, finde ich ziemlich lä- bene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 442 Abge- cherlich. Wenn ich mir überlege, welche Konstrukte Sie ordnete, mit Nein haben gestimmt 96 Abgeordnete, (B) beim Eigentumssicherungsmodell angeboten haben, was Enthaltungen 32. Die Beschlussempfehlung ist damit an- (D) man mit dem Eigentum danach alles hätte machen kön- genommen.

Endgültiges Ergebnis Dr. Hans-Peter Friedrich Jürgen Herrmann Abgegebene Stimmen: 570; Klaus Brähmig (Hof) davon Michael Brand Erich G. Fritz Ernst Hinsken Jochen-Konrad Fromme Peter Hintze ja: 442 Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Michael Fuchs nein: 96 Monika Brüning Hans-Joachim Fuchtel Robert Hochbaum enthalten: 32 Dr. Jürgen Gehb Klaus Hofbauer Cajus Caesar Franz-Josef Holzenkamp Ja Joachim Hörster Michael Glos Anette Hübinger CDU/CSU Ralf Göbel Hubert Hüppe Josef Göppel Alexander Dobrindt Susanne Jaffke-Witt Thomas Dörflinger Peter Götz Dr. Peter Jahr Marie-Luise Dött Dr. Wolfgang Götzer Dr. Hans-Heinrich Jordan Dorothee Bär Maria Eichhorn (Konstanz) Thomas Bareiß Dr. Stephan Eisel Reinhard Grindel Dr. (Lübeck) Michael Grosse-Brömer Bartholomäus Kalb Günter Baumann Markus Grübel Hans-Werner Kammer Ernst-Reinhard Beck Dr. Hans Georg Faust Manfred Grund Steffen Kampeter (Reutlingen) Enak Ferlemann Monika Grütters Alois Karl Veronika Bellmann Ingrid Fischbach Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Bernhard Kaster Hartwig Fischer (Göttingen) Guttenberg Siegfried Kauder (Villingen- Clemens Binninger Dirk Fischer (Hamburg) Schwenningen) Peter Bleser Axel E. Fischer (Karlsruhe- Holger Haibach Volker Kauder Land) Gerda Hasselfeldt Eckart von Klaeden Dr. Maria Böhmer Dr. Ursula Heinen Jürgen Klimke Klaus-Peter Flosbach Julia Klöckner Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19515

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Michael Bürsch Dr. Hans-Ulrich Krüger (C) Kristina Köhler (Wiesbaden) Christian Schmidt (Fürth) Helga Kühn-Mengel Norbert Königshofen (Berlin) Marion Caspers-Merk Ute Kumpf Dr. Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Uwe Küster Hartmut Koschyk Dr. Ole Schröder Martin Dörmann Christine Lambrecht Thomas Kossendey Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Carl-Christian Dressel Christian Lange (Backnang) Elvira Drobinski-Weiß Dr. Wilhelm Josef Sebastian Garrelt Duin Waltraud Lehn Dr. Günter Krings Kurt Segner Detlef Dzembritzki Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Martina Krogmann Marion Seib Dr. Hermann Kues Bernd Siebert Siegmund Ehrmann Dr. (Heidelberg) Markus Meckel Andreas G. Lämmel Dr. h. c. Petra Merkel (Berlin) Dr. Norbert Lammert Petra Ernstberger Ulrike Merten Karin Evers-Meyer Dr. Katharina Landgraf Christian Freiherr von Stetten Annette Faße Ursula Mogg Dr. Max Lehmer Elke Ferner Marko Mühlstein Paul Lehrieder Andreas Storm Detlef Müller (Chemnitz) Max Straubinger Rainer Fornahl Michael Müller (Düsseldorf) Dr. Klaus W. Lippold (Heilbronn) Gabriele Frechen Gesine Multhaupt Lena Strothmann Franz Müntefering Dr. Michael Luther Michael Stübgen Peter Friedrich Dr. Rolf Mützenich Thomas Mahlberg Hans Peter Thul Andrea Nahles (Altötting) Antje Tillmann Iris Gleicke Thomas Oppermann Wolfgang Meckelburg Dr. Hans-Peter Uhl Angelika Graf (Rosenheim) Holger Ortel Dr. Dieter Grasedieck Heinz Paula Laurenz Meyer (Hamm) Volkmar Uwe Vogel Johannes Pflug Maria Michalk Andrea Astrid Voßhoff Joachim Poß Dr. h. c. Gerhard Wächter Gabriele Groneberg Christoph Pries Philipp Mißfelder Marco Wanderwitz Achim Großmann Dr. Eva Möllring Kai Wegner Wolfgang Grotthaus Dr. Sascha Raabe Marlene Mortler Marcus Weinberg Hans-Joachim Hacker Carsten Müller Peter Weiß (Emmendingen) (Cottbus) (Braunschweig) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Klaus Hagemann Gerold Reichenbach (B) Stefan Müller (Erlangen) Alfred Hartenbach Dr. Carola Reimann (D) Dr. Gerd Müller Karl-Georg Wellmann Michael Hartmann Christel Riemann- Anette Widmann-Mauz (Wackernheim) Hanewinckel Dr. Georg Nüßlein Klaus-Peter Willsch Nina Hauer Franz Obermeier Elisabeth Winkelmeier- René Röspel Becker Dr. Barbara Hendricks Dr. Ernst Dieter Rossmann Dagmar Wöhrl Gustav Herzog Karin Roth (Esslingen) Rita Pawelski Wolfgang Zöller Petra Heß Ulrich Petzold Willi Zylajew Gabriele Hiller-Ohm Marlene Rupprecht Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Hilsberg (Tuchenbach) Sibylle Pfeiffer SPD Gerd Höfer Anton Schaaf Frank Hofmann (Volkach) Axel Schäfer () Eike Hovermann Bernd Scheelen Ruprecht Polenz Rainer Arnold Klaas Hübner Daniela Raab (Neuruppin) Christel Humme (Aachen) Doris Barnett Lothar Ibrügger Silvia Schmidt (Eisleben) Hans Raidel Dr. Hans-Peter Bartels Brunhilde Irber Heinz Schmitt (Landau) Dr. Peter Ramsauer Sören Bartol Johannes Jung (Karlsruhe) Carsten Schneider (Erfurt) Peter Rauen Sabine Bätzing Olaf Scholz Johannes Kahrs Reinhard Schultz Uwe Beckmeyer Ulrich Kasparick (Everswinkel) Dr. Klaus Uwe Benneter Dr. h. c. Susanne Kastner Swen Schulz (Spandau) Franz Romer Ute Berg Ulrich Kelber Johannes Röring Hans-Ulrich Klose Dr. Angelica Schwall-Düren Kurt J. Rossmanith (Heidelberg) Astrid Klug Dr. Martin Schwanholz Dr. Norbert Röttgen Volker Blumentritt Dr. Bärbel Kofler Rolf Schwanitz (Weiden) Gerd Bollmann Walter Kolbow Rita Schwarzelühr-Sutter Peter Rzepka Dr. Gerhard Botz Fritz Rudolf Körper Jörg-Otto Spiller Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Brandner Karin Kortmann Dr. Ditmar Staffelt Hermann-Josef Scharf Rolf Kramer Dieter Steinecke Dr. Wolfgang Schäuble (Hildesheim) Anette Kramme Andreas Steppuhn Dr. Edelgard Bulmahn Nicolette Kressl Karl Schiewerling Ulla Burchardt Volker Kröning Christoph Strässer Georg Schirmbeck Angelika Krüger-Leißner Dr. Peter Struck 19516 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Joachim Stünker Gisela Piltz FDP BÜNDNIS 90/ (C) Jörg Tauss Frank Schäffler DIE GRÜNEN Uwe Barth Jella Teuchner Dr. Dr. Edmund Peter Geisen Bettina Herlitzius Dr. h. c. Winfried Hermann Jörn Thießen Dr. Hermann Otto Solms Joachim Günther (Plauen) Franz Thönnes Dr. Rainer Stinner Heinz-Peter Haustein Peter Hettlich Rüdiger Veit Carl-Ludwig Thiele Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Anton Hofreiter Simone Violka Florian Toncar Jürgen Koppelin Ute Koczy Jörg Vogelsänger Dr. Guido Westerwelle Sylvia Kotting-Uhl Dr. Marlies Volkmer Dr. Claudia Winterstein DIE LINKE Markus Kurth Hedi Wegener Dr. Volker Wissing Hüseyin-Kenan Aydin Monika Lazar Andreas Weigel Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Dietmar Bartsch Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Petra Weis Karin Binder Gunter Weißgerber BÜNDNIS 90/ Dr. Lothar Bisky Hans-Christian Ströbele Gert Weisskirchen DIE GRÜNEN Dr. Harald Terpe (Wiesloch) Kerstin Andreae Eva Bulling-Schröter fraktionslose Dr. Rainer Wend Marieluise Beck (Bremen) Dr. Abgeordnete Lydia Westrich Cornelia Behm Roland Claus Dr. Birgitt Bender Sevim Dağdelen Henry Nitzsche Andrea Wicklein Alexander Bonde Dr. Diether Dehm Gert Winkelmeier Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Thea Dückert Werner Dreibus Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Uschi Eid Dr. Dagmar Enkelmann Engelbert Wistuba Enthalten Hans Josef Fell Klaus Ernst Heidi Wright Priska Hinz (Herborn) Wolfgang Gehrcke CDU/CSU Fritz Kuhn Diana Golze Manfred Zöllmer Anna Lührmann Brigitte Zypries Dr. Nicole Maisch Heike Hänsel Dr. Omid Nouripour Renate Blank FDP Lutz Heilmann Krista Sager Hans-Kurt Hill Manfred Kolbe Jens Ackermann Cornelia Hirsch Dr. Karl Addicks Inge Höger SPD Nein Dr. Barbara Höll (Münster) (Wismar) Ulla Jelpke Rainer Brüderle CDU/CSU Dr. Lukrezia Jochimsen (B) Dirk Manzewski (D) Wolfgang Börnsen Katja Kipping Dr. Wilhelm Priesmeier Monika Knoche Patrick Döring (Bönstrup) Wolfgang Spanier Herbert Frankenhauser Jan Korte Mechthild Dyckmans Katrin Kunert Jörg van Essen Dr. BÜNDNIS 90/ Norbert Schindler DIE GRÜNEN Ulrike Flach Michael Leutert Otto Fricke Willy Wimmer (Neuss) Ulla Lötzer Volker Beck (Köln) Paul K. Friedhoff Dr. Gesine Lötzsch Ekin Deligöz Dr. SPD Ulrich Maurer Kai Gehring Hans-Michael Goldmann Dr. Lale Akgün Dorothée Menzner Katrin Göring-Eckardt Dr. Christel Happach-Kasan Kornelia Möller Britta Haßelmann Ingrid Arndt-Brauer Ulrike Höfken Birgit Homburger Kersten Naumann Bärbel Höhn Dr. Werner Hoyer Wolfgang Nešković Dr. Axel Berg Thilo Hoppe Dr. Renate Künast Hellmut Königshaus Marco Bülow Petra Pau Undine Kurth (Quedlinburg) Gudrun Kopp Dr. Bodo Ramelow Jerzy Montag Heinz Lanfermann Renate Gradistanac Elke Reinke Dr. Reinhold Hemker Paul Schäfer (Köln) Kerstin Müller (Köln) Harald Leibrecht (Essen) Volker Schneider Winfried Nachtwei Ina Lenke Ernst Kranz (Saarbrücken) Brigitte Pothmer Michael Link (Heilbronn) Jürgen Kucharczyk Dr. Herbert Schui Claudia Roth (Augsburg) Markus Löning Helga Lopez Dr. Ilja Seifert Elisabeth Scharfenberg Horst Meierhofer Lothar Mark Dr. Petra Sitte Christine Scheel Patrick Meinhardt Sönke Rix Frank Spieth Jan Mücke Dr. Margrit Spielmann Dr. Kirsten Tackmann Rainder Steenblock Dirk Niebel Dr. Rainer Tabillion Dr. Silke Stokar von Neuforn Hans-Joachim Otto Dr. Jürgen Trittin (Frankfurt) Waltraud Wolff Jörn Wunderlich Wolfgang Wieland Cornelia Pieper (Wolmirstedt) Sabine Zimmermann Josef Philip Winkler Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19517

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Enak ben ist, der Eisenbahnverkehr könnte nicht mehr funk- (C) Ferlemann von der CDU/CSU-Fraktion. tionieren, wenn sich der Staat zurückzieht. Es wird funk- tionieren, wenn die Nachfrage da ist. Die Nachfrage ist (Beifall bei der CDU/CSU) sofort da, wenn es ein gutes Angebot gibt. Das ist wie mit dem Huhn und dem Ei. So wird es hier auch sein. Sie Enak Ferlemann (CDU/CSU): können davon ausgehen, dass es findige Bahnmanager Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten vielleicht auch außerhalb der DB AG geben wird, die Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Verkehre betreiben werden. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Herr Hermann für Bündnis 90/Die Grünen den Antrag zurückzieht, den Außerdem glauben Sie, dass es ein spezielles Gesetz Börsengang der Bahn zu verschieben. Die Linken haben geben müsse, um dies alles zu regeln. Hier kann ich Sie von den Grünen, denke ich, abgeschrieben und das Glei- beruhigen: Die Große Koalition befindet sich in der End- che beantragt. Der Börsengang ist aufgrund der derzeiti- phase ihrer Beratungen über die Leistungs- und Finan- gen Lage an den internationalen Börsen verschoben wor- zierungsvereinbarung. Wir werden diese Leistungs- und den. Von daher sind die Anträge obsolet. Sie machen im Finanzierungsvereinbarung noch in diesem Jahr in den Moment überhaupt keinen Sinn. Ausschüssen beraten und beschließen können, damit sie nach Möglichkeit am 1. Januar 2009 in Kraft treten An dieser Stelle merke ich an, dass die Fraktion kann, egal, ob die DB AG bis dahin teilprivatisiert ist Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf des Bundes- oder nicht. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinba- rates eins zu eins übernommen hat. Es ist also nicht Ihr rung gibt uns eine Möglichkeit zur Steuerung unserer In- Werk, sondern ausschließlich das des Bundesrates. frastruktur, wie wir sie als Parlamentarier bisher noch Wahrscheinlich wollen die Grünen hier besonders deut- nie hatten. Alle von Ihnen vorgetragenen Sorgen werden lich machen, für wie gut sie die Politik des Bundesrates in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung be- in dieser Frage halten und dass sie die Sorge teilen, die rücksichtigt. Teilprivatisierung könnte möglicherweise dazu führen, dass der Fernverkehr in Deutschland reduziert wird und (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE durch Regionalverkehre ersetzt werden müsste. Das ist GRÜNEN]: So schwach, wie Sie in Verhand- aber grundlegend falsch. Herr Hermann weiß es auch; lungen sind, können Sie sich überhaupt nicht denn er ist einer der wenigen von den Grünen, die ver- durchsetzen!) standen haben, wie die Bahnreform funktioniert. Dies – Herr Kollege Hofreiter, Sie haben doch noch nicht ein- will er nach außen natürlich nicht darstellen, weil er es mal gewusst, was eine Leistungs- und Finanzierungsver- mit der Ideologie der grünen Bahnpolitik nicht in Über- einbarung ist, als wir sie schon beraten haben. (B) einstimmung bringen kann. (D) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der SPD) Wir haben ab 2010 einen europäischen Fernverkehrs- Nun tun Sie doch nicht so, als verstünden Sie etwas da- markt auf der Schiene zu gewärtigen. Wie es heute schon von. Warten Sie einmal ab, bis die Leistungs- und Finan- beim Güterfernverkehr der Fall ist, werden wir ihn auch zierungsvereinbarung vorliegt. beim Personenfernverkehr auf der Schiene erhalten. Die- sen Umstand ignorieren Sie ebenso wie der Bundesrat. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Sie malen das Abklemmen von Mittelzentren und von GRÜNEN]: Reden Sie mal mit Managern der Oberzentren an die Wand. Warum dies nicht eintreten Privatbahnen, was die von der Leistungs- und wird, kann man relativ einfach erklären: All die Ver- Finanzierungsvereinbarung halten!) kehre, deren Betrieb für ein Wirtschaftsunternehmen ei- Sie kennen sie doch noch gar nicht. Sie pöbeln hier nen Anreiz darstellen, werden ab 2010 auch durch an- schon gegen etwas herum, was Sie gar nicht kennen. dere Unternehmen realisiert werden können. Sie glauben Bleiben Sie ganz ruhig! Sie werden das Papier schon immer, dass Sie überall nur die weißen Züge mit dem ro- rechtzeitig zugeleitet bekommen. Ich warte dann auf ten Banner sehen werden, auf dem „DB“ steht. Das wird Ihre qualifizierten Einwendungen. Wir werden sie be- sich ab 2010 radikal ändern. Viele andere Gesellschaften handeln, aber wie immer wahrscheinlich auch ablehnen werden in Deutschland Personenfernverkehr auf der müssen, weil Ihre Vorschläge einfach nicht substanziell Schiene betreiben: SNCF, ÖBB, SBB, aber auch Regio- einzuarbeiten sind. nalgesellschaften wie Veolia und Metronom, die nur Nahverkehr betreiben, werden in diesen Markt einstei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen. Es ist im Rahmen der Bahnreform von der Koali- neten der SPD) tion gewollt, dass es eine Konkurrenz gibt, damit ein gu- Auch bei einem anderen Thema, Herr Kollege tes Angebot zu mehr Verkehr auf der Schiene führt. Hermann, unterscheiden wir uns, nämlich bei der An- (Beifall des Abg. Patrick Döring [FDP] – reizregulierung. Sie gehören einem erlauchten Gremium Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an, dem auch ich angehöre. Dort haben wir dieses NEN]: Nur wenn es sich rechnet!) Thema sehr kontrovers diskutiert. Die zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe ma- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen keinen Sinn, wenn man die Bahnreform richtig NEN]: Sehr gut für den Wettbewerb! – Zurufe durchdrungen hat und nicht immer von der Sorge getrie- von der SPD) 19518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Enak Ferlemann (A) – Falls jemand es nicht weiß: Damit ist die Bundesnetz- nicht bereitstellen können, also das Geld aus der Privati- (C) agentur gemeint. Dort ist auch klargelegt worden, dass sierung. Last, but not least soll diese Privatisierung einen wir in 2009 keine Anreizregulierung bekommen werden, Teil zur Haushaltskonsolidierung beitragen. weil es allein drei Jahre Zeit kostet, um dieses System zu Wenn wir das Geld aus der Privatisierung nicht be- implementieren. Wir müssen uns auch Zeit nehmen, dies kommen – ein Drittel aus den Erlösen soll in die Kapital- richtig zu machen. erhöhung fließen –, dann müsste dieses Geld vom Bun- Da haben wir nicht mehrere Chancen; der erste Ver- deshaushalt bereitgestellt werden. Da müssen Sie mir such muss gleich zum Erfolg führen. Deswegen wird die einmal sagen, wo Sie dieses Geld im Verkehrsetat gene- Anreizregulierung nicht Bestandteil der Leistungs- und rieren wollen. Wir haben ohnehin zu wenig Geld für Finanzierungsvereinbarung sein. So viel kann ich Ihnen Straßen, Schienen, Wasserwege. Da beißt die Maus kei- aus den internen Beratungen sagen. nen Faden ab, auch wenn Sie die Diskussion noch ein- mal vom Zaun brechen wollen: Wir werden die Bahn Aber Ihr Infrastrukturzustandsbericht mit allem, was teilprivatisieren. Welcher Zeitpunkt dafür günstig ist, Sie wünschen, wird in der Leistungs- und Finanzie- wird das Finanzministerium gemeinsam mit dem Vor- rungsvereinbarung enthalten sein. Sie werden damit stand entscheiden. Wir werden uns in den kommenden recht zufrieden sein können, wenn sie vom Ministerium Ausschusssitzungen leider Gottes mit Ihren Anträgen vorgelegt wird. Die Endberatungen sind abgeschlossen. und den Gesetzentwürfen beschäftigen müssen. Das Ich glaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg. sieht das parlamentarische Verfahren so vor. Aber auf (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE unsere Unterstützung für diese Vorhaben brauchen Sie GRÜNEN]: Das glauben Sie!) nicht zu hoffen. Sie kritisieren, dass es sein könne, dass durch die Pri- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) vatisierung nicht genügend Geld hereinkommt. Da gebe ich Ihnen sogar recht. Die Christdemokraten hätten sich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gewünscht, einen größeren Prozentsatz der DB ML zu Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der privatisieren. FDP-Fraktion. (Lachen bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Daraus machen wir keinen Hehl, weil wir es für sinnvoll halten, bis zu 49,9 Prozent zu privatisieren. Aber in einer Patrick Döring (FDP): Koalition muss man eben Kompromisse schließen. Un- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ser Partner hat nur einer Privatisierung bis 24,9 Prozent Diskussion über den Börsengang der Deutschen Bahn (B) (D) zugestimmt. Darauf haben wir Rücksicht genommen; AG führen wir hier nicht zum ersten Mal. aber wir könnten uns auch mehr vorstellen. Bei einer (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) größeren Beteiligung könnte auch mehr Geld für den Staatshaushalt generiert werden. Die Finanzkrise war ein Anlass, darüber nachzudenken, ob der jetzige Zeitpunkt tatsächlich klug gewesen wäre. Die ewig gleiche Frage ist: Warum macht ihr das? – Ich glaube, allen Kolleginnen und Kollegen ist klar ge- Wir machen das nicht, um Menschen zu verärgern oder wesen, dass dem nicht so gewesen wäre. Man kann sich um Unruhe in das System Bahn zu bringen. Vielmehr glücklich schätzen, dass auch der Vorstand der DB AG braucht die DB AG ganz einfach Finanzkraft, das so gesehen hat. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich wundere mich allerdings, dass bereits heute über NEN]: Die kriegt sie dort gerade nicht!) einen Börsengang im November spekuliert wird. Ich um den Wettbewerb der Eisenbahnunternehmen, wie ich habe das Gefühl, manche können es nicht erwarten. Wer ihn Ihnen geschildert habe, in Europa ab 2010 im Fern- die DAX-Entwicklung von Montag bis heute beobachtet verkehr zu bestehen. Das gilt heute bereits für den Gü- hat, kann keineswegs Entwarnung oder eine Verbesse- terfernverkehr. Dafür werden Lokomotiven, Züge, Infra- rung der Stimmung feststellen. Deshalb rate ich allen strukturen benötigt, und das muss finanziert werden. Der sehr, auch dem weltbekannten Börsenexperten und ge- Staat hat das Geld dafür nicht. schätzten Kollegen Georg Brunnhuber, der sich dazu verbreitet, keine neue Termindiskussion zu beginnen, (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern abzuwarten. NEN]: Bei 75 Prozent müssen Sie doch über- wiegend selber zahlen!) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deswegen ist die Teilprivatisierung notwendig. Wir brauchen Geld für den Erwerb der Züge, für die Infra- Damit sind wir bei der Frage, was bis dahin gesche- struktur, für Schienenwege, für die Sanierung von Bahn- hen wird. Ich nehme zum Beispiel den bereits fertig ge- höfen, für den Lärmschutz. Lärmschutz ist angesichts stellten Emissionsprospekt mit Interesse zur Kenntnis. des steigenden Zugverkehrs auf den Strecken ein riesi- Darin werden Dividendenzahlungen für private Investo- ges Thema für die Bürger, die dort leben. Die Bürger fra- ren sowie die übrigen Aktionäre – das ist mittelbar dann gen händeringend, wann die Lärmschutzwand oder das ja wohl der Bund – avisiert. Diese sind geradezu traum- besonders überwachte Gleis und anderes mehr kommt. haft. Im Geschäftsjahr 2010 – innerhalb eines Jahres – Dafür brauchen wir Geld, das wir im Staatshaushalt soll fast eine Milliarde Euro an Dividende ausschüttbar Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19519

Patrick Döring (A) sein, so wird dem Investor versprochen. Vor diesem Hin- sich Parallelverkehre auf der Straße nicht entwickeln (C) tergrund kann man fast nur sagen: Dieses Geld kann der dürfen. Es muss mehr Druck auf die Tube. Dann werden Bundeshaushalt gut gebrauchen – zumindest die die am Potsdamer Platz auch besser. Dafür müssen wir 75 Prozent davon, die dem Bund zustehen würden – und uns einsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. für sinnvolle Investitionen an der Schiene zusätzlich ein- setzen. Allein mir fehlt der Glaube, dass es tatsächlich zu (Beifall bei der FDP) solchen Ertragsentwicklungen in dem Unternehmen Ich glaube, dass die Ausschussberatungen deutlich kommt. machen werden, dass in diesem Jahr – das ist meine feste (Beifall bei der FDP) Prognose – das Fenster für einen Börsengang geschlos- sen ist. Es wird auch geschlossen bleiben. Für die Bera- Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Einer davon tung des Gesetzentwurfes aus dem Bundesrat ist es viel ist tatsächlich der Fernverkehr, zu dem ich gleich kom- zu früh. Warten wir zunächst ab. Wir werden einen gu- men werde. Ein anderer Grund ist natürlich, dass wir ten, effizienten und besseren Fernverkehr auf der ganz genau wissen, dass die Eigenkapitalsituation des Schiene bekommen, wenn es mehr Wettbewerber gibt. Unternehmens nicht so rosig ist. Das ist der wahre Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten. Grund, weshalb es am Ende richtig ist, private Investo- ren zu suchen und zu finden. Man muss aber einen Wert Herzlichen Dank. für das Unternehmen erzielen, der das widerspiegelt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten was die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler seit Beste- der CDU/CSU) hen der Republik in dieses Unternehmen investiert ha- ben. Deshalb ist ein Verkauf unter Wert in dieser Phase Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht möglich. Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Beckmeyer von (Beifall bei der FDP) der SPD-Fraktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wird denn im (Beifall bei der SPD) Fernverkehr passieren? Da bin ich ganz beim Kollegen Ferlemann. Diese Gesetzentwürfe des Bundesrates und Uwe Beckmeyer (SPD): der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sind vielleicht ir- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- gendwann einmal notwendig. Nun warten wir doch erst ren! Wenn man den Redebeiträgen folgt, hat man den einmal ab, was infolge des Wettbewerbs passiert. Warten Eindruck, es werden Phantomdebatten geführt. Wenn wir ab, was passiert, wenn alle anderen Eisenbahnunter- man sich ein bisschen über das aktuelle Tagesgeschehen nehmen Fernverkehr auf der Schiene anbieten können. (B) informiert, dann wird man feststellen, dass der Bundes- (D) Warten wir ab, ob es Interessenten gibt, die die Strecken, finanzminister, nachdem er bereits in der vergangenen die der Konzern am Potsdamer Platz nicht mehr fahren Woche eine klare Haltung zum Börsengang eingenom- will, fahren wollen, und das mit Gewinn, wenn sie ent- men hat, heute erneut klargestellt hat, dass der Bahn- sprechend viele Fahrgäste finden. Börsengang zurzeit nicht auf der Tagesordnung steht, Wenn es am Ende dieses wettbewerblichen Prozesses weil die Märkte dies in keiner Weise hergeben. dazu kommen sollte, dass breite Teile der Bevölkerung Herr Hermann, bitte suggerieren Sie aber nicht, der – diese werden repräsentiert durch die direkt und über Deutsche Bundestag hätte noch keinen entsprechenden Listen gewählten Abgeordneten dieses Hauses – das Ge- Beschluss gefasst; er hat einen Beschluss gefasst. Der fühl haben, dass der grundgesetzliche Auftrag aus Beschluss steht. Der Deutsche Bundestag hat einen ein- Art. 87 e des Grundgesetzes nicht mehr gewährleistet ist, deutigen Auftrag an die Bundesregierung formuliert. In- dann allerdings müssen wir in der Tat darüber sprechen, sofern sollte man jetzt nicht erneut Handlungsbedarf ein- ob wir als Bund Fernverkehr bestellen müssen. Vorher fordern. Dieser Handlungsbedarf ist bereits erledigt. Wir muss aber doch erst einmal Wettbewerb in das System. haben am 30. Mai 2008 in diesem Haus klare Beschlüsse Wir werden sehen, welche Strecken lukrativ durch die im Zusammenhang mit dem Koalitionsantrag „Zukunft DB AG oder andere Unternehmen fahrbar sind. Ich der Bahn, Bahn der Zukunft – Die Bahnreform weiter- denke, der Nahverkehr ist der Beweis dafür, dass Wett- entwickeln“ gefasst. bewerb nicht weniger, sondern mehr und besseren Ver- kehr auf der Schiene organisiert. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist kein Gesetz!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Deutsche Bundestag hat am 21. November 2006 Deshalb ist es natürlich geradezu notwendig, dass die Ziele zu der Leitidee formuliert, was mit der Bahn zu- geschätzten Kollegen der Koalition dem Antrag der künftig passieren muss. Das war ebenfalls ein Auftrag an FDP-Fraktion – wir werden dazu noch eine Anhörung die Bundesregierung bzw. an das Bundesverkehrsminis- im Ausschuss durchführen –, auch für die Busse Wettbe- terium. werb auf den Fernverkehrsstrecken zuzulassen, zustim- men, Zu diesen Zielen stehen wir. Diese Ziele sind klar und eindeutig. Wenn Sie jetzt so tun, als seien Sie die Erfin- (Beifall bei der FDP) der der Ziele der Deutschen Bahn AG, kann ich nur sa- weil es nicht vernünftig sein kann, ein wettbewerbliches gen: Schauen Sie in unsere Papiere. Darin fordern wir System nur auf der Schiene zu wollen und zu sagen, dass mehr Verkehr, eine Attraktivitätsverbesserung, gute 19520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Uwe Beckmeyer (A) Bahnhöfe und Lärmschutz. All die einschlägig bekann- spielsweise zu der Aussage: „Trier wird vom Fernver- (C) ten Dinge, die wir im Ausschuss sehr intensiv beraten kehr abgehängt.“ Weshalb sollte man eigentlich eine Re- haben, sind dort fundamental niedergelegt. Wir haben gion wie die an der Mosel, in der der Tourismus wirklich dazu eindeutige Beschlusslagen. boomt, vom Fernverkehr abhängen? Die Leute von der Bahn müssten ja dumm sein, wenn sie dort keinen Fern- Wir haben heute etwas ganz anderes zu beraten: den verkehr mehr anbieten würden. Das sind doch gute Gesetzentwurf des Bundesrates – die Bundesratsbank ist Kaufleute. leider komplett –, den Sie, wie Herr Ferlemann rich- tig erwähnt hat, eins zu eins abgekupfert haben; sogar (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Rechtschreibfehler haben Sie übernommen. Das NEN]: Leider ist es so!) Thema ist eindeutig. Der Bundesrat hat die Haltung ein- Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Kol- genommen, dass die Länder bzw. der Bundesrat bei der lege Ferlemann hat darauf hingewiesen, dass es sich hier Frage der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung um einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Mitwirkungsmöglichkeiten wollen. land und der DB AG handelt und nicht um ein Gesetz. Jetzt muss man aufpassen: Im Grundgesetz ist ziem- Der Vertrag beinhaltet ein ganz neues Element: Wir ge- lich klar dargelegt, wofür die Länder zuständig sind und ben jährlich, wie auch in der Vergangenheit, 2,5 Milliar- wofür der Bund zuständig ist. Der Bund ist eindeutig zu- den Euro. Wir werden in diesem Vertrag minutiös festle- ständig für die Schienenwege, für die Eisenbahnen des gen, in welcher Form diese 2,5 Milliarden Euro zu Bundes, für die Infrastruktur, für den Nahverkehr, indem verwenden sind, was Pünktlichkeit, Qualität und all das er den Ländern Geld gibt, und für den Fernverkehr. Wir betrifft, was in diesem Bereich abgeklärt und festgelegt haben 1993 nach der ersten Reform der Deutschen Bahn, werden muss. nach dem Zusammenschluss der Reichsbahn und der Wir befinden uns – das ist bereits gesagt worden – in Bundesbahn und den damit einhergehenden Reformbe- den abschließenden Beratungen zwischen den Fraktio- schlüssen, festgestellt, dass es ein eigenwirtschaftlicher nen und dem Hause. Wir werden demnächst eine Anhö- Prozess sein soll, Fernverkehr anzubieten. Damit hat die- rung dazu beantragen. Zur Anhörung werden die ent- ses Haus eine Richtung vorgegeben. Es wurde klarge- sprechenden Papiere vorliegen. Es ist wichtig, dass wir stellt, dass es im Fernverkehr keinen Bestellverkehr gibt, darüber ausführlich beraten. Ich denke, die Forderung, wie es ihn im Nahverkehr gegeben hat und auch noch den Ländern Beteiligungs- und Mitspracherechte oder heute gibt. Das ist der klassische Unterschied. sogar das Recht zur Übernahme von Verantwortung für (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Infrastruktur von Teilnetzen einzuräumen, ist mit NEN]: Das ist der klassische Selbstbetrug!) dem, was uns das Grundgesetz auferlegt, nicht vereinbar. (B) (D) Weshalb ist das so? Um Flexibilität zu erzielen und zu Zur gesetzlichen Gewährleistung des Schienenperso- erhalten und dem Kunden gerecht zu werden. Ich denke, nenfernverkehrs habe ich bereits gesagt, dass der Deut- dies ist einer der wesentlichen Aspekte in diesem Zu- sche Bundestag 1993 das Prinzip des Vorrangs für die sammenhang, den wir noch einmal herausarbeiten müs- Eigenwirtschaftlichkeit des Personenfernverkehrs auf sen. dem Schienennetz festgelegt hat. Ich glaube, dabei soll- ten wir unbedingt bleiben. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der Fernverkehr sollte eigenwirtschaft- Will man die Bilanz der Bahn eigentlich immer nur lich sein! Er ist es nicht! Das wissen Sie doch! schlechtreden und denen vom Potsdamer Platz, wie ge- Quersubventionierung der Bahn!) sagt worden ist, eigentlich alles Schlechte an den Hals wünschen oder möglicherweise auch unterstellen? Dazu Das Zweite ist: Immer wenn wir gewisse Anhörungen möchte ich sagen: So schlecht sind die gar nicht. Denen durchführen, kommen einige Herren, die sich als Gut- muss zwar immer auf die Finger geschaut werden – das achter verkleiden, daher und erklären uns die Welt. ist richtig, und das tun wir pausenlos: bei Sicherheit, bei Diese Damen und Herren, die wir ja schon einschlägig Finanzierung, bei der Frage, wie viel Geld sie kriegen kennen, die uns mit irgendwelchen Vorgutachten irritie- und was sie dafür leisten –, aber: 1994 kostete ein Mitar- ren wollen und deren Hauptgutachten bis zum heutigen beiter der DB AG umgerechnet 31 000 Euro. Die Wert- Tage, also seit fünf oder sechs Monaten, „pending“ sind, schöpfung pro Mitarbeiter lag damals bei nur 28 000 also nicht vorhanden sind, erklären uns dann – dies wird Euro. Das war also ein reines Zuschussgeschäft, wenn dann teilweise von den Medien gedruckt –, wie sich der man es ökonomisch betrachtet. 2006 lagen die Kosten Fernverkehr in Deutschland zukünftig entwickelt. Ich pro Mitarbeiter bei 43 000 Euro, die Wertschöpfung lag habe bisher keinen einzigen Beleg von einem gewissen aber schon bei 54 000 Euro. Daran erkennt man den Turn- Herrn vorliegen, der noch nicht einmal Geschäftsführer around. Dieses Unternehmen hat plötzlich eine sehr viel dieses Instituts mit den drei Buchstaben ist, sondern nur höhere Wertschöpfung erreicht. Dazu kann man als Ei- Berater. Ich habe heute im Internet gelesen, dass man gentümer doch nur sagen: Hut ab! Das ist eine gute Leis- dort eine Seniorberaterstelle vorsieht. Das brauchen sie tung. Die muss man auch einmal benennen. wahrscheinlich auch, damit dort endlich einmal Qualität hineinkommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich kann nur feststellen: Es gibt noch ein großes Fra- gezeichen, ob tatsächlich belegt werden kann, was dort Herr Döring, Sie sprachen den Parallelverkehr mit behauptet wird. Ich habe ganz andere Informationen bei- Bussen an. Weshalb stärken wir eigentlich den Bereich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19521

Uwe Beckmeyer (A) Schiene? Weshalb wollen wir mehr Verkehr auf die dieser Krise wenigstens schlau genug, den Börsengang (C) Schiene bringen? Wir führen doch nicht an dem einen der DB AG erst einmal zu verschieben. Tag Diskussionen über das Klima und an einem anderen (Beifall bei der LINKEN) Tag Diskussionen über die DB und den Fernverkehr, ohne dass wir von der jeweils anderen Diskussion etwas Verschieben reicht aber nicht. Die Bahn gehört nicht an wissen. Wenn wir den CO2-Ausstoß reduzieren wollen, die Börse. Das haben wir von der Linken immer gesagt, dann müssen wir damit doch bei der Schiene anfangen. und dabei bleiben wir. Wir müssen den Bereich Schiene stärken, die Schiene (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der quasi ertüchtigen, damit der CO -Ausstoß auch im Fern- 2 CDU/CSU: Dann hätten Sie das beantragen verkehr in Deutschland reduziert wird. Herr Döring, ich müssen!) denke, das ist wichtig. Daran muss man auch denken, wenn man solche Bocksprünge macht wie Sie heute Unsere Bahn darf nicht Renditeinteressen unterworfen Nachmittag. werden. Der Bahn-Börsengang muss endlich vollständig abgesagt werden. Darin liegt die Differenz zum Antrag (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der Grünen. CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Auch! Das eine tun, das andere nicht lassen!) (Beifall bei der LINKEN) Wir Sozialdemokraten haben zur Thematik „Börse“ Aktuell vertreten wir diese Forderung in diesem Haus immer gesagt: Wir haben einen klaren Auftrag, aber wir noch allein. Inzwischen teilen aber 90 Prozent der Men- werden kein Eigentum des deutschen Volkes verscher- schen diese Ansicht. Das sind die Menschen, deren Inte- beln. Dabei bleibt es. Der Bundesfinanzminister hat ressen wir hier eigentlich zu vertreten haben. noch verantwortlich gehandelt, als er in der letzten Wo- Wir diskutieren heute aber auch über einen Gesetzent- che eine klare Position dazu eingenommen hat. Er hat sie wurf des Bundesrates; das wurde bereits angesprochen. heute bestätigt. Diese klare Position ist: Es wird erst Dieser hat den durchaus verräterischen Titel „Entwurf dann wieder an einen Börsengang gedacht, wenn die eines Gesetzes zur Sicherstellung von Eisenbahninfra- Märkte einen ordentlichen Preis hergeben. Das ist es, strukturqualität und Fernverkehrsangebot“. Der Börsen- was wir alle wollen. Wir wollen das Geld ja nicht ein- gang bedroht also die Infrastruktur und das Fernver- fach in einen Schrank legen, sondern wir haben eine Ei- kehrsangebot? Wen sollte das überraschen? In seinem genkapitalerhöhung vor, wollen die Kapazität erhöhen, Gesetzentwurf benennt der Bundesrat auch gleich eine die Schiene ertüchtigen, den Lärm vermeiden und das Alternative. Wie alle wissen, ist der Bundesrat beileibe Gesicht der Bahn verbessern, sprich: die Bahnhöfe. Mit nicht von den Linken dominiert. Als Alternative benennt dem, was wir an der Börse an zusätzlicher Finanzkraft er den Verzicht auf die Kapitalprivatisierung der DB AG. (B) (D) bekommen, haben wir viel vor. Ich denke, das wird uns Genau das ist die Alternative. gelingen – ich bin da ganz zuversichtlich –, wenn nicht heute, dann in der Zukunft. (Beifall bei der LINKEN) Seit es darum geht, die Bahn kapitalmarktfähig zu Herzlichen Dank. machen, erlebten wir in den letzten Jahren eine Ausdün- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nung des Fernverkehrsnetzes. Das muss durch den Ein- satz von immer mehr Regionalzügen, die von den Län- dern gestellt werden, kompensiert werden. Ganze Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Regionen wurden und werden vom Fernverkehr abge- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothée Menzner schnitten. Außerdem ist es zu zahlreichen und lauter von der Fraktion Die Linke. werdenden Klagen gekommen, unter anderem zu Klagen der Verkehrsverbünde über den Zustand des Schienen- (Beifall bei der LINKEN) netzes.

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Daraus kann nur eine einzige Schlussfolgerung gezo- gen werden: Wo es um Rendite geht, bleibt die Mobilität Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen von Gütern und Menschen auf der Strecke. und Kollegen! Liebe Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Zurufe von der CDU/CSU: Hui!) Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen: Wir diskutieren im Rahmen einer sehr ungewöhnlichen Der polnische Sejm beschloss kürzlich, Gelder für die Sitzungswoche, einer der ungewöhnlichsten der ver- Verbesserung der Eisenbahnfernverkehrsverbindungen gangenen Jahre, in einer Woche, in der nicht nur unsere Polen–Berlin und Polen–Dresden bereitzustellen. Die Arbeit, sondern auch die Ängste, Unsicherheiten und DB AG sperrte sich aber, da mit diesen Fernzügen keine Überlegungen der Menschen maßgeblich durch die Fi- Rendite von 14 Prozent erzielt werden kann. Eine Rendi- nanzkrise und die daraus möglicherweise resultierende teerwartung von 14 Prozent ist eine Renditeerwartung an Wirtschaftskrise geprägt sind, über die Deutsche Bahn. sogenannte innovative Finanzprodukte: an Swaps, Futures und all die Dinge, die die Mehrzahl von uns vor ein paar Die Große Koalition, die mit aller Macht und vielen Wochen wahrscheinlich noch gar nicht kannte. Tricks monatelang das Verscherbeln unserer Bahn, eines in Jahrzehnten und über Generationen hinweg aufgebau- (Patrick Döring [FDP]: Von denen Sie nach ten Volksvermögens, vorangetrieben hat, war angesichts wie vor nichts verstehen!) 19522 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dorothée Menzner (A) Dies sind aber keine Renditen, die in der realen Wirt- Partnerschaftliche Unternehmenskultur stär- (C) schaftswelt, in Industrie und Handel im Normalfall dau- ken – Mitarbeiterbeteiligung fördern erhaft erzielt werden, schon gar nicht im Schienenperso- – Drucksachen 16/2653, 16/4599 – nenfernverkehr. Berichterstattung: (Patrick Döring [FDP]: Die Bahn macht mehr Abgeordneter Dr. Michael Fuchs als Personenfernverkehr!) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Dies gilt auch im Hinblick auf die innovativen Finanz- Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig produkte. Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion In diesen Tagen wird Folgendes deutlich – wenn wir der FDP nicht aufpassen, wird sich das bei der Bahn wiederho- Mitarbeiterbeteiligung – Eigenverantwortli- len –: Die Zeche zahlt letztendlich der Steuerzahler und che Vorsorge stärken zahlen damit alle Menschen im Land. – Drucksache 16/9337 – (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Überweisungsvorschlag: CDU/CSU: Was denn für eine Zeche?) Finanzausschuss (f) Genau deswegen fordern wir die endgültige Absage des Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Bahn-Börsengangs, die Wiederherstellung des Einflus- ses des Eigentümers auf das Management der DB AG Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und ihrer Tochterfirmen, ein flächendeckendes Verkehrs- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Ausspra- angebot, gerade in der Sparte Fernverkehr – das muss che ist verkürzt worden, damit wir anschließend die Son- gesetzlich verankert sein –, dersitzungen der Fraktionen durchführen können. Ich bitte, diese halbe Stunde noch mitzumachen und die (Beifall bei der LINKEN) Sondersitzungen dann etwas verspätet einzuleiten. – Es und nicht zuletzt faire Arbeitsbedingungen und Beschäf- gibt dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so be- tigungssicherung für die Mitarbeiter der DB AG. schlossen. Danke. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes (Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer das Wort. [SPD]: Das macht weitere 10 Milliarden (B) Euro!) Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (D) minister für Arbeit und Soziales: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe die Aussprache. Teilhabe und Mitbestimmung sind wesentliche Elemente unserer sozialen Marktwirtschaft. Deshalb wollen wir Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Drucksachen 16/9797, 16/9903, 16/10455 und 16/10525 mern am Gewinn und am Kapital der Unternehmen in an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Deutschland stärken. Hierzu haben die Koalitionspar- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann teien ein gemeinsames Modell entwickelt, das wir jetzt sind die Überweisungen so beschlossen. mit dem Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz umsetzen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie wollen. Zusatzpunkt 5 auf: Es gibt gute Gründe, das genau jetzt zu tun. Denn a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wir wollen erstens die Vermögensbeteiligung der Ar- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerli- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ver- chen Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteili- bessern. Wir wollen zweitens die Bindung zwischen den gung (Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz) Unternehmen und ihren Beschäftigten stärken. Das ist zum Vorteil des Betriebes und zum Vorteil der Mitarbei- – Drucksache 16/10531 – terinnen und Mitarbeiter. Aktuelle empirische Studien Überweisungsvorschlag: zeigen uns deutlich, dass gerade Unternehmen, die in- Finanzausschuss (f) novativer und produktiver sind, auch einen höheren An- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie teil an qualifizierten Beschäftigten haben. Gerade ange- Ausschuss für Arbeit und Soziales sichts des demografischen Wandels wird es immer Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO wichtiger, die kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter im Unternehmen zu halten und eine gewisse b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Anziehungskraft für neue Mitarbeiterinnen und Mitar- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- beiter zu erwirken. So gesehen kann dies zum Unter- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- nehmenserfolg beitragen. ordneten Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf (Frankfurt), Kerstin Andreae, weiterer Abgeord- Ich will auch deutlich sagen: Die aktuelle Finanz- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- marktkrise ist kein Argument gegen dieses Vorhaben. NEN Ganz im Gegenteil: Schwierigkeiten auf den Kapital- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19523

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) märkten rufen geradezu danach, eine solide Beteiligung Zukunft an ihren Unternehmen beteiligt. Beide Seiten (C) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. können davon profitieren. Das kann eine gute Win-win- Mit diesem Gesetz wird dazu beigetragen, dass dies für Situation sein: für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- die Unternehmen sinnvoll und stabilisierend passiert. nehmer, weil sie neben dem Tariflohn eine Beteiligung Hier geht es nicht um kurzfristige Spekulationen, son- an ihrem Unternehmen haben und auch von den Unter- dern darum, längerfristige, nachhaltige Anlagen in den nehmensgewinnen profitieren können, und für die Un- Unternehmen zu organisieren. Es geht um Nachhaltig- ternehmen, weil sie von motivierten Mitarbeiterinnen keit und nicht um den schnellen 5-Euro-Blick, dessen und Mitarbeitern sowie einer erhöhten Eigenkapitalaus- Konsequenzen wir in den letzten Wochen leidvoll erlebt stattung profitieren können. haben. Lassen Sie uns gemeinsam die Entscheidung für ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen weiteren Mosaikstein zur sozialen Marktwirtschaft, der CDU/CSU) für eine bessere Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbetei- ligung in den deutschen Unternehmen, treffen. Eine Herausforderung liegt darin, dass uns manche Länder in Europa und anderswo weit voraus sind. Dort ist Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Unternehmensbeteiligung viel stärker verbreitet. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Quoten von 15 bis 30 Prozent der Betriebe, die diese Form der Beteiligung anbieten, sind keine Seltenheit; in Großbritannien sind es 30 Prozent der Betriebe. Deutsch- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: land hinkt da hinterher. Bei uns bieten bislang nur Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von 2 Prozent der Betriebe ihren Mitarbeiterinnen und Mitar- der FDP-Fraktion. beitern Beteiligungen an. Das muss mehr werden. Aber (Beifall bei der FDP – Heinz-Peter Haustein wir wissen auch, woran das gelegen hat. Die Zurückhal- [FDP]: Ein guter Mann!) tung hat damit zu tun, dass es in anderen Ländern bessere Beteiligungswerte gibt, die mit Vergünstigungen bei der Frank Schäffler (FDP): Besteuerung und bei den Abgaben einhergehen, und dass es bislang gerade für die in Deutschland weit verbreitete Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Form der Personenunternehmen manchmal schwierig ren! Mitarbeiterbeteiligung kann eine gute Sache sein. und mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden gewesen Das Vorhaben der Bundesregierung ist aber alles andere ist, eine vernünftige Mitarbeiterbeteiligung zu organisie- als ein Meilenstein der sozialen Marktwirtschaft. Wieder ren. werden durch neue Subventionen Fehlanreize gesetzt, und über Risiken wird hinweggetäuscht. Ihr Vorschlag (B) Hier setzen wir an. Wir wollen, dass die Mitarbeiter- ist deshalb unsystematisch, widersprüchlich und letztlich (D) beteiligung auch für kleine und mittlere Betriebe attrak- auch wirkungslos. tiv wird und dass es unbürokratisch angegangen werden Sie wollen beispielsweise den steuer- und sozialversi- kann. Deshalb machen wir erstens die vermögenswirksa- cherungsfreien Höchstbetrag für Kapitalbeteiligungen men Leistungen mit Blick auf die Mitarbeiterbeteiligung anheben, obwohl die Entwicklung bei den Alters- attraktiver, erhöhen die Sparzulage für Arbeitnehmerin- einkünften in Deutschland hin zu einer nachgelagerten nen und Arbeitnehmer von 18 auf 20 Prozent und die Besteuerung geht. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Einkommensgrenze von 7 900 Euro auf 35 800 Euro. die deutschen Arbeitnehmer zu einem Heer von Kapita- Zweitens bleiben Mitarbeiterbeteiligungen bis zu einer listen werden, nur weil der steuer- und sozialversiche- Höhe von 360 Euro – bislang waren es nur 135 Euro – rungsfreie Höchstbetrag für Kapitalbeteiligungen – Herr künftig steuer- und abgabenfrei. Staatssekretär, Sie haben das gerade selbst erwähnt – auf Neben der direkten Beteiligung werden zukünftig Be- 360 Euro im Jahr angehoben wird. Außerdem werden teiligungen an einem Mitarbeiterbeteiligungssonderver- die staatlichen Zulagen im Zuge der Abgeltungsteuer ab mögen, einem speziellen Fonds, gefördert. Bei diesem dem nächsten Jahr sowieso gekürzt. Fonds muss ein Rückfluss in die beteiligten Unterneh- (Beifall bei der FDP) men in Höhe von 75 Prozent garantiert werden. Wir wol- len natürlich Mitnahmeeffekte ausschließen. Vor diesem Zudem ist der Förderweg falsch. Wenn Mitarbeiterbe- Hintergrund wird die Begünstigung nur dann gewährt, teiligungen sowohl in der Ansparphase als auch in der wenn die Beteiligung zusätzlich zum ohnehin geschulde- Entnahmephase steuer- und sozialversicherungsfrei ge- ten Arbeitslohn aus freiwilligen Leistungen des Arbeit- stellt werden, dann kommt es unweigerlich zur Kanniba- gebers gewährt wird. Sie darf nicht auf bestehende oder lisierung der klassischen Formen der betrieblichen Al- künftige Ansprüche angerechnet werden. Das heißt, Ent- tersvorsorge; geltumwandlungen sind ausgeschlossen. Mit dieser Be- (Beifall bei der FDP) schränkung vermeiden wir auch – das war ja immer ein bisschen das befürchtete Risiko –, dass der Ausbau der denn sie müssen zumindest in der Entnahmephase ver- Mitarbeiterbeteiligung zu einer Konkurrenz für den Auf- steuert werden. bau der privaten oder betrieblichen Altersvorsorge wird. Besser wäre es, die Mitarbeiterbeteiligung nicht iso- Das wird hiermit ausgeschlossen. liert zu betrachten, sondern sie mit dem Ziel der betrieb- Unser Ziel ist es also, mit dem Gesetzentwurf zu er- lichen Altersvorsorge ordentlich abzustimmen; das for- reichen, dass sich gut eine Million Menschen mehr in dern wir in unserem vorliegenden Antrag. Ein wirklicher 19524 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Frank Schäffler (A) Meilenstein wäre es, die weitgehend künstliche Tren- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) nung zwischen betrieblicher Altersvorsorge und Mitar- Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Flosbach von beiterbeteiligung aufzuheben und für beide Formen glei- der CDU/CSU-Fraktion. che Förderwege festzulegen. (Beifall bei der FDP) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Stattdessen bauen Sie den Gemischtwarenladen der der ersten Lesung beschäftigen wir uns heute mit einem Förderwege immer weiter aus und nehmen zusätzlich Gesetz, das die Beschäftigten von Unternehmen in eine Änderungen bei den vermögenswirksamen Leistungen Lage versetzt, sich stärker am Kapital des Unternehmens und beim Kreis der Berechtigten vor. Auch dies geht an – möglichst am eigenen Unternehmen – zu beteiligen. der Wirklichkeit vorbei. Seit Jahren verliert die Förde- Ludwig Erhard hat einmal von einer „Gesellschaft von rung vermögenswirksamer Leistungen in den Betrieben Teilhabern“ gesprochen, und wir in der Koalition neh- zunehmend an Bedeutung. Diese Leistung muss voll men dieses Thema auf und wollen gerade das Angebot versteuert und verbeitragt werden. Deshalb wäre es ver- der Mitarbeiterbeteiligung ausbauen. nünftig, dieses Geld lieber zur Förderung der betriebli- chen Altersvorsorge zu verwenden. Wir meinen, dass für Bisher sind es erst 2 Millionen Arbeitnehmer, die sich die betriebliche Altersvorsorge und für die Beteiligung an ihrem eigenen Unternehmen beteiligen können, ob- der Mitarbeiter am Produktivvermögen künftig die glei- wohl es bereits viele Formen der Beteiligung gibt, so chen steuerlichen und sozialrechtlichen Förderungen beispielsweise Belegschaftsaktien, Genussscheine, Mit- gelten sollten. arbeiterdarlehen oder auch stille Beteiligungen. Wir wol- len – und das ist der Unterschied zur FDP – diese Mitar- (Beifall bei der FDP) beiterbeteiligung weiter ausbauen, Wir wollen den Widerspruch, der aufgrund der unter- (Beifall bei der CDU/CSU) schiedlichen Förderwege besteht, auflösen und das Sys- tem verständlicher machen. Zu diesem Zweck schlagen sie aber nicht – und dies schreibt die FDP in ihrem An- wir die Einführung eines Altersvorsorgekontos vor; un- trag – in die betriebliche Altersversorgung einbauen, und ser Entwurf liegt Ihnen vor. Für die Einzahlungen auf zwar in Höhe von bis zu 4 Prozent der Beitragsbemes- dieses Konto, das ein zertifizierter Sparvertrag zwischen sungsgrenze. Wir nehmen 229 Millionen Euro in die dem Altersvorsorgesparer und einem Produktanbieter Hand, um die Arbeitnehmer zusätzlich an den Unterneh- sein soll, haben wir eine Gewinnbeteiligung der Mitar- men zu beteiligen. beiter, der Arbeitnehmer im Auge, die Sie in Ihrem Mo- (B) Lassen Sie mich kurz auf die geplanten Maßnahmen (D) dell völlig außen vor lassen. eingehen. Ein wichtiger Schritt ist die Anhebung der Eine echte Gewinnbeteiligung in Form von Er- Höchstbeträge, die das Unternehmen den Arbeitnehmern folgsprämien ist deutlich vielversprechender als die freiwillig und zusätzlich zum Gehalt überlassen kann. Zwangsjacke, die Sie den Arbeitgebern und Arbeitneh- Diese Beträge sind steuer- und sozialversicherungsfrei. mern durch die ausschließliche Förderung der Kapitalan- Wir heben diesen Betrag in der Tat deutlich von 135 auf teile anlegen wollen. Die Gewinne kann jeder im Rah- 360 Euro jährlich an, und wir werden auch die bisheri- men eines Altersvorsorgekontos dort anlegen, wo er gen Anlageformen in den Bestandsschutz aufnehmen. entweder die höchste Rendite oder das niedrigste Risiko Jetzt möchten wir aber auch die Fördermöglichkeit sieht, wenn er will, auch im eigenen Unternehmen. auf Beteiligungen über sogenannte Mitarbeiterbeteili- Nach unserem Konzept wäre die Förderung wie bei gungsfonds ausdehnen. Was heißt das? – Wir kennen im den anderen Durchführungswegen der betrieblichen Al- Grunde bisher die unmittelbare Beteiligung des Arbeit- tersvorsorge auf 4 Prozent der Beitragsbemessungs- nehmers am Unternehmen. Wir haben allerdings die Er- grenze in der gesetzlichen Rentenversicherung be- fahrung gemacht, dass bisher viele kleine und mittlere schränkt. Gespart würde aus unversteuertem, nicht mit Unternehmen kaum die Möglichkeit haben, ihre Mitar- Sozialbeiträgen belastetem Einkommen. In der Auszah- beiter an ihrem Erfolg teilhaben zu lassen. Wir nutzen lungsphase wäre das dann zu versteuernde Kapital ab ei- jetzt die professionellen Anlagemöglichkeiten in diesen nem Alter von 60 Jahren frei verfügbar. Fonds, die auch für Mitarbeiter kleiner und mittlerer Un- ternehmen als Hilfsmittel zur Beteiligung angeboten Dies scheint uns ein vernünftiger Weg zu sein, um die werden. Differenz zwischen der Mitarbeiterbeteiligung, dem, Für die Mitarbeiter hat diese Anlageform positive As- was die betriebliche Altersvorsorge leistet, und dem Ka- pekte, bietet sie doch eine höhere Risikostreuung gegen- pital, das der Arbeitnehmer für seine Altersvorsorge über einer Direktanlage, und sie eröffnet gute Ren- langfristig aufbauen muss, zu verringern. Ich glaube, un- ditechancen. Nun mag man hier kritisieren, dass durch ser Weg ist für viele Arbeitnehmer der attraktivere, und eine eher indirekte Fondsbeteiligung die Bindung an das Ihr Weg führt eigentlich zu einer Altersarmut, die wir Unternehmen beziehungsweise die Identifikation mit alle hoffentlich nicht wollen. dem eigenen Unternehmen eher gering ist. Dem kann Vielen Dank. man jedoch entgegenhalten, dass die Vorteile durch eine breitere Risikostreuung und eine professionelle Fonds- (Beifall bei der FDP) verwaltung überwiegen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19525

Klaus-Peter Flosbach (A) Problematisch sehe ich allerdings die etwas starren haben. Das Ziel ist auch die soziale Sicherung der Ar- (C) Anlagegrenzen, die dieses Gesetz vorgibt. Die Fonds beitnehmer. müssen garantieren, dass 75 Prozent der eingezahlten (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gelder der Arbeitnehmer wieder in die beteiligten Unter- Sehr gutes Ziel!) nehmen zurückfließen. Die Frage ist erstens, ob der Handlungsspielraum groß genug ist, um eine breite Risi- – Das finde ich auch. Warten Sie ab. kostreuung vorzunehmen. Und zweitens ist zu prüfen, ob die Anlageexperten überhaupt genügend Anlagemög- Die Bundesregierung nimmt sich mit ihrem Gesetz- lichkeiten finden. Wir müssen die Frage stellen: Benöti- entwurf natürlich eine ganze Menge vor. In der Begrün- gen die beteiligten Unternehmen überhaupt Kapital, und dung des Gesetzentwurfs wird zwar ausdrücklich gesagt, fordern sie dieses Kapital überhaupt an? dass der Lohnanteil am Volkseinkommen von 2000 bis 2007 sehr deutlich gefallen ist, nicht ausgedrückt wird Entscheidend ist auch die Frage, ob sich die Fonds aber natürlich, dass 135 Milliarden Euro weniger Lohn kleinen und mittleren Unternehmen zuwenden, sodass gezahlt werden, als dies der Fall wäre, wenn es die auch mittlere Personengesellschaften in den Genuss des Lohnquote aus dem Jahre 2000 gäbe. neuen Eigenkapitals kommen können. Die 75-Prozent- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Grenze sollte meines Erachtens also etwas flexibler sein LINKE]: Richtig!) und eher eine Richtschnur darstellen. Wir kennen das von der Riester- und der Rürup-Rente: Auch hier brau- Die Frage, die man nun stellen muss, lautet: Kann chen wir eine Anlaufphase, und die Erfahrungen haben man durch eine jährliche Sparzulage von 8 Euro und al- gezeigt, dass die angepeilte Zweijahresfrist eher zu lerlei Möglichkeiten, die Unternehmer zu animieren, den knapp bemessen ist. Mitarbeitern einen kleinen Aktienbetrag zu schenken, die Verteilungsgerechtigkeit, die uns durch die fehlenden Wir werden auch die Forderung diskutieren – das 135 Milliarden Euro verloren gegangen ist, wieder zu- sage ich in Richtung der FDP –, ob das in die betriebli- rückgewinnen? Ich zweifele sehr daran. che Altersvorsorge integriert werden sollte. Schließlich gibt es fünf Wege der betrieblichen Altersvorsorge. Wir Wie wollen Sie die soziale Gerechtigkeit durch ein verzeichnen auch große Erfolge. Denn inzwischen nut- solches Gesetz fördern? Wie halten Sie es denn mit zen 17 Millionen Mitarbeiter die betriebliche Altersvor- Hartz IV? Ist das sozial gerecht? Wird das in irgendeiner sorge. Weise durch diese geplante Gesetzgebung beeinflusst? Wie sieht es mit dem Gesundheitsfonds aus? Wie steht Die Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenser- es mit der Rente mit 67? Dazu sagen Sie nichts, obwohl folg ist keine Wunderwaffe oder ein Allheilmittel, und mit dem Gesetz natürlich soziale Gerechtigkeit herge- (B) (D) sie ist auch nicht ohne Risiken. Denn sie ist vom Erfolg stellt werden soll. des Unternehmens abhängig, und dieser kann natürlich schwanken. Außerdem gibt es natürlich immer noch ein Hier ist also ein Umdenken nötig, aber kein Umden- Kurs- und Insolvenzrisiko, wie es in der freien Wirt- ken in Ihrem Sinne. Eine andere Politik muss her. Wir, schaft auch üblich ist. die Linke, fordern das schon seit langem. Verteilungsge- rechtigkeit wird man durch solche leichten kosmetischen Wegen der verkürzten Redezeit möchte ich zum Ab- Maßnahmen nicht herstellen können. schluss kommen. Zusammenfassend sehe ich, dass wir mit diesem Gesetzesvorhaben auf dem richtigen Weg in (Beifall bei der LINKEN) die richtige Richtung sind. Ich wünsche uns allen ein gu- Wenn wir schon über Mitarbeiterbeteiligung reden, tes Gelingen bei den weiteren Verhandlungen. dann muss klar sein, dass die Mitarbeiterbeteiligung so Ich danke Ihnen. weit gehen muss, dass die Unternehmenspolitik beein- flusst und mitbestimmt werden kann, zumindest dann, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wenn es um Betriebsschließungen, Betriebsverlagerun- neten der SPD) gen und vieles andere mehr geht. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Herbert Schui von der Dann hätte eine Mitarbeiterbeteiligung in der Tat einen Fraktion Die Linke. Sinn. Das ist auch das, was von unserem Vorsitzenden Oskar Lafontaine bereits wiederholt vorgetragen worden (Beifall bei der LINKEN) ist.

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch das Mit dem Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz wollen Gesetz sollen nicht nur die Leistungsbereitschaft und das Sie es nun richten. Die Unternehmen können Anteile in Verantwortungsbewusstsein der Arbeitnehmer gefördert Höhe von 350 Euro im Jahr steuer- und abgabenfrei ver- werden, sondern, mehr noch, die abhängig Beschäftigten schenken. Dies soll also nicht versteuert und auch nicht sollen auch einen fairen Anteil am Erfolg des Unterneh- mit Abgaben belegt werden. Glauben Sie aber ange- mens erhalten. Die Mitarbeiterbeteiligung sei ein Gebot sichts der Erfahrungen, die wir mit den Lohntarifver- der sozialen Gerechtigkeit. Die Beschäftigten sollen am handlungen gemacht haben, im Ernst, dass die Unter- Ertrag der Volkswirtschaft gerecht und ausgewogen teil- nehmen solche Anteile in nennenswertem Umfang 19526 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Herbert Schui (A) verschenken werden? So etwas ist doch gar nicht zu er- ten, weil wir damit sehr viel schneller und auch zielge- (C) warten. nauer zu dem von uns allen angestrebten Ziel kommen: zu mehr Mitarbeiterbeteiligung in Unternehmen. Der Staat zahlt 8 Euro Sparzulage, wenn Unterneh- mensanteile von den abhängig Beschäftigten erworben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden. Fragen Sie sich doch einmal, wer überhaupt Es geht nicht um ein Finanzanlageprodukt, als das Sie sparen kann. Gespart wird gegenwärtig dann, wenn ein es behandeln, sondern um eine andere Art von Unterneh- Haushalt ein Nettoeinkommen von mehr als rund 20 000 menskultur. Ich halte es für ein sehr riskantes Vorgehen, Euro im Jahr hat. Erst dann ist der Haushalt überhaupt in was Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Lage, zu sparen. Ich habe diese Zahlen aus dem Mi- – auch noch mit Steuergeldern subventioniert – antra- krozensus von 2003 hochgerechnet. Neuere Zahlen lie- gen. Ich werde das gleich an zwei Punkten verdeutli- gen – wahrscheinlich aufgrund des Bürokratieabbaus – chen. nicht vor. Vorab möchte ich eine Bemerkung an Herrn Thönnes (Zuruf von der CDU/CSU: Selbst hochgerech- richten. Ich finde es in diesem Zusammenhang proble- net?) matisch, wenn Sie in Ihrer Argumentation behaupten, – Wo landen Sie? Bei 20 000 Euro? dass beispielsweise der von Ihnen vorgeschlagene Bran- chenfonds keine Konkurrenz zur privaten Altersvorsorge (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie selbst darstellen soll. Das ist falsch. Arbeitnehmerinnen und hochgerechnet?) Arbeitnehmer können jeden Euro nur einmal ausgeben. Haben Sie sich angesichts der niedrigen Einkommen Gerade aus diesem Grunde steht das von Ihnen vorge- schon einmal überlegt, wie viele Menschen in den Ge- stellte Produkt in definitiver Konkurrenz zur privaten nuss dieser Prämie kommen können? Wenn wir das Spa- Altersvorsorge. ren fördern wollen, dann setzt das zunächst ein Einkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men voraus, das hoch genug ist, um etwas sparen zu sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP]) können. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unsicherheit der Menschen und die Fehlinformationen Herr Kollege Schui, kommen Sie bitte zum Schluss. über Anlageprodukte konnten wir im Nachhinein froh sein, dass wir beispielsweise mit der Riester-Rente oder auch mit betrieblichen Altersvorsorgeformen Produkte Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): gefunden und mit Rahmenbedingungen versehen haben, (B) Gerne. – Sie können einige Signale setzen. Sie kön- die einigermaßen sicher sind. Sie wollen jetzt einen an- (D) nen vor allen Dingen endlich den gesetzlichen Mindest- deren Weg in Konkurrenz dazu vorschlagen. Das finde lohn in einer Höhe von rund 8,50 Euro beschließen. ich – milde ausgedrückt – hoch problematisch. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie schlagen zwei Wege vor. Der erste Weg ist die Das wäre ein erstes Signal, um zu mehr Einkommen und direkte Beteiligung, zum Beispiel über Aktien. Dass das damit überhaupt zu der Möglichkeit zu kommen, zu spa- eine direkte Beteiligung ist, ist richtig. Sie springen aber ren. Wir sind nicht gegen eine Sparzulage. Aber bevor an dieser Stelle zu kurz, weil Sie nicht thematisieren, eine Sparzulage gezahlt wird, muss durch ein höheres dass Menschen, die ihren Arbeitsplatz in einem Unter- Einkommen die Möglichkeit bestehen, zu sparen. nehmen haben, an dem sie sich dann auch noch beteili- gen, ein doppeltes Risiko eingehen. Wenn nämlich die Vielen Dank. Insolvenz ansteht, dann verlieren sie ihren Arbeitsplatz (Beifall bei der LINKEN) und ihr eingesetztes Geld. Darauf müssen wir eine Ant- wort finden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom Wir schlagen in unserem Antrag beispielsweise eine In- Bündnis 90/Die Grünen. solvenzsicherung vor. Da ist in Ihrem Antrag Fehlan- zeige. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als zweiten Weg schlagen Sie das neue Konstrukt des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstver- Branchenfonds vor. Er ist in dreifacher Hinsicht zum ständlich macht es Sinn – wir Grüne sind Verfechter die- Scheitern verurteilt. Erstens ist er nicht sicher. Sie wer- ser Idee –, mehr Mitarbeiterbeteiligung in den Unterneh- den in einer Branche nur eine begrenzte Anzahl von Un- men durchzusetzen. Es ist ein Jammer, dass wir in ternehmen finden, die dem Fonds beitritt. Dadurch ent- Deutschland nur bei etwa 2 Prozent Beteiligungsquote steht eine Risikohäufung. Das Geld wird nur in den liegen. Andere Länder haben das besser geregelt. Unternehmen in diesen Branchen eingesetzt. Ich finde, Das ist übrigens der Grund, warum wir schon vor Sie sollten sich zum aktuellen Zeitpunkt zu Gemüte füh- zwei Jahren einen entsprechenden Antrag im Bundestag ren, was der Zentrale Kreditausschuss dazu gesagt hat. eingebracht haben. Er steht – anders als Ihr Antrag, der Er hat eindeutig festgestellt, dass diese Fondskategorie heute zur ersten Beratung vorliegt – heute zur Abstim- definitiv ein weitaus größeres Kapitalmarktrisiko auf- mung. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag näherzutre- weist als herkömmliche Aktienfonds. Das muss man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19527

Dr. Thea Dückert (A) sich gerade zum heutigen Zeitpunkt zu Gemüte führen. Sie solle fördern sowie bei Unternehmen und Sozialpart- (C) Ich finde, es ist unredlich, Arbeitnehmerinnen und Ar- nern werben. Aber zu einer konkreten Ausgestaltung sa- beitnehmern so etwas vorzuschlagen. gen Sie nichts. Es ist nur heiße Luft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der FDP) NEN]: Da steht etwas über Bürgschaftsban- ken, über KfW-Programme!) Zweitens. Dieser Branchenfonds ist unrentabel. Zwei Drittel des Geldes müssen in dem entsprechenden Be- Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorge- reich bleiben. Selbst wenn der Fondsmanager der Mei- legt, der auf den Eckpunkten basiert, den die Koalitions- nung ist, dass eine bestimmte Branche auf einem abstei- fraktionen erarbeitet haben. Wir starten nach einer lan- genden Ast ist, wird das Geld weiterhin dort investiert. gen Pause wieder einen Vorstoß bei einem alten Thema. Das ist eine dumme Anlageform. Ich würde niemandem Fast so lange wie die Bundesrepublik existiert, ist das raten, sein Geld dort zu lassen. ein Thema. Im Vergleich zu anderen europäischen Län- Drittens. Wenn die Arbeitnehmer ihr Geld erst einmal dern ist die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Ar- dort investiert haben, können sie es nicht schnell heraus- beitnehmer am Produktivkapital in der Bundesrepublik holen. Sie müssen sieben Jahre warten, um an das Geld Deutschland eher bescheiden; darauf wurde schon hin- zu kommen. So lange ist es festgelegt. Es ist nicht red- gewiesen. Die Beteiligung an den Unternehmensgewin- lich, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so etwas nen ist etwas höher. Aber nach wie vor sind nur drei Pro- vorzuschlagen. zent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem Produktivvermögen in der Bundesrepublik beteiligt. Ich komme zum Schluss. Ich möchte Ihnen ein Zitat Meistens handelt es sich dabei um relativ gut bezahlte Ihres Kollegen Bartholomäus Kalb von der Union aus und qualifizierte Angestellte. der Finanzdebatte in der letzten Woche zu Gemüte füh- ren. Er hat gesagt: Mit unserem vorliegenden Gesetzentwurf unterneh- men wir einen neuen Vorstoß. Ich unterstreiche: Es han- Man kann nur staunen, welche Finanzprodukte mit delt sich dabei nicht um einen Ersatz leistungsgerechter welchen Kunstnamen von wem auf den Markt ge- Bezahlung. Vielmehr soll es zusätzlich zu dem Lohn bracht worden sind. bzw. dem Gehalt, auf das jeder Anspruch hat, eine Betei- Ich kann nur staunen, dass die Bundesregierung jetzt ligung am Unternehmenskapital oder an einem bran- ein neues, riskantes Finanzprodukt mit dem Namen chenspezifischen Fonds geben. Da es sich nicht um eine „Mitarbeiterbeteiligungssondervermögen“ auf den Entgeltumwandlung handelt, gibt es keine Konkurrenz (B) Markt bringen will. Nehmen Sie Abstand davon! Stim- zur Altersversorgung, Herr Schäffler. Diese Möglichkeit (D) men Sie unserem Antrag zu! Dann sind Sie auf der si- soll allen Mitarbeitern eröffnet werden, nicht nur den be- cheren Seite. sonders gut qualifizierten. Das geschieht am besten durch eine Betriebsvereinbarung. Danke schön. Wir haben in der Koalition lange beraten, wie wir da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit umgehen, weil wir mehrere Motive und Zielrichtun- gen haben. Natürlich gibt es auch eine Reihe von guten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Beispielen in Deutschland, die zeigen, dass kleine und Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller von mittlere Unternehmen es schaffen, ihre Mitarbeiter zu der SPD-Fraktion. beteiligen. Für die meisten Unternehmen ist das aber kompliziert. Es ist auch verwaltungsmäßig und rechtlich (Beifall bei der SPD) umständlich. Außerdem ist das Risiko für die Arbeitneh- mer relativ hoch. Deswegen haben wir beide Wege ge- Jörg-Otto Spiller (SPD): öffnet, nämlich die direkte Beteiligung an dem Unter- nehmen, in dem die Arbeitnehmerinnen und Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Arbeitnehmer beschäftigt sind, und den Fonds, bei dem Herren! Frau Kollegin Dückert, Sie haben vergessen, et- eine Risikostreuung möglich ist. was über Ihren eigenen Antrag zu sagen. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Schäffler, Sie haben ganz ähnlich wie ängstliche NEN]: Ich habe gekürzte Redezeit gehabt!) Funktionäre der Arbeitgeberverbände argumentiert. Die haben das schon immer abgelehnt, weil sie Angst haben, In diesem steht leider gar nichts. Er enthält nur heiße dass ihnen irgendjemand vielleicht hineinreden könnte. Luft. Mit solchen Ängsten muss man leben können. Ich bin überzeugt davon, dass das ein Vorstoß für erfolgreiche (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ja Arbeitnehmer und für erfolgreiche Arbeitgeber sein ein Ding!) wird. Die Erfolge der beiden Seiten schließen einander Ihr Antrag besteht nur aus der Aufforderung, die Bun- nicht aus. Alle können davon profitieren. Wir werden desregierung möge sich etwas einfallen lassen. noch Einzelheiten zu beraten haben, aber wir haben ei- nen guten Gesetzentwurf. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ein bisschen wenig!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 19528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mehr Sicherheit und weniger Rendite wählen, ob sie den (C) Als letztem Redner vor der Unterbrechung der Sit- sicheren Weg gehen, der à la longue etwas mehr Ertrag zung erteile ich dem Kollegen Gerald Weiß von der verspricht, oder nicht. Ich kann doch dem Arbeitnehmer CDU/CSU-Fraktion das Wort. zutrauen, zwischen zwei Wegen wählen zu können. Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind und Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): dass wir die Einkommens- und Vermögensverteilung in Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten der Bundesrepublik dadurch, dass wir die Arbeitnehmer- Damen und Herren! Herr Schui von den Linken, wenn schaft stärker am Eigentum an Produktivkapital beteili- Sie uns gelobt hätten, dann hätten wir etwas falsch ge- gen, tatsächlich à la longue verbessern können. Wir müs- macht. Die Linken können doch mit einem Ansatz, der sen sie verbessern. das persönliche Miteigentum der Arbeitnehmerinnen Eine Gesellschaft, in der sich die Einkommens- und und Arbeitnehmer am Produktivkapital ein Stück weit Vermögensverteilung immer mehr spreizen, wird Un- befördert, mit Privateigentum, persönlicher Unabhängig- frieden ernten. Wir wollen eine Gesellschaft der Freiheit, keit und Autonomie durch Eigentum nichts anfangen. des friedvollen Umgangs und der Verteilungsgerechtig- Deshalb bin ich mit Ihnen jetzt schon fertig. keit. Deshalb ist der Ansatz, den die Regierung gewählt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat, richtig. Vielleicht können wir diesen Gesetzentwurf, neten der FDP) den wir für gut erachten, in der parlamentarischen Bera- tung an der einen oder anderen Stelle noch verbessern. Mit der FDP will ich mich gleich auseinandersetzen. Er ist jedenfalls eine sehr gute Grundlage. Ich wende mich zuerst – der Beitrag verdient es, glaube ich – Frau Dückert zu. Wenn Sie sagen, wir sollten Ih- Vielen Dank. rem Antrag folgen, dann muss ich allerdings mit dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kollegen Spiller sagen, wobei ich den Antrag etwas po- sitiver als er bewerte: Der Analyseteil, der Grundsatzteil ist in Ordnung. Aber wenn man dann gespannt auf den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Handlungsteil schaut, Ich schließe die Aussprache. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf NEN]: Subvention mit Steuergeldern halten den Drucksachen 16/10531 und 16/9337 an die in der wir gar nicht für nötig! Das ist kein Subven- (B) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – (D) tionsprogramm!) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. dann stellt man fest, dass außer Prüfbitten und Werben nichts vorkommt. Es findet sich nichts Konkretes darin. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Da waren Sie vor Jahren schon einmal weiter. Die FDP schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag war übrigens viel weiter. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Partnerschaftliche Unternehmenskultur stärken – Mit- Ich will auf die drei Oppositionsredner eingehen, weil arbeiterbeteiligung fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in sie als Problem die Konkurrenz zur betrieblichen Alters- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4599, versorgung erwähnt haben. Eigentlich hat der Kollege den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Spiller das eben schon abgearbeitet. Ich will es aber Drucksache 16/2653 abzulehnen. Wer stimmt für diese – zum Mitschreiben – noch einmal sagen. Der Motor des Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Erfolgs und der neuerlichen Blüte der betrieblichen Al- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen tersversorgung ist die Entgeltumwandlung, die wir fort- der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei gesetzt haben. Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tung der FDP-Fraktion angenommen. neten der SPD) Interfraktionell ist vereinbart worden, die Sitzung zu Das, was wir jetzt in der Vermögensbildung machen, ist unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird recht- Förderung on top. Wenn ein Arbeitgeber etwas zusätz- zeitig durch Klingelsignal angekündigt. Die Unterbre- lich macht – dafür setzen wir Anreize –, fördern wir das chung dürfte etwa eine Stunde dauern. Die Fraktionen durch verbesserte Rahmenbedingungen. Wir wollen werden sich verständigen, wann wir hier wieder zusam- mehr Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- mentreten werden. nehmer am Produktivkapital durch verbesserte Anreize. Frau Dückert, was heißt doppeltes Risiko? Sie können Die Sitzung ist unterbrochen. gesellschaftsrechtliche Beteiligungen in der Tat nicht ab- (Unterbrechung von 18.16 bis 20.21 Uhr) sichern, aber Sie können schuldrechtliche Beteiligungs- formen absichern. Arbeitnehmer und Arbeitgeber kön- nen sich dann – das müssen wir ihnen zutrauen – Vizepräsidentin Petra Pau: entscheiden, ob sie mehr Risiko und mehr Rendite oder Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19529

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- (C) mentarische Staatssekretär Peter Hintze. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP [FDP]: Ich denke, der ist in Brüssel!) Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente Maß- nahmen konzentrieren Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Wirtschaft und Technologie: – Drucksache 16/9093 – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Überweisungsvorschlag: Deutschland braucht leistungsfähige, moderne und Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie effiziente Stromnetze. Dabei ist das Höchstspannungs- Haushaltsausschuss übertragungsnetz das Rückgrat unserer Elektrizitätsver- sorgung. Dieses Netz steht vor besonderen Herausforde- Zu diesem Punkt war eine Debatte von einer halben rungen. Die erneuerbaren Energien werden massiv aus- Stunde vorgesehen. Inzwischen haben wir uns darauf gebaut – dies gilt insbesondere für die Windenergie –, und verständigt, dass der Kollege Dirk Niebel für die FDP- neue konventionelle Kraftwerke werden gebaut. Der Fraktion, der Kollege Stefan Müller für die Unionsfrak- Großteil der Windenergieanlagen und der neuen konven- 1) tion , die Kollegin Kornelia Möller für die Fraktion DIE tionellen Kraftwerke wird im Norden Deutschlands er- LINKE, die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die richtet; der Strom wird allerdings im Wesentlichen im SPD-Fraktion und die Kollegin Brigitte Pothmer für die Westen und im Süden verbraucht. Deshalb ist dem Land Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihre Reden zu Proto- Niedersachsen ein klarer Dank für die Bereitschaft aus- 2) koll geben. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ver- zusprechen, einen so großen Anteil an der nationalen fahren wir so. Aufgabe Energieversorgung zu übernehmen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drucksache 16/9093 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ich bitte Herrn Ministerpräsidenten Wulff, der heute zu verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung meiner Freude hier auf der Bundesratsbank anwesend so beschlossen. ist, diesen Dank mit nach Niedersachsen zu nehmen. Uns ist klar, dass das für das Land eine Belastung ist und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den regional immer wieder zu Diskussionen führt. Auf der Zusatzpunkt 6 auf: anderen Seite macht es den Bund aus, dass man Lasten (B) 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gemeinsam trägt, Aufgaben gemeinsam schultert und (D) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- zusammen nach einem Weg sucht, der von allen akzep- schleunigung des Ausbaus der Höchstspan- tiert werden kann. nungsnetze Allein für die Integration der Windenergie brauchen – Drucksache 16/10491 – wir nach den Berechnungen der Deutschen Energie- Überweisungsvorschlag: Agentur 850 Kilometer neue Leitungen, und zwar ver- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) gleichsweise schnell, nämlich bis zum Jahr 2015. Auch Rechtsausschuss die Europäische Union hat in ihren Leitlinien für die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung transeuropäischen Energienetze einen erheblichen und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dringenden Ausbaubedarf ermittelt. ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Josef Fell, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weite- Heute dauert es von der Planung bis zur Errichtung rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- einer Höchstspannungsleitung oft zehn Jahre. Das ist NIS 90/DIE GRÜNEN eindeutig zu lang. Wir wollen und müssen das abkürzen. Stromnetze zukunftsfähig ausbauen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Nur die SPD klatscht nicht!) – Drucksache 16/10590 – Zentrales Ziel des Regierungsentwurfs ist deshalb die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsver- Rechtsausschuss fahren für den Bau wichtiger Höchstspannungsleitungen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Kernstück des Gesetzentwurfs ist ein Energieleitungs- Verbraucherschutz ausbaugesetz. Darin wird die energiewirtschaftliche Not- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wendigkeit für 24 vordringliche Leitungsbauvorhaben verbindlich festgestellt. Damit steht das Ob dieser Vorha- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ben fest, und die Planungs- und Genehmigungsbehörden Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich dürfen die energiewirtschaftliche Notwendigkeit nicht höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. mehr prüfen. Durch den Wegfall des damit verbundenen Zeitaufwands gewinnen wir wertvolle Zeit. Für die vor- 1) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor und wird dringlichen Vorhaben gilt ferner ein beschleunigtes Plan- im Plenarprotokoll der 184. Sitzung abgedruckt. feststellungsverfahren. Wichtig ist auch, dass bei den 2) Anlage 7 vordringlichen Vorhaben der Rechtsweg auf eine Instanz 19530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Parl. Staatssekretär Peter Hintze (A) verkürzt wird. Das Bundesverwaltungsgericht wird als Aufmerksamkeit schließen. Mein Dank geht vor allem (C) erste und letzte Instanz zuständig sein. an das Land Niedersachsen und seinen Ministerpräsiden- ten dafür, (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Dirk Niebel [FDP]: Und den Wirtschaftsmi- nister!) Es gibt einen Punkt, der die Diskussion lange be- stimmt hat, auch in Niedersachsen, nämlich die Frage dass sie diesen schwierigen Weg mitgegangen sind. Ich der Erdkabel. Ich sage für die Bundesregierung aus- freue mich, dass auch die FDP mit zustimmenden Wor- drücklich, dass ich Verständnis für den Wunsch habe, ten die Sache begleitet, was wir bei einer konstruktiven neue Höchstspannungsleitungen möglichst unterirdisch Opposition immer erwarten, aber nicht immer erleben. zu verlegen, da der sichtbare Eingriff in die Landschaft Herzlichen Dank. bei Erdkabeln eindeutig geringer ist. Auch bei der Erd- verkabelung gibt es Schneisen und ökologische Belas- (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel tungen, aber sie sind geringer als bei einer Freilandver- [FDP]: Jetzt hat er sich den Schlussapplaus ka- kabelung. puttgemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Gleichwohl müssen wir, als Sachwalter des gesamten Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Gudrun Themas, bedenken, dass Erdkabel mit Problemen ver- Kopp das Wort. bunden sind. Zum einen muss das technische Risiko gründlich geprüft werden; denn in einer solchen Vielzahl (Beifall bei der FDP) und Dichte gibt es bisher nirgendwo auf der Welt eine Erdverkabelung. Zum anderen stellen die thermischen Gudrun Kopp (FDP): Probleme gewaltige Herausforderungen dar. Bei der Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Erdverkabelung müssen in relativ geringen Abständen, Wir brauchen dringend eine Beschleunigung des Netz- alle 30 Kilometer, entsprechende technische Vorrichtun- ausbaus in Deutschland. Es wird Sie vielleicht überra- gen vorgesehen werden. Hinzu kommen die Frage der schen, Herr Hintze – Sie haben das vorhin so angemerkt –, Kühlung und Ähnliches. Das sind technische Probleme, aber wir halten diesen Gesetzentwurf für akzeptabel und die beträchtlich sind. Außerdem wissen wir, dass die werden ihm auch zustimmen, Erdverkabelung fünf- bis zehnmal so teuer und der Nut- zungszeitraum halb so lang wie bei der Freilandverkabe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) lung ist. Die Kostenfragen und die technischen Fragen weil auch wir die Verantwortung sehen. Egal, welchen (D) müssen also durchaus geprüft werden. Energieträger wir bevorzugen, welchen Energieträger Aber das Bundesministerium für Wirtschaft und die Fraktionen für notwendig halten, wir brauchen in je- Technologie ist ja dafür bekannt, dass es Mut bei der Er- dem Fall Netze. Wir brauchen zuverlässige Netze. Wir probung neuer Technologien beweist. Mit dem hauptbe- müssen schnellstens mit dem Bau beginnen. troffenen Land Niedersachsen haben wir uns – das ist Dieser Gesetzentwurf kommt zwar spät – wir hätten auch Gegenstand des Gesetzentwurfes – gut und einver- ihn uns schon sehr viel früher gewünscht –, aber besser nehmlich darauf verständigt, dass diese neuen Technolo- spät als niemals. Wir finden es besonders gut und unter- gien in vier Pilotprojekten – drei der Anlagen starten in stützenswert, dass darin die Rede von einem gesetzli- Niedersachsen, eine endet auch dort – überprüft werden, chen Bedarfsplan analog zum Fernstraßen- und Schie- und zwar auf technisch und wirtschaftlich effizienten nennetzausbau ist. Das ist sehr hilfreich. Wir werden Teilabschnitten. Dem ist ein langer Diskussionsprozess alles tun, um das Gesetzgebungsverfahren durch unser vorausgegangen. Auch im Bundesrat hat man sich positives Votum mit zu beschleunigen. schließlich darauf geeinigt, dass das die richtigen Pro- jekte sind. Anträge auf Erweiterung oder Änderung der (Beifall bei der FDP) Verkabelungskriterien wurden mit breiter Mehrheit ab- Leider kann ich nicht nur Positives sehen. Wir stim- gelehnt. men den vier Pilotprojekten zur Erdverkabelung, die die- Ich glaube, wir haben jetzt einen guten Kompromiss ser Gesetzentwurf enthält, zu, obgleich ich ausdrücklich gefunden zwischen dem Bedürfnis nach einem mög- darauf hinweisen möchte, dass die FDP-Bundestagsfrak- lichst schonenden Eingriff in die Landschaft und dem tion der Erdverkabelung grundsätzlich skeptisch gegen- verständlichen Wunsch, die Kosten im Griff zu behalten übersteht. Man muss anhand dieser vier Pilotprojekte und die technischen Probleme zu lösen. Mit einer derar- ausloten, wie sich das in der Praxis darstellt. Insgesamt tigen Höchstspannung von über 380 Kilovolt unter die ist es aber nicht ganz so unproblematisch, wie manch ei- Erde zu gehen, muss erst erprobt werden, damit man in ner denken mag. Ich lese einmal vor, welche Eingriffe es Zukunft die Entscheidung treffen kann, ob das der rich- geben kann. Bei einer 10-systemigen Kabeltrasse bei- tige Weg ist oder ob wir nicht mit der Freilandverkabe- spielsweise wird durch den Aushub eine Schneise von lung auf der sicheren Seite sind. 1,50 Meter Tiefe und von bis zu 40 Meter Breite ge- schaffen, die nicht bewirtschaftet werden darf, eine Meine Damen und Herren, aufgrund des allgemeinen Schneise durch das Land, die natürlich einen Eingriff in Wunsches nach Kürze will ich nun mit Dank für Ihre die Landschaft und damit in den Naturschutz bedeutet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19531

Gudrun Kopp (A) Wir müssen auch sehen, dass an einer solchen Trasse mit einem Beschleunigungsgesetz die Rechte der Bürger (C) kein Baumbewuchs erlaubt ist, dass sie stets zugänglich bei der Beteiligung am Ausbau von Leitungen – es gibt sein muss und dass an bestimmten Stellen, insbesondere in diesem Zusammenhang massive Auseinandersetzun- bei Steigungen ab 20 Prozent, eine solche Trasse sogar gen mit den Bürgern – beschleunigt abgebaut werden komplett betoniert werden müsste. Das schließt ein tie- sollen. fes Betonbett ein. Das ist nicht ganz unproblematisch. Als ich die Bundesregierung, sehr geehrter Herr Was uns aber besonders stört, ist Folgendes: Wir be- Hintze, gefragt habe – ich habe wegen der 380-kV-Lei- mühen uns mit der Bundesnetzagentur und mit dem Ener- tungen durch den Thüringer Wald gefragt –, wie die fos- giewirtschaftsgesetz schon über Jahre hinweg, die Netz- sile Kraftwerksleistung von 20 000 Megawatt, die aus kosten niedrig zu halten. Wir werden sehen, dass es dem Norden kommt und genau dem Volumen entspricht, einen Schneeballeffekt gibt, wenn mit einer Erdverkabe- mit dem auch Strom aus Offshorewind durchgeleitet lung im Norden begonnen wird. Auch in anderen Bun- werden soll, durch das neue Höchstspannungsnetz gelei- desländern bzw. Regionen werden Freileitungen immer tet werden soll, ist sie mir die Antwort schuldig geblie- weniger durchsetzbar sein, weil die Bürger auf die Barri- ben. Wir haben den Eindruck – das macht mich stutzig –, kaden gehen und sagen: Im Norden gibt es Erdverkabe- dass man fossile Energie, bei deren Produktion CO2 lungen, dann können wir auch bei uns eine Erdverkabe- emittiert wird, durchleitet und als Begründung dafür die lung erwarten. – Das hat zur Folge, dass sich die gerade Windkraft angibt. Das scheint mir ein falscher Weg zu nach unten regulierten Netzgebühren durch die Erdver- sein. kabelung wiederum erhöhen, weil nämlich die Kosten für diese Erdverkabelung zwei bis zehn Mal so hoch sind (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und auf die Verbraucher umgeschlagen werden. Das NIS 90/DIE GRÜNEN) heißt, wir werden wieder höhere Netzentgelte bekom- Ich möchte darauf hinweisen, dass die Eingriffe in die men. Natur beachtlich sind. Durch den Naturpark Thüringer Das ist eigentlich nicht das, was wir wollen. Insofern Wald und durch das Biosphärenreservat Schorfheide- sind wir hier im Widerspruch zu dem, was wir im politi- Chorin soll eine 100 Meter breite und 100 Meter hohe schen Handeln mit großen Mühen versucht haben. Ich Schneise gebrochen werden. Es wird behauptet, dies sei führe das nur als kritischen Merkposten an, um zu zei- notwendig, um Windstrom zu verteilen. Es wäre zwar gen, dass wir uns an dieser Stelle sehr schwertun. Wir sinnvoll und richtig, den Windstrom zu verteilen. Die werden aber diese Pilotprojekte konstruktiv begleiten Frage ist nur, ob man dabei das Beteiligungsrecht ab- und uns anschauen, wie groß der Landschaftseinschlag bauen und sagen kann: „Das muss beschleunigt wer- sein wird und wie sich die Mehrkosten entwickeln. Zu den“, gleichzeitig aber keine Netzertüchtigung vor- (B) (D) gegebener Zeit werden wir evaluieren, was dabei heraus- nimmt und auch nicht die Weichen für eine regenerative gekommen ist. Energieproduktion stellt, die nahe am Menschen stattfin- det. (Beifall bei der FDP) Ich will darauf hinweisen, dass wir schon jetzt erle- Insgesamt ist uns daran gelegen, dass wir mit dem ben, dass, sobald der Wind in Sachsen-Anhalt stark Netzausbau schnellstens vorankommen. Deshalb tun wir weht, die KWK-Anlagen in Thüringen heruntergefahren unseren Part und werden wir unsere Stimmen dafür ge- werden müssen; denn die Großkraftwerksbetreiber ha- ben, dass diese Beschleunigung jetzt auch vonstattenge- ben überhaupt kein Interesse, die Grundlast herunterzu- hen kann. fahren. Wenn man aber regenerative Energie will, dann Herzlichen Dank. muss man auch die Voraussetzung dafür schaffen, dass nicht gleichzeitig an den Koppelstellen des Netzes, das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie jetzt durchpeitschen wollen, große Kohlekraftwerke errichtet werden. Das halten wir für den falschen Weg. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Den Beitrag des Kollegen Engelbert Wistuba für die NIS 90/DIE GRÜNEN) SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1) Wir können uns gerne über den Netzausbau unterhal- Das Wort hat der Kollege Bodo Ramelow für die ten, wenn er mit folgender Zielstellung verbunden wird: Fraktion Die Linke. regenerative dezentrale Energiewirtschaft, die ein viel (Beifall bei der LINKEN) höheres Maß an Effizienz hat als die Großkraftwerke, die zurzeit überall errichtet werden. Bodo Ramelow (DIE LINKE): Erlauben Sie mir die Frage, wie man den Strom aus Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Offshorewind an den Kraftwerken vorbeileitet, mit de- legen! Schon mit dem Verkehrswegeplanungsrecht in nen man anschließend in Süddeutschland oder vielleicht den neuen Bundesländern sind die Beteiligungsrechte über die deutschen Grenzen hinaus in der EU Sonderpro- der Bürger, der Kommunen und der Gebietskörperschaf- fite machen will. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie ten massiv beschnitten worden. Jetzt erleben wir, dass nur für die großen Vier in der Energiewirtschaft oder ob Sie für die Bürger tätig werden wollen. 1) Anlage 8 (Beifall bei der LINKEN) 19532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bodo Ramelow (A) Ich bin sehr wohl dafür, dass man das Stromnetz den veränderungen, die es in der Energiewirtschaft und der (C) vier Energieriesen abnimmt, unter öffentliche Kontrolle Netzwirtschaft in den letzten 50 Jahren gegeben hat. Die stellt und eine Zielstellung vornimmt, nämlich dass die Stichworte sind zum Teil bereits genannt worden. bestehenden Stromkreise zügig auf neueste Technik um- gestellt werden, dass ein Temperaturmonitoring einge- Die Kraftwerksstruktur wird sich verändern, nicht nur führt wird, dass im Hinblick auf das Übertragungsnetz bezogen auf die Energieträger, sondern vor allem auch die gesetzliche Vorschrift existiert, dass ein Temperatur- bezogen auf die geografische Dislozierung. In Zukunft monitoring stattfinden kann, dass der Verbundbetrieb wird nicht mehr nur im Bereich der erneuerbaren Ener- von Anlagen für erneuerbare Energien über das Lei- gien verbrauchsnah Strom erzeugt – ich meine zum Bei- tungsnetz, also die sogenannten virtuellen Kraftwerke, spiel die Onshore- bzw. Offshorewindanlagen, die im Sü- bei den Netzgebühren bevorzugt wird oder er – das wäre den logischerweise relativ schwierig zu betreiben sind am besten – seine Leistung ohne Netzgebühren einspei- sondern auch im Bereich der klassischen Energieträger. sen kann, dass dezentrale Kraft-Wärme-Kopplungsanla- Steinkohlekraftwerke wurden in den vergangenen gen bei der Netznutzung deutlich bessergestellt sein 50 Jahren immer verbrauchsnah oder dort gebaut, wo- müssen als Großkraftwerke und dass bei 110-kV-Leitun- Steinkohle vorhanden war. Das ändert sich gerade. Mit gen der Netzausbau ausschließlich über Erdkabel durch- dem Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung wird geführt wird. bei der Steinkohleverstromung zukünftig fast aus- schließlich auf Importkohle zurückgegriffen. Gewichtige Ich finde es schon seltsam, dass alle Pilotprojekte der Veränderungen sind im Gange. Wenn der Kernkraftaus- Erdverkabelung – bei aller berechtigten Kritik an der stieg, den wir nicht wollen, wirklich wahrgemacht wird, Erdverkabelung an sich – im Heimatland unseres Herrn wird sich diese Dramatik noch verschärfen. Vor allem Umweltministers stattfinden. Ich hätte gerne die gleiche wird es aufgrund der erneuerbaren Energien zu Heraus- Prüfung einer möglichen Errichtung von Pilotanlagen in forderungen kommen. der Schorfheide und im Thüringer Wald. Auch durch den europäischen Binnenmarkt, den wir (Beifall bei der LINKEN) alle wollen und an dem wir arbeiten, indem wir uns um Wir sagen ganz klar: Es gibt Alternativen zu dieser Marktkopplungen, einheitliche Regelzonen, grenzüber- Form des Durchpeitschens von Interessen. Die Alterna- schreitende Interkonnektoren und anderes kümmern, tiven sind: die Netze neu aufstellen; die Netze verbin- wird Deutschland als heute bereits größtes Energie- und den und modernisieren. Die Netze müssen so gestaltet Stromtransitland in Europa weiter gefordert. Deshalb sein – das muss die Zielstellung sein –, dass sie für eine müssen wir unsere Netzstrukturen anpassen. dezentrale Energiewirtschaft genutzt werden können. (B) Das, was Sie im Moment vorhaben, bedeutet nur, das Ei- Ich sehe mehrere Einsatzfelder. Gerade im Bereich der (D) gentum der großen Stromkonzerne zu schützen und die erneuerbaren Energien müssen wir, was die Systeminte- Bürger zu entrechten. Das halten wir für den falschen gration, was Speichertechnologien und anderes anbelangt, Weg. neue Wege gehen. Mit dem, was wir mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beschlossen haben, Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie das Gesetz zurück! sind wir auf einem guten Weg. Auch die Änderung des Debattieren Sie mit uns, mit dem ganzen Haus über Al- Wälzungsmechanismus, die Direktvermarktung und an- ternativen, wie man das bestehende Stromnetz optimie- dere Dinge mehr, die in diesem Bereich anstehen, kön- ren und verbessern kann! Helfen Sie mit, dafür zu sor- nen eine tragende Säule sein. gen, dass die Bürger nicht das Gefühl haben, Opfer einer Politik zu werden, die ausschließlich die Interessen der Trotz aller Entwicklungen in diesem Bereich werden vier großen Stromkonzerne im Blick hat! Die Bürger in wir nicht umhinkommen, den Netzausbau zu beschleuni- Südthüringen, aber auch die Bürger in Brandenburg wer- gen. den Ihnen dankbar sein, wenn sie von den riesigen Masten verschont werden und viele Kraft-Wärme-Kopplungsan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lagen an die Stelle der gigantischen Strommaschinen ge- Bisher war es leider so, dass alle Beschleunigungen von setzt werden. Näher am Menschen dran, das wäre ein Infrastrukturmaßnahmen fehlgeschlagen sind und unsere Ziel. Bemühungen nicht den notwendigen Erfolg gebracht ha- Vielen Dank. ben. Deshalb begrüßen wir als Unionsfraktion es außeror- dentlich, dass die jetzt vorgeschlagenen Elemente – ich (Beifall bei der LINKEN) will das nicht noch einmal wiederholen –, insbesondere der Bedarfsplan, in dem der vordringliche Bedarf festge- Vizepräsidentin Petra Pau: legt wird – das gibt es zum Beispiel im Verkehrsbereich Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Joachim schon –, und die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit Pfeiffer das Wort. des Bundesverwaltungsgerichts, für eine wirkliche Be- schleunigung sorgen werden. Vorhin war von zehn Jah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren die Rede. Das ist schon eine optimistische Sicht der Dinge. Es gibt genug Bereiche – ich kann Ihnen Bei- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): spiele nennen –, wo es 40 Jahre gedauert hat, 110-kV- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Ringleitungen, die dringend notwendig sind, zu errich- Herren! In der Tat stehen wir vor den größten Struktur- ten. Bei den Herausforderungen, vor denen wir stehen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19533

Dr. Joachim Pfeiffer (A) wird ein solches Tempo mit Sicherheit nicht ausreichend einen Beitrag zur Netzstabilität leisten – Stichwort: Mi- (C) sein. nutenreserve –, mit entsprechenden Härtefallklauseln noch etwas zu erreichen. Es ist auch die Einführung eines Planfeststellungsver- fahrens für Anbindungsleitungen von Offshorewindanla- Wir sollten genau überprüfen, welche Kabel und wel- gen sehr zu begrüßen. Es wird eine Konzentrationswir- che Techniken wir aufnehmen. Bisher werden Erdkabel kung haben und so die in diesem Bereich bisher und normale Freileitungen einbezogen. Die HGÜ und notwendigen vielen Einzelgenehmigungen ersetzen bzw. die Technologie der Hochleistungsleiterseile, die unter zusammenfassen. – So weit, so gut. Kosten- und Technologiegesichtspunkten sehr vielver- sprechend sind, werden im Moment noch nicht im not- Es gibt aber aus Sicht der Unionsfraktion einige wendigen Umfang berücksichtigt. Darüber sollten wir Dinge, über die noch diskutiert werden muss. Auch ich diskutieren. sehe noch Nachbesserungsbedarf. Zunächst einmal muss sichergestellt werden, dass die Pilotprojekte zur Erdver- Weiteren Klärungsbedarf sehe ich in Bezug auf fol- kabelung tatsächlich Testcharakter besitzen und von den gende Frage: Was ist mit Projekten, die nicht im Be- Genehmigungsbehörden nicht automatisch als Standard darfsplan stehen? Ich denke dabei an Kraftwerksneuan- aufgefasst werden. schlüsse. Müssen auch Kraftwerksanschlüsse in den Ich kann mir ersparen, etwas zu den Kostenentwick- Bedarfsplan, damit sie genehmigt werden können? Wenn lungen zu sagen. Die Kollegin Kopp hat bereits darauf wir die Liquidität und das Angebot bei der Stromerzeu- hingewiesen, welche positiven Ergebnisse wir bei der gung verbessern wollen, sind dies zentrale Fragen für die Regulierung der Netze erzielt haben – darüber haben wir weitere Entwicklung des Wettbewerbs. heute Morgen schon diskutiert –: eine um 22 Prozent ge- Insgesamt stelle ich fest: Es ist eine gelungene Vor- ringere Strompreiserhöhung allein durch die Senkung lage, mit der wirklich Hand anlegt wird, die Infrastruk- der Netznutzungsentgelte, 1,6 Milliarden Euro im letz- turbeschleunigung nach vorne gebracht wird – ten Jahr, 2,6 Milliarden Euro im Jahr zuvor. Das macht für jeden Haushalt einen dreistelligen Betrag aus. Vizepräsidentin Petra Pau: Aus diesem Grund bitten wir die Bundesregierung, zu Herr Kollege Pfeiffer, achten Sie bitte auf das Zeichen prüfen, ob die Möglichkeit besteht, ein Veranlasserprin- vor Ihnen. zip einzuführen, ähnlich wie in § 7 a Bundesfernstraßen- gesetz. Dies würde bedeuten, dass neben den Pilotpro- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): jekten den Ländern die Entscheidung überlassen wird, – und die den Grundstein für eine Beschleunigung des ob sie Erdkabel möchten oder nicht. Wenn sie sich für (B) Netzausbaus legt. Es bedarf noch einiger Debatten und (D) Erdkabel entscheiden, müssen sie die Kosten dafür Ergänzungen, die wir in der Anhörung und in der Dis- selbst tragen. kussion im Ausschuss ansprechen werden. Darauf freue Der zugrunde liegende Ansatz soll deshalb nicht nur ich mich. bei den Netzentgelten angewandt werden. Es soll in Vielen Dank. technischer und wirtschaftlicher Hinsicht die effizien- teste Lösung gewählt werden. Es bleibt also grundsätz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lich bei Freileitungen. Wer eine teurere Ausführung will, muss diese selbst bezahlen. Das kann er seinen Wählern Vizepräsidentin Petra Pau: dann vermitteln und sich dafür entsprechend verantwor- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der ten. Kollege Hans-Josef Fell das Wort. In Bezug auf den Bedarfsplan möchten wir wissen, wie es zu den vorgesehenen Strecken kam. Aufgrund der Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dena-I-Studie und der TEN-Projekte gemäß den Leitli- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nien der EU stellt sich nun die Frage, nach welchen Kri- gen! Der Ausbau des Höchstspannungsnetzes ist in der terien die Projekte in den Bedarfsplan aufgenommen Tat notwendig und muss schnell erfolgen. Die Wachs- werden. Wir brauchen für zukünftige Bedarfspläne tumsgeschwindigkeiten der erneuerbaren Energien sind transparente Kriterien. Ich bitte die Bundesregierung um sehr hoch. Der Bundesverband Erneuerbare Energie hat Klärung. in diesen Tagen verkündet, er erwarte bis 2020 über Weiteren Bedarf sehe ich bei den energieintensiven 40 Prozent Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Industrien. Ein Großteil des Ausbaus ist aufgrund des Dies deckt sich übrigens sehr gut mit den Berechnungen starken Zubaus erneuerbarer Energien notwendig. Die aus dem grünen Energiekonzept 2.0. Damit wird auch energieintensiven Industrien, beispielsweise die Alumi- klar: Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken und niumindustrie und die Stahlindustrie, leisten aufgrund der Neubau von Kohlekraftwerken sind überflüssig. der kontinuierlichen Stromnachfrage in Höhe von 5 bzw. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 10 Prozent, auch im Bereich der Grundlast, bereits heute einen wesentlichen Beitrag zur System- und Netzinte- Sie würden sogar den Ausbau der erneuerbaren Energien gration. Wir müssen darüber nachdenken, ob es nicht, bremsen. Wir sind uns sicher: Die Lichter werden ohne ähnlich wie bei der EEG-Härtefallregelung, auch im neue Kohlekraftwerke weiter leuchten, auch wenn Koh- Hinblick auf diese Industrien möglich ist, dann, wenn sie leminister Gabriel unentwegt das Gegenteil behauptet. 19534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Hans-Josef Fell (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die stehen schon (C) Manfred Grund [CDU/CSU]: Weil Strom aus seit Jahrzehnten vor dem Durchbruch!) dem Ausland kommt!) Erdkabel sind weniger störanfällig und haben daher ge- Allerdings muss die Netzinfrastruktur auf einen ringere Betriebskosten. Der tagelange flächendeckende Strommix mit erneuerbaren Energien schnell vorbereitet Stromausfall wegen Schneebruchs im Münsterland ist werden. Natürlich wird der dezentrale Charakter der er- uns doch noch in guter Erinnerung. Er wäre mit Erdka- neuerbaren Energien die Ausbaunotwendigkeit des bel nie passiert. Höchstspannungsnetzes verringern. Mit einem Monito- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ring der Leitungstemperatur und einer Messung der Wet- terdaten kann die Kapazität bestehender Freileitungen Die Mehrkosten für die Investitionen im Höchstspan- sogar um 100 Prozent gesteigert werden. nungsbereich können häufig durch geringere Betriebs- kosten und einen beschleunigten Bauprozess sowie Doch trotz dieser Maßnahmen, die die Netzausbau- durch höhere Sicherheit wettgemacht werden, vor allem kosten drastisch reduzieren können, wird es noch die wenn eine volle Kostenrechnung über Verlegekosten, Notwendigkeit für den Neubau von Höchstspannungslei- Kabelkosten, Betriebskosten, Übertragungsverluste und tungen geben. Windstrom aus der Nord- und Ostsee Nutzungsdauer gemacht wird. muss über das Land verteilt werden, auch Solarstrom aus Nordafrika braucht neue Leitungen. Ein Gesetz zur Be- Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, schleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze ist wir fordern Sie auf, den Gesetzentwurf der Bundesregie- in der Tat erforderlich, wenn der schnelle Ausbau der er- rung im Laufe des parlamentarischen Verfahrens ent- neuerbaren Energien nicht gebremst werden soll. sprechend unserer grünen Vorschläge, die wir heute vor- legen, zu verbessern. Leider setzt die Bundesregierung in ihrem Gesetzes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorschlag aber die falschen Akzente. So sollen Bürger- beteiligungen und Klagemöglichkeiten für betroffene Sie sollten nicht nur einseitig auf die Interessen der gro- Bürger entlang der Neubautrasse eingeschränkt werden, ßen Stromerzeuger hören. Hören Sie zum Beispiel auch statt in der Bevölkerung die Akzeptanz für Erdverkabe- einmal auf den Verband der europäischen Kabelherstel- lung zu erhöhen. Erdverkabelung soll nur möglich sein, ler. Sie machen ganz andere Aussagen und bestätigen wenn die Kabeltrassen sehr nah an Wohngebieten und an unsere Thesen von geringeren Kosten, die Frau Kopp Siedlungen vorbeigehen. Lediglich in vier Modellregio- und Herr Pfeiffer als Schreckgespenst hinstellen. nen können Erdverkabelungen auch in anderen sensiblen Wenn man eine Vollkostenrechnung macht, kommt (B) ökologischen Bereichen realisiert werden. man zu dem Ergebnis, dass Erdkabel keine höheren Kos- (D) Damit fällt die Bundesregierung klar hinter die Rege- ten verursachen. Machen Sie sich endlich frei von den lung im Lande Niedersachsen zurück, wo Ministerpräsi- Interessen der Energiekonzerne dent Wulff und Umweltminister Gabriel sich vor der (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist letzten Wahl auf Erdkabel in allen sensiblen Bereich ver- eine Frechheit!) ständigt hatten. Als Bundesminister will Herr Gabriel davon nichts mehr wissen. Er musste wohl erneut Wirt- und entscheiden Sie sich für mehr Umweltschutz, schaftsminister Glos nachgeben. Ausblockiert wurde so- (Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND- gar der Wunsch der CDU-SPD-Landesregierung Bran- NIS 90/DIE GRÜNEN]) denburg, in der Uckermark eine fünfte Modellregion für Erdkabel zu schaffen. Die Bundesregierung fällt ihren für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung und für mehr eigenen Parteifreunden voll in den Rücken. Versorgungssicherheit. Dann wird aus dem Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze Dabei haben Erdverkabelungen gegenüber Freileitun- ein gutes Gesetz. gen bestechende Umweltvorteile. Diese sind weniger Flä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – chenverbrauch, kaum Beeinträchtigung des Landschafts- Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das bildes und der Habitate, der von Bäumen freizuhaltende war aber deutlich unter meinem Niveau!) Streifen ist deutlich schmaler als bei Freileitungen, es gibt weniger Elektrosmog, es gibt im Normalbetrieb keine si- gnifikante Erwärmung der Erd-oberfläche und Vogel- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schlag wird völlig vermieden. Die Kampagne der Ener- Die Rede von Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, wird giekonzerne zu den angeblichen ökologischen Nachteilen zu Protokoll gegeben.1) Ich schließe deshalb die Aus- von Erdkabeln ist genauso unverständlich wie durchsich- sprache. tig. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Auch technologische und wirtschaftliche Vorteile den Drucksachen 16/10491 und 16/10590 an die in der sprechen für Erdkabel. Im 110-kV-Bereich sind sie seit Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. 25 Jahren bestens erprobt. Weltweit steigt die Nachfrage Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann im 380-kV-Bereich, was deren Kosten schnell senken ist die Überweisung so beschlossen. wird. Neue Technologien wie HGÜ-Leitungen oder gar Supraleitungen stehen vor dem Durchbruch. 1) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19535

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Für den Erhalt des VW-Gesetzes gibt es sowohl wirt- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE schaftspolitisch als auch historisch gute Gründe, und LINKE – das ist letztlich entscheidend – es gibt keine europa- rechtliche Verpflichtung, dieses Gesetz preiszugeben. Bundesverantwortung für den Steuervollzug wahrnehmen Liberale Ordnungspolitiker glauben, der Staat solle sich aus dem Wirtschaftsleben völlig heraushalten, der – Drucksache 16/9479 – Markt werde es schon richten. Dass das nicht stimmt, Überweisungsvorschlag: müssen wir gerade leidvoll erfahren. Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ausschuss für Wirtschaft und Technologie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Haushaltsausschuss Eine Marktwirtschaft kann nur dann sozial und erfolg- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- reich sein, wenn sie klare Regeln hat, Regeln wie zum sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich Beispiel das VW-Gesetz. Volkswagen ist mit diesem Ge- sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um setz bestens gefahren. Das Unternehmen steht heute folgende Kolleginnen und Kollegen: Antje Tillmann, wirtschaftlich blendend da. Wer unter diesen Umständen CDU/CSU, Lydia Westrich, SPD, Dr. Volker Wissing, immer noch das Hohelied der Deregulierung singt, hat FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke, und Christine nichts begriffen. Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.1) (Florian Toncar [FDP]: Wer hat Ihnen das Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf denn aufgeschrieben?) Drucksache 16/9479 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Der zweite gute Grund für das VW-Gesetz liegt in verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung seiner Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren so beschlossen. die Eigentumsverhältnisse bei VW völlig unklar. Erst 1960 sind sie in einem historischen Kompromiss geord- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: net und im VW-Gesetz verankert worden. Im Hinblick Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- auf die Machtbalance zwischen den Eigentümern wurde gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- geregelt, dass keiner allein eine beherrschende Stellung (B) rung des Gesetzes über die Überführung der erringen konnte. Außerdem wurde festgelegt, dass die (D) Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesell- Beschäftigten einen maßgeblichen Einfluss auf die Un- schaft mit beschränkter Haftung in private ternehmensentscheidungen bekommen. Hand Auch dafür gab es gute Gründe. Wichtige Teile des – Drucksache 16/10389 – VW-Werks sind nämlich mit Geld aufgebaut worden, das die Nazis den Gewerkschaften geraubt hatten, indem Überweisungsvorschlag: sie sie enteignet hatten. Außerdem hat gerade der Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss enorme Einsatz der Arbeitnehmer dazu geführt, dass der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Aufschwung von VW in den 50er-Jahren so großartig verlief. Diese historische Verpflichtung wirkt fort. Ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die meine, der Bundestag sollte sie bewahren, und Brüssel Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre sollte sie respektieren. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das dritte und letztlich entscheidende Argument für Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- diesen Gesetzentwurf ist allerdings rechtlicher Natur. ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, dass wir mit diesem Entwurf die europäischen Vorgaben zu 100 Pro- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: zent umsetzen. Der Tenor der Entscheidung hat einen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- klaren Wortlaut. Ich zitiere ihn: gen! Vor zwölf Monaten hat der Europäische Gerichts- Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass hof entschieden, dass einzelne Vorschriften des VW-Ge- sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung setzes gegen europäisches Recht verstoßen. Dieses Urteil war eine Entscheidung in letzter Instanz. Wir ak- – das sind die Worte, auf die es ankommt – zeptieren dieses Urteil. Wir müssen es umsetzen, und mit § 4 Abs. 3 des VW-Gesetzes beibehalten hat, wir tun das mit diesem Gesetzentwurf. gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG- Was wir allerdings nicht tun müssen, ist ebenso klar: Vertrag verstoßen. Es gibt weder rechtlich noch politisch einen Anlass, das Wenn aber zwei Vorschriften nur in Verbindung mit- gesamte VW-Gesetz infrage zu stellen. einander europarechtswidrig sind, dann kann man eine wegnehmen und die Europarechtswidrigkeit entfällt. 1) Anlage 9 Nichts anderes sieht der Gesetzentwurf vor. 19536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Menschen und durch das Fehlen demokratischer Kon- (C) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trolle durch den Staat. Zwei der im Tenor genannten Vorschriften heben wir Das alte VW-Gesetz begründete für das Unternehmen auf, die dritte behalten wir bei. Der ganze Streit mit der eine besondere sozialstaatlich geprägte Unternehmens- EU-Kommission geht also nur um eine einzelne Vor- verfassung. Die VW-Beschäftigten und der Staat erhiel- schrift, und zwar um die Bestimmung, wonach für wich- ten durch das Gesetz größere Einflussmöglichkeiten, um tige Entscheidungen der Hauptversammlung eine Mehr- willkürliche Betriebsverlagerungen gegen den Willen heit von über 80 Prozent der anwesenden Stimmen nötig der Belegschaft und eine Übernahme durch Spekulanten ist. Das ist eine andere Regelung, als sie das Aktienge- zu verhindern. Viereinhalb Jahrzehnte kam niemand auf setz normalerweise vorsieht. Da reichen nämlich die Idee, dass diese Festlegungen einmal gegen das 75 Prozent der Stimmen. Das hat natürlich wichtige Recht der Europäischen Gemeinschaft verstoßen könn- Konsequenzen. ten, bis die EU-Kommission 2005 vor dem Europäi- schen Gerichtshof geltend machte, das Gesetz schränke Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist die Kapitalverkehrsfreiheit unzulässig ein. Der EuGH davon überzeugt, dass wir diese Entscheidung richtig in- gab dem in einigen, nicht allen Punkten statt. terpretieren. Unsere Rechtsansicht ist von der EU-Kom- mission bislang auch nicht widerlegt worden. Die Tat- Wir von der Linken haben schon im März dieses Jah- sache, dass die EU-Kommission heute nicht – wie res einen Gesetzentwurf eingebracht, um das VW-Ge- angekündigt – beschlossen hat, dass sie nunmehr in die setz so zu verändern, dass es nicht im Widerspruch zu zweite Stufe des Verfahrens eintritt, und Deutschland dem Urteil des EuGH stehen würde. Wir hatten zum ei- nicht noch einmal eine Aufforderung schickt, innerhalb nen vorgeschlagen, die Stimmrechtsbeschränkung auf von zwei Monaten seine Rechtsansichten darzulegen, maximal ein Viertel der Stimmen zu streichen, aber eine spricht dafür, dass auch in Brüssel klar geworden ist, qualifizierte Mehrheit von vier Fünfteln für bestimmte dass die EU-Kommission etwas genauer prüfen muss, ob Beschlüsse der Hauptversammlung bestehen zu lassen. die Rechtsauffassung, die sie bisher vertreten hat, wirk- Dem ist die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf lich so eindeutig ist oder ob es nicht so ist, dass „in Ver- gefolgt. bindung mit“ – das sagen wir – bedeutet, dass zwar zwei Vorschriften in Verbindung miteinander EU-rechtswid- Zum anderen hatten wir vorgeschlagen, die Stimm- rig sind, nicht aber jede einzelne für sich. rechtsdelegation durch öffentliche Anteilseigner im Hin- blick auf das EuGH-Urteil zu modifizieren. Die Bundes- Sollte die EU-Kommission dennoch entscheiden, das regierung will im Gegensatz dazu diese Möglichkeit Verfahren weiterzuführen, werden wir nach ihrer Auffor- ersatzlos streichen. Das ginge zulasten des demokrati- (B) derung zwei Monate Zeit haben. Wir werden dann zum schen Einflusses der Allgemeinheit, und zwar, wie wir (D) wiederholten Male die Gelegenheit nutzen, unsere meinen, ohne dass dies durch das EuGH-Urteil gefordert Rechtspositionen deutlich zu machen. Um es auf den würde. Darüber werden wir im Laufe der Beratungen Punkt zu bringen: Wir akzeptieren das Urteil des EuGH. kontrovers diskutieren müssen. Wir setzen es zu 100 Prozent um, aber wir gehen nicht Darüber hinaus müssen wir aber ganz grundsätzlich darüber hinaus. der profitorientierten und deregulierten marktradikalen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Rechtsprechung des EuGH entgegentreten. Diese Recht- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sprechung finden wir auch in aktuellen Urteilen zur Ein- NEN) schränkung des Streikrechts, zum Grundsatz der Tarif- treue im niedersächsischen Landesvergabegesetz und gegen wichtige soziale Elemente des luxemburgischen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Arbeitsrechts. Dadurch wird den Marktfreiheiten des Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothée Menzner, Kapitals, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleis- Fraktion Die Linke. tungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit Vorrang (Beifall bei der LINKEN) vor den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip gege- ben. Diese EuGH-Rechtsprechung hat nichts mit den ur- sprünglichen Intentionen der Verträge und auch nichts Dorothée Menzner (DIE LINKE): mit einem sozialen Europa zu tun. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir die Novellierung des VW-Ge- (Beifall bei der LINKEN) setzes zu einer Zeit diskutieren, die durch die aktuelle Wir brauchen nicht ein VW-Gesetz, sondern wir brau- Finanzkrise geprägt ist, ist ein Zufall. Es besteht aber chen insgesamt Unternehmensverfassungen, durch die durchaus ein Zusammenhang zwischen VW-Gesetz und Mitbestimmungsrechte gesichert werden und die Unter- Finanzkrise. ordnung von Unternehmen unter bloßes Spekulantentum (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) verhindert wird. Um das auch europarechtlich gegenüber dem EuGH abzusichern, benötigen wir Klarstellungen Diesen müssen wir uns bewusst machen. Schließlich im Primärrecht der EU. Deshalb haben wir gemeinsam bieten Krisen die Chance, aus Fehlern zu lernen. Die mit dem DGB die Aufnahme eines sozialen Fortschritts- Finanzkrise ist verursacht durch Profitgier und Deregu- protokolls in die Verträge gefordert. Kurzfristig geht es lierung, durch mangelnden Einfluss der arbeitenden aber darum, das VW-Gesetz möglichst weitgehend zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19537

Dorothée Menzner (A) erhalten. Über den besten Weg dazu werden wir in den die geringste Neuigkeit nicht nur von der VW-Beleg- (C) Beratungen zu streiten haben. schaft, sondern auch von großen Teilen unserer Bevölke- rung mit Interesse aufgenommen. Deswegen muss, finde Ich danke. ich, allen klar sein, dass es sich bei Volkswagen nicht um (Beifall bei der LINKEN) irgendein beliebiges Großunternehmen handelt, dessen Wert man allein an der Aktienperformance bemisst. Die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: meisten Anwesenden werden so wie ich zunächst die Nächster Redner ist der Kollege Michael Grosse- Käferflut der 60er- und 70er-Jahre miterlebt haben. An- Brömer, CDU/CSU-Fraktion. schließend folgten der Polo, der Golf und der Passat, also weitere Volkswagen im eigentlichen Sinne des Wor- (Beifall bei der CDU/CSU) tes. Viele von Ihnen haben sicherlich eines der Modelle zu irgendeinem Zeitpunkt gefahren. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): (Ute Kumpf [SPD]: Nein! Ich bin nur Audi ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- fahren! – Zurufe von der CDU/CSU) ginnen und Kollegen! Wir haben uns schon im April die- ses Jahres mit dem VW-Gesetz beschäftigt. Damals ging – Ich sehe schon an den persönlichen Stellungnahmen, es um den etwas populistischen und wenig sachgerech- dass Sie an diese Fahrzeuge mehr oder weniger gute Er- ten Schnellschuss der Linksfraktion. Am Ende meiner innerungen haben – welche genau, will ich gar nicht hin- damaligen Rede habe ich gesagt, dass ich froher Hoff- terfragen. nung bin, dass irgendwann ein Gesetzentwurf der Bun- desregierung vorliegt. So weit sind wir heute. Nach sorg- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: fältiger Prüfung haben wir einen ordentlichen Entwurf Schade!) zur ersten Lesung vor uns liegen. Wichtiger als der millionenfache Verkauf der Autos Bevor ich auf die rechtlichen Details eingehe, erlau- ist, glaube ich, dass VW zu einem Symbol für Stabilität, ben Sie mir den Hinweis auf zwei Punkte, die meiner Kontinuität und vielleicht sogar für ein Stück deutsche Ansicht nach besonders bemerkenswert sind. Identität geworden ist. Unsere Kanzlerin hat in ihrer Rede auf der Betriebsversammlung von VW über VW Zum einen werden durch den Entwurf einmal mehr von einem „tollen Stück Deutschland“ gesprochen, „das die große Dynamik des Europarechts und dessen Ein- Milliarden von Menschen mit Deutschland verbinden“. fluss auf unsere Rechtsprechung und unsere parlamenta- Insofern ist VW sogar ein Botschafter für unser Land. rischen Beratungen verdeutlicht. Es war ja schon er- Deshalb ist das Schicksal von VW für viele – nicht nur (B) staunlich, dass der Binnenmarktkommissar Charlie für die Beschäftigten, sondern für sehr viele Deutsche (D) McCreevy bereits inmitten unserer damaligen Gesetzge- und insbesondere die Niedersachsen – eine Herzensan- bungsarbeit ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren gelegenheit. angekündigt hatte. Wir alle haben uns darüber ein biss- chen gewundert. Am gestrigen Mittwoch aber – die Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ministerin hat darauf hingewiesen – wurde der Punkt Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die VW von der Tagesordnung der Kommissionssitzung ge- Kanzlerin!) nommen. Dabei sollte eigentlich der Fortgang des Ver- tragsverletzungsverfahrens beschlossen werden. Für Zwar klatscht jetzt nur die unendlich beeindruckende mich ist das jedenfalls ein großes Hoffnungszeichen da- Anzahl der niedersächsischen CDU-Abgeordneten, aber für, dass umgedacht wird und dass vielleicht auch die eigentlich hätte ich das auch von anderen erwartet. Es Argumente des niedersächsischen Ministerpräsidenten, gibt auch bei der SPD gute Ansätze, Herr Duin. der Mehrheit dieses Parlaments und des Bundesjustizmi- (Garrelt Duin [SPD]: Meine Parlamentarische nisteriums auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Geschäftsführerin kommt aus Stuttgart! Was (Beifall bei der CDU/CSU) erwarten Sie da?) Für die Kommission ist jetzt vielleicht auch ein – Ich habe Ihren Plenardienst nicht eingeteilt, da hätten schlechter Zeitpunkt, über ein Gesetz nachzudenken und Sie Einfluss nehmen müssen. zu beanstanden, dass es in irgendeiner Form zu große Dieser Hintergrund erklärt vielleicht, dass das Urteil staatliche Interventionen gibt; denn gerade wurde auf des sonst eher selten wahrgenommenen Europäischen EU-Ebene eine staatliche Intervention im Bankenwesen Gerichtshofs vom 23. Oktober 2007 große Aufmerksam- für durchaus sinnvoll erachtet; das wurde von der Minis- keit erlangte. Ich habe schon im April ausführlich dazu terin schon kurz angesprochen. Es wäre ja fast paradox, Stellung genommen – wie die Frau Ministerin eben auch – wollte man gleichzeitig eine ganz dezente Beteiligung und nenne deshalb nur kurz die Eckdaten. Der Gerichts- eines Bundeslandes an einem Traditionsunternehmen für hof hat erklärt, dass die Stimmrechtsbeschränkung aus europarechtswidrig halten. § 2 Abs. 1 in Verbindung – und zwar nur in Verbindung Zum anderen finde ich, dass eine besondere Aufmerk- – mit den besonderen Mehrheitserfordernissen des samkeit in der Öffentlichkeit auch allen im Zusammen- § 4 Abs. 3 VW-Gesetz mit der Kapitalverkehrsfreiheit, hang mit VW stehenden Fragen gebührt, und das nicht wohl geregelt in Art. 56 EG-Vertrag, unvereinbar ist. nur wegen des Aktienkurses, der uns ja auch fast täglich Ferner wurden die Entsenderechte in den Aufsichtsrat überrascht. Wie bei kaum einer anderen Institution wird beanstandet. 19538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Michael Grosse-Brömer (A) Ich bin weit davon entfernt, Gerichtsschelte zu betrei- stehende Regelung europarechtskonform auszugestalten. (C) ben. Das brauchen wir auch nicht. Wir sollten die Recht- Ich hätte mir gewünscht, dass der Industriekommissar sprechung des EuGH sehr ernst nehmen. Das ist ein Hin- Verheugen auf europäischer Ebene frühzeitig tätig ge- weis an die Linke. Es bringt nichts, später die Urteile worden wäre. umzudeuten. Darum geht es auch nicht. Vielmehr hat die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genau das getan, was angezeigt war. Nun ist das nicht der Fall. Aber die Bundesregierung hat (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE dieses Manko aufgegriffen und zuverlässig gearbeitet. LINKE]) Ich bin sicher: Selbst wenn sich noch etwas veränderte und Herr McCreevy bei seiner Auffassung bleiben – Herr Dehm, bleiben Sie locker! Sie haben doch sonst sollte, wäre Deutschland in einem erneuten Verfahren ein bisschen Rhythmus im Blut. Darauf müssen wir jetzt vor dem EuGH nicht chancenlos. Vielleicht kommen wir nicht eingehen. aber auch darum herum. Eine begründete Einlassung der Kommission liegt bekanntlich noch nicht vor. Vielleicht Ich begrüße es, dass es der Bundesregierung gelungen will man sich sinnvollerweise nicht verkämpfen. Vor ist, die europarechtlichen Verpflichtungen mit den be- dem Hintergrund der Finanzkrise und der wahrscheinli- rechtigten und schützenswerten Interessen von VW zu chen Renaissance von staatlichen Beteiligungen und vereinbaren. Das war keine einfache Aufgabe, aber sie Kontrollen sollten EU und Mitgliedstaaten gemeinsam ist geglückt. Mit dem VW-Gesetz in der nun angepassten darüber nachdenken, wie sich künftige Gefahrenlagen Form bleibt es dabei: Für wichtige Unternehmensent- für den Binnenmarkt nachhaltig abwenden lassen. Was scheidungen ist eine Mehrheit von 80 Prozent plus einer hilft uns die bis in die letzte Konsequenz durchgesetzte Aktie notwendig. Die sich daraus ergebene Sperrminori- Kapitalverkehrsfreiheit, wenn letztendlich das innere tät von 20 Prozent wird also auch künftig das Mitspra- Gerüst der EU, der Binnenmarkt, wegen anderer Schwä- cherecht des Landes Niedersachsen sicherstellen und so- chen ruiniert ist? mit wie bislang Garant für die Stabilität bei VW sein. Weiterhin muss der Aufsichtsrat auch künftig mit Zwei- Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen sollten drittelmehrheit entscheiden. Aufgrund der paritätischen uns an Ludwig Erhard erinnern: Der ungebändigte Markt Besetzung heißt dies, dass gegen den Willen der Arbeit- ist keine soziale Marktwirtschaft. Im Gegenteil: Soziale nehmervertreter keine Entscheidungen über Einrichtung Marktwirtschaft hat immer Spielregeln vorausgesetzt. oder Verlegung von Produktionsstätten getroffen werden Der Markt muss gestaltet werden, damit er ein Mindest- können. maß an Transparenz und Berechenbarkeit behält. Das VW-Gesetz ist ein Element einer solchen Gestaltung des (B) Die globale Finanzkrise, die uns in den letzten Tagen Marktes, so ein Zitat unserer Kanzlerin in Wolfsburg. (D) und Wochen so intensiv beschäftigt hat, hat verdeutlicht, Frau Zypries, insoweit halte ich den vorliegenden Ge- dass Wettbewerb und marktwirtschaftliche Freiheit ohne setzentwurf für die optimale Lösung eines schwierigen Stabilität und Sicherheit für die Menschen nicht viel Problems, nämlich eines Ausgleichs zwischen europa- Wert haben. rechtlicher Harmonie und einer beeindruckenden deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schen Erfolgsgeschichte. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund ist die Stabilität von VW erst (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) recht ein erstrebenswertes Gut, das aufrechterhalten wer- den muss. Die über 350 000 Menschen zählende VW- Belegschaft weltweit, deren Familien und auch die in der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zulieferindustrie Beschäftigten werden das ebenso se- Der Kollege , FDP-Fraktion, hat seine hen. Rede zu Protokoll gegeben.1) Das VW-Gesetz hat sich in den fast 50 Jahren seiner Ich gebe nun Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grü- Existenz übrigens niemals gegen Großaktionäre gerich- nen, das Wort. tet. Das ist eine völlig falsche Interpretation. Man wollte 1960 lediglich sicherstellen, dass es keinen alles domi- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nierenden Großaktionär gibt. Eine Vielfalt von Aktionä- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ren sollte sich beteiligen. Man sprach von einer Volksak- Es ist unglaublich wichtig, jedes Mal, wenn wir über das tie. Deswegen wäre es schlicht zu kurz gegriffen, zu VW-Gesetz diskutieren, an die besondere Geschichte behaupten – das richte ich an die Adresse der SPD-Kol- von VW zu erinnern, wie es die Ministerin eben getan legin aus Stuttgart –, man wolle mithilfe des VW-Geset- hat; denn ohne Kenntnis dieser Geschichte ist die aktu- zes ein Engagement von Porsche grundsätzlich bekämp- elle Debatte nicht zu verstehen. Die Nazis bauten VW fen. Im Gegenteil: Porsche ist ein toller Partner für VW; mit beschlagnahmtem Gewerkschaftsvermögen auf. darin bin ich mir ganz sicher. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte niemand die Reste dieses Werkes haben, weder Ford noch GM noch briti- Nach all dem geht es beim VW-Gesetz nicht darum, sche Industrielle. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- von heute auf morgen und ohne Zusammenhang ein Un- ternehmen zu privilegieren. Vielmehr geht es darum, die berechtigterweise für VW jahrzehntelang erfolgreich be- 1) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19539

Dr. Thea Dückert (A) nehmer haben dann das Werk wiederaufgebaut. Diese denke, dass diese Entwicklung viel weniger, wie jetzt (C) Geschichte wird durch das VW-Gesetz gewürdigt. Das häufig gesagt wird, mit der Finanzkrise zu tun hat, son- begründet, warum so viele trotz der Einwendungen der dern eher mit einer rückwärtsgewandten und verfehlten EU-Kommission – diese muss man respektieren – versu- Produktpolitik der gesamten Branche. Wir tun gut daran, chen, einen Kompromiss zu finden, der VW und seiner darüber zu diskutieren; wir sollten aber nicht, wie es die Geschichte gerecht wird. Ich denke, was die Ministerin Kanzlerin angedeutet hat, in einen milliardenschweren vorgeschlagen hat, ist ein solcher Kompromiss. Subventionswettlauf eintreten, der Ausmaße wie in den USA annimmt. VW braucht Ruhe. Die Automobilbran- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che in Deutschland braucht die Chance, neue Produktli- Es ist allerdings schade und schädlich, dass die Bun- nien zu entwickeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben. desregierung insgesamt nicht immer mit einer Stimme gesprochen hat. Der Wirtschaftsminister, der für diesen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Themenbereich in erster Linie verantwortlich ist, hat Frau Kollegin Dückert. seine Zweifel in einer Protokollnotiz formuliert und do- kumentiert. Es gibt zudem Querschüsse von Ihrem Kol- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): legen Ministerpräsidenten Oettinger. Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir schnell (Ute Kumpf [SPD]: Na ja! Der ist auch aus zum Schluss kommen, Frau Präsidentin, – Stuttgart!) (Beifall bei der CDU/CSU) Manchmal hat man den Eindruck, dass er schon seine Nach-Ministerpräsidenten-Karriere als Lobbyist für Por- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sche vorbereitet. Ich weiß nicht, was da los ist. Diese Das ist richtig. Doppelzüngigkeit – ich will eher von Vielstimmigkeit reden – ist schädlich in dieser Debatte Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Tabak- – auch mit dem VW-Gesetz. Wir müssen es schaffen, industrie!) dass die Europäische Kommission unsere Vorschläge ak- und hilft uns nicht, diesen Konflikt in Brüssel durchzu- zeptiert. Ich wünsche hier weiterhin fröhliche Beratun- stehen. gen. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Danke schön. EVUs!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) Ich gönne Frau Bundeskanzlerin Merkel wirklich die- sen Auftritt als Jeanne d’Arc in Wolfsburg, aber – das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gehört eben auch dazu – dann muss sie auch dafür sor- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege gen, dass die Bundesregierung insgesamt, und auch die Garrelt Duin, SPD-Fraktion. CDU-Ministerpräsidenten mit einer Stimme sprechen. Wir haben bei VW eine besonders schwierige Situation. Garrelt Duin (SPD): Es gibt Unruhe, es gibt Machtkämpfe zwischen dem Ma- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nagement von VW und Porsche, es gibt ein Hin und Her Kollegen! Ich freue mich, dass wir diese Debatte, wenn auch auf Betriebsratsebene, und es gibt Unruhe im Por- auch leider zu später Stunde, heute doch noch führen sche-Clan selber. und nicht alle Reden zu Protokoll geben, insbesondere (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: deswegen, weil wir uns hier der Anwesenheit eines Auf- Das ist wie mit Özdemir!) sichtsratsmitglieds von VW erfreuen, das in erfreulicher Weise, was das VW-Gesetz angeht, Seite an Seite mit Wenn wir angesichts einer sich abzeichnenden Automo- der Justizministerin gekämpft hat und hoffentlich auch bilkrise wollen, weiter kämpft. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bei der Nominierung von Özdemir!) CDU/CSU – Jochen-Konrad Fromme [CDU/ dass sich VW gut aufstellt und die Arbeitsplätze weiter- CSU]: Der ist auch sonst gut!) hin gesichert werden, dann ist es wichtig, dass Ruhe in Ich möchte der Justizministerin hier ausdrücklich für dieses Durcheinander kommt. Auch ist es wichtig, dass ihre Standfestigkeit danken, die sie in den letzten Mona- auf die Frage, wie es mit dem VW-Gesetz weitergeht, ten – inzwischen sind es Jahre – in dieser Frage bewie- sehr schnell klare Antworten gegeben werden und eine sen hat, und zwar Standfestigkeit nicht nur gegenüber Lösung gefunden wird. den europäischen Widerständen, die wir zu beklagen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- hatten und nach wie vor zu beklagen haben, sondern SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans- auch gegenüber den Widerständen innerhalb der Bun- Michael Goldmann [FDP]) desrepublik und zum Teil sogar – ich fand das sehr be- dauerlich – innerhalb der Bundesregierung. Es ist aber VW hat eine schwierige Zukunft, auch vor dem Hinter- durch gute Unterstützung aus den Koalitionsfraktionen grund der Entwicklung der Automobilbranche. Ich gelungen, 19540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Garrelt Duin (A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das gute Zukunft hat und dass wir nicht weiter erleben müs- (C) gehört dazu!) sen, dass es – wenn wir die Baustelle VW-Gesetz or- dentlich abgeräumt haben – an anderer Stelle zu Kon- das, was die Justizministerin ohnehin vorhatte, in dem flikten kommt, die den Beschäftigten bei Volkswagen Gesetzentwurf zu verankern. Wir sollten uns bei ihr be- schaden könnten. Wir müssen das so organisieren – ge- danken, dass sie zwischendurch nicht gewackelt hat, rade in den dafür zuständigen Gremien –, dass es für sondern dass wir das so durchsetzen konnten. alle, die dort jetzt beschäftigt sind – hoffentlich werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es in der Zukunft noch mehr sein –, eine gute Zukunft der CDU/CSU) gibt. Ich möchte auch darauf hinweisen – Herr Grosse- Herzlichen Dank. Brömer, bei Ihnen klang das eben etwas anders –, dass (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem wir uns in dieser Frage auf den Industriekommissar in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- der EU-Kommission, Herrn Günter Verheugen, in den geordneten der FDP) vergangenen Jahren immer haben verlassen können. Er ist immer ein verlässlicher Partner gewesen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Na ja!) Ich schließe die Aussprache. Die beiden werden das sicherlich bestätigen können. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Wir wissen, VW ist einer der größten Automobilher- wurfs auf Drucksache 16/10389 an die in der Tagesord- steller der Welt. Auf diese Erfolge ist in den Vorreden nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es zum Teil schon hingewiesen worden. Ich will aber deut- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. lich machen, dass das insbesondere ein Erfolg der dort Dann ist die Überweisung so beschlossen. beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- CSU) richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales und ihrer dort erkämpften Mitbestimmungs- und Mit- (11. Ausschuss) spracherechte. Ohne diese Mitbestimmungsrechte, die – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus bei VW nach wie vor in einer besonderen Form gewähr- Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weite- leistet sind, wäre dieser Erfolg des Unternehmens nicht rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- möglich gewesen. (B) NIS 90/DIE GRÜNEN (D) (Beifall bei der SPD) Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Wer an diese Mitbestimmungsrechte über das Vehikel Behinderungen weiterentwickeln Kapitalmarktfreiheit und Ähnliches Hand anlegt, der – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja muss in dieser Bundesregierung und in diesem Parla- Seifert, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, wei- ment einen entschiedenen Gegner finden. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei der SPD) LINKE Im Laufe der Jahre haben sich in Abstimmung mit Gesetz zum Ausgleich behinderungsbeding- den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sehr zu- ter Nachteile vorlegen (Nachteilsausgleichs- kunftsfähige und auch von anderen Marktteilnehmern gesetz – NAG) sehr aufmerksam beobachtete Arbeits- und Tarifmodelle – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, entwickelt, ohne die eine beständige Zukunftssicherung Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weite- nicht möglich gewesen wäre. Gerade in Zeiten wie die- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sen, in denen wir damit rechnen müssen, dass auch die- ses Unternehmen von der Situation, die wir auf dem Bin- Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär- nenmarkt, aber auch weltweit erleben, in Mitleidenschaft ken – Wahlfreiheit und Selbstbestimmung gezogen wird, ist es wichtig, auch zukünftig mit der Fle- der Menschen mit Behinderung erhöhen xibilität, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort an – Drucksachen 16/7748, 16/3698, 16/9451, den Tag legen, reagieren zu können. Ich hoffe, dass wir 16/10601 – mit diesem VW-Gesetz – so wie Frau Dückert es gerade gesagt hat – Ruhe bekommen. Ich bin davon überzeugt, Berichterstattung: dass das, was wir jetzt vorlegen, EU-rechtskonform ist Abgeordneter Hubert Hüppe und dass wir, sollte es noch einmal zu einer Auseinan- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- dersetzung kommen, diese gewinnen werden. sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich setze sehr sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um darauf, dass Sie und die anderen Anteilseigner an Volks- die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert wagen in den nächsten Monaten so viel Vernunft zeigen Hüppe, CDU/CSU, Silvia Schmidt, SPD, Heinz-Peter – das sage ich auch meiner Parlamentarischen Ge- Haustein, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus schäftsführerin aus Stuttgart –, dass dieser Konzern eine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.1) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19541

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (C) ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10601. Beratung des Antrags der Abgeordneten Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Goldmann, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7748 Abgeordneter und der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln“. Wer stimmt für Biotechnologische Innovationen im Interesse diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – von Verbrauchern und Landwirten weltweit Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den nutzen – Biotechnologie ein Instrument zur Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion FDP Bekämpfung von Armut und Hunger in den und bei Ablehnung der Fraktionen Die Linke und Entwicklungsländern Bündnis 90/Die Grünen angenommen. – Drucksache 16/6714 – Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Überweisungsvorschlag: des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sache 16/3698 mit dem Titel „Gesetz zum Ausgleich be- Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Gesundheit hinderungsbedingter Nachteile vorlegen“. Wer stimmt für Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung Entwicklung von Bündnis 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Drucksache 16/9451 mit dem Titel „Wettbewerb in der Johannes Röring, CDU/CSU, Elvira Drobinski-Weiß Eingliederungshilfe stärken – Wahlfreiheit und Selbstbe- und Dr. Sascha Raabe, SPD, Dr. Christel Happach- stimmung der Menschen mit Behinderung erhöhen“. Kasan, FDP, Hüseyin-Kenan Aydin, Fraktion Die Linke, Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.2) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP mit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Drucksache 16/6714 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (D) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- so beschlossen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Perso- nalausweise und den elektronischen Identitäts- Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: nachweis sowie zur Änderung weiterer Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Vorschriften gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über geneti- – Drucksache 16/10489 – sche Untersuchungen bei Menschen (Gendia- gnostikgesetz – GenDG) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) – Drucksachen 16/10532, 16/10582 – Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Tourismus Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Clemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert Gisela Piltz, FDP, Jan Korte, Die Linke, Wolfgang Hüppe, CDU/CSU, Dr. Carola Reimann, SPD, Heinz Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.1) Lanfermann, FDP, Monika Knoche, Die Linke, Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- schen Staatssekretärs Rolf Schwanitz.3) wurfs auf Drucksache 16/10489 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Drucksachen 16/10532 und 16/10582 an die in der Ta- Dann ist die Überweisung so beschlossen. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.

1) Anlage 11 2) Anlage 13 1) Anlage 12 3) Anlage 14 19542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht Zweitens. Wohnbeschaffungs- und Umzugskosten so- (C) der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. wie eine Mietkaution können bei entsprechender Zusiche- rung des Grundsicherungsträgers übernommen werden, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: wobei eine Mietkaution in der Regel in Form eines Dar- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja lehens erbracht wird. Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Drittens. Die Leistungen zur Sicherung der Unterkunft erhält der Empfänger grundsätzlich in Form von Geld- Wohnungslosigkeit vermeiden – Wohnungs- leistungen. Um das Mietverhältnis durch ausbleibende lose unterstützen – SGB II überarbeiten Mietzahlungen nicht zu gefährden, soll jedoch der zustän- dige Träger die Kosten für Unterkunft und Heizung aus- – Drucksache 16/9487 – nahmsweise direkt an den Vermieter oder andere Emp- Überweisungsvorschlag: fangsberechtigte zahlen, wenn die zweckentsprechende Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Verwendung der Leistungen für Unterkunft und Heizung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch den Hilfebedürftigen nicht gewährleistet werden Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe kann. Haushaltsausschuss Sofern Kosten der Unterkunft und Heizung nicht un- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die mittelbar an den Vermieter gezahlt werden, können bei Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Karl nicht zweckgerechter Verwendung der Leistungen Schul- Schiewerling, CDU/CSU, Gabriele Lösekrug-Möller, den auflaufen, die das Mietverhältnis bzw. die Versorgung SPD,1) Heinz-Peter Haustein, FDP, Katja Kipping, Die mit Wärme und Wasser bedrohen. Um in diesen Fällen Linke, Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. Obdachlosigkeit oder eine vergleichbare Notlage abzu- wenden, ist sogar die Möglichkeit einer Schuldenüber- nahme vorgesehen. Karl Schiewerling (CDU/CSU): In den letzten Jahren konnte Wohnungslosigkeit redu- Auch das Wohngeld leistet einen wichtigen Beitrag zur ziert werden. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsge- sozialen Absicherung des angemessenen und familienge- meinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) lag die Zahl der rechten Wohnens. Zum 1. Januar 2009 tritt die Wohngeld- wohnungslosen Personen im Jahr 2006 bei 254 000 und novelle in Kraft. Die Wohngeld-Tabellenwerte werden um damit bei weniger als der Hälfte gegenüber 1998, als 8 Prozent und die Miethöchstbeträge um 10 Prozent er- (B) etwa 530 000 Menschen wohnungslos waren. Laut Drit- höht. Dafür werden insgesamt 520 Millionen Euro aufge- (D) tem Armuts- und Reichtumsbericht profitieren von dem wandt. Zukünftig werden erstmals die Heizkosten in pau- Rückgang insbesondere Familien. Gegenüber Schätzun- schalierter Form einbezogen. Mit dem Wohngeld wird in gen von 2003 hat sich die Zahl der wohnungslosen Kinder Verbindung mit dem reformierten Kinderzuschlag eine und Jugendlichen halbiert. spürbare Entlastung für etwa 70 000 einkommensschwa- Das sind erfreuliche Entwicklungen. Dennoch halten che Haushalte außerhalb des Sozialgesetzbuches er- wir die Vermeidung und den Abbau von Obdach- bzw. reicht. Wohnungslosigkeit für sehr wichtig. Wir nehmen unsere Wohnungslosigkeit ist nicht immer eine Frage des An- Verantwortung gegenüber dem betroffenen Personen- kreis im Rahmen unserer gesetzgeberischen Zuständig- gebots von Wohnungen sondern manchmal auch Ergeb- keiten wahr – auch im SGB II, der Grundsicherung für nis von persönlichen Entscheidungen von Wohnungslo- Arbeitsuchende. Denn der weit überwiegende Teil der ob- sen. Sie haben sich, aus welchen Gründen auch immer, zu dach- und wohnungslosen Menschen ist wegen ihrer Er- diesem Leben entschieden. Hier gibt es viele Lebens- werbsfähigkeit dem SGB-II-Bereich zuzurechnen. Viel- schicksale. Aber auch diesen Menschen zu helfen, dass fältige Rechte und Schutzvorschriften stehen den sie Anlaufpunkte haben und Versorgung bekommen, ist Betroffenen zur Seite. eine öffentliche Aufgabe insbesondere der Städte, Ge- meinden und Länder. Erstens. Zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II gehören auch die tat- Die rückläufigen Zahlen belegen, dass die verstärkte sächlich anfallenden, angemessenen Kosten für Unter- Präventionsarbeit der Kommunen zur Verhinderung von kunft und Heizung sowie Erstausstattungen für die Woh- Wohnungsverlust sowie die Integrationsarbeit der Woh- nung einschließlich Haushaltsgeräte. Damit ist im nungslosenhilfe ihre Wirkung zeigen. Um Wohnungslo- Rahmen des SGB II sichergestellt, dass es einem erwerbs- sigkeit zu vermeiden, werden wir auch weiterhin die Ar- fähigen Hilfebedürftigen nicht an den erforderlichen Mit- beit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe teln fehlen muss, damit er mit den zu seiner Bedarfsge- unterstützen. Allein im Haushaltsjahr 2008 wurden Mittel meinschaft gehörenden Personen in einer angemessenen in Höhe von 243 000 Euro zur Verfügung gestellt. und mit den notwendigen Einrichtungsgegenständen aus- gestatteten Wohnung leben kann. Durch die hier erwähnten Maßnahmen wird Woh- nungslosigkeit vorgebeugt. Es gibt bereits Instrumente, 1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im die gut funktionieren. Deshalb lehnen wir eine Überar- Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht. beitung des SGB II ab. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19543

(A) Heinz-Peter Haustein (FDP): tur für Arbeit vor, wenn diese so strukturiert und gestaltet (C) Niemand möchte, dass Menschen wohnungslos wer- ist, dass es dem dort Untergebrachten nicht möglich ist, den. Wir müssen alles dafür tun, dass den Betroffenen die aus der Einrichtung heraus mindestens drei Stunden täg- notwendige Unterstützung zuteil wird. Deswegen heißt es lich erwerbstätig zu sein. Der Untergebrachte, so die Ar- auch im Sozialgesetzbuch: gumentation, ist dann derart zeitlich und räumlich fremd- bestimmt, dass er der Integration in den Arbeitsmarkt Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in nicht zur Verfügung steht, wie es das SGB II verlangt. der Höhe der tatsächlichen Aufwendungen er- bracht, soweit diese angemessen sind. Drittens. Ferner thematisiert der Antrag die Woh- nungslosigkeit junger Menschen, die droht, wenn unter § 22 (1) SGB II. 25-jährige Leistungsbezieher von zu Hause ausziehen. In Das gilt es zuallererst festzustellen, wenn wir hier über dem Fall ist laut § 22 Abs. 2 a SGB II zuvor eine Geneh- das Problem der Wohnungslosigkeit reden. Das heißt, migung des Trägers einzuholen, sofern weiterhin Leistun- dass es Wohnungslosigkeit, wie die Fraktion Die Linke sie gen bezogen werden wollen. Dass Die Linke hier aber- mit dem vorliegenden Antrag thematisiert, eigentlich gar mals erklärt, die Einholung der Genehmigung sei den nicht geben dürfte. Denn der Staat trägt ja über diese Vor- betroffenen jungen Menschen nicht zuzumuten und es sei schrift bereits heute die Kosten der Unterkunft, und zwar abzulehnen, dass erwachsene Menschen nicht aus freien nicht in begrenzter Höhe in Form bestimmter Sätze, son- Stücken einen eigenen Hausstand gründen dürfen, ist dern vollumfänglich in der Höhe der tatsächlich entstan- nichts Neues. Diese Haltung ist jedoch gleichermaßen denen Kosten, sofern diese angemessenen sind. bekannt und falsch. Der Staat wird in dieser Vorschrift des SGB II seiner Denn worüber reden wir hier? Diejenigen unter 25-Jäh- Fürsorgepflicht gerecht. Dass damit auch Pflichten des rigen, die eine eigene Wohnung brauchen und die Entspre- Leistungsempfängers verbunden sind, muss selbstver- chendes rechtzeitig beantragen, werden selbstverständ- ständlich sein. lich Unterstützung erfahren. Dass sie dies zuvor beantragen müssen, ist eine Selbstverständlichkeit. Von Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Reihe von Maß- dem Minimum an Eigenverantwortung dürfen wir die nahmen, auf die ich gerne im Einzelnen eingehen möchte: Menschen nicht entbinden. Sich als unter 25-Jähriger Erstens. Zunächst soll im SGB II die Möglichkeit ge- ohne Einkommen vor dem Abschluss eines Mietvertrages schaffen werden, dass der Staat bestehende Mietschulden zu fragen, wer die Kosten für die neue Wohnung trägt, ist eines Leistungsbeziehers übernimmt. Dies soll künftig als eine Selbstverständlichkeit. Falls schwerwiegende so- Beihilfe geschehen. Der Antrag argumentiert, Mietschul- ziale Gründe oder aber die Eingliederung in den Arbeits- markt eine eigene Wohnung erforderlich machen, wird (B) den seien der dominierende Grund für den Wohnungsver- (D) lust und die Vermeidung von Wohnungslosigkeit sei nicht der Träger auf Antrag selbstverständlich die Kostenüber- nur sozialer und effektiver, sondern auch günstiger als die nahme erklären. Dies zuvor zu beantragen ist allerdings Reintegration von Wohnungslosen. Es ist richtig, dass nicht nur zumutbar. Es entspricht dem Maß an Eigenver- Mietschulden die Hauptursache für den Verlust der Woh- antwortung, das unerlässlich ist, nämlich sich rechtzeitig nung und Wohnungslosigkeit sind. Ebenso richtig ist, um seine finanziellen Angelegenheiten selbst zu küm- dass es ökonomisch sinnvoll ist, Wohnungslosigkeit von mern, wenn Bedürftigkeit droht oder naht. Anbeginn zu vermeiden, anstatt die Folgen zu bekämpfen. Viertens. Auch wendet sich die Linke gegen die beste- Natürlich ist Prävention günstiger als Heilung. Richtig hende Regelung des § 31 Abs. 5 SGB II, der die Möglich- ist aber auch, dass Mietschulden bereits nach heutiger keit vorsieht, auch die Kosten der Unterkunft vollständig Rechtslage keine Auslöser für Wohnungslosigkeit sein zu streichen, weil dies zu Wohnungslosigkeit führe. Es ist müssen. Laut § 23 Abs. 4 Satz 3 sollen Mietschulden so- klar, dass Wohnungslosigkeit droht, wenn die Kosten gar explizit vom Leistungsträger übernommen werden, nicht länger getragen werden. Doch über die Ursache für um drohende Wohnungslosigkeit zu vermeiden. Dass dies die Kürzung der Leistungen geht man leichtfüßig hinweg. als Darlehen geschieht, schmälert nicht die Wirksamkeit Denn erstens gilt die Möglichkeit, die Leistungen einzu- dieses Instruments zur Vermeidung des Wohnungsverlus- schränken, als Ultima Ratio. Und sie gilt nur für den Fall, tes. dass der Betroffene mehrfach seine Pflichten gegenüber Zweitens. Der Antrag greift die Regelung des § 7 dem Leistungsträger verletzt hat. Zweitens erlauben auch Abs. 4 SGB II auf, nach der Personen von der Leistung dann noch die Durchführungsbestimmungen der Bun- ausgeschlossen sind, die sich länger als sechs Monate in desagentur für Arbeit, nach Ermessen zu entscheiden und einem stationären Aufenthalt befinden. Die Regelung soll die Leistungen wieder zu gewähren, wenn der Betroffene gestrichen werden. sich nachträglich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzu- kommen. Bis hierhin hat es der Leistungsbezieher also Tatsächlich sind für den Leistungsausschluss des § 7 selbst in der Hand, die Wohnungslosigkeit abzuwenden. die Art der Einrichtung und der Umfang der Unterbrin- Allerdings muss darüber hinaus auch gesehen werden, gung entscheidend. Das Bundessozialgericht hat in sei- dass die Ultima Ratio der Leistungsstreichung ihre Be- ner Entscheidung vom 6. September 2007, auf die sich die rechtigung hat. Der Staat kann nicht jemanden, der wie- Antragsteller hier beziehen, neue Kriterien für die Prü- derholt gezeigt hat, dass er nicht mit dem Leistungsträger fung aufgestellt, ob es sich im Einzelfall um eine statio- kooperiert, dauerhaft weiterhin unterstützen. Das kann näre Einrichtung handelt. Eine stationäre Einrichtung im nicht die Lösung sein. Es muss doch jedem verständlich Sinne des SGB II liegt nach Hinweisen der Bundesagen- und klar sein, dass auch der größtmögliche Unterstüt-

Zu Protokoll gegebene Reden 19544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Heinz-Peter Haustein (A) zungswille irgendwann seine Grenzen findet, wenn nicht schärfen. Das Sozialgesetzbuch II bedarf daher dringend (C) ein Minimum an Kooperation erfolgt. Dass mit fehlender der Überarbeitung. Kooperation die Wohnungslosigkeit quasi in Kauf ge- nommen wird, ist eine traurige Erkenntnis. Aber den Erstens ist die Möglichkeit einzuräumen, Mietschul- Staat hier der Sanktionsmöglichkeit zu berauben, ihn den bei drohendem Wohnungsverlust nicht nur als Darle- gleichsam wehrlos zu machen, ist der falsche Weg. hen, sondern in der Regel auch als Beihilfe zu überneh- men. Warum? Die erst 1996 ins Bundessozialhilfegesetz Fünftens. Schließlich erklärt Die Linke, dass für Woh- eingeführte Regelung zur Mietschuldenübernahme zur nungslose spezielle Beschäftigungs-, Aus- und Fortbil- Vermeidung von Wohnungslosigkeit wurde im SGB II er- dungsangebote vorzuhalten seien. Das ist richtig, inso- heblich eingeschränkt. Mietschulden sind aber nach den fern man hierbei oftmals mit komplexen Problem- und Informationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Woh- Härtefällen zu tun hat, die einer maßgeschneiderten und nungslosenhilfe „der dominierende Grund für den Woh- persönlichen Hilfe bedürfen. Allerdings zieht der Antrag- nungsverlust“. Die Vermeidung von Wohnungslosigkeit steller hieraus die Folgerung, es müsse auf Sanktions- ist regelmäßig sozialer, effektiver und günstiger als die maßnahmen und repressive Angebote verzichtet werden. (Re-)Integration von Wohnungslosen. Auch daher ist Die FDP hält dies für falsch, wie ich oben bereits ausge- Mietschuldenübernahme für alle betroffenen Personen zu führt habe. Wo der Staat Leistungen erbringt, muss er in garantieren, und zwar in Form eines Zuschusses; denn letzter Konsequenz auch das Recht haben, diese zu kür- die betroffenen Haushalte sind in der Regel bereits über- zen, wenn der Betroffene nicht kooperiert. schuldet. Eine zusätzliche Verschuldung konterkariert das Ziel der sozialen Stabilisierung und der beruflichen Es bleibt die zentrale Aufgabe des Sozialstaates, sich Integration der betroffenen Personen. Insofern ist auch um die Bedürftigen zu kümmern. Dieser Aufgabe werden eine Rückzahlung nach der Phase des Leistungsbezugs die bestehenden Regelungen gerecht. Mit der Übernahme kaum sinnvoll und nur selten möglich. Die bestehende der Mietkosten durch den Leistungsträger ist eine Absi- Darlehensregelung verschlechtert dagegen die Chancen cherung ausreichend gegeben. Auch darf nicht vergessen eines nachhaltigen und dauerhaften Abgangs aus dem werden, dass das Hauptaugenmerk auf dem Ziel der Inte- Leistungsbezug. gration in den Arbeitsmarkt liegen muss. Zweitens ist die Regelung zu streichen, dass Menschen Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge. in stationären Einrichtungen maximal sechs Monate Leistungen beziehen können. Nach § 7 Abs. 4 SGB II sind Personen, die für länger als sechs Monate in einer Katja Kipping (DIE LINKE): stationären Einrichtung untergebracht sind, von dem Be- zug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. (B) Die Zahl der Wohnungslosen ist in den letzten Jahren (D) erfreulicherweise zurückgegangen. Allerdings besagen Diese Regelung geht offenbar davon aus, dass ein statio- Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungs- närer Aufenthalt eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemei- losenhilfe – die mangels offizieller Erhebungen die ver- nen Arbeitsmarkt ausschließt. Dies ist aber nicht der Fall. lässlichste Datengrundlage bieten –, dass im Jahr 2006 Es wird übersehen, dass bei der Organisation und Ausge- weiterhin etwa 250 000 Menschen wohnungslos waren. staltung der Leistungen in stationären Einrichtungen Weitere 60 000 bis 120 000 Haushalte mit circa 120 000 vielfach ein Konzept verfolgt wird, nach dem zwar in ei- bis 235 000 Menschen sind von Wohnungsverlust be- ner Einrichtung gelebt, eine Integration in das Leben der droht. Der Anteil der jungen Menschen daran steigt er- Gemeinschaft außerhalb der Einrichtung aber angestrebt heblich an. Es besteht damit also ein massiver politischer wird. Dazu gehört auch eine Tätigkeit auf dem allgemei- Handlungsbedarf, wohnungslosen Menschen die gesell- nen Arbeitsmarkt. Diese Konzepte finden sich im beson- schaftliche Teilhabe zu ermöglichen sowie Wohnungslo- deren Maße bei den Einrichtungen der Wohnungslosen- sigkeit zu überwinden und präventiv zu vermeiden. hilfe. Durch den Ausschluss von den Leistungen werden die Vermittlungschancen der Menschen in diesen Ein- Viele der wohnungslosen Menschen sind längere Zeit richtungen erheblich beeinträchtigt; das Grundanliegen erwerbslos. Mit der Einführung von Hartz IV wurde da- des SGB II – Integration in Erwerbsarbeit – wird in nicht her auch die Zuständigkeit für die Wohnungslosenhilfe nachvollziehbarer Weise konterkariert. weitgehend dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) übertragen. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende ist Drittens ist die Übernahme von Kosten der Unterkunft aber nicht ausreichend auf die speziellen Bedürfnisse der beim Umzug von Leistungsberechtigten, die jünger als Wohnungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten 25 Jahre sind, so zu ändern, dass aus der Ermessensent- Menschen ausgerichtet. Sie nimmt wenig Rücksicht auf scheidung der kommunalen Träger ein Rechtsanspruch die besonderen Probleme von Wohnungslosen. Die ge- der Betroffenen wird. Die Wohnungslosigkeit von jungen schaffenen Institutionen sind weder administrativ ge- Menschen ist in den letzten Jahren zu einer der größten eignet noch personell so ausgestattet, eine erfolgreiche Herausforderungen geworden. Relevant ist in diesem Zu- Prävention von Wohnungsverlusten und den damit ver- sammenhang, dass jüngere Wohnungslose häufig direkt bundenen sozialen Folgeproblemen zu leisten. aus der Herkunftsfamilie in die Wohnungslosigkeit gera- ten sind. Die bisherigen Regelungen des SGB II sind ge- Einzelne Regelungen im Sozialgesetzbuch II mit be- eignet, dieses Problem zu verschärfen. Denn § 22 sonderer Relevanz für diese Personengruppe haben sich Abs. 2 a SGB II fordert von Leistungsberechtigten, die nicht bewährt. Andere Regelungen im SGB II sind sogar noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, dass sie geeignet, das Problem der Wohnungslosigkeit zu ver- sich vor einem Umzug eine Genehmigung des kommuna-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19545

Katja Kipping (A) len Trägers einholen müssen, wenn sie weiter Leistungen Meldungen der Amtsgerichte über Räumungsklagen un- (C) beziehen wollen. Dies ist prinzipiell abzulehnen, weil verzüglich bei den zuständigen Stellen ankommen und nicht nachvollziehbar ist, warum erwachsene Menschen Wohnungslosigkeit vermeidende Aktivitäten auslösen. nicht aus freien Stücken einen eigenen Hausstand grün- den dürfen. Darüber hinaus folgt aus dieser Regelung Alle diese Maßnahmen sollen einer besonderen aber „mit hoher Wahrscheinlichkeit eine spürbare Zu- Gruppe von betroffenen Menschen zugutekommen. Da- nahme von wohnungslosen jungen Volljährigen“ – so die rüber hinaus lehnen wir aber prinzipiell Hartz IV ab und BAG Wohnungslosenhilfe –, weil diese teilweise die benö- fordern eine soziale, repressionsfreie Grundsicherung. tigte Zustimmung des Trägers vor dem Umzug nicht ein- Um Armut und Ausgrenzung in Deutschland zu beseiti- holen oder an dem Nachweis eines „sonstigen, ähnlich gen, dürfte genug Geld da sein. schwerwiegenden Grund(es)“ scheitern. Viertens ist die Sanktionsmöglichkeit der Kürzung der Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kosten der Unterkunft sofort abzuschaffen. Die Möglich- Wohnungslosigkeit ist oftmals die erschreckendste und keit, dass durch den kompletten Entzug der Leistungen sichtbarste Form von sozialer Ausgrenzung. Die Betrof- einschließlich der Kosten der Unterkunft Wohnungslosig- fenen sind in vielfacher Hinsicht vom gesellschaftlichen keit entstehen kann, wird sogar in den Durchführungshin- Leben ausgeschlossen. Ihnen fehlt nicht nur eine Woh- weisen der Bundesagentur eingeräumt. Notwendig ist nung, sie haben häufig auch kein Girokonto, und ihnen eine gesetzliche Klarstellung, dass bei leistungsbedürfti- sind die Zugänge zu medizinischer Versorgung einge- gen Personen keine Kosten der Unterkunft gekürzt oder schränkt. Ganz zu schweigen von ihren geringen Chan- gar gestrichen werden dürfen, da diese Sanktion dem Ziel cen auf dem Arbeitsmarkt. Nur jeder fünfte Obdachlose der Vermeidung von Wohnungslosigkeit diametral zuwi- geht einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nach. 18 Prozent derläuft. der Obdachlosen verfügen über keinerlei Einkommen, nehmen also auch keine Sozialleistungen in Anspruch. Fünftens ist durch die Bereitstellung einer flächende- Die Wohnungslosigkeit ist zwar im Jahre 2006 auf ckenden Hilfe- und Beratungsinfrastruktur für von Ge- 254 000 Menschen zurückgegangen, so die Schätzungen walt betroffene Frauen präventiv gegen Wohnungsverlust vorzugehen. Denn zum Beispiel sind die wichtigsten Aus- der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose. Dies sind löser des Wohnungsverlustes bei Frauen die Trennung im Vergleich zu 2005 – dem Jahr, in dem das von einem Partner, der Auszug aus dem Elternhaus sowie Arbeitslosengeld II eingeführt wurde – nur 2,7 Prozent. die akute Gewalt des Partners. Diese spezifischen Die Bundesarbeitarbeitsgemeinschaft Wohnungslose Gründe müssen beachtet werden. So ist eine ausreichende geht aber davon aus, dass im Arbeitslosengeld II weitere 235 000 Menschen akut von Wohnungslosigkeit bedroht (B) Infrastruktur an Hilfeangeboten und Hilfe leistenden Ein- (D) richtungen wie Frauenhäusern zur Verfügung zu stellen sind. Diese latente Bedrohung für viele Arbeitslosen- sowie bei den Hilfeleistungen im Rahmen des SGB II auf geld-II-Beziehende ist zu einem großen Teil auf neue, ver- die spezifischen Bedürfnisse und Probleme dieser Frauen schärfende Regelungen der schwarz-roten Koalition zu- einzugehen. rückzuführen. Es gibt also keinen Grund, sich bei diesem, für viele Obdachlose auch lebensbedrohlichen Problem Sechstens sind basierend auf dem Prinzip der Freiwil- entspannt zurückzulehnen. Wir teilen nicht die Auffas- ligkeit gezielte Beschäftigungsangebote für Wohnungs- sung von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der sich in lose vorzuhalten. Die Angebote müssen den konkreten Le- seinem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht über den bensumständen der Betroffenen angepasst werden. Für Rückgang der Wohnungslosigkeit freut und offenbar kei- das Ziel der sozialen Stabilisierung sowie der Integration nen weiteren Handlungsbedarf sieht. in den Arbeitsmarkt sind Sanktionen für die Gruppe der Unterbelichtet bleibt im Armuts- und Reichtumsbe- Wohnungslosen in besonderer Weise kontraproduktiv und richt der Bundesregierung, dass sich die Altersstruktur daher abzuschaffen. Niedrigschwellige und nicht repres- der Wohnungslosen deutlich verändert hat. Unerwähnt sive Angebote sind zu unterbreiten. bleibt, dass der Anteil junger Erwachsener – insbeson- Siebtens sind bei den Trägern der Grundsicherung für dere junger Erwachsener bis 24 Jahre – überproportio- Arbeitssuchende ausgebildetes Fachpersonal für die spe- nal zunimmt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungs- zifischen Belange und Anliegen von Wohnungslosen ein- lose sieht die Ursache hierfür in der zunehmenden zustellen und die Erfahrungen für die Prävention von Verdrängung der Jugendlichen aus der Jugendhilfe in die Wohnungsverlusten in ein Konzept für die administrati- Wohnungshilfe sowie in der Zunahme der Armut von Kin- ven Strukturen der SGB-II-Träger einzubauen. Das Per- dern und Jugendlichen. Dieser Trend wurde zusätzlich sonal bei den Trägern des SGB II ist bislang nicht auf die durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz der Bundesre- besonderen Bedürfnisse und Anliegen von Wohnungslo- gierung verschärft. Denn mit diesem Gesetz wurden nicht sen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Personen vor- nur die Sanktionsregelungen im Arbeitslosengeld II, son- bereitet. Die Erfahrungen, die in den Kommunen seit den dern auch die Bedingungen für unter 25-Jährige zur späten 80er-Jahren mit dem Konzept der Zentralen Fach- Gründung eines eigenen Haushalts verschärft. Denn stelle gemacht wurden, müssen in eine analoge Praxis in viele von Obdachlosigkeit betroffene Jugendliche leben die Strukturen des SGB II integriert werden. So empfiehlt leider in so zerrütteten Familien, dass sie das Leben auf es der Deutsche Verein für öffentliche und private Für- der Straße oder in ungesicherten Wohnverhältnissen dem sorge und fordert es die BAG Wohnungslosenhilfe. In Leben in der Familie vorziehen. Hier fehlt der von der diesem Zusammenhang ist auch sicherzustellen, dass Idee des Sozialmissbrauchs beherrschten rot-schwarzen

Zu Protokoll gegebene Reden 19546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Markus Kurth (A) Koalition jedwedes Gespür für die Lebenswirklichkeit müssen Obdachlose im Winter ihr Leben lassen. So sind (C) von benachteiligten jungen Erwachsenen. beispielsweise im letzten Winter drei wohnungslose Män- Das Zustimmungserfordernis des kommunalen Trä- ner in Thüringen und Sachsen erfroren, die in Abrisshäu- gers für alle Umzüge von Jugendlichen und jungen Er- sern oder verlassenen Fabriken Unterschlupf gesucht ha- wachsenen bis 25 Jahre, das von der großen Koalition ben. Während größere Städte über eine relativ gute mit dem SGB-II-Änderungsgesetz als § 22 Abs. 2 a einge- Infrastruktur verfügen, gibt es im ländlichen Raum und fügt wurde, bedeutet einen Rückschritt gegenüber dem besonders in den neuen Bundesländern Defizite in der von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Hartz-IV-Gesetz. Versorgung von Wohnungslosen. Die Kommunen als Trä- Hier gehen wir Grüne über die Forderung der Fraktion ger der Kosten für Unterkunft und Heizung sind ebenfalls Die Linke hinaus, die diese Regelung lediglich modifizie- gefordert, angemessene und dem örtlichen Wohnungs- ren möchte: Wir fordern, dass junge Erwachsene auf ei- markt entsprechende Mietobergrenzen festzusetzen. So genen Beinen stehen können müssen und bei Hilfebedürf- sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe tigkeit grundsätzlich nicht wieder auf ihr Elternhaus das Hauptübel in den zu niedrig angesetzten Mietober- zurückverwiesen werden dürfen. Sie müssen – wie im grenzen für Arbeitslosengeld-II-Beziehende. Unrealisti- ursprünglich von Rot-Grün eingeführten Arbeitslosen- sche Mietobergrenzen treiben die Sozialleistungsbezie- geld II vorgesehen – einen Anspruch darauf haben, einen henden in die Verschuldung und führen über kurz oder eigenen Haushalt zu gründen. lang in die Obdachlosigkeit. Für die Politik muss die Maxime gelten: Jeder Ob- dachlose ist einer zu viel. Die Linke schlägt in dem hier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zur Debatte stehenden Antrag auch im Ansatz richtige Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Maßnahmen vor, wenn es um die Schnittstelle Job-Center Drucksache 16/9487 an die in der Tagesordnung aufge- und Kommune geht. Die Job-Center – die primär auf die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Integration in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sind – müssen sich fachlich und organisatorisch auf die so beschlossen. besonderen Bedürfnisse von Obdachlosen einstellen. Richtig und wichtig ist auch die Einrichtung von „zentra- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: len Fachstellen“ für die Belange von Wohnungslosen. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Anders als die Fraktion Die Linke es fordert, sollten diese gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur jedoch nicht nur für Arbeitslosengeld-II –, sondern auch Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- für Sozialhilfe-Beziehende rechtskreisübergreifend ein- buch und anderer Gesetze gerichtet werden. Um Menschen in dieser besonderen Le- (B) benslage wirklich zu helfen, bedarf es einer besonderen – Drucksache 16/10488 – (D) Organisationsform. Es wird in der Regel nicht ausrei- Überweisungsvorschlag: chen, Obdachlose von einem speziell geschulten Sachbe- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) arbeiter zu betreuen zu lassen. Nach dem Vorbild des Köl- Innenausschuss Rechtsausschuss ner Modells der Obdachlosenhilfe sollte in Großstädten Finanzausschuss eine besonders spezialisierte Organisationseinheit für Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Fallmanagement von Obdachlosen und von Obdach- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung losigkeit bedrohter Menschen Pflicht sein. Diese speziel- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO len trägerübergreifenden Einheiten für Wohnungslose Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sollten sowohl für präventive Maßnahmen gegen Ob- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich dachlosigkeit als auch für die akute Hilfe zuständig sein. sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Die Fraktion Die Linke schlägt viele sinnvolle Maß- die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Peter nahmen vor, die auch bereits Bündnis 90/Die Grünen in Rauen, CDU/CSU, Andreas Steppuhn, SPD, Dr. Heinrich ihrem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiterentwi- Kolb, FDP, Werner Dreibus, Die Linke, Brigitte ckeln – Existenzsichernd, individuell, passgenau“, Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari- Drucksache 16/1124, gefordert haben. Insbesondere schen Staatssekretärs Franz Thönnes.1) müssen die Sanktionen des SGB II für Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre mindestens flexibilisiert Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- werden. Die jetzige Regelung, die den sofortigen Wegfall wurfs auf Drucksache 16/10488 an die in der Tagesord- der Regelleistung für die Dauer von drei Monaten vor- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sieht, ist zu starr und wird jugendlicher Entwicklung nicht anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann gerecht. Sie muss in eine Ermessensvorschrift umgeän- ist die Überweisung so beschlossen. dert werden, die die Rücknahme der Sanktion bei Verhal- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: tensänderung und deren zeitliche Flexibilisierung er- laubt. Keinesfalls darf der Grundbedarf, der zum Leben Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- notwendig ist, angetastet werden. Notwendig ist auch richts des Ausschusses für die Angelegenheiten eine Befreiung der Obdachlosen von der Praxisgebühr. der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Auch insoweit ist der Antrag der Linken ergänzungsbe- Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und dürftig. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Doch auch die Kommunen sind mit Blick auf die Ge- währung sicherer Unterkünfte gefragt. Immer wieder 1) Anlage 15 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19547

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten – Na- biet des ökologischen Landbaus an die Verord- (C) tionalen Parlamenten die umfassende Mitwir- nung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom kung in EU-Angelegenheiten ermöglichen 28. Juni 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökolo- – Drucksachen 16/9596, 16/10556 – gischen/biologischen Erzeugnissen und zur Berichterstattung: Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 Abgeordnete Hans Peter Thul Michael Roth (Heringen) – Drucksache 16/10174 – Michael Link (Heilbronn) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Dr. Diether Dehm ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Rainder Steenblock cherschutz (10. Ausschuss) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- – Drucksache 16/10595 – sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Berichterstattung: die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans Abgeordnete Marlene Mortler Peter Thul, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Michael Gustav Herzog Link, FDP, Dr. Diether Dehm, Die Linke, Rainder Hans-Michael Goldmann Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1) Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10556, richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, 16/9596 anzunehmen. Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer GRÜNEN stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- Forschung für den ökologischen Landbau aus- nommen. bauen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: – Drucksachen 16/9345, 16/10603 – (B) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Berichterstattung: (D) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- Abgeordnete Marlene Mortler rung Unterstützter Beschäftigung Gustav Herzog Hans-Michael Goldmann – Drucksache 16/10487 – Dr. Kirsten Tackmann Überweisungsvorschlag: Cornelia Behm Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich nen vor. sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – 2) Hüppe, CDU/CSU, Gabriele Lösekrug-Möller, SPD, Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Jörg Rohde, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marlene Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari- Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Hans- 3) schen Staatssekretärs Franz Thönnes. Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.4) wurfs auf Drucksache 16/10487 an die in der Tagesord- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Dann ist die Überweisung so beschlossen. sache 16/10595, den Gesetzentwurf der Bundesregie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: rung zur Anpassung von Vorschriften auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus an europarechtliche Rege- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- lungen auf Drucksache 16/10174 in der Ausschussfas- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- zur Anpassung von Vorschriften auf dem Ge- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- 1) Anlage 16 gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung 2) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht. 3) Anlage 17 4) Anlage 18 19548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Bürokratie verhindert Erneuerung, sie bremst Wachs- (C) den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. tum und Innovation. Bürokratie kostet Zeit und damit Geld, und das ist insbesondere für kleine und mittelstän- Dritte Beratung dische Unternehmen eine große Belastung. Die Be- und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem seitigung dieser Wachstumshemmnisse ist daher ein Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer wesentliches Element der Mittelstandspolitik dieser Bun- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf desregierung. Im Rahmen des Programms für Bürokratie- ist damit mit demselben Stimmenergebnis wie in der abbau und bessere Rechtsetzung hat die Bundesregierung zweiten Beratung angenommen. bereits eine Menge erreicht. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- Mit der vollständigen Umsetzung des Regierungspro- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gramms wird die Wirtschaft jährlich um 4,4 Milliarden auf Drucksache 16/10627. Wer stimmt für diesen Ent- Euro entlastet. Das ist die erfreuliche Bilanz des Zwi- schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- schenberichts zur Umsetzung des Regierungsprogramms gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen gewesen, den wir im Frühjahr erhalten haben. Das ist der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Die Linke bei eine sehr stolze Bilanz; sie zeigt uns vor allem zwei Gegenstimmen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dinge: Deregulierung ist dringend notwendig. Bürokra- und Enthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt. tieabbau ist aber auch eine positive Ausnahme in der Po- litik; denn je mehr wir hier erreichen, umso weniger kos- Tagesordnungspunkt 23 b. Der Ausschuss für Ernäh- tet es uns. rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden Regelun- in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/ gen abgeschafft, die schlicht und einfach genau den Pa- 10603, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen pierkrieg verursachen, den wir alle selber kennen aus der auf Drucksache 16/9345 abzulehnen. Wer stimmt für Korrespondenz mit Ämtern und Behörden und der einfach diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – nur eine Menge Zeit kostet. Was werden wir im Einzelnen Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den ändern? Das MEG III umfasst 25 Einzelmaßnahmen wie Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktio- zum Beispiel eine Vereinfachung der Handwerkszählung. nen die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthal- Diese betrifft die rund 460 000 selbstständigen Unterneh- tung der Fraktion der FDP angenommen. men des zulassungspflichtigen Handwerks. Statt die Be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: triebe mit dieser Meldepflicht zu belasten, werden wir zu- künftig auf bereits vorhandene Verwaltungsdaten aus den (B) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Vor-Ort-Erhebungen zurückgreifen und somit die Firmen (D) gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zum gezielt entlasten. Diese Kleinigkeit, die auf den ersten Abbau bürokratischer Hemmnisse insbeson- Blick vielleicht nicht viel Arbeit zu machen scheint, ver- dere in der mittelständischen Wirtschaft (Drit- ursacht Bürokratiekosten in Höhe von rund 24 Millionen tes Mittelstandsentlastungsgesetz) Euro. Diese hübsche Summe können wir jetzt also sparen. Da die Handwerkszählung nur alle acht bis zehn Jahre – Drucksache 16/10490 – durchgeführt wird, beträgt die Entlastung für die Folge- Überweisungsvorschlag: jahre „nur noch“ etwa 2,7 Millionen Euro. Dennoch bin Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) ich der Ansicht, dass wir diese Entlastungswirkung mit Rechtsausschuss Finanzausschuss keiner Silbe kleinreden sollten. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Mit dem MEG wollen wir gezielt kleine und mittelstän- dische Unternehmen entlasten. Das wird uns mit dem Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Dritten MEG auch gelingen, davon bin ich überzeugt. Wir Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die sollten deshalb auch sehen, dass wir oftmals viele kleine Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Michael Einzelmaßnahmen im Programm haben, die für sich ge- Fuchs, CDU/CSU, Garrelt Duin, SPD, Paul K. Friedhoff, nommen den einen oder andern vielleicht eher zum FDP, Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae, Schmunzeln anregen. Davor kann ich nur warnen; denn Bündnis 90/Die Grünen. wir helfen Handwerksmeistern und Fachbetrieben und mittelständischen Unternehmen damit, wirtschaftlicher zu arbeiten und ihr Personal gezielter für Aufgaben ein- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): setzen zu können, statt sich um drohende Statistiken, Mel- Wir beraten heute in erster Lesung das Dritte Mittel- depflichten und Behördengänge sorgen zu müssen. Das standsentlastungsgesetz. Ich möchte Sie bei dieser Gele- ist doch die Wirklichkeit vor Ort, und genau das ist es genheit einmal auf den genauen Titel dieses Gesetzent- auch, was wir mit diesen Gesetzen erreichen wollen. wurfs aufmerksam machen, der da lautet: Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse in der mittelständi- Darüber hinaus ist eine Reihe von gewerberechtlichen schen Wirtschaft. Meiner Auffassung nach ist dies genau Erleichterungen im Dritten MEG vorgesehen, mit denen der Punkt: Bürokratie hemmt die Entwicklung und das wir ein Entlastungsvolumen von rund 72 Millionen Euro Wachstum unserer Wirtschaft, und darum ist und bleibt es erzielen. Alle diese Maßnahmen zusammengenommen, eines unserer wichtigsten Ziele, diese Bürokratielasten erreichen wir mit dem Dritten MEG nach dem derzeitigen über Bord zu werfen. Stand eine Bürokratiekostenentlastung von rund 100 Mil- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19549

Dr. Michael Fuchs (A) lionen Euro für die Unternehmen. Für die Verwaltungen Euro für die Unternehmen und mindestens 8,6 Millionen (C) können wir zugleich eine Entlastungswirkung von min- Euro für die Verwaltung verbunden. Insgesamt werden destens 8,6 Millionen Euro erreichen. Auch das ist ein die unter Federführung des Bundesministeriums für Wirt- großartiger Erfolg. schaft und Technologie verabschiedeten drei Mittel- standsentlastungsgesetze die Wirtschaft um rund 850 Mil- Darüber hinaus sammeln wir beharrlich weiter Vor- lionen Euro entlasten. schläge, und ich habe auch schon einige Zuschriften er- halten, die mich sehr optimistisch stimmen, dass wir hier Am 3. Juli 2008 hat der Nationale Normenkontrollrat noch mehr erreichen können. Ich werde mich auf jeden zum zweiten Mal seinen jährlichen Bericht mit dem Titel Fall in den Berichterstattergesprächen dafür einsetzen. „Entscheidungen jetzt treffen“ zum Fortschritt des Ak- Beispielsweise gibt es im Handwerk noch viele Regelun- tionsprogramms der Bundesregierung zum Bürokratieab- gen und Vorschriften, die wir gut und gerne ad acta legen bau überreicht. Insgesamt wurden laut Normenkontroll- können. rat beim Abbau überflüssiger Bürokratie Fortschritte Das Gesetz ist ein weiteres deutliches Signal an die Be- gemacht. Der Normenkontrollrat kritisiert aber, dass die triebe und Firmen in unserem Land, dass wir das Projekt Bundesregierung noch immer keinen „Fahrplan“ zum Bürokratieabbau sehr ernst nehmen. Wir machen uns da- Bürokratieabbau vorgelegt habe. Wir müssen jetzt wei- für stark, dass mittelständische Unternehmen in Deutsch- tere Prozessabschnitte zum Bürokratieabbau umsetzen, land durch eine zeitgemäße Rechtsetzung und durch un- um das Abbauziel von 25 Prozent zum Jahr 2011 zu er- bürokratische Vorschriften von der Flut der Regelungen reichen. und Gesetze befreit werden. Wir wollen mehr Entlastung Die Bundesministerien haben dem Nationalen Nor- und mehr Freiheit für die Betriebe, damit sie sich ihren ei- menkontrollrat seit dem 1. Dezember 2006 insgesamt gentlichen Aufgaben gerade im Bereich Forschung und 641 Gesetz- und Verordnungsentwürfe vorgelegt. Von de- Entwicklung widmen können. nen hat der Rat bisher 550 geprüft. Die geprüften Ent- würfe enthielten insgesamt 509 neue und 290 modifizierte Garrelt Duin (SPD): Informationspflichten. Zudem wurden 107 Pflichten auf- Das im Jahr 2006 eingebrachte Erste Mittelstands- gehoben. Die Umsetzung dieser Regelungsentwürfe hätte entlastungsgesetz umfasste 16 Einzelvorhaben zur Besei- per Saldo eine deutliche Entlastung der Wirtschaft um tigung bürokratischer Hemmnisse. Insgesamt wurden 1,29 Milliarden Euro zur Folge. mit dem Zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz aus dem Jahr 2007 weitere 17 Deregulierungsmaßnahmen auf Unser Ziel muss es sein, dass die Unternehmen in verschiedenen Rechtsgebieten in Kraft gesetzt. Ziel der Deutschland den Abbau an Bürokratie deutlich spüren. (B) Gesetzentwürfe war es, unnötige bürokratische Regelun- Es hat zwar einige Verbesserungen durch die bisherigen (D) gen abzuschaffen und so die Wirtschaft von unnötigen zwei Mittelstandsentlastungsgesetze gegeben. Ihre Wir- bürokratischen Kosten zu befreien. Unnötige Bürokratie kung wird aber durch den Aufbau neuer Bürokratie für und Überregulierung schränken insbesondere in kleinen die Wirtschaft an anderer Stelle übertroffen. Als Beispiel und mittleren Unternehmen sowie bei Existenzgründern sei hier das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ge- die Leistungsfähigkeit in oft nicht mehr vertretbarem nannt. Diesem Umstand wollen wir mit dem MEG III ent- Umfang ein. Immerhin wendet die mittelständische Wirt- gegenwirken. schaft in Deutschland ganze 4 bis 6 Prozent ihres Umsat- Verbände wie der BDA, BDI, DIHK und ZDH schlie- zes allein für Bürokratie auf. ßen sich der Kritik des Normenkontrollrates an, dass die Der Entwurf des Dritten Mittelstandsentlastungsge- Bürokratielasten für Unternehmen noch lange nicht voll- setzes enthält nun insgesamt 23 Einzelmaßnahmen, mit ständig erfasst sind. Sie unterstützen die Forderung, alle denen im Kern vor allem kleine und mittelständische Un- auf Bundesrecht beruhenden Informationspflichten voll- ternehmen in den Bereichen Statistik und Gewerberecht ständig auszuweisen und in das Nettoabbauziel einfließen von unnötiger Bürokratie entlastet werden sollen. Vorge- zu lassen. Dazu gehören auch die Belastungen, die auf sehen ist unter anderem eine Vereinfachung der Hand- Basis von EU-Richtlinien in nationales Recht umgewan- werkszählung, die rund 460 000 selbstständige Unter- delt wurden, oder die staatlich vorgegebenen Buchfüh- nehmen des zulassungspflichtigen Handwerks durch rungskosten. Hier müssen wir deutlich Fahrt aufnehmen Rückgriff auf bereits vorhandene Verwaltungsdaten von und die vorgesehenen Abbaumaßnahmen umsetzen. Das Vor-Ort-Erhebungen entlastet und der Wirtschaft im kom- Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz, mit einem ge- menden Jahr dadurch Bürokratiekosten von rund 24 Mil- schätzten Abbauvolumen von knapp 100 Millionen Euro, lionen Euro erspart. Daneben wird ein ganzes Bündel leistet einen Beitrag hierzu. Wir müssen und werden an gewerberechtlicher Erleichterungen mit einem Entlas- diesem Punkt weiterhin eng mit der Wirtschaft zusam- tungsvolumen von über 70 Millionen Euro umgesetzt. menarbeiten. Dazu zählt zum Beispiel die Streichung von Aufbewah- rungspflichten in der Pfandleiherverordnung und in der Die Verbände appellieren an die Bundesregierung, Makler- und Bauträgerverordnung, was den betroffenen dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau durch einen Unternehmen in schätzungsweise 100 000 Einzelfällen konkreten Zeitplan und überprüfbare Zwischenziele neue bürokratische Aufwendungen erspart. Impulse zu geben. Der Nationale Normenkontrollrat muss dabei weitere Kompetenzen erhalten. So sollte er Mit dem Gesetz ist in 2009 insgesamt eine Bürokratie- zukünftig auch für das unabhängige Monitoring der Bü- kostenentlastung in Höhe von mindestens 97 Millionen rokratiekosten verantwortlich sein. 19550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Garrelt Duin (A) Die Bundesregierung will zukünftig auch die Bürokra- aber in Erinnerung ruft, dass zum Beispiel die Berech- (C) tiebelastung von Bürgerinnen und Bürgern analysieren. nung und Abführung von Steuern und Sozialabgaben die Sie will mit der Abschätzung der Belastung bei neuen Re- Unternehmen im Jahr über 6 Milliarden Euro kostet, zeigt gelungsvorhaben für die Bürger beginnen. Wir müssen sich, wie gering die Entlastungswirkung real ist. erste Vereinfachungsmaßnahmen für besonders belastete Bevölkerungsgruppen auf den Weg bringen. Die prognostizierte Entlastungssumme wird noch wei- ter relativiert, wenn man sich ihre Zusammensetzung an- Die laufenden Messungen der die Wirtschaft belasten- sieht: Von der veranschlagten Netto-Entlastung entfallen den Informations- und Statistikpflichten müssen be- über zwei Drittel auf eine einzige Informationspflicht, schleunigt zu Ende geführt werden. Insgesamt wurden nämlich den Wegfall der Pflicht zur Namensangabe an of- 10 500 die Wirtschaft betreffenden Informationspflichten fenen Verkaufsstellen. Hinzu kommt, dass nun gerade ermittelt, davon wurden mehr als 7 500 Informations- diese Informationspflicht vom Unternehmer meist schon pflichten gemessen. Insgesamt gibt die deutsche Wirt- aus eigenem Interesse erfüllt wird – ob sie nun in der Ge- schaft 34 Milliarden Euro an standardisierten Bürokra- werbeordnung steht oder nicht. tiekosten aus. Angesichts dieses recht dürftigen Deregulierungs-Er- Wir hatten uns in der Koalition verständigt, bis Ende folges frage ich die Bundesregierung, warum sie mit ih- 2011 25 Prozent der Bürokratiekosten abzubauen und bis rem Vorhaben denn nicht mutig etwas weiter gegangen 2009 etwa die Hälfte dieses Zieles zu erreichen. Wir wer- ist. Sollen dringend notwendige weitere Entlastungen für den dies auch erreichen. das nächste Dutzend Mittelstandsentlastungsgesetze auf- gehoben werden, nur damit die Regierungskoalition jedes Paul K. Friedhoff (FDP): Jahr ein bisschen Bürokratieabbau verkünden kann? Wie sehr eine Entlastung kleiner und mittelständischer Die sich in diesem Gesetzentwurf zeigende fehlende Unternehmen vonnöten ist, zeigt sich darin, dass wir Konsequenz ist sehr ärgerlich, da genug Vorschläge für heute bereits das dritte sogenannte Mittelstandsentlas- weiteren vernünftigen Abbau bürokratischer Lasten seit tungsgesetz diskutieren. langem vorliegen. So hat der Industrie- und Handelskam- Die FDP begrüßt ausdrücklich die Zielsetzung dieses mertag noch im Februar dieses Jahres eine Auflistung di- Gesetzesvorhabens, denn die auf den Unternehmen las- verser bürokratischer Missstände vorgelegt; leider wur- tenden Kosten für zum Teil sinnlose, zum Teil zumindest den diese im Gesetzgebungsverfahren sämtlich nicht zweifelhafte Bürokratie sind immens. beachtet. Lassen Sie mich mehrere Punkte herausgreifen, um klarzumachen, wo Erleichterungspotenziale bislang Es ist hier zunächst klarzustellen, dass die Beweg- ungenutzt blieben. (B) gründe dieses Gesetzes nicht auf dieses oder weitere Ent- (D) lastungsgesetze beschränkt bleiben dürfen. Das Ziel einer Große Kosten verursachen zum Beispiel immer wieder niedrigen Bürokratiebelastung für diejenigen im Land, die Nachweise von Eignung und Fachkunde in öffentli- die Arbeitsplätze schaffen und erhalten, muss sich statt- chen Ausschreibungsverfahren. Diese Kosten treffen klei- dessen durch sämtliche Gesetzgebungsverfahren ziehen. nere Unternehmen mit dünnerer Personaldecke beson- Denn die schönsten Entlastungsgesetze nützen nichts, ders. Abhilfe können hier Systeme der Präqualifikation wenn ständig an anderen Stellen bei der Bürokratie schaffen, mit deren Hilfe potenzielle Ausschreibungsteil- draufgesattelt wird. nehmer ihre Eignung nicht stets aufs Neue nachweisen müssen. Wenn die bestehenden Präqualifizierungs- Während die derzeitige Koalition die Mittelstandsent- systeme bundesweit vereinheitlicht und vernetzt würden lastungsgesetze I und II auf die Schiene brachte, hat sie – wie in einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion ge- gleichzeitig mit Gesetzen wie dem Allgemeinen Gleichbe- fordert –, fielen große Kostenlasten von den Unterneh- handlungsgesetz oder der U1-/U2-Umlage auf dem men. Nachbargleis neue Bürokratie ins Rollen gebracht. So kann Bürokratieabbau nicht funktionieren! Selbst wer Besonders ärgerlich für Unternehmen sind zudem nach diesen Fehlern auf Lernwilligkeit von Schwarz-Rot Mehrfachzuständigkeiten von Kontrollinstanzen. Im Ar- hofft, wird enttäuscht. Statt eines Netto-Abbaus stehen beitsschutzrecht kommt es regelmäßig zu nicht abge- neue Lasten schon in den Startlöchern. Schlimmstes Bei- stimmten Doppelprüfungen von Gewerbeaufsichtsämtern spiel für neue Bürokratie ist neben dem unsäglichen Ge- einerseits und Berufsgenossenschaften andererseits. Die sundheitsfonds, der morgen in diesem Haus zur Abstim- hier sinnlos entstehenden Verwaltungskosten in den Be- mung steht, die geplante Erbschaftsteuerreform. trieben sind im Rahmen des Bürokratieabbaus zu vermei- den. Bei dem hier vorgelegten Gesetzentwurf zeigt sich je- denfalls, dass es auch bei der konkreten Umsetzung des Viele Problempunkte im Bereich der Bürokratie sind wichtigen Zieles einer Unternehmensentlastung hapert. zudem von der derzeitigen Regierungskoalition hausge- Wenn die Bundesregierung sich rühmt, in Riesenschritten macht. Dazu zählen die Vorverlegung des Stichtags zur voranzukommen, so müssen wir ihr vorhalten, am Büro- Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und die kratieberg nur zu kratzen. Er muss aber beherzt abgebaut Zwangsversicherung zur Entgeltfortzahlung im Krank- werden. Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht dies: Die im heitsfall. Die veränderte Meldung zur Sozialversicherung Regierungsentwurf als finanzielle Auswirkung für die hat bei den Unternehmen Doppelabrechnungen nötig ge- Wirtschaft veranschlagte jährliche Netto-Entlastung von macht. Zwar wurde nach Protesten seitens der Wirtschaft 97 Millionen Euro klingt zunächst gut. Wenn man sich und der FDP wenigstens eine Schätzung auf Basis des

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Paul K. Friedhoff (A) Vormonats zugelassen. Aber dennoch sind häufig Nach- und umfassendere Daten zur Verfügung stehen. Diese (C) berechnungen nötig geworden. brauchen wir für eine Politik, die sich über die Lage des Handwerks genau informieren will. Aber die Bundesregie- Auch die verfehlte Reform des Umlageverfahrens U1 rung täuscht die Öffentlichkeit und kleinen Handwerker, zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde von meiner wenn sie behauptet, damit verbessern sich die Chancen für Fraktion von Beginn an scharf kritisiert. Anfang 2006 mehr Investitionen, Innovationen und Beschäftigung. wurde der Kreis der Betriebe ausgeweitet, die sich gegen Schließlich bringt diese „Erleichterung“ dem einzelnen das Risiko einer Lohnfortzahlung für krankgemeldete Ar- Handwerker im Schnitt und mittelfristig aufs Jahr gerech- beitnehmer versichern müssen. Nicht nur, dass dadurch net 6 Euro. die Sozialversicherungskosten weiter nach oben getrie- ben wurden, auch ein starker Aufwuchs von Bürokratie in CDU/CSU und SPD können doch nicht allen Ernstes den Betrieben war hiermit verbunden. Für jeden Mitar- behaupten, dies bringe dem Handwerk einen Aufschwung – beiter muss der Unternehmer im Krankheitsfall eine ge- schon gar nicht angesichts der derzeitigen Finanzkrise. sonderte Mitteilung an die jeweilige Krankenkasse statt an eine zentrale Stelle abgeben. Durch solche unnötigen Ich komme auf einen weiteren Aspekt Ihres Bürokratie- Verkomplizierungen werden die Ziele der Mittelstands- abbaus zu sprechen. Bei den zwei vorhergehenden Geset- entlastungsgesetze konterkariert. zen hat Die Linke kritisiert, gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Regelungen würden abgeschafft. Leider ist Wir raten der Bundesregierung dringend, mit dem so das auch diesmal der Fall. Die Bundesregierung will die oft angekündigten Vorantreiben des Bürokratieabbaus Schwellen für die Fusionskontrolle absenken. Was bedeu- ernst zu machen. Die Ansätze hierzu dürfen nicht so zag- tet das? Beim Bundeskartellamt müssten etwa ein Drittel haft bleiben, wie es dieses Mittelstandsentlastungsgesetz weniger Fusionen angemeldet werden. Diese Maßnahme ist. Ansonsten wird die Bundesregierung ihr selbst ge- geht in die völlig falsche Richtung angesichts der Tatsa- stecktes Ziel einer Bürokratiekostensenkung um 25 Pro- che, dass zunehmend wenige große Konzerne das Wirt- zent bis 2011 ganz sicher nicht erreichen können. schaftsgeschehen bestimmen ohne demokratische Kon- trolle. Die FDP steht für einen wirksamen und ernst gemein- ten Bürokratieabbau bereit. Sicher, die ganz großen Fusionen würden nach wie vor dem Kartellamt gemeldet werden müssen. Aber auf der Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Stufe darunter könnte eine Marktkonzentration schlech- ter beobachtet werden. Die Bundesregierung räumt das Bei ihrem Vorhaben, den Mittelstand durch Bürokra- selbst ein, bezeichnet dieses Problem aber als „margi- tieabbau zu entlasten, unternimmt die Bundesregierung nal“. Wenn wirtschaftliche Macht zunimmt, sollte das mit dem hier vorliegenden Gesetz einen dritten Anlauf. (B) Kartellamt lieber einen Blick mehr statt weniger darauf (D) Leider trifft das Sprichwort „Aller guten Dinge sind drei“ werfen. hier nicht zu. Zum dritten Mal täuscht die Bundesregie- rung es als eine große wirtschaftspolitische Maßnahme Ich komme zum Schluss: Das dritte Mittelstandsentlas- vor, wenn sie für kleine und mittlere Unternehmen be- tungsgesetz geht an den wichtigen Fragen des Mittelstan- stimmte Meldepflichten oder Vorschriften abschafft. Zum des vorbei. Angesichts einer drohenden Wirtschaftskrise dritten Mal ignoriert sie, dass die wirtschaftlichen Pro- muss die Politik ein staatliches Konjunkturprogramm bleme des Mittelstandes ganz woanders liegen. Und zum auflegen und auf die Stärkung der Binnennachfrage set- dritten Mal redet die Bundesregierung die negativen Aus- zen. Die Linke bringt dazu einen Antrag ein, und hier wirkungen klein, die bestimmte Maßnahmen ihres Büro- kann die Koalition beweisen, ob sie für den Bäcker, Dach- kratieabbaus haben. decker oder Einzelhändler vor Ort ernsthaft etwas tun will. Zur Sache: Keiner hat etwas dagegen, überflüssige oder doppelte Meldepflichten abzuschaffen. Die Linke hat schon Ja gesagt, wenn es darum ging, Gesetze abzu- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaffen, die nicht mehr angewendet werden konnten, Um es gleich zu Anfang festzuhalten: Es steht ja nichts oder wenn es darum ging, die Handwerksstatistik zu mo- Falsches im Gesetzentwurf. Den weiteren Abbau büro- dernisieren, etwa mit der Nutzung amtlicher Statistik, kratischer Hemmnisse begrüßen wir. Es ist ja gut, wenn durch die sich bestimmte Handwerksbefragungen erüb- die Handwerkszählung durch den Rückgriff auf vorhan- rigten. Aber der Bundesregierung geht es bei dem vorlie- dene Verwaltungsdaten vereinfacht wird, Schausteller in genden Gesetz um etwas anderes. Zum einen versucht sie, Zukunft kein Umsatzsteuerheft mehr führen müssen oder ihre Maßnahmen als großen wirtschaftspolitischen Wurf die Anzeigepflicht bei der Aufstellung von Automaten ab- darzustellen. Das entbehrt aber jeder Realität. Dem geschafft wird. Handwerker und Gewerbetreibenden vor Ort fehlen aus- reichend und fair bezahlte Aufträge. Gerade in der heuti- Wir stimmen Ihnen auch zu, wenn Sie gleich am An- gen Zeit der Finanzkrise und Wirtschaftsturbulenzen fang im Gesetzestext feststellen: „Um die Wettbewerbsfä- müsste der Staat mit einem Konjunkturprogramm die Bin- higkeit des heimischen Mittelstandes und die Attraktivität nennachfrage ankurbeln. Nichts dazu von der Bundesre- des Standortes insgesamt zu stärken, müssen Überregu- gierung. lierungen abgebaut und bürokratische Lasten verringert werden.“ Gut, richtig. Aber diese Wettbewerbsfähigkeit Es ist gut, wenn Handwerksbetriebe bei der Hand- entscheidet sich nicht an der Abschaffung von einigen we- werkszählung entlastet werden und stattdessen aktuellere nigen für bestimmte Unternehmer nervigen kleinteiligen

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Kerstin Andreae (A) Normen. Wir brauchen einen entschiedenen Plan für ei- Stellungnahme des Normenkontrollrates. Das müsste der (C) nen umfassenden Bürokratieabbau. Und den bleiben Sie Bundestag erst mit Mehrheit beschließen. Die gibt es uns schuldig. Die Bundesregierung handelt beim Büro- – leider – nicht. Und die Gesetze, die vor Januar 2007 ins kratieabbau nach dem Motto „Nicht klotzen, sondern lie- Parlament eingebracht worden sind, werden gar keiner ber kleckern“. Darum können wir Sie für die kleinen sinn- Bürokratielastenmessung unterzogen. Dafür hat der Nor- vollen Maßnahmen, die Sie hier vorlegen, auch nicht menkontrollrat keinen Auftrag bekommen. Ich lasse in überschwänglich loben. diesem Zusammenhang nur einmal das Wort Gesund- heitsfonds fallen. Den hat sich niemand auf Bürokratie- Ihr kleines schönes Maßnahmenpaket krankt an der lasten hin angesehen. viel zu niedrigen Zielmarke, die sich die Bundesregierung gesetzt hat. Der Normenkontrollrat erfasst allein bundes- Wir brauchen jetzt eine ehrliche Durchsicht aller gel- seitig um die 45 Milliarden Euro Bürokratielasten in tenden gesetzlichen Regelungen auf ihre Bürokratielasten Deutschland. Was die Länder oder die Sozialversiche- hin. Wir brauchen einen Normenkontrollrat, der dafür rungsträger machen, ist da noch gar nicht reingerechnet. auch die umfassende Zuständigkeit und Kompetenz zuge- Mit diesem Maßnahmenpaket schaffen sie eine Entlas- sprochen bekommt. Und wir brauchen eine Regel, dass tung von 76 Millionen Euro. Das ist klein und fein, reicht nicht das, was ins Parlament reinkommt gemessen wird, aber bei weitem nicht. Während zum Beispiel die Nieder- sondern das, was rauskommt und beschlossen ist, und lande in einer Legislaturperiode die Bürokratielasten um zwar auch, wenn es die Fraktionen einbringen. 25 Prozent abgebaut haben, 2006 Vollzug meldeten und All dessen nehmen Sie sich nicht an. Deswegen ist es jetzt schon an der nächsten Runde im Bürokratieabbau schon beschämend, wenn Sie sich mit diesem kleinen Ge- arbeiten, will die deutsche Bundesregierung bis 2011 die- setzentwurf als große Entbürokratisierer feiern wollen. ses Ziel erreichen. Und selbst das ist mit den Trippel- Darauf kann ich Ihnen nur mit den Worten antworten, die schritten, die Sie hier vorlegen, noch nicht sicher. der Normenkontrollrat bei der Vorstellung seines diesjäh- Auch Österreich ist da schon viel weiter. In Österreich rigen Jahresberichtes im Juli der Bundesregierung ins werden wie in den Niederlanden die Bürokratieabbau- Stammbuch geschrieben hat: ziele in den Haushaltsplan integriert. Bei den Haushalts- Kein Zweifel: Knapp zwei Jahre nach seinem Be- beratungen geht es so immer auch um Bürokratieabbau. ginn befindet sich das Aktionsprogramm der Bun- In den Niederlanden lagen die Bürokratiekosten 2002 bei desregierung zum Abbau von Bürokratie an einem 16,4 Milliarden Euro – auf 16,5 Millionen Einwohner. Sie entscheidenden Punkt. Nach beachtlichem Anfangs- haben dort um 4,1 Milliarden Euro entlastet. In Deutsch- tempo konnte das zur Mitte des vergangenen Jahres land liegen die Bürokratielasten entsprechend hochge- erreichte Momentum zuletzt nicht gehalten werden. (B) rechnet bei 80 Milliarden Euro. Insofern ist eine Gesamt- Es besteht Entscheidungsbedarf. Die Bundesregie- (D) entlastung, die unter 20 Milliarden Euro liegt, für rung muss so schnell wie möglich die Messung der Deutschland zu klein. Und die werden Sie, auch mit den bestehenden Bürokratiekosten abschließen und spä- beiden schon beschlossenen Maßnahmenpaketen, bei testens bis zum Herbst ein Gesamtkonzept zum Bü- weitem nicht erreichen. rokratieabbau auf den Tisch legen, das die Abbau- maßnahmen der einzelnen Bundesministerien Und was sind die Folgen? Diese Einsparung war einer inhaltlich und zeitlich festlegt. der Hauptfaktoren dafür, dass die Niederlande die Wirt- schaftskrise Anfang des Jahrhunderts so gut überstanden Auf dieses Gesamtkonzept sind wir nach wie vor ge- haben. Das Ziel, wiederum 25 Prozent einzusparen, ha- spannt. ben sie wegen dieser guten Erfahrung gleich noch einmal erneuert. Deutschland hat zwar unterdessen den Nor- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: menkontrollrat eingerichtet, der gute Arbeit macht. Der Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- hat aber keinen Rückenwind aus der Bundesregierung. wurfs auf Drucksache 16/10490 an die in der Tagesord- Während in den Niederlanden jeder Minister jährlich im nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Parlament über die Zielerreichung beim Bürokratieab- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. bau berichtet, gibt es in Deutschland lediglich Quartals- Dann ist die Überweisung so beschlossen. treffen des Normenkontrollrates mit der Kanzlerin. Ter- mine mit dem Wirtschaftsminister gibt es nicht. Und jetzt, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: in der Krise, werden die Versäumnisse beim Bürokratie- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- abbau bei den Unternehmen doppelt durchschlagen – ge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das rade auch im Grenzgebiet, wo die Unternehmen den Un- Verfahren des elektronischen Entgeltnachwei- terschied im Abstand von wenigen Kilometern spüren ses (ELENA-Verfahrensgesetz) können. – Drucksache 16/10492 – Und so prüfen, wie der Normenkontrollrat können Überweisungsvorschlag: müsste, darf er nicht. Wenn die Gesetze ins Parlament Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) eingebracht werden, gibt es eine Bürokratiekostenein- Rechtsausschuss schätzung des Normenkontrollrates. Dann ist er aber Ausschuss für Arbeit und Soziales draußen. Alles, was im parlamentarischen Verfahren in Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO die Gesetze geschrieben wird, kann er nicht mehr prüfen. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Wenn die Fraktionen Gesetze einbringen, gibt es keine Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19553

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kai ten wiederum in ihre Datenbank eingibt, um meinen (C) Wegner, CDU/CSU, Doris Barnett, SPD, Ulrike Flach, Antrag zu bearbeiten. FDP, Petra Pau, Die Linke,1) Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen. Dieser unnötige Medienbruch bedeutet für alle am Verfahren Beteiligten einen Arbeits- und Zeitaufwand, der im Zeitalter der elektrischen Kommunikation und Da- Kai Wegner (CDU/CSU): tenverarbeitung vermeidbar und höchst kostspielig ist. So Wenn wir bürokratische Belastungen abbauen, schaf- schätzt der Normenkontrollrat, dass alleine durch die fen wir Zeit für das Wesentliche. Ob Bürger oder Unter- circa 6,5 Millionen Arbeitsbescheinigungen, die für die nehmer, der Kontakt mit staatlicher Bürokratie kostet Beantragung und Berechnung des Arbeitslosengeldes I nicht nur Nerven, sondern letzten Endes Zeit und Geld. erforderlich sind, den Arbeitgebern Bürokratiekosten in Besonders ärgerlich ist es, wenn Regelungen dann noch Höhe von über 100 Millionen Euro pro Jahr entstehen. überflüssig, überkompliziert oder im schlimmsten Fall Das bereits erfolgreich erprobte ELENA-Verfahren sogar beides sind. soll diesen kostspieligen Medienbruch überwinden. Kon- Die Große Koalition hat deshalb zu Recht das Thema kret sieht der Gesetzentwurf vor, die Ausstellung von Be- bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau in unserem scheinigungen durch eine monatliche Meldung der Be- Land ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und scheinigungsdaten an eine zentrale Speicherstelle zu – das ist das Entscheidende – auch entschlossen gehan- ersetzen. Dabei soll in einem ersten Schritt die notwen- delt. Denn mit der Einsetzung eines Normenkontrollrates dige Infrastruktur für das Verfahren aufgebaut und in ei- sowie der Einführung des Standard-Kosten-Modells sind nem zweiten Schritt sechs Informationspflichten der Ar- Bürokratiekosten nicht nur objektiv messbar geworden, beitgeber in das ELENA-Verfahren einbezogen werden. sondern ein festes und mittlerweile anerkanntes Krite- In einer Übergangszeit von zwei Jahren soll dann das be- reits im Modellversuch erprobte Verfahren seine Funk- rium der Gesetzgebungsdiskussion. Dank dieses in der tionsfähigkeit und Sicherheit beweisen. Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen systemati- schen Ansatzes konnten bisher Bürokratiekosten im Zu- In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, auch auf sammenhang mit gesetzlichen Informationspflichten in das Thema Datensicherheit zu sprechen zu kommen. Mir einer Größenordnung von rund einer Milliarde Euro ein- ist durchaus bewusst, dass es infolge zahlreicher Fälle gespart werden. Das ist eine Leistung, die ohne das ent- von Datenmissbrauch, die uns hinlänglich aus der Presse schlossene Handeln aller Beteiligten nicht hätte erreicht bekannt sind, zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevöl- werden können. kerung in Bezug auf das Thema Datensicherheit gekom- men ist. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass das (B) Der Gesetzentwurf über das Verfahren des elektroni- ELENA-Verfahren die höchsten Sicherheitsstandards er- (D) schen Entgeltnachweises setzt die Bemühungen zum Bü- füllt. Das gilt sowohl für die Verschlüsselung der Daten rokratieabbau konsequent fort. Auch wenn durch den als auch die Möglichkeit des Abrufs. elektronischen Entgeltnachweis – kurz ELENA – keine unnützen Vorschriften gestrichen werden, bietet der vor- Das Verfahren wurde von Anfang an gemeinsam mit liegende Gesetzentwurf ein riesiges Potenzial, Bürokratie dem Bundesbeauftragten für Datenschutz ausgearbeitet abzubauen. Denn das Verfahren revolutioniert die Art und gewährleistet die volle Kontrolle des Bürgers über und Weise, wie wir in unserem Land Verwaltung organi- seine gespeicherten persönlichen Daten. Mittels der Ver- sieren. Dazu nutzt das ELENA-Verfahren bereits beste- wendung einer qualifizierten elektronischen Signatur hende technische Möglichkeiten der elektronischen Da- – im Rechtsverkehr heute schon gleichbedeutend mit ei- tenverarbeitung und -übermittlung, um den Staat und die ner real geleisteten Unterschrift – wird sichergestellt, Verwaltung durch die Vermeidung unnötiger Bürokratie dass nur mit Einwilligung des Bürgers die notwendigen bürgerfreundlicher zu gestalten. Daten aus der Speicherstelle abgerufen werden können. Niemand kann folglich eigenmächtig auf Daten aus der Derzeit stellen die Arbeitgeber ihren Mitarbeitern zentralen Speicherstelle zugreifen. Der Bürger muss die Jahr für Jahr rund 60 Millionen Bescheinigungen für Be- abrufende Stelle immer dazu autorisieren; anders ist ein hörden und Gerichte aus. Diese Bescheinigungen sind In- Datenabruf nicht möglich. Darüber hinaus hat der Bür- formationen, die vom Arbeitgeber auszustellen und vom ger jederzeit das Recht, vom Arbeitgeber gemeldete Da- Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Bezug von So- ten einzusehen. zialleistungen dem jeweiligen Amt vorzulegen sind. Kon- kret bedeutet das: Wenn ich als Vater beispielsweise El- Der Elektronische Einkommensnachweis ist ein wich- terngeld beziehen möchte, benötigt das zuständige Amt tiger Beitrag zum Bürokratieabbau in dieser Legislatur- zur Berechnung der Höhe meines Anspruchs die notwen- periode. Er bekräftigt den Willen der Großen Koalition zu digen Informationen zu meinem Einkommen. Obwohl die einer konsequenten und nachhaltigen Bürokratiekosten- notwendigen Daten bei meinem Arbeitgeber elektronisch entlastung von Bürgern, Unternehmen und Verwaltun- vorliegen, werden sie mir derzeit in Papierform ausge- gen. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung des Ge- stellt. Ich bin dann wiederum in der Pflicht, meine Ein- setzentwurfs. Ich freue mich auf die weitere Beratung. kommensdaten der Behörde zu überbringen, die die Da- Doris Barnett (SPD): 1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im ELENA – ein schöner Name, erinnert er doch an eine Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht. schöne Frau aus längst vergangenen Zeiten. Helena war 19554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Doris Barnett (A) so begehrenswert, dass sogar ein Krieg um sie ausbrach. den Bürger erstellt wird. Diese digitale Signatur kann (C) Nun, einen Krieg um unsere ELENA brauchen wir nicht sich der Bürger auf seine EC-Karte oder auf seine Ge- zu befürchten, und eigentlich können wir nur wünschen, sundheitskarte oder auch auf eine ganz eigene Karte la- dass sie mindestens so begehrt wird wie die kretische Kö- den lassen. Die Signatur ist der manuellen Unterschrift nigstochter. gleichgestellt und ermöglicht auch die Antragstellung im Onlineverfahren. Ebenfalls wichtig ist, dass dabei aber Ihre Geburtsstunde hatte ELENA, der Elektronische keinerlei inhaltliche Informationen wie zum Beispiel Ent- Entgeltnachweis, im Sommer 2002, als die von Bundes- geltdaten, Steuerklasse oder Beschäftigungsbetrieb auf kanzler Gerhard Schröder eingesetzte Kommission „Mo- der Signaturkarte selbst gespeichert werden, sondern le- derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ tagte und Vor- diglich die nichtssagende Identitätsnummer des Zertifi- schläge zum Bürokratieabbau machte. Einer dieser kates, die als Türschlüssel dient. Vorschläge lautete „eine Versicherungskarte als Signa- tur- oder Schlüsselkarte zu entwickeln, die für den Abruf Aus den vorgenannten Gründen kann sich jeder eine von Verdienstbescheinigungen und Arbeitsbescheinigun- Signaturkarte bzw. eine digitale Signatur ausstellen las- gen durch die jeweils zuständige Stelle nach Ermächti- sen. Tatsächlich brauchen werden es die meisten Bürge- gung durch den Antragsteller zur Verfügung steht“. Das rinnen und Bürger allerdings nur dann, wenn sie eine Ziel war damals schon klar umrissen: Man wollte zu einer staatliche Leistung beantragen möchten. Kosten wird die erheblichen Kostensenkung im Bereich der Verwaltung Karte für drei Jahre 10 Euro, die an die Zertifizierungs- kommen und auch die Unternehmen entlasten. Durch die stelle zu entrichten sind. schnelle Verfügbarkeit der für Leistungen benötigten Un- Diejenigen, die eine der oben genannten Bescheini- terlagen sollten auch die Antragsberechtigten schneller gungen benötigen, aber aus Kostengründen sich die digi- zu ihren Leistungen kommen. tale Signatur nicht leisten können, bekommen auf Antrag Damals hieß die Schlüsselkarte noch Jobcard. Seither die Kosten durch die abrufende Behörde erstattet. Starten wurde am eigentlichen Verfahren viel gearbeitet, und sie wird ELENA für den Bürger ab dem 1. Januar 2012. Bis durchlief auch drei Projektphasen. Im September 2003 dahin wird er regelmäßig noch den bisherigen Weg gehen wurde begonnen, ihre Projekttauglichkeit bezüglich einer müssen, wenn er eine Entgeltbescheinigung braucht. Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III zu prüfen. In Die Bürgerinnen und Bürger bleiben erst recht bei dem der zweiten Phase wurde geprüft, ob das bisher entwi- System des elektronischen Einkommensnachweises auch ckelte Verfahren auch auf andere Leistungen des Sozial- immer Herr ihrer Daten. Mit Hilfe eines Kartenlesegerä- gesetzbuches, zum Beispiel Sozialhilfe, Rente, Wohngeld, tes und mit einem Internetanschluss kann jede und jeder übertragen werden kann. Während der dritten Phase nachsehen, welche Daten gespeichert sind. So kann fest- – jetzt heißt die Jobcard ELENA – wurde getestet, ob die- (B) gestellt werden, ob und welche Angaben gespeichert sind. (D) ses Verfahren auch anwendbar ist, den berechtigten Be- hörden Informationen im Sozialverfahren hinsichtlich an- Hier wird also nicht der oft beschworene gläserne Bür- zurechnender Entgeltersatzleistungen zur Verfügung zu ger produziert, sondern Kosten, Laufereien, Papierkram stellen. gespart. Auch der Arbeitnehmer hat einen großen Vorteil: Er braucht für eine Bescheinigung für die Arbeitsagentur In der Zwischenzeit sind diese ganzen Vorarbeiten, die nicht mehr beim Arbeitgeber vorstellig zu werden, sich etwas länger hingezogen haben als erwartet, abge- braucht nicht mehr Wartezeiten in Kauf zu nehmen und schlossen, und wir können zur Tat schreiten. Heute legen der Arbeitnehmer kann selbst besser bestimmen, wer Ein- wir den zur Einführung des Elektronischen Entgeltnach- sicht in seine persönlichen Daten bekommt. weises erforderlichen Gesetzentwurf vor. Er dient dazu, die jährlich etwa 60 Millionen Entgeltbescheinigungen in Auch für die Behörden und die Unternehmer bringt Papierform durch elektronisch verwertbare Bescheini- ELENA, wie vorhin schon erwähnt, erhebliche Einspa- gungsdaten zu ersetzen und damit mehr als 100 Millionen rungen. Aber so, wie der Schweiß der Edlen vor dem Er- Euro Bürokratiekosten pro Jahr zu sparen. folg kommt, kommen auch hier zunächst Kosten vor der Ersparnis. Das jetzt vorliegende Gesetz ermöglicht den Abruf der Bescheinigungsdaten für Arbeitslosen-, Wohn- und El- Die Unternehmer übermitteln heute schon die notwen- terngeld. Später kann eine Ausweitung auf weitere So- digen Daten an die GKV. Zukünftig braucht es noch einen zialleistungen erfolgen. weiteren Klick, um sie auch an die ZSS zu übermitteln. Der benötigte Transportweg ist also schon vorhanden, Die Arbeitgeber speichern und übermitteln heute be- und die hier zusätzlich entstehenden Kosten halten sich reits Datensätze an die gesetzliche Krankenversicherung. in Grenzen. Die jährlichen Kosten für das Update der Diese werden vom Arbeitgeber zukünftig auch an die Übermittlungsprogramme an die GKV tragen die Unter- Zentrale Speicherstelle (ZSS) übermittelt, die durch mo- nehmen schon heute selbst, sodass für eine Anpassung dernste Sicherheitsvorkehrungen geschützt ist. Der Da- der übertragenen Daten keine wirkliche Sonderbelastung tenabfluss, also der Abruf, kann lediglich in Richtung der entsteht. Im Gegenteil, die entstehenden Kosten werden abrufenden Behörde erfolgen. Und dieser Abruf braucht durch die zu erwartenden Einsparungen aufgewogen. zwei Schlüssel: einmal den der Behörde, die sich damit identifiziert und somit den Abruf protokolliert, und zwei- Die abfragenden Behörden, also Bundesagentur für tens den Bürger, der eine Bescheinigung braucht für eine Arbeit, Kreisverwaltungen und Städte, müssen eventuell Sozialleistung. Dieser Schlüssel ist nichts anderes als die in Hardware investieren. Für die kommunalen Partner digitale Signatur, die von einer Zertifizierungsstelle für entstehen zusätzliche Kosten für die Software. Da sie aber

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Doris Barnett (A) zukünftig keine Dateneingaben manuell von Papierbe- sie mit Spareffekten erst einmal hereinholen müssen. Un- (C) scheinigungen mehr machen müssen, haben auch sie er- klar ist auch, wie viele Arbeitnehmer sich auf die Härte- hebliche Einsparungen. Deshalb sollen sie sich an den fallregelung berufen werden. Angesichts der schlechten Investitionskosten von 55 Millionen Euro durch den Erfahrungen mit der elektronischen Gesundheitskarte Bund, die in den nächsten fünf Jahren für den Aufbau des sind auch meine Hoffnungen auf Synergieeffekte mit EC- Systems entstehen, beteiligen. Karte oder Personalausweis gering, die der Normenkon- trollrat formuliert hat. Alles in allem werden wir mit ELENA einen weiteren wichtigen Schritt hin zu einer schnellen, bürgerfreundli- Gut gedacht, schlecht gemacht ist auch der Bereich chen und vor allem sicheren und nachprüfbaren Verwal- der Ausgestaltung des zentralen Registratur und der Ver- tung machen, die allen hilft und Kosten spart. Ich würde gabe der Identitätsnummern. Hier sehen wir Probleme mich freuen, wenn alle dazu beitragen könnten, diesen bei der Identitätsmeldung, der Verhinderung von Schein- Weg gemeinsam zu gehen. identitäten und einer falschen Zuordnung von Zertifikats- identitätsnummern. Für den Bürger selbst ist nicht trans- Ulrike Flach (FDP): parent, welche Identitäten im Rahmen seiner, wie Sie es nennen, „Historie“ als Leistungsempfänger ihm zuge- Der elektronische Einkommensnachweis ELENA war ordnet werden. Und ELENA wird eine Datensammelstelle das zentrale Projekt zum Bürokratieabbau. Die Gesamt- gigantischen Ausmaßes werden, bei der wir als FDP be- kosten für Unternehmen für die Erstellung von Einkom- fürchten, dass damit weitere Begehrlichkeiten geweckt mensbescheinigungen in Papierform werden auf 500 Mil- werden. lionen Euro jährlich gerechnet. Diese sowie die Wohn- und Elterngeldbescheinigungen künftig elektronisch zu In der griechischen Mythologie wurde ein zehnjähri- bearbeiten, wäre eine höchst sinnvolle Sache. Die FDP ger Krieg um die schöne Helena begonnen. ELENA wird unterstützt das Vorhaben, denn Abbau von Bürokratiekos- keine Kriege heraufbeschwören, aber sie ist leider auch ten ist auch für uns ein zentrales Anliegen. nicht so attraktiv gestaltet, dass es sich lohnen würde, ihr den Apfel des Paris zu verleihen. Hier muss noch einiges Der gute Zweck wird allerdings von der Bundesregie- im Laufe des Verfahrens verbessert und nachgearbeitet rung unzureichend umgesetzt. Es gibt zunächst einen ers- werden. ten Schritt in der Anwendung bei der Bundesagentur für Arbeit. Länder und Kommunen sind zwar eingebunden, starten aber noch nicht ins ELENA-Zeitalter. Bitkom- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Chef Scheer kritisiert zu Recht, dass mit ELENA nur we- NEN): (B) nige Nachweisverfahren digitalisiert werden, nämlich Die Dame ELENA wirft aus der Sicht des Datenschut- (D) nur 8 von 45. zes das Grundproblem auf, dass sie in ihrer Aussteuer ein neues und umfassendes zentrales Register mitbringt. In Zweitens: Es wird teuer. 55 Millionen Euro insgesamt diesem Zentralregister sollen zukünftig Einkommensda- kostet die Anschubfinanzierung für den Aufbau und den ten der Beschäftigten in der Bundesrepublik gespeichert Betrieb der zentralen Speicherstelle; in den Haushalten werden. Das gilt auch für die Daten der Bürgerinnen und 2009 bis 2013 jeweils 11 Millionen Euro, die dann ab Bürger, die nie Anträge auf staatliche Leistungen stellen 2019 mit einem Aufschlag auf den Datenabruf refinan- ziert werden sollen. Bürger und Unternehmen refinanzie- werden. Hier wird zu Recht der Vorwurf erhoben, dass mit ren also die Datensammlung selbst, wenn sie die Daten ELENA eine erneute Vorratsdatenspeicherung aufgebaut nutzen. wird. Diese Auffassung vertreten nicht nur die Daten- schützer. Auch der Bundesrat hebt in seiner Stellung- Die BA veranschlagt ihre Umstellungskosten auf nahme vom 19. September zum Gesetzentwurf der Bun- 31 Millionen Euro, die Wirtschaft rechnet mit 17 Millio- desregierung die hohe verfassungsrechtliche Brisanz von nen Euro zusätzlichen Kosten. Auch auf die Bürger kom- ELENA hervor. men Kosten zu, nämlich laut Bundesregierung nicht nur die späteren Datenabrufgebühren, sondern immerhin pro Von 35 bis 40 Millionen abhängig Beschäftigten sollen leistungsberechtigtem Bürger 10 Euro für drei Jahre für sensible, einkommensrelevante Informationen gespei- die Freischaltung der elektronischen Signaturkarte. Die chert werden. Genau das ist aber das Problem der Vor- Menschen müssen also zukünftig für eine Auskunft bezah- ratsdatenspeicherung, die losgelöst vom konkreten len, die sie bislang kostenlos erhalten. Das ist doch so, als Zweck der Erhebung Daten speichert, die möglicher- würde eine Bank Gebühren einführen für die Abfrage des weise einmal interessant werden könnten. Genau dieser Kontostands mit der eigenen EC-Karte. So wird man we- Vorbehalt findet sich unter Punkt 6 der Stellungnahme nig Akzeptanz für ELENA finden. Während sich bei der des Bundesrates. Die Länderkammer bemängelt, dass ein BA und der Großindustrie Entlastungseffekte ergeben großer Teil der Beschäftigten voraussichtlich die Sozial- dürften, ist das beim Bürger und bei den Kleinunterneh- leistungen gar nicht in Anspruch nehmen wird, für die men nicht der Fall. künftig die Daten gesammelt werden sollen. Wir werden daher in den anstehenden Beratungen sehr genau darauf Die Hoffnung, schnellere Bearbeitungszeiten realisie- zu achten haben, ob die genaue Zweckbindung der Da- ren zu können, teilen wir nicht. Gerade Kleinunterneh- tensammlung eingehalten wird und tatsächlich nur die men, die nicht über moderne Hard- und Software verfü- Daten Eingang in ELENA finden, die zur Erfüllung der gen, werden zusätzliche Anschaffungskosten haben, die gesetzlichen Aufgaben unbedingt erforderlich sind.

Zu Protokoll gegebene Reden 19556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Silke Stokar von Neuforn (A) Für die Gesamtbewertung des Regierungsprojekts ist karte des Betroffenen und der Signatur der Behörde ab- (C) es über die schon angesprochenen Punkte hinaus von gerufen werden können, bei der ein Antrag gestellt wird. großer Bedeutung, ob wir ELENA überhaupt benötigen, Das „Zwei-Karten-Prinzip“ muss absolut verlässlich ob der Eingriff in die informationellen Selbstbestim- sein und darf keine Schlupflöcher haben, auch nicht für mungsrechte verhältnismäßig und erforderlich ist. Auch die Sicherheitsbehörden. wir sprechen uns für ein modernes E-Government aus. Wir sehen den Aufwand für die Wirtschaft, die derzeit im Im ELENA-Verfahren soll ein differenziertes Konzept Jahr rund 60 Millionen Einkommensbescheinigungen auf zur Löschung der jeweils nicht mehr benötigten perso- Papier ausfüllen muss. Wir wollen hier insbesondere den nenbezogenen Daten eingesetzt werden. Der Punkt ist be- Mittelstand von überflüssigen Bürokratielasten befreien. deutsam, weil bekanntlich einmal angedacht war, die Der erste Ansatz muss aber sein, die Informationspflich- Rentenversicherungsnummer als Ordnungskriterium ein- ten zu reduzieren. Wir halten es für möglich und sinnvoll, zusetzen. Es ist gut, dass von diesem Vorhaben auf Druck die gegenwärtig 45 Informationspflichten im Zusammen- des Bundesdatenschutzbeauftragten Abstand genommen hang mit Einkommensnachweisen auf acht wirklich er- wurde. Mit der Rentenversicherungsnummer wäre es forderliche zu reduzieren. Wir stellen hier auch die For- leicht gewesen, Persönlichkeitsprofile zu entwickeln. Ich derung auf, dass es nicht zu einer Doppelspeicherung muss hier daran erinnern, dass derartige Personenkenn- kommt. Die an ELENA übermittelten Daten müssen nicht zeichen nach der Rechtsprechung des Bundesverfas- zusätzlich im Betrieb gespeichert werden. Es ist an der sungsgerichts unzulässig sind. Zeit, dass die Speicherung von Arbeitnehmerdaten in ei- Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitions- nem modernen Arbeitnehmerdatenschutzgesetz geregelt fraktionen bei diesem schwierigen Vorhaben zu einer wird. gründlichen parlamentarischen Beratung auf. Gerade Wir werden die Vorteile eines elektronischen Verfah- die Frage der Erforderlichkeit der Speicherung bestimm- rens kritisch prüfen. Für die Arbeitnehmerinnen und ter Daten und die Missbrauchsanfälligkeit des Systems Arbeitnehmer erreichen wir durchaus auch mehr Daten- insgesamt muss das Parlament sehr genau unter die Lupe schutz, weil die Arbeitgeber in Zukunft nicht mehr erfah- nehmen. ren, wer welchen Antrag auf staatliche Sozialleistungen stellt. Angesichts der zunehmenden sozialen Kontrolle in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: einem Arbeitsverhältnis ist das nicht irrelevant. Eine Mo- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- dernisierung des gesamten Verfahrens ist auch geeignet, wurfs auf Drucksache 16/10492 an die in der Tagesord- den Antragstellern das Leben zu erleichtern. Viele Betrof- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es fene sind beim Umgang mit Behörden mit den gegenwär- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (B) tigen Antragsverfahren und seinen Papierfluten überfor- Dann ist die Überweisung so beschlossen. (D) dert. Allerdings sehen wir hier in erster Linie den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Auftrag, nicht nur Bürokratie für die Wirtschaft abzu- bauen, sondern die Anträge so zu gestalten, dass wirklich Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nur entscheidungsrelevante Informationen abgefragt richts des Ausschusses für Menschenrechte und werden. Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Die Datenschutzskandale haben alle sensibilisiert. Gerade ELENA braucht Vertrauen, und dies ist nur zu er- Menschenrechte in der ASEAN-Staatenge- langen, wenn durch technischen Datenschutz gesichert meinschaft stärken ist, dass die enge Zweckbindung auf Dauer gewährleistet ist. Die Daten müssen gegen Missbrauch genauso ge- – Drucksachen 16/7490, 16/10561 – schützt sein wie gegen die Begehrlichkeiten der Sicher- Berichterstattung: heitsbehörden. Nur wenn die Freigabe in der Hand der Abgeordnete Holger Haibach Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt und wir ein Christel Riemann-Hanewinckel gesichertes Verfahren der elektronischen Signatur haben, Florian Toncar wäre der Aufbau von ELENA vertretbar. Michael Leutert Das Schutz- und Verschlüsselungskonzept spielt hier Volker Beck (Köln) eine herausragende Rolle. Wichtig ist es auch, den Vor- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- schlag des Bundesrates aufzugreifen und bei den Zentra- nis 90/Die Grünen vor. len Speicherstellen einen Verwaltungsausschuss zur Kon- trolle zu bilden. Die Einbindung des Bundesbeauftragten Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die für den Datenschutz und die Informationsfreiheit sollte da Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ge- eine Selbstverständlichkeit sein. Sowohl dem Staat als nommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolle- auch der Privatwirtschaft muss klar sein, dass es mit ein- ginnen und Kollegen: Holger Haibach, CDU/CSU, fachen Versprechen nicht mehr getan ist. Vertrauen in Christel Riemann-Hanewinckel, SPD,1) Florian Toncar, Datenschutz gibt es nur durch klare gesetzliche Regeln FDP, Michael Leutert, Die Linke, Volker Beck, Bündnis 90/ und durch funktionierende Aufsicht und Kontrolle. Wir Die Grünen. werden im weiteren Gang des parlamentarischen Verfah- rens genau darauf achten, dass rechtlich, aber eben auch 1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im technisch diese Daten nur mit der persönlichen Signatur- Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19557

(A) Holger Haibach (CDU/CSU): das Zeichen blieb aus: Statt den UN-Sondergesandten für (C) Dem internationalen Menschenrechtsschutz kommt Birma zu ihrem Gipfel einzuladen, wurde dieser auf eine immer größere Bedeutung zu, besonders in einer Druck der Machthaber in Rangun nicht zugelassen. Das Zeit, in der sich Konflikte asymmetrisch entwickeln und Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegen- die Zahl der Akteure sich erhöht, die an menschenrecht- heiten des jeweiligen anderen Staates hatte gesiegt. lichen Entwicklungen teilnehmen. Waren es früher Staa- Gerade der Fall Birma zeigt aber sehr deutlich, dass ten untereinander oder Staaten mit ihren Bürgerinnen es des Engagements der Nachbarn in einer Region und Bürgern, die in Auseinandersetzungen miteinander manchmal mehr bedarf als des Eingreifens westlicher traten, so sind es heute transnationale Unternehmen ge- Staaten. Birma wird sich westlichem Druck kaum beugen, nauso wie etwa regionale und lokale Rebellengruppen. da es ohnehin von der EU und auch den USA mit Sank- Deshalb hat der von der Koalition eingebrachte An- tionen belegt ist. Seine Handels- und Sicherheitspartner trag zu den ASEAN-Staaten auch nichts von seiner Aktua- sind eben die Staaten der ASEAN-Staatengemeinschaft lität verloren, obwohl er schon elf Monate alt ist. Denn und China. Ohne unsere eigene Verantwortung kleinre- gerade die ASEAN-Staaten haben, wenn es um die Ein- den oder gar negieren zu wollen, bin ich der Meinung, richtung regionaler Mechanismen zum Menschenrechts- dass es an diesen Staaten liegt, aufgrund ihrer engen Be- schutz geht, noch einigen Nachholbedarf. Die Verab- ziehungen und des Einflusses, den sie auf dieses Regime schiedung der ASEAN-Charta hat nun den Weg zu der haben, auf Verbesserungen für die Menschen vor Ort zu Einrichtung einer Menschenrechtskommission für diesen dringen. Staatenbund freigemacht. Darüber hinaus sind der Besonders deutlich wurde dies bei der Unwetterkata- Schutz und die Einhaltung der Menschenrechte erstmals strophe, die das Land in diesem Jahr heimgesucht hat. Si- als Ziel der zehn beteiligten Mitgliedstaaten festgeschrie- cherlich war das Engagement der Bundesregierung ent- ben. So weit die positiven Aspekte. scheidend dafür, dass deutsche Hilfsdienste als erste Auf der Sollseite steht die Tatsache, dass die vorgese- westliche ihre Tätigkeit in den Krisengebieten aufnehmen henen Menschenrechtsmechanismen keinerlei Sanktions- konnten. Aber ohne den Druck Chinas und der ASEAN- macht haben, dass auch ein negatives Ergebnis einer Staaten hätten diese und andere Lösungen vielleicht noch Überprüfung in einem Mitgliedstaat keine Konsequenzen länger auf sich warten lassen, mit verheerenden Folgen haben muss. für die Bevölkerung, deren Not aufgrund der Weigerung des Regimes, ausländische Hilfe anzunehmen, ohnehin Dass die Einrichtung von Mechanismen auf interna- schon groß genug war. tionaler Ebene – nicht nur im Menschenrechtsbereich – eines langen Atems bedarf, wissen auch wir in Europa. Warum gehe ich so ausführlich auf dieses Beispiel ein? (B) Die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und damit Weil es exemplarisch zeigt, worauf es ankommt. Es ist (D) auch die Akzeptanz von Einmischung in sogenannte in- wichtig, internationale Übereinkommen zu unterzeichnen nere Angelegenheiten sind nie einfach. Sie wird umso und sich somit auf die Einhaltung menschenrechtlicher schwieriger, wenn die an einer regionalen Organisation Standards zu verpflichten. Es ist aber mindestens ebenso beteiligten Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassun- wichtig, zuzulassen und zuzugestehen, dass diese Ver- gen über den Stellenwert von Menschenrechten haben. pflichtungen auch Einmischung in sogenannte innere An- gelegenheiten bedeuten. Für die internationale Staaten- Gerade die ASEAN-Staaten haben hier mit besonderen gemeinschaft bedeuten sie wiederum die Notwendigkeit, Herausforderungen zu kämpfen, gibt es doch in ihren Rei- eben genau diese Einmischung vorzunehmen. hen Staaten, die die Menschenrechte weitgehend beach- ten, genauso wie solche, in denen schwere menschen- Dabei kommt auch uns wieder eine wichtige Rolle zu. rechtliche Defizite zu beklagen sind. Staaten mit Wie bereits zu Anfang gesagt, fiel und fällt uns die Auf- demokratischen Strukturen stehen solche mit diktatori- gabe nationaler Souveränität nicht leicht. Aber wir haben schen oder autoritären Regimes gegenüber. aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Lehre gezogen, dass es regionale und internationale Standards Darüber hinaus gibt es in einigen dieser Staaten regel- geben muss, die uns zur Einhaltung von Menschenrechten mäßig zutage tretende Spannungen zwischen Ethnien und zwingen. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind der Europa- Religionen, die die Herstellung stabiler und demokrati- rat und seine Organe, hier im Besonderen der Europäi- scher Strukturen erschweren, ja zum Teil unmöglich zu sche Gerichtshof für Menschenrechte. An seinem Beispiel machen scheinen. können wir auf der einen Seite erkennen, wie wichtig eine solche regionale Instanz zur Wahrung der Menschen- Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD begrüßen rechte ist. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch bei ausdrücklich, dass die ASEAN-Staatengemeinschaft der mangelnden Umsetzung der Urteile und der Reform- durch die Verabschiedung ihrer Charta ein Zeichen für diskussion, wie schwer solch hehre Ziele in der Praxis einen höheren Stellenwert der Menschenrechte gesetzt umzusetzen sind. hat. Andererseits müssen wir aber auch feststellen, dass gleich die erste Gelegenheit, in der dieser höhere Stellen- Insofern können wir an dieser Stelle unsere Erfahrun- wert seinen Ausdruck hätte finden können, ungenutzt gen mit unseren asiatischen Partnern teilen und gemein- blieb: Als es im vergangenen Jahr zu dem gewaltsamen sam nach Wegen suchen, Menschenrechte durchzusetzen Vorgehen der Militärjunta in Birma gegen protestierende und zu wahren. Dass dazu die Frage der Einmischung Mönche kam, wäre die Gelegenheit gewesen, seitens der oder Nichteinmischung eine entscheidende Rolle spielt, ASEAN-Staatengemeinschaft ein Zeichen zu setzen. Doch hat nicht zuletzt die Bundeskanzlerin bei ihrer Rede vor

Zu Protokoll gegebene Reden 19558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Holger Haibach (A) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats dert Ministerpräsident Hun Sen die Entwicklung der (C) deutlich gemacht, indem sie mit Bezug auf den Europarat Demokratie, während Korruption auch in höchsten Re- sagte: „Sie haben die Pflicht zur Einmischung!“ gierungs- und Justizkreisen an der Tagesordnung ist. Am Ende ist es also mindestens genauso eine Frage Singapur ist zum Sinnbild eines wirtschaftlich erfolg- der Mentalität wie eine der Gesetze, die über den Erfolg reichen, jedoch autoritär regierten Staates geworden, der von Menschenrechtspolitik entscheidet. Das gilt für Eu- zwar die materiellen Bedürfnisse seiner Bürger befriedi- ropa genauso wie für die ASEAN-Staatengemeinschaft. gen kann, ihnen aber politische Freiheiten vorenthält. Ähnliches gilt in zunehmendem Maße für Malaysia. Florian Toncar (FDP): Indonesien, das nach Jahrzehnten der Suharto-Dikta- Der vorliegende Antrag lenkt den Blick auf die Men- tur 1990 die Demokratie einführte, hat große Fortschritte schenrechtslage in den ASEAN-Staaten, zu der die zehn hinsichtlich der Achtung bürgerlicher und politischer Länder Südostasiens zählen. Es gibt wohl keine andere Freiheitsrechte gemacht. Leider ist aktuell festzustellen, Region der Welt, in der die Unterschiede zwischen den dass das Tempo bei der Reform der Sicherheitsorgane Nachbarn so grundlegend sind. Auch wegen dieser Hete- und der Justiz nachgelassen hat. rogenität hat die ASEAN im Vergleich zur EU bisher nur Auf den Philippinen sind neben zahlreichen Morden an ein sehr geringes Maß an politischer Integration erreicht. Journalisten, Gewerkschaftlern und Menschenrechtsver- Die Institutionen der ASEAN tasten die Souveränität ih- teidigern große Probleme hinsichtlich des Schutzes von rer Mitgliedstaaten nicht an. Daher war es ein positiver Kindern vor sexueller Ausbeutung zu beklagen. Ebenso Schritt, dass die Mitgliedstaaten 40 Jahre nach Grün- toben auf der Insel Mindanao zahlreiche ethnisch-religiöse dung der Organisation bei ihrem Gipfel am 22. Novem- Konflikte, die zudem durch radikal-islamistische Grup- ber 2007 eine Charta für die ASEAN beschlossen haben. pen angefacht werden. Diese „ASEAN-Charta“ enthält insbesondere ein Be- kenntnis der Mitglieder zu Demokratie, guter Regie- Thailands regionale Vorreiterrolle bei der Achtung der rungsführung, Ablehnung von verfassungswidrigem Re- Menschenrechte, das neben wirtschaftlichem Wohlstand gierungswechsel, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der bisher auch auf stabile demokratische Institutionen ver- Menschenrechte. Bei Verstößen gegen die Charta soll die weisen konnte, wurde durch den Putsch im September Angelegenheit dem ASEAN-Gipfel zur Entscheidung vor- 2006 stark beschädigt. Seitdem hält die politische Un- gelegt werden. Damit beginnt ein Institutionalisierungs- ruhe im Land an. Bereits seit Wochen lähmen Demon- prozess, der dazu genutzt werden muss, bestehende Defi- strationen das Land, bei denen Polizei und Regierungsgeg- zite bei der Achtung der Menschenrechte in den ner auch vor exzessiver Gewalt nicht zurückschrecken. (B) Mitgliedstaaten zu beseitigen. Thailand droht ins Chaos zu stürzen. (D) Vor diesem Hintergrund kommt der vorliegende An- Angesichts dieser Bandbreite von Herausforderungen trag zum richtigen Zeitpunkt. Der Antrag enthält eine zu- zeigt der Antrag sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung treffende Beschreibung der menschenrechtlichen Situa- der Menschenrechtslage in den genannten Staaten auf. So tion in den Mitgliedstaaten. Dabei wird deutlich, dass es wird die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen des in allen ASEAN-Staaten unterschiedlich gelagerte gra- EU-ASEAN-Dialogs dafür zu werben, dass alle ASEAN- vierende Menschenrechtsprobleme gibt. Einzige Aus- Staaten grundlegende Menschenrechtsabkommen wie nahme ist Brunei, wo trotz des seit 45 Jahren bestehenden den UN-Zivilpakt und den UN-Sozialpakt unterzeichnen Ausnahmezustands die Menschenrechte Beachtung fin- und ratifizieren. Bisher haben dies erst wenige ASEAN- den. Am schlimmsten ist das Verhalten der Militärregie- Staaten getan. rung in Birma. Die dortige Menschenrechtslage muss als Die Todesstrafe wird in vielen ASEAN-Staaten noch dramatisch beschrieben werden. Das Regime, das seit angewandt. Dabei sind beispielsweise in Singapur auch 1962 mit harter Hand regiert, unterdrückt jegliche politi- kleine Drogendelikte mit der Todesstrafe belegt. Hier sche Opposition. So dauert der Hausarrest der Opposi- muss die Bundesregierung auf die Abschaffung dieser tionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aun San grausamen und unmenschlichen Strafe drängen. Suu Kyi an. Im September 2007 schlug die Junta eine von Mönchen mitgetragene Protestbewegung gewaltsam nie- Bedauerlich ist, dass die Grünen ihren Änderungsan- der. Nach der Wirbelsturmkatastrophe im Mai 2008 trag erst so spät ins Verfahren eingebracht haben. Doch stellte die Regierung Birmas ihre Rücksichtslosigkeit un- inhaltlich ist der Ergänzungsantrag der Grünen unter- ter Beweis, als sie ausländischen Helfern über Wochen stützenswert. Der Kampf gegen die Diskriminierung und den Zugang zu den Katastrophengebieten verwehrte und Strafverfolgung von Menschen aufgrund ihrer Homo- so den Tod zahlreicher Zivilisten in Kauf nahm. sexualität gehört für uns Liberale zu einer aktiven und umfassenden Menschenrechtspolitik. Es ist schädlich, Mit Vietnam und Laos bestehen zwei sozialistische dass die Koalitionsfraktionen nicht dazu bereit waren, Staaten in der Region, in denen die Regierungen trotz un- dies in den Antrag aufzunehmen. Das Verschanzen hinter terschiedlicher wirtschaftlicher Öffnungsschritte an ih- Koalitionsvertrag und Verfahrensabläufen ändert daran rem Machtmonopol festhalten, indem sie systematisch de- nichts. mokratische Bestrebungen untergraben und zentrale Menschenrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit unter- Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag mit dem drücken. Vietnam hat seine politische Zensur insbeson- vorliegenden Antrag ein konstruktives Signal für die Ver- dere auf das Internet ausgeweitet. In Kambodscha behin- besserung der Menschenrechte in den ASEAN-Staaten

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19559

Florian Toncar (A) sendet. Angesichts der institutionellen Verdichtung der Prozess funktionieren und erfolgreich sein. Gerade vor (C) ASEAN kommt er zum richtigen Zeitpunkt. Die FDP wird dem Hintergrund unserer europäischen Geschichte, wel- den Antrag unterstützen. Wir werden aber genau darauf che auch eine Geschichte des Kolonialismus ist, welche achten, dass den Worten dann auch Taten folgen. auch eine Geschichte des Kolonialismus in dieser Region ist, sollten wir uns mit entsprechenden Ratschlägen ei- Michael Leutert (DIE LINKE): nige Zeit zurückhalten. Der zu behandelnde Antrag der Koalitionsfraktionen Der zweite Punkt unserer Kritik betrifft die Frage der „Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft Glaubwürdigkeit. Wenn die Bundesregierung auf dem stärken“ findet in meiner Fraktion keine Zustimmung. Gebiet der Menschenrechte anderen Staaten Ratschläge Dies mag zunächst verwundern, wenn man sich den Ka- erteilen soll, insbesondere wenn diese Staaten sich ge- talog von Forderungen an die Bundesregierung an- rade auf den Weg machen, Menschenrechtsstandards schaut, der viele richtige und wichtige Punkte enthält. festzusetzen, aber selbst nur eine inkohärente Menschen- Aber aus zwei Gründen, die ich näher ausführen werde, rechtspolitik betreibt, halten wir dies für nicht angemes- halten wir den Antrag für verfehlt. Zum einen halten wir sen. den Zeitpunkt der Einbringung für verfrüht, und zum an- deren sind wir davon überzeugt, dass die Bundesregie- Ich möchte dies an zwei Beispielen verdeutlichen. In rung nicht die Glaubwürdigkeit besitzt, die Forderungen der Anhörung zum 8. Menschenrechtsbericht der Bun- des Antrages in Gesprächen mit Regierungsvertretern desregierung kritisierten sieben NGOs, dass die Bundes- der ASEAN-Staaten vorzubringen. republik hinsichtlich der Beachtung der sogenannten WSK-Rechte deutliche Defizite hat. Natürlich ist der Warum halten wir die Einbringung des Antrages für Grundrechtsschutz in Deutschland hinsichtlich der soge- verfrüht? Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat sich mit nannten bürgerlichen Freiheitsrechte ausgesprochen gut ihrer Gründung vor 40 Jahren folgende Ziele gesetzt: und hat sich über einen langen Zeitraum entwickelt. Wenn wirtschaftliche Integration, Zusammenarbeit und Sicher- nun aber die Bundesregierung ausgehend von diesem Zu- heit. Auf dem ASEAN-Gipfel 2004 in Laos haben sich die stand die ASEAN-Staaten kritisieren soll, dann muss sie Staaten ein weiteres Ziel ihrer politischen Bemühungen sich, ausgehend von diesem Zustand, hinsichtlich der gesetzt, nämlich die Förderung der Menschenrechte. Nichtbeachtung der WSK-Rechte entsprechende Kritik Schon vier Jahre später haben die Staaten dieses politi- gefallen lassen. Diese Kritik wird jedoch mit fadenschei- sche Ziel schriftlich fixiert und als „ASEAN-Charta“ auf nigen Argumenten abgewiegelt. Hier sehen wir als dem Gipfel in Singapur verabschiedet. Bereits bis Ende Fraktion ein Glaubwürdigkeitsproblem bei der interna- 2008 soll die Charta in den einzelnen Ländern ratifiziert tionalen Vermittlung von Menschenrechtsstandards. sein und in Kraft treten. (B) Schließlich ist auf die skandalöse Asylpraxis gegenüber (D) Wenn man bedenkt, dass die ASEAN-Staaten mehr als Asylsuchenden aus Birma hinzuweisen. Im Antrag wird 500 Millionen Menschen höchst unterschiedlicher religiö- die verheerende Lage in Birma benannt, aber eine ent- ser Prägung repräsentieren, dann erstaunt die Schnellig- sprechende Veränderung der Asylpraxis unterblieb bis keit der Umsetzung eines politischen Zieles in eine heute. Vereinbarung, die zukünftig als Maßstab für das men- schenrechtspolitische Handeln herangezogen werden Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kann. An deren Inhalt und Umsetzung müssen sich die Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat im Jahr 2007 Staaten dann messen lassen. eine Menschenrechtscharta unterzeichnet, in die große Wie die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag dazu Erwartungen gesetzt wurden. Diese Erwartungen haben richtig bemerken, markiert diese Vereinbarung ein neues sich leider bisher nicht erfüllt. Die in der Charta genann- politisches Verständnis der Staatengemeinschaft, welches ten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Stärkung der Signalwirkung für den ganzen asiatischen Kontinent ha- Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit und guter Regie- ben könnte. rungsführung sowie zur Achtung der Menschenrechte bleiben in vielen ASEAN-Mitgliedstaaten fromme Wün- Dass insgesamt akuter Handlungsbedarf bestand und sche. Durch die Betonung des Prinzips der Nichteinmi- auch noch besteht, zeigen die Jahresberichte von Amnesty schung in die inneren Angelegenheiten eines Staates International und Human Rights Watch. bleibt die Charta ein zahnloser Tiger. Mechanismen, die Aber die ASEAN-Staaten haben sich mit der Verab- gegen die Staaten in Kraft treten, die gegen die Charta schiedung der ASEAN-Charta angreifbar gemacht; ihr verstoßen, sind nicht vorhanden; Entscheidungen müssen Handeln kann nunmehr an den selbst festgeschriebenen einstimmig getroffen werden. So wundert es kaum, dass Maßstäben kritisiert werden. Dieser Fortschritt sollte mittlerweile auch Birma die Menschenrechtscharta rati- nicht gering bewertet werden. fiziert hat – ein Land, das weit entfernt ist von Demokra- tie, Rechtsstaatlichkeit und der Gewährleistung der Men- Wir als westliche Wertegemeinschaft hinsichtlich un- schenrechte. Viel zu fürchten hat das Regime in Rangun seres Menschenrechtsverständnisses und unserer euro- dadurch nicht. päischen Geschichte sollten diesen Staaten jetzt Gelegen- heit und angemessene Zeit geben, diese Charta in ihren Dennoch: Es ist gut und richtig, dass das Thema Men- Ländern zu implementieren und als erstrebenswerte Le- schenrechte durch die ASEAN-Staaten als Herausforde- benswirklichkeit zu vermitteln. Ein solcher Prozess dau- rung angesehen wird. Jetzt müssen sie die Menschen- ert seine Zeit und kann auch nicht als reiner Top-down- rechtscharta auch mit Glaubwürdigkeit füllen. Ohne dass

Zu Protokoll gegebene Reden 19560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Volker Beck (Köln) (A) alle ASEAN-Staaten dem Zivilpakt und dem Sozialpakt beschämend. Es ist umso mehr beschämend, als in diesen (C) beitreten und die Todestrafe abschaffen, wird dies kaum Fragen im Ausschuss eigentlich Konsens herrscht, abge- gelingen. Ohne wirksamen Schutz von Minderheiten, dem sehen vielleicht von der Abgeordneten Steinbach, auf die Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit und dem Bemühen die Ablehnung wohl auch zurückgeht. Die menschen- um Rechtsstaatlichkeit bleibt die Menschenrechtscharta rechtliche Sprecherin Ihrer Fraktion hat ohnehin ein sehr eine leere Hülle. selektives Verständnis von Menschenrechten. Bei den Menschenrechten für Homosexuelle hat Sie nur einmal Wir sollten die Staaten in ihren Bemühungen um die eine Ausnahme gemacht, als man unter Hinweis auf die Verbesserung der Menschenrechtslage tatkräftig unter- Behandlung der Homosexuellen die polnische Regierung stützen, und ich hoffe, dass die Reise des Ausschusses für kritisieren konnte. Dies ist eine Selektivität, die Sie bei Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in diese Region der Linken oft zu Recht kritisieren. im Oktober/November hierzu beitragen kann. Dabei soll- ten wir auch von den guten Erfahrungen berichten, die Die Aufhebung der strafrechtlichen Verbote von wir mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschen- Homosexualität gehören nicht nur aufgrund der Recht- rechte als supranationale und regionale Einrichtung in sprechung des EGMR zu den menschenrechtlichen Min- dieser Hinsicht gemacht haben. deststandards, sondern die Verbote verstoßen nach Fest- stellung des UN-Menschenrechtsausschusses – im Fall Was sicherlich nicht dazu beiträgt, den Druck auf Län- Toonen gegen Australien 1994 – auch eindeutig gegen der wie Birma zu erhöhen, ist, wenn wir selber offenbar den Zivilpakt. In einem Antrag zur Stärkung der Men- die Menschenrechtslage dort als in Ordnung ansehen. schenrechte in dieser Region gehört dieser wichtige Wie anders ist es sonst zu erklären, dass den wenigen Punkt deshalb unabdingbar hinzu, zumal alle anderen Flüchtlingen, die es aus Birma in die Bundesrepublik wesentlichen menschenrechtlichen Aspekte genannt sind. schaffen – 2007 waren dies nur 78 Flüchtlinge –, der Zu- Die Nichtaufnahme dieser Forderung schwächt die Aus- gang zum Asylverfahren in Deutschland dadurch ver- sage des Antrages insgesamt. Sie stellen damit die Unteil- wehrt wird, dass nun selbst für die Zwischenlandung auf barkeit und Universalität der Menschenrechte infrage. deutschen Flughäfen ein Transitvisum verlangt wird, mit der Begründung, dies solle die illegale Migration durch missbräuchliche Asylantragstellung im Flughafentran- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sitbereich verhindern. Die Anerkennungsquote bei Ent- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für scheidungen des Bundesamtes für Migration und Flücht- Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei- linge bei Entscheidungen zu Birma liegt derzeit bei ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10561, den 73 Prozent. Dass hier in großem Umfang von Flüchtlin- Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/7490 anzunehmen. Hierzu liegt ein Än- (B) gen missbräuchlich Asyl beantragt würde, davon kann (D) keine Rede sein. Die Lage in Birma ist leider schlecht ge- derungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, nug. Ein entsprechender Antrag von Bündnis 90/Die Grü- über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Än- nen, diese Praxis wieder zu ändern, wurde abgelehnt. derungsantrag auf Drucksache 16/10626? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Sätze zu mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der unserem heutigen Änderungsantrag sagen. Leider wurde Opposition abgelehnt. in dem Antrag der Koalition eine Gruppe von Menschen vergessen, die auch in den ASEAN-Staaten vielfältiger Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Druck- Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt ist: Lesben sache 16/10561? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- und Schwule. Unser Wunsch, den Antrag der Koalition gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen um die Forderung zu ergänzen, die Bundesregierung von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der möge sich für die Aufhebung strafrechtlicher Verbote der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bünd- Homosexualität in den ASEAN-Staaten einsetzen, wurde nis 90/Die Grünen angenommen. im Ausschuss durch die CDU und leider auch die SPD ab- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: gelehnt mit der Ausrede, der Antrag sei von uns zu spät eingebracht worden. Der Antrag wurde pünktlich zur ers- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von ten Behandlung des Antrages im Ausschuss für Men- der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- schenrechte und Humanitäre Hilfe als Tischvorlage von nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. März 2008 uns eingebracht. Übrigens erinnere ich an dieser Stelle zwischen der Bundesrepublik Deutschland und an die vielen oft zentimeterdicken Tischvorlagen der Ko- dem Zentralrat der Juden in Deutschland alition, also durchaus ein übliches Verfahren. Danach – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur hatten Sie eine weitere Ausschusssitzung Zeit, zu einer Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 Meinung in der Sache zu kommen. Für das Plenum gilt zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihre Ausrede ohnehin nicht; denn ins Plenum wurde unser dem Zentralrat der Juden in Deutschland Antrag zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingebracht. – Körperschaft des öffentlichen Rechts – Wenn Sie also heute gegen diesen Antrag stimmen, dann – Drucksache 16/10296 – stimmen Sie aus inhaltlichen Gründen dagegen und nicht aus Geschäftsordnungsgründen. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses (4. Ausschuss) Dass hier menschenrechtliche Mindestforderungen mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt werden, ist – Drucksache 16/10594 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19561

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Berichterstattung: der Partnerschaft zwischen Bund und der jüdischen Ge- (C) Abgeorndete Kristina Köhler (Wiesbaden) meinschaft in Deutschland bewährt. Es ist ein Zeichen, Maik Reichel dass wir um unsere historische Verantwortung wissen, ein Dr. Zeichen, dass wir gemeinsam die Zukunft der jüdischen Petra Pau Gemeinschaft in Deutschland gestalten wollen. Wolfgang Wieland Jetzt geht es hier im Bundestag darum, dieses Zeichen – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) angemessen zu erneuern und neuen, aktuellen Anforde- gemäß § 96 der Geschäftsordnung rungen gerecht zu werden. Nach fünf Jahren, so sieht es das Vertragswerk vor, dürfen die Vertragsparteien eine – Drucksache 16/10621 – Anpassung der Leistung des Bundes an den Zentralrat Berichterstattung: der Juden vornehmen. Die Bundesregierung und der Zen- Abgeordnte Dr. Michael Luther tralrat der Juden in Deutschland haben sich auf eine Auf- Bettina Hagedorn stockung der Leistung von 3 Millionen auf 5 Millionen Jürgen Koppelin Euro im Jahr, beginnend mit dem Haushaltsjahr 2008, Roland Claus geeinigt. Diese Aufstockung bedarf der Form eines Bun- Omid Nouripour desgesetzes; so ist es im Vertrag geregelt. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Wofür diese Erhöhung? Der Zentralrat der Juden steht Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- in Deutschland vor wachsenden Aufgaben und neuen An- gende Kolleginnen und Kollegen: Kristina Köhler, CDU/ forderungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. CSU, Maik Reichel, SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Vor 1991/92 hatten die jüdischen Gemeinden in Deutsch- Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/ land weniger als 30 000 Mitglieder, für 2007 wurden Die Grünen. knapp 110 000 gezählt. Fast alle Neuzugänge, und zwar rund 100 000 Gemeindemitglieder, stammen aus den Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Damit ist seitens Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland der jüdischen Gemeinden eine großartige Integrations- die drittgrößte in Europa, bedingt vor allem durch die Zu- leistung vollbracht worden. wanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion Die gewachsene Zahl der Gemeinden hat die Nach- seit den 1990er-Jahren. Es gibt aktuell rund 110 jüdische frage nach Dienstleistungen des Zentralrats erhöht. Gemeinden. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die integrations- Diese Entwicklung hat die Bedeutung und die Aufga- politischen Maßnahmen des Zentralrats. Dazu zählen (B) (D) ben der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik insbesondere die sehr zahlreich angebotenen Sprach- erhöht und erfreulicherweise zu einer neuen Blüte des jü- kurse, die die Grundlage für jede gelungene Integration dischen Lebens und praktizierter jüdischer Religion ge- bilden. Eine weitere Aufgabe des Zentralrats ist die Be- führt. Das Judentum besteht aus vielfältigen Strömungen treuung der Gemeinden in Sicherheitsfragen. Außerdem und Auffassungen. Es ist ein lebendiger, wichtiger Teil wird der Zentralrat die erhöhten Mittel für die Verstär- unserer Gesellschaft, der uns bereichert, der uns inspi- kung seiner Kulturarbeit und seiner Öffentlichkeitsarbeit riert und der endlich wieder in unserer Gesellschaft ver- einsetzen. stärkt präsent ist. Hervorzuheben ist zudem, dass der Zentralrat sich in Es ist verlockend, an dieser Stelle von einer Rückkehr Übereinkunft mit der Bundesregierung allen Strömungen zur Normalität jüdischen Lebens wie vor dem Holocaust des jüdischen Lebens in Deutschland annimmt und für sie zu sprechen. Ich werde mich jedoch hüten, das zu tun. offen ist. Daher wird der Zentralrat der Juden nun die Dies lassen die vielen Menschenleben, die damals in so Ausbildung der Rabbiner bzw. die entsprechenden Rabbi- unfassbarer Anzahl zerstört wurden, einfach nicht zu. nerseminare der unterschiedlichen religiösen Strömun- Und, dass es diese Normalität nicht gibt, davon zeugen gen institutionell – also auf Dauer – fördern. Zu nennen auch die vielen Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen ist hier beispielsweise das Abraham-Geiger-Kolleg in Einrichtungen. Potsdam. Damit bringt der Zentralrat seine Offenheit für alle Richtungen innerhalb des Judentums zum Ausdruck, Eine neue Blüte der jüdischen Gemeinschaft in der ein Punkt, der den Vertragsparteien besonders wichtig Bundesrepublik jedoch, das ist ein zentrales Anliegen un- ist. serer Gesellschaft, das wir nicht müde werden sollten zu unterstützen und zu befürworten. Darauf müssen wir ge- Die jüdische Gemeinschaft ist in ihrer Entwicklung in meinsam hinwirken und die begonnene Zusammenarbeit Deutschland auf einem guten Weg, und die Erhöhung der weiterführen. Staatsleistung wird diesen Prozess unterstützen. In den letzten Jahren sind neue Synagogen und Gemeindehäu- Um die Entwicklung der hiesigen jüdischen Gemein- ser errichtet worden, und dies nicht nur in den großen schaft von staatlicher Seite zu unterstützen, wurde am Zentren. Im September wurden in Krefeld und Bielefeld Holocaust-Gedenktag, also am 27. Januar, im Jahr 2003 neue Synagogen eingeweiht. Das sind Zeichen, die auch mit einhelliger Zustimmung des Parlaments der Staats- über die Staatsgrenzen hinweg bemerkt werden. vertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentral- rat der Juden in Deutschland geschlossen. Das Abkom- In Deutschland werden wieder Rabbiner ausgebildet, men hat sich mittlerweile als gute und feste Grundlage im Jahre 2006 fanden die ersten rabbinischen Ordinatio- 19562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) nen in Deutschland nach der Shoa statt. Jetzt, im Jahr Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer (C) 2008 wurde in Berlin mit einer in Westeuropa bislang ein- Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch zigartigen Ausbildung für Kantoren begonnen. Diese ihre Vermählung zum Segen werden könnten. Dies Entwicklung ist erfreulich und – so hat es Bundesinnen- war eine Illusion – die Epoche der Juden in minister Wolfgang Schäuble oftmals ausgedrückt – ein Deutschland ist ein für alle Mal vorbei. Geschenk. Diesen eingeschlagenen Weg werden wir wei- tergehen. Die Vorstellung, dass Juden in Deutschland je wieder heimisch werden könnten, schien damals tatsächlich ab- Dieser Weg ist mit der Hoffnung verknüpft, dass in der surd zu sein. Deutschland hatte den Völkermord an den Zukunft Polizeisperren und Sicherheitsschleusen für jüdi- europäischen Juden in grauenhafter Perfektion geplant sche Einrichtungen, aber auch alltägliche antisemitische und ins Werk gesetzt. Es hatte sich damit gleichzeitig oder antizionistische Äußerungen in Deutschland ein Re- selbst einen Aderlass zugefügt, hatte einen großen Teil likt der Vergangenheit sein werden. Die Anpassung der seiner Bevölkerung vertrieben und ermordet. Deutsch- Bundesmittel im Rahmen des Staatsvertrages ist daher land lag nicht nur materiell in Trümmern, sondern war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und ich auch geistig und kulturell verödet und vergiftet. Insbeson- freue mich, dass das hierfür notwendige Änderungsgesetz dere der Antisemitismus war nicht nur offizielle Propa- auf Bundesebene heute verabschiedet wird. ganda, sondern auch vielfach persönliche Gesinnung ge- worden.Von mehr als 500 000 Mitgliedern jüdischer Maik Reichel (SPD): Gemeinden, die 1933 noch in Deutschland mitten im ge- Am 27. Januar 2003, dem Tag des Gedenkens an die sellschaftlichen Leben ihren Platz gehabt hatten, waren Opfer des Nationalsozialismus, wurde ein Vertrag ge- 1945 nur noch 15 000 übriggeblieben. In den nächsten schlossen, der erstmals rechtlich verbindliche Festlegun- Jahrzehnten des demokratischen Neuanfangs wuchs die gen für die Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Ge- Zahl langsam wieder bis 1989 auf circa 30 000 an. meinschaft und dem Staat traf. Dieser Vertrag gewährt dem Zentralrat der Juden als größtem Dachverband der Heute haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland jüdischen Gemeinden in Deutschland finanzielle Unter- mehr als 100 000 Mitglieder. Vor allem ist dies der Zu- stützung in Form einer jährlichen Staatsleistung. Der wanderung aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen So- Vertrag legt auch fest, dass sich die Vertragspartner je- wjetunion zu verdanken. Diese neuen Mitglieder aus dem weils nach fünf Jahren hinsichtlich einer Anpassung der europäischen Osten haben die jüdischen Gemeinden in Leistung verständigen werden. Dies haben wir nun heute eine ganz neue Situation gebracht; sie haben sie wieder- zu entscheiden. belebt und auch verjüngt. Verbunden waren damit natür- (B) lich auch ganz neue und nicht gerade kleine Probleme der (D) Der neue Gesetzentwurf sieht vor, dass die Bundes- Selbstverständigung, des Zusammenfindens, der Integra- republik Deutschland ihre jährliche Staatsleistung von tion verschiedenster sozialer, geistiger, kultureller Prä- 3 auf 5 Millionen Euro erhöhen wird. Dies geschieht „vor gungen. So ist in Deutschland heute wieder eine sehr vi- dem Hintergrund wachsender Aufgaben und neuer Anfor- tale und vielfältige neue jüdische Gemeinschaft zu Hause. derungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“, wie es in der Begründung heißt. Dort wird auch betont, Gegenseitiges Vertrauen ist gewachsen, Vertrauen in die dass sich der Vertrag „als tragfähige Grundlage für eine gefestigte demokratische Basis unseres Landes. Dennoch kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit wissen wir alle, dass wir eine „Normalität“ des Zusam- der Vertragsparteien bewährt“ hat. Der erhöhte Betrag menlebens zwar erstreben, aber noch nicht erreicht ha- wird bereits in diesem Jahr in voller Höhe gewährt; im ben. Immer noch müssen jüdische Einrichtungen ge- Bundeshaushalt 2008 ist dafür Vorsorge getroffen. schützt werden, werden Straftaten mit antisemitischem Hintergrund in relevanter Zahl registriert. Leider ist An- Die Staatsleistung der Bundesrepublik an den Zentral- tisemitismus immer noch und immer wieder ein Problem. rat der Juden ist mehr als nur die Unterstützung für eine Das Problembewusstsein allerdings wächst erfreulicher- Religionsgemeinschaft. Sie soll „zur Erhaltung und weise in der Gesellschaft ebenfalls, und es bleibt nicht Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau nur passiv. einer jüdischen Gemeinschaft und den integrationspoliti- schen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutsch- Der Staatsvertrag 2003 war durch den Zentralrat der land“ beitragen. Wir alle wissen, dass dies als Folge des Juden initiiert worden, der seit seiner Gründung 1950 einschneidenden Zivilisationsbruchs in der deutschen große Verdienste um den Wiederaufbau und die demokra- Geschichte während des Nationalsozialismus immer tische Kultur in Deutschland hat und ein verlässlicher noch besondere Anstrengungen erfordert. Partner der Bundesrepublik in vielen gesellschaftspoliti- schen Fragen geworden ist. Er bekennt sich dazu, dass er Als der bekannte Vertreter des deutschen liberalen Ju- die religiösen Interessen aller Juden in Deutschland ver- dentums Leo Baeck 1945 aus dem Konzentrationslager einigt – von streng orthodoxen bis zu Reformgemeinden, Theresienstadt befreit worden war, sah er keine Hoffnung konservativen und liberalen Gemeinden. In diesem Sinne für jüdisches Leben in Deutschland mehr: hat er sich auch mit dem zweitgrößten Dachverband in Für uns Juden in Deutschland ist eine Geschichtse- Deutschland, der Union progressiver Juden, verständigt. poche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, So gehen wir davon aus, dass die erhöhten Bundesmittel wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuver- der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit sicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. all ihren Gruppierungen zugutekommen werden.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19563

Maik Reichel (A) Da wir uns heute, am dritten Tag des jüdischen Laub- und dass somit tatsächlich die überwiegende Mehrheit (C) hüttenfestes Sukkot, noch mitten in den Hohen Feiertagen der Juden in unserem Land in die Gunst der finanziellen zum jüdischen Neujahrsfest befinden, möchte ich zum Ab- Leistungen kommt. Mit der Kompromissbereitschaft bei- schluss unseren jüdischen Mitbürgern – und uns allen – der Seiten hat sich manch eine Prophezeiung, der Vertrag ein gutes neues Jahr wünschen. beziehe sich „auf eine ungewisse und konfliktträchtige Zukunft“, als ungerechtfertigt erwiesen. Die Förderung Hans-Michael Goldmann (FDP): der ganzen jüdischen Gemeinschaft samt progressiven Strömungen ist mir als liberalem Religionspolitiker be- Vor fünf Jahren hat dieses Hohe Haus in einem sonst sonders wichtig, hat doch das Judentum insgesamt viele seltenen Einvernehmen beschlossen, dem Vertrag zwi- Facetten und seine liberale Strömung eine lange und rei- schen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden che Tradition in unserem Land. in Deutschland zuzustimmen. Heute wollen wir diese richtige und gute Entscheidung bekräftigen. Es gilt, die Von den 13 Millionen Juden weltweit leben heute etwa Höhe der vertraglich vereinbarten finanziellen Zuwen- 110 000 in Deutschland. Wir haben immer noch eine der dung an die neuen Umstände und an die wachsenden größten jüdischen Gemeinschaften Europas. Als Gesetz- Funktionsbereiche des Zentralrates anzupassen. geber und höchstes Gremium der Legislative haben – ne- ben den Ländern – auch wir auf Bundesebene dafür Sorge Eine wichtige Messlatte bei der Berechnung der Leis- zu tragen, dass jüdisches Leben in der Mitte der Gesell- tungsanpassung ist die Entwicklung der vom Zentralrat schaft bleibt. Deshalb ist dieses Vertragswerk kein Selbst- repräsentierten Gemeindemitglieder. Dabei sollten wir zweck, sondern ein Instrument der Förderung der unter- uns nicht nur an diesem quantitativen Kriterium orientie- stützenswerten Arbeit des Zentralrats der Juden. In der ren, sondern auch die Inhalte bedenken. Die Ziele, die wir trockenen Juristensprache nennt sich dieses Instrument uns damals gemeinsam mit dem Zentralrat gesetzt haben, „Staatsleistung“. In der Tat ist es eine finanzielle Grund- sind langfristig und haben heute noch Bestand. Wir wol- lage für die anspruchsvolle und vielseitige Tätigkeit des len nämlich zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdi- Zentralrates und ein Beitrag der Gesamtheit der Gesell- schen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemein- schaft für die Aufrechterhaltung der einzigartigen schaft und zu den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats der Juden beitragen. Die Bun- deutsch-jüdischen Kultur. Wir dürfen aber keinesfalls desregierung hat sich des Weiteren verpflichtet, den Zen- meinen, dass wir mit der Auszahlung von Geldern – auch tralrat bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben der erhöhten Summe – unserer Verantwortung für die Un- sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell zu unter- terstützung des jüdischen Lebens in unserem Land ledig stützen. geworden sind. Die Politik soll die Rahmenkonditionen dafür schaffen, und die finanzielle Komponente ist nur (B) (D) Der klare und positive Beschluss des Deutschen Bun- eine notwendige Voraussetzung von vielen. destages von 2003 erwies sich als ein kluger Kompro- miss, insbesondere vor dem Hintergrund der Ansprüche Bei der Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages seitens Vertreter liberaler jüdischer Strömungen. Damals spielen Eigeninitiative, persönliches Engagement und wie heute müssen wir uns im Klaren sein, wem wir finan- das Interesse eines jeden von uns eine zentrale Rolle. zielle Unterstützung mit diesem Vertrag leisten. Be- Denn das Zusammenleben bleibt auch in der modernen kanntlich ist der Zentralrat der Juden in Deutsland ein und globalisierten Gesellschaft eine Herausforderung, Zusammenschluß von 102 jüdischen Gemeinden und die den guten Willen und den Mut aller Beteiligten erfor- 23 Landesverbänden, die insgesamt 95 Prozent aller or- dert. Es geht dabei vor allem um den Mut, gegen Vorur- ganisierten deutschen Juden repräsentieren. Er fungiert teile vorzugehen. Leider wirkt das Gift des Antisemitis- als Vermittler zwischen den Juden in Deutschland und der mus immer noch im Körper unserer Gesellschaft. Es muss Bundesregierung und verfügt wie alle anderen Religions- nachhaltig mit dem Gegenmittel der Beseitigung von Vor- gemeinschaften über Selbstbestimmungsrecht und darf urteilen und Unwissenheit behandelt werden. Die FDP allein über die eigenen Mitgliedskriterien entscheiden. widmet dieser Problematik große Aufmerksamkeit und bringt stets eigene Überlegungen in die Debatte ein. Wir Wir als Vertreter eines weltanschaulich neutralen haben konkrete Maßnahmen gefordert, die auf die Be- Staates haben den Wunsch geäußert, dass die finanzelle kämpfung von Antisemitismus abzielen. Wir sind aber Förderung, insbesondere die integrations- und sozialpo- auch für weitere Vorschläge offen. litischen Leistungen, „allen jüdischen Bürgerinnen und Bürger, gleich welcher Ausrichtung, zugutekommen“. Es stimmt zwar, dass unsere Bemühungen um das jü- Wir wollten auch die verhältnismäßig wenigen Vertreter dische Leben in Deutschland auf der geschichtlichen des Judentums, die sich durch den Zentralrat nicht ver- Verantwortung fußen, eine Wiedergutmachung ist dieses treten fühlen, einbeziehen. Der Zentralrat hat seinerseits Vertragswerk und die mit ihm zusammenhängende vertraglich bestätigt, im Rahmen seines Selbstverständ- Staatsleistung jedoch nicht: Eine Wiedergutmachung des nisses offen für alle Richtungen innerhalb des Judentums unermesslichen Leides kann es nicht geben; darin sind zu sein, und diese Zusage in die Realität umgesetzt. wir uns einig. Ich freue mich sehr, dass jetzt, fünf Jahre später, der Ich schließe mich der prägnanten Metapher der Zentralrat als bedeutendste jüdische Institution in „FAZ“ an, dass der Staatsvertrag „neue Saatkörner ent- Deutschland und die Union progressiver Juden als ein hält“, hoffe jedoch weiterhin, dass auch „der alte Flor“ kleinerer Partner den Weg zueinander gefunden haben wiederkehrt.

Zu Protokoll gegebene Reden 19564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Petra Pau (DIE LINKE): Tatsache zu tun, dass die jüdischen Gemeinden in (C) Erstens. Es geht in dieser Debatte und mit der folgen- Deutschland stetig mehr Mitglieder aufnehmen, insbe- den Abstimmung darum, einen Vertrag zwischen der Bun- sondere auch deshalb, weil seit dem Zusammenbruch der desregierung und dem Zentralrat in Kraft zu setzen. Mit Sowjetunion viele jüdische Migrantinnen und Migranten diesem Vertrag verpflichtet sich die Bundesregierung, aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ge- den Zentralrat der Juden in Deutschland auch finanziell kommen sind. Wir heißen sie willkommen. Sie bereichern zu unterstützen. Konkret geht es um 5 Millionen Euro das gesellschaftliche Leben in unserem Land. jährlich, beginnend 2008 und mit einer Laufzeit von fünf Jahren. Mit diesem Geld sollen jüdisches Leben, Kultur Wir freuen uns über die neue Vielfalt jüdischen Lebens und Religion in der Bundesrepublik Deutschland unter- und darüber, dass neue Synagogen gebaut werden, ge- stützt werden. Die Fraktion Die Linke begrüßt das aus- rade dort, wo vorher keine jüdischen Gemeinden existier- drücklich. ten. Die dafür notwendigen Rabbiner und Kantoren er- halten ihre Ausbildung auch am Abraham-Geiger-Kolleg Zweitens. Gleichwohl wiederhole ich einen Appell, hier ganz in der Nähe, in Potsdam. Das Geiger-Kolleg den ich bereits 2003 aus gleichem Anlass an den Zentral- leistet dafür einen weit über seine Möglichkeiten gehen- rat der Juden gerichtet habe, nämlich die Hoffnung, dass den Beitrag. Ich würde mich freuen, wenn deshalb alle an alle jüdischen Einrichtungen und Richtungen von dem der Finanzierung des Kollegs Beteiligten nochmals ihren Geld etwas haben, allemal von den 2 Millionen Euro Beitrag überprüfen könnten. mehr pro Jahr. Damit meine ich auch jüdische Stätten und Initiativen, die nicht unter dem Dach des Zentralrates der Die Aufgaben des Zentralrats weiten sich aus, und da- Juden in Deutschland vereint sind. Auch sie gehören zur mit erhöht sich auch sein finanzieller Bedarf. Dieser Tat- kulturellen Vielfalt hierzulande und zum neuen jüdischen sache trägt der mit diesem Gesetz zu ratifizierende Ver- Leben in Deutschland. Auch sie verdienen Unterstützung. trag Rechnung. Die bisher vereinbarte Summe von 3 Millionen Euro jährlich hat sich aufgrund gestiegener Drittens. Abschließend spreche ich ein konkretes Pro- Preise und Personalkosten und wegen des Anwachsens blem an, das nicht über diesen Vertrag – jedenfalls nicht ihrer Aufgabe als nicht mehr ausreichend erwiesen. Die allein durch ihn – zu lösen ist. Das Abraham-Geiger-Kol- Erhöhung auf 5 Millionen Euro erscheint uns also ein- leg in Potsdam ist eine von zwei anerkannten jüdischen deutig gerechtfertigt. Wir gehen davon aus, dass dem Ausbildungseinrichtungen, und es ist in Gefahr. Finan- Zentralrat damit die Mittel gegeben werden, die er zur ziert wird es aus verschiedenen Quellen. Eine davon be- Bewältigung seiner Aufgaben benötigt. steht aus Spenden, insbesondere aus den USA. Und genau diese brechen jetzt offenbar weg. Die weltweite Finanz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) krise – so die akuten Anzeichen – lässt diese Quelle ver- (D) siegen. Es fehlen aktuell rund 150 000 Euro pro Jahr. Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss Nach meinen Informationen war der Zentralrat der Juden empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- bisher nicht bereit, seine finanziellen Hilfen aufzusto- che 16/10594, den Gesetzentwurf der Bundesregierung cken, und die Kultusministerkonferenz der Länder hat auf Drucksache 16/10296 anzunehmen. Ich bitte diejeni- sich bisher nicht auf Zuschüsse geeinigt. Beides wäre gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu aber nach Lage der Dinge bitter nötig. erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- genommen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor gut fünf Jahren wurde ein längst überfälliger Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Schritt endlich in die Tat umgesetzt und ein Vertrag zwi- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- in Deutschland geschlossen. Mit diesem Vertrag wurden schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu nach vielen Jahren die Rolle und die Arbeit des Zentral- dem Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Julia rates voll anerkannt. Seit seiner Gründung hat der Zen- Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Ab- tralrat große Leistungen zum Wideraufbau der jüdischen geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gemeinden in Deutschland und zur Integration nach sowie der Abgeordneten Gustav Herzog, Volker Deutschland zurückgekehrter und zugewanderter Juden Blumentritt, Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeord- vollbracht. Mit dem Staatsvertrag hat die damalige rot- neter und der Fraktion der SPD grüne Bundesregierung die Beziehungen zum Zentralrat auf eine solide und belastbare Basis gestellt. Sie müssen Schutz vor Pflanzenschutzmittelrückständen weiter gefestigt werden. in Lebensmitteln verstärken Die Aufgaben, die der Zentralrat in unserer Gesell- – Drucksachen 16/6958, 16/8136 – schaft übernimmt, sind vielfältig: Sie reichen von der Förderung der jüdischen Kultur und des jüdischen Ge- Berichterstattung: meindelebens in all seinen lebendigen Ausprägungen bis Abgeordnete Julia Klöckner zum umfassenden Einsatz für das gegenseitige Verständ- Gustav Herzog nis von Juden und Nichtjuden. Auf all diesen Feldern sind Dr. Christel Happach-Kasan die zu bewältigenden Aufgaben in den letzten Jahren ge- Karin Binder wachsen. Das hat vor allem mit der höchst erfreulichen Cornelia Behm Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19565

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Bei aller angebrachter Kritik: Die in Deutschland er- (C) Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die zeugten landwirtschaftlichen Produkte weisen einen ho- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Julia hen Sicherheits- und Qualitätsstandard auf. Hier werden Klöckner, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Dr. Christel Lebensmittel so umfassend wie in keinem anderen euro- Happach-Kasan, FDP, Karin Binder, Die Linke, Cornelia päischen Land auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln Behm, Bündnis 90/Die Grünen. überprüft. Das zeigt sich auch daran, dass laut Bundes- amt für Verbraucherschutz und Lebensmittel bei impor- tiertem Obst und Gemüse die Höchstgehalte weitaus häu- Julia Klöckner (CDU/CSU): figer als von deutschen Lebensmitteln überschritten Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Mo- werden. Dies liegt nicht zuletzt an der unterschiedlichen nate unterstreichen die Bedeutung des Themas und die gesetzlichen Handhabung in den einzelnen Ländern. In Wichtigkeit unseres Antrages: Pestizidbelastungen bei vielen Nachbarländern sind die gesetzlichen Höchstge- Mandarinen, Äpfeln oder anderem Obst und Gemüse halte bestimmter Wirkstoffe höher als in Deutschland. oder verschiedene Gewürzmischungen mit überhöhten Pestizidrückständen bestimmen leider viel zu oft unseren Hinzu kommt: Die gesetzlichen Höchstmengen sind Alltag. Handelsnormen. Sie geben wieder, ob ein Pflanzen- schutzmittel vorschriftsmäßig angewandt wurde. Von ei- Auch der Bericht des Bundesamtes für Verbraucher- ner gesundheitlichen Gefährdungsgrenze sind sie weit schutz und Lebensmittelsicherheit diese Woche hat leider entfernt. Denn Grenzwerte haben einen hohen Sicher- alarmierende Ergebnisse zu Tage gebracht: In Kopfsalat, heitspuffer, sodass auch bei geringfügigen Überschrei- Äpfeln, Zuchtchampignons sowie Grün- und Wirsingkohl tungen nicht mit gesundheitlichen Risiken zu rechnen ist. wurden 2007 häufig die gesetzlichen Höchstmengen Willkürliche Vorgaben bei Rückstandsdaten – wie bei ei- überschritten. Bei einigen Proben von Kopfsalat, Grün- nigen der Greenpeace-Untersuchungen – führen dagegen kohl, Austernseitlingen und Tomaten lag die Belastung nur zur Verunsicherung der Verbraucher: Hinweise auf laut Bundesamt so hoch, dass bei einmaligem Verzehr ge- Gefahren ja, aber bitte keine Pauschalisierung! Gerade sundheitliche Beeinträchtigungen nicht auszuschließen bei hoch sensiblen Produkten wie Lebensmitteln gilt es, sind. Ohne diese Warnhinweise zu verharmlosen: Bei mit Äußerungen vorsichtig umzugehen. Denn bei aller Grünkohl und Austernseitlingen findet kein Rohverzehr kritischen Betrachtungsweise: Wir reden hier über ein statt, sodass die akute Toxizität nur für das verzehrfertige, Restrisiko und die Verbesserung der Bewertungspraxis – gekochte Erzeugnis bewertet werden sollte, nicht aber für wir bewegen uns im Bereich der Vorsorge und nicht in Ab- den ungekochten Zustand. Ebenfalls durchgefallen sind wehr akuter Gefahren. Durch pauschale Aussagen wird oft der Anschein erweckt, mit der konventionellen Nah- (B) sieben von zehn Salatköpfen – Kopfsalat oder Römer- (D) salat –, hier wurden gleich die Rückstände mehrerer rungsaufnahme würde der Verbraucher systematisch ver- Wirkstoffe gefunden. giftet – und den offiziellen Lebensmittelüberwachungsbe- hörden wird die Kontrollkompetenz aberkannt, zugunsten Diese Ergebnisse lassen uns aufschrecken und sind ein eigener willkürlicher Stichprobenanalysen, die schon Warnhinweis: Dennoch kann Schwarz-Weiß-Denken aufgrund ihrer geringen Anzahl keiner wissenschaftli- nicht die Antwort sein. Dass der Leiter des Bundesamtes chen Prüfung standhalten. die Folgerung zog, man sollte Bioprodukte kaufen, um auf Nummer sicher zu gehen, diskreditiert konventionell Kurzum: Wer meint, möglichst viele Pflanzenschutz- hergestellte Produkte. Im Gegenteil: Auch in Biowaren mittel vom europäischen Markt verbannen zu müssen, sind erhebliche Belastungen bei Untersuchungen gefun- sollte die Folgen für den Obstbau und die Landwirtschaft den worden. Gesundheitsgefährdende Rückstände haben bedenken. Wenn die 1,5 Milliarden Hektar Ackerflächen nichts in Nahrungsmitteln zu suchen – ganz gleich ob Bio- auf der Welt ohne Dünger und Pflanzenschutz genutzt oder Nichtbioprodukte. Übrigens: Dänische Forscher würden, würden noch mehr Menschen als bisher verhun- gern. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ermöglicht haben Folgendes herausgefunden und veröffentlicht: es heute, in der Landwirtschaft hohe und sichere Erträge Ökoprodukte enthalten nicht mehr Vitamine als her- zu erzielen und damit die Versorgung mit hochwertigen kömmlich produzierte Produkte. Der Grund: Klimaein- und erschwinglichen landwirtschaftlichen Produkten flüsse wirken sich weit mehr auf das Wachstum aus als die auch für eine wachsende Bevölkerung sicherzustellen. Form des Anbaus. Weder ist biologisch angebautes Obst Gesunde Nahrungsmittel mit sicherem Pflanzenschutz und Gemüse reicher an Nährstoffen und Spurenelemen- sind somit keine Vision, sondern praktisches Bekenntnis ten, noch werden diese besser vom Körper aufgenommen. für die nachhaltige Landwirtschaft, damit sie qualitativ Zwar haben laut Stiftung Warentest die wenigsten Pro- hochwertige, gesunde Lebensmittel erzeugen kann. Es dukte Pestizidrückstände, dafür bewirkt der Naturdünger geht dabei nicht um die Quantität, sondern um die Qua- nur allzu oft Salmonellen oder die Gefahr vor Darmbak- lität von Pflanzenschutzmitteln. terien. Die Durchfallerreger sitzen nicht nur außen auf Salat, Tomaten und Sprossen, sie dringen auch in die Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dort, wo es an- Pflanzen ein. Bei Rückständen von Schimmelpilzgiften gebracht ist und Pestizidrückstände den Grenzwert über- zum Beispiel auf Getreide schneiden Bioprodukte auch schreiten, muss der Finger in die Wunde gelegt werden. In nicht generell besser ab. Es lohnt sich daher, immer wie- längst nicht allen Ländern, aus denen wir für unseren der einmal die Testergebnisse von Stiftung Warentest an- Markt Obst und Gemüse beziehen, wird unter den Vorga- zusehen. ben produziert, wie wir uns das vorstellen. Entsprechende 19566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Julia Klöckner (A) Grenzkontrollen und Kontrollen vor Ort sind deshalb zu noch besser koordiniert und präzisiert werden. Mit der (C) verstärken. Forderung nach einer Harmonisierung des gesamten Systems der Lebensmittelkontrolle innerhalb der EU Denn in einem sind wir uns doch alle einig: Ein Über- kann ein wirksamer Schutz der Verbraucher erzielt schreiten der Grenzwerte oder gar der Schwelle zur ge- werden. Einheitliche Standards der Kriterien der amtli- sundheitlichen Bedenklichkeit ist dabei unter keinen chen Lebensmittelkontrolle ermöglichen eine bessere Umständen zu akzeptieren. Um das Vertrauen der Ver- Vergleichbarkeit der Daten, um bei Verstößen Rechtssi- braucherinnen und Verbraucher in die Sicherheit ihrer cherheit bei der Festlegung des Strafmaßes zu haben. Lebensmittel sicherzustellen, müssen diese Verstöße ge- Gleichzeitig müssen natürlich die zuständigen Überwa- gen das Lebensmittelrecht auf ein absolutes Minimum be- chungseinrichtungen der Länder eine konsequente Ahn- grenzt werden. Schwarze Schafe wird es leider immer ge- dung und Verfolgung festgestellter Regelverletzungen ben. Aber wir müssen es ihnen so schwer wie möglich durchsetzen. Bisher werden leider von den Überwa- machen! Umso wichtiger ist es, unsere selbst gesetzten chungsbehörden kaum Sanktionen bei Verstößen gegen Ziele im Bereich chemischer Pflanzenschutz zügig umzu- Höchstmengenüberschreitungen für Pflanzenschutzmit- setzen. Wichtig ist uns hierbei aber vor allem eines: Da- tel erlassen. Solange ein solches Verhalten keine ernst- mit eine Reduzierung der Rückstände von Pflanzen- haften Konsequenzen nach sich zieht, wird es immer wie- schutzmitteln in allen Lebensmitteln erzielt wird, müssen der Schwarze Schafe geben. insbesondere die Importe aus den EU-Mitgliedsländern und nicht EU-Ländern intensiv kontrolliert werden. Die Wir brauchen eine umfassende Strategie im Pflanzen- Reduzierung der Überschreitungsrate von Pflanzen- schutzbereich, hierfür wird sich die CDU/CSU-Bundes- schutzmittel-Rückstandshöchstmengen dürfen nicht nur tagsfraktion weiter einsetzen. Die Kontrollen müssen ver- bei unseren heimischen Agrarprodukten auf unter ein stärkt werden, das bestehende Kontrollsystem muss Prozent abgesenkt werden, sondern auch Importe aus an- kritisch auf Schwachstellen und Rückstände überprüft deren EU-Mitgliedstaaten und aus Drittstaaten. Denn werden. Wir erwarten, dass die Bundesregierung hierzu wir dürfen unseren eigenen Landwirten nicht mehr zumu- ihren Beitrag weiterhin leistet und die Anstrengungen, ten als ausländischen Importeuren aus Spanien, Italien gemeinsam mit den Bundesländern ein neues Pflanzen- oder anderen Ländern. Hier müssen wir mit gleicherlei schutzkontrollkonzept zu erarbeiten, weiter fortsetzt. Maß messen! Erste Erfolge bei der verbindlichen Rückmeldung zwecks Datenabgleichung zwischen Bund und Ländern konnten Auch eine Standardisierung der Kriterien bei der amt- im Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes er- lichen Lebensmittelkontrolle muss weiterentwickelt und reicht werden. vor allem innergemeinschaftlich harmonisiert werden. Wichtig ist hier eine klare Definition von Summen- (B) Auch der Verbraucher ist gefragt. Immer mehr Bürger (D) höchstwerten, um den Verbrauchern mit sachgemäßen In- achten beim Kauf von Frischeprodukten bereits auf Le- formationen bei ihrer Kaufentscheidung zu helfen. Eine bensmittelsicherheit. Fast die Hälfte aller Konsumenten wichtige Hilfestellung gibt hier das Verbraucherinforma- hält Ausschau nach einer entsprechenden Herkunft bzw. tionsgesetz. Seit Mai dieses Jahres haben die Verbrauche- Zertifizierung. An dieser Stelle haben die Produzenten be- rinnen und Verbraucher in Deutschland das Recht, sich reits ein hervorragendes Instrument geschaffen: Das QS- bei den Behörden gezielt über Lebensmittel, Futtermittel System für frisches Obst und Gemüse bietet allen betei- und Gegenstände des täglichen Bedarfs zu informieren. ligten Produktions- und Vermarktungsstufen eine große An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Gerade im Be- Chance durch ein lückenloses Kontrollsystem vom Feld reich des Pflanzenschutzes gibt es bereits gesetzlich ver- bis zur Ladentheke. Hier hat die Fachgruppe Obstbau ankerte Aufzeichnungspflichten, die klar und einheitlich auch eine beispielhafte Rolle eingenommen. Die Initi- geregelt sind. Wer einen landwirtschaftlichen oder gärt- ierung des NEPTUN-Projektes steht für hohe Transpa- nerischen Betrieb leitet, ist verpflichtet, Aufzeichnungen renz. Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und dem Bun- über die im Betrieb angewandten Pflanzenschutzmittel zu deslandwirtschaftsminister sind bei der führen. Und wer sich hier nicht an die Regeln hält, der Diskussion um gesundheits- und verbraucherschutzpoli- muss mit den entsprechenden Sanktionen rechnen. Die tische Aspekte die sachlich, wissenschaftlich fundierten Aufzeichnungspflichten und die Transparenz sind als Argumente wichtig. Einseitige Ideologie ist wie immer Chance zu sehen, die die Obstbauern schon heute bei- der falsche Ratgeber. Kampfbegriffe wie „Giftcocktail“ spielhaft nutzen. oder die Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln auf Pes- tizide sind unangebracht. Wenn wir in Zukunft die Nah- Auch im Bereich der Kontrolle an den EU-Außengren- rungsmittelsicherheit und hochwertige Lebensmittel ga- zen muss eine bessere und lückenfreiere Kontrolle ge- rantieren wollen, dann ist der verantwortungsvolle schaffen werden. Wir sieht es derzeit in Europa aus? Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln unerlässlich, ebenso kontinuierliche Anstieg der Lebensmittel in Europa, bei die stetige wissenschaftliche Begleitung! denen Rückstände von zwei oder mehr Pflanzenschutz- mitteln gefunden werden, lässt sich nicht schönreden. Umso wichtiger ist es hier, ein effektives Bewertungsmo- Gustav Herzog (SPD): dell zu entwickeln, um eine umfassende Bewertung der Jede Überschreitung gesetzlicher Grenzwerte für Gesundheitsrelevanz zu entwickeln. Um Schlupflöcher Pflanzenschutzmittel in Lebensmitteln ist eine zuviel. bei den Importkontrollen von Lebensmitteln zu vermei- Pflanzenschutzmittel haben grundsätzlich erst einmal den, müssen die Zusammenarbeit zwischen den Lebens- nichts im Lebensmittel zu suchen. Sie sollen, wie der mittelüberwachungsbehörden und den Zollbehörden Name schon sagt, unsere Kulturpflanzen schützen vor

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19567

Gustav Herzog (A) Krankheiten, Schädlingen, Unkräutern. Sie sollen unsere verunglimpft. Die schwarzen Schafe müssen auch im (C) Nahrungsgrundlage garantieren und den Landwirten den Sinne der sauber arbeitenden Unternehmen zur Rechen- Ertrag sichern. Nur die wenigsten Landwirte kommen schaft gezogen werden, unabhängig davon, wo sie produ- ohne chemischen Pflanzenschutz aus. Er ist also allge- zieren oder wo der Geschäftssitz ist. genwärtig, und somit sind es auch die Wirkstoffe der Pflanzenschutzmittel. Als gelernter Chemielaborant kann Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit ich Ihnen sagen, dass fast alles chemische Spuren hinter- den Ländern dafür zu sorgen, dass die Belastung durch lässt und lange Zeit nachweisbar ist, wenn es einmal da Pflanzenschutzmittelrückstände in Lebensmitteln mini- gewesen ist. Daher finden wir auch im geernteten Pro- miert wird. dukt Pflanzenschutzmittelrückstände. Das wundert mich nicht im Geringsten, und es ist im Grunde auch kein An- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): lass zur Sorge. Die Qualität der Lebensmittel in Deutschland ist hoch. Die Anwendungsbestimmungen für Pflanzenschutz- Obst und Gemüse sind gesund. Weder der von der mittel werden so erlassen, dass mögliche Rückstände zum Unionsfraktion vorgelegte Antrag noch das Verhalten des Erntezeitpunkt so gering sind, dass sie unterhalb der ge- Bundesinstituts für Verbraucherschutz und Lebensmittel- setzlichen Grenzwerte liegen. Im Umkehrschluss bedeu- sicherheit (BVL) bei der Vorstellung der Berichte zur Le- tet es, dass Werte oberhalb der Höchstwerte auf einen bensmittelsicherheit 2007 hat diese gute Botschaft aus- Verstoß gegen geltende Anwendungsbestimmungen hin- reichend klar zum Ausdruck gebracht. weisen. Hier müssen gar nicht einmal gesundheitliche In Reaktion auf einen Greenpeace-Bericht hat das Gefährdungen gegeben sein. Es reicht, dass irgendje- BVL völlig richtig festgestellt, dass laut Jahresbericht mand in der Produktkette gegen geltendes Recht versto- 2006 lediglich bei 14 von insgesamt 17 535 Proben ein ßen hat und damit riskiert, dass mögliche Risiken für die gesundheitliches Risiko für die Verbraucher nicht ausge- Verbraucher entstehen können. Grenzwerte müssen si- schlossen werden konnte. Beim jetzt vorgestellten Bericht cher sein, Grenzwertüberschreitungen müssen geahndet von 2007, in dem weitere Erfolge hinsichtlich der Minde- werden, und Belastungen durch Vielfachrückstände müs- rung von Pflanzenschutzmittelrückständen festgestellt sen plausibel mit dem Anbauverfahren zu vereinbaren worden sind, spricht das BVL davon, es seien erneut zu sein. Ein, zwei, drei, vier, ja auch fünf verschiedene Pflan- hohe Rückstände festgestellt worden. Das ist wider- zenschutzmittel kann ich mir vielleicht noch erklären. sprüchlich. Zu Recht bezeichnen die Obstbauern diese Wenn ich aber lese, dass mitunter zehn oder sogar 15 ver- Feststellung als skandalös. Diese Pressemitteilung des schiedene Pflanzenschutzmittel in einem Produkt nachge- BVL vermittelt einen völlig falschen Eindruck. Wir Libe- wiesen werden, dann muss dem auf den Grund gegangen rale fordern den zuständigen Minister auf – auch wenn er (B) werden. jetzt mit Koalitionsverhandlungen in Bayern beschäftigt (D) Der vorliegende Antrag geht schon in das zweite Jahr ist – dafür zu sorgen, dass Bundesbehörden innerhalb sei- und ist daher teilweise überholt. Rückmeldungen der Ge- nes Verantwortungsbereichs die Bürgerinnen und Bürger nehmigungen nach § 18 Pflanzenschutzgesetz und der sachgerecht informieren und keine Panikmache betrei- Aufbau einer zentralen Datenbank sind bereits erfolgt, ben. genauso wie die Einführung harmonisierter Rückstands- Gute Fortschritte sind zum Beispiel bei den Äpfeln ge- höchstwerte in Europa oder die Prüfung der Altwirk- macht worden. Äpfel sind ein in Deutschland besonders stoffe. Ebenfalls sind die Zahlen zu Pestizidbelastungen beliebtes Obst. Jährlich werden bei uns etwa eine Million in Lebensmitteln aus dem Jahr 2005 und damit veraltet. Tonnen Äpfel produziert. Das Lebensmittelmonitoring Doch leider sehen die 2007er Daten nicht so aus, als 2007 weist für in Deutschland produzierte Äpfel eine Hal- könnte man die Hände in den Schoß legen. Ganz im Ge- bierung der Pflanzenmittelrückstände im Vergleich zu genteil, die Ergebnisse des jüngst vom BVL vorgelegten 2004 auf. Das ist eine gute Nachricht. Berichts zur Lebensmittelsicherheit geben keinen Grund zur Entwarnung. Unser Antrag hat demnach in seiner Ak- Das Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und tualität nichts eingebüßt, auch wenn das eine oder andere ländliche Räume in Schleswig-Holstein sieht in seinem überholt ist. jüngst veröffentlichten Pflanzenschutzbericht die Belas- tung von Lebensmitteln mit Pestizidrückständen für das Wir müssen runter mit Grenzwertüberschreitungen vergangene Jahr als unproblematisch an. Das Resultat und Vielfachrückständen in Lebensmitteln, zum Schutz al- der Untersuchungen im vergangenen Jahreszeitraum ent- ler, aber vor allem zum Schutze besonderer Verbraucher- spricht den Bilanzen der vorigen Jahre. Produkte aus gruppen wie Kindern oder älterer Menschen. Hierzu Deutschland und insbesondere aus Schleswig-Holstein müssen wir die Schwerpunkt- und Risikoüberwachung schnitten bei den Tests wieder etwas besser ab als der durch die Länder besser strukturieren, Nachkontrollen Durchschnitt; die Belastung war hier noch niedriger. verstärken und vor allem die Ahndung der Verstöße ver- schärfen. Es handelt sich hier um kein Kavaliersdelikt, Ein Problem bleibt jedoch bestehen: Nach Deutsch- sondern um eine potenzielle Gefährdung der Verbrau- land importierte Obst- und Gemüsesorten weisen auch cher. In erster Linie müssen wir Erzeuger und Handel in weiterhin erhöhte Pflanzenmittelrückstände auf. Oftmals die Pflicht nehmen, ihrer Verantwortung gerecht zu wer- handelt es sich bei diesen Mitteln um bei uns nicht zuge- den, gesunde und einwandfreie Ware am Markt anzubie- lassene Pflanzenschutzmittel, die ein erhebliches Gefähr- ten. Der allergrößte Teil des Berufsstandes tut dies, doch dungspotenzial für die menschliche Gesundheit besitzen. alle werden durch illegales Handeln mehr oder weniger So weisen beispielsweise Nektarinen und Pfirsiche er-

Zu Protokoll gegebene Reden 19568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Dr. Christel Happach-Kasan (A) höhte Rückstände von bis zu 12 Prozent der Proben auf. weltweiten Hungers möchte die Bundesregierung die (C) Hiervon konnten nach Angaben des aktuellen Lebensmit- landwirtschaftliche Produktivität richtigerweise unter telmonitorings 76 Prozent der Proben mit Mehrfachrück- Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln weiter ständen nachgewiesen werden. Diese Werte liegen deut- steigern. In der Diskussion um die Zulassung von Pflan- lich zu hoch. Die Verwendung von nicht zugelassenen zenschutzmitteln wurde diese Fachlichkeit jedoch bisher Pflanzenschutzmitteln ist illegal und muss konsequent dem üblichen Populismus des Horst Seehofer geopfert. verfolgt werden. Es muss daran gearbeitet werden, diese Der neue Chef, die neue Chefin des Hauses muss dies be- Rückstände weiter zu vermindern. enden. Angesichts von nahezu 30 Schadpilzen, die bei uns Wir lehnen den Antrag der Großen Koalition ab. Er derzeit in landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Kul- kann die Lebensmittelsicherheit nur marginal verbessern, turen vorkommen, die zum großen Teil hochkanzerogene da die große Stoffgruppe der Pilzgifte unberücksichtigt Pilzgifte produzieren, bedeutet der weitere Verzicht auf bleibt. In der gegenwärtigen Diskussion der Panikmache den Einsatz von Fungiziden, wie er nach den Vorstellun- durch das BVL, der Beschlussfassung über die Zulas- gen des EU-Parlaments erfolgen soll, eine Gefährdung sungsverordnung für Pflanzenschutzmittel auf der EU- der menschlichen Gesundheit. Pflanzenschutzmittel zu Ebene, die durch die Verminderung der Zahl der Pflan- verbieten, wie dies derzeit auf EU-Ebene geplant ist, mag zenschutzmittel Landwirtschaft und Gartenbau in populär sein, aber es dient nicht der Lebensmittelsicher- Deutschland erschwert, bietet der Antrag keine Lösungs- heit; denn es mindert die Qualität unserer Nahrungsmit- vorschläge. tel. Die derzeitige Situation im Landwirtschaftsbereich ist Karin Binder (DIE LINKE): dramatisch, da aufgrund von Resistenzbildungen bei Anfang dieser Woche hat das Bundesamt für Verbrau- Schadpilzen gegenüber der Wirkstoffgruppe der Strobu- cherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) die Ergeb- line nur noch wenige Fungizide zur Schadpilzbekämp- nisse des Lebensmittelmonitorings für 2007 vorgestellt. fung zur Verfügung stehen. Es ist dabei der Obst- und Ge- Insgesamt ist die Sicherheit der Lebensmittel in Deutsch- müseanbau genauso betroffen wie der Anbau von Weizen. land zwar recht hoch. Trotzdem hat das Bundesamt erneut Die Blattfleckenkrankheit Septoria hat sich inzwischen zu hohe Pestizidrückstände in Obst und Gemüse festge- bundesweit ausgebreitet. stellt. Insbesondere bei Kopfsalat, Äpfeln, Zuchtcham- Die einseitige Konzentrierung des Antrags der Großen pignons, in Grünkohl und Wirsing wurden die gesetzli- Koalition auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln lässt chen Grenzwerte für Pestizide häufig überschritten. Bei die gesundheitliche Gefährdung durch Pilzgifte völlig au- einigen Proben von Kopfsalat, Grünkohl, Austernseitlin- (B) ßer Acht. Das ist nicht sachgerecht. Effiziente Landwirt- gen und Tomaten lag die Belastung sogar so hoch, dass (D) schaft und effizienter Gartenbau brauchen auch weiter- selbst bei einmaligem Verzehr gesundheitliche Beein- hin Pflanzenschutzmittel für gesunde Produkte und gute trächtigungen nicht ausgeschlossen werden können. Erträge. Belastungen mit hochkanzerogenen Pilzgiften Besorgniserregend ist auch der Umstand, dass immer dürfen nicht toleriert werden, denn sie gefährden die Ge- häufiger Rückstände mehrerer Pestizide gefunden wer- sundheit von Tier und Mensch. Obst mit Fraßstellen oder den. Bei Kopfsalat zum Beispiel ist das in 80 Prozent der Schorf, Salat mit Blattläusen will niemand essen. Hohe Proben der Fall, bei Tomaten ist jede zweite Probe mehr- Ertragseinbußen vermindern die Wettbewerbsfähigkeit fach belastet. Das ist nicht akzeptabel, zumal es noch gar der Betriebe. keine belastbaren Untersuchungsergebnisse gibt, ob oder Das bisherige Zulassungsverfahren für Pflanzen- wie sich die verschiedenen Pestizidrückstände verstärken schutzmittel hat sich in der Praxis bewährt. Es folgte dem und welche gesundheitlichen Auswirkungen daraus re- risikobasierten Ansatz, der die Strategie verfolgt, Risiken sultieren. für Umwelt und Verbraucher durch die Anwendung von Die Koalition widmet sich nun in ihrem Antrag der Pflanzenschutzmitteln zu minimieren und den Anbau ge- Problematik der Pestizide. Bis dato wurde vonseiten der sunder Pflanzen ohne übermäßigen Pilz- oder Schäd- Bundesregierung ja meistens gemauert, dass Überschrei- lingsbefall zu gewährleisten. Werden die derzeitigen tungen von Rückstandshöchstmengen nicht mit einer aku- Pläne der EU zur Änderung der Zulassung umgesetzt, ten Gefährdung der Gesundheit der Verbraucherinnen vermindert sich künftig die Zahl der zugelassenen Pflan- und Verbraucher gleichzusetzen seien. Leider mündet der zenschutzmittel drastisch. im Antrag erkennbare Erkenntniszuwachs der Koalition Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Verfahren nicht in die erforderlichen Konsequenzen. der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln so zu gestalten, dass es auch für Obst- und Gemüsekulturen mit geringer Weltweit sind laut einer Greenpeace-Studie vom Ja- Bedeutung wirtschaftlich vertretbar ist, die Zulassung zu nuar 2008 etwa 1 350 Pflanzenschutzmittelwirkstoffe be- beantragen. Andernfalls werden in absehbarer Zeit be- kannt. Davon konnten in den vergangenen Jahren in den liebte Beerenfrüchte wie Johannis- und Stachelbeeren staatlichen Überwachungslaboratorien bzw. in den EU- nicht mehr vom Handel angeboten werden können. Referenzlaboratorien grade mal 400 bis 600 Wirkstoffe analysiert werden. Das heißt im Klartext, dass mögliche Die Widersprüche der schwarz-roten Agrarpolitik Belastungen von Lebensmitteln, Grundwasser und damit werden im Bereich der Pflanzenschutzpolitik besonders auch der Verbraucherinnen und Verbraucher durch Pes- deutlich. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung des tizide nicht umfassend erkannt werden können.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19569

Karin Binder (A) Da frage ich mich dann schon: Wie kann es denn sein, so dringend schienen die Anliegen des Antrags für die (C) dass Pestizide zum Gebrauch zugelassen werden, die aus Koalition nicht gewesen zu sein. technischen Gründen oder mit dem üblicherweise ange- wendeten Prüfraster bei der Lebensmittelkontrolle nicht Interessant war übrigens, dass Union und SPD zwar nachgewiesen werden können? Diese Praxis setzt doch die Mitberatung im Wirtschaftsausschuss, nicht aber im völlig leichtfertig den gesundheitlichen Schutz der Ver- Umweltausschuss veranlasst haben. Eine Umweltrele- braucherinnen und Verbraucher aufs Spiel. Pestizide, de- vanz des Pflanzenschutzmitteleinsatzes erkennen Union ren Rückstände nicht kontrollierbar sind, dürfen nicht auf und SPD also nicht. Das ist sehr aufschlussreich und sehr den Markt kommen und zum Gebrauch zugelassen wer- bezeichnend für die öffentliche Debatte über Pestizide, den. Falls sie bereits erlaubt sind, müssen sie aus dem wie sie in Deutschland derzeit geführt wird: Es geht meist Verkehr gezogen und die Zulassungen widerrufen wer- nur um die Frage, ob Pflanzenschutzmittelrückstände den. eine Gefährdung für die Verbraucherinnen und Verbrau- cher darstellen. Das ist ohne Zweifel eine sehr wichtige Die Koalition fordert in ihrem Antrag die Bundesre- Frage. Eine ebenso wichtige Frage aber ist die Umwelt- gierung auf, zusammen mit den Ländern die Anstrengun- wirkung der Pestizide. Und das scheint heutzutage für gen zur Aufdeckung, Verfolgung und Rückführung von große Teile der Öffentlichkeit, die Behörden und auch die nicht akzeptablen Belastungen der Lebensmittel mit große Koalition kaum noch von Belang zu sein. Pflanzenschutzmittelrückständen zu verstärken und die selbst gesetzten Ziele im „Reduktionsprogramm chemi- Wie fatal diese Herangehensweise ist, zeigt sich beim scher Pflanzenschutz“ mit Nachdruck anzugehen. Diese Rückgang vieler Wildinsekten, den die Menschen wahr- Forderung unterstützen wir voll und ganz. Ich frage mich nehmen. So muss vermutlich der dramatische Rückgang nur, warum die koalitionsgeführte Bundesregierung im von Schmetterlingspopulationen mit dem alljährlichen, April 2008, also fünf Monate nachdem der heute behan- regelmäßigen Einsatz von Pestiziden – insbesondere In- delte Antrag eingebracht wurde, einen „Nationalen Ak- sektiziden – auf nahezu der Hälfte der Fläche Deutsch- tionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzen- lands in Verbindung gebracht werden. Dies ist eine Ent- schutzmitteln“ auflegt, der keinerlei Vorgaben dazu wicklung, der wir unbedingt Einhalt gebieten müssen. enthält, wie stark der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sinken soll. Von dem Ziel, den Einsatz von Pestiziden in- Aber zurück zu Ihrem Antrag. Auch eine frühere Be- nerhalb von zehn Jahren um 15 Prozent zu senken und handlung hätte trotz eines schönen Lyrikteils letztlich Überschreitungen von Pestizidgrenzwerten in Lebensmit- nichts daran geändert, dass Ihr Antrag dem Rückgang teln auf unter 1 Prozent zu drücken, ist in diesem „Ak- der Wildinsekten nur wenig entgegenzusetzen hat. Denn tionsplan“ gar keine Rede mehr. Ein Maßnahmepaket mit (B) er enthält vor allem Forderungen, deren Umsetzung ent- (D) verbindlichen Reduktionszielen und Instrumenten wäre weder bereits läuft, wie die Forderung nach Abschluss jedoch dringend erforderlich. Skandinavien hat es vorge- des Altwirkstoffprogramms, Hausaufgaben der EU sind macht: Dort ist der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft und die Bundesregierung zu nichts verpflichtet, wie die deutlich gesunken, und damit verringert sich auch die Stärkung der Lebensmittelkontrollen an den EU-Außen- Gefahr von toxischen Rückständen in Lebensmitteln. grenzen, oder bereits abgeschlossen ist, wie die Einfüh- rung einer Meldepflicht zur Erfassung von Einzelgeneh- Gerne erzählt insbesondere die CDU/CSU das Mär- migungen in das Pflanzenschutzgesetz. Die meisten chen, dass importierte Ware das Problem sei und deut- sche Ware sicher. Das ist ja auch in der vorliegenden Be- anderen Forderungen sind so vage, dass niemand weiß, schlussempfehlung dokumentiert. In Deutschland werden was er damit anfangen soll. jährlich rund 30 000 Tonnen Pestizide eingesetzt. Das Einige wenige positive Ausnahmen enthält Ihr Antrag BVL hat im Lebensmittelmonitoring 2007 festgestellt, aber doch. Zum Beispiel die Forderungen nach Entwick- dass mitnichten nur ausländisches Obst und Gemüse Pes- lung von Methoden zur Bewertung von Risiken durch tizidrückstände enthalten. So ist zum Beispiel bei Kopfsa- Mehrfachrückstände, nach Förderung der Forschung lat aus Deutschland eine inakzeptable Belastung festge- und Entwicklung nichtchemischer Pflanzenschutzverfah- stellt worden. ren sowie das Ziel, die Überschreitung von Rückstands- Es muss klar und konkret festgelegt werden, wie stark höchstmengen bei Pestiziden auf unter 1 Prozent zu ver- der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel gesenkt mindern. Diese Forderungen unterstützen wir Grüne werden soll, wie stark nicht chemische Alternativen an- nachdrücklich. steigen und gefördert werden sollen und wie stark Pesti- zidrückstände in Lebensmitteln sinken sollen. Das wurde Es ist aber sehr zweifelhaft, ob die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan versäumt, und deshalb ist viel für die Umsetzung tun wird. Da braucht man sich auch der Antrag der Koalition nur halbherzig. keinen Illusionen hinzugeben. Denn Bundesminister Seehofer hat das 1-Prozent-Ziel für die Überschreitung von Rückstandshöchstmengen gerade aus dem „Nationa- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflan- Wir behandeln hier heute einen verschleppten Uralt- zenschutzmitteln“ ersatzlos gestrichen. Im Künast’schen Antrag der großen Koalition, den sie bereits vor einem Vorläuferprogramm – dem Pestizidreduktionsprogramm – knappen Jahr vorlegte und im Februar – also vor fast ei- war es noch enthalten. So sehen die Fakten aus, die die nem dreiviertel Jahr im Ausschuss beraten ließ. Nun ja, große Koalition in der Pestizidpolitik schafft.

Zu Protokoll gegebene Reden 19570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Cornelia Behm (A) Über den mangelnden Umsetzungswillen hinaus feh- Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 29. (C) len andere wichtige Forderungen in ihrem Antrag gleich völlig. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Das betrifft zum Beispiel ein grundsätzliches Verbot und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) des Ausbringens von Pestiziden aus der Luft. Das würde in einzelnen Regionen erheblich dazu beitragen, die – zu der Verordnung der Bundesregierung Streuverluste und Einträge von Pestiziden in die Umwelt zu vermindern. Dies ist bitter notwendig, wie die Entwick- Verordnung zur Vereinfachung des Deponie- lung der Wildinsekten zeigt. rechts Darüber hinaus gilt es, den ermutigenden Beispielen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia von Dänemark und Schweden zu folgen und eine Risiko- Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, abgabe auf Pflanzenschutzmittel zu erheben. Mit den Ein- weiterer Abgeordneter und der Fraktion nahmen könnten dann Investitionen und Betriebsausga- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben im Vollzug des Pflanzenschutzrechtes finanziert werden. Denn die Pestizidanalytik ist eine kostspielige Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen Angelegenheit. Es kann doch nicht richtig sein, diese Fol- dem technischen Fortschritt anpassen und gekosten des Pflanzenschutzeinsatzes weiter der Allge- deutlich absenken meinheit aufzubürden. – Drucksachen 16/10330, 16/10398 Nr. 2, Die Bundesregierung muss wieder quantitative Reduk- 16/5775, 16/10602 – tionsziele in ihren Aktionsplan für nachhaltigen Pflanzen- Berichterstattung: schutz aufnehmen. Es kommt zwar in der Tat auch auf die Abgeordnete Michael Brand Schädlichkeit der einzelnen Wirkstoffe an. Nichtsdesto- Gerd Bollmann trotz ist die Entwicklung der Aufwandmenge auch ein Angelika Brunkhorst wichtiger Indikator. Dies hat sich jüngst wieder gezeigt, Eva Bulling-Schröter denn im Gleichklang mit den steigenden Agrarpreisen Sylvia Kotting-Uhl wurde auch die Landwirtschaft intensiviert und sowohl der Pestizideinsatz als auch die Umsätze der Hersteller Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- gesteigert. sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich Im biologischen Pflanzenschutz liegt übrigens ein er- sehe, Sie sind damit einverstanden. (B) hebliches Potenzial zur Verminderung des Einsatzes che- Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen (D) misch-synthetischer Pestizide. Wichtig wäre es daher, die und Kollegen: Zulassung biologischer Pflanzenschutzmittel einfacher und kostengünstiger zu gestalten, indem das Zulassungs- Michael Brand, CDU/CSU, Gerd Friedrich Bollmann, verfahren an die spezifischen Anforderungen dieser Mit- SPD, Horst Meierhofer, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die tel angepasst wird. Dies hat nichts mit Bevorzugung oder Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.1) Absenkung von Standards zu tun, würde aber die Arbeit der vorwiegend mittelständischen Unternehmen dieser Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Branche erheblich erleichtern. schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/10602. Der Ausschuss empfiehlt un- Von all dem ist im Antrag der großen Koalition nicht ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, der Verordnung die Rede. Zwar steht darin wenig Falsches, aber auch we- der Bundesregierung zur Vereinfachung des Deponie- nig Vorwärtsweisendes. Deswegen bleibt uns Grünen nur rechts auf Drucksache 16/10330 zuzustimmen. Wer die Enthaltung zu Ihrem Antrag. Ich appelliere an Sie, stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt liebe Mitglieder der Regierungsfraktionen: Bleiben Sie dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung bei Ihrem Antrag nicht stehen, sondern ergreifen Sie wei- ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei Ge- tere Initiativen, damit der Pestizideinsatz und die Um- genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthal- weltgefährdung durch Pestizide in Deutschland wieder tung der Fraktion Die Linke angenommen. sinken. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5775 mit Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- dem Titel „Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- dem technischen Fortschritt anpassen und deutlich ab- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache senken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – 16/8136, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- derS auf Drucksache 16/6958 anzunehmen. Wer stimmt empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den und der Fraktion Die Linke angenommen. Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. 1) Anlage 19 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19571

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 c auf: zung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt (C) damit die Voraussetzung ihrer eigenen Wirksamkeit.“ a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dem kann nur voll und ganz zugestimmt werden. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Staatsangehörigkeitsgesetzes Es ist ein Skandal, wenn uns die Linkspartei hier eine Regelung vorschlägt, bei der im Ergebnis auch der, der – Drucksache 16/10528 – getäuscht hat, die Staatsbürgerschaft behalten soll. Das Überweisungsvorschlag: zeigt ihr gebrochenes Verhältnis zu den Grundsätzen ei- Innenausschuss (f) nes freiheitlichen und eben auch wehrhaften Rechtsstaa- Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tes. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Handlungsbedarf haben uns die Verfassungsrichter b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim für die Frage der Wirkung einer solchen Rücknahmeent- Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, wei- scheidung auf Dritte aufgegeben, die zwar nicht selbst terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE getäuscht haben, gleichwohl aber in Zusammenhang mit der erschlichenen Einbürgerung ebenfalls die deutsche Für die Abschaffung der Optionspflicht im Staatsbürgerschaft erworben haben. Hier werden seitens Staatsangehörigkeitsgesetz der Bundesregierung ausgewogene Vorschläge unter- – Drucksache 16/9165 – breitet. In Anlehnung an ein Verfassungsgerichtsurteil, Überweisungsvorschlag: bei dem auf das eigene Bewusstsein eines Kindes für den Innenausschuss (f) Tatbestand der Einbürgerung und einen entsprechenden Rechtsausschuss Vertrauensschutz abgestellt wurde, soll die Rücknahme Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Einbürgerung bis zum fünften Lebensjahr möglich Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sein. Das halte ich für sachgerecht, zumal die absolute c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Ausschlussfrist, bis zu der überhaupt die Einbürgerung Dağdelen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Petra zurückgenommen werden kann, auch fünf Jahre betragen Pau und der Fraktion DIE LINKE soll. Allerdings werden wir zu prüfen haben, ob eine fünf- jährige Ausschlussfrist ausreicht und nicht vielleicht Klare Grenzen für die Rücknahme und den doch sieben Jahre notwendig sind, wenn man an langwie- Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit zie- rige Ermittlungen bei Doppelehen denkt. hen In anderen Fällen, also bei älteren Kindern und Ehe- – Drucksache 16/9654 – gatten, sieht die Neuregelung des Staatsangehörigkeits- (B) Überweisungsvorschlag: gesetzes eine Ermessensentscheidung der zuständigen (D) Innenausschuss (f) Behörde vor. Dabei ist insbesondere zu prüfen, inwieweit Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die dritte Person an der Täuschungshandlung selbst be- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe teiligt war. Es wird auch zu berücksichtigen sein, ob die mit eingebürgerten Personen inzwischen einen eigen- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ständigen Einbürgerungsanspruch erworben haben oder Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die ob sie sich gut in die deutschen Lebensverhältnisse inte- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Reinhard griert haben. Die schutzwürdigen Belange Dritter sind Grindel, CDU/CSU, Dr. Michael Bürsch, SPD, Hartfried mit dem öffentlichen Interesse an der Herstellung gesetz- Wolff, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke, Josef Philip mäßiger Zustände abzuwägen. Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. Der Bundesrat hat im Zusammenhang mit dem letzten Punkt moniert, dass durch die Formulierung in § 35 Reinhard Grindel (CDU/CSU): Abs. 5 Satz 2 nicht der Eindruck entstehen dürfe, die zu- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung ständige Behörde habe kein Ermessen bei der Rücknah- des Staatsangehörigkeitsgesetzes werden die notwendi- meentscheidung mehr, wenn es an einer Tatbeteiligung gen gesetzgeberischen Konsequenzen aus einer Reihe bei der Täuschungshandlung fehle. Insoweit regt der von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu den Bundesrat an, diesen Satz zu streichen. Ich meine, dass Rechtsfolgen der Rücknahme einer erschlichenen Ein- wir bei den Ausschussberatungen darüber intensiv reden bürgerung gezogen. Grundsätzlich hat unser höchstes müssen, weil es in der Tat nur in ganz extremen Ausnah- Gericht eine solche Rücknahme der Einbürgerung für mefällen dazu kommen darf, dass eine dritte Person von verfassungskonform erklärt, selbst wenn der Betroffene der Täuschung des Haupttäters profitiert. Das darf im staatenlos wird. Dementsprechend gilt in Zukunft nach Grunde genommen nicht sein. § 35 des Staatsangehörigkeitsgesetzes, dass derjenige die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, der arglistig ge- Ich will das Stichwort Haupttäter insoweit aufgreifen, täuscht, bedroht oder bestochen hat. Gleiches gilt, wenn als der Bundesrat außerdem die Einführung einer Straf- in den Antragsunterlagen bewusst unrichtige oder un- vorschrift wegen Täuschungshandlungen im Einbürge- vollständige Angaben gemacht wurden. Die Karlsruher rungsverfahren vorschlägt. Er will dabei eine so hohe Richter haben zur erschlichenen Einbürgerung klare Strafe ermöglichen, dass in besonders dreisten Fällen Worte gefunden: „Eine Rechtsordnung, die sich ernst auch eine Ausweisung möglich wäre. Ich sage ganz offen, nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer dass ich aus generalpräventiven Gründen diesen Vor- selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverlet- schlag unterstütze. Das gilt auch deshalb, weil wir zum 19572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Reinhard Grindel (A) Beispiel im Asylverfahren Strafvorschriften haben, wenn SPD-Fraktion für die Einführung der doppelten Staats- (C) mit unrichtigen Angaben getäuscht werden soll. Was im bürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder auslän- Asylverfahren richtig ist, das kann im Einbürgerungsver- discher Eltern starkgemacht. Kinder ausländischer fahren nicht falsch sein. Wir dürfen auch nicht übersehen, Eltern sollten nach dem Abstammungsprinzip die auslän- dass die Einbürgerung gerade von ausländischen Extre- dische Staatsangehörigkeit ihrer Eltern, nach dem Terri- misten für gefährliche Zwecke genutzt werden könnte. torialprinzip zusätzlich aber auch die deutsche Staatsan- Das sollten wir verhindern. Es handelt sich hier auch gehörigkeit erwerben. nicht um wenige Einzelfälle. Der niedersächsische Innen- minister Uwe Schünemann hat im Bundesrat vor wenigen Allerdings musste damals aufgrund der Mehrheitsver- hältnisse im Bundesrat ein Kompromiss gefunden wer- Wochen berichtet, dass die Ermittlungsbehörden zahlrei- den. Die sogenannte Optionslösung ist für die SPD – das che Fälschungen in Einbürgerungsverfahren und auch wissen Sie alle – nicht der Weisheit letzter Schluss. bei Echtheitsprüfungen von ausländischen Identitätspa- Rechts- und integrationspolitische Gründe sprechen aus pieren aufgedeckt hätten, ohne dass es zu strafrechtlichen unserer Sicht auch heute noch für die Aufhebung des Op- Sanktionen gekommen sei. In fast allen Fällen kam es zu tionszwanges. Nach dem Optionsmodell erwerben Kin- Verfahrenseinstellungen. der, die in Deutschland geboren wurden und deren Eltern Grundsätzlich gilt für die CDU/CSU: Die Einbürge- ein langfristiges Aufenthaltsrecht haben, zunächst zwei rung ist der Abschluss eines erfolgreichen Integrations- Staatsbürgerschaften. Mit Eintritt der Volljährigkeit, spä- prozesses und nicht die Eintrittskarte dafür. Deshalb testens aber bis zu ihrem 23. Lebensjahr, müssen sie sich kommt für uns die Einführung einer generellen doppelten zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der ih- Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder rer Eltern entscheiden. ausländischer Eltern, wie sie von der Linkspartei bean- Das Optionsmodell stürzt viele Menschen in einen Lo- tragt wird, natürlich nicht in Betracht. Gleichwohl ist es yalitätskonflikt, der einer Integration in die deutsche Ge- in der Tat so, dass die Zweifel am Sinn und der Praktika- sellschaft abträglich ist. Viele der hier Geborenen finden bilität der Optionsregelung ernst zu nehmen sind. Die ihre Heimat und ihre Lebenswirklichkeit in Deutschland, Frage ist schon berechtigt: Reicht allein die Geburt in fühlen sich aber dennoch den kulturellen Traditionen ih- Deutschland als Anknüpfungspunkt für die Verleihung res Herkunftslandes gegenüber verpflichtet. Könnten sie der Staatsbürgerrechte aus? Soll wirklich auch der Deut- die doppelte Staatsbürgerschaft behalten, müssten sie scher werden können, der kein Wort Deutsch spricht, un- sich nicht gegen ihren kulturellen Hintergrund stellen und sere Rechts- und Werteordnung ablehnt und stattdessen könnten zugleich Deutsche bleiben. Zudem würden sie beispielweise streng nach den Grundsätzen der Scharia über das Wahlrecht an der politischen Gestaltung der Ge- lebt? Ist es richtig, dass auch der noch für die deutsche sellschaft beteiligt.Das ist der Hintergrund, vor dem wir (B) Staatsbürgerschaft optieren darf, der auf Dauer Deutsch- die Debatte über die Änderung des Staatsangehörigkeits- (D) land verlässt? Sollen, und zwar per Abstammungsprinzip, rechts führen. dessen Kinder dann auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten? Wie ist nun die Situation durch den vorliegenden Ge- setzentwurf? Nachdem das Bundesverfassungsgericht am Es gibt auch integrationspolitisch für eine doppelte 24. Mai 2006 zwar grundsätzlich entschieden hat, dass Staatsbürgerschaft keinen Bedarf. Nach einer repräsen- eine durch Täuschung erwirkte Einbürgerung zurückge- tativen Umfrage des Bundesamtes für Migration und nommen werden kann, hat es in Bezug auf die zeitliche Flüchtlinge würden sich nur knapp 12 Prozent der Tür- Befristung dieser Rücknahmeentscheidung und die Be- ken in unserem Land ausschließlich bei einer doppelten troffenheit der Staatsangehörigkeit unbeteiligter Dritter Staatsbürgerschaft einbürgern lassen. 46 Prozent wollen noch Regelungsbedarf gesehen. Diesem Regelungsbe- die deutsche Staatsangehörigkeit nicht und 29 Prozent dürfnis kommt der vorgelegte Gesetzentwurf nach. Die würden sich auch ohne Beibehaltung ihrer bisherigen Rücknahme einer Einbürgerung darf nach dem Entwurf Staatsbürgerschaft einbürgern lassen. Es kann ja wohl nicht mehr in einem unbegrenzt langen Zeitraum erfol- nicht sein, dass wir die deutsche Staatsangehörigkeit gen. Vielmehr ist nach Ansicht des Bundesverfassungsge- quasi auf dem Wege der „aufgedrängten Bereicherung“ richts nur die „zeitnahe“ Rücknahme verfassungsgemäß. vergeben. Mit der Union ist das nicht zu machen. Daher sieht das Gesetz eine Ausschlussfrist von fünf Jah- ren vor. Nach Ablauf dieser Frist soll eine Rücknahme nicht mehr möglich sein. Das Prinzip der Rechtssicher- Dr. Michael Bürsch (SPD): heit hat in diesem Falle Vorrang vor dem Grundsatz der Vor knapp zehn Jahren haben wir mit der Abkehr vom Herstellung rechtmäßiger Zustände. veralteten Abstammungsrecht aus dem Jahr 1912 und der Einführung eines Staatsangehörigkeitsrechts, das an den Zum anderen regelt das Gesetz, wie in den Fällen zu Geburtsort anknüpft, einen lange überfälligen Paradig- entscheiden ist, in denen unbeteiligte Dritte von der menwechsel eingeleitet. Die damalige Diskussion, aber Rücknahmeentscheidung betroffen sind. Was geschieht auch das daraufhin beschlossene Zuwanderungsgesetz mit der Staatsangehörigkeit des Kindes, wenn den Eltern haben endgültig den Status Deutschlands als Einwande- durch eine Rücknahmeentscheidung die deutsche Staats- rungsland bestätigt. angehörigkeit – für die Vergangenheit – entzogen wird? Nach dem Entwurf soll ein Entzug der deutschen Staats- Teil der Debatte war auch damals schon die Diskus- angehörigkeit bei unbeteiligten Dritten nicht mehr statt- sion über die doppelte Staatsbürgerschaft, die intensiv finden, wenn diese Personen bereits fünf Jahre alt sind. und kontrovers geführt wurde. Schon damals hat sich die Bei Kindern unter fünf Jahren soll davon ausgegangen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19573

Dr. Michael Bürsch (A) werden, dass sie noch kein Bewusstsein von ihrer Staats- aufgegeben. Die Rücknahme der deutschen Staatsange- (C) angehörigkeit haben, sodass der Schutzbereich von hörigkeit bedarf demnach, wenn sie durch arglistige Täu- Art. 16 Abs.1 Satz 1 GG nicht berührt wird. schung, Drohung oder Bestechung erworben wurde, eines eigenen Gesetzes. Die üblichen Verwaltungsvor- Die Altersgrenze von fünf Jahren ist auch deswegen schriften, die seit Gründung der Bundesrepublik dazu an- sachgerecht, weil sie der Rücknahmefrist der Einbürge- gewandt wurden, reichen demnach dazu nicht mehr aus. rung entspricht. Ein Kind, das nach dem Abstammungs- Eine eigengesetzliche Regelung dient der Rechtssicher- prinzip die deutsche Staatsangehörigkeit von einem ein- heit. Die FDP begrüßt daher ausdrücklich die Gesetzes- gebürgerten Deutschen erhält, der die Einbürgerung initiative der Bundesregierung. Das sensible und wich- durch Täuschung erlangt hat, kann zum Zeitpunkt der tige Thema Staatsangehörigkeit muss verlässlich und Rücknahme gar nicht älter als fünf Jahre sein. Insofern durchschaubar ausgestaltet sein. liegt uns heute ein sinnvoller und praktikabler Entwurf vor, der den Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht Es ist sinnvoll, Kindern ab fünf Jahren einen eigenen wird. Staatsangehörigkeitsrechtsschutz zu gewähren. Zwar ist die Begründung, sie hätten ein eigenes Bewusstsein ihrer Was dennoch in dem Entwurf fehlt – damit bin ich wie- Staatsangehörigkeit entwickelt, fragwürdig. Das Staats- der beim Ausgangspunkt meiner Rede angelangt – ist die bewußtsein von nicht schulpflichtigen Kindern scheint Revision der starren Festlegung auf eine Staatsbürger- mir nicht geeignet zu sein, darauf wesentliche Rechtsfol- schaft. Das Optionsmodell ist nicht nur wegen der indivi- gen zu gründen. Was dennoch für die Regelung spricht, duellen und psychologischen Konflikte für die Betroffe- ist, dass die betroffenen Kinder nicht unter den Rechts- nen problematisch. Darüber hinaus haben sich in der vergehen ihrer Eltern leiden sollten. Praxis auch weitere Schwächen des Modells gezeigt. Die Folgen eines Statuswechsels sind vielfältig: Zum einen Dagegen ist die Frist von fünf Jahren, die die Bundes- kreisen sie um die Frage nach der Erteilung einer Aufent- regierung den Behörden zum Nachweis der unrechtmäßig haltsgenehmigung, nachdem die deutsche Staatsangehö- erworbenen Staatsangehörigkeit setzen will, sachwidrig. rigkeit entzogen wurde. Kann nach einem Statuswechsel Mit fünf Jahren ist die Frist, an der die Täuschung der überhaupt noch eine zufriedenstellende aufenthaltsrecht- rechtsstaatlichen Behörden mit einer dauerhaften, recht- liche Lösung gefunden werden? Ich sehe das sehr skep- mäßigen Staatsbürgerschaft belohnt wird, entschieden zu tisch. Zudem: Welche Folgen ergeben sich durch den Sta- kurz. Lediglich mit deutlich längeren Fristen, vielleicht tuswechsel für das Namensrecht, das Kindschaftsrecht angelehnt an die Verjährungsfristen in § 53 Abs. 2 und das Sorgerecht? Können bereits erworbene Rechts- VwVfG, kann wirksam verhindert werden, dass eine ver- positionen durch den Verlust der deutschen Staatsange- lockende Ziellinie vom Gesetzgeber in Aussicht gestellt hörigkeit tangiert werden? Für politische Ämter, die die wird, die die Betrüger oder Bestecher erreichen können. (B) deutsche Staatsangehörigkeit voraussetzen, entfällt mit (D) dem Wegfall Staatsangehörigkeit zudem die Grundlage, Auch die Regelung betreffend Dritter ist problema- was kein gutes Signal für politische Teilhabe ist. tisch. Eine Regelung, die synchron zu den anderen Fris- ten verläuft, erscheint hier vorzugwürdig. Schließlich will ich noch ein ganz praktisches Verwal- tungsproblem nennen, das mit dem Optionsmodell ver- Diskussionswürdig ist die Frage, ob, wie die Bundes- bunden ist. Jede betroffene Person muss von Amts wegen regierung vorschlägt, die Regelung auch rückwirkend aufgefordert werden, sich für eine Staatsbürgerschaft geltend soll oder erst ab Inkrafttreten des Gesetzes. Da – die deutsche oder die des Herkunftslandes ihrer Eltern – das Bundesverfassungsgericht für zurückliegende Fälle zu entscheiden. Es ist aber bislang völlig unklar, was pas- durchaus zur Bestätigung von solchen Rücknahmeent- siert, wenn der Betroffene nicht auffindbar ist, etwa weil scheidungen gekommen ist, scheint es mir rechtsstaatlich er sich nach einem Umzug nicht umgemeldet hat oder aus sauberer zu sein, dieses Verfahren so zu belassen und die sonstigen Gründen. Was auf keinen Fall sein kann ist, Wirkung des Gesetzes sich nur ex nunc entfalten zu las- dass jemand durch bloßen Zeitablauf seine deutsche sen. Staatsangehörigkeit verliert, wie in § 29 Abs. 2 S. 2 Staatsangehörigkeitsgesetz vorgesehen. Durch das Options- Die Linke, stets bemüht, den Erwerb der deutschen modell werden bürokratische Unmöglichkeiten geschaf- Staatsangehörigkeit so billig wie möglich zu machen, for- fen, die wir ohne es überhaupt nicht hätten. dert die Abschaffung des Optionsmodells. Die FDP hat dieses Modell seinerzeit selbst vorgeschlagen. Aber nicht Bereits jetzt gibt es Ausnahmen, in denen eine doppelte nur deshalb lehnen wir den Linken-Vorstoß ab. Es hat Staatsangehörigkeit gestattet ist. Diese Ausnahmen brin- überhaupt keinen Sinn, ein Gesetz zu ändern, für dessen gen in der Praxis keine großen Konflikte mit sich, sondern Wirkung es noch keinerlei verwertbare Daten gibt. Statt sind Ausdruck vielfältiger kultureller Identitäten in einer ideologisch an der Gesetzgebung herumzuschrauben, globalisierten Welt. Daher wird die SPD über das hier zu wäre es sinnvoll, doch erst einmal Erfahrungsberichte beschließende Gesetz hinaus weiter für die Abschaffung abzuwarten, wie sich diese Regelung ausgewirkt hat. des Optionsmodells und die generelle Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft eintreten. Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist es nach Auffassung der Linken nicht zumutbar, sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): entscheiden. Sie halten auch die Mehrstaatigkeit für hin- Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregie- nehmbar. Emotionale Bindungen ans Herkunftsland eines rung eine Überarbeitung des Staatsangehörigkeitsrechts Migranten sollen in Form der Staatsangehörigkeit beibe-

Zu Protokoll gegebene Reden 19574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) halten werden können und zusätzlich die deutsche Staats- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (C) angehörigkeit möglich sein. Diese betonte Verknüpfung Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die Bun- von emotionalen Bindungen und Staatsangehörigkeit ist desregierung auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts nur bedingt nachvollziehbar. Vielmehr ist es notwendig, und des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich einer feh- dass sich auch Migranten der Realität stellen. Integration lenden klaren spezialgesetzlichen Regelung zur Rück- in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn nahme der Staatsangehörigkeit. Letztlich geht es aber in man sich zu gleichen Rechten und Pflichten wie die ande- erster Linie darum, den Verwaltungsbehörden und Be- ren Staatsbürger in die deutsche Gesellschaft integriert troffenen Rechtssicherheit zu geben, indem der Willkür und dazu steht. Doppelstaatsangehörigkeit ist außer in und dem unbegrenzten Ermessen der Behörden Grenzen Sonderfällen, zum Beispiel bei Kindern aus binationalen gesetzt werden. Ehen, durchaus nicht unproblematisch. Sie kann die Inte- gration behindern, wenn Migranten mit Doppelstaatsan- Insgesamt folgt die Bundesregierung mit den vorge- gehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzeitig schlagenen Regelungen den Empfehlungen der Sachver- politisch und kulturell zwei Nationen angehören. Migran- ständigen der Anhörung des Innenausschusses des Deut- tenschicksale zeigen oft, dass dies eben nicht möglich ist: schen Bundestages vom 10. Dezember 2007 zum Antrag Wer weder ganz hier sein noch ganz dort bleiben will, ist der Linksfraktion „Einbürgerungen erleichtern – Aus- nirgendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert, grenzungen ausschließen“ mit der Drucksache 16/1770 ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status. Die und auch unseren diesbezüglichen Forderungen. Es ist zu Staatsangehörigkeit sollte für Migranten genauso ein- begrüßen, dass nunmehr eine Rücknahme der deutschen deutig entschieden sein wie für geborene Mitbürger. Staatsangehörigkeit aufgrund falscher Angaben der Be- troffenen im Einbürgerungsverfahren nach mehr als fünf Die Linken halten die deutsche Staatsangehörigkeit Jahren nach der Einbürgerung grundsätzlich unzulässig nicht für wertvoll. Sie ignorieren auch bewusst, dass er- ist. Auch, dass von der Rücknahme aus Gründen der Ver- folgreiche Zuwanderungsländer wie die USA sehr wohl hältnismäßigkeit oder des Einzelfalles nach Ermessen von ihren Neubürgern ein klares und ausschließliches Be- abgesehen werden kann, begrüßen wir. Berücksichtigt kenntnis zu ihrem neuen Staat fordern. Die USA verlan- werden müssen aber noch die Folgen einer Rücknahme gen beispielsweise in ihrem Einbürgerungseid einen für mitbetroffene Familienangehörige – insbesondere unmißverständlichen und nachdrücklichen Loyalitäts- minderjährige Kinder –, denen kein Täuschungsvorwurf schwur der Neubürger und zugleich eine Absage an bis- gemacht werden kann, aber auch eine drohende Staaten- herige staatsbürgerschaftliche Loyalitäten. Nur so kann losigkeit der Betroffenen. nach US-Auffassung sowohl dem Neubürger als auch den Alteingesessenen das Gefühl vermittelt werden, jetzt zur Wir kritisieren also weniger, was in Ihrem Gesetzesent- (B) (D) neuen Staatsgesellschaft wirklich dazuzugehören. Eine wurf drin steht, sondern vielmehr, was nicht in dem Ge- Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevöl- setzesentwurf enthalten ist. Denn es besteht gerade im kerung nicht akzeptiert wird, stärkt keinesfalls die Akzep- Einbürgerungsrecht ein dringender Handlungsbedarf, tanz von Migranten. Das allerdings wäre kontraproduktiv wie nicht zuletzt die dramatisch sinkende Entwicklung und hilft auf dem Weg zu wirklicher Integration von Mi- der Einbürgerungszahlen und die Diskussionen in der granten in unsere Gesellschaft nicht weiter. Anhörung des Innenausschusses zum Staatsangehörig- keitsrecht erbracht haben. Die Vorschläge der Linken würden den bisherigen Grundfehler deutscher Zuwanderungs- und Integrations- Denn zunehmend weniger Menschen lassen sich ein- politik verschärfen. Dieser Fehler ist die Ignoranz, so zu bürgern, meine Damen und Herren. So wurde im Jahr tun, als gäbe es keine Probleme bei der Integration und 2000 mit 186 688 Einbürgerungen zwar ein Höchststand als gäbe es keine Anforderungen und keine Werte in der erreicht; doch lässt sich dieser im Wesentlichen mit Son- deutschen Gesellschaft, die zu bewältigen, zu beherzigen derfaktoren der damaligen Gesetzesänderung erklären. oder abzuverlangen sind. Seitdem sank die Zahl der jährlichen Einbürgerungen kontinuierlich auf bis zu 127 153 im Jahr 2004 und nur Deutschland hat sich in seiner Zuwanderungspolitik noch 113 030 im Jahr 2007 ab – und damit auf einen Wert bis heute den Luxus erlaubt, das Gegenteil von dem zu noch unterhalb der Zahl der Einbürgerungen vor der tun, was die erfolgreichen Zuwanderungsländer prak- Staatsangehörigkeitsreform. 1999 gab es immerhin noch tizieren, nämlich Steuerung der Migration durch Berück- 143 267 Einbürgerungen. Der Rückgang von 2000 bis sichtigung der Qualifikation von Zuwanderern, Be- 2007 beträgt zwischen 32 und 40 Prozent, je nachdem, ob rücksichtigung des eigenständigen Erwerb des man Sonderfaktoren einbezieht oder nicht. Lebensunterhalts; Überprüfung der sprachlichen Kom- petenz und Verpflichtung auf den neuen Staat und seine Für die Linke ist diese Entwicklung der Einbürge- Verfassung. rungszahlen nicht akzeptabel. Es ist nicht hinnehmbar, dass eine große Bevölkerungsgruppe auf Dauer von glei- Die Linken haben die Diskussion der letzten fünf Jahre chen Rechten ausgeschlossen bleibt. Das demokratiepo- zum Thema „Toleranz durch Wegschauen“ verschlafen litische Problem, dass viele Menschen in der Bundesre- und wollen blind den Weg forcieren, der überhaupt erst in publik nicht die deutsche Staatbürgerschaft haben und Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und an- damit trotz ihrer Pflichten von Wahlen und gleichen Rech- derswo die Integrationsprobleme verursacht hat. Die ten ausgeschlossen sind, wollen wir als die Linke nicht FDP lehnt solche Anträge ab. hinnehmen. Statt wie die Bundesregierung die Einbürge-

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Sevim DaðdelenDağdelen (A) rungshürden immer weiter zu erhöhen, wollen wir die Schon gar nicht sollten Kinder ausländischer Eltern (C) Einbürgerung grundlegend erleichtern. zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit oder der ih- rer Eltern entscheiden müssen. Dieser Entscheidungs- Deshalb fordern wir in unserem Antrag nicht nur zwang wird der Lebenssituation der mit mehreren Staats- klare Grenzen für die Rücknahme der Staatsangehörig- angehörigkeiten aufgewachsenen jungen Erwachsenen keit, sondern auch eine großzügige Regelung für den nicht gerecht. Fall des Verlustes der Staatsangehörigkeit. Denn seit Aufhebung der sogenannten Inlandsklausel in § 25 Die Sachverständigen der Anhörung des Innenaus- Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar schusses zum Staatsangehörigkeitsrecht äußerten deshalb 2000 durch die rot-grüne Bundesregierung führt der einstimmig erhebliche Zweifel an der Praktikabilität, Sinn- (Wieder-)Erwerb einer anderen Staatangehörigkeit zum haftigkeit und sogar an der Verfassungsmäßigkeit der Re- unmittelbaren Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. gelung. Sie gehört deshalb ersatzlos abgeschafft! Die Neuregelung wurde auch als „Lex Turka“ bezeich- Die Bundesregierung hat in einer Pressemitteilung net, weil sie insbesondere den gängigen und von türki- vom 4. Juni 2008 die Zahl der Einbürgerungen als einen schen Behörden geförderten Wiedererwerb der türki- Indikator für „Integrationserfolge“ im Rahmen des ge- schen Staatsbürgerschaft nach einer Einbürgerung planten bundesweiten „Integrationsmonitorings“ be- unterbinden sollte. Einer breiteren Öffentlichkeit und nannt. Wenn dem so ist, dann ist es um die Integration in auch vielen Betroffenen wurde die Problematik erst nach diesem Lande allerdings schlecht bestellt. Presseberichten im Jahr 2005 bekannt. Seitdem haben übrigens die damals verantwortlichen Vertreterinnen und Um diesen Missstand zu beheben, reichen aber eben Vertreter der rot-grünen Bundesregierung keine Gelegen- keine Sonntagsreden aus, wie sie die Bundesbeauftragte heit ausgelassen, sich als betroffen und mitfühlend zu zei- der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und In- gen. tegration Maria Böhmer immer wieder macht. Wenn erst durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit Mi- In der Folge dieser Rechtslage lebt eine unbekannte grantinnen und Migranten die vollen staatsbürgerlichen Zahl von Menschen in der Bundesrepublik, die als Deut- Rechte und Pflichten in diesem Land erhalten – wie Frau sche gelten, die deutsche Staatsbürgerschaftsrechte in Böhmer in ihrer Pressemitteilung vom 9. Juli 2008 – er- Anspruch nehmen und die sich selbst als deutsche Staats- klärt, dann soll sie endlich was tun, damit Menschen nicht angehörige sehen – die aber streng juristisch betrachtet ständig neue Hürden zur Einbürgerung überwinden müs- längst keine mehr sind. Hieraus ergeben sich nicht nur sen. unzumutbare Belastungen für die Betroffenen und ihre Das Werben der Integrationsbeauftragten Böhmer für Familienangehörigen, sondern auch unübersehbare Fol- mehr Einbürgerungen hinterlässt auch einen faden Nach- (B) geprobleme für die Gesamtgesellschaft wie zum Beispiel (D) geschmack. Denn die jüngsten gesetzlichen Verschärfun- die Frage der Gültigkeit von Wahlen. Ob Betroffene in- gen des Staatsangehörigkeitsgesetzes werden ausdrücklich folge des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit so- im „Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen gar ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland für immer verlie- und Ausländer in Deutschland“ befürwortet. Eine Ein- ren, hängt vom Einzelfall und von der konkreten bürgerungskampagne kann – so begrüßenswert diese Rechtsauslegung bzw. -anwendung ab. auch sein mag – die restriktive Rechtslage nicht aufhe- Vor dem Hintergrund dieser drohenden Folgen kann ben. Aber die Rechtslage und Realität wird ja inzwischen von den Betroffenen realistischerweise kaum eine „Selbst- auch verleugnet. In einer Pressemitteilung der Integra- öffenbarung“ erwartet werden. Nicht zuletzt deshalb, tionsbeauftragten Böhmer vom 13. Oktober scheint sie weil ihren Kindern möglicherweise gar die zwangsweise nämlich jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben. Ausreise aus ihrem Geburtsland droht. Deshalb fordern In der Erklärung spricht sie von einer „erfreulichen Ten- wir als Linksfraktion schon aus humanitären Gründen denz zu einer verstärkten Einbürgerung“, die „für eine gelingende Integration in Ausbildung und Arbeitsmarkt eine Amnestieregelung. unabdingbar“ sei. Wie die von mir bereits genannten Ein- Auch hinsichtlich der sogenannten Optionspflicht, bei bürgerungszahlen der letzten Jahre zu einer erfreulichen der Jugendliche zwischen 18 und 23 Jahren gezwungen Tendenz zu mehr Einbürgerung uminterpretiert werden werden, sich zwischen der deutschen und der Staatsange- können, bleibt das Rätsel der Bundesbeauftragten. hörigkeit ihrer Eltern zu entscheiden, sieht die Bundesre- Recht hat sie damit, dass Migrantinnen und Migranten gierung nach wie vor keinen Regelungsbedarf. Für uns ist mit deutscher Staatsangehörigkeit höhere Bildungsab- es auch eine Sache von Gerechtigkeit, dass alle in einem schlüsse erreichen und mehr beruflichen Erfolg als nicht Land geborenen Kinder, die alle gleichsam unschuldig eingebürgerte haben. Das ergibt die heute vorgelegte Stu- sind, die gleichen Grundvoraussetzungen haben sollen, die des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Be- also etwa die Staatsbürgerschaft und die damit verbunde- rufsforschung. Mehr als die Hälfte der in Deutschland le- nen Rechte und Pflichten. benden türkischen Staatsbürger zwischen 26 und 35 Jah- ren hat nach der Studie keinen Berufsabschluss. Bei den Für Kinder bildet natürlich die Gesellschaft, in der sie eingebürgerten Türken seien nur ein Drittel, so die Stu- aufwachsen, den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen und die. daher sollten sie nicht als Menschen behandelt werden, über deren Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft später Ernst zu nehmen war das Gerede von Frau Böhmer noch einmal entschieden werden muss. über das Ziel einer verstärkten Einbürgerung noch nie.

Zu Protokoll gegebene Reden 19576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

Sevim DaðdelenDağdelen (A) Und nach wie vor lehnt sie alle Maßnahmen zur erleich- Außerdem hat die Bundesregierung die Chance ver- (C) terten Einbürgerung ab. säumt, endlich eine Lösung für diejenigen Menschen vor- zuschlagen, die durch die Annahme einer anderen Staats- Eine erfreuliche Tendenz zur verstärkten Einbürge- angehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit verloren rung könnte sie erreichen, würde endlich die Options- haben. Hier sollte nach dem Grundsatz verfahren wer- pflicht abgeschafft und die Mehrstaatlichkeit endlich zu- den, dass der aufenthaltsrechtliche Status vor der Einbür- gelassen. Die Zahl der Einbürgerungen könnte so rapide gerung – also in den allermeisten Fällen ein unbefristetes erhöht werden. Wie auch Frau Böhmer im Working Paper 17 Aufenthaltsrecht – wieder erteilt wird, sodass die Betrof- der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration fenen schnellstmöglich wieder eingebürgert werden kön- und Flüchtlinge nachlesen kann, verdoppeln sich die Ein- nen. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, dass Menschen, bürgerungsabsichten, wenn es die Möglichkeit gäbe, die die schon einmal ein erfolgreiches Einbürgerungsverfah- deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich zur aktuellen ren durchlaufen hatten, jetzt sozusagen bei Adam und Eva Staatsangehörigkeit zu erwerben. anfangen sollen. Es ist integrationspolitischer Nonsens, wenn Menschen, die mit ihrer Einbürgerung gezeigt ha- Die Erfahrungen in den Niederlanden aus den Jahren ben, dass sie in dieser Gesellschaft angekommen sind, der zeitweiligen Zulassung der Mehrfachstaatsangehö- jetzt nicht nur rechtlich wieder als Ausländer behandelt rigkeit von 1992 bis 1997 stützen diese Annahme. In be- werden, sondern auch noch einen schlechteren Aufent- nanntem Zeitraum stieg die Einbürgerungsrate nämlich haltsstatus bekommen als vor der ursprünglichen Einbür- auf bis zu 11,4 Prozent an – in Deutschland beträgt sie gerung. demgegenüber derzeit jämmerliche 1,6 Prozent! Wir werden abwarten müssen, ob und, wenn ja, welche Statt also immer nur von Integration zu schwätzen und Verschärfungsvorschläge des Bundesrates zu diesem Ge- zugleich neue Hürden und Gesetzesverschärfungen mit setzentwurf die Große Koalition übernimmt. Die Länder ausgrenzender Wirkung zu beschließen, muss die Bundes- haben ja in den Ausschüssen das gesamte Arsenal ihrer regierung endlich die notwendigen Voraussetzungen für altbekannten Anträge aufgefahren, zum Beispiel die er- erleichterte und vereinfachte Einbürgerungen schaffen. schwerte Einbürgerung von Flüchtlingen im Widerruf- Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, neue Wege bzw. Rücknahmeverfahren, die Rücknahme des Jus soli, zu gehen – auch wenn es schwer fällt. Integration gelingt die Einfügung einer neuen Strafvorschrift für Täu- nicht durch Ausgrenzung und durch den Aufbau immer schungsversuche im Einbürgerungsverfahren etc. höherer Hürden! Eine demokratisch verfasste Gesellschaft kann auf Dauer nur funktionieren, wenn nicht große Bevölke- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungsteile von einer vollen Partizipation ausgeschlossen (B) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte die Bun- werden. Eine volle politische Teilhabe der Eingewander- (D) desregierung zwei Urteile des Bundesverfassungsge- ten bzw. hier geborenen Inländer mit ausländischem Pass richts zur Rücknahme einer Einbürgerung bei arglistiger ist aber nur über den Erwerb der deutschen Staatsange- Täuschung umsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat hörigkeit möglich. Knapp 1,5 Millionen Migrantinnen geurteilt, dass eine rechtswidrige Einbürgerung unter be- und Migranten haben sich in den letzten 25 Jahren ein- stimmten Voraussetzungen zurückgenommen werden bürgern lassen. Im internationalen Vergleich ist die Ein- kann. Allerdings wurde der Gesetzgeber aufgefordert, bürgerungsquote in Deutschland aber sehr niedrig. Dies hierbei auf die Rechtstellung von Kindern rechtswidrig wollen wir ändern. Wir wollen, dass sich mehr Menschen eingebürgerter Personen besondere Rücksicht zu neh- für die Einbürgerung entscheiden, weil sie sich mit dieser men. Gesellschaft und diesem Staat identifizieren können. Aus fachlicher Sicht bestehen gegen diesen Gesetzent- Der jahrelange Rückgang der Einbürgerungszahlen wurf der Bundesregierung keine grundsätzlichen Beden- zeigt: Noch immer ist es in Deutschland zu schwierig, die ken. Einzelne Punkte sollten jedoch bürgernäher gefasst Staatsbürgerschaft zu erlangen, und zu einfach, sie zu werden. So will zum Beispiel die Bundesregierung nur verlieren. Daher müssen die Einbürgerungsbedingungen Kinder bis zum Alter von fünf Jahren von einer Rück- dringend verbessert werden, um dem Ziel der rechtlichen nahme bewahren. Wir jedoch halten – im Einklang mit Integration gerecht zu werden. Um dies zu ändern, haben dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsange- Bündnis 90/Die Grünen bereits im September 2006 einen hörigkeit vom 6. November 1997, auf das das Bundesver- Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsge- fassungsgerichts-Urteil 2 BvR 96/04 in Randziffer 25 Be- setzes vorgelegt (Drucksache 16/2650). zug nimmt – eine Altersgrenze von 18 Jahre für rechtlich Es bleibt zu hoffen, dass die große Koalition, die sich möglich und angemessen. die Förderung der Integration ja groß auf die Fahne ge- Integrationspolitisch ist dieser Gesetzentwurf aller- schrieben hat, unseren Gesetzesvorschlägen doch noch dings zu kurz gegriffen, denn er regelt wirklich nur die zustimmt. Umsetzung der Rücknahmeurteile des Bundesverfas- sungsgerichtes und keine weiteren, ebenfalls drängenden Vizepräsidentin Dr. h. c Susanne Kastner: Fragen im Bereich des Staatsangehörigkeitrechts. Dies Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ist angesichts der dramatisch gesunkenen Einbürge- den Drucksachen 16/10528, 16/9165 und 16/9654 an die rungszahlen völlig unzureichend. So fehlt zum Beispiel im in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Gesetzentwurf eine Regelung zur Abschaffung des soge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der nannten Optionszwangs. Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19577

Vizepräsidentin Dr. h. c Susanne Kastner (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für (C) Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 16/10596, den von der Bundesregierung eingebrachten zur Veröffentlichung von Informationen über Entwurf eines Agrar- und Fischereifonds-Informationen- die Zahlung von Mitteln aus den Europäi- Gesetzes auf Drucksache 16/10299 anzunehmen. schen Fonds für Landwirtschaft und Fische- rei (Agrar- und Fischereifonds-Informatio- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- nen-Gesetz – AFIG) men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit bei Gegen- – Drucksache 16/10299 – stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- des Hauses im Übrigen angenommen. ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) Dritte Beratung – Drucksache 16/10596 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Berichterstattung: Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Abgeordnete Marlene Mortler ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an- Hans-Michael Goldmann genommen. Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um destages auf Freitag, den 17. Oktober 2008, 8 Uhr, ein. folgende Kolleginnen und Kollegen: Marlene Mortler, Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie allen CDU/CSU, Waltraud Wolff, SPD, Hans-Michael Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen schönen Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Abend. Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.1) Die Sitzung ist geschlossen. (B) (D) 1) Anlage 20 (Schluss: 21.49 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19579

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albach, Peter CDU/CSU 16.10.2008 Seehofer, Horst CDU/CSU 16.10.2008

Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 16.10.2008 Dr. Stadler, Max FDP 16.10.2008

Bodewig, Kurt SPD 16.10.2008** Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/ 16.10.2008 DIE GRÜNEN Dr. Däubler-Gmelin, SPD 16.10.2008 Herta Stöckel, Rolf SPD 16.10.2008

Friedrich (Bayreuth), FDP 16.10.2008 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 16.10.2008* Horst Zeil, Martin FDP 16.10.2008 Gloser, Günter SPD 16.10.2008

* Gruß, Miriam FDP 16.10.2008 für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Gunkel, Wolfgang SPD 16.10.2008 sammlung der NATO Hänsel, Heike DIE LINKE 16.10.2008 Anlage 2 Heller, Uda Carmen CDU/CSU 16.10.2008 (B) (D) Freia Erklärungen nach § 31 GO Hempelmann, Rolf SPD 16.10.2008 zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes- Höfer, Gerd SPD 16.10.2008* regierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff- neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 16.10.2008* Internationalen Sicherheitsunterstützungs- truppe in Afghanistan (International Security Leutheusser- FDP 16.10.2008 Assistance Force, ISAF) unter Führung der Schnarrenberger, NATO auf Grundlage der Resolution 1386 Sabine (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re- solution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Lintner, Eduard CDU/CSU 16.10.2008* Vereinten Nationen

Mast, Katja SPD 16.10.2008 Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE Parr, Detlef FDP 16.10.2008 GRÜNEN): Ich stimme mit Ja, weil sich 40 Staaten ver- pflichtet haben, im Rahmen eines völkerrechtlich abge- Reichel, Maik SPD 16.10.2008 sicherten Mandats dem durch 30 Jahre Krieg zerstörten Land beim Wiederaufbau zu helfen. Diese Aufgabe ist Rohde, Jörg FDP 16.10.2008 noch nicht abgeschlossen. Ich stimme mit Ja, weil ein ziviler Aufbau des Landes Roth (Heringen), SPD 16.10.2008 ohne Schutz durch Polizei und Militär unmöglich ist und Michael die afghanische Regierung die öffentliche Sicherheit noch nicht mit eigenen Kräften gewährleisten kann. Dr. Scheer, Hermann SPD 16.10.2008 Ich stimme mit Ja, denn wir haben eine Verpflichtung Schily, Otto SPD 16.10.2008 insbesondere gegenüber jenen Afghaninnen und Afgha- nen einzulösen, die sich entschieden haben, sich am Auf- Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 16.10.2008 bau des Landes zu beteiligen. Ohne die militärische Andreas Präsenz der internationalen Staatengemeinschaft wären 19580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) diese Menschen großen Gefahren für Leib und Leben verstärkte Anstrengungen bei der Ausbildung der afgha- (C) ausgesetzt. nischen Sicherheitskräfte und eine besser koordinierte Strategie für den zivilen Aufbau. Ich stimme mit ja, weil das Versprechen „Wir lassen euch nicht irn Stich“ auch in Zeiten von Rückschlägen Ich stimme trotz dieser Kritik an der bisherigen Af- ohne jeden Zweifel gelten muss. ghanistan-Strategie mit Ja, weil ein vorzeitiger Rückzug der internationalen Truppen nicht weniger, sondern mehr Ich stimme mit Ja, weil jede Frau, die ihre Burka ab- zivile Opfer zur Folge haben würde. Wie viele Frauen gelegt hat und in den Schulen unterrichtet, jede Frau, die sind unter der Herrschaft der Taliban allein bei der Ge- wieder im Gesundheitswesen arbeitet, jede Frau, die burt ihrer Kinder gestorben, weil es keine Möglichkeit wieder als Richterin oder Krankenschwester den Men- des Kaiserschnitts, keine Antibiotika, ja nicht einmal schen beiseitesteht, bei einer Rückkehr der Taliban von sauberes Wasser gab. Der Terror, der heute wieder gegen diesen als Kollaborateurin behandelt und brutalen Stra- Menschen ausgeübt wird, die sich der Zusammenarbeit fen ausgesetzt würde. mit den Taliban verweigern, zeigt, was auf dem Spiel Ich stimme mit Ja, weil, wie von Mitgliedern des steht. Bundestags berichtet wird, vielen Frauen die nackte Ich stimme mit Ja, weil das Ziel, die Sicherheit Angst in den Augen steht, wenn sie an eine mögliche Afghanistans durch die legitimen staatlichen Strukturen Rückkehr der Taliban an die Macht denken. selbst zu gewährleisten, durch einen vorzeitigen Abzug Ich stimme mit Ja, weil nach meiner Überzeugung die der ISAF-Truppen nicht gefördert, sondern unmöglich schwierige Aufbauarbeit von zivilen Initiativen und die gemacht wird. humanitäre Hilfe für die Bevölkerung ohne den Schutz Ich stimme mit Ja, weil ich der tiefen Überzeugung von ISAF undenkbar ist und weil sich selbst Menschen- bin, dass wir im 21. Jahrhundert nicht mehr in national- rechtsorganisationen wie Human Rights Watch für eine staatlichen Grenzen denken dürfen. Es gibt eine Zustimmung für das Mandat aussprechen. „Responsibility to Protect“, eine Verpflichtung zum Bei- Ich stimme mit Ja, weil der Weg, den dieses geschun- stand für Menschen, die verfolgt, vertrieben und gequält dene Land und seine Menschen vor sich haben, um nach werden, die nicht an den Grenzen des eigenen Landes Jahren der Unterdrückung, nach Schulverboten, Zerstö- endet. Das wird nicht immer und überall möglich sein – rung der Universitäten und brutaler Gewalt gegen An- aber wo es möglich ist, müssen wir uns dieser men- dersdenkende demokratische Institutionen aufzubauen schenrechtlichen Verpflichtung stellen. und die Menschenwürde zu sichern, Zeit und einen lan- gen Atem braucht. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Zunächst ist fest- (B) zustellen, dass ich nur unter großem Vorbehalt der Fort- (D) Ich stimme mit Ja, weil auch Deutschland seinen Teil setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- zu einer Mission beisteuern muss, die mit Gefahren für kräfte in Afghanistan (ISAF) zustimme. die beteiligten Soldaten aller Länder verbunden ist. Die Afghanistan-Mission kann nur als abgestimmte interna- Die Aussage „Keine Entwicklung ohne Sicherheit tionale Anstrengung erfolgreich sein, die eine faire Tei- und keine Sicherheit ohne Entwicklung“ beschreibt die lung der Lasten erfordert. Ein einseitiger Rückzug der derzeitige Situation in Afghanistan nur grundsätzlich, Bundesrepublik würde sowohl die afghanische Bevölke- ich sehe durchaus die Fortschritte, insbesondere im Nor- rung wie den Zusammenhalt der internationalen Ge- den des Landes, hinsichtlich der Entwicklung stabiler meinschaft gefährden. Strukturen in den Bereichen Bildungs-, Gesundheits- und Gleichstellungspolitik. Ebenso sehe ich aber auch, Ich stimme mit Ja, weil die Taliban alles daransetzen, dass bezüglich der eigenen Sicherheitsstrukturen keine die Bevölkerungen der westlichen Demokratien so zu Fortschritte in der Stabilität erreicht wurden, eher Rück- verunsichern, dass ihre Regierungen letztlich keine Sol- schritte zu verzeichnen sind. daten mehr zu schicken bereit sind. Ein Abrücken von relevanten Teilen des Bundestags vom ISAF-Mandat Der Terrorismus und der Partisanenkampf der Taliban könnte von den Taliban als erster Erfolg dieser Verunsi- weiten sich aus. Gleiches gilt für den Abbau der Balance cherungsstrategie benutzt werden und ihnen die Bot- zwischen verschiedenen Volksgruppen und den Paschtu- schaft in die Hände spielen, dass der Abzug von ISAF nen in dem Vielvölkerstaat Afghanistan. Der Drogen- demnächst kommen werde. anbau wird weiter expansiv betrieben und kann durch die Preispolitik der westlichen Welt auf dem Agrarmarkt Ich stimme mit Ja, obwohl ich mir bewusst bin, dass durchaus als „bewaffnete Marktpflege“ bezeichnet wer- in Afghanistan viele politische und militärische Fehler den. Ferner kritisiere ich in diesem Zusammenhang die gemacht worden sind und weiter gemacht werden, die sehr offensichtliche vorrangige geostrategische Ausrich- den Erfolg dieses Einsatzes gefährden. So halte ich die tung Amerikas, die die Gefahr einer Ausdehnung des be- Luftangriffe, die von der amerikanischen Armee im waffneten Kampfes und das Abdriften in einen Regio- Rahmen des OEF-Mandats durchgeführt werden und im- nalkrieg mit der Atommacht Pakistan befürchten lässt. mer wieder Zivilisten das Leben kosten, für verheerend angesichts der Notwendigkeit, die Unterstützung der Dem ist nur mit einer Unterstellung der Anti-Terror- afghanischen Bevölkerung im Kampf gegen den Terro- Operation Enduring Freedom (OEF) unter UN-Mandat rismus zu gewinnen. Stattdessen brauchen wir ein ein- zu begegnen, die die Nachbarstaaten China, Pakistan heitliches Mandat der internationalen Friedenstruppen, und Indien in eine Lösungssuche einbindet. Deshalb ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19581

(A) das ISAF-Mandat mit dem OEF-Mandat verbunden zu nistans gewährleisten und die Regierung Afghanistans (C) betrachten. bei ihrer Aufgabe, für Sicherheit, Recht und Ordnung im ganzen Land zu sorgen, unterstützen. Auch beim Wie- Zur gemeinsamen Lösung des Konfliktes gehört für deraufbau Afghanistans hat ISAF Erfolge vorzuweisen. mich eine stärkere Ausrichtung der „Hilfe zur Selbst- Dies bestätigen selbst namhafte Entwicklungshilfeorga- hilfe“ beim Aufbau eigener afghanischer Sicherheits- nisationen, die vor Ort den zivilen Wiederaufbau voran- strukturen, weg von der hauptsächlich militärischen hin treiben. zu einer stärkeren humanitären Ausrichtung. Insofern ist ein Konzept für ein baldiges Ausstiegsszenario, ver- Dabei ist es aber entscheidend, dass ISAF klar abge- gleichbar mit dem der Briten, Kanadier oder Niederlän- grenzt werden kann von der Operation Enduring Free- der, dringend erforderlich. Dass die politische Diskus- dom (OEF), die die Bekämpfung des internationalen sion darüber nunmehr in Gang gekommen ist, begrüße Terrorismus zum Ziel hat und die ich auch weiterhin aus ich sehr. zahlreichen Gründen – wie in meiner Erklärung nach Nur unter der Bedingung, dass eine solche stringen- § 31 GO Deutscher Bundestag vom 15. November 2007 tere Konzeption über den Aufbau eigener nationaler Si- ausführlich dargelegt – ausdrücklich ablehne. Diese Ab- cherheitsstrukturen in Afghanistan, mit dem Ziel des grenzung ist aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ge- baldigen Abzugs ausländischer Streitkräfte, vorangetrie- geben. ben wird, stimme ich der Fortsetzung des Einsatzes letzt- Die Entsendung von RECCE-Tornados habe ich be- malig zu. reits vor der ersten Abstimmung darüber im Deutschen Bundestag für falsch und gefährlich gehalten und dem Klaus Uwe Benneter (SPD): Ich habe heute noch- Antrag der Bundesregierung dementsprechend bereits mals mit großen Bedenken dem ISAF-Antrag der Bun- im März 2007 meine Stimme verweigert. Meine damals desregierung zugestimmt, weil ich davon überzeugt bin, geäußerten Befürchtungen, die ich ausführlich in meiner dass ein abrupter Abzug der Bundeswehr aus Afghanis- Erklärung nach § 31 GO Deutscher Bundestag vom tan wegen unserer Zusagen an die afghanische Bevölke- 9. März 2007 dargelegt habe, haben sich meines Erach- rung und ihre Regierung und gegenüber den Menschen tens leider alle bestätigt. in Afghanistan nicht zu verantworten ist. So hat der Einsatz der Tornados dazu geführt, dass die Bevor ich allerdings einer weiteren Verlängerung des Einsatzbedingungen – insbesondere hinsichtlich der Zu- ISAF-Mandats in Afghanistan künftig zustimmen sammenarbeit zwischen ISAF und OEF – immer weni- werde, erwarte ich, dass die Bundesregierung sich dafür ger zu trennen sind und die Trennung der beiden einsetzt, ISAF einer UN-Führung zu unterstellen, alle Einsätze auch der Bevölkerung immer weniger zu ver- (B) militärischen Operationen im Rahmen des ISAF-Man- mitteln ist. (D) dats strikt an völkerrechtlichen Normen auszurichten und dem Schutz der Zivilbevölkerung absoluten Vorrang Zusätzlich sehe ich auch meine Zweifel an der Pro- einzuräumen. Ich erwarte zudem, das Volumen der Not- blematik des Nutzens der Tornados im Sinne ihrer Auf- und Entwicklungshilfe für Afghanistan deutlich und im gabenbestimmung bei weitem nicht ausgeräumt, denn Verhältnis zu den Militärausgaben zu erhöhen und insbe- auch die präzisere Aufklärung durch Tornados kann das sondere die Anstrengungen zum Aufbau der afghani- hohe Risiko ziviler Opfer offensichtlich nicht entschei- schen Armee, afghanischen Polizei und insbesondere dend reduzieren. Der Einsatz deutscher Tornados ist für auch der afghanischen Justiz massiv auszuweiten. Letzt- mich damit kein Beitrag zur Stabilisierung der Lage in lich erwarte ich von der Bundesregierung bis zu einer Afghanistan. Die Tornado-Entsendung hat Afghanistan nächsten Verlängerung eines ISAF-Mandats für Afgha- insgesamt nicht sicherer gemacht, sondern eher weiter nistan die Entwicklung einer realistischen Exit-Strategie destabilisiert. für diese militärische Intervention, wobei ich davon aus- Durch die unklare Trennung von ISAF und OEF ist gehe, dass unsere militärische Hilfe und militärische Un- nicht nur die Arbeit von ISAF gefährdet, sondern insbe- terstützung beim zivilen Wiederaufbau Afghanistans al- sondere auch der zivile Wiederaufbau, der der entschei- lerspätestens im Jahre 2015 zu beenden ist bzw. beendet dende Schlüssel für Frieden in Afghanistan ist. ist. Hier teile ich ausdrücklich die Meinung vom Verband Dr. Axel Berg (SPD): Die Entscheidung, die Entsen- Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisa- dung von RECCE-Tornados in die Mandatsverlängerung tionen e. V. (VENRO), dass die internationale Hilfe und der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe Unterstützung bei der Friedenssicherung nur gelingen (ISAF) zu integrieren, bringt mich nicht nur in ein Di- kann, wenn parallel zum Staatsaufbau („state building“) lemma, wie ich es bereits in meiner Erklärung nach § 31 auch der zivilgesellschaftiiche Aufbau vorangetrieben GO Deutscher Bundestag vom 12. Oktober 2008 ge- wird. schildert habe, sondern macht es mir leider auch unmög- Aus diesen Gründen unterstütze ich ausdrücklich die lich, dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung Forderung, dass eine Abkehr vom Primat des Militäri- heute zuzustimmen. schen hin zu einer weiteren Stärkung der Zivilgesell- Den Einsatz von ISAF halte ich zum jetzigen Zeit- schaft und einer konsequenten Fortsetzung der sinnvol- punkt zwar nach wie vor für wichtig und richtig. Die len Wiederaufbauhilfe sich auch in der Bereitstellung ISAF soll eine friedliche, politische Entwicklung Afgha- von Finanzmitteln widerspiegeln muss. Dies ist aber 19582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) meines Erachtens nach bisher nicht ausreichend gesche- 1 000 Soldaten zu setzen, sondern gleichzeitig auf eine (C) hen. Ausstiegsstrategie. Die afghanische Regierung kann und muss mehr Eigenverantwortung übernehmen. Sie und Deshalb sind für mich persönlich die Konsequenzen: alle Verbündeten sind jetzt aufgefordert, zu einer politi- Deutschland sollte unverzüglich aus OEF aussteigen und schen Antwort zu kommen. sich ernsthaft und massiv auf internationaler Ebene dafür einsetzen, OEF endlich zu beenden. Der Tornado-Ein- satz sollte unverzüglich beendet werden. Die finanziel- Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len Mittel für den zivilen Wiederaufbau müssen signifi- Den Antrag der deutschen Bundesregierung auf Fortset- kant erhöht werden. zung der Beteiligung der Bundeswehr an der internatio- nalen Sicherheitsunterstützungstruppe lehne ich ab. Nur, wenn diese Forderungen umgesetzt werden, Es ist wieder ein Jahr vergangen, sicherlich nicht ge- kann ISAF ihr Mandat wirklich effektiv ausfüllen. So- nug, um ein seit Jahrzehnten gequältes Land wie Afgha- lange dies aber nicht geschieht, kann ich dem vorliegen- nistan dauerhaft zu stabilisieren, aber doch ausreichend, den Antrag nicht zustimmen, da er in dieser Form mei- um zu überprüfen, ob wir den im letzten Herbst be- nes Erachtens nicht für mehr Sicherheit in Afghanistan schworenen Zielen durch den militärischen Einsatz we- sorgen kann. nigstens ein Stück näher gekommen sind und ob die Er- Ich sehe die Arbeit der ISAF durch den vorliegenden folge den Preis rechtfertigen; immerhin haben seitdem Antrag eher gefährdet, da er durch den Einsatz der Tor- auch deutsche Soldaten dort ihr Leben gelassen, von den nados die unzureichende Abgrenzung von ISAF und finanziellen Belastungen gar nicht zu sprechen. Die Bi- OEF noch verstärkt und somit den zivilen Wiederaufbau lanz ist ernüchternd: Die Situation der afghanischen Be- – den ISAF nicht nur durch den Schutz der Bevölkerung, völkerung hat sich kaum verändert. Der als vergleichs- sondern auch der in Afghanistan tätigen Organisationen weise friedlich geltende Norden wird immer öfter Ziel unterstützen soll – ernsthaft gefährdet. von Terroranschlägen. Nach wie vor steht die schwache Regierung unter dem Einfluss von skrupellosen War- lords und Kriegsgewinnlern, und die USA versuchen im- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ich mer weniger zu verschleiern, dass es ihnen nicht um den stimme dem Antrag nicht zu, da ich ihn verfassungs- Wiederaufbau des Landes geht, dafür aber um die rechtlich für fragwürdig, ethisch für nicht gerechtfertigt Durchsetzung ihrer ureigensten Interessen. und politisch für falsch halte. Diese Auffassung habe ich bereits in den vergangenen sieben Jahren vertreten und Selbst dort, wo Verbesserungen spürbar sind, ist es fühle mich durch die zunehmende Radikalisierung in unbewiesen, ob sie wegen oder trotz der ISAF-Präsenz (B) diesem Land darin bestärkt. Es fehlt nicht an militäri- stattfinden und ob diese Verbesserungen nicht durch an- (D) schen Begründungen für den Auslandseinsatz unserer dere, nichtmilitärische Maßnahmen schneller vorange- Soldaten in Afghanistan, sondern an politischen Per- trieben würden. Fest steht, die Menschen in Afghanistan spektiven. Wenn jetzt sogar Oberbefehlshaber der Streit- sind kriegsmüde, und die Stimmung dort richtet sich im- kräfte den Erfolg der Verbündeten in diesem Land mer stärker gegen alles Militärische, egal welche Uni- grundsätzlich in Frage stellen, ist endgültig ein Kurs- form die Soldaten tragen. wechsel nötig. Ich bin für einen schrittweisen Abzug. Alle Forderungen nach einem Strategiewechsel sind Als vor sieben Jahren die Regierung Gerhard Schrö- bisher politisch nicht umgesetzt worden. Im Mai dieses der/ im Kampf gegen den Terrorismus Jahres haben sich über 3 000 Stammesvertreter, Intellek- den Bundestag um Zustimmung zum Auslandseinsatz tuelle und Politiker aus allen Teilen Afghanistans zu ei- der Bundeswehr aufforderte, habe ich bereits mit „Nein“ ner nationalen Friedens-Jirga zusammengeschlossen. Sie gestimmt – aus verfassungsrechtlichen, historischen und werden unterstützt von einer Vielzahl von deutschen moralischen Gründen. Jetzt, sieben Jahre später, ist die Friedensinitiativen, unter anderem auch der Aachener Afghanistan-Mission fragwürdiger denn je, obwohl al- Friedenspreis e. V., und haben eine gemeinsame Erklä- lein die Bundesrepublik sich mit über 3 Milliarden Euro rung zu Afghanistan herausgegeben. Meiner Meinung seit 2001 hier engagiert hat. Die Sicherheitslage für un- nach sollte es politisches Ziel sein, diese Bewegung auf- sere Soldaten hat sich dramatisch verschlechtert. Afgha- zunehmen, zu stärken und in die weiteren Verhandlun- nistan ist weiter eines der größten Opium-Anbaugebiete gen und Friedensbemühungen einzubeziehen. Das ist der Welt geblieben. Es ist nicht gelungen, die Taliban meine Vorstellung einer verantwortungsvollen Wieder- wirklich zu schwächen. Im Gegenteil, sie weichen in das aufbaupolitik, in deren Fokus eine dauerhafte Stabilisie- pakistanische Grenzgebiet aus und neue, unübersehbare rung Afghanistans steht. Risiken entstehen. Es hat schon viel zu viele Opfer gege- ben – aus unserem Land wie aus denen der Verbündeten. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich lehne den Antrag der Bundesregierung auf Fortset- Besonders im Süden des Landes, wo die Amerikaner zung der Beteiligung der Bundeswehr an der internatio- gegen die Taliban kämpfen, werden die Soldaten nicht nalen Sicherheitsunterstützungstruppe ab. als Befreier sondern als Besatzer empfunden. Erste Län- der wie die Niederlande und Kanada haben ihren Abzug Der Einsatz in Afghanistan wurde vor sieben Jahren bereits beschlossen. Weitere Verbündete erwägen den begonnen, um die Verantwortlichen für die Anschläge Ausstieg. Auch die Bundesregierung ist gut beraten, vom 11. September 2001 der Gerechtigkeit zuzuführen. nicht nur auf die Erhöhung des Kontingents um Seit Jahren zielt die militärische Gewalt der ausländi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19583

(A) schen Truppen genau auf eine Vernichtung des Wider- Ich halte fest: Die bisherige Strategie ist gescheitert, (C) standes im Land. Die Ergebnisse dieser Strategie sind sie schadet und verschärft den Krieg. Ein Wechsel der verheerend. Strategie – weg vom Militärischen, hin zum Zivilen – ist nicht in Sicht. Die Sicherheitslage in Afghanistan wird von Jahr zu Jahr schlechter, obwohl seit Beginn des Krieges die Zahl Deshalb lehne ich den Antrag der Bundesregierung der eingesetzten NATO-Soldaten auf circa 65 000 deut- ab. lich angehoben wurde. Die rücksichtslose Kriegsführung vor allem der US-Truppen schürt Racheakte und An- schläge und ist damit nicht nur unverantwortlich, son- Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Mehrfach habe ich in dern auch kontraproduktiv. Die Zahl der Opfer bei An- der Vergangenheit meine Zustimmung zum Afghanis- schlägen und beim Anti-Terrorkrieg steigt dramatisch. taneinsatz der Bundeswehr mit der Forderung nach ei- Im Jahr 2008 sind bisher über 3 000 Menschen getötet nem Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Stabilisie- worden, davon mehr als 1 000 Zivilisten, viele Frauen rung und zum Wiederaufbau des Landes verbunden. Es und Kinder. Tausende wurden verwundet und verstüm- ist ein großes Ärgernis, dass dieses Konzept bis heute melt. ACBAR, eine Dachorganisation von 100 Hilfs- nicht vorliegt. Ebenso wenig können wir nicht einmal organisationen, gibt an, dass der Sommer 2008 der bis- ansatzweise ein mögliches Ende des Militäreinsatzes de- her verlustreichste seit 2001 war. Die Zahlen der Opfer finieren. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass sind dabei um circa 40 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte ein tragfähiges Konzept auch den Abzug der Angehöri- der zivilen Opfer fällt der US-Luftkriegsführung zum gen der Bundeswehr regelt. Deshalb setze ich mich für Opfer. Die Zahl zerstörter Gebäude und Versorgungsein- ein abgestimmtes Gesamtkonzept der ISAF-Staaten ein. richtungen übersteigt häufig die der wieder aufgebauten. Das ist angesichts der sich ständig verändernden Lage in Afghanistan dringend erforderlich. Ein Ende dieser Eskalation des Krieges ist nicht in Sicht; ganz im Gegenteil. Gemeinsam mit der Kriegs- Ich fordere deshalb an dieser Stelle erneut ein solches führung führt sie selbst dazu, dass die, die bekämpft wer- Konzept ein und kündige hiermit an, einer weiteren den sollen, immer stärker werden. Die zunehmende Ge- Mandatsverlängerung letztmalig zustimmen zu können. walt ist eine entscheidende Ursache dafür, dass der Hass Meine Zustimmung zum heutigen Antrag fällt mir gegen die ausländischen Truppen wächst und sich immer heute besonders schwer, und sie geschieht ausschließlich mehr am Krieg gegen diese beteiligen. Politische und in der Überzeugung, unsere Soldaten im Auslandsein- humanitäre Ziele werden dadurch immer schwerer er- satz nicht im Stich lassen zu können. Ich weiß darum, reichbar. Der britische Botschafter Cowper-Coles hat lei- wie wichtig es für die Soldaten ist, unsere Unterstützung (B) der recht, wenn er sagt, die ausländischen Truppen in in der Heimat zu haben. (D) Afghanistan seien „Teil des Problems, nicht der Lö- sung.“ Manfred Kolbe (CDU/CSU): Der heute zur Be- Die Regierung hat im letzten Jahr versprochen, dass schlussfassung im Deutschen Bundestag anstehenden sich die Sicherheitsstrategie in Afghanistan ändern wird. Beschlussempfehlung und dem Bericht des Auswärtigen Dieses Versprechen eines Strategiewechsels ist ohne Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Umsetzung geblieben, im Gegenteil, man will das deut- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher sche Truppenkontingent nur erhöhen. Trotz anderer Be- Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- hauptungen bleiben die zivilen Anstrengungen weit hin- heitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) kann ter den militärischen zurück. Während nicht einmal die ich aus den folgenden Gründen nicht zustimmen: zugesagten 50 Polizeiausbilder nach Afghanistan ge- schickt werden, wird die Zahl der Soldatinnen und Sol- Erstens. Ähnlich wie im Irak gelingt es dem Westen daten von 3 500 auf 4 500 erhöht. Die Kosten alleine offenbar nicht, ein demokratisches Staatswesen aufzu- dieses Mandates für 14 Monate betragen 688 Millionen bauen und die Menschen innerlich dafür zu gewinnen. Euro, während die Ausgaben für den zivilen Aufbau ge- Vielmehr hat sich die Sicherheitslage offenbar weiter rade einmal etwa ein Viertel davon ausmachen. verschlechtert, und zwar auch in Gebieten, die bisher als relativ sicher galten. Die westliche Aufbauhilfe soll an Es ist aus unserer Sicht unklug und unverantwortlich, großen Teilen der Bevölkerung vorbeigehen und Armut, einfach so weiterzumachen. Die Gewaltspirale kann Korruption und Hoffnungslosigkeit zunehmen. durch immer mehr Soldatinnen und Soldaten und militä- rische Mittel nicht durchbrochen werden. Gerade asym- Zweitens. Die zunehmende Militarisierung führt zu metrische Kriege sind militärisch nicht zu gewinnen, einer wachsenden Anzahl von unschuldigen Opfern un- und eine Alternative zur Eskalation der Gewalt ist längst ter der Zivilbevölkerung, hauptsächlich durch Luft- überfällig. Die Grünen sind sich der Verantwortung der angriffe. Mittlerweile dürfte bei solchen sogenannten Bundesrepublik Deutschland für die Menschen in Af- Kollateralschäden eine vielfache Anzahl an unschuldi- ghanistan bewusst. Die afghanische Bevölkerung hilft gen(!) Menschen getötet worden sein wie bei den seit Jahren mit, dort einen funktionierenden Staat aufzu- schrecklichen Terrorangriffen vom 11. September 2001 bauen, und wäre durch einen Rückfall des Landes an die auf New York, die Ausgangspunkt unseres Engagements Taliban massiv gefährdet. Gerade im Bewusstsein dieser waren. Auch auf mehrfache Nachfragen war der Bun- Verantwortung treten wir entschieden für einen Politik- desverteidigungsminister nicht bereit, mir Angaben zu wechsel ein. zivilen Opfern in Afghanistan zu machen. Mit jedem un- 19584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) schuldig getöteten Zivilisten bekämpfen wir nicht den zureichend vorangetrieben werden und immer noch (C) Terror, sondern schaffen diesem neuen Zulauf. keine politische, wirtschaftliche und finanzielle Bünde- lung aller Kräfte vollzogen wird, damit tatsächlich die Drittens. Ein realistisches Konzept des Westens für afghanische Seite so früh wie möglich zur Übernahme Afghanistan vermag ich derzeit nicht zu erkennen. Vor politischer Eigenverantwortung befähigt wird. Zum an- diesem Hintergrund kann ich es nicht verantworten, deren ist zu beklagen, dass die militärischen Operationen deutsche Soldaten in einen lebensgefährlichen Einsatz unter OEF (Operation Enduring Freedom) fortgeführt zu schicken. Wir brauchen vielmehr eine Grundsatz- werden. Damit wird letztlich der von den Vereinten debatte darüber, wie die Bundesrepublik Deutschland Nationen legitimierte Auftrag von ISAF zur Sicherung und der Westen insgesamt den Terror bekämpfen und des Friedens konterkariert. Weiterhin findet der von mir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan auf- abgelehnte Tornadoeinsatz seine Fortsetzung. bauen können. Als Entwicklungspolitikerin setze ich mich dafür ein, Jürgen Koppelin (FDP): Wie bisher werde ich ei- Afghanistan und seine Menschen auf den Weg in Eigen- nem Mandat für den Einsatz der Bundeswehr in Afgha- verantwortung und Frieden zu begleiten. Dazu bedarf es nistan nicht zustimmen. einer langjährigen, intensiven und lernfähigen Zusam- menarbeit. Nur langsam und zögerlich hat sich die Bun- Ich halte es für völlig unrealistisch, dass die Bundes- desregierung dazu drängen lassen, in Deutschland mit wehr und ihre Partner Afghanistan von den Taliban be- mehr Informationen über die entwicklungspolitischen freien können. Ständig wird auch über neue militärische Maßnahmen und die Situation in Afghanistan für Unter- Strategien für den Einsatz gesprochen, doch der Konflikt stützung zu werben. Zu langsam und spärlich bleibt die ist mit militärischen Mitteln nicht zu lösen. Leider lässt Erhöhung der Mittel für den zivilen Aufbau. Zu gering auch die Zusammenarbeit im zivilen Aufbau keine bleibt die Einsicht, Fehler gemacht zu haben. Es fehlt ein Koordination durch die Bundesregierung erkennen. wirklicher Strategiewechsel, der auch der deutschen Be- Doch auch im militärischen Bereich sind erhebliche völkerung Mut macht und Verständnis dafür weckt, die Mängel deutlich geworden. schwierige Situation in Afghanistan positiv zu begleiten. Der Einsatz der KSK seit mehreren Jahren in Afgha- Die Kritik am eingeschlagenen Weg verhallt bislang. nistan war völlig überflüssig und hätte längst durch das Auch deswegen steht mein Entschluss, vor diesem Hin- Bundesministerium der Verteidigung gestoppt werden tergrund mit Nein zu stimmen. müssen. Es wird dringend Zeit, dass die Bundesregie- Doch es gilt eines klarzustellen. Da es Gruppen der rung klare Perspektiven für die Beendigung des Einsat- Taliban in der Region (Afghanistan/Pakistan) gibt, die (B) zes in absehbarer Zeit aufzeigt. Die Menschen in Afgha- nicht davor zurückschrecken, mit Gewalt und Terror (D) nistan müssen endlich wieder Klarheit haben, dass sie wieder an die Macht kommen zu wollen, braucht es die nicht in einem besetzten Land leben. nach Kapitel VII VN-Charta mandatierte ISAF-Schutz- truppe. Ich bin ausdrücklich nicht der Meinung, dass Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun- Deutschland sich von dem Ziel des Aufbaus Afghanis- desregierung hat es auch in diesem Jahr versäumt, den tans verabschieden soll. Auch einen sofortigen Abzug von uns Grünen dringend angemahnten militärischen von ISAF halte ich für falsch. Und dies wird auch aus und zivilen Strategiewechsel umzusetzen. Halbherzige Afghanistan heraus nicht gefordert. Ich unterstreiche die Maßnahmen, kein ausreichendes Engagement zur Ver- Notwendigkeit, dass der afghanische Aufbau- und Frie- besserung der Situation und vor allem keine wirkliche densprozess noch immer durch ISAF abzusichern ist. Umsetzung der Prämisse „Zivil vor Militär“ bewegen Unsere grünen Aufrufe für eine Veränderung der Strate- mich, dieses Mal mit Nein zu stimmen. Ein „Weiter so“, gie hin zu einem durch und durch zivilen Ansatz, der die wie es der Antrag der Bundesregierung impliziert, ist die militärischen Fehlleistungen beendet, sind jedoch von falsche Reaktion auf die Realität in Afghanistan. der Bundesregierung nicht gehört worden. Mit meiner Enthaltung vom 12. Oktober 2007 wollte ich signalisie- Die Situation in Afghanistan hat sich seit der letzten ren, dass die zivilen Ziele Priorität erhalten müssen. Das Abstimmung im Deutschen Bundestag kontinuierlich ist jedoch bis heute nicht der Fall. Daher will ich aus der weiter verschlechtert. Die Bevölkerung erlebt trotz eini- Opposition heraus meine Kritik am falschen Weg der ger Verbesserungen ihrer Lebenssituation in Bereichen Bundesregierung mit einem Nein verstärken. wie Gesundheit, Wasser und Energie, dass Anschläge und Übergriffe durch die Taliban und andere militante Gruppen zugenommen haben und die Lage im Land im- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich mer instabiler wird. Die Erfolge des Aufbaus sind damit lehne den Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung gefährdet, ja es sind sogar Rückschläge zu verzeichnen. der Beteiligung der Bundeswehr an dem Einsatz der In- Und diese Rückschläge haben Ursachen: ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha- nistan ab. Zum einen liegen sie darin, dass die internationale Gebergemeinschaft die Fehler der ersten Jahre (zum Bei- Ich stelle fest: In Afghanistan gibt es zwei gegenläu- spiel mangelnde Abstimmung, Vernachlässigung der fige Entwicklungstendenzen. Es ist einerseits unbestreit- Landwirtschaft, falsche Mittelverwendung) in den letz- bar, dass es Aufbauerfolge in Afghanistan gibt. Die Zahl ten Jahren nicht durch massive Gegenmaßnahmen über- der Schülerinnen hat sich vervielfacht, der Zugang zur wunden hat, Polizei- und Justizaufbau weiterhin nur un- Gesundheitsversorgung hat sich verbessert und die Infra- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19585

(A) struktur wird nach und nach aufgebaut. Zur Ermögli- Strategie nur, den Antrag der Bundesregierung abzuleh- (C) chung und Absicherung dieser Fortschritte hat die Bun- nen. deswehr durchaus einen wichtigen Beitrag geleistet, der Mir ist völlig bewusst, dass ich mich mit meinem auch in Zukunft notwendig sein wird. „Nein“ zu diesem Antrag dem Vorwurf aussetze, ich Andererseits ist offenkundig, dass es eine negative, würde die Afghanen „im Stich lassen“. Mit dieser Erklä- destruktive Dynamik gibt, die zurzeit deutlich größer ist rung will ich deshalb auch deutlich klarstellen, dass ich als die positive. Fragile Staatlichkeit, anhaltende Armut, im Grundsatz ein weiteres Engagement der Bundeswehr Korruption und Drogenkriminalität im Süden Afghanis- im Rahmen der internationalen Gemeinschaft in Afgha- tans bilden den Hintergrund für disparate Strukturen der nistan für unverzichtbar halte und keinesfalls einen so- kriminellen Gewalt und des religiös motivierten Terrors. fortigen Abzug der internationalen Truppen fordere. Die Die militärische Bekämpfung der diversen aufständi- Absicherung des Prozesses zur Bildung von Staatlich- schen Gruppen, die keineswegs alle unter der Sammel- keit, von zivilen Strukturen und von wirtschaftlicher Un- bezeichnung „Terroristen“ zusammengefasst werden abhängigkeit wird noch für längere Zeit von nichtafgha- können, hat im letzten Jahr zunehmend zivile Opfer ge- nischen Militär- und Polizeikräften abhängen. Doch fordert. Insbesondere im Süden und Osten des Landes ohne eine klare Transformation dieser Absicherung hin nährt der sogenannte Antiterrorkampf der US-Streit- zu einem vorwiegend zivilen Aufbauprojekt droht eine kräfte die Unzufriedenheit und Wut der Bevölkerung. eskalierende Gewaltdynamik. Der Krieg gegen den Terror diskreditiert und konterka- Daher komme ich anhand des konkret vorliegenden riert in weiten Teilen des Landes die Wiederaufbauhilfen Antrags der Bundesregierung zu meinem Entschluss, der internationalen Gemeinschaft. Der asymmetrische diesen zurückzuweisen, ohne das Ziel einer Aufbau- Krieg gegen amorphe, schwer fassbare Mördergruppen anstrengung für Afghanistan und einer Friedenskonsoli- ist mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen und treibt dierung aus den Augen zu verlieren. unter der Inkaufnahme hoher Zahlen ziviler Opfer den diversen gewalttätigen Gruppen neue Mitglieder zu. Ein Wechsel der militärlastigen Strategie ist vor diesem Hin- Katharina Landgraf (CDU/CSU): Ich habe bereits tergrund überfällig und meine Fraktion, Bündnis 90/Die in der Vergangenheit meine Zustimmung zum Afghanis- Grünen, hat diesen im vergangenen Jahr immer wieder tan-Einsatz der Bundeswehr mit der Forderung nach ei- gefordert. Alle Anträge, die von meiner Fraktion mit der nem Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Stabilisie- Forderung nach einem Kurswechsel eingebracht wur- rung und zum Wiederaufbau des Landes verbunden. Es den, sind von den Koalitionsfraktionen SPD und CDU/ ist ein großes Ärgernis, dass dieses Konzept bis heute CSU abgelehnt worden, obwohl sie in den Reihen vieler nicht vorliegt. Ebenso wenig können wir nicht einmal (B) Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen ansatzweise ein mögliches Ende des Militäreinsatzes de- (D) durchaus zustimmend kommentiert wurden und obwohl finieren. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass sie dem Vernehmen nach auch von Seiten der Bundes- ein tragfähiges Konzept auch den Abzug der Angehöri- wehr begrüßt worden waren. gen der Bundeswehr regelt. Deshalb setze ich mich für ein abgestimmtes Gesamtkonzept der ISAF-Staaten ein. Angesichts dessen kann ich nicht hinnehmen, dass die Das ist angesichts der sich ständig verändernden Lage in Bundesregierung in ihrem Antrag an den Deutschen Afghanistan dringend erforderlich. Bundestag keinerlei kritische Würdigung der ambivalen- ten Lage in Afghanistan vornimmt. Die Bundesregie- Meine Zustimmung zum Antrag fällt mir heute be- rung unterlässt jede Kritik am völlig unverhältnismäßig sonders schwer. Sie geschieht ausschließlich in der geführten Krieg – ja sie ist nicht einmal zu einer diplo- Überzeugung, unsere Soldaten im Auslandseinsatz nicht matisch verklausulierten Problematisierung der US- im Stich lassen zu können. Ich weiß, wie wichtig es für Kriegsführung in der Lage. Die Bundesregierung deutet die Soldaten ist, Unterstützung in der Heimat zu haben. nicht einmal im Ansatz die Notwendigkeit eines Kurs- wechsels an und beschönigt selbstzufrieden die Situation Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im Land, obwohl nach Auffassung aller Afghanistanex- Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu ent- perten eine Verschlechterung der Sicherheitslage droht. schlossen, dem Antrag der Bundesregierung zur Beteili- gung von deutschen Soldatinnen und Soldaten an der Natürlich kann der negative Trend in Afghanistan ISAF-Schutztruppe in Afghanistan nochmals zuzustim- nicht allein von deutscher Seite gestoppt und umgekehrt men. Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, werden; hierzu bedarf es ganz besonderer Anstrengun- weil ich viel Kritik an der Afghanistan-Politik der Bun- gen auf afghanischer, auf internationaler und auf deut- desregierung und anderer NATO-Partner habe. scher Seite. Zur Mandatsverlängerung des deutschen ISAF-Einsatzes hätte die Bundesregierung die große Dennoch musste ich mich auch als Oppositionspoliti- Chance – wenn nicht die Pflicht – gehabt, ein Zeichen kerin in dieser konkreten Bundestagsabstimmung der zur Trendumkehr zu setzen. Dies ist nicht geschehen. Frage stellen, ob die Situation in Afghanistan mit diesem Lediglich kleine Verbesserungen sind bei der Aufsto- deutschen Militärbeitrag oder mit einem Abzug der Bun- ckung der Mittel zum zivilen Aufbau zu verzeichnen. Ei- deswehr besser würde. Weder die Umsetzung des ge- nem Antrag, der den politischen Willen zur Trend- samten ISAF-Mandates durch die NATO, die Operation umkehr durch einen Kurswechsel hätte erkennen lassen, Enduring Freedom (OEF) noch das Afghanistan-Kon- hätte ich zugestimmt. So aber bleibt angesichts des tau- zept der Bundesregierung standen heute zur Abstim- ben Festhaltens an einer offensichtlich gescheiterten mung. Vielmehr ging es ausschließlich um den deut- 19586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) schen Beitrag zur ISAF, vor allem im Norden des aus der Gesamtverantwortung eines UN-mandatierten (C) Landes. Ich bin der Auffassung, dass dieser fortgesetzt Einsatzes zurückziehen. Das kann ich bei aller Kritik als werden muss, weil er sinnvoll und elementar wichtig für Vertreterin einer multilateralen Außenpolitik nicht ernst- die Menschen in Afghanistan und den zivilen Aufbau ist. haft fordern. Wenn alle ISAF-Soldaten kurzfristig abge- zogen werden würden, würde das Ausmaß des Bürger- Gleichzeitig teile ich aber auch die Analyse, dass sich krieges deutlich eskalieren. Damit würden wir vor allem die Situation in Afghanistan seit der letzten Abstimmung die Leben derjenigen aufs Spiel setzen, die momentan an über den deutschen ISAF-Beitrag nicht verbessert hat. einer demokratischen Ordnung für Afghanistan arbeiten. Vor allem die Sicherheitslage verschlimmert sich in allen Dann würden wir nicht mehr über eine Ausweitung der Teilen des Landes. Angriffe der Aufständischen auf die zivilen Hilfen diskutieren, sondern über den Abzug der Zivilbevölkerung und Soldaten nehmen zu und fordern internationalen NGOs aus Sicherheitsgründen. viele unschuldige Opfer. Aber auch die verstärkten Luft- angriffe vor allem der US-amerikanischen Streitkräfte Insbesondere vor dem Hintergrund der US-Wahlen im kosten viele Zivilisten das Leben. Außerdem verliert die November und der afghanischen Wahlen nächstes Jahr internationale Gemeinschaft durch diese aggressive Poli- besteht noch Hoffnung für eine friedliche Zukunft tik immer mehr die Unterstützung von weiten Teilen der Afghanistans. Deshalb dürfen wir die Afghaninnen und afghanischen Bevölkerung. Afghanen jetzt nicht im Stich lassen. Jenseits der konkreten Abstimmung heute im Bundes- tag ist daher ein Kurswechsel der Bundesregierung Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das – aber mehr noch der anderen NATO-Partner – dringend dem Bundestag vorliegende Mandat zu ISAF als UN- geboten. Statt auf Luftangriffe muss auf Verhandlungen mandatierter international getragener Einsatz regelt zen- gesetzt werden, statt auf eine Ausweitung der militäri- trale Bereiche einer militärischen Absicherung des zivi- schen Bekämpfung der Drogenbauern auf die Schaffung len Aufbaus. Für die Bundeswehr bedeutet das konkret von wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven. Die die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der zivile Hilfe und der Polizeiaufbau müssen dringend aus- Aufrechterhaltung der Sicherheit und die Sicherung der geweitet werden und der Bevölkerung in allen Provinzen an der Stabilisierung und am Wiederaufbau beteiligten zugutekommen. Die Bundesregierung muss sich unter Akteure sowohl der afghanischen Organisationen als anderem dafür einsetzen, dass der OEF-Einsatz beendet auch der internationalen Hilfsorganisationen. wird, gegen den Drogenanbau mit anderen Mitteln vor- Neben der Absicherung des zivilen Aufbaus kommt gegangen wird und intensivere Verhandlungen sowohl ISAF in den nächsten 14 Monaten noch eine weitere mit afghanischen Oppositionellen als auch regionalen Aufgabe zu. Sie soll die Absicherung der afghanischen Nachbarn geführt werden. (B) Präsidenten-, Provinz- und Parlamentswahlen im nächs- (D) Diese dringend notwendigen Strategieveränderungen ten Jahr gewährleisten. Dies und die zusätzlichen Aufga- können jedoch nur das Ergebnis von multilateralen Ver- ben, die die Bundeswehr bei der Ausbildung der afgha- handlungen nicht zuletzt auch mit den Afghaninnen und nischen Sicherheitskräfte leisten soll, rechtfertigt die Afghanen selber sein und lassen sich nicht unilateral Aufstockung des deutschen Kontingents. Der militäri- durch Bundestagsbeschluss bestimmen. Auf internatio- sche Beitrag, der in Afghanistan geleistet wird, kann je- naler Ebene muss die Bundesregierung Kritik – vor al- doch immer nur die Absicherung des humanitären Wie- lem an dem kontraproduktiven militärischen Vorgehen deraufbaus bedeuten. Es bleibt die Forderung nach der NATO-Partner – deutlicher einbringen. einem Strategiewechsel, nach einer zivilen Offensive für Afghanistan. Um ein Signal zu setzen, dass ein Kurswechsel drin- gend notwendig ist, hätte ich mich bei der heutigen Ab- Der deutsche Beitrag für die zivile Hilfe wurde auf stimmung auch enthalten können, wie viele andere grüne 170 Millionen Euro aufgestockt. Das ist zwar ein Schritt MdBs. Dieses habe ich auch ernsthaft erwogen und mir in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Deutsch- die Entscheidung für eine Zustimmung nicht leicht ge- land und seine internationalen Partner müssen sowohl macht. Schlussendlich kann ich es aber vor meinem Ge- den Umfang der Hilfe ausweiten als auch die Koordinie- wissen nicht verantworten, die Entscheidung über den rung ihres zivilen Engagements verbessern, damit die Auslandseinsatz von deutschen Soldaten anhand von Hilfe bei den Menschen in Afghanistan auch wirklich taktischen Überlegungen wie dem Signal der Kritik an ankommt. Besonders in den ländlichen Regionen ist der allgemeinen Afghanistan-Politik zu fällen. Aus- noch viel zu tun. Die Mohnbauern brauchen glaubwür- schlaggebend für mich ist der Inhalt des zur Abstim- dige Alternativangebote zum Drogenanbau, und das mung stehenden Mandates. Diesem muss ich zustim- Thema Korruption muss engagierter angegangen wer- men, denn selbst wenn alle oben aufgeführten den. Änderungen an der Afghanistan-Politik vorgenommen Leider hat sich in weiten Teilen des Landes die Si- werden würden, müsste es einen deutschen ISAF-Bei- cherheitslage im Vergleich zu 2007 verschlechtert. Be- trag in dieser Größenordnung und Ausgestaltung geben, sonders erschütternd ist die gestiegene Zahl ziviler Op- um den zivilen Aufbau militärisch abzusichern. fer, die nicht zuletzt den militärischen Alleingängen der Denn ich stelle mir immer die Frage: Was wäre, wenn Bündnispartner zuzuschreiben ist. Das bedeutet: Die alle so abstimmen würden wie ich? Würde der Deutsche völkerrechtswidrige Operation Enduring Freedom Bundestag einer Verlängerung des ISAF-Mandats nicht (OEF) muss sofort beendet werden. Künftig soll nur zustimmen, müsste Deutschland sich unilateral sofort ISAF in Afghanistan aktiv sein, denn diese Mission ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19587

(A) mit einem klaren UN-Mandat ausgestattet und hat den Es ist gut, dass das Parlament entscheidet, welchen (C) Auftrag, im ganzen Land die zivilen Aufbauprojekte zu Beitrag Deutschland in den weltweiten Krisenregionen schützen und zu unterstützen. leistet und ob deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland geschickt werden. Ich weiß, dass die Mehrheit Trotz aller Probleme: Der Afghanistan-Einsatz der in- für das Mandat auch ohne meine Stimme ausreichen ternationalen Gemeinschaft hat seit 2001 deutliche Ver- würde, möchte aber bei einer Entscheidung solcher besserungen in Afghanistan bewirkt. Heute gibt es in Tragweite so abstimmen, als käme es auf meine Stimme Afghanistan ein Parlament, eine Verfassung, eine Regie- an. Mit meinem Ja zu ISAF möchte ich ausdrücken, dass rung und eine Verwaltung. Bündnis 90/Die Grünen und ich ganz persönlich in Soli- darität und Verantwortung zu Afghanistan stehen und die Das Pro-Kopf-Einkommen im Land hat sich seit 2001 Zivilgesellschaft nicht durch Exit-Signale entmutigen. verdreifacht. Die Quote der schulpflichtigen Kinder, die Ich möchte zeigen, dass wir hinter den Tausenden tatsächlich die Schule besuchen, hat sich verfünffacht; Frauen und Männern stehen, die sei es als zivile Aufbau- sie liegt jetzt bei 50 Prozent, ein Drittel davon sind Mäd- helferinnen und -helfer oder in Uniform unter extremen chen. 85 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Ba- Belastungen gute Arbeit geleistet haben. sisgesundheitsdiensten, und die Kindersterblichkeit ging nach Angaben von UN-Organisationen um 25 Prozent Deshalb kann ich dem ISAF Mandat meine Zustim- zurück, während die Lebenserwartung über den gesam- mung nicht verweigern. ten Zeitraum gestiegen ist. Die Hälfte der Provinzen ist mittlerweile frei von Drogenanbau. Die Städte Kabul, Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herat und Mazar-i-Sharif haben sich sehr positiv entwi- Seit Beginn des deutschen Einsatzes in Afghanistan en- ckelt. gagieren sich Bündnis 90/Die Grünen für den zivilen Aufbau, eine Stabilisierung der Sicherheitslage, die Ein- Auch der Aufbau der afghanischen Armee (ANA) haltung der Menschenrechte und einen nachhaltigen, de- geht besser voran als erwartet. Und auch wenn Presse- mokratischen Institutionenaufbau in Afghanistan. meldungen manchmal einen gegenteiligen Eindruck er- zeugen, ist Afghanistan nicht in einem flächendecken- Der Aufbauprozess kommt voran, jedoch viel zu den Bürgerkrieg versunken. Rund 90 Prozent der langsam. Es wurden Erfolge erzielt: Das Pro-Kopf-Ein- Sicherheitsvorfälle finden in den Süd- und Ostprovinzen kommen stieg in Afghanistan seit 2001 um das dreifa- statt. Als besonders hoch gilt die Bedrohungslage heute che, Frauen in Afghanistan können heute vielerorts am in 90 – und damit in knapp einem Viertel – der 400 Dis- öffentlichen Leben und den Bildungsstrukturen im Land trikte Afghanistans. In weniger bedrohten Gegenden partizipieren, beim Drogenanbau ist erstmals seit Jahren (B) geht der Wiederaufbau unterdessen weiter voran. eine sinkende Tendenz zu beobachten. Doch diese Er- (D) folge sind bei weitem nicht ausreichend. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, ist die Situation der Frauen in Afghanistan. Unter dem Taliban- Unser Ziel ist es, den Stabilisierungs- und Aufbaupro- Regime seit Mitte der 90er-Jahre waren Frauen vom öf- zess so bald als möglich in afghanische Hände zu über- fentlichen Leben gänzlich ausgeschlossen, ihre Men- geben und so die internationale Militärpräsenz überflüs- schenrechtssituation war schrecklich. Mittlerweile haben sig zu machen. Doch davon sind wir in Afghanistan Frauen in Afghanistan wieder die Möglichkeit, am öf- leider noch weit entfernt. Aufbau und Ausbildung der af- fentlichen Leben teilzunehmen; einige von ihnen sitzen ghanischen Armee und der Polizei hinken den Planun- sogar im Parlament. Außerdem haben etwa 35 Prozent gen hinterher. Sie müssten deutlich intensiviert werden. der Mädchen einen Zugang zu Bildung. Trotzdem müs- Die Sicherheitslage im Land ist heute sehr fragil. Die sen die Anstrengungen auch in diesem Bereich noch Zahl der zivilen Opfer steigt weiter an, die Zahl der An- deutlich ausgebaut werden. schläge der Taliban und oppositioneller militärischer Wie die Mehrheit der grünen Partei, ihrer Anhänger- Kräfte war seit 2001 nicht so hoch wie heute. Selbst im schaft und der grünen Bundestagsfraktion bin ich über- bislang vergleichsweise ruhigen Norden Afghanistans ist zeugt, dass der zivile Aufbau und die politische Stabili- die Lage instabiler geworden. sierung Afghanistans derzeit nicht ohne militärischen Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung setzt Schutz möglich sind. vor allem auf ein „Weiter so“ und bietet keine Lösungen für die dringender werdenden Probleme. Die Entwick- Ein sofortiger Rückzug von ISAF würde bedeuten, lung zeigt, dass in Afghanistan schwere Fehler gemacht das afghanische Volk und die zivilen Helferinnen und werden und das Engagment für den zivilen Aufbau wei- Helfer vor Ort im Stich zu lassen und einen Rückfall des terhin nur halbherzig ist. Landes in einen Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen. Die deutsche ISAF-Beteiligung ist gerade auf afghanischer Dabei werden schwerwiegende Defizite offensicht- Seite immer noch besonders hoch angesehen und ge- lich: wünscht; sie ist weiterhin unverzichtbar. Ein zügiger Erstens. Der ausbleibende Strategiewechsel seitens Abzug des drittstärksten ISAF-Kontingents hätte wahr- der Bundesregierung und der internationalen Gemein- scheinlich eine Kettenreaktion zur Folge. Eine Beendi- schaft. gung des militärischen Engagements Deutschlands würde den gesamten Wiederaufbau und die Stabilisie- Wir brauchen deutlich mehr ziviles Engagement in rung Afghanistans infrage stellen. Afghanistan. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, da- 19588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) für spürbar mehr finanzielle Mittel bereitzustellen. An- nicht bewirkt. Mit dem vorgelegten Mandat ist ihr Ein- (C) kündigungen reichen hierbei nicht aus, dem müssen satz weiterhin den Auflagen des ISAF-Mandates unter- Taten folgen. Meine Fraktion hat vor einem Jahr mindes- worfen. Wir werden auch in Zukunft die Einhaltung der tens eine Verdopplung der von der Bundesregierung zur Mandatsrestriktionen kritisch begleiten. Verfügung gestellten Mittel für den zivilen Aufbau ge- fordert. Dies hat die Bundesregierung nicht berücksich- Ich stimme der Verlängerung des ISAF-Mandates der tigt. Bundeswehr zu, obwohl die Bundesregierung wesentli- che Weichenstellungen für einen Strategiewechsel in der Zweitens. Die Fortsetzung der kontraproduktiven und Afghanistanpolitik bislang verweigert hat. Heute geht es mittlerweile völkerrechtswidrigen Operation Enduring darum, den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Freedom. genauso wie den Menschen in Afghanistan zu signalisie- ren, dass die Mitglieder des deutschen Parlaments ihr Das militärisch unverantwortliche und mittlerweile Engagement für Freiheit und Selbstbestimmung weiter auch völkerrechtswidrige Vorgehen insbesondere von unterstützen. An anderer Stelle wird es darum gehen, ein OEF-Truppen hat in der Bevölkerung von Afghanistan stärkeres ziviles Engagement der Bundesrepublik, bei- ein wachsendes Misstrauen gegen die internationalen spielsweise beim Stabilitätspakt und in der Entwick- Truppen erzeugt. Auch ISAF, deren Aufgabe die Absi- lungszusammenarbeit, einzufordern. cherung und Unterstützung des Wiederaufbaus ist, wird für dieses destruktive Vorgehen immer wieder in Mithaf- Meine Zustimmung zur Verlängerung des Mandats tung gezogen. der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten ist eine Ge- Drittens. Die unzureichende Informationspolitik der wissensentscheidung. Sie basiert auf den Eindrücken Bundesregierung. und Gesprächen während meiner Reise nach Afghanis- tan im September dieses Jahres, persönlichen Erfahrun- Wenn es um Afghanistan geht, zeigt sich die Bundes- gen und dem Wunsch, den Menschen in Afghanistan regierung schmallippig. Beispielhaft dafür ist, dass das nicht den Eindruck zu vermitteln, dass sich die deut- Bundeskabinett den ISAF-Mandatstext erst wenige schen Partner aus der Unterstützung der Stabilisierung Stunden vor der Einbringung in den Bundestag verab- und des Wiederaufbaus schrittweise verabschieden. schiedete und veröffentlichte. Dieses Vorgehen knüpft nahtlos an Kommunikationsdefizite der letzten Jahre an. Maria Michalk (CDU/CSU): Der Einsatz der Interna- Diese Defizite sind unverantwortlich. Trotzdem gilt tionalen Gemeinschaft für Afghanistan, und damit der es heute zu bewerten, was als Abstimmungsgrundlage Einsatz der Bundeswehr beruht unverändert auf dem Ziel, Afghanistan in einem sehr schwierigen Umfeld zu (B) vorgelegt wurde. Dabei handelt es sich um das Mandat (D) für die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der stabilisieren und aufzubauen. Wir helfen der afghani- ISAF-Mission – nicht weniger und nicht mehr. Bei mei- schen Bevölkerung, ihre Lebensbedingungen zu stabili- nem Besuch Anfang September in Afghanistan konnte sieren, zu verbessern und abzusichern, damit die Taliban ich mit vielen Akteuren aus der afghanischen Zivilge- ihre Schreckensherrschaft nicht erneut in Afghanistan sellschaft ebenso wie aus der internationalen Gemein- aufbauen können. Unser Afghanistan-Engagement liegt schaft sprechen. Vor allem Mitarbeiterinnen und Mit- unverkennbar im deutschen Interesse Trotz der Fort- arbeiter von Hilfsorganisationen machten mir deutlich, schritte im Bildungsbereich, beim Aufbau der Justiz und dass ein Abzug der ISAF-Truppen katastrophale Folgen der Drogenbekämpfung sind unakzeptable Defizite, un- für die Bevölkerung, den Wiederaufbau und die Versor- ter anderem durch Korruption, sichtbar. Unsere Hilfe gungssituation im Land hätte. Kurz: Die meisten Nicht- zum Beispiel beim Aufbau eines rechtstaatlich arbeiten- regierungsorganisationen müssten ihre Arbeit einstellen. den Beamten-, Polizei-und Justizapparates soll die Re- Das bisher Erreichte wäre verloren. gierung, letztlich auch die Bevölkerung, in die Lage versetzen, einen demokratischen Staat aufzubauen, der Vor diesem Hintergrund bin ich der Überzeugung, selbst für seine Sicherheit sorgen kann. Unser Einsatz in dass eine Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der Afghanistan kann nicht von Dauer sein, aber neue Be- von den Vereinten Nationen mandatierten und von der drohungen erfordern eine Anpassung der Sicherheits- NATO geführten ISAF-Schutztruppe für die Sicherung politik. Ich unterstütze politisch die Verlängerung und des Aufbaus in Afghanistan weiterhin notwendig und Aufstockung des ISAF-Mandats. Ich erwarte jedoch, unverzichtbar ist. Die Anhebung der Mandatsobergrenze dass die verantwortungsvolle und realistische Möglich- von 3 500 auf 4 500 Soldatinnen und Soldaten ist ange- keit für die Rückkehr unserer Soldatinnen und Soldaten sichts der bevorstehenden Präsidenten-, Provinz- und aus der Sorge der Bevölkerung heraus in Abstimmung Parlamentswahlen, der erforderlichen Flexibilität und der internationalen Gemeinschaft geprüft, beachtet und dem Ziel, die afghanische Armeeausbildung schneller letztendlich umgesetzt wird. voranzubringen, nachvollziehbar. Hinsichtlich des Einsatzes der RECCE-Aufklärungs- Wolfgang Spanier (SPD): Die Fortsetzung der Be- tornados hat es im Verlauf des vergangenen Jahres keine teiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- Hinweise darauf gegeben, dass sie widerrechtlich Ein- satz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe sätzen von OEF zugearbeitet haben. Aber auch die von (ISAF) in Afghanistan unterstütze ich grundsätzlich Verteidigungsminister Franz Josef Jung prophezeite Ab- nach wie vor. 37 Staaten beteiligen sich an der ISAF- nahme der Zahl der zivilen Opfer haben die Tornados Mission im Auftrag der Vereinten Nationen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19589

(A) Die Aufbauhilfe durch die Bundeswehr im Norden sis und zum Sprungbrett für den internationalen Terroris- (C) Afghanistans halte ich aus humanitären und politischen mus werden. Dann wären Europa und damit auch die Gründen für einen wichtigen Einsatz. Das ISAF-Mandat deutsche Bevölkerung wieder direkt bedroht. beinhaltet das Recht der Soldaten auf Selbstverteidi- gung. Militärische Gewalt ist auch dann zulässig, wenn Ein erklärtes Ziel dieser Fundamentalisten ist die Er- es darum geht, die Regierung und die Menschen in Af- richtung eines Staates, in dem jeder Nichtmuslime als ghanistan zu schützen. Ziel ist die militärische Sicherung „Ungläubiger“ gilt, der der Verfolgung anheim fällt, in des Wiederaufbaus. dem es beispielsweise auch faktisch keine Frauenrechte gibt. Dieses Ziel soll ausdrücklich mit Gewalt erreicht Der Wiederaufbau Afghanistans zeigt Erfolge. Positiv werden. zu bewerten ist, dass Deutschland die finanziellen Hilfen Diese bekannten Absichten und die konkreten welt- von 80 Millionen Euro auf 140 Millionen Euro aufge- weiten Terroranschläge der letzten Jahre vor Augen stockt hat. Allerdings sollte die zivile Aufbauhilfe noch engagieren sich über vierzig Nationen militärisch in deutlicher Vorrang vor dem militärischen Einsatz haben. Afghanistan. Sie wissen, dass sie dadurch auch ihre eige- Ein Rückzug der Bundeswehr aus ISAF würde den nen Bevölkerungen schützen. Wer leichtfertig oder aus Wiederaufbau des Landes zunichte machen, die Men- populistischen Gründen einen sofortigen Abzug der schen in Afghanistan im Stich lassen, das Land ins deutschen Truppen aus Afghanistan fordert, gefährdet Chaos stürzen, terroristischen Gruppen wieder freie das Leben unserer Bürgerinnen und Bürger im Lande. Hand geben. Wir haben die Aufklärung verstärkt und alle techni- Die bisher getrennten Bundestagsmandate für ISAF schen Voraussetzungen geschaffen, damit unsere Solda- sowie den Tornadoeinsatz werden in einem Mandat zu- tinnen und Soldaten ihren Auftrag gut erfüllen können. sammengeführt. Wir erhöhen nochmals unseren Beitrag zum zivilen Wie- deraufbau. Wir legen in Afghanistan einen noch größe- Nach wie vor kann ich dem Einsatz deutscher Aufklä- ren Schwerpunkt auf die Ausbildung der afghanischen rungsflugzeuge in Afghanistan nicht zustimmen. Die Streitkräfte und Polizisten. Aufklärungsflugzeuge dienen nicht nur dem Schutz der Bundeswehr im Norden Afghanistans. Mit dem geplan- Nach alledem stimme ich dem vorliegenden Antrag ten Einsatz von deutschen Tornados der Bundeswehr der Bundesregierung zu, da das Ziel richtig ist, der Auf- engagiert sich die Bundeswehr beim Kriegseinsatz im trag nicht in Gänze erfüllt ist, es keine Alternativen gibt, Süden Afghanistans im Rahmen der Operation Enduring und nur dieses Mandat in der vorliegenden Form die Si- Freedom. Die Ergebnisse der Luftaufklärung können cherheit der Truppe vor Ort und die sichere Rückhol- (B) auch militärischen Einsätzen dienen. Damit werden option bestmöglich gewährleistet. (D) deutsche Soldaten in Kampfhandlungen einbezogen, auf deren Planung und Durchführung sie keinerlei Einfluss haben. Anlage 3 Weil beide Mandate im Antrag der Bundesregierung Erklärung nach § 31 GO in einem Mandat zusammengeführt werden, kann ich der Abgeordneten Kerstin Andreae, Cornelia dem Antrag nicht zustimmen. Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn) In der Gesamtwürdigung des Antrags der Bundes- und Dr. Thea Dückert (alle BÜNDNIS 90/DIE regierung enthalte ich mich der Stimme. GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ich mache es mir bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- grundsätzlich nicht leicht, Auslandseinsätzen unserer satz der Internationalen Sicherheitsunterstüt- Bundeswehr zuzustimmen, handelt es sich doch um Ein- zungstruppe in Afghanistan (International griffe außerhalb unseres Staatsgebiets, die zudem nicht Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- abstrakt, sondern mit dem Einsatz von Soldatinnen und rung der NATO auf Grundlage der Resolution Soldaten verbunden sind. Unsere Bemühungen müssen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt dabei stets auch darauf gerichtet sein, unsere Soldatin- Resolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der nen und Soldaten schnellstmöglich sobald ihre Aufgaben Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) im Einsatz abgeschlossen sind, ihr Auftrag erfüllt wurde, wieder zurückholen zu können. Ihre Sicherheit vor Ort Heute stimmt der Deutsche Bundestag über die Ver- sowie die jederzeit sichere Rückholoption müssen best- längerung der von den Vereinten Nationen mandatierten möglich gewährleistet sein. internationalen Sicherheitsunterstützung (ISAF) ab. Das gilt auch für den Einsatz in Afghanistan. Dort Der begonnene – und leider stockende – zivile Wie- müssen die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage deraufbau in Afghanistan ist unerlässlich. Viele Ziele versetzt werden, selbst für staatliche Sicherheit zu sor- wurden jedoch noch nicht erreicht, viele Projekte sind gen bzw. Taliban und al-Qaida erfolgreich bekämpfen zu ins Stocken geraten. Dennoch ist die Situation im Land können. Ein vorzeitiger Abzug der ISAF würde dieses heute – trotz aller Rückschläge – in zentralen Bereichen Ziel gefährden. Afghanistan würde wieder in die Hände besser als 2001 unter der Taliban-Herrschaft. Rechtliche militanter Islamisten geraten und dadurch erneut zur Ba- Standards wurden etabliert, Grundlagen für staatliche In- 19590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) stitutionen geschaffen und große Fortschritte im Ge- die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ei- (C) sundheits- und Bildungsbereich gemacht. Dies beschei- nen Strategiewechsel in Afghanistan, wie wir ihn in nigen auch viele Gesprächspartner aus der afghanischen zahlreichen Anträgen und Initiativen formuliert haben. Zivilgesellschaft. Nicht zuletzt hat sich vielerorts die Le- Im Zentrum stehen für uns eine Beendigung der kontra- benssituation von Frauen und jungen Mädchen verbes- produktiven OEF-Mission in Afghanistan und Pakistan sert. und der opferreichen militärischen Gegnerbekämpfung, eine massive Aufstockung und Verbesserung der Quali- Wie viele Afghaninnen und Afghanen, aber auch vor tät des zivilen Aufbaus, ein entschiedenes Eintreten für Ort tätige Hilfsorganisationen und NGOs sind wir der die Menschenrechte in Afghanistan und eine regionale Auffassung, dass eine internationale Sicherheitspräsenz Strategie zur Befriedung Afghanistans sowie der Aufbau und damit eine militärische Absicherung des zivilen einer wirtschaftlichen Perspektive, um dem Drogenan- Wiederaufbaus erforderlich ist. Die deutsche ISAF-Be- bau Einhalt zu gebieten. teiligung ist gerade auf afghanischer Seite immer noch besonders gut angesehen und gewünscht, sie ist weiter- Dieser Strategiewechsel hat nur in sehr kleinen hin unverzichtbar. Dramatisch ist allerdings, dass die Si- Schritten stattgefunden. Das ist dramatisch und spätes- cherheitslage vor Ort schwieriger geworden ist und dass tens nach den Präsidentschaftswahlen in Amerika nicht es mehr zivile Opfer auf Seiten der afghanischen Bevöl- länger hinnehmbar. Wir hoffen, dass ein Wechsel in kerung zu beklagen gibt. Insofern ist es nicht verwunder- Amerika insgesamt zu einer Veränderung der Strategie lich, dass die Bevölkerung zunehmend frustriert über die beim Einsatz in Afghanistan führt und dass diese Chance als langsam empfundenen Fortschritte beim Wiederauf- dann auch ergriffen und seitens der Bundesregierung bau und das Agieren der eigenen – oft als korrupt wahr- eingefordert wird. genommenen – Regierung ist. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschieden, Nun stehen wir in der Bundesrepublik als Parlamenta- in der jetzigen Situation nochmals für die Verlängerung rier wieder vor der Frage, ob wir der Verlängerung des des ISAF-Mandats zu stimmen. Eine Enthaltung wäre ISAF-Mandats zustimmen. für uns keine klare Positionierung. Schließlich müssen wir uns auch immer die Frage stellen, was wäre, wenn Uns stehen drei Abstimmungsvarianten (Ja, Nein, das gesamte Parlament entscheiden würde wie wir. Enthaltung) zur Verfügung. Wir sind als freie Abgeord- nete keinem imperativen Mandat verpflichtet, möchten Unser Abstimmungsverhalten ist wahrlich keine in der Abwägung und Entscheidungsfindung aber unter- leichte Entscheidung, und wir sind uns bewusst, dass wir schiedlichste Aspekte berücksichtigen. Diese sind die bei der Frage militärischer Einsätze immer auch über das Position unserer Partei, die der deutschen Bevölkerung, Leben anderer Menschen entscheiden. Aber die Realität (B) aber auch die der afghanischen Bevölkerung. zwingt uns, anzuerkennen, dass wir dies auch tun, wenn (D) wir uns gegen einen Militäreinsatz entscheiden. Sollten wir dem Mandat die Zustimmung verweigern und mit „Nein“ stimmen, dann würde dies in der Konse- quenz den sofortigen Abzug des Militärs aus Afghanis- tan bedeuten. Wir können dies nicht verantworten. Anlage 4 Vor allem für die Menschen in Afghanistan wäre ein Erklärung nach § 31 GO „Nein“ ein falsches Zeichen. Wir haben eine Verpflich- der Abgeordneten Ekin Deligöz, Jerzy Montag, tung insbesondere gegenüber jenen vielen Afghaninnen Elisabeth Scharfenberg und Christine Scheel und Afghanen, die sich entschieden haben, sich am Auf- (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nament- bau des Landes zu beteiligen. Ohne die militärische Prä- lichen Abstimmung über die Beschlussempfeh- senz der internationalen Staatengemeinschaft wären lung zu dem Antrag der Bundesregierung: diese Menschen großen Gefahren für Leib und Leben Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- ausgesetzt. Mariam Notten, afghanische Soziologin und scher Streitkräfte an dem Einsatz der Inter- jüngste Trägerin des taz-Panther-Preises, warnt für die- nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in sen Fall vor einem „Blutbad unvorstellbaren Ausmaßes. Afghanistan (International Security Assistance Wenn heute die internationalen Truppen abzögen, wür- Force, ISAF) unter Führung der NATO auf den Taliban und Al-Qaida innerhalb von etwa einer Grundlage der Resolution 1386 (2001) und fol- Woche wieder die Macht erobern. Zuerst würden jene gender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833 Hunderttausende Landsleute ermordet, die sich in den (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- letzten Jahren um den Wiederaufbau ihres Landes und nen (Tagesordnungspunkt 6 a) der Zivilbevölkerung bemüht haben. Dann würden Frauen und Mädchen ins Visier genommen (…).“ (Publik-Forum 19/2008). Der seit sieben Jahren militärisch abgesicherte Wie- deraufbauprozess in Afghanistan hat für die Lebenssi- Es ist aber klar festzuhalten, dass eines der zentralen tuation der Afghaninnen und Afghanen in vielen Berei- Probleme der internationalen Gemeinschaft das Neben- chen große Fortschritte ermöglicht. Dazu zählen unter einander von zwei Missionen (ISAF und OEF) ist, damit anderem Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungs- weder eine insgesamt abgestimmte internationale Strate- bereich und beim Aufbau der öffentlichen und wirt- gie vorliegt, noch eine deutliche Fokussierung auf den schaftlichen Infrastruktur des Landes. Dazu zählt auch, zivilen Wiederaufbau gegeben ist. Seit langem fordert dass in Afghanistan im kommenden Jahr die zweiten de- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19591

(A) mokratischen Wahlen stattfinden werden. Dennoch kom- Anlage 5 (C) men die Erfolge leider längst nicht bei allen Menschen an. Noch immer ist kein klarer Strategiewechsel erkenn- Erklärung nach § 31 GO bar, der die Hauptanstrengungen auf den zivilen Aufbau der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Monika des Landes verstärkt. Lazar, Winfried Herrmann, Hans-Christian Ströbele, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Zudem hat sich das Nebeneinander von ISAF und den Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Harald Terpe Militäraktionen der OEF als kontraproduktiv erwiesen und Peter Hettlich (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Akzeptanz von ISAF in der Zivilbevölkerung NEN) zur namentlichen Abstimmung über die geschwächt. Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun- desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be- Noch immer stehen Kosten und Folgen der militäri- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz schen Einsätze in keinem angemessenen Verhältnis zu der Internationalen Sicherheitsunterstützungs- denen für einen zivilen Aufbau des Landes. truppe in Afghanistan (International Security Wir dürfen die Menschen in Afghanistan mit ihren Assistance Force, ISAF) unter Führung der Hoffnungen für bessere Lebensverhältnisse nicht im NATO auf der Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Reso- Stich lassen, deswegen halte ich es unabhängig von der lution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Ver- geschilderten Entwicklung für unverantwortlich, sich für einten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) den sofortigen Abzug der internationalen Sicherheitsun- terstützungstruppe in Afghanistan auszusprechen. Den Antrag der deutschen Bundesregierung auf Fort- Der Wiederaufbauprozess wird insbesondere durch setzung der Beteiligung der Bundeswehr an der interna- das Erstarken der Taliban und anderer bewaffneter Grup- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe lehnen wir ab. pen in den paschtunischen Gebieten behindert. Terroris- tische Anschläge und bewaffnete Kampfhandlungen Die Sicherheitslage in Afghanistan wird von Jahr zu Jahr schlechter. Die Zahl der Opfer bei Anschlägen und haben im vergangenen Jahr zugenommen, auch in Pakis- beim Antiterrorkrieg steigt dramatisch. Im Jahr 2008 tan. Infolgedessen ist die Zahl der Opfer unter der Zivil- sind bisher über 3 000 Menschen getötet worden, dabei bevölkerung erheblich gestiegen. Bisher haben weder mehr als 1 000 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kin- die afghanische Regierung noch die internationalen Ein- der. Tausende wurden verwundet und verstümmelt. Fast satzkräfte eine Strategie gefunden, wie der logistische die Hälfte der zivilen Opfer fällt der US-Luftkriegsfüh- und praktische Nachschub für terroristische Angriffe un- (B) rung zum Opfer. ACBAR, eine Dachorganisation von (D) terbunden werden kann. Deswegen ist das Vertrauen in 100 Hilfsorganisationen, gibt an, dass der Sommer 2008 die afghanische Regierung und die internationale Staa- der bisher verlustreichste war seit 2001. Die Zerstörun- tengemeinschaft, dass sie den Taliban und anderen mili- gen von Gebäuden und Versorgungseinrichtungen über- tanten oppositionellen Kräften Einhalt gebieten können, steigen häufig den Wiederaufbau. gesunken. Der Krieg wurde vor sieben Jahren begonnen, um die Allein mit einer glaubwürdigen zivilen Aufbaustrate- Verantwortlichen für die Anschläge vom 11. September gie, die militärisch gegen Angriffe von außen abgesi- in den USA der Gerechtigkeit zuzuführen, so die UN- chert ist, können Voraussetzungen geschaffen werden, Resolution vom Herbst 2001. Sie rechtfertigt nicht einen die es ermöglichen, einen Stufenplan für die Verantwor- Krieg gegen die Taliban für einen Regimewechsel oder tungsübergabe an die afghanische Regierung auszuarbei- zur Aufstands- und Widerstandsbekämpfung in Afgha- ten. Die internationale Gemeinschaft ist sich weitgehend nistan. Seit Jahren zielt jedoch die militärische Gewalt einig, dass die internationale Militärpräsenz zeitlich be- der ausländischen Truppen auf die Vernichtung der Tali- fristet sein soll; also muss sie sich auch aktiv dafür ein- ban und des Widerstandes im Land. Die Ergebnisse die- setzen, dass die Voraussetzungen für einen Abzug ge- ser Strategie sind verheerend. Die rücksichtslose Antiter- schaffen werden. Mir fehlt es an den internationalen rorbekämpfung vor allem der US-Truppen schürt und Anstrengungen, den zivilen Aufbau des Landes so vo- legitimiert Racheakte und Anschläge; sie ist nicht nur unverantwortlich, sondern auch kontraproduktiv. Dem- ranzutreiben, dass terroristischen Angriffen der Boden entsprechend hat sich die Sicherheitslage seit 2004 noch- für ihre Unterstützung durch die Bevölkerung entzogen mals deutlich verschlechtert, obwohl seit Beginn des wird. Krieges die Zahl der eingesetzten Nato-Soldaten auf Da ich mich aus humanitären Gründen weder für ei- circa 65 000 deutlich angehoben wurde. nen Sofortabzug der bewaffneten deutschen Streitkräfte Ein Ende der Eskalation des Krieges ist nicht in Sicht, aus Afghanistan aussprechen kann, noch mit dem Antrag ganz im Gegenteil. Gerade auch als Folge der Eskalation der Bundesregierung für eine Fortsetzung der Beteili- und Kriegsführung werden diejenigen, die bekämpft gung bewaffneter deutscher Streitkräfte einverstanden werden sollen, immer stärker. Die zunehmende Gewalt bin, weil es an einem durchgreifenden Strategiewechsel des Krieges ist die Hauptursache dafür, dass der Hass ge- für den verstärkten zivilen Aufbau in Afghanistan fehlt, gen die ausländischen Truppen wächst und sich immer werde ich dem Antrag der Bundesregierung nicht zu- mehr am Krieg gegen diese beteiligen. Politische und stimmen, sondern mich enthalten. humanitäre Ziele werden unerreichbar. Der britische 19592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Botschafter Cowper-Coles hat leider recht, wenn er sagt, satz weiterhin aussichtsreich und angesichts der Opfer (C) die ausländischen Truppen in Afghanistan seien „Teil verantwortbar ist. des Problems, nicht der Lösung.“ Die Gewaltspirale Die Prüfung wird erschwert dadurch, dass die Ent- kann aber durch immer mehr Soldatinnen und Soldaten wicklung in den verschiedenen Landesteilen und die und militärische Mittel nicht durchbrochen werden. Ge- Einsatzrealität in den Regionen sehr unterschiedlich sind rade asymmetrische Kriege können militärisch nicht ge- und ihre realitätsnahe Wahrnehmung durch oft pauschale wonnen werden. Afghanistan-Bilder verzerrt wird. Es ist aus unserer Sicht unklug und unverantwortlich, Wenn die Bundeswehr in Afghanistan als Besatzungs- einfach so weiterzumachen. Überfällig ist es, eine Alter- truppe agieren würde, wenn der Aufbau gescheitert native zur Eskalation der Gewalt zu entwickeln. Not- wäre, dann wäre ein zügiger Truppenabzug das Gebot wendig ist ein verantwortbarer militärischer Rückzug in der Stunde und ein Nein zum Antrag der Bundesregie- kalkulierten Schritten. Doch alle Forderungen nach ei- rung die notwendige Konsequenz. nem Strategiewechsel sind ohne Umsetzung geblieben, im Gegenteil, die Bundesregierung will das deutsche Doch dem ist nicht so. Gerade nördlich des Hindu- Truppenkontingent nur erhöhen. Trotz gegenteiliger Be- kusch, wo die Bundesrepublik besondere Verantwortung hauptungen bleiben die zivilen Anstrengungen weit hin- trägt, sind Aufbaufortschritte unverkennbar: in der Ge- ter den militärischen zurück. Während nicht einmal die sundheitsversorgung, in der Trinkwasser- und Stromver- zugesagten 50 Polizeiausbilder nach Afghanistan ge- sorgung, im Schulwesen. Wenig bekannt ist, dass seit schickt werden, wird die Zahl der Soldatinnen und Sol- 2006 der Mohnanbau in den Nordprovinzen praktisch daten von 3 500 auf 4 500 erhöht. Die Kosten alleine auf null ging. dieses Mandates für 14 Monate betragen 688 Millionen, Hier treten die internationalen ISAF-Soldaten unver- während die Ausgaben für den zivilen Aufbau gerade ändert als Unterstützungstruppe auf. Sie sind bei der mal etwa ein Viertel davon ausmachen. Mehrheit der Bevölkerung immer noch gut angesehen Wir halten fest: Die bisherige Strategie ist gescheitert, und gewünscht. Trotz vermehrter Anschläge bleiben sie sie schadet und verschärft den Krieg. Ein Wechsel der besonnen und lassen sich nicht zum Krieg gegen die Mi- Strategie – weg vom Militärischen, hin zum Zivilen – ist litanten verführen. nicht in Sicht. Die ISAF-Truppen kurzfristig abzuziehen, hätte eine Deshalb lehnen wir den Antrag der Bundesregierung schnelle Explosion der Gewalt und einen Destabilisie- ab. rungsschub Richtung Pakistan zur Folge. Das sagen ein- mütig und eindringlich gerade Vertreterinnen und Vertre- (B) ter der demokratischen afghanischen Zivilgesellschaft, (D) Anlage 6 denen wir Grüne uns seit Jahren besonders verbunden fühlen. Erklärung nach § 31 GO Insofern ist die Fortsetzung der deutschen ISAF-Be- der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Claudia teiligung notwendig und unverzichtbar. Die Tornados Roth (Augsburg), Kerstin Müller (Köln), Bär- tragen mit ihren Aufklärungsfotos zwar auch zur Auf- bel Höhn, Britta Haßelmann, Kai Gehring, bauabsicherung bei. Leider unterstützen sie aber auch in- Thilo Hoppe, Rainder Steenblock, Katrin Gö- direkt eine Art der militärischen Gegnerbekämpfung, die ring-Eckardt, Wolfgang Wieland, Volker Beck wir ablehnen. Insbesondere der von der Bundesregie- (Köln) und Ulrike Höfken (alle BÜND-NIS 90/ rung versprochene Beitrag zur Reduzierung von Zivil- DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung opfern ist angesichts gestiegener Opferzahlen nicht er- über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag kennbar. der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili- gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Die Anhebung der Kontingentsobergrenze ist mit ver- Einsatz der Internationalen mehrter Ausbildungshilfe, der Wahlabsicherung im Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis- nächsten Jahr und mehr Flexibilität plausibel begründet. tan (International Security Assistance Force, Sie bedeutet nicht eine zunehmende Verstrickung in den ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage Krieg in anderen Landesteilen. der Resolution 1386 (2001) und folgender Reso- Zugleich sehen wir mit großer Beunruhigung, wie lutionen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des sich seit zwei Jahren die Sicherheitslage in Afghanistan Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages- massiv verschlechtert, wie der Krieg in Teile des Südens ordnungspunkt 6 a) und Ostens zurückgekehrt ist, wie Anschläge, Luft- angriffe und Zivilopfer zunehmen. Damit wachsen Zum siebten Mal entscheidet der Bundestag über die Zweifel an der Wirksamkeit und Verantwortbarkeit des Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der Interna- Einsatzes insgesamt. tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF in Afghanistan. Wir Abgeordnete haben zu prüfen, ob die- Angesichts dieser Abwärtsspirale bedarf es ganz be- ser von den Vereinten Nationen mandatierte Einsatz sei- sonderer Anstrengungen, um die negative Dynamik zu nem Auftrag gemäß zur Gewaltminderung und zu einem stoppen und umzukehren. Seit zwei Jahren drängen die sicheren Umfeld für den Aufbau des von mehr als Grünen und viele andere auf einen Strategiewechsel und 20 Jahren Krieg zerstörten Landes beiträgt, ob der Ein- eine Aufbauoffensive. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19593

(A) Wie verhält sich dazu die Bundesregierung? unter hohen Belastungen und Risiken insgesamt hervor- (C) ragende Arbeit leisten. Im Antrag der Bundesregierung und insbesondere ih- ren Publikationen werden unbestreitbare positive Ent- Deshalb werden wir uns der Stimme enthalten. Das ist wicklungen unzulässig verallgemeinert, werden die kein Ausdruck von Unentschiedenheit, sondern ein Negativentwicklungen weitgehend ausgeklammert, wird Warnsignal wie das Gelblicht der Ampel: die Lage beschönigt. Auch nach sieben Jahren Afghanis- tan-Engagement verweigert die Bundesregierung eine Wir stehen zu unserer Verantwortung für Afghanistan, ehrliche Bestandsaufnahme. für seine Menschen und die internationale VN-Gemein- schaft, für die Fortsetzung des deutschen ISAF-Beitra- In der NATO kneift die Bundesregierung vor der Klä- ges. rung des strategischen Dissens zwischen Primat der mili- tärischen Terrorbekämpfung und Aufbauabsicherung, Wir distanzieren uns dabei von dem Ruf nach Sofort- wodurch die Friedenskonsolidierung hintertrieben wird. abzug einerseits, von der halbherzigen Politik der Bun- desregierung andererseits. Die im Einzelnen guten deutschen Aufbauanstren- gungen werden nur nachjustiert, aber nicht an den wach- Wir stehen für Kurswechsel und Aufbauoffensive. senden Herausforderungen ausgerichtet. Die Bundes- Wir setzen uns ein für realitätstüchtige und ehrgeizige regierung hat keinen Plan, was sie mittelfristig in ihrem Aufbauschritte, die eine Perspektive für einen verant- Hauptverantwortungsbereich erreichen und an Ressour- wortbaren Truppenabzug eröffnen. cen mobilisieren will. Wir lassen die von mehr als 20 Kriegsjahren geschun- Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat seit dem denen Menschen in Afghanistan nicht im Stich. Um das letzten Herbst zehn konstruktive Anträge in den Bundes- durchzuhalten, reichen aber Bekenntnisse nicht aus. Da- tag eingebracht, um Druck zu machen für Kurswechsel für bedarf es einer strategisch klaren, energischen Politik und Aufbauoffensive. Trotz durchweg positiver Reaktio- und größerer Kraftanstrengungen. nen aus den Reihen der Koalition wurden alle Anträge abgelehnt – nur, weil sie von der Opposition kamen. Seit Monaten forderten die Grünen, aber auch der Anlage 7 Bundeswehrverband und viele Afghanistan-Experten in Zivil und Uniform die Bundesregierung auf, im Bundes- Zu Protokoll gegebene Reden tag ein umfassendes Mandat zur Abstimmung zu stellen, zur Beratung des Antrags Arbeitsmarktinstru- in dem auch zentrale Ziele, Schritte und Ressourcen des mente auf effiziente Maßnahmen konzentrie- (B) zivilen Aufbaus verbindlich festgelegt werden. Das wäre ren (Tagesordnungspunkt 9) (D) ein glaubwürdiges Zeichen dafür gewesen, energisch den Aufbaurückstand anzugehen. Auch diese Chance ließ die Bundesregierung ungenutzt. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Das Wichtigste zuerst: Die Forderungen des FDP-Antrags vom 7. Mai Gerade weil wir den Erfolg des internationalen und 2008 sind überholt. Schon drei Wochen später, am deutschen Afghanistan-Engagements für dringend not- 26. Mai 2008, lag der Referentenentwurf der Bundes- wendig halten und wollen, sind wir so beunruhigt über regierung zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpoliti- die Selbstzufriedenheit und Halbherzigkeit der Afgha- schen Instrumente vor. Anfang Oktober passierte er das nistan-Politik der Bundesregierung. Sie untergräbt damit Kabinett, und wir werden ihn im November beraten und mittelfristig den Sinn des Einsatzes und den Sinn des gern mit Ihnen von der FDP gemeinsam verabschieden. Engagements der vielen guten Fachleute vor Ort, die aus Das Gesetz soll mit Jahresbeginn 2009 in Kraft treten. Deutschland dorthin entsandt wurden, der Diplomaten und Soldaten, der Entwicklungshelfer und Polizisten. Das Gesetz setzt die Politik des Forderns und För- derns in den Arbeitsmarktreformen fort. Es wird Sie Über diese schweren politischen Versäumnisse kön- nicht überraschen, dass der Gesetzentwurf schlüssiger, nen wir nicht hinwegsehen. Deshalb ist für uns der An- differenzierter und damit zielführender als der vorlie- trag der Bundesregierung nicht zustimmungsfähig. gende Antrag der FDP ist. Der ist damit nicht nur in den Zugleich sind wir uns der Wirkung öffentlicher Bot- wesentlichen Punkten als erledigt zu betrachten. Er ist schaften gerade von Mandatsentscheidungen in Deutsch- auch dort, wo er widersprüchlich ist, beispielsweise land und in Afghanistan sehr bewusst. „mehr öffentliche Ausschreibung vs. freie Förderung“, abzulehnen. Unsere Kritik an der Politik der Bundesregierung würde auch ein Nein begründen. Allerdings beinhaltet Haben Sie von der FDP vor kurzem im Plenum noch ein Nein unserer Auffassung nach das große Risiko, kritisiert, dass die Förderinstrumente der Agentur für Ar- nicht als Kritik an der Politik der Bundesregierung ver- beit so unübersichtlich seien, dass sie nicht einmal zah- standen, sondern als Signal zum schnellen Abzug und lenmäßig zu erfassen sind, so zeigt der Antrag: Sie ha- aus „Flucht aus der Verantwortung“ missverstanden zu ben gezählt, vielleicht ein bisschen zu eifrig, denn Sie werden. Beides wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wol- kommen auf eine Zahl von 70 Förderinstrumenten. Wir len auch nicht die Fehlinterpretation, als wollten wir den kommen auf 52! Wie auch immer: Sie kritisieren diesen Tausenden die „rote Karte“ zeigen, die von Bundestag Maßnahmenkatalog zu Recht als zu umfangreich. Wir und Bundesregierung dorthin geschickt wurden und dort auch! Genau dieses Problem löst nun unser Gesetz, dem 19594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Sie deshalb sicher viel Sympathie entgegenbringen. Was deshalb legen wir Wert auf ordentliche Arbeitsbedingun- (C) regeln wir? gen für Vermittler. In den nächsten drei Jahren wollen wir insgesamt mehr als 9 000 feste Stellen für Vermitt- Mehr Entscheidungsspielraum für die Vermittler. Sie lungsarbeit zusätzlich bereitstellen. Dass wir bei diesem bekommen mit dem neuen Vermittlungsbudget ein In- Schritt keine Zustimmung der Liberalen erwarten, wer- strument, das viele Einzelvorschriften ersetzt. Sie ent- den Sie verstehen. Wesentliches Ziel unserer vorsorgen- scheiden freier, was für die Person, die vor ihnen sitzt, den Arbeitsmarktpolitik ist es, das Risiko der Arbeitslo- notwendig ist, um in Arbeit zu kommen. Das stärkt sigkeit zu verringern. Handlungsspielräume im Einzelfall, maßgeschneiderte Angebote werden möglich. Bildung und Qualifizierung stehen deshalb im Mittel- Vergeblich habe ich in Ihrem Antrag nach einer Lö- punkt. Start und Neustart zu ermöglichen ist unsere sung gesucht für Menschen, denen die Eintrittskarte für Pflicht dem Einzelnen gegenüber, genauso wie die Soli- den Arbeitsmarkt fehlt. Es sind die ohne Schulabschluss. dargemeinschaft der Beitragszahler vorsorgende Ar- Von den ca. 3 Millionen Arbeitslosen sind insgesamt beitsmarktpolitik erwarten kann. circa 500 000 ohne Schulabschluss, die meisten von ih- Wir sorgen für Effizienz in der Arbeitsvermittlung – nen sind Langzeitarbeitslose. Was noch schlimmer ist: und dies noch klarer und zielgenauer, als es Ihr Antrag Jährlich verlassen mehr als 70 000 junge Menschen die nahelegt. Schule in Deutschland ohne einen Abschluss. Leider müssen wir damit der Schulpolitik unserer Bundesländer Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geht ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Das ist nicht ausrei- es darum, dass Arbeitssuchenden motiviert ein Neustart chend, das ist sogar schlechter als mangelhaft, das ist gelingt. Wir stärken die Kultur der Zweiten Chance. Da- einfach ungenügend. Unser Gesetz gibt ihnen die mit legen wir einen weiteren Grundstein für Erfolge auf Chance, ihren Schulabschluss nachzuholen. Sie bekom- dem Arbeitsmarkt. men ein Recht darauf, ihre persönliche Eintrittskarte zu erarbeiten. Denn die beste vorsorgende Arbeitsmarktpo- Ein altes chinesisches Sprichwort – und es könnte litik ist gute Bildungspolitik. auch ein sozialdemokratisches sein – besagt: Neben dem fehlenden Schulabschluss sind man- Um für ein Jahr zu planen, pflanze Reis, um für ein gelnde Deutschkenntnisse die größte Hürde, um erfolg- Jahrzehnt zu planen, pflanze Bäume – um für ein reich in Beruf und Weiterbildung zu sein. Deshalb wer- Jahrhundert zu planen, bilde Menschen. den wir auch die Sprachförderung als Regelinstrument einführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch (B) wenn wir Ihren Antrag ablehnen, lassen Sie uns für die (D) Wir wollen auch weiterhin Innovation in den Regio- Menschen gemeinsam langfristig planen! nen ermöglichen. Deshalb wird es die Möglichkeit zur freien Förderung im Rahmen des SGB II geben. Ich ma- che keinen Hehl daraus, dass mir der derzeitig geplante Dirk Niebel (FDP): Die Bundesregierung hat nichts Budgetanteil dafür noch zu gering ist. Ich stelle fest: dazu beigetragen, dass die Arbeitslosenzahlen im Sep- Auch hier gibt es tendenziell Übereinstimmung mit dem tember auf den niedrigsten Stand seit 16 Jahren gefallen FDP-Antrag. sind. Und entgegen einiger optimistischer Prognosen, dass die Zahl auch unter drei Millionen fallen könnte, Doch zurück zur Reduzierung der Instrumente: Ja, rechnen wir eher damit, dass die Finanzkrise und der ab- auch die große Koalition räumt an dieser Stelle auf. sehbare Konjunkturabschwung wieder zu steigenden Ar- Künftig soll es nur noch 30 Förderinstrumente geben. beitslosenzahlen führen werden. Das wurde auch vorges- Damit kann flexibler, unbürokratischer und individueller tern durch die Prognose der Wirtschaftsinstitute in Arbeit vermittelt werden. Besonders das Vermitt- bestätigt. lungsbudget ist ein Sprung nach vorne für die Menschen. Es stärkt die Entscheidungsfreiheit der Vermittler vor Noch immer ist die Sockelarbeitslosigkeit, die Zahl Ort: Hier sind neun Instrumente zusammengefasst, die der Langzeitarbeitslosen und der älteren Arbeitslosen bisher einzeln bewilligt werden mussten – wie zum Bei- hoch. Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II- spiel Bewerbungs- und Umzugskosten. Mit dem Empfängern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich Entwurf wird die Vermittlung als Kernbereich der Ar- nicht wesentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung beitsmarktpolitik gestärkt und entbürokratisiert. Lokale in Beschäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal Handlungsräume werden gestärkt. Die Arbeitsvermittler ist mit Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. vor Ort können freier und bedarfsgerechter, individueller Weder wurden neue Sozialversicherungspflichtige und gezielter helfen. Arbeitsplätze für Geringqualifizierte und Langzeit- arbeitslose geschaffen, noch wurden die Anreize zur Ar- Wirksame Instrumente werden weiterentwickelt. Un- beitsaufnahme attraktiv gesetzt. Statt einen geregelten wirksame werden abgeschafft. Ich kann mir gar nicht Niedriglohnsektor einzuführen, der auch diesen Men- vorstellen, dass irgendjemand in diesem Haus dieser schen die Chance auf Beschäftigung gibt, werden wei- Veränderung nicht zustimmen könnte. tere Arbeitsplätze durch die geplante Einführung von Das ist eben nicht mehr „Konfektionsware von der flächendeckenden Mindestlöhnen gefährdet. Mindest- Stange, Ärmel zu lang und Hose zu kurz“, sondern maß- löhne werden Arbeitsplätze in die Schwarzarbeit ver- geschneiderte Hilfe. Das verlangt hohe Professionalität, drängen und dadurch die Chancen von Langzeitarbeits- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19595

(A) losen verschlechtern. Wir haben schon heute morgen Niedrigere Steuern und Abgaben sind ein wichtiger Bei- (C) ausführlich darüber debattiert. trag zur Arbeitsplatzsicherung und tragen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei. Das arbeitsmarktpolitische Programm der schwarz- roten Koalition, sofern man überhaupt von einem Pro- Einige Maßnahmen hätten wegen erwiesener Untaug- gramm sprechen kann, zeigt Aktionismus auf den fal- lichkeit schon längst aus dem Katalog gestrichen werden schen Feldern. Ja, es wurden Arbeitsplätze geschaffen. können. Diese Geldverschwendung geht zulasten der Zum Beispiel an den Sozialgerichten, um der wachsen- Solidargemeinschaft, die schwarz-rote Koalition hat sie den Flut an Klagen von ALG-II-Empfängern begegnen zu verantworten. Der schon seit Januar 2006 vorliegende zu können. Und vor allem bei der Bundesagentur für Ar- Evaluierungsbericht der Bundesregierung „Die Wirk- beit, damit die Anträge per Hand schneller bearbeitet samkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ werden konnten. Die Gesetze wurden nämlich schneller zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kom- geändert, als die Programmierer ihre Software anpassen mission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ konnten. Dazu muss man allerdings sagen, dass nur Lö- hatte schon zahlreiche Vorgaben geliefert. So ist schon cher geflickt wurden, ohne das Netz so zu sanieren, wie länger bekannt, dass Beschäftigte in Arbeitsbeschaf- es notwendig gewesen wäre. fungsmaßnahmen (ABM) aufgrund dieser Tätigkeit Arbeitsminister Olaf Scholz hat jetzt auch endlich sei- später als vergleichbare andere Arbeitslose ihre Arbeits- nen Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarkt- losigkeit durch eine Integration in Erwerbsarbeit beende- politischen Maßnahmen vorgelegt. Von einer Halbierung ten. der Zahl der Förderinstrumente war die Rede gewesen. Mit einer Vielzahl von Erlassen, Richtlinien und Ver- Das ist ihm nicht gelungen. Das wundert uns aber nicht. ordnungen wird versucht, Einzelfallgerechtigkeit herzu- Selbst die Bundesregierung weiß nicht, über wie viele stellen, ohne Berücksichtigung des Verwaltungsauf- Maßnahmen die aktive Arbeitsmarktpolitik verfügt. Ich wands und der damit verbundenen Kosten. Auch der zitiere aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage, vom Kabinett gebilligte Gesetzentwurf des Bundesar- Drucksache 16/10048: „Für die Zählung der Instrumente beitsministers bleibt durch faule Kompromisse und halb- bzw. Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gibt es herzige Reformen weit hinter den Notwendigkeiten zu- in Deutschland kein zwischen den unterschiedlichen Ak- rück. teuren bei der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesre- gierung und der Wissenschaft gemeinsam festgelegtes Die Evaluation von arbeitsmarktpolitischen Maßnah- Konzept.“ men ist eine Daueraufgabe. Die FDP hat schon vor Jah- Nun soll es 27 Einzelpositionen weniger geben, 5 In- ren die Entrümpelung der arbeitsmarktpolitischen Maß- (B) strumente werden neu geschaffen, zum Beispiel Vermitt- nahmen gefordert. Arbeitsmarktpolitik ist nur dann (D) lungsbudgets und Experimentierbudgets. Nichts wirk- effektiv und effizient, wenn es gelingt, mit möglichst ge- lich Neues. Und er will weitere 1 900 Stellen für ringem Mitteleinsatz Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder Vermittler einrichten, und 9 700 befristet eingestellte möglichst rasch durch Integration in den ersten Arbeits- Vermittler sollen Dauerarbeitsverträge erhalten – trotz markt zu beenden. Alle arbeitsmarktpolitischen Maß- der aktuell rückgängigen Arbeitslosenzahlen. Er rechnet nahmen sind dringend auf Umfang, Wirksamkeit und Ef- schon mit konjukturell schwierigen Zeiten. fizienz zu überprüfen und das Förderinstrumentarium auf Maßnahmen zu begrenzen, die zu einer Integration Und nur am Rande: Auch der geplante Rechtsan- in den ersten Arbeitsmarkt führen. Die Förderinstru- spruch auf einen Hauptschulabschluss ist nur ein Pla- mente sind möglichst unbürokratisch auszugestalten. cebo und hilft den Arbeitsuchenden nicht weiter. Deutschland braucht eine Weiterbildungsoffensive mit Der Maßnahmenkatalog kann deutlich reduziert wer- einem Sofortprogramm zur Qualifizierung von Men- den, ohne dass dadurch Einbußen bei der Arbeitsvermitt- schen ohne Schulabschluss. Durch den Rechtsanspruch lung zu befürchten sind. Die arbeitsmarktpolitischen wird die Qualität des Hauptschulabschlusses nicht er- Maßnahmen können in wenigen Kategorien zusammen- höht und erhält schon gar nicht die Wertschätzung, die er gefasst werden. Alle Programme müssen strikt nach verdient. Die SPD hat ihre Glaubwürdigkeit weiter be- Prinzipien der Effizienz öffentlich ausgeschrieben wer- schädigt. Den Rechtsanspruch auf einen Hauptschulab- den. Der zuständige Träger muss nach pflichtgemäßem schluss hat sie durchgesetzt und in den Ländern fordert Ermessen flexibel, effektiv und am Einzelfall orientiert sie die Abschaffung der Hauptschule. entscheiden können. Diese beiden Prinzipien liegen im Interesse der Beitrags- und Steuerzahler. Vom Aufschwung haben Kurzzeitarbeitslose überpro- portional profitiert. 70 Prozent der Erwerbslosen sind Um das Ziel einer Eingliederung in den ersten Ar- immer noch ALG-II-Empfänger. In den rund 80 Arbeits- beitsmarkt zu erreichen, muss die Zielgruppenorientie- förderungsinstrumenten sind fast 1,5 Millionen Men- rung bei den Arbeitsmarktinstrumenten deutlich verbes- schen geparkt, die deshalb in der offiziellen Arbeitslo- sert werden. Die Maßnahmen sollten sich ausschließlich senstatistik gar nicht auftauchen. Darunter sind viele auf die Arbeitslosen mit den gravierendsten Risikomerk- Maßnahmen, die nicht zur Integration in den ersten Ar- malen beschränken. Gleichzeitig müssen die Maßnah- beitsmarkt beitragen, aber von der Solidargemeinschaft men Gelegenheit zur praxisnahen Qualifizierung bieten. teuer bezahlt werden. Jeder Euro, der für unbrauchbare Ihre Laufzeiten müssen verkürzt werden. Auch darf Maßnahmen ausgegeben wird, fehlt zum Beispiel für die während der Maßnahmen die Vermittlungsberatung und Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung. Arbeitsplatzsuche nicht eingestellt werden. 19596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Die sogenannte freie Förderung für eigene, selbst Sehen Sie sich um! Opel habe ich genannt, .auch (C) konzipierte Maßnahmen muss erweitert werden. Die zu- BMW ist betroffen. Zulieferer Knorr-Bremse rechnet ständigen Akteure sollen weitere Entscheidungsbefug- mit 30 Prozent Auftragsrückgang. Und König & Bauer nisse, aber auch mehr Verantwortung für den Maßnah- (2007: 8 200 Beschäftigte, 1,7 Milliarden), einer der meneinsatz und dessen Wirkung bekommen. Damit weltweit größten Druckmaschinenhersteller, also Be- werden die Innovationsfähigkeit in der Arbeitsmarktpo- reich Maschinenbau, fährt die Viertagewoche und weiß litik und der Wettbewerb unter den verantwortlichen nicht, wie es weitergehen soll. Trägern gefördert. Darüber hinaus sollen die Träger der Grundsicherung vor Ort Maßnahmen an den individuel- Das bayerische Wirtschaftswunder, das immer als len Voraussetzungen der Langzeitarbeitslosen und den Vorzeigeobjekt deutscher Wirtschaft galt, erlebt bereits örtlichen Gegebenheiten ausrichten können, wenn die jetzt schon große Einbrüche und viele Menschen werden Instrumente des SGB III nicht passen. ihren Arbeitsplatz verlieren. Formen öffentlich subventionierter Beschäftigung Deshalb kann es nicht um Einsparungen in der Ar- wie 1-Euro-Jobs müssen auf ein Mindestmaß beschränkt beitsmarktpolitik gehen, sondern um die Bereitstellung werden. Sie dürfen nur der Wiedererlangung not- ausreichender Mittel. Es geht vor allem darum, die nach wendiger Arbeitstugenden und einer Überprüfung der wie vor zu hohe Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen Leistungsbereitschaft dienen. Die private Arbeitsver- und die arbeitsmarktpolitische Schiefläge Ostdeutsch- mittlung soll stärker als bisher die staatlichen Vermitt- lands zu beenden. Und das geht nicht mit mehr Markt, lungsbemühungen ergänzen. Sie ist in der Lage, eine wie es der FDP vorschwebt, nicht mit einer weiter priva- effiziente, den Ansprüchen eines modernen Arbeits- tisierten Arbeitsmarktpolitik – wie im FDP-Antrag ge- marktes gerecht werdende Vermittlungsdienstleistung zu fordert und längst durch Untersuchungen widerlegt erbringen. wurde –, sondern nur durch eine Stärkung der Gestal- tung des Arbeitsmarktes durch die öffentliche Hand. Die Vermittlungsgutscheine müssen marktgerecht ausgestaltet werden. So soll ein Anspruch ab dem ersten Wir betrachten es deswegen auch als völlig falsche Tag der Arbeitslosigkeit bestehen und die Gültigkeit und verhängnisvolle Entscheidung der Großen Koali- über die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit gehen. Ihre tion, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung noch- Einsatzmöglichkeiten werden flexibel ausgestaltet. Die mals – sogar auf 2,8 Prozent zu senken. Mehr als 5 Mil- aktuelle Ausgestaltung der Vermittlungsgutscheine bie- liarden Euro werden nach Aussage von BA-Chef Weise tet zu wenig Anreiz und hat sich in der Praxis als nicht deswegen 2009 in der Kasse fehlen. 2009 wird aber das flexibel genug erwiesen. Die Festlegung einer absoluten, Jahr der Wende auf dem Arbeitsmarkt werden. Es wird nicht am Einkommen orientierten Höchstprämie bedeu- sich mit aller Deutlichkeit zeigen, dass die von Ihnen al- (B) tet faktisch eine Regulierung des Preises für eine Ver- len gepriesene Arbeitsmarktreformpolitik, die „Hartz- (D) mittlung und wirkt wettbewerbsverzerrend. Qualifika- Richtung“, alles andere als richtig war und keinen Anteil tion, Erwerbsbiografie und Vermittlungshemmnisse am Aufschwung des Arbeitsmarktes der vergangenen werden durch diese Festprämie praktisch nicht berück- Monate hatte. Das ist schon ein Stück aus dem Tollhaus, sichtigt. Vermittlungsleistungen müssen zu Marktpreisen wenn uns der Arbeitsminister weiß machen will, dass es, angeboten werden können. wie er sagt: „gerade in raueren Zeiten sinnvoll sei, durch Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung Die Entrümpelung ist wichtig, damit unsere Beitrags- etwas zur Stärkung der Konjunktur zu tun“. Wir erleben und Steuermittel nur für effektive Maßnahmen ausgege- keine „raueren Zeiten“ – wir erleben den Crash des Fi- ben werden und die Arbeitsuchenden von diesen Maß- nanzsystems und seine Folgen. nahmen auch profitieren können. Darüber hinaus muss auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitarbeits- Doch zurück zum FDP-Antrag, da steht: „Arbeits- losen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Arbeits- marktpolitik ist nur dann effektiv und effizient, wenn es gemeinschaften beseitigt werden. Wir wollen, dass alle ihr gelingt, mit möglichst geringem Mitteleinsatz Ar- Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut und be- beitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst rasch zu be- raten werden, weil die Kommunen besser auf indivi- enden.“ Mit möglichst geringen Mitteleinsatz, egal in duelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt welchen Job. Die Menschen scheinen Ihnen gleichgültig reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von zu sein. vielen Optionskommunen unterstützt, die erfolgreich am Arbeitsmarkt agieren. Nur die Bundesregierung weigert Genau das hatten wir doch die ganze Zeit! Mit dem sich, die Leistung der Optionskommunen anzuerkennen. Ergebnis, dass die Hälfte des viel gepriesenen Auf- schwungs am Arbeitsmarkt durch prekäre Beschäfti- Kornelia Möller (DIE LINKE): Opel geht in Kurzar- gungsverhältnisse, Leiharbeit und Minijobs zustande beit, die Auftragslage in der Autozulieferindustrie ist kam. Und das ist der Weg zur weiteren Aushöhlung der dramatisch – und Sie, liebe FDP-Kollegen, wollen die Binnennachfrage. Nein, wir brauchen kein weiteres neo- Stellschraube für Erwerbslose noch anziehen. Wer jetzt liberales Kürzungsprogramm, dass die Bürgerinnen und bei der Arbeitsmarktpolitik einspart, hat keine Ahnung Bürger die Zeche zahlen lässt. Und es reicht auch nicht, davon was die Menschen in diesem Land brauchen. im Klein-Klein von Detailveränderungen zur bisherigen Arbeitsmarktpolitik stehen zu bleiben. Die gesamte Ar- Was heute Not tut, sind Ideen und Vorschläge, um den beitsmarktpolitik muss neu orientiert werden! Es braucht realwirtschaftlichen Auswirkungen der katastrophalen dazu eine einheitliche Organisation der Bundesagentur Finanzkrise entgegenzusteuern, die sich abzeichnet. für Arbeit, um eine einheitliche Arbeitsmarktpolitik mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19597

(A) gleichen Rechten und Pflichten für alle Erwerbslosen marktpolitik. Wir stehen für eine dezentrale, flexible und (C) durchsetzen zu können. passgenaue Unterstützung. Dafür brauchen wir nur we- nige Instrumente. Diese müssen aber auf den individuel- Es braucht dazu eine breitere Förderung voll sozial- len Fall zugeschnitten werden können – also viel mehr versicherungspflichtiger Beschäftigung. Es braucht dazu Gestaltungsspielraum bieten als heute. einen übersichtlichen Instrumentenkasten, der sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an Das alles wollen Sie angeblich auch, aber Ihr Entwurf kurzfristiger Gewinnmaximierung. Es braucht dazu qua- erfüllt diese Anforderung überhaupt nicht. Das kann ich litativ hochwertige Weiterbildungsangebote, statt billiger mit wenigen Beispielen zeigen. Weiterbildung von ausgebeuteten Weiterbildnern ange- boten. Und natürlich gehören 1-Euro-Jobs endlich abge- Sie bieten eine neue freie Förderung als Ersatz für die schafft. Und durch öffentlich geförderte Beschäftigung weiteren Leistungen an. Aber schon die Mittelausstat- ersetzt, wie Sie unserem Antrag entnehmen können. Es tung reicht nicht an den Bedarf heran: 130 Millionen ist ein Gebot der Stunde endlich die Regelsätze der jährlich wollen Sie zur Verfügung stellen, aber 2007 Grundsicherung anzuheben. wurde mehr als das Vierfache – rund 600 Millionen – ge- braucht. Sie erschweren die dringend erforderliche Zu- Ich fasse zusammen: Es braucht letztendlich eine gute sammenarbeit zum Beispiel mit der Jugendhilfe, weil Arbeitsmarktpolitik ohne die Stigmatisierung und die Sie das Vergaberecht zwingend vorschreiben wollen. Sie Einteilung von Erwerbslosen in zwei Klassen – weg von zerstören damit Schnittstellen zwischen den Hilfesyste- Hartz IV! men, anstatt sie zu fördern. Ihr Antrag geht an den berechtigten Bedürfnissen er- Das Vergaberecht soll auch im SGB III für alle Maß- werbsloser Menschen vorbei und er hält keinerlei Ange- nahmen zwingend werden. Die Erfahrungen zeigen aber, bote für die Menschen bereit, die in nächster Zeit ihre dass dadurch vor allem ein Preiswettbewerb entfacht Arbeitsplätze verlieren werden. wurde, der zulasten der Qualität der arbeitsmarkt- und Deshalb ist Ihr Antrag nicht auf der Höhe der Zeit, sozialpolitischen Maßnahmen gegangen ist und zu natürlich lehnen wir ihn ab. Lohndumping beim Lehrpersonal geführt hat. Sie wollen diese hochproblematische Praxis ausbauen, die Standard statt Flexibilität produziert hat. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur Neu- Über den Experimentiertopf kann nicht mehr die ein- ausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente be- zelne Arbeitsagentur entscheiden, das soll in Zukunft die schlossen. Über den reden wir aber hier nicht, sondern BA in Nürnberg machen. Das ist Zentralismus in Rein- wir müssen uns mit einem Platzhalter der FDP begnü- kultur. (B) gen. Der Hauptschulabschluss, über den Sie sich seit Mo- (D) Herr Minister Scholz, es ist gelinde gesagt eine Un- naten mit der Union gestritten haben, ist besonders är- verschämtheit, wie Sie die Menschen, denen die arbeits- gerlich. Denn das, was Sie jetzt im Angebot haben, marktpolitischen Instrumente helfen sollen und die mit wurde bisher einfach über die weiteren Leistungen ge- ihnen arbeiten sollen, hängen lassen. fördert. Stattdessen haben Sie ein zusätzliches durchre- guliertes Einzelinstrument geschaffen; Verschlankung Ab Januar 2009 soll Ihr Gesetz gelten und bis heute sieht anders aus, Flexibilität sowieso. liegt es dem Bundestag nicht offiziell vor. Es gibt aus al- len Ecken Kritik und erheblichen Nachbesserungsbe- Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen; mit darf, aber Sie stellen sich nicht der Auseinandersetzung. Ihren Vorschlägen sind Sie nicht zu bewältigen. Sie pre- Sie setzen offensichtlich auf eine kurze Beratung unter digen Handlungsfreiheit und Entbürokratisierung, aber Zeitdruck. So wollen Sie unangenehme Wahrheiten un- de facto setzen sie immer noch auf Durchgriff und Wei- ter den Tisch kehren. Denn sicher ist eins: Wenn Sie sung. Damit werden Sie Ihre selbstaufgestellten Ziele nicht im Frühjahr die weiteren Leistungen weitgehend – Vollbeschäftigung und die weltbeste Arbeitsvermitt- beschnitten hätten, hätten wir jetzt weniger Probleme lung – gewiss nicht erreichen. und hätten uns eine Menge Zeit und Ärger sparen kön- Wir werden erheblich nacharbeiten müssen. nen. Denn erst dadurch sind die Spielräume der ARGEn und Optionskommunen für passgenaue Hilfen erheblich Anlage 8 eingeschränkt worden. Leidtragende dessen sind vor allem Migranten, Jugendliche und Alleinerziehende; Zu Protokoll gegebene Reden häufig genug haben sie mit besonders schweren Vermitt- zur Beratung: lungshemmnissen zu kämpfen. Sie brauchen aber indi- viduelle Förderung und keins von den Massenpro- – Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung grammen, mit denen Sie und Ihre große Koalition den des Ausbaus der Höchstspannungsnetze Instrumentenkasten in den letzten Jahren aufgebläht ha- – Antrag: Stromnetze zukunftsfähig ausbauen ben. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatzpunkt 16) Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ist überfällig. Wir Grünen stehen für die Abkehr von ei- Marko Mühlstein (SPD): Noch nie waren wir so ner zentral gesteuerten und durchregulierten Arbeits- sehr auf elektrischen Strom angewiesen, wie in der heu- 19598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) tigen Zeit, dem 21. Jahrhundert. Oder anders: Der elek- des zweiten Teils des Integrierten Energie- und Klima- (C) trische Strom ist aus unserem täglichen Leben nicht programms. Bereits im Juni haben wir einen maßgebli- mehr wegzudenken. Die Stromleitungen, die zur Über- chen Teil des Energie- und Klimapakets umgesetzt. tragung benötigt werden, sind nicht nur für Unterneh- Trotz aller Unkenrufe der Opposition sind wir also auf men, sondern für unsere gesamte Gesellschaft zu Le- einem guten Weg, bis Ende des Jahres die Mitte 2007 in bensadern geworden. Für jeden Einzelnen von uns ist es Meseberg verabschiedeten Eckpunkte vollständig umzu- fast selbstverständlich Teil der Daseinsfürsorge. Den- setzen und damit konkrete Rahmenbedingungen für eine noch gibt es große Lücken und einen enormen Ausbau- erfolgreiche Energie-und Klimapolitik zu schaffen. bedarf des deutschen Stromnetzes. Grundlage für das Energieleitungsausbaugesetz, über Der weitere Ausbau der Stromnetze in der Bundesre- das wir heute reden, sind einerseits die ehrgeizigen Aus- publik Deutschland ist Kernelement zukunftsfähiger bauziele für erneuerbare Energien. Durch die im Juni Energiepolitik. Denn wir wollen erstens die erneuerba- hier beschlossene EEG-Novelle haben wir attraktive ren Energien zielstrebig weiter ausbauen. Zweitens brau- Rahmenbedingungen für einen Ausbau der Windkraft chen wir neue konventionelle Kraftwerke und drittens geschaffen. Dieser Ausbau wird vorrangig an küsten- streben wir einen europaweiten grenzüberschreitenden nahen Standorten in Nord- und Ostdeutschland sowie Stromhandel an. Ziel ist es, langfristig eine Kopplung offshore, also vor der Küste erfolgen. Hierbei handelt es der Strommärkte in der EU zu erreichen. sich jedoch in den wenigsten Fällen um die Gegenden, in denen der Strom – insbesondere von der energieintensi- Im vorliegenden Gesetzentwurf sind die vordringli- ven Industrie – auch benötigt wird. Die Energiever- chen Vorhaben beschrieben, die bereits 2005 von der brauchszentren liegen eher im Süden und Westen der Deutschen Energieagentur definiert wurden. Republik. Wir benötigen also entsprechende freie Kapa- Seitdem ist aus unterschiedlichen Gründen nicht ge- zitäten auf der Höchstspannungsebene, um den Nord- nügend passiert. Süd und Ost-West-Transit des Stroms auch tatsächlich gewährleisten zu können. Im Jahr 2007 wurden von den Übertragungsnetzbe- treibern 884 Millionen Euro in Netzinfrastruktur inves- Das derzeitige Netz, das in den vergangenen Jahr- tiert, das sind jedoch nicht mal 80 Prozent ihres eigenen zehnten im Wesentlichen von verbrauchsnaher Strom- Jahresziels. erzeugung geprägt war, ist darauf nicht vorbereitet. Die dena-Netzstudie hat 2005 – unter breiter Beteiligung von Der Notwendigkeit des schnellen Netzausbaus wird Energieversorgern, Netzbetreibern, den Verbänden der er- im Gesetz zur Beschleunigung des Höchstspannungsnet- neuerbaren Energien und der Wissenschaft – einen erheb- zes Rechnung getragen: (B) lichen Ausbaubedarf des Höchstspannungsnetzes zur (D) Denn es wird erstmalig einen Bedarfsplan geben. Wir Ableitung des prognostizierten Windstroms ermittelt: wollen, wie beim Infrastrukturplanungsbeschleuni- Bis 2015 müssen für die Integration von 20 Prozent erneu- gungsgesetz, den Rechtsweg auf eine Instanz reduzieren. erbarer Energien in das Verbundnetz 850 Kilometer Zudem wird für die Netzanbindung von Offshore-Wind- Höchstspannungsleitungen neu gebaut und weitere kraftanlagen ein Planfeststellungsverfahren eingeführt. 400 Kilometer verstärkt werden. Dieser ambitionierte Zeitplan scheint kaum mehr zu halten zu sein – und wir Ich wohne im Bundesland Sachsen-Anhalt. Ein Bun- haben gerade beschlossen, den Anteil erneuerbarer Ener- desland, in dem bereits heute über 20 Prozent des Stroms gien an der Stromerzeugung bis 2020 auf mindestens aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Gerade dort 30 Prozent auszubauen. werden die Chancen und Risiken des Netzausbaus auf verschiedenen Ebenen bereits heute sehr deutlich. Darüber hinaus werden im Rahmen der Erneuerung des überalterten Kraftwerksparks zunehmend konventio- Die Frage ist nicht wie, sondern ob uns der schnelle nelle Kraftwerke in Norddeutschland und insbesondere Ausbau gelingt. Ich plädiere dafür, die Frage der Erdver- an der Küste geplant und gebaut. Das hat schlicht damit kabelung unideologisch zu betrachten! In Wohn- oder zu tun, dass es günstiger ist, den Strom durchs Land zu Naturschutzgebieten sind Erdkabel aus meiner Sicht eine transportieren als den Brennstoff. Das gilt insbesondere sehr sinnvolle Alternative. Und weil die Erdkabel auf für Kohle. Die besten Kraftwerksstandorte liegen nun 110-kV-Ebene kostenseitig durchaus interessant sind, mal direkt an der Küste. Die von mir bereits erwähnten bin ich sehr für die Aufnahme der 110-kV-Ebene in den Probleme des Stromtransits werden dadurch noch ver- Gesetzentwurf. stärkt. Der Erfolg des Gesetzes ist wichtig für die Versor- Ich möchte in diesem Zusammenhang noch eine dritte gungssicherheit und die Stabilität des Stromnetzes. Der neue Aufgabe des Stromnetzes ansprechen, die in den Netzausbau ist eine energiepolitische Schlüsselfrage, vergangenen Jahrzehnten nur eine untergeordnete Rolle deshalb fordere ich alle Akteure, insbesondere die Ener- gespielt hat: Die Bereitstellung von Kapazitäten für ei- giekonzerne auf, sich konstruktiv an der wichtigen Auf- nen europaweiten Stromhandel und -transport. Neben gabe zu beteiligen. dem Ausbau der Kuppelkapazitäten erfordert die Schaf- fung eines einheitlichen europäischen Energiemarktes Engelbert Wistuba (SPD): Wir befassen uns heute einen Ausbau von Höchstspannungsleitungen, um den erster Lesung mit dem Gesetz zur Beschleunigung der Stromtransit ermöglichen zu können. Auf EU-Ebene Höchstspannungsnetze. Dies ist ein zentraler Baustein sind mit den transeuropäischen Elektrizitätsnetzen be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19599

(A) reits prioritäre Trassen identifiziert worden, deren Neu- setzte Technologie auch ausgereift ist. Ich plädiere daher (C) oder Ausbau für das Zusammenwachsen des europäi- für ein umfangreiches Monitoring der Pilotprojekte. Wir schen Strommarkts notwendig ist. Die Netzbetreiber ha- sollten in den Beratungen der kommenden Wochen vor- ben mit den Planungen für den Neu- und Ausbau zahlrei- urteilsfrei prüfen, ob der Einsatz von Erdkabeln den cher Höchstspannungsleitungen teilweise bereits vor technischen Anforderungen entspricht. Die Beschleuni- mehreren Jahren begonnen. Die Projekte kommen gung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze ist not- jedoch kaum voran, weil die Dauer der Genehmigungs- wendig. Lassen Sie uns den dafür notwendigen Rahmen verfahren in Deutschland zu nicht vorhersehbaren Ver- schaffen. zögerungen führt. Darauf hat nicht zuletzt die Bundes- netzagentur im Januar dieses Jahres im Rahmen einer Auswertung der Netzzustands- und Netzausbauberichte Anlage 9 der Übertragungsnetzbetreiber hingewiesen. Zusätzlich bilden sich zunehmend lokale Widerstände gegen Zu Protokoll gegebene Reden Höchstspannungs-Freileitungen. zur Beratung des Antrags: Bundesverant- wortung für den Steuervollzug wahrnehmen Wenn wir unsere ehrgeizigen energie- und klimapoli- (Tagesordnungspunkt 11) tischen Ziele erreichen wollen, dann müssen wir mit dem Netzausbau entscheidend vorankommen. Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein entscheidender und Antje Tillmann (CDU/CSU): Mit schöner Regelmä- dringend notwendiger Schritt auf diesem Weg. Ein we- ßigkeit bringt die Linkspartei Vorschläge zum Steuer- sentliches Element ist die Aufstellung eines Bedarfs- vollzug. Leider sind diese oft schlecht recherchiert und plans mit der Definition von Höchstspannungsleitungen häufig auch nicht auf dem aktuellen Stand. Dieser An- des vordringlichen Bedarfs, der alle fünf Jahre fortge- trag heute ist da aber wirklich ein „Highlight“: Die Vor- schrieben wird. Für diese Vorrangprojekte wird der würfe, die gegen Landes- und Bundesfinanzverwaltung Rechtsweg – in Analogie zum Infrastrukturplanungsbe- erhoben werden, sind entweder veraltet, falsch oder un- schleunigungsgesetz – auf das Bundesverwaltungsge- wahr. An einigen Stellen kommen dem Leser des An- richt als erste und letzte Instanz verkürzt. Weiterhin wird trags der Linkspartei ernste Zweifel, ob die Antragsteller für Leitungen zur Netzanbindung von Offshore-Wind- überhaupt der Diskussion um einen effizienteren Steuer- kraft ein Planfeststellungsverfahren eingeführt. Diese vollzug in der Föderalismuskommission gefolgt sind. Maßnahmen sind eine wesentliche Voraussetzung, um Der Beschlussantrag der Linksfraktion wird im We- die mit dem Gesetz angestrebte und notwendige Be- sentlichen mit Stellungnahmen und Gutachten begrün- schleunigungswirkung tatsächlich zu erreichen. det, die bereits vor der Föderalismusreform I liegen. (B) (D) Der zweite zentrale Punkt ist die Festlegung von vier So müssen wir uns tatsächlich mit einem Zitat des Pilotvorhaben, in denen der teilweise Einsatz von Erdka- BMF vom 11. Mai 2004 beschäftigen, wonach die Län- beln getestet werden soll. Dies ist sicherlich der umstrit- der in „Versuchung geraten, die Intensität der Steuerer- tenste Punkt des Gesetzes, um den auch zwischen den hebung an zweifelhaften standortpolitischen Interessen Ressorts heftig gerungen wurde. Die vier Pilotprojekte auszurichten“. Dabei haben die Kollegen der Linken sind so ausgewählt worden, dass sie die Trassenverläufe wohl die Föderalismuskommission I verschlafen. Der mit den größten lokalen Widerständen – beispielsweise BMF hat seitdem verstärkte Weisungsrechte gegenüber wegen der Querung von Natur- und Landschaftsschutz- den Landesfinanzverwaltungen. Zum Beispiel kann er gebieten oder besonders geringen Abständen zur Wohn- einen bundeseinheitlichen IT-Einsatz anweisen, einheit- bebauung – abbilden. Ich persönlich hege eine gewisse liche Verwaltungsgrundsätze und gemeinsame Vollzugs- Sympathie für den Einsatz von Erdkabeln. Bei Verab- ziele und Regelungen zur Zusammenarbeit festlegen, so- schiedung des Gesetzes sollten wir allerdings auch si- weit die Mehrzahl der Länder nicht widerspricht. Das cher sein, dass der Einsatz von Erdkabeln wirklich zur Bundeszentralamt für Steuern hat mehr Einfluss auf In- Beschleunigung des Verfahrens durch Abbau regionaler halte und Verfahren bei den Außenprüfungen bekom- Widerstände führt. Als Wirtschaftspolitiker sind mir die men. Außerdem wurden die Auskunftserteilung und die damit verbundenen Kosten natürlich nicht gleichgültig. Anzeigen in Steuerfragen verbessert. Ein zeitlicher oder technischer Mehrwert könnte diese Überholt ist auch der zitierte Bericht des Bundesrech- Investitionen rechtfertigen. Das setzt allerdings die tech- nungshofes vom 17. Oktober 2006. Die zugrunde liegen- nische Gleichwertigkeit von Freileitungen und Erdka- den Erhebungen konnten die Rechtsänderungen infolge beln voraus. Freileitungen sind seit Jahrzehnten bei der Föderalismusreform I noch gar nicht berücksichti- Höchstspannungsleitungen Stand der Technik. Bei Erd- gen, da sie erst am 11. September 2006 in Kraft getreten kabeln dagegen gibt es – bezogen auf die Nutzung als waren. Wechselstromleitung auf Höchstspannungsebene an Land – bisher nur wenige internationale Erfahrungen, Bereits mit der Föderalismusreform I wurde im Fi- auf die wir zurückgreifen können. Als Tourismuspoliti- nanzverwaltungsgesetz eine bessere Koordination der ker erlaube ich mir auch die Feststellung, dass Freilei- Steuerverwaltungen durchgesetzt. Nach § 20 Abs. 1 FVG tungen aus landschaftsgestalterischen Gründen nicht kann der BMF jetzt einen bundeseinheitlichen IT-Ein- überall wünschenswert sind. Bevor wir endgültig die satz anweisen, sofern nicht die Mehrzahl der Länder wi- Teilverkabelung von Höchstspannungstrassen mit Erd- derspricht. Gerade auf dem Feld der elektronischen Da- kabeln zulassen, sollten wir sicher sein, dass die einge- tenverarbeitung ist seit dem Rechnungshofbericht aus 19600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) dem Jahre 2006 Grundlegendes verändert worden. sollen? In den Bundeshaushalt zusätzliche Stellen ein- (C) Spricht man mit Praktikern der Finanzverwaltung von stellen, obwohl die Verwaltung bei den Ländern liegt? Bund und Ländern, merkt man sehr schnell, dass nach Das wäre sogar verfassungswidrig. Diese Kritik am Fehlschlägen mit dem System Fiskus das nun einver- BMF ist völlig daneben. nehmlich betriebene Konzept KONSENS ein Erfolg ist Zitat aus dem Antrag der Linkspartei: und Erweiterungen auch werden. Die Bundesregierung wird ihrer Verantwortung für Die elektronische Steuererklärung (ELSTER) mit einen gleichmäßigen Steuervollzug nicht gerecht. über 100 Millionen übermittelten Steuerfällen jährlich Sie hat nicht die Absicht, innerhalb der laufenden ist ebenso ein Beleg dafür. Gerade in den letzten beiden Legislaturperiode einheitliche Verwaltungsgrund- Jahren wurden weitere IT-Projekte in Angriff genom- sätze, gemeinsame Vollzugsziele oder Regelungen men, zum Beispiel die länderumfassende Namensab- zur Zusammenarbeit der Bundes- und Landes- frage, die insbesondere eine länderübergreifende Be- finanzbehörden zu bestimmen, beziehungsweise kämpfung des Umsatzsteuerbetrugs unterstützt. Ab dem allgemeine fachliche Anweisungen zu erteilen. Veranlagungszeitraum 2010 soll die Steuerfestsetzung von den Finanzämtern mit einer einheitlichen Software Diese Behauptungen sind so klar und nachweisbar erfolgen. unwahr, dass es den Antragstellern peinlich sein müsste: Ich könnte jetzt mindestens 20 Drucksachen aus der Auch die Koordination der sogenannten Außenprü- Kommission zitieren, in denen der BMF sich genau da- fungen zwischen den Landesfinanzverwaltungen und für eingesetzt hat. Wenn Sie Ihrer Verantwortung gerecht dem Bundeszentralamt für Steuern wurde verbessert. geworden wären und in der Föderalismuskommission II Die Länder haben die seinerzeit vom Bundesrechnungs- mitgearbeitet hätten, wüssten Sie das! Ich will nur die hof geäußerten Kritikpunkte aufgegriffen und ent- aktuellste Drucksache zitieren: wickeln derzeit Kriterien für ein bundeseinheitliches Risikomanagement bei Betriebsprüfungen. Nach Anga- Der Bericht der zuständigen AG hält fest: ben der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen das Im Hinblick auf das Thema „Effizienzsteigerung durchschnittliche Mehrergebnis pro geprüften Betrieb des Steuervollzugs“ sind folgende Punkte strittig: seit 2002 mehr als verdoppelt, von rund 57 000 DM auf BMF hatte vorgeschlagen, ein allgemeines fachli- rund 75 000 Euro im Jahre 2007. ches Weisungsrecht im Bereich der Auftragsver- Die Linkspartei begründet ihren Antrag wie folgt: waltung klarstellend in der Verfassung zu veran- „Laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember kern. 2007 haben Bundesländer ausdrücklich damit um Unter- (B) Bei Ihrer Forderung, „zum Konflikt mit den Bundes- (D) nehmen geworben, dass sie auf intensive Steuerprüfun- ländern überzugehen!“, macht sich nur noch blanke gen verzichten“. Tatsächlich steht in der FA Z unter die- Peinlichkeit über ihre Vorstellung von Verhandlungsfüh- sem Datum: rung breit. Die Berechnungen über Einsparungen, die durch Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- eine Zentralisierung der Steuerverwaltung zu erzie- rung auf, … len seien, beruhen auf der Annahme, dass einige Landesregierungen auf intensive Steuerprüfungen 4. parallel zu den Verhandlungen zur Steuerverwal- verzichten, um Wirtschaftsunternehmen zur An- tung in der Föderalismuskommission II die Mög- siedlung in ihrem Bundesland zu veranlassen. lichkeiten zu sondieren, auf gerichtlichem Wege ihr Weisungsrecht gegenüber den Ländern geltend zu Wer solche Behauptungen vorträgt, muss sie mit Be- machen und die Länder zu einem konsequenten weisen untermauern. Steuervollzug zu verpflichten. Dadurch stärkt die Bundesregierung auch ihre Position in den Ver- Einfach wird es nicht sein, solche Beweise zu finden. handlungen der Föderalismus-Kommission. Denn der Präsident des Bundesrechnungshofs hat in sei- nem Schreiben vom 19. Dezember 2007 (veröffentlicht Zeitgleich zu Verhandlungen Klage zu erheben, wird als Kommissionsdrucksache 110) geschrieben: bestimmt das Klima verbessern. Die Länder werden dann bestimmt zu Kompromissen bereit sein. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass niemand aus dem Kreise der Mitglieder des Bundesrechnungs- Angesichts der Tatsache, dass die Steuerverwaltung hofs den Vorwurf erhoben hat, die Länder würden Ländersache ist, Steuergesetze regelmäßig der Zustim- bewusst den Steuervollzug vernachlässigen. mung des Bundesrates bedürfen und für eine Grundge- setzänderung eine Zweidrittelmehrheit auch im Bundes- Die Antragsteller hätten Monate lang Zeit gehabt, die rat erforderlich ist, ergibt der Vorschlag wirklich keinen zitierte Kommissionsdrucksache zu verwerten. Sinn, außer dem, die Verwaltung im Chaos untergehen Dem Bundesfinanzminister vorzuwerfen, er habe auf zu lassen. die Forderung der Deutschen Steuergewerkschaft, Mit diesem Antrag wird erneut klar, dass es den Lin- 10 000 zusätzliche Stellen bei den Finanzämtern zu ken nicht um die Sache geht. Sie hat in der für die Ver- schaffen, „äußerst zurückhaltend reagiert“, zeigt, dass besserung des Steuervollzugs zuständigen Arbeitsgruppe die Linke von klarer Zuständigkeitsverteilung gar nichts der Föderalismuskommission II nichts beigetragen. hält. Wie hätte der Bundesfinanzminister denn reagieren Auch zu dem am 1. Oktober von dieser Arbeitsgruppe Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19601

(A) verteilten Bericht hat kein Kommissionsmitglied der Lydia Westrich (SPD): Es ist schon ein paar Jahre (C) Linkspartei Stellung genommen. her, dass die damalige Parlamentarische Staatssekretärin Uns ist an Effizienzsteigerungen der Steuerverwaltun- im Finanzministerium Barbara Hendricks hier im Ple- gen, gerade auch im Hinblick auf die Gleichmäßigkeit num die Errichtung einer Bundessteuerverwaltung ge- des Steuervollzugs, gelegen. fordert hat. Die Forcierung der Betrugsbekämpfung hat damals im Vordergrund gestanden. Aber es ging auch da Deshalb haben wir konkrete Vorschläge in die Föde- schon um den lückenhaften Steuervollzug in einigen ralismuskommission II eingebracht – übrigens auch Ländern. Diese Forderung wurde als Antrag auf eine viele andere. Bundessteuerverwaltung in die Föderalismuskommis- Wir haben uns daher in der für die Steuerverwaltung sion I eingebracht und natürlich von den meisten Län- zuständigen Arbeitsgruppe der Föderalismuskommis- dern abgelehnt. sion II dafür eingesetzt, dass die Themen Außenprüfun- gen, Controlling, Datenabgleich und Weisungsrechte Der unterschiedliche Steuervollzug in den Ländern ist einvernehmlich zwischen Bund und Ländern gelöst kein neues Problem. Der Bundesrechnungshof hat das wird. schon häufiger angemahnt. Etliche Bundesfinanzminis- Die Federführer der Arbeitsgruppe konnten einen ter haben sich mit mäßigem Erfolg daran versucht, auf Konsens erzielen über folgende Punkte: einen besseren Vollzug zu dringen. Aber der Antrag, die Finanzverwaltung in Bundesverantwortung zu überneh- Erstens: Den Ausbau der Mitwirkungsrechte des Bun- men, hat anscheinend doch durchschlagende Wirkung deszentralamts für Steuern bei Betriebsprüfungen. erzielt. Die Kienbaum-Studie mit der Empfehlung für Zitat aus AG2-Papier: eine Bundessteuerverwaltung als effizientester und er- tragreichster Möglichkeit hat ihr Übriges dazu getan. Schaffung der Befugnis für das Bundeszentralamt Wir kommen Schritt für Schritt einer effizienteren und für Steuern, Art und Umfang der Mitwirkung selbst bestimmen zu können. gleichmäßigeren Behandlung der Steuerangelegenhei- ten näher. Die Einräumung eines Zustimmungsvorbehalts, bei Abweichung von Betriebsprüfungsergebnissen. Deshalb, meine Damen und Herren von der Linken, Benennungsrechts des Bundeszentralamts für Steu- kommt Ihr Antrag jetzt zur Unzeit. Erstens hinken Sie ern für Steuerpflichtige, die geprüft werden sollen. damit einer längst eingetretenen Entwicklung hinterher, und zweitens ist es eben nicht so, wie Sie in Ihrer Be- Zweitens: Kontrolle der Vollzugsziele für die Steuer- gründung aufführen, dass nur eine umfassende Bestands- verwaltung anhand von vorgegebenen Leistungskenn- (B) aufnahme und deren Bewertung stattfindet. In der Beant- (D) zahlen. wortung Ihrer Kleinen Anfrage aus dem letzten Jahr sind Der BMF und die jeweilige Finanzbehörde des Lan- Ihnen die Fortschritte aus der damaligen Sicht schon des schließen bilaterale Vereinbarungen über Ziele und ausführlich dargelegt worden. Aber Sie greifen sich ja Leistungsparameter (Kennzahlen) ab. immer nur das heraus, was Sie sehen wollen. Drittens: Aufstockung der Prüfer beim Bundeszen- tralamt für Steuern um 500 Prüfer. Das Bundeszentralamt für Steuern erfüllt voll seine neuen Aufgaben und erhält weitere Planstellen. Im Fi- Viertens: Anonymisierte Datenübermittlung für Zwe- nanzverwaltungsgesetz wurde die Kompetenz des Bun- cke der Gesetzesfolgenabschätzung. des für den Steuervollzug erheblich gestärkt. Das heißt, Fünftens: Die Veranlagung von beschränkt Steuer- dass Ihre Forderungen zweitens und drittens quasi unnö- pflichtigen nach § 50 a EStG wird beim Bundeszentral- tig sind. Natürlich schöpft das Bundesfinanzministerium amt für Steuern zentralisiert, um Auslandssachverhalte seine Möglichkeiten aus, aber im Gegensatz zu Ihren einheitlich und flächendeckend zu betreiben. Forderungen ist das Ministerium weiter darauf bedacht, Diese Vorschläge sind abgestimmt mit dem BMF und die gemeinsame Einsicht und Zusammenarbeit zu beför- den beauftragten Landesministern und liegen der Föde- dern. Sie benutzen in Ihrem Antrag das Wort „konsen- ralismuskommission II vor. Wir haben uns auch auf kon- suell“ ja beinahe als Schimpfwort: Ich sage Ihnen als krete Gesetzesformulierungen verständigt, sodass einem ehemalige Finanzbeamtin, dass wir im Streit und Zwang erfolgreichen Gesetzgebungsverfahren nichts mehr im für unser gemeinsames Anliegen überhaupt nichts errei- Wege stehen sollte. chen. Das sieht man am Beispiel der gescheiterten Ak- Das, meine Damen und Herren von der Linkspartei, tion „Fiskus“. sind konkrete Vorschläge für Effizienzsteigerungen im Steuervollzug. Schade, dass Sie sich nicht in die Niede- Es gibt ein Gesamtinteresse, ja eine Gesamtverant- rungen der Sacharbeit in der Föderalismuskommission II wortung von Bund und Ländern, den Steuervollzug so begeben haben, sondern nur alte Phrasen dreschen. effektiv und effizient wie möglich durchzuführen. Und dieses Gesamtinteresse den Bürgern und Bürgerinnen Liebe Kollegen der Linken, Sie haben immer noch die gegenüber muss von den Partnern gleichwertig akzep- Chance, bei Föko II mitzuarbeiten Vielleicht sollten Sie tiert werden. Deshalb halte ich auch nichts davon, mit damit knapp zwei Jahre nach dem Start beginnen. gerichtlichen Entscheidungen zu drohen. Das kann die Ich bin sehr gespannt. Fronten eher verhärten. Nicht umsonst heißt das neue 19602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Datenvernetzungsprogramm „Konsens“, das tatsächlich Ich bin überzeugt, dass wir auch in der Föderalismus- (C) schon von der Mehrheit der Länder eingesetzt wird. kommission II ein gutes Stück mehr Verzahnung in den Ländern erreichen. Natürlich wäre es schön, das allge- Ich kann aber Ihre Ungeduld nachvollziehen. Wir ha- meine Weisungsrecht des Bundes rechtssicher zu haben. ben schon so viele Appelle an die Länder gerichtet, ihrer Aber die Keule der Drohung mit dem Bundesverfas- Verantwortung so nachzukommen, damit sich die Steu- sungsgericht ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht ange- erzahler auch gerecht behandelt fühlen. Das Anliegen, bracht. Damit begegnen wir weder der Personalnot noch das hinter Ihrem Antrag steckt, wird von den Koalitions- mangelnder technischer Ausstattung oder befördern die partnern schon seit langem vorangetrieben. Vor allem notwendige Zusammenarbeit unter den Verwaltungen. die SPD-Fraktion arbeitet daran, den Steuervollzug über- Was ich aber glaube, ist, dass wir schon den Druck auf all effektiv zu haben. die Länder aufrechterhalten müssen, um bei der Födera- lismuskommission II ein gutes Ergebnis zu erzielen, das Wenn Sie an Länderdaten kommen, werden Sie se- dem Gebot der gleichmäßigen Besteuerung Rechnung hen, dass SPD-regierte Länder längst reagiert haben. trägt. Daran können wir alle arbeiten, und dazu brauchen Trotz mangelnder Belohnung im Finanzausgleich haben wir keinen großen Konflikt. sie ihre Prüfungsdienste ausgebaut. Da darf ich ruhig mal das Beispiel Rheinland-Pfalz erwähnen. Spenden, Wenn ich in der Financial Times warnende Über- hat ein Unternehmer erklärt, gebe er nur in Baden- schriften lese wie: „Wenn der Fiskus öfter klingelt“ oder: Württemberg, weil sein Betrieb in Rheinland-Pfalz zu „Gutverdienende werden häufiger von Prüfern aufge- häufig geprüft werde. Das sei Spende genug. sucht“, dann haben die Mängelrüge des Bundesgerichts- hofes, die sich auf die Prüfung von Millionären bezog, Der Finanzausschuss hat vor mehr als zehn Jahren auf und der Druck des Ministeriums und Parlaments durch- Antrag der SPD-Fraktion eine dreitägige Anhörung zur aus Wirkung gezeigt. Deshalb bin ich auch ganz zuver- Lage in der Finanzverwaltung durchgeführt. Schon da- sichtlich, dass sich die Arbeitsgruppe von Bundestag mals hatte der Bundesrechnungshof den mangelhaften und Bundesrat mit ihren Vorschlägen zur Effizienzstei- Steuervollzug gerügt. Immerhin haben wir mit dieser gerung der Steuerverwaltung durchsetzen wird. Klimatagung damals erreicht, dass Finanzbeamte eigene Berufsbezeichnungen bekamen, die Aufwertung der Ihr Antrag „Bundesverantwortung für den Steuervoll- Ausbildung als Fachhochschulstudium war dabei und zug wahrnehmen“ kommt nicht nur zur Unzeit, er ist die schnellere Ausstattung der Arbeitsplätze mit Hard- auch falsch und überflüssig. Er impliziert, dass der Bund ware. Die Länder waren schon etwas beeindruckt und genau das bisher nicht tut. Aber Sie selbst wissen, dass wollten nicht unbedingt öffentlich vorgeführt werden. eine ganze Menge passiert ist, das ja auch erst Wirkung (B) erzielen muss. Es ist auch ungerecht den Ländern gegen- (D) Das ist natürlich schon viele Jahre her. Die Steuerge- über, die ihre Verantwortung in hohem Maße wahrneh- setze sind seither noch komplizierter geworden. Die men. Fluchttechniken aus der Steuerzahlung sind durch die neuen Medien noch raffinierter. Neue Erscheinungen Wir werden diesen unnötigen Antrag ablehnen. Das wie der Karussellbetrug bei der Umsatzsteuer müssen Anliegen, Steuergerechtigkeit in ganz Deutschland zu analysiert und bekämpft werden. Es ist ein Riesenpaket, haben und den Steuervollzug überall gleichmäßig durch- das auf den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fi- zuführen, wird von den Koalitionsfraktionen und dem nanzverwaltung lastet. Viele sind frustriert, weil sie den Bundesfinanzministerium weiter als Daueraufgabe vor- Steuervollzug ihrer Meinung nach nicht so durchsetzen angetrieben. können, wie sie es gelernt haben. Die Masse an Fällen für den Einzelnen ließe eine gründliche Bearbeitung Dr. Volker Wissing (FDP): Dass die Linke eher kaum noch zu. Da muss die Steuergerechtigkeit automa- zum Zentralismus neigt, ist so neu ja nicht. Vom Zentral- tisch leiden. Es ist sicher übertrieben, innerhalb von komitee zum Zentralstaat ist es ja nur ein kleiner Weg. Deutschland von „Steueroasen“ zu reden. Aber die For- Dabei gibt es sehr viele positive Aspekte des Föderalis- derung, die Finanzverwaltung in Bundeshand zu geben, mus. Ein ganz wesentlicher ist zum Beispiel, dass die kommt auch nicht von ungefähr. schlechte Politik einer großen Koalition von einer besse- ren Politik in den Ländern aufgefangen werden kann. Wir sind den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel irgendwann verpflichtet, zuerst einmal die Steuern hereinzuholen, einmal angekündigte große Durchregieren ist jedenfalls die angefallen sind. Das verfassungsgemäße Gebot, Bür- ausgeblieben. Im Gegenteil: Frau Merkel beschäftigt ger nach ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung sich heute viel lieber mit Durchlavieren als mit Durchre- der Staatsaufgaben zu beteiligen, darf nicht durchlöchert gieren. werden; da sind wir uns alle einig. Es geht um den Weg, wie wir dieser Daueraufgabe gemeinsam gerecht wer- Unabhängig von Frau Merkels Moderationsfähigkei- den. Da brauchen wir nicht zu verstecken, dass wir auch ten hat sich der Föderalismus in Deutschland bewährt. Erfolge zu verzeichnen haben. Von der bundesweiten Er steht für starke Länder und für die Vielfalt der Regio- Identifikationsnummer über die elektronische Steuerer- nen. Ein Bereich, in dem regionale Vielfalt aber definitiv klärung bis zum Verwaltungsabkommen KONSENS ha- fehl am Platze ist, ist die Steuerverwaltung. Eine bundes- ben wir gerade in letzter Zeit langjährige Forderungen einheitliche Steuerverwaltung ist ganz wesentlich für ei- der Steuer-Gewerkschaft erfüllt. Das erleichtert die Ar- nen funktionierenden Wettbewerb. Und sie ist eine beit der Finanzverwaltungen. Grundvoraussetzung für Steuergerechtigkeit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19603

(A) Die FDP ist für ihre Forderung nach mehr Steuerauto- und rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden müssen, (C) nomie für die Länder scharf kritisiert worden. Aber was damit in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders besteu- passiert denn zurzeit? Im Moment haben wir doch das ert wird wie in Bayern. Phänomen, dass großzügige Erlassmaßnahmen und laxe Prüfungspraktiken auf bestem Wege sind, zu einem Die FDP fordert deshalb eine bundeseinheitliche Standortfaktor zu werden. Ich bin gespannt, wie lange es Steuerverwaltung. Wichtig ist nicht die Macht-, sondern noch dauern wird, bis das erste Bundesland plakatiert: die Vollzugsfrage. Es ist egal, ob die Steuerverwaltungen Wir können alles, außer prüfen. dem Bund oder den Ländern unterstehen, wichtig ist ein- zig und allein, dass überall gleiches Recht für alle gilt, Dabei sind es nicht die Baden-Württemberger, die be- und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz konkret sonders großzügig mit den gemeinsam verwalteten Steu- bei der Umsetzung. ern umgehen. Berlin lässt sich in puncto Großzügigkeit nur ungern übertrumpfen. Bei Herrn Sarrazin können sich vielleicht die Arbeitslosengeld-II-Empfänger warm Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Die Steuergesetze anziehen, säumigen Steuerzahlern bereitet er hingegen gelten für alle gleichermaßen. Das verlangt der Gleich- ein kuschelig-warmes Umfeld. Bei der veranlagten Ein- heitsgrundsatz der Verfassung. Er ist unvereinbar damit, kommensteuer hat Herr Sarrazin im Jahr 2005 mal eben dass Finanzämter „Durchwinktage“ einrichten oder er- auf 2,5 Millionen Euro verzichtet. Bayern hat nur wägen, um Einkommensmillionäre nicht mehr zu über- 2,4 Millionen Euro sausen lassen. Aber der rot-rote Se- prüfen, unvereinbar damit, dass Bundesländer Sonder- nat in Berlin kann es sich eben leisten. prüfungen „herunterfahren“, dass Steuerverwaltungen zu nachlässigem Steuervollzug angewiesen werden, ja, dass Wie sehr nicht nur die Steuerprüfung, sondern auch Bundesländer sogar damit um Unternehmen werben, die -erhebung zu einem Standortfaktor geworden ist, dass sie auf intensive Steuerprüfungen verzichten. verdeutlicht der große Widerstand gegen die vom Bun- desfinanzminister lange geforderte Bundessteuerverwal- Solche Fälle sind allseits bekannt. Der Bundesrech- tung. Wobei die von den Ländern vertretene Argumenta- nungshof stellt seit Jahren regelmäßig fest, dass der tion, dass eine Übertragung der Steuerverwaltung auf Gleichheitsgrundsatz durch laxen Steuervollzug durch den Bund die Länder zu Zuwendungsempfängern des die Bundesländer verletzt wird. Das Bundesfinanzminis- Bundes machen würde, alles andere als einleuchtend ist. terium teilt mit, dass die Gefahr einer zweifelhaften Auf der einen Seite fürchten viele Länder mehr Finanz- Standortpolitik der Bundesländer, zum Beispiel über die autonomie wie der Teufel das Weihwasser, auf der Prüffrequenz, nicht von der Hand zu weisen ist. anderen Seite wird die Steuerverwaltung zu einem be- (B) sonderen Element der Eigenstaatlichkeit der Länder auf- Hier steht also seit Jahren der Vorwurf im Raum, dass (D) gebauscht. Daher geht es hier weniger um Hoheits- und die Bundesländer vorsätzlich die Verfassung brechen, Machtfragen, als vielmehr um Steuergerechtigkeit und um im Standortwettbewerb Vorteile zu erlangen. Das fairen Wettbewerb. Eine lockere Finanzverwaltung darf kann das Parlament nicht dulden. Es kann nicht hinneh- nicht zu einem Wettbewerbsvorteil werden. men, dass sich die Exekutive weigert, die Gesetze durch- zusetzen, die vom Parlament erlassen wurden. Wer sagt, dies sei auch gar nicht der Fall, muss sich eines Besseren belehren lassen. Der Fall der Unterneh- Die Bundesregierung hat die Letztverantwortung für mensgruppe Drinks & Food ist hier geradezu exempla- den Gesetzesvollzug. Sie wird dieser Verantwortung risch. Dies Unternehmen finanzierte seine ruinöse Wett- nicht gerecht. Es reicht nicht, regelmäßig die Pflichtver- bewerbspolitik ganz wesentlich über die konsequente letzung durch die Bundesländer festzustellen. Die Bun- Nichtbegleichung der Branntweinsteuer. Als das Haupt- desregierung ist in der Pflicht, ihre rechtlichen Möglich- zollamt endlich eingriff, beliefen sich die Steuerschulden keiten zu nutzen. Der Bund verfügt über das konkrete auf 72 Millionen Euro. Die Verbindlichkeiten machten Weisungsrecht. Er kann ein Land anweisen, nur speziell sage und schreibe 82 Prozent der Bilanzsumme aus. Es ausgebildete Mitarbeiter mit einem bestimmten Ver- ist ehrenwert, dass die Politik um jeden Arbeitsplatz fahren zu befassen. Bei unzureichender Prüfhäufigkeit kämpft, aber das darf nicht dazu führen, dass ein unehrli- und -intensität durch die Bundesländer ist er zum Ein- ches Unternehmen einen Vorteil gegenüber einem ehrli- schreiten verpflichtet. Der Bund kann spätestens seit der chen hat. Föderalismusreform I einheitliche Verwaltungsgrund- Es ist mehr als schade, dass der Bundesminister der sätze, gemeinsame Vollzugsziele und Regelungen be- Finanzen mit seiner Maximalforderung nach einer Bun- stimmen und allgemeine fachliche Anweisungen ertei- dessteuerverwaltung so viel politisches Porzellan zer- len. Diese sind für die Bundesländer bindend, solange schlagen hat. Der Sache ist auf jeden Fall nicht gedient, die Mehrheit der Länder nicht widerspricht. Sollten ein- wenn der Bundesfinanzminister zwar dick die Backen zelne Länder hiergegen verstoßen, muss die Bundesre- aufbläst, ihm dann aber schon auf dem ersten Meter die gierung bereit sein, ihre Zuständigkeit vom Bundesver- Luft ausgeht. Manchmal ist weniger auch mehr; dies gilt fassungsgericht klären zu lassen, ähnlich wie dies im gerade auch für politische Forderungen. Ich würde es be- Kompetenzstreit beim Atomrecht der Fall war. Dies er- grüßen, wenn die Bundesregierung zunächst einmal die fordert die Bereitschaft, von der pauschalen Konsensori- ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Weisungsrechte entierung zum Konflikt mit den Bundesländern überzu- nutzt, um einen einheitlichen Steuervollzug zu gewähr- gehen. Dies ist bei einem anhaltenden Verstoß gegen den leisten. Erst dann ist absehbar, welche institutionellen Gleichheitsgrundsatz angemessen. 19604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Das Parlament hat diese Möglichkeiten nicht. Der liche Steuerbelastungen nach dem Gutdünken der Län- (C) Bundestag ist aber der Gesetzgeber, dessen Gesetze derfinanzminister verletzen den Gleichbehandlungs- nicht konsequent vollzogen werden. Im Ergebnis sind grundsatz und zu Recht das Gerechtigkeitsgefühl der diejenigen die Dummen, denen die Steuer direkt vom Steuerpflichtigen. Wenn eine gerechte Besteuerung nicht Lohn abgezogen wird. Es bleibt dem Parlament daher mehr gewährleistet ist, dann wird der Föderalismus zum nur, die Bundesregierung zum Handeln aufzufordern – Totengräber der Steuergerechtigkeit. Gleichmäßige Be- oder eine andere Regierung zu wählen. steuerung ist eine Bringschuld der Steuerverwaltung! Mehr Koordinierung bei der Steuererhebung macht fi- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es nanziell Sinn. Laut dem Kienbaum-Gutachten für das ist ein offenes Geheimnis, dass die Länderfinanzverwal- Bundesfinanzministerium könnte eine bessere Steuer- tungen zwischen Mecklenburg und Bayern bei der Be- verwaltung von Bund und Ländern zwischen 5,8 und steuerung mit unterschiedlichem Maß messen, zum Bei- 11,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen im Jahr spiel beim Prüfungsturnus, durch Stundungen oder einspielen, zum Nutzen aller steuerzahlenden Bürgerin- Erlass von Steuern. Der Prüfungsturnus von Großbetrie- nen und Bürger. ben lag zwischen 3,5 und 5,4 Jahren (2005). Mittelbe- triebe werden bestenfalls alle 9,9, im schlechtesten Fall alle 18,4 Jahre geprüft. Bei der Umsatzsteuersonderprü- Anlage 10 fung werden im besten Fall 2,5 Prozent der Unterneh- men geprüft, der schlechteste Wert lag bei 1,3 Prozent. Zu Protokoll gegebene Rede Das sind Zahlen der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur das Bundesfinanzministerium rückt sie nämlich nicht Änderung des Gesetzes über die Überführung raus; das ist auch so ein Skandal, aber dazu später. Das der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Ge- ist Wirtschaftspolitik zulasten des Steuerzahlers. Von ei- sellschaft mit beschränkter Haftung in private ner Gleichmäßigkeit der Besteuerung kann gar keine Hand (Tagesordnungspunkt 12) Rede sein. Die Grünen, aber auch der Bundesrechnungs- hof haben diese Missstände schon seit Jahren kritisiert – Paul K. Friedhoff (FDP): Sie werden mir sicherlich substanziell geändert hat sich nichts! zustimmen, wenn ich feststelle, dass Bundesländer keine Autohersteller sind. Sie sollten dies aus guten Gründen Die neuen Weisungsrechte des Bundes gegenüber den auch nicht sein. Wenn ein Bundesland trotzdem meinen Ländern aus der Förderalismuskommission Episode I sollte, einflussreicher Aktionär bei einem Automobilun- sind ein stumpfes Schwert. Sie nutzen dem Bund nicht, ternehmen sein zu müssen, so kann es ein Viertel der (D) (B) wenn die Mehrheit der Länder widerspricht, und die Aktien kaufen, um eine Sperrminorität zu erlangen. Es Länder widersprechen logischer Weise, wenn der Bund sollte aber keine systemwidrigen Sonderregelungen wie versucht, die Besteuerungspraxis anzugleichen. das VW-Gesetz in Anspruch nehmen können, die ihm Die Föderalismusreform II müsste hier nachbessern. als staatlichem Aktionär Einflussnahme schon bei einem Die vom Bundesfinanzministerium gewünschte Bundes- niedrigeren Aktienanteil garantieren. steuerverwaltung wird aber von der Mehrheit der Länder Eine solche systemwidrige Sonderregelung enthält weiterhin abgelehnt. Diese sind allenfalls zu kleineren aber das VW-Gesetz. Dieses auf ein einzelnes Unterneh- Zugeständnissen bereit. Um aus dieser Pattsituation he- men bezogene Gesetz von 1960 privilegiert einen ein- rauszukommen, schlagen die Grünen vor, dass die Län- zigen Aktionär, in diesem Fall das Land Niedersachsen. der von einem Mehrertrag aus Betriebsprüfung und Das Gesetz hält im Ergebnis potenzielle Investoren da- Steuerfahndung stärker profitieren. Damit hätten sie ei- von ab, Anteile zu kaufen, um Einfluss zu gewinnen, da nen Anreiz, beispielsweise ihre Personaldecke zu stär- der Anteilskauf durch die feste Stellung des Sonderak- ken; denn eine Betriebsprüferin/ein Betriebsprüfer tionärs weniger attraktiv erscheint. brachte 2007 1,2 Millionen Euro Mehrertrag. Und wir brauchen mehr Transparenz über die unterschiedliche Die europäische Rechtsprechung kritisiert vor allem Besteuerungspraxis. Es ist ein politischer Skandal, dass drei kritische Punkte im derzeitigen VW-Gesetz: Das die Bundesregierung länderspezifische Werte verheim- Entsenderecht erlaubt es sowohl dem Bund als auch dem licht, obwohl die Daten vorliegen und dies die unge- Land Niedersachsen, jeweils zwei Vertreter in den VW- rechte Besteuerungspraxis damit schützt. Aufsichtsrat zu entsenden, sobald Bund oder Land min- destens zwei Aktien besitzen. Die Stimmrechtsbeschrän- Auf meine Anfragen nach dem Prüfungsturnus in den kung verbietet es einem Aktionär unabhängig von sei- Bundesländern bekam ich nur die lakonische Antwort, nem tatsächlichen Kapitalanteil, mehr als 20 Prozent der es sei „ständige Praxis des Bundesfinanzministeriums, Gesamtstimmrechte auszuüben. Die Regelung zur ge- nur Daten der Steuerverwaltung weiterzugeben, die das minderten Sperrminorität erlaubt es einem Aktionär, Sat- gesamte Bundesgebiet betreffen“. Diese Verschleie- zungsänderungen bereits mit einem Kapitalanteil von rungstaktik ist für die Bürgerinnen und Bürger völlig in- 20 Prozent statt der im deutschen Aktienrecht üblichen akzeptabel. So geht es nicht, und so darf es nicht bleiben. 25 Prozent zu blockieren. Die Akzeptanz des Steuersystems durch die Bürgerin- Die Kombination dieser Regelungen im geltenden nen, Bürger und Unternehmen hängt ganz entscheidend VW-Gesetz führt dazu, dass Grundsatzentscheidungen davon ab, dass gleichmäßig besteuert wird. Unterschied- ohne die Stimmen des Landes Niedersachsen nicht mög- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19605

(A) lich sind und der Staatseinfluss fixiert ist. Die Privilegie- tektionistischen Tendenzen in ihrer Industriepolitik wie (C) rung des staatlichen Aktionärs gegenüber den übrigen Frankreich, wo häufig auch deutsche Mittelständler dis- privaten beschränkt die Kapitalverkehrsfreiheit und ist kriminiert werden, dürften sich durch eine Beibehaltung als Investitionshürde mit dem Europäischen Gemein- des VW-Gesetzes bestätigt sehen. schaftsrecht nicht vereinbar. Diese Kapitalverkehrsbe- schränkung ist auch nicht etwa zur Sicherung des Allge- Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich dafür einset- meinwohls notwendig, wie oft behauptet. Die von der zen, dass bei Volkswagen in Zukunft das Verhältnis zwi- Bundesregierung dafür angeführten sozialpolitischen schen Kapitalanteil und Kontrolle wieder proportional oder gar industriepolitischen Gründe reichen nicht aus. und europarechtskonform nach dem Prinzip „Eine Aktie, Auch ein Schutz vor feindlichen Übernahmen kann eine Stimme“ ausgestaltet wird. Wir streiten für die keine Rechtfertigung dafür bieten, VW nicht als norma- Rückkehr zu den Regeln der sozialen Marktwirtschaft les Unternehmen zu behandeln. Dies hat der EuGH im Prozess um das VW-Gesetz. Einen Dauerstreit der mehrfach deutlich gemacht. Bundesjustizministerin mit der EU-Kommission auf Kosten der Steuerzahler gilt es zu vermeiden. Die Bundesregierung meint dennoch, die Auffassung des Europäischen Gerichtshofes beharrlich ignorieren zu können. Die Justizministerin probiert einfach weiter am Anlage 11 Gesetz herum, ohne eine klare Lösung zu schaffen. Der EuGH wird das VW-Gesetz aber zu Recht erst akzeptie- Zu Protokoll gegebene Reden ren, wenn seine Kritikpunkte ausgeräumt sind. Die Bun- zur Beratung der Beschlussempfehlung zu den desregierung wird dies wissen. Dennoch ist sie nicht Anträgen: lernwillig, sondern provoziert ein Vertragsverletzungs- verfahren nach dem nächsten. Es kann und darf jedoch – Die Eingliederungshilfe für Menschen mit nicht sein, dass die deutschen Steuerzahler am Ende von Behinderungen weiterentwickeln Brüssel verhängte Strafgelder bezahlen müssen, nur weil – Gesetz zum Ausgleich behinderungsbeding- die Bundesregierung dem Land Niedersachsen eine eu- ter Nachteile vorlegen (Nachteilsausgleichs- roparechtswidrige Sonderrolle länger sichern will. gesetz – NAG) Nach Ansicht der FDP sind Vetorechte für den Staat – Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär- bei einem im Wettbewerb stehenden Unternehmen nicht ken – Wahlfreiheit und Selbstbestimmung nötig. Wenn in Unternehmenspolitik vom Staat hineinre- der Menschen mit Behinderung erhöhen giert werden kann, so ist dies für das Unternehmen kei- (B) nesfalls förderlich. Hat ein Aktionär Sonderrechte, so (Tagesordnungspunkt 13) (D) liegt in dieser Begünstigung klar die Gefahr, dass er sie im Eigeninteresse und zulasten der „normalen Aktio- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Wir debattieren heute näre“ ausnutzt. Ein Wegfall von Sonderrechten und die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der „Goldenen Aktien“ ist daher zur Stärkung der Hauptver- FDP-Fraktion sowie über einen Antrag der Fraktion Die sammlung als legitimem Eigentümergremium geboten. Linke. Alle Anträge befassen sich in unterschiedlicher Weise mit der Zukunft und der Weiterentwicklung der Ein besonderer gesetzlicher Schutzwall ist nach unse- Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. rer Meinung für das Unternehmen Volkswagen nicht nö- Ich will nicht verhehlen, dass ich für alle Anträge Sym- tig. Der Schutz der Eigentümerinteressen wird ebenso pathien habe. wie die Durchsetzung der Hauptversammlungsbe- schlüsse durch Aktiengesetz und Handelsgesetzbuch für Eines vorweg: Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion VW – wie für alle anderen Aktiengesellschaften – ge- ist es ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe währleistet. Das Beibehalten eines Einzelfallgesetzes ist weiterzuentwickeln. Auch wir sehen Reformbedarf, um unnötig. Nötig dagegen ist, die Volkswagen-Aktienge- eine moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik sellschaft als ein normales Unternehmen zu betrachten. weiterhin zu ermöglichen. Ich glaube, in diesem Punkt Da Volkswagen nicht gleicher oder ungleicher ist als an- sind wir uns fraktionsübergreifend einig. Um jedoch dere Autobauer, muss der Staatseinfluss konsequent zu- dem Anspruch gerecht zu werden, die Eingliederungs- rückgefahren werden. Die Verfechter einer starken Be- hilfe vor allem zukunftsfest und krisensicher zu gestal- teiligung der öffentlichen Hand an diesem Unternehmen ten, braucht es konkretere Veränderungen im SGB XII sollten bedenken, dass das VW-Gesetz früher einmal und anderen Gesetzen als die in den vorliegenden Anträ- „VW-Privatisierungsgesetz“ genannt wurde. gen vorgeschlagenen. Die Volkswagen AG muss in diesem Zusammenhang Bereits bei der ersten Lesung des Antrages der Grü- auch keine Angst vor dem Einstieg beispielsweise von nen habe ich deutlich gemacht, dass ich mit den Grund- Porsche haben. Wenn bei VW zwölfmal so viel Men- ideen weitgehend übereinstimme. Allerdings ist der An- schen wie bei Porsche arbeiten, aber nur sechsmal so trag an zentralen Stellen nicht zu Ende gedacht, nicht viel Autos bauen, zeigt dies, dass für Effizienzsteigerun- realisierbar bzw. in einigen Punkten auch falsch. Dies gen bei VW durchaus noch Raum ist. Wenn die Bundes- gilt insbesondere für die Kernforderung nach dem soge- regierung im Fall Volkswagen auf Protektionismus setzt, nannten Teilhabegeld. Wenn man diese Leistung, so wie so torpediert sie damit vor allem die Förderung des von Ihnen vorgeschlagen, kostenneutral umsetzen europäischen Binnenmarktes. Mitgliedsländer mit pro- würde, so würde dies für die meisten Menschen mit Be- 19606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) hinderungen, die heute Leistungen erhalten, bedeuten, nen nicht ausgeführt wird, wie die Kosten hierfür ge- (C) dass sie Einbußen in Kauf nehmen müssten. Sie müssen deckt werden sollen. dann aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, so ehrlich sein und das Es ist schon verwunderlich, dass die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag neue Leistungen fordert, aber den Betroffenen sagen. Unter dem Gesichtspunkt der dort, wo sie in der Regierungsverantwortung ist, Leis- Praktikabilität halte ich es für fraglich, ob länderspezifi- tungen für behinderte Menschen kürzt und einspart. So sche Nachteilsausgleiche, zum Beispiel das Blindengeld, wurden in Berlin beispielsweise unter einer rot-roten in ein solches Bundesgesetz – wie das Teilhabegeld – Koalition nicht nur das Blindengeld gekürzt, sondern mit einbezogen werden könnten. auch Einsparungen im Bereich der Behindertenfahr- Sie fordern in Ihrem Antrag eine konsequentere dienste, Mobilitätshilfen und Wohlfahrtsverbände vorge- Steuerung des Zugangs zu den Werkstätten für behin- nommen. derte Menschen. Dass im Bereich der Steuerung der Zu- Noch ein paar Sätze zum Antrag der FDP-Fraktion gänge in die Werkstätten Handlungsbedarf besteht, sehe und den darin enthaltenen – vier Sätze umfassenden – ich auch. Aus diesem Grund wird heute noch der Gesetz- Forderungen. Die FDP will mehr Wettbewerb zwischen entwurf zur Unterstützten Beschäftigung eingebracht. Erbringern von Leistungen der Eingliederungshilfe. Mit dem Instrument der Unterstützten Beschäftigung Auch die Union ist dafür, mehr Wettbewerb in diesem wollen wir insbesondere jungen Menschen zu einem Ar- Bereich zu schaffen. Das gilt auch für den Bereich der beitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt verhelfen, die Teilhabe am Arbeitsleben. Hier gibt es bereits gute An- zurzeit nur die Möglichkeit haben, in einer Werkstatt für sätze, beispielsweise in Niedersachsen mit dem Persönli- behinderte Menschen zu arbeiten. Dies ist sicherlich nur chen Budget für Werkstattleistungen. Aber: Bei all dem ein Mosaikstein, um Alternativen zu schaffen, aber es ist Veränderungsbedarf, den wir im Bereich der Leistungs- eben viel schwieriger, konkret ein Gesetz zu formulie- anbieter ebenfalls sehen, muss darauf geachtet werden, ren, als hehre Grundsätze zu bekräftigen. dass die Strukturen, die sich bewährt haben, erhalten bleiben. Wettbewerb darf nicht zulasten der Qualität der In diesem Zusammenhang ist es eine allgemein be- Leistungen gehen. kannte Tatsache, dass es unter der rot-grünen Bundesre- gierung den mit Abstand höchsten Zuwachs in Werkstät- Solange die FDP nicht sagt, wie sie ihre Ideen umset- ten für behinderte Menschen gab. Im Jahre 2002 gab es zen will – und das tut sie in ihrem Antrag nicht –, ist der einen Rekordzuwachs mit über 25 000 zusätzlichen Antrag für uns nicht zustimmungsfähig. Werkstattplätzen. Dieser Zuwachs war mehr als dreimal Die Reform der Eingliederungshilfe für Menschen so hoch wie im Jahr zuvor und danach. Die außerge- mit Behinderung ist ein äußerst schwieriges Vorhaben. (B) wöhnlich starken Zuwächse fielen genau in die Zeit der (D) In manchen Bereichen sind wir schon auf dem richtigen rot-grünen Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehin- Weg, beispielsweise mit der oben genannten Unterstütz- derte“. Sie hatten damals versprochen, die Zahl der ar- ten Beschäftigung. Diese eröffnet die Chance auf einen beitslosen Schwerbehinderten um 50 000 bis zum Okto- regulären Arbeitsplatz, sodass die Eingliederungshilfe ber 2002 zu senken. Es stellte sich nur die Frage, wohin im Arbeitsbereich der Werkstätten nicht greifen muss. diese fast 50 000 weniger Arbeitslosen „entschwunden“ waren. Ob hier zwischen der gesunkenen Zahl an ar- Kürzlich hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein beitslosen schwerbehinderten Menschen und dem außer- Fachgespräch zur Unterbringung von behinderten Kin- gewöhnlichen Zuwachs in Werkstätten im Jahre 2002 dern in Pflegefamilien veranstaltet. Wir waren uns einig, ein Zusammenhang bestehen könnte, kann jeder für sich dass Kinder mit Behinderungen, die nicht in ihren Her- selbst beantworten. kunftsfamilien verbleiben können, die Chance bekom- men, in einer Pflegefamilie anstatt in einem Heim zu le- Auch will ich darauf hinweisen, dass Sie zu Ihrer Re- ben. Deswegen wollen wir gesetzliche Klarstellungen, gierungszeit gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion um dies zu ermöglichen. den Heimbewohnern ab 1. Januar 2005 den Zusatzbarbe- trag in Höhe von bis zu 44 Euro gestrichen haben. Das Sicher ist: Wir brauchen eine umfassende Reform der hat zur Folge, dass gerade alte Menschen in Heimen, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. auch wenn sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, Bei all unseren Forderungen und Verbesserungsvor- ein deutlich geringeres Taschengeld pro Monat bekom- schlägen sind wir aber auch auf die Unterstützung der men als vor der Streichung des Zusatzbarbetrages. Länder angewiesen. Denn: Die Länder tragen in erster Linie die Kosten für Eingliederungshilfeleistungen. Der Antrag der Fraktion Die Linke klingt wie ein Wichtigster Grundsatz bei einer Reform der Einglie- Wunschkatalog. Mit dem Antrag wird die Bundesregie- derungshilfe ist, dass der Mensch mit Behinderung in rung aufgefordert, ein Nachteilsausgleichgesetz für den Mittelpunkt gerückt wird. Die Betroffenen müssen Menschen mit Behinderungen vorzulegen. Zwei Anmer- selber entscheiden können, wo sie wohnen und arbeiten kungen drängen sich mir auf, wenn ich mir den Antrag wollen. Leistungen müssen dem Menschen mit Behinde- durchlese. Zum einen: Die Fraktion Die Linke legt kei- rung folgen und nicht der Mensch den Leistungen. nen eigenen Gesetzentwurf vor, sondern fordert die Bun- desregierung auf, ein Gesetz vorzulegen. Zu den Grün- Ich bitte Sie alle: Schaffen wir nicht noch mehr Büro- den schweigt sie sich aus. Zum anderen werden in dem kratie, sondern vereinfachen wir den Behördendschun- Antrag Leistungen auf Bundesebene gefordert, bei de- gel, damit die Betroffenen nicht ständig von Pontius zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19607

(A) Pilatus rennen müssen, um das zu bekommen, was ihnen Wir brauchen den Aufbau und die Förderung eines (C) zusteht. ambulanten Beratungs- und Unterstützungssystems, um von den alten stationären Strukturen wegzukommen. Die Wir haben hier im Parlament schon oft bewiesen, dass Anhörung hat gezeigt, wie es nicht geht: Es geht nicht wir – wie vielleicht in keinem anderen Politikbereich – mit Experimenten wie einem Nachteilsausgleichsgesetz. in behindertenpolitischen Entscheidungen über Frak- Das würde zu kurz greifen und auch der Komplexität des tionsgrenzen hinweg an einem Strang ziehen können. Problems nicht gerecht werden. Es besteht die große Gerade die Reform der Eingliederungshilfe dürfte – ge- Gefahr, dass gerade aufgrund des eingeschränkten Per- rade weil so viel auf dem Spiel steht und weil so viele sonenkreises von Menschen mit einem GdB ab 50 Perso- beteiligt sind – eine der schwierigsten politischen Aufga- nen ausgeschlossen werden und neue Schnittstellenpro- ben sein. Aber da dieser Nachteilsausgleich so wichtig bleme zu deren Leistungsansprüchen geschaffen werden. ist für die Betroffenen, lohnt es sich, weiter daran zu ar- Wir wollen ja keine Bewegung zwischen Leistungssys- beiten, auch wenn man nicht alles sofort umsetzen kann. temen fördern, sondern bedarfsgerechte personen- zentrierte Leistungen, die barrierefrei und ohne „Fleisch- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Ich werde es im- beschau“ für den Menschen mit Unterstützungsbedarf mer wieder sagen: Das SGB IX ist ein hervorragendes sind. Gesetz. Wir haben damals gemeinsam gesagt, Leistun- Es geht auch nicht über die bloße Forderung nach gen müssen aus einer Hand und zu den Menschen kom- mehr Markt für Anbieter. Wir wollen doch einen Markt men. schaffen, auf dem die Betroffenen sich bewegen können. Das Gegenteil ist heute der Fall – wir alle wissen es, Das muss ein Wettbewerb um Qualität sein und nicht um denn wir alle bekommen die Briefe, und Betroffene und institutionelle Effizienz und geringe Kosten. Da bleibt Verbände stehen uns jeden Tag auf den Füßen. In der dann wieder alles auf der Strecke, was wir uns für die Anhörung wurde sehr deutlich, dass wir großen Hand- Menschen wünschen, nämlich, dass das Wunsch- und lungsbedarf in der Eingliederungshilfe haben und da- Wahlrecht kein Wunschtraum bleibt bzw. nicht von In- rüber hinaus im gesamten Sozialleistungsrecht. Wir ha- stitutionen ausgeübt wird. ben Strukturen, die zersplittert und für die Menschen Die Sachverständigen haben in der Anhörung dafür undurchsichtig sind. Von Barrierefreiheit und Zugäng- plädiert, die Betroffenen mit mehr Marktmacht auszu- lichkeit kann da keine Rede sein. Wir haben ein System, statten und die Beratung zu verstärken. Das halte ich für dass zuerst nach dem Warum einer Leistung fragt und den weit besseren Weg, Bewegung in die institutionelle wenig auf individuelle Bedarfe eingeht, ein System, das Landschaft zu bringen. Denn wir wollen keine Entwick- so unterschiedliche gesetzliche Leistungsansprüche for- lung wie in der Pflegeversicherung, wo nicht nur bei pri- (B) (D) muliert, dass eine bloße Zusammenschnürung zu einem vaten Trägern längst der Wettbewerb um den billigsten Leistungspaket nicht machbar ist. Heimplatz läuft. In diese Abwärtsspirale werden nicht Zu groß sind die bürokratischen Hürden. Zum Bei- nur die Betroffenen, sondern auch die Beschäftigten hi- spiel ist die Pflegeversicherung noch immer nicht Reha- neingezogen. Im ambulanten und stationären Pflegebe- Träger, obwohl die gesetzlichen Regelungen des SGB IX, reich werden deshalb zum Teil sittenwidrige Löhne ge- die diese Strukturen zur Teilhabe zusammenbinden sol- zahlt. Es muss einen Mindestlohn in diesem Bereich len, ein Wunsch- und Wahlrecht und einen personenzen- geben. Mehr Markt in der Eingliederungshilfe bedeutet trierten Budgetansatz eingeführt haben. Die guten An- ebenfalls sinkende Löhne, keine Qualität. Das wollen sätze gibt es, das haben wir in der Anhörung gehört. Sie wir nicht! Wir wollen eine hohe Qualität und gute müssen genutzt werden. Deshalb bringt es nichts und ist Löhne. Es ist richtig, dass in einem System Leistungs- sogar gefährlich, an diesem System, an dem die Länder ansprüche an die Person gebunden werden sollten. Wir großes Mitentscheidungsrecht haben, wahllos herumzu- haben das mit dem Persönlichen Budget gemacht und schneiden. glauben, dass man so die Zuständigkeits- und An- spruchszersplitterung in der Reha überwinden kann. Wir haben die Konferenz der obersten Landessozial- Auch ein Mindestlohn kann nicht nur auf dem allgemei- behörden, die über die Grundlinien berät, und nach der nen Arbeitsmarkt gelten, er muss auch in der Werkstatt ASMK im November wissen wir sicher mehr. Es gibt Gültigkeit erlangen. Auch dort arbeiten die Menschen eine Kommission zur Erarbeitung eines neuen Pflegebe- jeden Tag. Was bekommen sie dafür? Einen Tritt in den dürftigkeitsbegriffs. Hier wird es mit Sicherheit auch Hintern, einen lumpigen Lohn, die konsequente Anrech- mehr Ansätze zur Personenzentrierung geben. Wir dis- nung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld bei Grundsiche- kutieren derzeit die Ergebnisse. rungsempfängern, und Sie müssen dann das Essen selbst bezahlen. Sie haben am Ende des Monats, wenn es gut Was wir brauchen, wissen wir: Wir brauchen Perso- geht, 100 Euro übrig. nenzentrierung, Assistenz, Transparenz und weniger Bü- rokratie – eben Entscheidungen aus einer Hand. Die Ser- Im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich vicestellen funktionieren nicht – das wissen wir. Aber wird derzeit ein neues Fass aufgemacht, bei dem man warum nicht? Weil die Kostenträger diese Strukturen nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. nicht akzeptieren und geradezu boykottieren. Sie haben In § 45 SGB XII ist ganz klar geregelt, dass Menschen, noch immer nicht verstanden, dass wir mit dem SGB IX die auf Betreiben des Fachausschusses in die Werkstatt trägerübergreifende Lösungen ermöglichen wollten, kommen, als voll erwerbsgemindert gelten. Jetzt haben Leistungen aus einer Hand. wir auf Betreiben des BMAS und der BA die Situation, 19608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) dass Grundsicherungsempfänger im Berufsbildungsbe- Wenn heute behauptet wird, das gäbe es in Deutsch- (C) reich nicht mehr als erwerbsgemindert gelten sollen. Sie land doch schon, dann sage ich: Ihr irrt, denn ihr kennt seien eben nicht „dauerhaft“ erwerbsgemindert – obwohl die Situation vor Ort nicht, wo sich Eltern oder Kinder das in der Überschrift des § 45 SGB XII steht und diese mit Behinderung durch Instanzen klagen müssen, um Entscheidung des Fachausschusses gilt und auch renten- von der Kasse oder dem Sozialamt etwas Hilfe im Alltag versicherungsrechtlich bindend ist. zu bekommen, das ist unverschämt und menschenver- achtend – einfach skandalös. Wo es noch immer einen Es ist zunächst gut, dass man Menschen in dieser direkten Zusammenhang von Förderschulabschluss und Phase nicht für den Arbeitsmarkt verloren gibt. Aber es Werkstattbeschäftigung gibt. Wo sich Menschen mit ist skandalös, wenn diese Menschen aufgefordert wer- psychischen Erkrankungen vergeblich um eine wirk- den, Arbeitslosengeld II oder Hilfe zum Lebensunterhalt same Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Wo sich zu beantragen. Die Menschen werden wieder im System Menschen die ständige Kontrolle ihrer Finanzen und ih- hin- und hergeschoben. In dem gegenwärtigen System res Gesundheitszustandes von der Kita bis ins Pflege- werden wir immer wieder mit solchen Fragen konfron- heim gefallen lassen müssen. Wo Menschen mit Behin- tiert. derung einen Lohn weit unterhalb jeder sittlichen Warum? Weil dieses gegliederte System streng nach Schwelle erhalten und davon auch noch für ihre Hilfs- institutionellen Gesichtspunkten strukturiert wurde. mittel zuzahlen müssen. Das nimmt den Menschen mit Diese historische Entwicklung gilt es endlich aufzubre- Behinderung die Würde, und das hängt ganz stark mit chen, damit Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche unserem gegliederten Leistungssystem zusammen. Die- mitnehmen können. Dann brauchen wir auch nicht mehr ses wiederum ist Ausdruck unserer Geisteshaltung ge- darüber zu diskutieren, wo und warum welche Leistung genüber Menschen mit Unterstützungsbedarf. Das hat hier und nirgendwo anders erbracht werden muss. uns die Anhörung gezeigt und wir Abgeordnete kennen es von unseren täglichen Gesprächen mit den Betroffe- In der Analyse sind wir uns doch alle einig – nur müs- nen und den Verbänden und vor Ort. sen wir in der Konsequenz auch zu übergreifenden Kon- zepten kommen, die unser gemeinsames Anliegen trag- Sagen wir es deshalb, wie es ist: Nicht einer von uns fähig machen. Deshalb ist mein Plädoyer, aus dem muss diesen zusätzlichen Aufwand betreiben, um leben SGB IX ein barrierefreies Leistungsgesetz zu entwickeln und arbeiten zu können. Nicht einer von uns kann sich und das viele Geld im System neu zu verteilen, nämlich vorstellen, unter diesen Bedingungen zu leben, immer so, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt unter dem Generalverdacht, nur noch mehr Leistungen ihre Leistungen erhalten, wenn sie Unterstützungsbedarf abgreifen zu wollen. Diese Menschen wollen in der Ge- sellschaft ankommen und nicht länger ausgeschlossen (B) haben, damit Leistungen nach dem Normalitätsprinzip (D) da erbracht werden können, wo es fachlich sinnvoll ist, bleiben. Warnen muss man jedoch davor, Teillösungen und nicht da, wo es schon Anbieter gibt. Denn das sind zu bevorzugen, wo übergreifende Erneuerung und Wei- dann immer die Werkstätten in der alten Form. Das sind terentwicklung gefragt ist. Die Ratifizierung der UN- dann die Wohnheime. Und es gibt viele Träger dieser Konvention wird uns dazu das geeignete Instrument an Einrichtungen, die davon weg wollen. Wir haben eine die Hand geben. Es wird entscheidend sein, ob sich die zunehmende Zahl von Werkstätten, die auf Integrations- nächste Bundesregierung auf ein solches Vorhaben mit betriebe und auf Außenarbeitsplätze setzen. Auch das den Ländern verabreden kann, denn Inklusion ist der Modell der virtuellen Werkstatt findet Beachtung. Schlüssel. Ich möchte deshalb schließen mit den Worten des hochverehrten ehemaligen Herrn Bundespräsidenten In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt gibt es zum Richard von Weizsäcker: „Was nicht erst getrennt wird, Beispiel den CAP-Markt in Quedlinburg; es gibt viele muss hinterher nicht integriert werden.“ solcher Beispiele. Bei den Wohnheimen möchte ich nur die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg, die Evangelische Stiftung Hephata Mönchengladbach und Heinz-Peter Haustein (FDP): Zu Beginn meiner das Johanneswerk in Bielefeld nennen. Ich konnte mich Rede möchte ich gerne darauf verweisen, welch ambitio- dort selbst davon überzeugen, wie der Weg in die Nor- nierte Aussagen die schwarz-rote Koalition in ihrem malität funktionieren kann. Koalitionsvertrag zur Reform der Eingliederungshilfe getroffen hat: Diese Träger haben ihre Heime aufgelöst und normale Wohnverhältnisse für die Bewohner hergestellt. Hier Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den geht man den Weg der Inklusion. Wir wollen nicht gegen Verbänden behinderter Menschen werden wir die die Institutionen agieren, sondern nur mit ihnen wird es Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so wei- gelingen. Einige haben die Zeichen der Zeit erkannt. terentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und Aber unsere Bürokratie hält fest an den alten Pfründen. leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei Davon wollen und müssen wir weg, wenn wir die UN- haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Konvention ernst nehmen. Denn sie sagt uns doch: Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Macht endlich etwas für die Chancengleichheit, für die Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Inklusion und die volle und vor allem wirksame Teil- Umsetzung der Einführung des Persönlichen Bud- habe. Deshalb brauchen wir auf dieser Basis einen offe- gets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass nen Diskussionsprozess, wie wir ihn schon einmal die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und hatten – bei der Einführung des SGB IX. Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19609

(A) den. Hierzu bedarf es der effektiven Zusammen- Im Antrag der Grünen sehen wir positive Ansätze, (C) arbeit der Sozialleistungsträger. aber auch Sachverhalte die wir kritisieren müssen: Der Bundesarbeitsminister hat in den Beratungen Es ist unter allen an der Diskussion um die Reform zum Haushaltsentwurf der Bundesregierung nochmals der Eingliederungshilfe Beteiligten nahezu unstrittig, betont, dass man auf gutem Wege sei, zusammen mit den dass die Differenzierung in der Erbringung von Leistun- Ländern zu einer Einigung über die Reform der Einglie- gen nach Leistungsformen, -orten und -anbietern entfal- derungshilfe zu kommen. Dennoch bleibt es dabei: Trotz len und in Richtung an der Person orientierter Hilfen vollmundiger, wiederholter Ankündigung ist in drei Jah- weiterentwickelt werden soll. Je nach Ausgestaltung ren zur Eingliederungshilfe nichts passiert. könnte die FDP-Bundestagsfraktion dies auch mittragen. Im Gegenteil: Heute ist es wieder einmal an der Op- Die Finanzierung einer Budgetassistenz als zusätzliche position, die Bundesregierung anzutreiben und Vor- Leistung bei Inanspruchnahme von Leistung in Form des schläge zur Zukunft der Eingliederungshilfe vorzulegen. Persönlichen Budgets ist ebenfalls zu begrüßen, erlaubt Der Antrag meiner Fraktion fokussiert dabei auf die zur- sie es doch auch Menschen mit Einschränkungen im zeit sehr restriktive Zulassung zur Erbringung von Leis- kognitiven Bereich, diese Möglichkeit zu nutzen. tungen der Eingliederungshilfe, die letztlich zu Nachtei- Andererseits sollten hinsichtlich eines neuen Verfah- len für Menschen mit Behinderung führt. rens zur Erhebung des Unterstützungsbedarfs wie auch Prinzipiell ist für die FDP das Persönliche Budget der eines neuen Behinderungsbegriffs die Ergebnisse des beste Weg, um die Wahlfreiheit der Menschen mit Be- Beirates zur Überarbeitung des Pflegebereichs abgewar- hinderung zu stärken und es ihnen zu ermöglichen, das tet werden, die diese Bereiche unter Umständen tangie- zu ihren Bedürfnissen am besten passende Hilfearrange- ren werden. Selbiges gilt auch für Leistungen der gesetz- ment zu bestimmen. Aber auch das sozialrechtliche lichen Pflegeversicherung in stationären Einrichtungen Dreiecksverhältnis, der Sachleistungsbezug, soll wettbe- der Behindertenhilfe. werblicher mit dem Ziel einer Stärkung der Wahlfreiheit Letzteres hätte zudem, wie auch die Zusammenfas- und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung sung bisheriger Nachteilsausgleiche zu einem Nachteils- ausgestaltet werden. Voraussetzung hierfür ist ein plura- ausgleich des Bundes, Mehrkosten in durch den Antrag les Leistungsangebot in einem für neue Anbieter offenen nicht bezifferter Höhe zur Folge, einerseits für den Markt. Bund, andererseits für die gesetzliche Pflegeversiche- Dies ist allerdings momentan nicht gewährleistet. Es rung. Auch dies gilt es hier zu beachten und in die Be- liegt letztlich im Ermessen des Trägers der Eingliede- wertung des Antrags einzubeziehen. Die FDP hat immer (B) rungshilfe, ob ein neuer Anbieter zur Leistungserbrin- betont, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit, (D) gung zugelassen wird. Der Antrag fordert deshalb, die Selbsthilfe und Selbstbestimmung von Menschen mit Zulassung zur Erbringung von Leistungen der Einglie- Behinderung eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die die derungshilfe unter Wahrung gesetzlich vorgegebener finanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Ge- (Qualitäts-)Standards im Interesse der Menschen mit Be- meinden erfordert. hinderung offener zu gestalten. Die Interessen der Kos- tenträger sind dabei zu berücksichtigen. Wir werden uns deshalb zum Antrag der Grünen ent- halten. Leistungsanbieter haben signalisiert, dass hierbei als erster Schritt schon eine schiedsstellenfähige Ausgestal- Den Antrag der Linken hingegen werden wir ableh- tung aller Vereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII nen. Er enthält zum einen weitreichende Vorhaben ohne – Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung – konkrete Refinanzierungsvorschläge: aus Steuereinnah- hilfreich wäre, was auch in der Anhörung unterstrichen men des Bundes. Zum anderen ist kritisch hervorzuhe- wurde. Ob die Einführung eines Anspruchs auf Zulas- ben, dass die Höhe der konkret zu gewährenden Leistun- sung, analog der Regelung im SGB XI, auch unter Kos- gen grundsätzlich nach bundeseinheitlich festgelegten tengesichtspunkten zielführend wäre, sollte in einem Maßstäben erfolgen soll. Die Tatsache, dass unterschied- zweiten Schritt geprüft werden. liche regionale Preisniveaus keine Auswirkung auf die Bedarfsfestsetzung haben soll, erscheint unflexibel und Dabei möchte ich betonen, was in der Anhörung auch ungerecht. Unter dem Punkt der fehlenden Flexibilität ist unterstrichen wurde, dass mit den im Antrag vorgesehe- zusätzlich zu kritisieren, dass die Leistungen über einen nen Änderungen weder eine Beschäftigungsgarantie Zeitraum von fünf Jahren zu bewilligen sind. noch eine Auslastungsgarantie für neu zugelassene An- bieter verbunden ist. Zudem geht es uns nicht um Wett- Zudem wurde in der Anhörung kritisiert, dass die bewerb um des Wettbewerbs willen. Der Wettbewerb durch den Antrag getroffene Abgrenzung – die Vor- soll hier vielmehr Mittel zum Zweck sein, wenn es da- schläge des Antrags sollen nur für Personen ab einem rum geht, das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen Grad der Behinderung von 50 gelten – Ungerechtigkei- mit Behinderung überhaupt erst zu gewährleisten. Ein ten, neue Bürokratie und Rechtsunsicherheit – man hätte funktionsfähiger Wettbewerb setzt den Leistungsanbie- dann ja im Endeffekt zwei verschieden ausgestaltete Hil- tern Anreize, ihre Angebote an den Bedürfnissen der fesysteme – zur Folge hätten. Insbesondere hinsichtlich Nutzer zu orientieren. Dass dabei nicht qualitative Min- der Ungerechtigkeiten ist dies doch verwunderlich, will deststandards über Bord geworfen werden sollen, haben der Antrag doch eigentlich gegen Ungerechtigkeiten an- wir ebenfalls explizit im Antrag festgehalten. gehen. 19610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Ich komme zum Schluss noch einmal auf den ein- stimmtem Leben. Damit sie auch „etwas von ihrem Le- (C) gangs erwähnten Passus im Koalitionsvertrag zurück: ben haben“ kann, braucht sie den Ausgleich ihrer behin- Schwarz-Rot hat drei Jahre Regierungszeit in der Behin- derungsbedingten Nachteile, sprich Alltagsassistenz. dertenpolitik verschlafen. In dem verbleibenden knap- Hätte sie die, wäre das Arbeitseinkommen dieser Ange- pen Jahr Ihrer Regierungszeit werden Sie eine grundle- stellten im öffentlichen Dienst so auskömmlich, wie das gende Reform der Eingliederungshilfe im versprochenen Arbeitseinkommen einer Angestellten im öffentlichen Umfang nicht mehr bewerkstelligen. Sie haben Ihre Dienst in Bayern eben ist. Da das jedoch keinesfalls für Chance nicht genutzt und werden deshalb 2009 keine die notwendigen Aufwendungen zum Ausgleich der be- zweite mehr bekommen. hinderungsbedingten Nachteile ausreicht, bietet ihr die gönnerhafte Fürsorge eine „Alternative“: Hör auf zu ar- Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge! beiten und lass dich – lebenslänglich – voll alimentieren!

Dr. llja Seifert (DIE LINKE): Bundestagsabgeord- Das ist eine Zumutung, die wir eigentlich schon hinter nete bekommen täglich viele Briefe per Post und E-Mail. uns haben könnten, wenn der vielbeschworene Paradig- Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, aber auch Ver- menwechsel in der Behindertenpolitik tatsächlich bereits eine, Initiativen, Verbände und Unternehmen wenden vollzogen wäre. Die Alternative darf nicht sein, Arbeit sich an uns, mit Problemen, Nöten und Hoffnungen. Ich oder Alimente, sondern muss sein Arbeit plus Ausgleich bekomme als behindertenpolitischer Sprecher meiner behinderungsbedingter Nachteile. Das erst würde die Fraktion sehr viel Post von Menschen mit Behinderun- freie Wahl des Wohnortes und der Assistenzpersonen, gen. Sie sind wichtig für meine Arbeit, geben wichtige also selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Genau dieses Hinweise und Anregungen, machen aber oft auch betrof- Konzept liegt dem Antrag der Linken auf ein Nachteils- fen und hilflos. ausgleichsgesetz zugrunde. In der Anhörung am 2. Juni 2008 hoben fast alle Sachverständigen diesen konzeptio- Einen Brief vom September aus Bayern möchte ich nellen Ansatz ausdrücklich lobend hervor. Die Frage ist Ihnen gern auszugsweise zur Kenntnis geben: immer: Wie viel ist der Gesellschaft das selbstbestimmte Leben ihrer behinderten Mitglieder wert? Würde unser Ich heiße Kerstin S., bin 33 Jahre alt und habe eine Antrag umgesetzt werden, wäre das Problem von Ker- angeborene Querschnittslähmung. stin S. gelöst. Nun zu meinem Problem. Ich arbeite seit etwa zehn Dank des preisgekrönten Conterganfilms und der Pro- Jahren im öffentlichen Dienst, habe also eine „nor- teste von Menschen mit Conterganschäden – ich denke male“ Arbeit. Bisher bin ich in Pflegestufe II einge- hier unter anderem an den fast vierwöchigen Hunger- stuft, erhalte also 400 Euro. Die Pflege übernehmen streik von Conterganopfern und ihren Angehörigen in (B) noch meine Eltern. Es ist aber so, dass meine Eltern (D) Bergisch Gladbach – bekamen das Schicksal und die auch nicht mehr so richtig können. Deshalb wollte Nöte der circa noch 2 700 lebenden Contergangeschä- ich in ein „betreutes Wohnen“ ziehen. digten eine größere Öffentlichkeit. Obwohl diese Men- Nun der Schock: Die nehmen mich nicht, weil das schen zusätzlich zu den Leistungen aus dem Behinder- Geld für meinen relativ hohen Pflegeaufwand nicht ten- und Sozialrecht eine viel zu kleine monatliche ausreicht. Errechnet wurde, dass ich im Monat über Entschädigung aus der Conterganstiftung erhalten, leben 1 200 Euro bezahlen müsste, wenn ich einen Pfle- fast alle – und ihre Angehörigen – in Armut, reicht das gedienst nehme. Den restlichen Betrag müsste ich, Geld oft nicht für dringend notwendige medizinische laut Aussage des Amtes, von meinem Gehalt allein Versorgung, für Hilfsmittel, Assistenzleistungen oder die übernehmen. Da bleibt mir ja nichts übrig. Wenn Deckung von Kosten für die Anpassung von Kleidung, ich mit dem Arbeiten aufhöre, bekomme ich alles die Wohnumwelt und das für die Mobilität notwendige bezahlt. Das finde ich unmöglich. Ich würde einse- Fahrzeug. Gesundheitliche Spätfolgen, Eltern, die inzwi- hen, wenn ich einen gewissen Betrag zuzahlen schen in ein Alter kommen, wo sie nicht mehr wie bisher müsste. Aber ich möchte auch was behalten von helfen können, eingeschränkte Erwerbsmöglichkeiten meinem Gehalt und mir auch was leisten, was an- und fehlende Alterssicherungen machen die Lage zuneh- dere halt auch machen. Ich bin doch eine ganz „nor- mend katastrophaler. Ähnliches gilt auch für viele an- male“ junge Frau, die auch was von ihrem Leben dere Menschen mit Behinderungen und hier ist es relativ haben möchte. egal, ob es für die Behinderung, einen Schuldigen gibt, ob es eine Behinderung von Geburt an ist oder sie im Was hat dieser Brief mit dem heutigen Thema des Laufe des Lebens dazukam. Nachteilsausgleichs für Menschen mit Behinderungen und der Eingliederungshilfe zu tun? Meines Erachtens Dies zeigt in aller Deutlichkeit, wie dringend behin- sehr viel, wird doch die ganze Tragik unseres Behinder- derungsbedingte Nachteilsausgleiche gebraucht werden. tenrechts deutlich. Behindert sein bedeutet in dieser Ge- Gern möchte ich noch einmal wesentliche Bestandteile sellschaft, in der Regel auch arm zu sein. Ja, wir haben des Konzeptes aufzeigen: nicht nur im Zusammenhang mit Hartz IV, sondern auch bei Menschen mit Behinderungen Armut per Gesetz. Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglich- keiten von Menschen mit Behinderungen und/oder chro- Die junge querschnittsgelähmte Oberfränkin, die eine nischen und seelischen Erkrankungen größeren Er- „ganz normale“ junge Frau sein möchte, fällt genau in schwernissen als bei anderen Menschen. Das betrifft die Lücke zwischen gönnerhafter Fürsorge und selbstbe- sowohl die Alltagsbewältigung und Arbeitsplatzsuche, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19611

(A) die freie Wahl der Wohnform als auch Kultur- und Frei- Eigentlich müsste ich an dieser Stelle über die in den (C) zeitaktivitäten. Barrieren in baulicher wie kommunika- Gesetzentwurf eingefügte „Denkschrift“ reden, mit der tiver Hinsicht sind trotz BBG und Verordnungen zur die Bundesregierung eigenartige Interpretationen der Barrierefreiheit noch vielerorts anzutreffen. Dadurch ist einzelnen Artikel der Konvention sanktioniert haben auch die Persönlichkeitsentfaltung der Betroffenen be- möchte und fernab vom wirklichen Leben suggerieren einträchtigt. will, dass sich die Behindertenpolitik in Deutschland be- reits mit den Maßstäben und Anforderungen, die die Wer dem Sinn von Art. 3 Satz 1 Grundgesetz – „Alle Konvention an die Staaten stellt, messen lassen kann. Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – wirklich Rech- nung tragen will, muss – den real existierenden unglei- Eigentlich müsste ich an dieser Stelle über die Illu- chen Voraussetzungen folgend – ungleiche Maßnahmen sion der Bundesregierung reden, dass diese Konvention treffen. Konkret gesagt: Behinderungsbedingte Nach- ohne zusätzliche Kosten in Bund, Ländern und Gemein- teile müssen ausgeglichen werden. Nur so können Chan- den und ohne Umsetzungs- bzw. Vollzugsgesetz in cengleichheit und Chancengerechtigkeit hergestellt wer- Deutschland mit Leben erfüllt werden kann. den. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind Ich sprach hier über ein Konzept, das wichtige dafür unzureichend. Sie setzen in vielen Bereichen auf Schritte zur vollen Teilhabe von Menschen mit Behinde- das ehrenamtliche Engagement der behinderten Men- rungen in der Gesellschaft vorzeichnet. Der Antrag der schen sowie ihrer Freunde und Angehörigen. Perma- Linken ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Diskussionen nente Überforderung wird dabei billigend in Kauf ge- innerhalb der emanzipatorischen Behindertenbewe- nommen. Die dadurch entstehenden finanziellen, gung. Seine Umsetzung könnte ein entscheidender körperlichen und seelischen Zusatzbelastungen dieser Schritt bei der Umsetzung der UN-Konvention in natio- Personen werden von der Gesellschaft bisher weitge- nales Recht sein. Das dahinter stehende Konzept bleibt hend ignoriert. aktuell. Daran kann auch die heutige Ablehnung unseres Antrages durch die Mehrheit des Parlaments nichts än- Volle Teilhabe und Persönlichkeitsentfaltung umfas- dern. sen alle Lebensbereiche: von der Intimsphäre über Woh- nen, Lernen, Arbeiten, Alltagsbewältigung, Kultur, Sport, Urlaub, Freizeitgestaltung bis zu bürgerschaftli- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Las- chem Engagement, religiöser und/oder politischer Betä- sen Sie mich zur abschließenden Beratung noch einmal tigung usw. ins Gedächtnis rufen, warum wir im Januar dieses Jahres einen solch ausführlichen Antrag in den Bundestag ein- Grundlegendes Prinzip soll laut Antrag der Linken für gebracht haben. Menschen mit Behinderungen und de- (B) ein „Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter ren Eltern stehen heute, wie in der Vergangenheit, vor ei- (D) Nachteile (NAG)“ sein: Geiche Leistung bei vergleich- nem Wust an unterschiedlichen Systemen, Institutionen barer Beeinträchtigung. Wir wollen das Finalitätsprinzip und Voraussetzungen, wenn sie Leistungen beantragen konsequent umsetzen. Demnach richten sich Leistungs- wollen. Er erinnert an ein schwer zu durchschauendes ansprüche nicht mehr nach der Ursache der Beeinträchti- Labyrinth, in dem behinderte Menschen von einer Sack- gung (Kausalitätsprinzip). gasse in die nächste geleitet werden, stets auf der Suche nach einer individuellen, bedarfsgerechten Leistung. Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen soll Aus diesem Grund ist die Forderung nach einem eigen- personale Assistenz in vielfältigen Erscheinungsformen ständigen Leistungsgesetz für behinderte Menschen zu sein. Dabei richtet sich der Umfang personaler Assistenz unterstützen. Mit unserem Antrag möchten wir die am individuellen Bedarf des behinderten Menschen aus. Grundlage für eine solche Lösung legen. Notwendig ist ein Gesetz, das dem Ziel der Stärkung der Darüber hinaus will Bündnis 90/Die Grünen mit dem selbstbestimmten Teilhabe behinderter Menschen am Antrag den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit Gemeinschaftsleben gerecht wird, das dem Ziel eines und Selbstbestimmung nachkommen. Das System der bedarfsdeckenden Ausgleichs behinderungsbedingter Hilfen in seiner jetzigen Form wird den Lebenswirklich- Nachteile gerecht wird und das dem Ziel der Vereinheit- keiten längst nicht immer gerecht und schöpft auch die lichung des Behinderten rechts und der tatsächlichen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Verwirkli- Gleichstellung aller behinderter Menschen untereinander chung eines eigenständigen Lebens nicht aus. Die Ein- und mit nicht behinderten Menschen gerecht wird. kommens- und Vermögensanrechung stellt ein großes NAG-Leistungen sind als einkommens- und vermögens- Hindernis dar. Das Wunsch- und Wahlrecht der Men- unabhängige Ansprüche auszugestalten. schen mit Behinderungen steht für uns im Mittelpunkt aller Überlegungen. Am 13. November diskutieren wir in erster Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur im De- Ein dritter Grund für unsere parlamentarische Initia- zember 2006 beschlossenen UN-Konvention über die tive ist der wachsende Kostendruck auf die Träger der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Eigentlich Eingliederungshilfe durch eine ständig steigende Zahl müsste ich an dieser Stelle über die schlechte Überset- von Menschen, die auf ebendiese Leistungen angewie- zung ins Deutsche reden, wodurch wichtige inhaltliche sen sind. Dies wäre an und für sich ja nicht schlimm, Intentionen der Konvention verfälscht bzw. aufgeweicht würden sich in den letzten Monaten und Jahren nicht die werden. Und das wird dann auch noch in den Status ei- Anzeichen verdichten, dass die Träger der Eingliede- ner amtlichen Übersetzung erhoben. rungshilfe versuchen, Ausgaben auf Kosten der betroffe- 19612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) nen Menschen einzusparen. So zeigen Beispiele aus fristig müsse ein eigenes Leistungsrecht für Menschen (C) Baden-Württemberg, Hessen und Berlin, wie Sozialhil- mit Behinderungen entstehen, das aus der Sozialhilfe feträger Leistungsberechtigte im Eingangsverfahren und ausgegliedert sei. Hier bedürfe es ganz dringend auch im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte der finanziellen Beteiligung des Bundes. Menschen in das SGB II abzuschieben versuchen. Auch wenn dies nicht rechtens ist, zeigt es doch, wie hoch der Der Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behin- Druck der Sozialhilfeträger auf die betroffenen Men- derungen müsse unabhängig vom Ort und dafür dauer- schen ist. Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, haft flexibel „gewährt“ werden, so die Sachverständigen. Eingliederungshilfeleistungen mitunter zurückzuhalten Hohe Zustimmung fand unser Vorschlag, die Trennung oder einfach zu verweigern. der Hilfeformen „ambulant“, „stationär“ und „teilstatio- när“ zu überwinden. Die Idee, zumindest ambulante Hil- Aus all den genannten Gründen ist es nun zwingend fen anrechnungsfrei zu stellen, schreibe die Trennung notwendig, weitere Schritte einzuleiten. Ich bedauere der Hilfeformen zwar tendenziell fest, könne aber als sehr die von der deutschen Bundesregierung angenom- kurzfristiger Anreiz etabliert werden. mene Haltung, hier ausschließlich die Bundesländer in der Pflicht zu sehen. Zwar ist es gut, dass das von mir Weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfrak- angemahnte Pingpongspiel zwischen Bund und Ländern tionen dürfen vor den Ergebnissen der öffentlichen An- nun vorerst ein Ende hat. Doch sich jetzt vonseiten des hörung die Augen verschließen. Bündnis 90/Die Grünen Bundes zurückzulehnen, das Spiel für unterbrochen zu wird sehr aufmerksam die Resultate der Arbeits- und So- erklären und auf den nächsten Aufschlag der Bundeslän- zialministerkonferenz, die zum Ende des Jahres hin an- der zu warten, wird der Sache nicht gerecht. gekündigt sind, verfolgen und den Handlungsdruck auf die Bundesregierung aufrechterhalten. Die jüngst erschienenen und von Fachverbänden für behinderte Menschen in Auftrag gegebenen Gutachten Wir werden die Bundesregierung nicht aus der Pflicht zu den Auswirkungen der Föderalismusreform auf die entlassen, insbesondere vor dem Hintergrund der UN- Sozialhilfe und das SGB IX ergeben ganz eindeutig auch Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinde- weiterhin die Möglichkeit des Bundes, den materiell- rungen weitere Schritte zur Weiterentwicklung der Ein- rechtlichen Gehalt der im SGB XII geregelten Eingliede- gliederungshilfe vorzunehmen. Auch vom Kabinettsbe- rungshilfe zu verändern und Leistungsausweitungen vor- schluss, wonach die Konvention keine Neuerungen für zunehmen. Es ist von daher überhaupt nicht einzusehen, das deutsche Recht bringe, lassen wir uns nicht beirren. warum sich die Bundesregierung im Rahmen der Ar- Die Eingliederungshilfe darf zukünftig nicht mehr dem beits- und Sozialministerkonferenz zwar beteiligt, aber Fürsorgegedanken folgen. Die Eingliederungshilfe ist selbst keine konkreten Vorschläge macht. Auch die von gemäß dem UN-Übereinkommen ein internationales (B) (D) anderen Fraktionen geäußerten Vorwände, unser Antrag Menschenrecht. würde sich in Teilen selbst ad absurdum führen, da er keine Bundeskompetenz berührt, sind gegenstandslos. Anlage 12 In den Bereichen wie etwa zum Wunsch- und Wahl- recht, zur Ausführung von Sachleistungen als Geldleis- Zu Protokoll gegebene Reden tungen oder zum Anspruch auf Auskunft und Beratung zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über kann der Bund, so die in Auftrag gegebenen Gutachten, Personalausweise und den elektronischen Iden- sogar ohne Zustimmung des Bundesrates gesetzgebe- titätsnachweis sowie zur Änderung weiterer risch tätig werden. Dass auch weiterhin bundeseinheitli- Vorschriften (Tagesordnungspunkt 14) che Regelungen vonnöten sind, um unterschiedliche Leistungsansprüche in den Bundesländern nicht zu ver- schärfen, zeigen die aktuellen Beispiele aus Mecklen- Clemens Binninger (CDU/CSU): Die Bundesregie- burg-Vorpommern. Dort wurde und wird wieder einmal rung legt mit dem Gesetzentwurf über Personalausweise versucht, das Landesblindengeld zu kürzen. Dieses Bei- und den elektronischen Identitätsnachweis einen zu- spiel zeigt, dass es an der Zeit ist, die bestehenden Nach- kunftsweisenden Gesetzentwurf vor. teilsausgleiche zu einem einheitlichen Teilhabegeld des Worum geht es im Kern? Es geht neben Konsequen- Bundes zusammenzufassen. zen, die sich aus der Föderalismusreform für das Aus- Die Voten der Koalitionsfraktionen gegen unseren weiswesen ergeben, zum einen darum, den neuen Perso- Antrag bei Stimmenthaltung der FDP im federführenden nalausweis vielseitiger nutzbar zu machen, zum anderen Ausschuss für Arbeit und Soziales sind aus sachlichen darum, ihn sicherer zu machen. Gründen nicht nachvollziehbar. So zeigte die öffentliche Mehr als 60 Millionen Menschen sind in der Bundes- Ausschussanhörung vom 2. Juni 2008 doch ganz eindeu- republik im Besitz eines Personalausweises. Ohne tig, dass fast ausnahmslos alle Sachverständigen einen Zweifel handelt es sich dabei um eines der fälschungs- hohen Handlungsbedarf bei der Weiterentwicklung der sichersten Ausweisdokumente überhaupt. Das ist richtig. Eingliederungshilfe sehen. Wenn man aber allein auf die Fälschungssicherheit Übereinstimmend positiv äußerten sich die Sachver- schaut, verkennt man ein ganz wesentliches Problem: ständigen zu den Vorschlägen, bei der Eingliederungs- Wer eine falsche Identität vortäuschen will, wird keinen hilfe das Prinzip des Nachteilsausgleiches walten sowie Personalausweis fälschen, weil er mit dem gefälschten die Hilfe personenzentriert zukommen zu lassen. Mittel- Dokument sehr wahrscheinlich bei Kontrollen auffliegen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19613

(A) wird. Wer sich mit einer falschen Identität ausweisen Fingerabdrücke können viel einfacher von Tischen, (C) möchte, wird sich einen echten Personalausweis besor- Türen und Gläsern genommen werden und das biometri- gen, mit dem echten Lichtbild einer Person, die ihm ähn- sche Gesichtsbild kann viel einfacher mit einer Kamera lich sieht. Und diesen Ausweis wird er missbrauchen, in- aufgenommen werden, als dass man diese Daten mit rie- dem er sich als Inhaber des Ausweises ausgibt, den er sigem Aufwand auszulesen versucht. gar nicht besitzt. Die Chance, dass bei einer konventio- nellen, optischen Kontrolle von Person und Ausweisbild Wir stehen aber auch noch vor einer ganz anderen He- dieser Missbrauch auffällt, ist gering. rausforderung, der wir mit dem elektronischen Personal- ausweis begegnen. Mehr als 42 Millionen Menschen in Aktuell sind über 2,2 Millionen Bundespersonalaus- Deutschland haben einen Internetanschluss und nutzen weise in Deutschland als gestohlen oder verloren gemel- diesen auch. Wer von uns ist nicht im Netz unterwegs, det. Praktisch heißt das: Mehr als 2,2 Millionen Bürger, macht Einkäufe oder erledigt seine Bankgeschäfte? denen ein fälschungssicherer Bundespersonalausweis Auch hier stellt sich immer die Frage: Wie kann ich abhanden gekommen ist, leben mit dem Risiko, dass mit mich elektronisch ausweisen, wie kann ich nachweisen, ihrem Ausweis und damit mit ihrer Identität, Straftaten dass ich rechtmäßig auf mein Benutzerkonto zugreife begangen werden im In- und im Ausland. Ich glaube, und nicht irgendjemand in meinem Namen einkauft oder wer diese Gefahr einfach ausblendet, möchte nur die gar meinen Kontostand überprüft. Die Verfahren, die wir halbe Wahrheit sehen. heute dazu haben, sind oft alles andere als sicher. Warum haben wir denn – übrigens unter Rot-Grün – Mit dem neuen Personalausweis wird man deshalb in den elektronischen Pass mit biometrischen Merkmalen Zukunft auch die Möglichkeit haben, sich elektronisch eingeführt? Doch genau, um vor Missbrauch zu schüt- in der virtuellen Welt auszuweisen. Das ist ein echter zen. Genau hier knüpft der elektronische Personalaus- Gewinn an Sicherheit, aber auch an Komfort für das täg- weis, den wir heute diskutieren, an. Er verfügt in Zu- liche Leben. Ich sage Ihnen voraus, dass sich in Zukunft kunft über biometrische Merkmale: das Gesichtsbild und immer mehr Internetanbieter darauf einstellen werden. – wenn der Antragssteller möchte – auch den biometri- Nicht zuletzt werden wir, wenn sich die Technologie be- schen Fingerabdruck. Diese Merkmale werden nur auf währt hat, auch Behördengänge über das Internet von zu dem Ausweis – und auch nur dort – gespeichert. Damit Hause erledigen können – sei es die Kfz-Zulassung, die kann bei einer Kontrolle in Zukunft einwandfrei festge- Anmeldung bei der Meldebehörde, die Beantragung von stellt werden, ob die Person, die den Personalausweis Leistungen. Mit dem neuen elektronischen Personalaus- vorlegt, auch wirklich zum Ausweis passt. Uns wäre es weis schaffen wir eine wichtige Grundlage für den Aus- lieber gewesen, wir hätten – wie es beim Pass der Fall bau des E-Government in Deutschland. ist – beide Merkmale aufgenommen. Das hätte größt- (B) In den nächsten Jahren werden sich weltweit Stan- (D) mögliche Sicherheit gegen Missbrauch bedeutet. dards für Ausweisdokumente mit biometrischen Merk- Und wer behauptet, die Daten seien unberechtigt malen durchsetzen. Auch die EU hat bereits 2005 die und geheim aus dem neuen Ausweis oder aktuell aus Weichen dafür gestellt. Wenn wir in Zukunft unseren dem E-Pass auszulesen, der verschließt die Augen vor Personalausweis im Schengen-Raum noch als Passersatz den Fakten. nutzen wollen, brauchen wir die Innovationen, die wir heute mit dem Personalausweisgesetz vorlegen. Die Daten sind mit einer elektronischen Signatur auf höchstem technischem Niveau geschützt. Nur wer über Also: Funktionsgewinn und Sicherheit – ein zukunfts- bestimmte Angaben, nämlich Pass- bzw. Ausweisnum- weisendes Gesetz, das unsere Unterstützung verdient. mer, Geburtsdatum des Inhabers und Ablaufdatum ver- fügt, kann auf die Daten zugreifen und das auch nur, Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir haben heute wenn er ein unberechtigtes Lesegerät wenige Zentimeter den Entwurf eines Gesetzes über Personalausweise und neben dem Datenchip platziert und sich beide nicht be- den elektronischen Identitätsnachweis sowie zur Verän- wegen. Kennt er diese Angaben vom auszuspähenden derung weiterer Vorschriften vorliegen und beraten ihn Dokument, wird er nicht mehr als den Namen des Inha- in der ersten Lesung. Ich erinnere in diesem Zusammen- bers auslesen können – ein mehr als unrealistisches Sze- hang an die Debatte über den Antrag der Grünen „Keine nario. Einführung biometrischer Merkmale im Personalaus- weis“ am 9. Mai 2008. In dieser Debatte habe ich darauf Und auch das geheime Mitlesen der Daten, wenn ein aufmerksam gemacht, dass wir ganz genau prüfen wer- Pass bzw. Ausweis zum Beispiel am Flughafen kontrol- den, ob die Aufnahme biometrischer Merkmale in den liert wird, ist jenseits aller Realität. Der Gewinn der Da- Personalausweis erforderlich ist. Ich habe betont, die ten stünde in keinem Verhältnis zum Aufwand. Man Bundesregierung müsse nachweisen, weshalb man unter müsste in direkter Nähe zum Kontrollpunkt eine Abhör- Sicherheitsaspekten einen neuen Personalausweis benö- anlage mit Mikrofonen einrichten und bräuchte leis- tigt, denn bisher heißt es überall, wir hätten mit unserem tungsstarke Rechner, die mehrere hunderttausend Euro aktuellen Personalausweis ein Dokument, das zu den fäl- kosten, um die Daten zu entschlüsseln. Und selbst wenn schungssichersten der Welt gehört. man auf diese Weise erfolgreich wäre, könnte man nicht auf die Fingerabdruckdaten zugreifen. Die können näm- Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist klar: Man ver- lich nur Behörden mit entsprechenden Berechtigungs- zichtet auf die Verpflichtung und stellt es den Bürgerin- zertifikaten auslesen. nen und Bürgern frei, ihre Fingerabdrücke im Personal- 19614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) ausweis aufnehmen zu lassen. Es wird also keinen Seit dem 1. November 2007 werden elektronische (C) verpflichtenden Fingerabdruck im Personalausweis ge- Reisepässe in Deutschland ausgegeben. Mir sind bisher ben. Das entsprach von Anfang an der SPD-Linie. weder gravierende technische Probleme noch Sicher- heitsprobleme zu Ohren gekommen. Im Gegenteil: Die Es muss aber auch klar sein, dass es keine Verpflich- Antragszahlen zeigen, dass viele Bürgerinnen und Bür- tung zur Abgabe von Fingerabdruckdaten durch die Hin- ger Vertrauen in die neue Technologie gefasst haben. tertüre geben darf! Aus der freiwilligen Abgabe der Fin- Wie ich bei meinem Einwohnermeldeamt erfahren habe, gerabdrücke darf kein Vorteil erwachsen, zum Beispiel warten bereits viele Bürgerinnen und Bürger auf das dadurch, dass Behörden diejenigen, die Fingerabdruck- neue, moderne Personalausweisdokument. Trotzdem daten in Personalausweisen wünschen, bevorzugt behan- bleiben wir, was die konkrete Umsetzung des elektroni- deln. Ansonsten bleibt es dabei: Auch bei den freiwillig schen Personalausweises angeht, kritisch, aber nicht po- auf dem Chip gespeicherten Fingerabdrücken gelten die pulistisch. Wir bleiben auf unserem Kurs: Sicherheitspo- Bedingungen, wie wir sie für den Reisepass erarbeitet litik mit Augenmaß. haben. Das heißt, diese Fingerabdrücke dürfen nir- gendwo bei den Behörden gespeichert und erst recht nicht abrufbar sein. Gisela Piltz (FDP): Der neue Slogan für den elektro- nischen Personalausweis klingt vielversprechend: klei- Weshalb sind wir dann trotzdem für einen neuen elek- ner, vielseitiger, zukunfts- und fälschungssicher. Der tronischen Personalausweis? Der Grund sind die damit Ausweis fürs Internet – so preist die Große Koalition ihr verbundenen technischen Innovationen, die für unsere neustes Projekt an. Mit dem E-Personalausweis soll ein Bürgerinnen und Bürger von Nutzen sind. Dieser neue Standard-Identitätsnachweis für das Internet geschaffen Personalausweis kann erstens auch ein Ausweis für das werden. Ja, es wird gar von einer Revolution gespro- Internet, also ein elektronischer Identitätsnachweis sein chen. Phishing soll eingedämmt, Interneteinkäufe und zur Verwendung im E-Government und im E-Business Behördengänge sollen erleichtert werden. und zweitens zusätzlich auf Wunsch eine elektronische Aber wir wissen alle: Werbung verspricht oft mehr, Signatur erhalten, zum Beispiel bei elektronisch abzuwi- als sie halten kann. Das gilt leider auch in diesem Fall. ckelnden Anträgen und Verträgen. Was bedeutet das Kritik am elektronischen Personalausweis wird auch bei konkret? Die Authentisierungsfunktion und die elektro- der Großen Koalition ignoriert. Der Ausweis wird sehr nische Signatur sind ein wichtiger Schritt für mehr Si- wahrscheinlich teurer, ein weiterer Sicherheitsgewinn ist cherheit und Komfort im elektronischen Geschäftsver- nicht zu erwarten, und der freiwillige Fingerabdruck kehr. Gerade die zunehmende kommerzielle Nutzung führt zur einer Zweiklassengesellschaft. des Internest erfordert die Notwendigkeit, sich auch (B) elektronisch ausweisen zu können. Diese zusätzlichen Ich habe bis heute den Kompromiss der Großen (D) Funktionen kann man so ausgestalten, dass sie nachträg- Koalition nicht verstanden. Wieso sollen die Bürgerin- lich freigeschaltet oder gesperrt werden können, je nach nen und Bürger ihre Fingerabdrücke freiwillig abgeben? individueller Entscheidung. Entweder der Staat braucht zwingend den Fingerab- druck, oder er braucht ihn nicht. Alles andere ist der Ein- Die auf dem RFID-Chip gespeicherten Daten werden stieg in eine biometrische Totalerfassung, weil ein Auf- nach dem neuesten technischen Standard wirksam gegen satteln jederzeit möglich ist. Denn in den nächsten den unberechtigten Zugriff Dritter geschützt. Eine Mani- Jahren wird die freiwillige Aufnahme von Fingerabdrü- pulation der Daten ist weitgehend ausgeschlossen. cken die Gesellschaft quasi spalten. Wir werden die- Durch den integrierten grundlegenden Zugriffsschutz jenigen haben, die ihren Fingerabdruck abgeben und un- werden das unberechtigte aktive Auslesen und das pas- verdächtig sind, und diejenigen, die das nicht tun und sive Mitlesen einer Kommunikation unter realistischen verdächtig erscheinen. Das kann man nur verstehen, Bedingungen wirkungsvoll verhindert. Auch das Erstel- wenn man die schwierigen Abstimmungsverfahren in len von Bewegungsprofilen ist praktisch nicht möglich. der Großen Koalition berücksichtigt. Mit Sicherheit oder Wir stellen uns vor, dass man diesen elektronischen Per- Klugheit hat das aus FDP-Sicht überhaupt nichts zu tun. sonalausweis künftig nutzen kann zur Onlinean-, -um-, ob- Über kurz oder lang werden wir auch sicherlich wie- meldung von Kraftfahrzeugen, zur Onlinebeantragung der den Diskussionspunkt Zentraldatei haben. Eine sol- eines polizeilichen Führungszeugnisses, zur Onlinean- che Zentraldatei ist zwar in diesem Gesetzesentwurf meldung bei Wohnungswechsel, zur Onlinekontoeröff- nicht vorgesehen. Wir wissen doch aber alle, dass die nung bei einer Bank, zum Online-Elektronik-Banking, politischen Verhältnisse sich sehr schnell ändern können. zur Alterskontrolle bei Onlinebestellungen, zur Alters- Letztes Wochenende fand in Berlin die größte Demon- kontrolle an Automaten mit altersbeschränktem Zu- stration gegen die staatlichen Überwachungsmaßnahmen gang – bis hin zum Onlineeinkauf von Waren und statt. Besonders beeindruckt hat mich der Slogan „Wer Dienstleistungen. Dies wird eine große Erleichterung heute noch lacht, wird morgen schon überwacht“. In und ein Qualitätssprung sein für Behördengänge und diese Kategorie gehört auch die Diskussion um die Zen- Einkäufe. traldatei. Im Rahmen der Beratungen im Ausschuss müssen wir Es wäre zunächst auch sinnvoller gewesen, die Erfah- darüber diskutieren, wie sicher diese neuen Funktionen rungen aus dem biometrischen Pass – wie das Kosten- sind und ob sie von den Bürgerinnen und Bürgern ange- Nutzen-Verhältnis der biometrischen Daten für den Bür- nommen werden. ger und die Schwierigkeiten und Probleme bei der Aus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19615

(A) gabe der Pässe mit Fingerabdrücken seit November 2007 – chen. Für eine Hauspost-Postwurfsendung zum elektro- (C) erst einmal in Ruhe auszuwerten, anstatt ein weiteres nischen Personalausweis sind Kosten in Höhe von Großprojekt mit biometrischen Daten zu starten, zumal 240 000 Euro veranschlagt. Für den Datenschutzbeauftrag- noch eine Verfassungsbeschwerde gegen die zwangs- ten hingegen soll es im kommenden Jahr nur 22 000 Euro weise Abnahme der Fingerabdrücke bei der Beantragung mehr geben. Ich hoffe, dass Sie dann wenigsten auch die des Reisepasses in Karlsruhe anhängig ist. Bürgerportale bei den öffentlichen Debatten um den Eine solche Auswertung wäre auch im Hinblick auf elektronischen Personalausweis aufnehmen. Die Bürger die Sicherheit der RFID-Chips wichtig gewesen. Denn müssen wissen, dass sich hier weitere Überwachungs- die RFID-Chips können per Funk kontaktlos, ohne dass möglichkeiten im Internet bieten. es der Inhaber bemerkt, ausgelesen werden. Ein Perso- Die FDP-Bundestagsfraktion hat das Projekt E-Perso- nalausweis ist zehn Jahre gültig. Der technische Fort- nalausweis von Anfang an kritisch begleitet. Wir brau- schritt in einem derartigen Zeitraum ist enorm. Es ist da- chen keine Schnellschüsse, die den Bürgerinnen und her denkbar, das Kriminelle Systeme entwickeln, um mit Bürger nur wenig nutzen, aber mit Folgen für die Bür- nicht autorisierten Geräten Daten über eine größere Dis- gerrechte verbunden sind, die wir heute noch gar nicht tanz auszulesen. konkret abschätzen können. Wir lehnen den E-Personal- Hinsichtlich des Arguments der Fälschungssicherheit ausweis in der von der Bundesregierung vorgelegten verweise ich nur auf die erfolgreiche Klonung des briti- Form ab. schen fälschungssicheren E-Passes durch einen Compu- terexperten im August 2008. Innerhalb einer Stunde Jan Korte (DIE LINKE): Am vergangenen Samstag wurde auf dem Pass eines Jungen der manipulierte demonstrierten in Berlin 100 000 Menschen – darunter RFID-Chip mit dem Foto eines palästinensichen Selbst- Ärzte, Anwälte, Geistliche, Bürgerbewegte und, ganz mordattentäters aufgebracht. Der Pass wurde von einem allgemein, Nutzer moderner Kommunikationsmittel – Lesegerät akzeptiert, das mit der Software arbeitet, die gegen Überwachungswahn und für einen wirklichen Da- von der Zivilluftfahrt-Organisation als Standard empfoh- len wird. Für die Fälschung wurden ein öffentlich ver- tenschutz. Auch die Partei und Fraktion Die Linke hatten fügbares Programm, ein Card-Reader und günstige zu dieser Demonstration aufgerufen. Denn unser Anlie- RFID-Chips benötigt. Fälschungssicherer ist der neue gen war es, gesellschaftliche Unterstützung für unsere Personalausweis damit nicht. konsequente Haltung im Parlament gegen eine Auswei- tung des Überwachungsstaates zu erhalten. Diese haben Auch die Kosten sind für den Bürger noch völlig un- wir auf der größten Demonstrationen nach dem Volks- klar. Nicht nur, dass der eigentliche Ausweis teurer wird; zählungsurteil in den 80er-Jahren auch bekommen. Ne- (B) es werden auch zusätzliche Kartenlesegeräte und damit ben der Kritik an der Vorratsdatenspeicherung, der (D) Kosten notwendig sein, um den elektronischen Identi- geplanten Onlinedurchsuchung und der Verwendung bio- tätsnachweis überhaupt nutzen zu können. Nach Presse- metrischer Daten in Ausweisdokumenten wurde erneut meldungen soll außerdem für die Zulassung der ID-Veri- massive Kritik an dem Gesetzentwurf der Bundesregie- fikationsdienste an Firmen eine neue Bundesbehörde rung zur Einführung eines sogenannten elektronischen geschaffen werden. Im Gesetzesentwurf steht dazu le- Identitätsnachweises im Personalausweis geäußert. diglich, dass das Bundesministerium des Innern bestim- Diese Kritik teilen wir. men wird, wer diese Aufgabe übernehmen wird; § 4 Abs. 3 PAG-Entwurf. Etwas mehr Klarheit von der Bun- Nach den Plänen der Bundesregierung soll 60 Millio- desregierung wäre an dieser Stelle schon angebracht. nen Ausweisinhaberinnen und -inhabern ein sogenannter Wenn man eine neue Bundesbehörde will, sollte man es E-Personalausweis vor allem aus zwei Gründen verpasst auch deutlich sagen. werden: Zum einen soll der Zahlungsverkehr – vor allem im Internet – für den Inhaber des Ausweises als auch für Und nun noch ein kurzes Wort zur elektronischen den Produktanbieter verbessert werden. Diesem Ansin- Identität. Identitätsdiebstähle werden auch von der FDP- Bundestagsfraktion mit Sorge betrachtet. Im Internet nen ist erst einmal nicht zu widersprechen. Die hohe werden häufig gefälschte oder gestohlene Identitäten Zahl an Betrugsversuchen oder tatsächlich stattgefunde- verwendet. Elektronische Identitäten müssen aber auch nem Betrug beim elektronischen Zahlungsverkehr, auch datenschutzfreundlich gestaltet werden. Das bedeutet ei- im Internet, bietet ausreichend Grund zur Sorge. Den- nerseits, dass nicht jeder Internetdienst nur noch bei Ver- noch ist zweifelhaft, ob die vorgeschlagenen technischen wendung des neuen Ausweises nutzbar sein darf, und Instrumente zukünftig vor Betrugsversuchen oder Identi- anderseits, dass aus dem Nutzerverhalten im Internet tätsdiebstahl ausreichend Schutz bieten. Eindeutige Be- keine Nutzungsprofile erstellt werden können. Insbeson- lege hierfür wurden dem Bundestag nicht präsentiert. dere auch bei den geplanten Bürgerportalen, die als Am morgigen Freitag debattieren wir an dieser Stelle Anwendungszenario an den elektronischen Personalaus- über den Datenschutz und die verschiedensten Verstöße weis anknüpfen, ergeben sich weitere datenschutzrecht- gegen den Schutz personenbezogener Daten, die in den liche Fragestellungen. vergangenen Wochen öffentlich bekannt wurden. Doch Denkt man dieses Szenario weiter, deutet sich neben nicht nur die Privatwirtschaft war betroffen, auch kom- der Onlineüberwachung, Internetmonitoring und Vor- munale Meldeämter konnten Daten nicht ordnungsge- ratsdatenspeicherung hier eine weitere Möglichkeit der mäß vor einem externen Zugriff schützen; von den zahl- Großen Koalition an, die Internetnutzung zu überwa- reichen Datenschutzverstößen im Internet oder beim 19616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Abschluss von zweifelhaften Verträgen über das Internet Koalition lässt die Vermutung zu, dass diese freiwillige (C) möchte ich an dieser Stelle gar nicht weiter sprechen. „Hilfskonstruktion“ nur eine auf Zeit ist und wir in naher Zukunft nicht nur eine allgemeine Verpflichtung zur Ab- Nur, eines fällt hierbei auf: In Europa beteiligt sich gabe von Fingerabdrücken bekommen werden, sondern die Bundesregierung mittels des Programms „check the auch eine zentrale Meldedatei, in der auch diese biome- web“ an der Suche nach vermeintlichen Terroristen im trischen Merkmale gespeichert werden sollen. Und dies Internet. Dafür werden Personal und materielle Ressour- trotz aller aktuellen und anderslautenden Beteuerungen! cen zuhauf zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig aber hat Hinzu kommt, dass zu erwarten ist, dass jeder, der seine sich die Bundesregierung sehr stiefmütterlich um den Fingerabdrücke nicht speichern lassen möchte, sich da- Datenschutz im Zeitalter moderner Kommunikation ge- mit in den Augen mancher erst recht verdächtig macht. kümmert und suggeriert nun mit der Einführung eines elektronischen Identiätsnachweises im Personalausweis Interessant ist auch, dass die Kosten für die Einfüh- vermeintliche Sicherheit bei der Nutzung des Internets. rung des Personalausweises, die Anschaffung und Ent- Jedem muss klar sein, dass es absolute Sicherheit im In- wicklung der notwendigen Technik zu einem nicht abzu- ternet nicht gibt und nie geben wird. Der beste Schutz schätzenden, dennoch hohen Anteil auf die Bevölkerung von Privatsphäre ist, unnötige Daten gar nicht erst zu er- abgewälzt werden sollen. Dieses Herangehen ist alles heben und zu speichern. Bevor also ein solches Projekt andere als bürgerfreundlich und konterkariert den selbst angegangen wird, sollten wir uns um eine verbesserte postulierten Anspruch der Bundesregierung in diesem gesetzliche Grundlage für den Datenschutz in Deutsch- Gesetzentwurf. land kümmern. Schließlich möchte ich auf ein letztes Problem im Zum Zweiten sollen auf den neuen Ausweisdokumen- Zuge der Einführung des neuen Personalausweises ein- ten biometrische Merkmale abgebildet und auf einem gehen. Die Bundesregierung konnte sich nun doch Chip gespeichert werden. Als Begründung hierfür ver- durchringen, Künstlernamen in das neue Dokument auf- weist die Bundesregierung auf eine sogenannte Pass- zunehmen. Nun jedoch hat der Ausschuss für Innere ersatzfunktion des Ausweises bei Reisen innerhalb des Angelegenheiten des Bundesrates die Streichung dieser Schengen-Raumes und in weitere Drittstaaten. Wörtlich Kategorie verlangt. Die Bundesregierung hat darauf le- heißt es in einem Bericht aus dem Bundesinnenministe- diglich entgegnet, diese Forderung hinsichtlich eines zu rium: Diese Passersatzfunktion soll erhalten bleiben. Bei erwartenden Verwaltungsaufwandes zu prüfen. Ich Verzicht auf die Biometrie im Personalausweis wäre das möchte an dieser Stelle den zahlreichen Wortmeldungen dauerhaft kaum möglich, da Betrugsversuche sich auf von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland geeig- die weniger sicheren Personalausweise stützen würden. neten Platz einräumen. Diese zeigten sich, wie auch der (B) Irrtum, kann ich nur sagen; denn nach Aussage der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (D) Bundesregierung selbst sind die aktuell verwendeten und der Deutsche Künstlerbund, zu Recht entrüstet über Ausweisdokumente keineswegs unsicherer. Die Regie- das Vorgehen des Bundesrates, Künstlernamen klamm- rung gab auf Anfrage der Linksfraktion bekannt, dass im heimlich aus dem Ausweisdokument streichen zu wol- Jahr 2001 lediglich 88 Fälle von Ausweisfälschungen len. Dies würde in der Folge bedeuten, dass massive festgestellt wurden. Ist dies bei 60 Millionen Ausweis- Kosten auf die Betroffenen zukämen. Denn Künstler- inhabern etwa ein signifikant messbares Sicherheits- namen sind die Basis der Identität und des Images von risiko? Man kann also von einem „Spitzenprodukt made Künstlerinnen und Künstlern. Zum Zweiten aber sind in “ sprechen. viele Verträge unter Künstlernamen abgeschlossen wor- den, darunter „nicht nur auf Kunst bezogene, sondern Zudem ist zu erwarten, dass gerade durch die Verwen- auch solche Existenz sichernder Natur“. Die Linke for- dung des Chips im Personalausweis wie zuvor bereits dert deshalb die Bundesregierung auf, an der Auffüh- beim neuen E-Pass die Sicherheit des neuen Personal- rung des Künstlernamens im neuen Personalausweis ausweises sinkt. BKA-Chef Ziercke etwa riet in einer festzuhalten. Anhörung zur Einführung des E-Passes im Innenaus- schuss, den Pass vor illegalem Auslesen zu schützen, in- Die Linke wird vor dem Hintergrund dieser Kritik- dem man diesen in Alufolie wickelt. Nun ja, dies ist si- punkte der Einführung des E-Personalausweises nicht cherlich auch eine Möglichkeit … zustimmen und lehnt den Gesetzentwurf ab. Zusammen- gefasst muss man konstatieren: Der vorliegende Gesetz- Bleibt noch, auf diesen seltsamen Kompromiss zwi- entwurf der Bundesregierung bringt insgesamt weniger schen der Möchtegernbürgerrechtspartei SPD und den Sicherheit und weniger Datenschutz. Law-and-Order-Leuten von CDU/CSU zur freiwilligen Speicherung von Fingerabdrücken einzugehen. Auch eine freiwillige Speicherung von Fingerabdrücken Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schafft keine zusätzliche Sicherheit, sorgt aber dafür, Das Gesetz über den neuen elektronischen Personalaus- dass demnächst auch Fingerabdrücke zu einer begehrten weis steht exemplarisch für die Arbeitsweise dieser Ware im illegalen Datenhandel werden. Studien belegen Koalition: Aus ideologischen Gründen will der Bundes- zudem, dass die Speicherung bei bestimmten Menschen, innenminister ein nicht erforderliches Projekt. Die SPD zum Beispiel bei Kindern, Älteren und einigen Arbeitern, wacht irgendwann auf und meldet berechtigte Bedenken nicht geeignet ist, um einen eindeutigen Identitätsnach- an. Es folgen ein monatelanger Streit sowie das Einfü- weis zu erbringen. Die Debatte über die Verwendung von gen einiger Nonsensklauseln. Am Ende wird dann ein Fingerabdrücken im Personalausweis innerhalb der Gesetz eingebracht, das immer noch keiner braucht, von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19617

(A) dem aber beide Koalitionspartner behaupten, sie hätten dem Missbrauch einer solchen Kopie ist nicht hinrei- (C) damit etwas durchgesetzt. Gute Gesetzgebung allerdings chend bedacht. Dass eine PIN-Nummer nicht allzu viel ist etwas anderes. Sicherheit bietet, zeigen die Statistiken über den Miss- brauch von EC- und Kreditkarten. Die Übertragung über Ausgangspunkt bleibt der durch nichts begründete das Internet und der Einsatz vom privaten Computer aus Wunsch, in den Personalausweis biometrische Merk- schaffen weitere Gefahren. Denn im Unterschied zum male in digitalisierter Form aufzunehmen. Für die ent- Geldautomaten ist der heimische PC ein einziges Sicher- sprechende Änderung im Passgesetz gab es einen – aller- heitsloch. Die Identifikationsfunktion bietet der Phi- dings selbst geschaffenen – europarechtlichen Zwang. shing-Mafia ein ganz neues Betätigungsfeld. Der liegt hier nicht vor. Man kann und sollte es schlicht bleiben lassen. Der Personalausweis wird mit diesem Gesetz nicht si- cherer. Er schafft auch keine sonstige Sicherheit. Im Ge- Gab es irgendeine sachliche Notwendigkeit für diese genteil: Durch die elektronische Identifikation und den Änderung? Die Antwort lautet: Nein. Denn es gibt in damit möglichen Missbrauch wird sein guter Ruf eher Deutschland einen sicheren Personalausweis. Die Zahl unterminiert werden. Wenn Onlineversandhäuser mehr an Fälschungen – BKA-Präsident Ziercke hat das am Sicherheit wollen – und davon war bis jetzt nichts zu hö- Beispiel des baugleichen Passes eingeräumt – ist mini- ren –, dann sollen sie selbst ein Identifikationssystem mal, der Missbrauch entsprechend schwierig und selten. schaffen. Staatliche Hilfe per Gesetz und eine Anschub- Die Bundesregierung gibt das mit ihrem Gesetzentwurf finanzierung über die Gebühren für den Personalausweis auch indirekt zu. Denn die fast schon satirische Rege- sind der falsche Weg. lung, dass die Aufnahme der Fingerabdrücke in den Per- sonalausweis freiwillig sein soll, zeigt nur eines: Eine Für den öffentlichen Bereich gibt es die qualifizierte Berechtigung oder sachliche Notwendigkeit, den Perso- Signatur. Eine Signatur light brauchen wir nicht, schon nalausweis so sicherer machen zu wollen, existiert gar nicht auf einem überflüssigen biometrischen Perso- nicht. Stattdessen werden mit dem neuen Ausweis neue nalausweis. Gefahren geschaffen. Die Erfahrungen mit dem Pass etwa zeigen, dass die Datenerhebung und -übertragung der biometrischen Informationen mit der vorhandenen Anlage 13 Infrastruktur nicht so sicher ist, wie sie sein sollte. Zu Protokoll gegebene Reden Auch der Datensammelwut wird weiter gefrönt: Das digitale Foto kann auch für die Verfolgung von Ord- zur Beratung des Antrags: Biotechnologische nungswidrigkeiten herangezogen werden; die Speiche- Innovationen im Interesse von Verbrauchern (B) rung von Daten bei anderen Behörden ist zwar erst ein- und Landwirten weltweit nutzen – Biotechno- (D) mal nicht vorgesehen, ihr werden aber Tür und Tor logie ein Instrument zur Bekämpfung von Ar- geöffnet. Durch die Vereinheitlichung der Datenspeiche- mut und Hunger in den Entwicklungsländern rung entsteht über kurz oder lang de facto eine zentrale (Tagesordnungspunkt 15) Datenbank, auch wenn die Daten nicht auf einer Fest- platte gesammelt werden. Das ist ja auch erklärtes Ziel Johannes Röring (CDU/CSU): Zunächst muss ich des Bundesinnenministers und seiner Strategie der „ein- den Kolleginnen und Kollegen der FDP ein Lob für ih- heitlichen Plattform innere Sicherheit“. Entziehen kann ren Antrag aussprechen. Die Zielrichtung des Antrages sich der besorgte Bürger nicht mehr; denn der Personal- ist grundsätzlich vollkommen richtig. Denn man kann ausweis ist im Unterschied zum Pass ein Pflichtdoku- nur Zustimmen, dass die Biotechnologie im Interesse ment. Und all das zu hohen finanziellen Kosten für alle von Verbrauchern und Landwirten weltweit von Nutzen Beteiligten. sein kann und ein Instrument zur Bekämpfung von Ar- mut und Hunger ist. Vorteile des neuen Personalausweises sind also auf dem klassischen Anwendungsgebiet nicht zu sehen. Ich würde sogar noch weiter gehen und formulieren, Wohl auch deswegen erfolgt der Einbau der elektroni- dass die Biotechnologie wahrscheinlich mehr Antworten schen Identifikationsfunktion, damit wenigstens ein auf die dringenden Fragen der Menschheit – nämlich scheinbarer Vorteil des neuen Dokuments verbleibt. Da- Gesundheit, Energie und Nahrung – bereit hält, als jede bei ist die Kombination aus Personalausweis und elek- andere Spitzentechnologie. tronischer Identifikation völlig sinnlos. Es gibt die elek- Hierbei kommt nun besonders den Agrar- und Ernäh- tronische Signatur. Wozu noch eine Signatur light? Und rungswissenschaften bei der Lösung globaler Probleme wenn man die will, warum auf dem Personalausweis? eine zentrale Rolle zu, genau so wie bei der Entwicklung Der massenhafte Einsatz eines hoheitlichen Dokuments einer zukunftsfähigen, auf natürlichen Ressourcen basie- etwa bei Bestellungen über das Internet schafft mehr Si- renden Wirtschaft. Die Vereinten Nationen, die Welt- cherheitslücken, als er schließen kann. bank und viele an dem Diskussionsprozess beteiligten Die im Gesetz erkennbaren Eckpunkte der Sicher- Partner haben eine Reihe gesellschaftlicher Herausforde- heitsinfrastruktur können nicht recht überzeugen. Ange- rungen entdeckt, denen wir dringend begegnen müssen: sichts des schlampigen und bisweilen kriminellen Um- Das gleichzeitige Auftreten von Unter- und Mangeler- gangs der Industrie mit privaten Daten ist der Rückgriff nährung bei einem anhaltenden Bevölkerungswachstum, auf Private etwa zur Führung der Sperrlisten fahrlässig. die Zerstörung von landwirtschaftlich und forstlich nutz- Auch die Frage nach der 1:1-Kopie eines Ausweises und barer Fläche, Wassermangel, die Verlagerung von An- 19618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) bauzonen durch den globalen Klimawandel, sowie der In diesem Sinne sollen im Rahmen der Kompetenz- (C) Rückgang biologischer Vielfalt (Biodiversität). Der An- netze konkrete Forschungsprojekte auf die gesamte land- stieg der Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeug- wirtschaftliche Wertschöpfungskette von der Urproduk- nissen – wie zum Beispiel hochwertigen Lebensmitteln tion natürlicher Ressourcen bis hin zur Bereitstellung und insbesondere tierischen Produkten – wird darüber qualitativ hochwertiger Rohstoffe wie Lebensmittel, Fut- hinaus durch das dynamische Wirtschaftswachstum in termittel, Biomasse für den Verbraucher ausgerichtet China, Indien und weiteren Schwellenländern verstärkt. sein. Das Ziel ist es, eine in der Grundlagenorientierung Zusätzlich ist mit dem weltweiten Bedarf an Energie und und im Anwendungsbezug exzellente Agrar- und Ernäh- Rohstoffen die Notwendigkeit verbunden, Biomasse auf- rungsforschung aufzubauen und mit der Ausbildung so- grund der Endlichkeit fossiler Ressourcen und aufgrund wie mit dem Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft zu des Klimaschutzes stärker für die energetische und stoff- verbinden. Dadurch sollen anwendungsorientierte Kom- liche Verwertung zu nutzen. petenznetze mit internationaler Sichtbarkeit und Attrak- tivität entstehen und Beiträge für die Lösung gesell- Wir müssen also erkennen, dass nicht nur die land- schaftlicher Probleme liefern. wirtschaftliche Produktionsmenge zunehmen muss, son- dern darüber hinaus zeigen die aktuellen Entwicklungen, Der Erfolg des Projekts zeigt sich in der Vielzahl der dass die verfügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche bundesweit eingereichten Anträge, wobei jüngst in einer Produkte weltweit pro Erdenbewohner dramatisch ab- ersten Wettbewerbsrunde neun Finalisten ausgewählt nehmen wird, sie wird sich laut wissenschaftlicher Pro- worden sind. Die Finalisten werden jetzt ihr Strategie- gnosen bis zum Jahr 2040 halbieren! konzept ausarbeiten und Anfang 2009 einer Jury zur Be- urteilung vorlegen. Drei bis maximal sechs Kompetenz- Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit un- netze werden dann vom BMBF für fünf Jahre gefördert. serer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Land- Diese und viele weitere Aktivitäten zeigen, dass die wirtschaft entscheidend zu steigern, so zum Beispiel für Bundesregierung die in Ihrem Antrag formulierten For- Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer derungen zu einer verbesserten Förderung der Erfor- Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen kli- schung der Biotechnologie zur Bekämpfung der Pro- matischen Stress oder Widerstandsfähigkeit gegen bleme der Welternährung bereits in die Tat umgesetzt hat Schädlinge und Krankheiten und damit die Möglichkeit und stetig weitere Programme entwickelt. zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten. Auch ökologische Vorteile, wie reduzierter chemischer Aus diesem Grund wird die CDU/CSU-Bundestags- Pflanzenschutz und verbesserter Erosionsschutz, sind zu fraktion den Antrag der FDP ablehnen. nennen. (B) (D) Zur Erreichung dieser Ziele kann die Biotechnologie Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die Behauptung, einen großen Beitrag leisten. dass die Entwicklungen der Agrogentechnik der Be- kämpfung des Hungers in den Entwicklungsländern die- Da die Bundesregierung diese Fragestellung auch als nen, wird durch ständige Wiederholung nicht wahrer. sehr bedeutend betrachtet – hier sind besonders das Bun- Und die Hartnäckigkeit, mit der die Augen davor ver- desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- schlossen bleiben, dass Armut und fehlender Zugang zu braucherschutz und das Ministerium für Bildung und ausreichender Nahrung auf mangelnde Verteilungsge- Forschung zu nennen –, wurde bereits eine Vielzahl ver- rechtigkeit zurückzuführen sind, ist mehr als ärgerlich. schiedener Forschungsprojekte und Aktivitäten in der Wenn Sie wirklich daran interessiert sind, wie Wis- Vergangenheit gestartet. Im Januar dieses Jahres wurde sen, Wissenschaft und Technologie in der Landwirt- der Startschuss zu einer verbesserten Forschungsförde- schaft zur Verbesserung der Lebensgrundlagen im länd- rung gegeben. Mit 200 Millionen Euro in den nächsten lichen Raum und zur Armutsbekämpfung eingesetzt fünf Jahren sollen Projekte in der Bioenergie-, Agrar- werden können, dann sollten Sie den Bericht des Welt- und Ernährungsforschung an Hochschulen und außer- agrarrates vom April dieses Jahres lesen. Eine deutsche universitären Forschungseinrichtungen in Zusammen- Übersetzung der Zusammenfassung kann ich gern zur arbeit mit Partnern aus der Wirtschaft gefördert werden. Verfügung stellen. Ein breit gefächertes Spektrum von 400 Experten aus dem Agrobusiness, der Lebensmittel- Aktuell und exemplarisch ist hier das vom Bundes- industrie, der Wissenschaft, der Verbraucher-, Bauern-, ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Umwelt- und anderer Nichtregierungsorganisationen Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Ernäh- fordert in diesem Bericht die Abkehr vom monokulturel- rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) len Intensivanbau. Dessen Bilanz fiel bei hohem Einsatz und den Ländern entwickelte Förderprojekt „Kompe- von Kapital und Energie zwar über Jahrzehnte positiv tenznetze in der Agrar- und Ernährungsforschung“ zu aus, dies aber vor allem deshalb, weil die Umweltkosten nennen. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen des ausgeklammert wurden. Wissenschaftsrates zur Entwicklung der Agrarwissen- schaften in Deutschland sollen mit dieser Initiative die Die Produktivitätssteigerung durch technologische verschiedenen relevanten Innovationsfelder, unter ande- Fortschritte ist an ihre Grenzen gestoßen, und die Kosten rem Pflanzen, Umwelttechnologien, Biotechnologien, für die Umwelt und die Entwicklungsländer werden zu der Hightech-Strategie der Bundesregierung berücksich- hoch. Die Zukunft der landwirtschaftlichen Produktion tigt werden. liegt in einer nachhaltigen, das heißt in einer umwelt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19619

(A) und ressourcenschonenden Produktion. Die Agrogen- kein Problem der absolut produzierten Nahrungsmittel- (C) technik ist da der falsche Weg. Dass bis heute der Be- menge, so wie es der hier vorliegende Antrag suggerie- weis für den Nutzen des Einsatzes der Gentechnik fehlt, ren mag. Die Weltlandwirtschaft könnte bereits heute stellt auch der Bericht des Büros für Technikfolgenab- mittels herkömmlicher Herstellung und Anbau circa schätzung (TAB) „Auswirkungen des Einsatzes transge- neun Milliarden Menschen ausreichend ernähren – auch nen Saatguts auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wenn man bedenkt, dass in den Industriestaaten täglich und politischen Strukturen in Entwicklungsländern“ fest. 30 bis 40 Prozent der Nahrungsmittel einfach wegge- Danach fehlt bisher eine sozioökonomische Bewertung schmissen werden. Hunger ist ein Problem des Zugangs der Grünen Gentechnik. Sie tut dringend not. Dabei zur Nahrung. Hungernden in den Städten fehlt Einkom- wurde aber auch deutlich gemacht, wie schwer es ist, die men zum Kauf von Lebensmitteln, und den Kleinbauern für eine Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Nut- fehlt der Zugang zu produktiven Ressourcen wie Land, zens und der Kosten nötigen Daten zu ermitteln Kredite, Betriebsmittel etc. Dieser Mangel stellt ein gro- ßes Entwicklungshemmnis in vielen Ländern dar. Die Der Weltagrarrat warnt, dass die Agrogentechnik die Produktivität der Landwirtschaft muss daher durch lokalen Anbaupraktiken unterwandert, die die Nah- strukturelle und die Produktionsrahmenbedingungen rungsmittelversorgung der Bevölkerung und der Wirt- verbessernden Maßnahmen gestärkt werden. Die Gen- schaft vor Ort sichern. Durch Patente der Konzerne stie- technik könnte dabei – neben vielen anderen – ein flan- gen zudem die Kosten, und der Zugang der Bauern vor kierendes Element darstellen. Ort werde eingeschränkt. Notwendig sei vielmehr die Rückbesinnung auf natürliche und nachhaltige Produk- Nicht ganz uninteressant scheint zum Beispiel das tionsweisen, die eine ausreichende Erzeugung mit dem Projekt „Goldener Reis 2“. Dabei handelt es sich um Schutz von Wasser, Boden, Wäldern und Artenvielfalt Reis, dem durch verschiedene gentechnische Verände- vereinen. rungen die Fähigkeit zur Synthese von Beta-Carotin, Wenn der Hunger in der Welt als Vehikel herhalten also einer Vorstufe von Vitamin A, verliehen wurde. Da- muss, um mehr Forschungsgelder für die Agrogentech- mit sollen der Mangel an Vitamin A bei Menschen in nik lockerzumachen, ist das zynisch. So hat zum Bei- Entwicklungs- und Schwellenländern aufgefangen wer- spiel der sachsen-anhaltinische Wirtschaftsminister Rei- den, deren Hauptnahrungsmittel Reis ist. Laut Modell- ner Haseloff festgestellt, dass sich bei der vom Land rechnungen könnte hiermit insbesondere bei Kindern geförderten Forschung an Pflanzen, die Trockenheit ver- eine Deckung des Vitamin-A-Bedarfs erreicht werden. tragen und dem Klimawandel trotzen, die „Erwartungen Aber, und das ist hier die Krux, die sich auch durch die nicht erfüllt“ haben. 55 Millionen Euro Forschungsgel- gesamte Diskussion der Grünen Gentechnik zieht: Es sind eben nur Modelle, von denen hier die Rede ist. Ob (B) der sind ergebnislos verpufft. Damit hätten sicherlich (D) sinnvollere Projekte zur Verbesserung der Ernährungssi- die in den Modellrechnungen zugrunde gelegten Annah- tuation in den Entwicklungsländern finanziert werden men auch dann tatsächlich zutreffen, bleibt abzuwarten. können. Von empirischer Evidenz kann momentan jedenfalls nicht gesprochen werden. Denn es muss auch die Frage Gentechnik macht nicht satt und ist teuer. Deshalb erlaubt sein, warum sich nach über zwanzig Jahren lehnen wir Ihren Antrag ab. Forschung und zwölf Jahren Anbau momentan aus- schließlich zwei Merkmale – nämlich Herbizidresistenz Dr. Sascha Raabe (SPD): Hunger und ländliche und Bt-vermittelte Insektenresistenz – erfolgreich auf Entwicklung sind untrennbar miteinander verknüpft. dem Markt durchgesetzt haben. Gerade das immer wie- Das wird uns gerade heute am Welternährungstag wieder der angebrachte Argument, die Nutzung gentechnisch deutlich vor Augen geführt. Mehr als 920 Millionen veränderten Saatguts würde deutlich effizientere Erträge Menschen leiden Hunger, davon leben etwa drei Viertel und Nutzungsmöglichkeiten mit sich bringen, kann da- im ländlichen Raum. Die Zahl der Hungernden ist in den her so nicht stimmen. Der Nutzen von GVO-Pflanzen, vergangenen Monaten um knapp zehn Prozent angestie- also gentechnisch veränderten Organismen, ist wissen- gen. Ein Hauptgrund hierfür sind die weltweit steigenden schaftlich längst noch nicht erwiesen. Nahrungsmittelpreise, die die globale Ernährungssicher- heit und somit die Erreichung des ersten Millenniums- Was sich allerdings sehr wohl nachweisen lässt, ist entwicklungsziels, nämlich die Anzahl der Hungernden die Verdrängung regionaler Sorten. Hier müssen wir bis 2015 zu halbieren, zunehmend gefährden. Die Nah- achtgeben, dass die Grüne Gentechnik nicht durch un- rungsmittelkrise hat vielfältige Ursachen. Neben der kontrollierten Anbau in den Entwicklungsländern aus weltweit höheren Nachfrage nach Lebensmitteln und dem Ruder läuft. Davor warnt auch der Weltagrarrat in veränderten Ernährungsgewohnheiten, unverantwortli- seinem jüngsten Bericht. Zum einen wird befürchtet, chem Spekulantentum und dem Anbau von Argartreib- dass die Agrogentechnik die lokalen Anbaupraktiken un- stoffen ist die Nahrungsmittelkrise auch Folge von terwandert, die die Nahrungsmittelversorgung der Be- vernachlässigter Förderung und Aufbereitung der Land- völkerung und der Wirtschaft vor Ort sichern. Es besteht wirtschaft in den Entwicklungsländern. die Sorge, dass genverändertes Saatgut die einheimi- schen Produkte verdrängt. Schutzzonen und weitere Schätzungen zufolge wird die Weltbevölkerung in Maßnahmen müssen ein „Verseuchen“ genunveränderter 40 Jahren auf voraussichtlich neun Milliarden Menschen Pflanzen gewährleisten. Zum anderen, und dieser Punkt angewachsen sein. In diesem Maß wird in etwa auch der ist unweigerlich mit dem ersten verbunden, muss verhin- Nahrungsmittelbedarf weltweit steigen. Doch Hunger ist dert werden, dass die Saatgutentwicklung in den Ent- 19620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) wicklungsländern immer weiteren Restriktionen und ausschuss über die weltweit zunehmende Versteppung. (C) Auflagen der großen Biotechnologieunternehmen unter- Die fortschreitende Wüstenbildung wird hervorgerufen worfen sind. Patentverträge führen dazu, dass die Klein- durch Klimawandel, falsche Bewirtschaftungsmethoden, bauern in Entwicklungsländern in eine regelrechte Ab- schlechtes Regierungshandeln. Sie ist eine zusätzliche hängigkeit der Großindustriellen geraten. Patente treiben Gefahr für die Welternährung. die Kosten in die Höhe, beschränken die Versuche der einzelnen Bauern bzw. der öffentlichen Forschung und Es ist in den letzten Jahrzehnten gelungen, den Anteil untergraben ortsübliche Methoden zur Stärkung der der hungernden Menschen deutlich zu senken. Heute Ernährungssicherung und wirtschaftlichen Nachhaltig- werden gegenüber 1950 4 Milliarden Menschen mehr er- keit. nährt als damals, ein Erfolg, der wesentlich auf der ers- ten grünen Revolution beruht. Doch vom Millenniums- Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihre Be- ziel der Halbierung von Armut und Hunger bis zum Jahr hauptung, „die Biotechnologie ist eine international an- 2015 sind wir noch weit entfernt. Der Welthungerindex erkannte Methode, um Nutzpflanzen zu verbessern“, 2008 zeigt, dass es in einer ganzen Reihe von Ländern kann so jedenfalls nicht stehen bleiben. Daher wäre es gelungen ist, die Ernährungssituation deutlich zu verbes- fatal, wenn man in der Bekämpfung von Hunger und Ar- sern; in anderen, wie in verschiedenen Südsaharastaaten, mut in den Entwicklungsländern einzig auf die Karte ist sie dramatisch schlecht. Gentechnik setzen würde. Gentechnik an sich muss nicht Die entwickelte Welt ist aufgerufen, vertieft darüber verkehrt sein – sie ist aber kein Allheilmittel. nachzudenken, wie wir auf dieser Erde mehr Menschen Landwirtschaftliche Fragestellungen im Bereich der ernähren und ihnen eine Lebensperspektive eröffnen Entwicklungszusammenarbeit bedingen immer die Not- können. Ohne Zweifel gibt es sehr politische Gründe, wendigkeit einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Lö- warum in Ländern wie Nordkorea oder der Demokrati- sung, die sozial, ökologisch und ökonomisch zukunftsfä- schen Republik Kongo die Menschen Hunger leiden. hig sein muss. Das kann ich in ihrem Antrag so nicht Das gilt aber nicht für alle Länder. Die Forderung des finden. Im Gegenteil. Wenn man ihren Antrag liest, dann Chefs der UNCCD ist berechtigt: Mehr Forschung, eine könnte man meinen, die Bundesregierung hätte nichts Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion um 50 Prozent dafür getan, den Menschen in den Entwicklungsländern bei Berücksichtigung der Entwicklung gentechnisch ver- zu helfen. Das Gegenteil ist der Fall. Allein für den Be- änderter Pflanzen. Die bessere Verteilung der Nahrungs- reich der ländlichen Entwicklung hat die Bundesregie- mittel ist wichtig, reicht aber nicht. 50 Prozent der Nah- rung die Nettoausgaben von 382,3 Millionen Euro im rungsmittelproduktion werden entweder schon vor der Jahr 2005 auf 576,8 Millionen Euro im Jahr 2006 erhöht Ernte durch Schadorganismen oder nach der Ernte wäh- (B) und im Jahr 2008 über verschiedene Instrumente insge- rend der Lagerung vernichtet. Zu einer Erhöhung der (D) samt circa 600 Millionen Euro allein für die Ernährungs- Nahrungsmittelproduktion gibt es daher keine Alterna- sicherung neu investiert. Es sollte ebenfalls nicht uner- tive. Für die Züchtung schädlingsresistenter sowie wähnt blieben, dass es Bundesentwicklungsministerin trockenheits- und salztoleranter Sorten bieten biotechno- Heidemarie Wieczorek-Zeul zu verdanken ist, dass die logische Züchtungsverfahren hervorragende Möglich- Weltbank wieder einen höheren Anteil ihrer Mittel für keiten und gute Erfolgsaussichten. die ländliche Entwicklung einsetzt. Ebenso wirkt die Nicht die Wünsche satter Europäer sollten Maßstab Bundesrepublik als Gründungsmitglied der Consultative der Bewertung der Grünen Gentechnik sein, sondern die Group on Internationale Agricualtural Research Erfordernisse der Bekämpfung von Hunger und Armut (CGIAR) an der Erarbeitung angewandter Lösungen in in den ärmsten Ländern der Erde. der Agrarforschung mit. Sie ist ein bedeutender Baustein für Wachstum in der Landwirtschaft. Ich stimme dem ehemaligen Vorsitzenden der Deut- schen Bischofskonferenz, Herrn Kardinal Lehmann, zu, Als SPD-Bundestagsfraktion werden wir weiterhin der mir in Reaktion auf den Antrag der FDP-Fraktion ge- den eingeschlagenen Weg in der Landwirtschaft und schrieben hat: „Ein verantwortungsvoller, nicht nur dem ländlichen Entwicklung gehen, und uns für eine ver- ökonomischen Gewinn verpflichteter Umgang mit bio- stärkte Entwicklung des ländlichen Raums einsetzen. Im technologischen Verfahren ist ethisch geboten und Aus- Dezember bringen wir hierzu einen entsprechenden An- druck des Bemühens um globale, intergenerationelle und trag in den Bundestag ein, der zu den weitreichenden ökologische Gerechtigkeit.“ Fragen des Themenkomplexes der ländlichen Entwick- lung, mit ganzheitlichen Konzepten von sozialer, ökolo- Der Goldene Reis entspricht diesen Anforderungen. gischer und ökonomischer Tragweite, Antworten liefert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation erblin- den jedes Jahr 500 000 Kinder aufgrund von Vitamin-A- Mangel, die Hälfte von ihnen stirbt. Diesen Kindern Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Weltbe- könnte der Goldene Reis helfen. Professor Martin völkerung nimmt rasant zu. Täglich wächst sie um etwa Quaim kommt aufgrund seiner Untersuchungen in In- 80 000 Menschen. Das entspricht der Bevölkreung einer dien zu dem Schluss, dass der Goldene Reis eine Mög- Stadt wie zum Beispiel Brandenburg an der Havel, Neu- lichkeit darstellt, den Vitamin-A-Mangel erfolgreich zu münster oder Marburg. 2030 werden 9 Milliarden Men- bekämpfen. schen auf dieser Erde leben. Gleichzeitig nehmen die Ackerflächen durch Versteppung und Versalzung ab. Die Vorstellung, dass Menschen, die so arm sind, dass Luc Gnacadja, Chef der UNCCD, berichtete im Agrar- sie sich fast ausschließlich von Reis ernähren, doch ohne Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19621

(A) Weiteres ihren Speiseplan mit ein bisschen Gemüse auf- UN-Ernährungsorganisation FAO reicht die vorhandene (C) bessern können, hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist Nahrungsmittelproduktion zur Ernährung von 12 Mil- den Menschen auf den Philippinen, in Indien und Indo- liarden Menschen aus. Die Ernährungskrise hat struktu- nesien zu wünschen, dass Professor Potrykus mit seiner relle Ursachen, die auf politische Fehlentscheidungen, Überzeugung Recht behält, dass 2012 der Goldene Reis verfehlte Agrar-, Handels- und Finanzpolitik zurückzu- in diesen Ländern angebaut wird. Es ist ethisch nicht führen sind. Die Liberalisierungspolitik und die Markt- verantwortbar, wenn weiterhin die entwickelte, die rei- öffnung für Agrarprodukte haben dafür gesorgt, dass che, die satte Welt die Entwicklungsländer behindert, lokale Märkte im Süden zerstört wurden. Die Exportsub- Goldenen Reis zu nutzen. Die Industrie hat ihre Lizen- ventionen haben zu Dumpingpreisen von EU-Produkten zen für die Subsistenzwirtschaft zur Verfügung gestellt. geführt. Der kleinbäuerliche Sektor wurde über Jahr- Damit ist gewährleistet, dass dort Nachbau betrieben zehnte vernachlässigt. Subsistenzlandwirtschaft wurde werden kann. belächelt, vor allem von Ihnen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern, Forschun- Zweitens. Die Risiken des Anbaus von genmanipu- gen zu fördern, die die Züchtung von Pflanzen ermögli- lierten Pflanzen: chen, die für die Armutsbekämpfung in Entwicklungs- ländern von besonderer Bedeutung sind. Die Chancen Die potenziellen Gefahren des Anbaus von genmani- und Potenziale der Biotechnologie müssen ausgeschöpft pulierten Pflanzen im Freiland sind noch ungeklärt und werden. Als führende Industrienation müssen wir Ver- mannigfaltig. Die Pflanzen können sich unkontrolliert in antwortung für die Forschung und Entwicklung gentech- nahe Verwandte auskreuzen, die Debatte über transge- nisch verbesserter Pflanzen für die Bekämpfung von nen Mais oder Raps hat das Problem aufgezeigt. Eine Hunger und Armut übernehmen. Wir Liberale sagen ungewollte Ausbreitung von gentechnischen Verände- ganz klar: Es ist durch nichts zu rechtfertigen, aus der Si- rungen ist folglich nicht nur möglich, sondern wahr- tuation des Wohlstands in Europa heraus die Anwen- scheinlich. Denn Resistenzen gegen Pflanzenschutzmit- dung einer Züchtungsmethode zu behindern, die den tel gefährden Ökosysteme und können letztendlich zu Menschen in weiten Teilen der Erde bei der Überwin- mehr Pestizidverbrauch führen. Bei der Wechselwirkung dung von Hunger und Armut helfen kann. von veränderten Pflanzen mit bestäubenden Insekten und bei Anreicherungen von Fremdsubstanzen wurden Uns ist bewusst, dass die Biotechnologie nicht das ebenfalls negative Auswirkungen auf das Bodenleben Allheilmittel zur Bekämpfung des Hungers auf der Welt beobachtet. Unumstritten ist der Zusammenhang von ist. Wir meinen aber, dass die Erfahrungen der vergange- Agro-Gentechnik und der Verminderung der Artenviel- nen Jahre gezeigt haben, dass die Biotechnologie einen falt. Biodiversität ist ein bedrohtes öffentliches Gut und wichtigen Beitrag leisten könnte, gemeinsam mit ande- (B) muss erhalten werden, wenn wir unsere Umwelt lebens- (D) ren Maßnahmen wie mehr Bildung, mehr Investitionen wert für die Zukunft bewahren wollen. in die Landwirtschaft, bessere Anbaumethoden, besseres Regierungshandeln, mehr Rechtssicherheit. So steht es Drittens. Biotechnologie als Instrument im Kampf ge- in unserem Antrag. Ich bitte die Kolleginnen und Kolle- gen Hunger: gen um Unterstützung. Vor den Auswirkungen gentechnisch veränderten Saatguts vor allem in Entwicklungsländern wird von Ex- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Der uns vor- pertinnen und Experten eindringlich gewarnt. Selbst die liegende Antrag der FDP schlägt vor, mit Biotechnologie GTZ bezweifelt die Wirksamkeit gentechnischer verän- den Hunger der Welt zu bekämpfen. Armut soll durch derter Organismen gegen den Hunger in Entwicklungs- die Züchtung neuer Pflanzen gemindert werden. Durch ländern. Wie Prof. Rauch in seinem Statement zur Anhö- höheren Mineralien- und Ölgehalt soll Unterernährung rung, die gestern stattfinden sollte, sagt: „Gentechnik bekämpft werden. Neue Züchtungen – so meint die FDP – impliziert die Abhängigkeit von gut funktionierenden retten die Welt. Agrardiensten. In ländlichen Regionen mit schwachen Nun – auch Ihnen ist inzwischen hoffentlich einiges Institutionen ist eine – für Bauern lebensentscheidende – klarer geworden. Das einzige was ich Ihnen zugutehal- rechtzeitige alljährliche Versorgung mit Saatgut nur ten kann an diesem Antrag, ist, dass er veraltet ist. Auch schwer zu gewährleisten.“ Kleinbetriebe begeben sich Sie von der FDP dürften inzwischen begriffen haben, durch die aggressive Patentierungspolitik der Saatgut- dass wir zur Beseitigung des Hungers in der Welt ganz konzerne und die Lizenzgebühren in eine Schuldenfalle, anderer Lösungen bedürfen. aus der sie nicht mehr herauskommen. Das manipulierte Saatgut ist teuer und darf nur unter Zahlung einer Ge- Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Lassen Sie uns ge- bühr nachgebaut werden. Damit entfällt ein uraltes meinsam die einzelnen Punkte noch einmal durchgehen: Recht und ein selbstbestimmter Freiraum der Bäuerin- Erstens. Die Ursachen des Hungers: nen und Bauern. Zurzeit werden 80 Prozent des Getrei- des in den Entwicklungsländern aus Samen der letzten Laut Schätzungen der Weltbank ist die Anzahl der Ernte angebaut. Auf der anderen Seite kontrollieren zehn Hungernden zwischen 2005 und 2007 von 848 auf Konzerne gegenwärtig 85 Prozent des Marktes an gen- 967 Millionen angestiegen. Die Ursachen dafür wurden technisch veränderten Nutzpflanzen. Und sie verdienen hier bereits vielfältig besprochen. Es ist mittlerweile un- gut. Zum einen an den Patenten und Lizenzgebühren und bestritten (außer anscheinend von Ihnen), dass es mehr zum anderen an den jeweils speziell benötigten Pflan- als genug Nahrung für alle auf der Welt gibt. Laut der zenschutzmitteln, ohne die das System nicht funktio- 19622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) niert. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern können hier nur derter Pflanzen gezeigt habe, dass es in einigen Gebieten (C) verlieren. Ertragszuwächse, in anderen aber Ertragsrückgänge durch den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen Schlussfolgerungen: gab. Von Biotechnologien in der Landwirtschaft profitie- Seit rund zehn Jahren werden gentechnisch verän- ren nur großflächige Landwirtschaftsbetriebe und die derte Pflanzen zu kommerziellen Zwecken angebaut, vor Agrarkonzerne. Die Gefahren für Mensch und Umwelt allem in den USA, Argentinien und Brasilien. Dies sind sind absolut ungeklärt und extrem risikobehaftet. Die Er- fast ausschließlich herbizid- oder insektenresistente nährungssouveränität aller Länder kann mittels Agrarre- Soja-, Mais-, Raps- und Baumwollsorten, die auf frucht- formen zugunsten armer und kleinbäuerlicher Betriebe baren Böden angebaut werden müssen. Es werden in- und Förderung von ökologisch nachhaltiger Landwirt- zwischen fast ausschließlich gentechnisch veränderte schaft gesichert werden. Verbesserter Zugang zu Land, Sojasorten des US-Konzerns Monsanto angebaut. Landreformen und bessere Bewässerungssysteme kön- nen die Ernten um 50 Prozent wachsen lassen. Die Die Konsequenzen für die Landwirtschaft in Argenti- Sicherung lokaler Märkte muss klar Vorrang vor Export- nien sind enorm: Waldflächen wurden für den Sojaanbau landwirtschaft haben. Das bezieht sich sowohl auf Ex- gerodet, der Einsatz von Pestiziden und Stickstoffdünger porte von Lebensmitteln, Futter oder Agroenergie. stieg an, und es gibt Probleme mit dem Durchwuchs von Wir halten eine dauerhafte und anhaltende Lösung der herbizidresistenten Sojapflanzen. Gleichzeitig nahm in Nahrungsmittelkrise als eines der wichtigsten aktuellen Argentinien die landwirtschaftliche Fläche für die Ei- Themen. Dieser Antrag der FDP-Fraktion wird jedoch genversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht im Mindesten zu einer Lösung beitragen, weswe- ab. Kleine und mittelständische landwirtschaftliche Be- gen wir ihn aus voller Überzeugung ablehnen. triebe wurden verdrängt. Die Agro-Gentechnik kommt anders als der Ökoland- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die bau nicht ohne Pestizide aus. Entweder werden die Ursachen der Welternährungskrise sind vielfältig. Hun- Pflanzen mittels Gentechnik selbst zu Pestiziden umge- ger und Armut sind auch das Ergebnis einer EU-Agrar- baut, sodass sie in allen Pflanzenteilen – sogar im Pollen – politik, die vor allem am Wohlergehen der Industrielän- einen toxischen Stoff des Bacillus thuringiensis – Bt – der orientiert war. Agro-Gentechnik ist kein innovativer produzieren. Zu diesen insektenresistenten Pflanzen ge- „neuer“ Ansatz in der Landwirtschaft, der einen Beitrag hören auch die MON-810-Maissorten von Monsanto, die zur Lösung des Hungerproblems leistet, sondern eine von Landwirtschaftsminister Horst Seehofer für den An- neue Gewinnsparte und in Abhängigkeit von der Agroin- bau in Deutschland zugelassen wurden. Oder es werden (B) dustrie. Totalherbizide eingesetzt. (D) Gentechnisch veränderte Pflanzen dienen nicht der Die schädliche Wirkung dieser Kombination für die Hungerbekämpfung, sondern werden zur Exportware – Biodiversität wurde unter anderem in einer langjährigen als Baumwolle für billige T-Shirts oder als Futtermittel Studie der britischen Regierung nachgewiesen: Durch für den Fleischkonsum in den Industrieländern. Zyni- den Anbau von herbizidresistentem Raps waren 44 Pro- scher sind noch einzelne Prestigeobjekte der Agro-Gen- zent weniger Blütenpflanzen und weniger Schmetter- technik-Industrie, zum Beispiel der „Golden Rice“. linge und Spinnen zu finden, während bei Anbau Wenn Menschen sich nicht genug Reis zum Überleben herbizidresistenter Zuckerrüben 34 Prozent weniger Blü- leisten können, dann können sie sich auch keinen „Gol- tenpflanzen sowie signifikant weniger Bienen, Schmet- den Rice“ leisten. terlinge und Wanzen zu finden waren. Die Hungerdebatte wird von Befürwortern der Agro- Das Beispiel des Soja-Anbaus in Argentinien zeigt Gentechnik genutzt, um ein verstaubtes Argument neu neben den ökologischen Risiken auch die sozio-ökono- aufzupolieren: Die Sicherstellung der Welternährung er- mischen Risiken der Agro-Gentechnik deutlich an. Dazu fordere eine Steigerung der Produktivität in der Land- gehören zum Beispiel Kosten für die Vermeidung von wirtschaft, und dies ginge nur mit gentechnisch verän- Verunreinigungen oder der Gefährdung der Biodiversität derten Pflanzen. Doch auch diesen Nachweis ist die durch gentechnisch veränderte Pflanzen oder Folgen der Agro-Gentechnik-Industrie schuldig geblieben, wie eine Patentierung biologischer Ressourcen und der Monopo- Studie der Universität Georgia von 2008 zeigt. lisierung des Saatgutsektors. Die Risiken in Entwick- lungsländern sind laut UN-Weltagrarrat vor allem enorm Schon 2004 wies die FAO darauf hin, dass eine Er- hohe Kosten für Saatgut durch Patente. Und gerade trags- und Gewinnsteigerung durch den Anbau von gen- Kleinbauern geraten laut GEPA durch den Einsatz von technisch veränderten Pflanzen wissenschaftlich nicht Hybrid- und gentechnisch verändertem Saatgut in eine belegt sei. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch Schuldenspirale, da sie Saatgut, Düngemittel und Pesti- die Autoren einer von der EU-Kommission in Auftrag zide jedes Jahr erneut zu vorgegebenen Preisen kaufen gegebenen Übersichtsstudie aus dem Jahr 2007 bestäti- müssten. Die Schuldenfalle Agro-Gentechnik hat auch gen, dass die Datenlage hinsichtlich einer Ertragssteige- bei Baumwoll-Bauern in Indien zu einer hohen Selbst- rung durch gentechnisch veränderte Pflanzen nicht be- mordrate geführt. lastbar sei. Auch der UN-Weltagrarrat erklärt in seinem Bericht von 2008, dass eine Auswertung der bisher vor- Eine Studie des Sächsischen Landesamtes für Um- gelegten Studien über den Anbau gentechnisch verän- welt, Landwirtschaft und Geologie ergab zudem auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19623

(A) für Deutschland als Industrieland, dass beim Anbau von cherungswesen. Ob man Ergebnisse genetischer Unter- (C) Bt-Mais höhere Saatgutkosten von 35 bis 40 Euro pro suchungen wissen will oder sie gerade nicht wissen will, Hektar entstehen. Diese Mehrkosten können erst recht das unterliegt der Selbstbestimmung jedes einzelnen. nicht Bauern in Entwicklungsländern tragen. Der Gesetzentwurf legt strenge Maßstäbe an die Einwil- ligung in eine genetische Untersuchung an. Viele Ursachen steigender Lebensmittelpreise und Flächenkonkurrenz liegen in den reichen westlichen Genetische Tests können zur Absicherung einer Ländern. Fleischhunger macht Welthunger – dagegen Diagnose beitragen und dadurch die Therapie verbes- hilft keine Technik, erst recht keine Agro-Gentechnik, sern. Pharmakogenetische Tests können genetisch be- sondern hier müssen politische und strukturelle Lö- dingte Empfindlichkeiten für bestimmte Medikamente sungsansätze gefunden werden. Dazu gehört, in der klären und so eine individuelle Auswahl und Dosierung Agrar- und Agrarsubventionspolitik umzusteuern und in von Medikamenten erleichtern. Prädiktive genetische der Entwicklungszusammenarbeit sowie in den Partner- Test geben Anhaltspunkte über mögliche Risiken einer ländern selbst die bäuerliche Landwirtschaft und ländli- zukünftigen Erkrankung oder Behinderung. Prädiktive che Entwicklung zu stärken. Auch müssen wir unsere Gentests können möglicherweise helfen, einer Krankheit Ernährungsgewohnheiten verändern. Und es muss recht- vorzubeugen, etwa durch Anpassung der Lebensge- zeitig gegengesteuert werden, damit aus dem Energie- wohnheiten. hunger nicht noch mehr Welthunger wird. Wichtig ist: Das Menschenrecht auf Nahrung muss Gerade weil wir die Chancen genetischer Diagnostik Priorität haben. Die Bundesregierung schließt in ihrem nutzen wollen, brauchen wir eine gesetzliche Regelung. Beschluss nicht aus, die Welternährungskrise auch mit Die Menschen müssen sicher sein können, dass geneti- industriellen Mitteln wie der Agro-Gentechnik zu be- sche Untersuchungen zu ihrem Vorteil durchgeführt wer- kämpfen. Dies ist keine Lösung. Eine nachhaltige, so- den. Sie müssen sicher sein, dass es nicht zu ihrem Scha- ziale und ökologische Landwirtschaft, die das Hunger- den ist, wenn sie genetische Diagnostik in Anspruch problem überwinden kann, braucht keine grüne nehmen. Deshalb war es uns als Union wichtig, dass es Gentechnik. Agro-Gentechnik ist im Gegenteil eine er- zukünftig Versicherern und Arbeitgebern nicht nur ver- hebliche Gefährdung der Ernährungssicherheit. boten sein soll, genetische Tests zu verlangen, sondern es auch ein Verbot der Verwertung von Testergebnissen gibt, die der Betroffene freiwillig vorlegt oder an die der Anlage 14 Arbeitgeber oder das Versicherungsunternehmen auf an- dere Weise gelangt. Zu Protokoll gegebene Reden (B) Besonders wichtig ist die qualifizierte Beratung vor (D) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über und nach einem prädikativen Gentest, um den Aussage- genetische Untersuchungen bei Menschen (Gen- wert eines Testergebnisses richtig einzuschätzen und auf diagnostikgesetz – GenDG) (Tagesordnungs- seiner Basis eine begründete Entscheidung treffen zu punkt 16) können. Diese Beratung muss von Ärzten geleistet wer- den, die über besondere Fachkunde verfügen. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Heute liegt uns der Ge- setzentwurf der Bundesregierung zu einem Gendiagnos- Das Gendiagnostikgesetz geht von der Besonderheit tikgesetz vor. Genetische Untersuchungen sind ein Be- genetischer Daten aus schreibt und zum Schutz der be- reich, in dem sich Verbände, Enquete-Kommission, troffenen Menschen sinnvolle Regelungen vor, etwa Nationaler Ethikrat, Fraktionen und verschiedene Bun- Arztvorbehalt, qualifizierte Beratung, Bedingungen der desregierungen seit mehreren Jahren um eine gesetzliche Einwilligung und der Aufbewahrung bzw. Vernichtung Regelung bemühen. Die CDU/CSU-Fraktion hat, auch von Ergebnissen genetischer Untersuchungen. unter den Vorgängerregierungen, immer wieder auf ein Gendiagnostikgesetz gedrängt. Die Regierungsfraktio- Ich denke, im Grundsatz haben wir ein hohes Maß an nen haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass geneti- Einigkeit darüber, dass ein Gesetz diese Grundprinzipien sche Untersuchungen gesetzlich geregelt werden sollen. umsetzen soll. Über die konkrete Ausgestaltung dieser Prinzipien werden wir auf Basis des Gesetzentwurfes der Es ist gut, dass wir heute mit dem vorliegenden Ent- Bundesregierung beraten. Wir werden auch im Rahmen wurf das Gesetz auf den Weg bringen. Es besteht weitge- einer Anhörung die Betroffenen und die Fachleute in die hende Einigkeit, dass ein solches Gesetz nötig ist. Seine Beratung einbeziehen. Wir werden genau darauf Gene wird der Mensch sein Leben lang nicht los, sie ste- schauen, ob die Begriffsbestimmungen trennscharf und hen fest. Genetische Daten sind sensible, höchstpersönli- praxistauglich sind, etwa hinsichtlich der Unterschei- che Gesundheitsdaten. Genetische Daten sind auch des- dung zwischen diagnostischen und prädikativen geneti- halb besonders sensibel, weil sie Informationen über schen Untersuchungen. Besonders muss aus meiner Verwandte enthalten können. Sicht geprüft werden, inwieweit der Stellungnahme des Der Gesetzentwurf gibt genetische Untersuchungen Bundesrates gefolgt werden sollte, genetische Untersu- in die Hände von Fachleuten, sichert Qualitätsanforde- chungen zu Forschungszwecken einzubeziehen. Natür- rungen ab und errichtet Schutzwälle gegen Missbrauch lich sind wir zu Änderungen bereit, die sich aus den wei- genetischer Daten und Diskriminierung aufgrund geneti- teren Beratungen, Stellungnahmen und Anhörungen scher Eigenschaften, etwa im Arbeitsleben und im Versi- ergeben. 19624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Bei einem ausführlichen Gespräch zum Gendiagnos- Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine gute Aus- (C) tikgesetz mit Vertretern der Diagnostica-Industrie haben gangsbasis und ein großer Schritt für mehr Sicherheit diese unter anderem die Position vertreten, dass der For- und Vertrauen im bereich der Gendiagnostik. Wir wer- schungsbereich im Gendiagnostikgesetz mit geregelt den in der Anhörung erfahren, wie die Sachverständigen werden muss. Ihre Begründung für eine gesetzliche Re- den Entwurf beurteilen, was sie begrüßen und wo sie gelung ist so einleuchtend wie vernünftig: Wenn jede Korrekturbedarf sehen, und wir werden sehr gewissen- Frau und jeder Mann wissen, dass genetische Untersu- haft und sorgfältig mit ihren Vorschlägen umgehen. chungen in einem geordneten und gesetzlich festgeleg- ten Rahmen stattfinden, besteht Vertrauen. Eine gesetzli- Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus- che Regelung im Forschungsbereich ist also sowohl im schuss. Interesse der Betroffenen als auch der Anbieter und der Industrie. Dr. Carola Reimann (SPD): Mit dem Entwurf für ein Gesetz über genetische Untersuchungen beim Men- Von daher ist in der Tat zu prüfen, was im Bereich der schen – kurz Gendiagnostikgesetz – legen wir eine ge- genetischen Forschung bundesweit geregelt ist und was setzliche Regelung für den bisher ungeregelten Bereich gegebenenfalls geregelt werden muss. Ansonsten würde der genetischen Untersuchungen vor. Dieser Bereich er- dies ein Problem insofern darstellen, als solche For- fordert angesichts der Erkenntnismöglichkeiten der Hu- schungsprojekte nicht notwendig nur innerhalb der mangenetik einen besonderen Schutzstandard, um die Grenzen eines Bundeslandes stattfinden und verschie- Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu dene Berufsgruppen und verschiedene Institutionen schützen und durch eine gesetzliche Regelung die Quali- – etwa private und öffentlich-rechtliche Stellen – unter- tät der genetischen Diagnostik zu gewährleisten. schiedlichen rechtlichen Anforderungen unterliegen könnten. Dies würde letztlich als Forschungshindernis Der nun vorliegende Gesetzentwurf wird die Bürge- wirken. rinnen und Bürger in die Lage versetzen, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen. Ein Umgekehrt gilt: Wenn genetische Untersuchungen in weiteres wichtiges Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die einem geordneten und gesetzlich festgelegten Rahmen mit der Untersuchung menschlicher genetischer Eigen- stattfinden, besteht das Vertrauen, auf das Forschung an- schaften verbundenen möglichen Gefahren und geneti- gewiesen ist. Deshalb sollten wir uns diesem Thema sche Diskriminierung zu verhindern und gleichzeitig die sorgfältig widmen. Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen für den Einzelnen zu wahren. Mit dem Gesetz werden zu- In den letzten Wochen ist auch darüber diskutiert wor- dem Anforderungen an eine gute genetische Untersu- den, ob das Gesetz alles erlauben soll, was „technisch“ (B) chungspraxis verbindlich geregelt. (D) möglich ist. So haben unter anderem der Ministerpräsi- dent von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, und die Zu den Grundprinzipien des Entwurfes zählt das Staatssekretärin Ursula Heinen ein Verbot vorgeburtli- Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestim- cher genetischer Untersuchungen gefordert, die gezielt auf mung. Hierzu gehören sowohl das Recht auf Wissen, „spätmanifestierende Erkrankungen“ wie zum Beispiel also das Recht, die eigenen genetischen Befunde zu ken- Brustkrebs oder Alzheimer durchgeführt werden, also für nen, als auch das Recht auf Nichtwissen, das heißt diese solche Erkrankungen, die erst im späteren Lebensalter nicht zu kennen. Nur wenn die betroffene Person in die auftreten. Allein die Entnahme der Fruchtwasserprobe für Untersuchung rechtswirksam eingewilligt hat, dürfen diese genetische Untersuchung birgt ein Risiko von einem genetische Untersuchungen durchgeführt werden. Vo- Prozent, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. raussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungs- rechts ist die Trias aus Aufklärung vor den genetischen Solche Gentests wären auch lange nach der Geburt Untersuchungen, die wirksame Einwilligung in die ge- des Kindes möglich, wenn es nur darum geht, der Er- netische Untersuchung sowie zusätzlich die genetische krankung bestmöglich vorzubeugen, etwa durch gezielte Beratung. Mit diesem Konzept wollen wir eine souve- Vorsorgeuntersuchungen, besondere Ernährung oder Le- räne Entscheidung des informierten Patienten für oder bensführung, oder sich bestmöglich auf die Erkrankung gegen eine genetische Untersuchung ermöglichen. vorzubereiten. Wenn man nur das Wohl des Kindes im Auge hat, gibt es keinen Grund, solche Gentests noch Im Detail sieht unser Entwurf Regelungen für die Be- vor der Geburt durchzuführen. reiche der medizinischen Versorgung, der Abstammung, des Arbeitslebens und der Versicherungen vor. Auf die Wenn man solche Gentests noch vor der Geburt statt Regelungen zu genetischen Untersuchungen zu medizi- nach der Geburt durchführen will, um das Risiko einer nischen Zwecken sowie im Arbeits- und Versicherungs- „spätmanifestierenden Erkrankung“ abzuklären, so hat bereich möchte ich im Folgenden näher eingehen. man davon keinen zusätzlichen Nutzen, es sei denn, um sich für eine Abtreibung wegen dieser Veranlagung zu Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwe- entscheiden. Wenn wir vorgeburtliche Gentests auf cken, die nur von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt „spätmanifestierende Erkrankungen“ zulassen, schaffen werden dürfen, unterliegen einem abgestuften Bera- wir ein erhebliches Diskriminierungspotenzial gegen tungskonzept. Die genetische Beratung ist ein zentrales Träger solcher Veranlagungen. Wir würden einen weite- Element des Gesetzentwurfes. So soll eine Beratung ren Schritt zum „Kind nach Maß“ zulassen. Dies ist eine dann angeboten werden, wenn die genetische Untersu- Gewissensfrage. chung der Abklärung einer bereits bestehenden Erkran- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19625

(A) kung dient. Verpflichtend ist sie hingegen dann, wenn die Chancen genetischer Untersuchungen für den Einzel- (C) Untersuchungen eine Vorhersage auf die eigene Gesund- nen wahrt sowie andererseits die mit der Untersuchung heit oder auf die Gesundheit eines ungeborenen Kindes menschlicher genetischer Eigenschaften verbundenen erlauben. In beiden Fällen ist die Beratung vor und nach möglichen Gefahren verhindert. Ich möchte an dieser der Untersuchung verpflichtend. Auf ausdrücklichen Stelle besonders hervorheben, dass Aufklärung und Be- Wunsch der Patientin oder des Patienten ist – ganz im ratung als Voraussetzung für eine wirklich informierte Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – Entscheidung des Einzelnen einen zentralen Stellenwert auf die Beratung zu verzichten. in unserem Entwurf einnehmen. Der vorgelegte Entwurf sichert diesen Gleichklang von verlässlichen gesetzli- Eine Begrenzung allein auf medizinische Zwecke er- chen Rahmenbedingungen – mit der Betonung auf dem folgt bei vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen. Recht der informationellen Selbstbestimmung – und ei- Diese sollen sich auf die Feststellung derjenigen geneti- ner umfassenden Aufklärung und Beratung der Betroffe- schen Eigenschaften beschränken, die die Gesundheit nen über Potenziale wie Risiken der genetischen des Fötus oder Embryos vor oder nach der Geburt beein- Diagnostik. trächtigen können. Im Bereich des Arbeitsrechts sind genetische Unter- Heinz Lanfermann (FDP): In der öffentlichen Dis- suchungen auf Verlangen des Arbeitgebers grundsätzlich kussion um die Vor- und Nachteile von Gendiagnostik verboten. Dem Arbeitgeber ist zudem die Verwendung erleben wir eine große Spannbreite der Meinungen. Es von Ergebnissen bereits vorgenommener Untersuchun- gibt die Furcht vor dem gläsernen Menschen ebenso wie gen untersagt. Lediglich im Arbeitsschutz sind geneti- die Euphorie, den Schlüssel zur Heilung aller Krankhei- sche Untersuchungen unter sehr eng gefassten Voraus- ten entdeckt zu haben. Augenmaß und ruhige Betrach- setzungen zugelassen. tung sind angesagt, und man sollte weder zu große Hoff- nungen noch zu große Ängste wecken. Eine gesetzliche Ähnlich strenge Regelungen sind für den sensiblen Regelung der Fragen, die sich durch die Gendiagnostik Versicherungsbereich vorgesehen. So dürfen Versiche- ergeben, ist notwendig, gerade auch um Ängsten und fal- rungsunternehmen beim Abschluss eines Versicherungs- schen Vorstellungen bei den Bürgerinnen und Bürgern vertrages grundsätzlich weder die Durchführung einer zu begegnen. genetischen Untersuchung noch Auskünfte über bereits durchgeführte Untersuchungen verlangen. Allein zur Nach der Entschlüsselung des Genoms sehen wir ei- Vermeidung von Missbrauch, der sich auch gegen die nige Buchstaben, die aber dafür in riesiger Anzahl, die Versichertengemeinschaft richtet, ist vorgesehen, dass immer wieder typisch, wenn auch nicht beliebig, so doch Ergebnisse bereits vorgenommener genetischer Untersu- immer wieder anders zusammengesetzt sind. Wir sind (B) chungen vorgelegt werden müssen, wenn eine Versiche- noch weit entfernt davon, das individuelle Lebensbuch (D) rung mit einer sehr hohen Versicherungssumme abge- lesen zu können. Auch wissen wir noch nicht, ob es wei- schlossen werden soll. tere Strukturen gibt, die unter bestimmten – noch unbe- kannten – Umständen oder in bestimmten Zeitintervallen Die Regelungen für den Arbeits- und den Versiche- Veränderungen hervorrufen. Wer sagt zum Beispiel dem rungsbereich greifen die berechtigten Sorgen der Bürge- Gen, dass das Wachstum der mit ihm verbundenen Zel- rinnen und Bürger auf und schützen durch klar abge- len gestoppt werden muss? grenzte Ausnahmen gleichzeitig vor Missbrauch bzw. vor gesundheitlichen Schäden. Nun stehen wir am Anfang einer Entwicklung mit noch Ungewissem Ausgang und wollen doch schon jetzt Einen letzten Punkt möchte ich kurz noch aufgreifen. vieles regeln und dabei möglichst alle für uns zum jetzi- Weil nicht nur die Grundlagenforschung im Bereich der gen Zeitpunkt absehbaren Missbrauchsgefahren aus- Genetik, sondern auch die Anwendungsforschung be- schließen. ständig neue Erkenntnisse und Anwendungsmöglichkei- ten liefert, ist es von großer Bedeutung, den Bereich der Der Gesetzentwurf stellt einen ersten Versuch der Gendiagnostik kontinuierlich zu beobachten, um Ent- Formulierung eines Handlungs- und Orientierungsrah- wicklungen zu erkennen, die gesetzgeberisches Handeln mens dar, über dessen Ausgestaltung wir noch intensiv notwendig machen. Zu diesem Zweck bewertet eine sprechen müssen. Er regelt die Art und Weise geneti- beim RKI ansässige interdisziplinär zusammengesetzte scher Untersuchungen ebenso wie den Umgang mit den unabhängige Gendiagnostik-Kommission alle drei Jahre hieraus gewonnenen hochsensiblen Daten. Dabei wirft in einem Tätigkeitsbericht die Entwicklung der geneti- er schwierige Fragen auf, mit denen wir uns auseinan- schen Diagnostik. Die Kommission hat ferner die Auf- dersetzen müssen: gabe, Richtlinien zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik, zur Qualifika- So wird sicher über § 18 Gendiagnostikgesetz, also tion von Personen zur genetischen Beratung, zur Aufklä- die Frage der Verwertbarkeit von genetischen Untersu- rung und Beratung, zur Durchführung von genetischen chungen und Analysen im Zusammenhang mit dem Ab- Analysen sowie genetischen Reihenuntersuchungen zu schluss eines Versicherungsvertrages, zu sprechen sein. erstellen. Dabei stimme ich der Forderung der Bundesärztekam- mer ausdrücklich zu, dass Versicherungsunternehmen Mit dem Entwurf eines Gendiagnostikgesetzes legen nicht die Vornahme einer genetischen Untersuchung von wir für den Bereich der sensiblen genetischen Daten ein ihren Versicherungsnehmern verlangen dürfen. In die- gut ausbalanciertes Regelwerk vor, welches einerseits sem Sinne begrüße ich auch die Selbstverpflichtung der 19626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Versicherungswirtschaft, keine Gentests von ihren Kun- Die Bundesregierung stützt diesen massiven Eingriff (C) den zu verlangen. in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf § 82 Aufenthaltsgesetz bzw. § 6 Abs. 2 Passgesetz, wo- Es stellt sich in diesem Zusammenhang aber die nach den Antragsteller im Antragsverfahren die Oblie- Frage, wie mit den Ergebnissen freiwilliger Tests umzu- genheit trifft, zuverlässige Nachweise der Abstammung gehen ist. § 18 des Gendiagnostikgesetzes schließt für zu erbringen. Es liegt der Verdacht nahe, dass ausweis- den Fall des Abschlusses eines Versicherungsvertrages lich der Antwort der Bundesregierung vom 9. November die Verwertung auch freiwillig durchgeführter Gentests 2007 auf unsere diesbezügliche Kleine Anfrage zuneh- aus – sofern eine Grenze von 300 000 Euro für Lebens- mend ein DNS-Nachweis verlangt wird, um die aufwen- versicherungen und 30 000 Euro für Jahresrenten nicht dige Überprüfung der eingereichten Abstammungsdoku- überschritten wird –, wobei die Formulierung nicht klar mente zu begrenzen. Damit wird aus der eigentlich beschreibt, ob sich die Zahlen auf jeweils einen oder die freiwilligen DNS-Untersuchung faktisch eine Pflichtun- Summe mehrerer Versicherungsverträge beziehen soll. tersuchung zur Erlangung der Aufenthaltserlaubnis. Dabei wird allerdings nicht unterschieden, ob es sich Dass die Bundesregierung selbst dabei keineswegs so um einen prädiktiven oder einen diagnostischen Test sorgsam und zurückhaltend mit den aus genetischen handelt. Der Unterschied liegt darin, dass prädiktive Un- Tests gewonnenen Daten umzugehen gedenkt, wie in der tersuchungen ohne bestehende Krankheitssymptomatik Zweckbestimmung des § 1 Gendiagnostikgesetz gefor- lediglich die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Er- dert wird, ergibt sich auch aus § 17 Abs. 8 Gendiagnos- krankung, also die genetische Veranlagung, ermitteln, tikgesetz. Demnach sollen für den Fall des Verdachts ei- die diagnostische genetische Untersuchung dagegen der ner nicht einmal näher bestimmten Straftat das Ergebnis genaueren Diagnose einer bereits eingetretenen Erkran- der DNS-Untersuchung und die genetische Probe selbst kung und der weiteren Behandlung dient. zum Zwecke der Strafverfolgung übermittelt werden. Und das, obwohl der Test ausschließlich zur Erlangung In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass schon eines den Nachzug erlaubenden Abstammungsnachwei- heute den Versicherungsnehmer eine Pflicht zur Anzeige ses vorgenommen wurde. aller ihm bekannten Gefahrumstände trifft. Es muss folglich sorgsam geprüft werden, ob es – wie in § 18 Gendiagnostik mag zum jetzigen Zeitpunkt nur bei ei- Gendiagnostikgesetz vorgesehen – richtig ist, dass der nigen wenigen Krankheiten ein geeignetes Instrument Versicherungsnehmer selbst dann das Recht erhalten darstellen. Man muss dabei aber auch bedenken, dass die soll, die Erkenntnisse einer freiwilligen Untersuchung zu Diagnostik alleine nicht reicht. Sie muss über die Bera- verschweigen, wenn er dabei positive Kenntnis von ei- tung hinaus mit einer konkreten und sachkundigen Hilfe- (B) ner Erkrankung erlangt hat. Die Tatsache, dass der Versi- leistung verbunden werden. Ich denke hier beispiels- (D) cherungsnehmer mit der Durchführung eines solchen weise an die helfende Vorsorge, die zwar die Krankheit freiwilligen Tests auf sein Recht auf Nichtwissen ver- nicht direkt beeinflusst, aber die Vorstufen lindert und zichtet hat, gilt es in der Abwägung zwischen dem Recht dem Patienten das Gefühl gibt, nicht allein gelassen zu auf informationelle Selbstbestimmung, dem Recht des werden. Versicherers auf Informationssymmetrie bei Vertrags- schluss und den Folgewirkungen für die Versichertenge- Wenn wir jetzt das Gesetzgebungsverfahren angehen, meinschaft zu berücksichtigen. müssen wir uns zur Ausgangslage eingestehen: Wir alle stehen heute noch vor einem großen Buchstabenberg. Wenn wir über genetische Untersuchungen sprechen, Wie und wofür man die Buchstaben wird gebrauchen dann kommen wir aber auch zu der Frage, wie Ärzte mit können, das wird sich erst in der Zukunft weisen. den durch Gendiagnostik gewonnenen Daten umgehen Gleichwohl müssen wir jetzt ein Gendiagnostikgesetz müssen. Bekennen wir es ehrlich: Die ärztliche Schwei- erarbeiten, das drei Bedingungen erfüllt: Erstens: Es gepflicht ist an vielen Stellen durchlöchert. Es gilt daher, muss größtmöglichen Schutz vor unbefugter Verwen- diese ärztliche Schweigepflicht wieder umfassender zu dung garantieren. Zweitens: Es muss bewährte Rechts- gestalten und in der Praxis einzufordern – und dies be- grundsätze für das neue Zeitalter fortschreiben. Drittens: sonders im Hinblick auf Gendaten und damit im Hin- Es muss Qualifikationsmaßstäbe für Untersuchungen blick auf die Regelungen des Gendiagnostikgesetzes. und Beratungen formulieren. Ein weiteres Problem, dessen man sich in den Aus- schussberatungen wird annehmen müssen, ergibt sich Monika Knoche (DIE LINKE): Nun schon in der aus § 17 Abs. 8 Gendiagnostikgesetz. Diese Vorschrift dritten Legislatur wird die Notwendigkeit eines Gen- regelt in Verfahren der Auslandsvertretungen und Aus- diagnostikgesetzes gefordert. Heute liegt erneut ein Ent- länderbehörden zum Familiennachzug nach dem Aufent- wurf dafür vor. Das begrüße ich namens meiner Fraktion haltsgesetz die Klärung der Abstammung durch geneti- Die Linke ausdrücklich. sche Untersuchungen. Problematisch dabei ist, dass die Wenn auch die Gendiagnostik als solche nicht das Bundesregierung vorliegend ein Verfahren formalisieren Thema jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bür- möchte, bei dem bereits die Rechtsgrundlage unklar ist. gerin ist, so ist sie doch eine Frage, die alle angeht. Schon seit geraumer Zeit verlangen Botschaften in Fra- gen des Familiennachzugs von den Betroffenen die Zu- Untersuchungen des Erbmaterials tauchen immer stimmung zu und die Einholung von DNS-Gutachten mehr und immer öfter in unserem Leben auf: Arbeitge- zum Zwecke des Abstammungsnachweises. ber und Lebensversicherungen wollen gerne wissen, wie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19627

(A) es um unsere Gene bestellt ist, aufgrund der sich rasant werden können, die für belastende Arbeitsbedingungen (C) entwickelnden Untersuchungsmethoden raten Ärzte im- schlichtweg ein Berufsverbot erhielten. mer öfter zu genetischen Tests, um bestehende Krank- Aufgabe ist es demgegenüber, die Arbeitsplatzbedin- heiten oder auch nur ein mögliches Krankheitsrisiko ir- gungen so zu gestalten, dass sie für einen diskrimi- gendwann in den nächsten Jahrzehnten aufzudecken, nierungsfreien Zugang sorgen und gesundheitliche Ar- Forscher hätten gern mehr und mehr genetische Proben, beitsschutzregelungen geschaffen werden, die es allen unsinnige Tests auf nicht behandelbare Erkrankungen ermöglichen, ihren gewünschten Beruf anzustreben. stehen neben nützlichen, verbotene neben legalen, das Missbrauchspotenzial ist extrem hoch. Und das Ganze Wie weit die Regelungen reichen, erkennt man auch ist so gut wie nicht gesetzlich geregelt. Das muss jetzt daran, dass zwar bei Lebensversicherungen Tests gefor- erfolgen, denn das Recht auf informationelle Selbstbe- dert werden und bei privaten Krankenkassen nicht er- stimmung als ein Kernbestand des modernen Menschen- laubt sind, die Versicherungsgesellschaften jedoch oft rechts hat Verfassungsrang. Dass dieses Recht eines eng miteinander verwoben sind. Deshalb darf kein Da- Menschen sich im Wesentlichen im Bereich medizini- tentransfer erlaubt werden; wie auch stark zu hinterfra- scher Diagnostik abspielt, also Aussagen über das eigene gen ist, ob es nicht doch zu Diskriminierung führt, wenn Erbgut umfasst, macht diese Frage zu einer hochsen- für Lebensversicherungen ab 300 000 Euro Gentests er- siblen Frage des Persönlichkeitsrechts und der präventi- laubt würden. ven und kurativen medizinischen Möglichkeit. Zum Schluss möchte ich noch Details des Gesetzes Um so dringlicher sind die Anforderungen an den Ge- ansprechen, die intensiver Beratung und fachlicher Ex- setzgeber, genauestens darauf zu achten, wer überhaupt pertisen bedürfen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass berechtigt ist, genetische Tests anzubieten und durchzu- im Bereich der Medizin die Gefahr besteht, zu einer auf führen, wie der informed concent, das ist Voraussetzung Gene zentrierten Sichtweise von Krankheits- und Kör- für jedwede Diagnostik, ausgestaltet sein muss, um in perbildern zu kommen. Interessant auch, dass sich nam- verantwortbarer Weise den Patienten und Patientinnen hafte Humanethiker heute deutlich distanzieren von der Kenntnis über deren genetische Bedingungen zu geben. landläufigen Meinung darüber, wie bestimmend eigent- lich Gene für Krankheiten seien. Sie raten sehr zu einer Was sagen solche Tests über Krankheiten erblicher ganzheitlichen Medizin und warnen vor einer monokau- Natur aus? Was können sie über die Wahrscheinlichkeit salen Betrachtung auch bei erblicher Disposition zu ei- des Eintritts einer Krankheit und Schwere dieser sowie ner bestimmten Erkrankung. Prävention, Vorsorge und heutige und zukünftige Behandlungsmöglichkeiten aus- Sekundärprävention gilt es auch hier mehr Aufmerksam- sagen? Darüber müssen die Bürgerinnen und Bürger vor keit zukommen zu lassen. Das ethisch moralisch wohl (B) der Durchführung eines Tests voll informiert werden, problematischste Feld moderner Gendiagnostik ist der (D) bevor sie ihre Einwilligung zur Durchführung geben. Bereich der Pränataldiagnostik. Dem müssen wir uns in Selbstverständlich ist das Recht auf Nichtwissen ein den weiteren Beratungen annehmen. Menschenrecht. Und – das ist das Besondere an diesem Die Information über das genetische Sein des Fötus Verfahren – auch Angehörige von getesteten Personen und die Regelung im § 218, wonach dieser Information sind unter Umständen „genetisch identifiziert“, ohne und ihrer Verarbeitung für die schwangere Frau zur me- darüber je eine Zustimmung gegeben zu haben. dizinischen Indikation also zum Krankheitsbild der Frau Deshalb muss diese Schutz- und Rechtsdimension selbst erklärt werden kann, hat die embryopatische Indi- zwingend in einem Gendiagnostikgesetz ihren Nieder- kation zwar abgelöst, das Problem aber nicht aufgelöst. schlag finden. Und diesem Problem hat sich der Gesetz- Meines Erachtens werden die damit aufgeworfenen entwurf zugewandt. Fragen durch das Gendiagnostikgesetz noch nicht hin- reichend bearbeitet. In der alltäglichen Praxis von Hier möchte ich auf die einschlägigen Paragrafen in Schwangeren ist von größter Wichtigkeit, dass ein echter diesem vorliegenden Entwurf, die Gentests zur Bestim- informed concent vor Durchführung eines Gentests si- mung von Verwandtschaftsverhältnissen bei Familien- chergestellt wird. Diese Anforderungen auszuformulie- nachzug verlangen, hinweisen. Wir Linke können diese ren, muss in diesem Gesetz geleistet werden. Alle für die Vorgaben nur ablehnen. Denn ein Sonderrecht respektive Frau erwachsenden Rechtsansprüche in der gesetzlichen Rechtsentzug für Migrantinnen und Migranten stellt eine Krankenversicherung, inklusive frei wählbarer Bera- Diskriminierung durch ein Bundesgesetz dar. Das muss tungszentren vor und nach dem Test, sind grundlegende wieder aus dem Entwurf entfernt werden. Denn diese Anforderung. Tatsächlich sind die humangenetischen Daten sollen darüber hinaus ja auch den Strafverfol- Beratungen sowie alle psychosozialen Angebote in Frau- gungsbehörden zugeführt werden können. Willkür ge- engesundheitszentren oder anderenorts qualitätsgerecht genüber Nichtdeutschen darf nicht zu deutschem Recht als Begleitung unverzichtbar, und nicht zuletzt gilt es, im werden. hohen Maße verantwortlich mit den menschenrechtli- chen Anforderungen in der Forschung umzugehen. Daneben ist es der Vorschlag, Untersuchungen durch- führen zu lassen, die Rückschlüsse auf das Erbgut er- Nicht einwilligungsfähigen Menschen ein minderes möglichen, die wir insbesondere im Arbeitsrecht für Recht auf Unversehrtheit und Autonomie zuzugestehen, nicht zulässig halten, auch wenn sie in Form von phäno- nur weil man einen Fremdnutzen aus der Erforschung typischen Tests auftauchen. Würde das erlaubt, hätte es und Forschung mit ihren höchstpersönlichen Daten er- zur Folge, dass diejenigen Beschäftigten herausgefiltert wartet, entspricht einer Nützlichkeits-, also einer utilita- 19628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) ristischen Moral, die nicht Eingang in ein deutsches Ge- eine klare und eindeutige Diagnose einer bereits ausge- (C) setz finden sollte. brochenen Krankheit. Also, es gibt noch eine ganze Reihe von Fragen, die Der Bundesrat fordert, dass eine Person, die ein An- im Rahmen der anstehenden Anhörungen zu klären sind gebot zu einem Gentest ablehnt, nicht mit einem Be- bis wir hier im Hause endgültig über ein Gesetz befin- schäftigungsverbot belegt werden darf. Das müsste eine den, das schon so lange ansteht. Selbstverständlichkeit sein – nicht so für die Bundes- regierung. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Im Gegensatz zur Bundesregierung scheint der Bun- beraten das Gendiagnostikgesetz zu einem so späten desrat die Lebensrealität von Müttern und deren Neugebo- Zeitpunkt, dass ich mich frage, ob die Bundesregierung renen zu kennen. Die Bundesregierung will Hebammen glaubt, dadurch die Kritik an ihrem Gesetzentwurf im verbieten, das seit Jahrzehnten von ihnen durchgeführte Nachtprogramm verstecken zu können. Neugeborenen-Screening durchzuführen. Kann es denn wirklich sein, dass der Bundesregierung der Arztvorbe- Selten hat mir eine Stellungnahme des Bundesrates so halt wichtiger ist als die Gesundheit der Neugeborenen? gefallen wie diese zum Gendiagnostikgesetz der Bun- Mit dieser neuen Hürde gefährdet sie die flächende- desregierung. Bei den aus grüner Sicht zentralen Kritik- ckende Untersuchung von Säuglingen. punkten Forschung, Versicherung, Schutz von Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern passt kaum ein Blatt Der Bundesrat hat mich in den Bereichen Forschung, zwischen uns Bündnisgrüne und den Bundesrat. Das Versicherung und Arbeit positiv überrascht. Dort, wo ich sollte den Kolleginnen und Kollegen der Regierungs- nach den Vorstößen aus NRW mit ihm gerechnet habe, fraktionen mehr als zu denken geben. Die Regierung ist finde ich leider keine Positionierung. Ich hätte mir eine uneinsichtig, aber die Fraktionen sollten das Votum des Unterstützung in der bioethischen Frage des Verbots von Bundesrates nicht einfach ignorieren. Der Bundesrat for- vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen von Em- dert klar und eindeutig Regelungen für die genetisch- bryonen auf Krankheiten, die erst im Erwachsenalter medizinische Forschung. auftreten, gewünscht. Dennoch hoffe ich, dass hier die Koalition im Laufe der Beratungen noch nachbessert. Nach dieser schallenden Ohrfeige durch den Bundes- rat sollte die Union endlich ihre Blockadehaltung zur Ich hoffe, dass die Kolleginnen und Kollegen der Re- Regelung des Forschungsbereiches aufgeben. Die Ver- gierungsfraktionen das Votum des Bundesrates ernst mutung, es nutze den Forschenden, sie ohne spezifische nehmen und wichtige Änderungsvorschläge im Interesse Regelungen forschen zu lassen, kann sehr schnell nach aller Bürgerinnen und Bürger aufgreifen. (B) hinten losgehen. Bei einem einzigen Skandal, in dem mit (D) genetischen Proben Schindluder getrieben wird, würde Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der die Forschung auf Dauer Schaden nehmen. Es ist nicht Bundesministerin für Gesundheit: Mit dem vorgelegten nur im Interesse derjenigen, die Proben und persönliche Entwurf eines Gendiagnostikgesetzes verfolgt die Bun- Krankheitsinformationen zur Verfügung stellen, son- desregierung vorrangig zwei Ziele: Die mit der Untersu- dern auch der Forschenden, dass der Datenschutz so chung menschlicher genetischer Eigenschaften verbun- groß geschrieben wird, wie es von allen Datenschutzbe- denen Gefahren einer genetischen Diskriminierung auftragten der Länder gefordert wird. sollen verhindert werden. Gleichzeitig sollen aber auch die Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen Die Bundesregierung hat ihr Verbot der Weitergabe für den einzelnen Menschen gewahrt bleiben. Dabei geht von Ergebnissen prädiktiver Tests – Tests, die Wahr- der Gesetzentwurf von der Besonderheit genetischer Da- scheinlichkeitsaussagen über einen möglichen Ausbruch ten aus. Sie können mit hohem prädiktiven Potential ver- einer Krankheit in der Zukunft machen – mit Ausnah- bunden sein und gegebenenfalls auch Informationen men für Lebens-, Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähig- über genetisch Verwandte offenbaren. Für die Bereiche keits- und Pflegerentenversicherungen versehen. Unsere der medizinischen Versorgung, der Abstammung, des Kritik, dass die Bundesregierung hier vor der Versiche- Arbeitslebens und der Versicherungen werden spezifi- rungswirtschaft eingeknickt ist, scheint der Bundesrat zu sche Regelungen getroffen. teilen. Er fordert, diese Regelungen zu streichen. Wir sehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Not- Der Bundesrat kritisiert ebenso zu Recht die Regelun- wendigkeit, im Gendiagnostikgesetz gesetzliche Initiati- gen zur Weitergabe von Daten zu diagnostizierten Vorer- ven im Bereich der Forschung zu ergreifen, weil insbe- krankungen und Erkrankungen an private Versicherun- sondere durch die Datenschutzgesetze von Bund und gen. Die Vorschläge gehen klar über die bestehenden Ländern sowie die vorherige Befassung von Ethikkom- Regelungen im Versicherungsvertragsrecht hinaus. Das missionen ein umfangreicher Schutz gewährleistet ist. ist unhaltbar. Hier klare Grenzen zu setzen, ist besonders notwendig, da die Bundesregierung bei der Definition Im Einzelnen möchte ich folgende Regelungsschwer- trickst und prädiktive Untersuchungen zu diagnostischen punkte hervorheben: Erstens. Zu dem Recht des Einzel- umdefiniert. Eine genetische Veränderung, bei der die nen auf informationelle Selbstbestimmung im Bereich Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung unterschiedlich der Gendiagnostik gehören sowohl das Recht, die eige- hoch ist, je nachdem, ob äußere Einflüsse wie zum Bei- nen genetischen Befunde zu kennen, als auch das Recht, spiel Belastungen durch Chemikalien am Arbeitsplatz diese nicht zu kennen. Genetische Untersuchungen dür- hinzukommen oder nicht, wird genauso behandelt wie fen nur durchgeführt werden, wenn die Betroffenen in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19629

(A) die Untersuchung rechtswirksam eingewilligt haben. Zu- arbeit und die Schattenwirtschaft in Deutschland (C) sätzlich kommt der genetischen Beratung besondere Be- einzudämmen. Wir sind uns wohl alle einig, dass deutung zu. Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft keinen Dumme- Zweitens. Zur Sicherstellung des Schutzes der Patien- jungenstreich darstellen. Sie sind aktives Handeln und tinnen und Patienten wird ein umfassender Arztvorbe- bewusster Missbrauch, gerichtet gegen die Solidarge- halt für die Durchführung genetischer Untersuchungen meinschaft und damit gegen all diejenigen, die ehrlicher zu medizinischen Zwecken festgelegt. Arbeit nachgehen, Steuern und Sozialabgaben entrich- ten. Drittens. Die vorgeburtliche genetische Untersuchung soll auf medizinische Zwecke beschränkt sein, also auf Mit der Einführung einer Sofortmeldung und der Mit- die Feststellung genetischer Eigenschaften, die die Ge- führungspflicht von Personaldokumenten in besonders sundheit des Fötus oder Embryos vor oder nach der Ge- von Schwarzarbeit betroffenen Branchen, der Verbesse- burt beeinträchtigen können. rung der Meldedaten bei den Sozialversicherungsträgern durch die direkte Übersendung der Personendaten durch Viertens. Im Arbeitsrecht sind genetische Untersu- die Kommunen und einer Reihe von technischen Rege- chungen auf Verlangen des Arbeitgebers grundsätzlich lungen im Beitrags- und Meldeverfahren wollen wir es verboten. Auch darf der Arbeitgeber die Ergebnisse ei- den Schattenexistenzen des Arbeitsmarktes schwerer ner genetischen Untersuchung nicht erfragen, entgegen- nehmen oder verwenden. Standarduntersuchungen, mit machen, den Sozialstaat weiter zu hintergehen. Aller- denen die gesundheitliche Eignung eines Beschäftigten dings sehe ich bei dem vorliegenden Entwurf noch kon- für den Arbeitsplatz oder für eine Tätigkeit festgestellt krete und praktische Hindernisse bei der Umsetzung werden kann, bleiben weiterhin zulässig. dieser Vorhaben. Besondere Eigenheiten einzelner Bran- chen wurden nicht hinreichend berücksichtigt. Auch Fünftens. Versicherungsunternehmen dürfen beim sind einige im Gesetzentwurf vorgesehene Maßnahmen Abschluss eines Versicherungsvertrages grundsätzlich nicht zielgenau und auf betrieblicher Ebene einfach nicht weder die Durchführung einer genetischen Untersu- umzusetzen. chung noch Auskünfte über bereits durchgeführte Unter- suchungen verlangen. Allerdings sind Vorerkrankungen Natürlich ist die sichere Feststellung der Identität ei- und Erkrankungen weiterhin anzuzeigen. Zur Vermei- ner Person von wesentlicher Bedeutung für die erfolgrei- dung von Missbrauch ist vorgesehen, dass die Ergeb- che Bekämpfung der Schwarzarbeit. Dennoch halte ich nisse bereits vorgenommener genetischer Untersuchun- die Verpflichtung zum ständigen Mitführen von Aus- gen vorgelegt werden müssen, wenn eine Versicherung weisdokumenten in einigen Gewerbezweigen für weit- mit einer sehr hohen Versicherungssumme abgeschlos- gehend praxisfern. Viele Arbeitnehmer und Arbeitneh- (B) sen werden soll. merinnen aus diesen betroffenen Branchen stammen aus (D) Sechstens. Genetische Untersuchungen zur Feststel- dem Nicht-EU-Ausland. Für sie sind ihre Ausweispa- lung der Abstammung eines Kindes sind nur dann zuläs- piere die einzige offizielle Rückbindung an ihr Heimat- sig, wenn die Personen, von denen eine genetische Probe land. Ein Verlust derselben wäre katastrophal, manchmal untersucht werden soll, in die Untersuchung eingewilligt sogar endgültig. Deshalb ist es durchaus üblich in die- haben. sem Personenkreis, solche Dokumente sicher vor Verlust aufzubewahren. Sinnvoller könnte hier eine modifizierte Siebtens. Der Gesetzentwurf sieht eine interdiszipli- Beibehaltung der bisherigen Sozialversicherungsaus- när zusammengesetzte unabhängige Gendiagnostik- weisregelung sein. Zudem kann auch so der Arbeitgeber Kommission vor, die den allgemein anerkannten Stand weiterhin durch Vorlage des Sozialversicherungsauswei- der Wissenschaft und Technik in Richtlinien festlegen ses bei Neueinstellungen, insbesondere bei Nebenbe- soll und damit der besonders dynamischen Entwicklung schäftigungen, sicher sein, dass eine Anmeldung bei der in der Gendiagnostik Rechnung trägt. Sozialversicherung besteht. Die Stellungnahme des Bundesrates läßt erkennen, dass die Länder unseren Regelungszielen grundsätzlich Um der berechtigten Forderung des Zolls nach folgen. Ich halte den Beschluss des Bundesrates insge- schneller und eindeutiger Identifizierung der fraglichen samt für eine gute Basis, im weiteren Gesetzgebungsver- Personen nachzukommen, sollten wir folglich brauch- fahren zu tragfähigen Lösungen zu kommen. bare Alternativen erarbeiten. So wäre durchaus zu über- legen, ob es für den Zoll ebenso zielführend ist, über einen Onlinezugriff auf die genauen Daten des Sozial- Anlage 15 versicherungsausweises im Rahmen einer zentralen Er- fassung verfügen zu können, um so die Identität einer Zu Protokoll gegebene Reden Person umgehend und einwandfrei festzustellen. zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- Auch die Sofortmeldepflicht zu Beginn der Beschäfti- setzes zur Änderung des Vierten Buches Sozial- gung trägt für einige betroffene Branchen praktische gesetzbuch und anderer Gesetze (Tagesord- Probleme in sich. Ich meine Arbeitsfelder mit hoher ob- nungspunkt 20) jektabhängiger und personeller Fluktuation, Firmen, die spontan Aufträge vor Ort annehmen und womöglich Peter Rauen (CDU/CSU): Wir debattieren heute noch nachts Personal einstellen müssen, oder gar Unter- über einen weiteren Gesetzentwurf, um die Schwarz- nehmen, die generell erst zum Wochenende Aufträge er- 19630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) halten und diese umgehend umsetzen müssen. Für all tere Sanktionen können zwar möglicherweise zu erhöh- (C) diese Firmen, die Einstellungen außerhalb der Bürozei- ter Abschreckungswirkung führen. Sie haben allerdings ten vorzunehmen haben, sind die geplanten Sofortmel- nur wenig Erfolg, solange die tatsächlichen Ursachen dungen in dieser Form äußerst schwierig, wenn nicht so- der Schwarzarbeit bestehen bleiben oder sogar ver- gar unmöglich. Gemeint sind Branchen wie zum schärft werden. Dies belegt auch der Bericht des Bun- Beispiel das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, desrechnungshofes, nach dem eine Verringerung der das Schaustellergewerbe, die Land- und Forstwirtschaft, Schwarzarbeit durch die Kontrolle der Finanzkontrolle das Gebäudereinigungsgewerbe sowie der Messeauf- Schwarzarbeit (FKS) bisher nicht nachgewiesen werden und -abbau. Auch meine ich kleine und mittelständische kann und die Mehrkosten zur Bekämpfung der Schatten- Unternehmen, die zumeist externe Dienstleister beauf- wirtschaft höher sind als deren Ertrag. tragen, um die anstehenden Lohnabrechnungen und Meldungen an die Sozialversicherung zu erledigen. In Wer aber Schattenwirtschaft in reguläre Beschäfti- diesem Zusammenhang halte ich eine verzögerte Melde- gung umwandeln will, darf nicht an den Symptomen he- pflicht erst zum Beginn des nächsten Werktages dort für rumdoktern, sondern muss an den wahren Ursachen an- denkbar, wo es sinnvoll und unumgänglich ist. Wir soll- setzen. Diese sind ganz eindeutig auszumachen: Wenn ten jedenfalls im Laufe der Gesetzgebung weitere Alter- ein Arbeitnehmer – je nach Steuerklasse – vier bis sechs nativen zu einer möglichst zeitnahen Meldung in Erwä- Stunden arbeiten muss, um von seinem Nettolohn eine gung ziehen. legal gearbeitete Stunde in seiner Branche bezahlen zu können, sind die Ursachen für vielfältigste Schattenwirt- Kurzum: Es gibt durchaus genügende Beispiele, bei schaft erklärt. Die Konsequenz daraus ist eindeutig. Sie denen wir uns noch Gedanken darüber machen müssen, kann nur bedeuten, die Abgabenlast auf den Faktor Ar- wie wir den Schutz vor Schwarzarbeit praxisnah umset- beit zu senken. Das heißt im Klartext: Mehr Netto vom zen können. Die betroffenen Branchen jedenfalls sind, Brutto. Denn der reguläre Arbeitnehmer muss hilflos zu- wie ich weiß, hier jederzeit zu konstruktiver Mitarbeit sehen, wie Steuern und Abgaben sein Gehalt dezimieren gerne bereit. und die kalte Progression selbst noch jede Lohnerhö- hung mehr als halbiert. Den Rest nehmen ihm dann die Auch steht unter anderem die Pflicht zur Sofortmel- steigenden Abgaben zur Krankenversicherung. Gleich- dung nicht immer im Einklang mit dem gewollten Büro- zeitig verzerren illegale Beschäftigung und Schwarz- kratieabbau und bringt infolgedessen erhebliche büro- arbeit den Wettbewerb, führen zu Einnahmeausfällen in kratiebedingte Kosten mit sich. Auf jeden Fall sollte der den Sozialversicherungssystemen und untergraben zu- damit verbundene Verwaltungsaufwand auf ein Mini- dem noch die Steuermoral. (B) mum reduziert werden. (D) Es ist der Doppeleffekt, der den gewaltigen Schaden Laut Gesetzentwurf wird damit gerechnet, dass jede anrichtet: Schwarzarbeit stiehlt dem Ehrlichen die Arbeit Einstellung in einer Branche mit Sofortmeldung um und dem Sozialstaat die Mittel. Der Ehrliche muss dann 7,25 Euro verteuert würde. Die auf dieser Grundlage im noch obendrein für die fehlenden Mittel geradestehen. Gesetzentwurf errechnete Gesamtkostenbelastung der Renommierte Studien belegen immer wieder meine Auf- Wirtschaft von rund 19,97 Millionen Euro pro Jahr ist je- fassung. Die wirklichen Gründe für das Ansteigen der doch wenig realistisch. Der Entwurf geht nämlich davon Schattenwirtschaft finden wir in der hohen Steuer- und aus, dass Beschäftigungsaufnahmen in den in die Sofort- Abgabenbelastung, der Verunsicherung der Bürger durch meldepflicht einbezogenen Branchen genauso häufig die Steuer- und Sozialgesetzgebung und der ständig zu- sind wie im Rest der Wirtschaft. Dies ist jedoch unwahr- nehmenden Sozialleistungen zulasten des Faktors Ar- scheinlich, zumal gerade die eben genannten Branchen, beit. Deshalb müssen beherzte Korrekturen bei Steuern die besonders im Saisongeschäft tätig sind, und Bran- und der Regulierung des Arbeitsmarktes her. chen mit vielen Kurzzeitbeschäftigten in die Sofortmel- Gerade in der jetzigen Verunsicherung durch die depflicht aufgenommen werden sollen. Insofern wird schwankenden Finanzmärkte kann eine sinnvolle Dere- wohl die Zahl der Beschäftigungsaufnahmen mit Sofort- gulierung und eine gerechte Senkung der Steuerlast das meldepflicht sehr viel höher liegen als die unterstellten nötige Vertrauen zurückbringen. Ein konkreter Ansatz 3,825 Millionen Fälle. ist hier die Fortentwicklung des Steuerbonus. Denn ge- Ebenso wird bei der Kostenrechnung im Entwurf eine rade der Steuerbonus zeigte gerade im handwerklichen durchaus gegebene Situation nicht berücksichtigt: Wenn Bereich große Effizienz bei der Bekämpfung von ein neuer Mitarbeiter am Tag der Einstellung nicht er- Schwarzarbeit. Im Zusammenwirken mit einer infla- scheint, muss der Arbeitgeber eine Stornierung abgeben, tionsindexierten Abschaffung der kalten Progression so- was unweigerlich neuerliche Bürokratiekosten nach sich wie einer entsprechenden Anhebung des Grundfreibetra- zieht. Gerade in Firmen mit stark wechselndem Perso- ges bekäme die Binnenwirtschaft den gerade jetzt so nalbedarf sind diese Fälle keineswegs selten. nötigen Schub für mehr Beschäftigung und weniger Schwarzarbeit. Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit boomen wie keine ehrliche Branche. Der Anteil der Schattenwirt- Andreas Steppuhn (SPD): Nach den turbulenten schaft am Bruttoinlandsprodukt wird inzwischen auf Entwicklungen und Ereignissen der letzten Tage, die über 16 Prozent geschätzt. Stärkere Kontrollen und här- ihre Auswirkungen noch in den kommenden Wochen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19631

(A) und Monaten zeigen werden, kehren wir nun zur Sach- Denn wie die Praxis in der Vergangenheit gezeigt hat, (C) arbeit zurück. ist für die Arbeit der Bekämpfungsbehörde vor allem die Identifizierung der Personen nicht nur zum Teil ein Pro- Keiner von uns kann derzeit zu 100 Prozent abschät- blem, sondern erfordert zeitlich wie auch bei der Durch- zen, welche Auswirkungen die Finanzmarktkrise haben führung einen großen Aufwand. Zielführend ist es daher wird, weder auf die Deutsche Wirtschaft noch auf die in denjenigen Wirtschaftsbranchen, in denen ein erhöh- Entwicklung am Arbeitsmarkt. Gerade vor diesem Hin- tes Risiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung tergrund ist es umso wichtiger, dass wir ehrliche Arbeit besteht, für eine Verbesserung der melderechtlichen Vor- und ehrliche Unternehmen in Deutschland schützen und schriften zu sorgen. unterstützen. Dazu gehört für uns als SPD-Bundestags- fraktion: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung muss Zu diesen gehört zum einen die Einführung einer Mit- weiter wirksam bekämpft werden. führungs- und Vorlagepflicht von Personaldokumenten bei der Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen für Denn: Schwarzarbeit bedeutet nicht nur Steuerhinter- den Arbeitnehmer. Allein der Sozialversicherungsaus- ziehung. Schwarzarbeit hat auch gravierende Auswir- weis oder Führerschein reichen nicht mehr aus. Zudem kungen auf unsere Sozialversicherungssysteme. Und: ist der Sozialversicherungsausweis nur bei den sozial- Schwarzarbeit zerstört reguläre Arbeitsplätze, führt zu versicherungspflichtigen Beschäftigten vorhanden und Lohndumping und zu Wettbewerbsverzerrungen. Daran überdies nicht fälschungssicher. kann niemandem gelegen sein. Hieran anknüpfend besteht zukünftig auch für den Arbeitgeber die Pflicht, seine Arbeitnehmer darüber ein- Warum Schwarzarbeit praktiziert wird, darüber lässt malig, nachweislich und schriftlich zu belehren, ergänzt sich nicht nur mutmaßen, dazu zählt sicherlich in erster durch eine entsprechende bußgeldbewehrte Pflicht für Linie das Streben nach vermeintlich „leicht verdientem“ den Arbeitgeber zur Aufbewahrung und Vorlage dieser Geld. Dazu zählt eine nachlassende Rechtstreue, aber Belehrung. Damit stellen wir sicher, dass der Beschäf- auch die vorsätzliche Ausbeutung von Arbeitnehmerin- tigte auch tatsächlich seine Ausweispapiere bei sich nen und Arbeitnehmern und nicht zu vergessen der Ge- führt. Ferner gehört ebenso die Sofortmeldepflicht, das winnmaximierung um jeden Preis. heißt die sofortige Anmeldung zur Sozialversicherung ab dem ersten Tag, zu den vorgesehenen Maßnahmen. Zwar wurde die Schwarzarbeit in den letzten Jahren stetig effektiver bekämpft. Wir müssen aber noch effek- Besonders notwendig ist es, und dies sieht der Gesetz- tiver werden. Hierbei wollen wir die Finanzkontrolle entwurf vor, dass Unternehmen ihre Beschäftigten zu- Schwarzarbeit stärken. künftig ab dem ersten Tag bei den Sozialversicherungen (B) anmelden. Bislang gab es hierzu eine Frist von sechs (D) Daher hat die Bundesregierung bereits vor der Som- Wochen. Dies jedoch hat in der Vergangenheit oftmals merpause Eckpunkte zur Bekämpfung illegaler Beschäf- dazu geführt, dass Ausreden vorgetragen wurden und tigung und Schwarzarbeit ausgearbeitet und ein entspre- nicht festgestellt werden konnte, ob jemand illegal oder chendes Aktionsprogramm für Recht und Ordnung auf legal auf einer Baustelle beschäftigt gewesen ist. Oft er- dem Arbeitsmarkt vorgelegt und verabschiedet. Heute hielten die Kontrolleure eine Antwort in der Art: „Ich werden davon wesentliche Maßnahmen mit dem vorlie- habe gerade erst angefangen, mein Arbeitgeber konnte genden Gesetzentwurf in erster Lesung beraten. mich noch nicht bei den Sozialversicherungsträgern an- melden.“ Ob der oder diejenige aber schon länger be- Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung schäftigt wurde, ließ sich nur in aufwendiger Kleinarbeit des Vierten Sozialgesetzbuches enthält neben wichtigen feststellen. Bausteinen, um illegale Beschäftigung und Schwarz- arbeit noch wirksamer zu bekämpfen, und auf die ich Das wird sich ändern. Denn mit der automatisierten gleich noch zu sprechen kommen werde, auch eine Sofortmeldung in den Branchen, in denen ein erhöhtes wichtige SGB-XII-Anpassung infolge des bereits be- Risiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung be- schlossenen Eigenheimrentengesetzes. steht, wird die Arbeit der Behörden erheblich verein- fachen. Und da dies auch nur funktionieren kann, wenn Hierbei handelt es sich um die Übernahme von Bei- die Beamten vor Ort mit aktuellen Daten und Angaben trägen für eine angemessene Altersvorsorge auch für arbeiten, ist es ebenso notwendig, die Übermittlung von hilfebedürftige und dauerhaft voll erwerbsgeminderte Meldedaten durch die Meldebehörden an die Deutsche Personen und die entsprechende Änderung des Leis- Rentenversicherung zu verbessern und zu erleichtern. tungsumfangs im Vierten Kapitel des SGB XII. Mit die- Diese genannten Neuerungen führen in der Folge zu ser Anpassung beziehen wir nun endlich auch Bezieher erheblich einfacheren Prüfverfahren auf der Grundlage einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der ge- des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes. Damit wird setzlichen Rentenversicherung in den geförderten Perso- die Kontrolle durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nenkreis mit ein. vor Ort passgenauer und effizienter gestaltet. Wie bereits eingangs betont, geht es bei dem Gesetz- Und mit den vorgesehen Maßnahmen, und das entwurf in erster Linie um Maßnahmen, die eine Stär- möchte ich hier betonen, wird es zukünftig auch möglich kung und Verbesserung der Instrumente für die Arbeit sein, in den entsprechenden Branchen Mindestlohnver- der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) vorsehen. stöße aufzudecken und zu ahnden. 19632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Gestatten Sie mir an dieser Stelle nun aber noch auf Schwarzarbeit. Es ist fraglich, ob dies ausreicht, zumal (C) einen weiteren, mir sehr wichtigen Punkt einzugehen: die Bundesregierung mit ihrer Politik der letzten Jahre, Nämlich den Punkt, die Bekämpfung der Schwarzarbeit insbesondere der größten Steuererhöhung in der Ge- als gesamtsstaatliche Aufgabe zu betrachten. schichte der Bundesrepublik, aber auch durch Beitrags- satzerhöhungen in allen Zweigen der sozialen Sicherung Denn Fakt ist, es gibt eine Reihe von Schnittstellen mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung die Anreize zwischen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zoll- für Schwarzarbeit eher noch verstärkt hat. verwaltung und den einzelnen Behörden der Länder. Und diese Schnittstellen gilt es zu nutzen, zu untersetzen Das, was an reaktiven Maßnahmen auf den Weg ge- und im gemeinsamen Kampf gegen die Schwarzarbeit in bracht wird, scheint gleichwohl zustimmungsfähig zu Deutschland weiter auszubauen. sein. Daher appelliere ich an dieser Stelle insbesondere Richtig ist der Ansatz des Gesetzentwurfs, Schwarz- auch an die Länder, gerade in Bezug auf die Mitwir- arbeitsbekämpfung angepasst an die Besonderheiten der kungspraxis und Transparenz. Denn neben den im Ent- jeweiligen Branchen zu führen. wurf enthaltenen Maßnahmen benötigen wir endlich auch verlässliche Daten über festgesetzte und verein- Die Einführung der Sofortmeldepflicht zur Sozialver- nahmte Gelder, das heißt wir brauchen dringend mehr sicherung (§ 28 a Abs. 4 SGB IV-E) in besonders von Transparenz bei den Einnahmen der Finanzbehörden der Schwarzarbeit betroffenen Branchen, namentlich im Länder, der Justiz und der Sozialversicherungsträger, die Baugewerbe, im Gaststätten- und Beherbergungsge- diesen aufgrund von Arbeitsergebnissen der FKS zuflie- werbe, im Personen- und Güterbeförderungsgewerbe, im ßen. Schaustellergewerbe, in Unternehmen der Forstwirt- schaft, im Gebäudereinigungsgewerbe, in Unterneh- Nur so können wir auch den Erfolg messen. men, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Aus- stellungen beteiligen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die Was wir benötigen, ist eine verbesserte sachdienliche FDP-Bundestagsfraktion hat eine solche Sofortmelde- Förderung und schnellere Bearbeitung von Verfahren in pflicht bereits seit längerem gefordert (Bundestags- den Ländern. Denn was nutzt es uns, wenn die FKS drucksache 16/6645 vom 9. Oktober 2007). Die Neu- Schwarzarbeit aufdeckt, eine wirksame Strafverfolgung aufnahme der Fleischwirtschaft dürfte aufgrund der und entsprechende Verfahren in den Ländern aber auf umfangreichen, im Gesetzentwurf genannten Untersu- Eis liegen. Damit, und das muss einmal so deutlich ge- chungsergebnisse, gerechtfertigt sein. sagt werden, damit geht dem Staat auch Geld verloren. Die Einrichtung von sogenannten Schwerpunktstaatsan- Sowohl vom Bundesrat als auch vom Deutschen An- (B) waltschaften ähnlich den zum Teil bereits bestehenden waltsverein wurden in Stellungnahmen zum Gesetzent- (D) Wirtschaftskammern wäre ein erster Schritt in die rich- wurf wichtige Hinweise darauf gegeben, dass die vorge- tige Richtung. Hier sind schlussendlich jedoch die Län- schlagenen Regelungen noch der Präzisierung bedürfen, der gefordert, den Weg mitzugehen. Daher kann ich nur um Unklarheiten und Rechtsverfahren in großer Zahl zu an Sie appellieren, gehen Sie den Weg mit uns. Es ist vermeiden. Der Anwaltsverein geht davon aus, dass die auch im Interesse der Bundesländer. Sofortmeldung etwa 1 Million Beschäftigungsverhält- nisse jährlich betreffen wird. Wenn es bei 20 bis Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist es wichtig, 30 Prozent zu Unklarheiten käme, bedeutete dies erheb- dass Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung in liche neue Belastungen für Unternehmen, Verwaltung Deutschland an den Wurzeln bekämpft wird. Die geplan- und Justiz. Geprüft werden sollte insbesondere die Anre- ten Maßnahmen sind ein weiterer wichtiger Schritt, um gung des Bundesrates, klarer zu formulieren, dass die Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung im Land noch Sofortmeldung vor Beschäftigungsbeginn zu erfolgen stärker als bisher zu bekämpfen. Dies ist auch im Inte- hat. Diese und andere Anregungen sollten unbedingt resse aller legal handelnden Unternehmen und Beschäf- ernst genommen werden. tigten in Deutschland. Geprüft werden sollte im weiteren Gesetzgebungsver- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die FDP unterstützt fahren außerdem, ob die Sofortmeldung statt an die Ren- das Ziel der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Schwarzar- tenversicherung an die Einzugstellen erfolgen kann, um beit schadet unserer Volkswirtschaft und benachteiligt den Meldeprozess für die Betriebe zu vereinfachen. Fer- diejenigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die legal ar- ner sollte ermöglicht werden, dass man statt einer So- beiten und mit ihren Abgaben und Steuern unser Gemein- fortmeldung gleich eine Vollmeldung nach § 28 Abs. 1 wesen, die Sozialleistungen und die Infrastruktur finan- SGB IV machen kann. zieren. Die mit dem Gesetz vorgesehene Einführung einer Die FDP sieht zwei Ansätze für die Bekämpfung der Mitführungs- und Vorlagepflicht von Personaldokumen- Schwarzarbeit. Zum einen müssen die Ursachen für die ten bei der Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen Schwarzarbeit gesucht und abgestellt werden. Anreize in Branchen, in denen ein erhöhtes Risiko für Schwarz- für legale Arbeit müssen gestärkt werden. Zum anderen arbeit und illegale Beschäftigung besteht, ist grundsätz- muss Schwarzarbeit konsequent verfolgt werden. lich sinnvoll. Dies gilt auch für die Aufbewahrungs- pflicht des Arbeitgebers betreffend die einmalige Der Gesetzentwurf beschränkt sich in seinem Ansatz schriftliche Belehrung der Arbeitnehmer über die Mit- auf Maßnahmen zur administrativen Bekämpfung der führungspflicht der Personaldokumente. Allerdings Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19633

(A) muss diese Maßnahme auf schwarzarbeitgefährdete seiner Freizeit etwas dazu verdient, und verschleiert so (C) Branchen beschränkt bleiben. die Tatsache, dass die wirklichen Profiteure der Schwarzarbeit die Unternehmen sind, die Schwarzarbeit Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Rentenversiche- und illegale Beschäftigung einsetzen, um einen Extra- rung die Daten der Einwohnermeldeämter erhält, um so Profit oder einen Wettbewerbsvorteil herauszuholen – im Verdachtsfall auf eine gehobene Qualität der An- zulasten regulärer Arbeitsverhältnisse und auf Kosten schriften zurückgreifen zu können (Art. 11 GE). Diese der Allgemeinheit. Maßnahme kann sinnvoll sein, wenn tatsächlich bis zu 20 Prozent der Anschriften, über die die Rentenversiche- Denn Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind rung verfügt, fehlerhaft sind. Hier sollte diesbezüglich deutlich billiger als reguläre Beschäftigungsverhältnisse. aber noch ein Gutachten des Datenschutzbeauftragten Es werden nicht nur keine Beiträge zur Sozialversiche- eingeholt werden. rung gezahlt und damit die Sozialversicherungskassen geschwächt. Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung Folgende weitere Punkte sind ebenfalls ernsthaft zu werden von Unternehmen gezielt als Lohndumpingstra- prüfen: Die vom Bundesrat vorgeschlagene Berichter- tegie eingesetzt, mit der sie versuchen, die Zahlung von stattungspflicht der Bundesregierung und der Deutschen Tariflöhnen und Mindestlöhnen zu umgehen. Gesetzlichen Unfallversicherung gegenüber Bundestag und Bundesrat bezüglich der Ergebnisse der Sofortmel- Besonders die Baubranche sorgte hier in der Vergan- dung. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Möglichkeit genheit immer wieder für Schlagzeilen. Ich denke, wir zur Überprüfung von Verstößen nach § 2 Abs. 1 a Nr. 1 erinnern uns alle noch lebhaft an die besonders spekta- und 2 SchwarzArbG auch von den nach Landesrecht zu- kulären Fälle: So bekamen etwa Arbeiter beim Bau der ständigen Behörden der Schwarzarbeitsbekämpfung, die BMW-Welt in München 2,89 Euro pro Stunde oder bei bisher nur Verstöße nach § 2 Abs. 1 SchwarzArbG prü- der Neuen Messe Stuttgart 4 Euro. Und dies, obwohl in fen dürfen. Weitere mögliche Verbesserungen der der Baubranche deutlich höhere Mindestlöhne festge- Durchsetzung von Regressansprüchen der Unfallversi- schrieben sind. Aber auch andere Branchen wie etwa die cherungsträger gegen Arbeitgeber, die Schwarzarbeiter Fleischwirtschaft, in der zum Teil Stundenlöhne von nur beschäftigen. 3,50 Euro gezahlt werden, sorgen immer wieder für ne- gative Nachrichten. Der Gesetzentwurf enthält schließlich – sachfremd im Omnibusverfahren – noch eine Änderung im Recht der Es wird deshalb höchste Zeit, dass die Bundesregie- Sozialhilfe. Danach soll für voll erwerbsgeminderte Per- rung aktiv wird und den Ankündigungen ihres Aktions- sonen künftig die Übernahme von Beiträgen für die Al- programms „Für Recht und Ordnung auf dem Arbeits- (B) tersvorsorge durch die Träger der Sozialhilfe möglich markt“ endlich Taten folgen lässt. Sie erfüllt mit diesem (D) sein. Dies ist nach Auffassung der FDP-Bundestagsfrak- Gesetzentwurf zwei wichtige Forderungen, die meine tion eine sinnvolle Flexibilisierung, die den Trägern der Fraktion bereits vor der Sommerpause in dem Antrag Soziahilfe langfristig kostenreduzierende Fortführungen „Für eine wirksame Bekämpfung von Verstößen gegen von Altersvorsorge, etwa nach dem Eigenheimrentenge- den Mindestlohn im Baugewerbe“ formuliert hat. Die setz, ermöglicht. Verpflichtung zur Sofortmeldung zur Sozialversicherung und die Mitführungspflicht von Ausweisdokumenten am Wir sehen auch die Notwendigkeit, zu prüfen, ob § 5 Arbeitsplatz werden dazu beitragen, die Arbeit der Kon- Abs. 1 SGB VI so ergänzt werden sollte, dass eine An- trollbehörden in den erfassten Branchen zu vereinfa- tragsbefreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI für chen. Lehrer und Erzieher an Privatschulen nur noch möglich ist, wenn sie nach den in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 Für eine wirksame Bekämpfung der Schwarzarbeit SGB VI – neu – genannten Voraussetzungen im Ergeb- und illegalen Beschäftigung reichen diese Maßnahmen nis wie beamtete Lehrer auch in anderen Zweigen der jedoch bei weitem nicht aus. Dafür sind weitere Sozialversicherung versicherungsfrei sind. Schritte notwendig, von denen ich hier nur zwei nennen Ich hoffe, dass die Regierung all diese Hinweise ernst möchte. nimmt. Nicht zuletzt davon wird abhängen, ob die FDP- Zum Ersten: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf zustimmen in die Lage versetzt werden, deutlich mehr und deutlich kann. intensivere Prüfungen durchzuführen. Und das heißt auch, dass die Beamten der Finanzkontrolle Schwarzar- Werner Dreibus (DIE LINKE): Schwarzarbeit und beit vor Ort an den Arbeitsstellen ermitteln müssen. In illegale Beschäftigung – und auf diesen Punkt des Ge- Gesprächen mit den Tarifpartnern der Bauwirtschaft und setzentwurfes möchte ich mich heute konzentrieren – der Finanzkontrolle Schwarzarbeit wurde mehr als deut- sind ein gravierendes Problem. Da stimmen wir der Bun- lich, dass dies mit der heutigen Ausstattung nicht zu ma- desregierung zu. chen ist. Wir fordern deshalb eine deutlich bessere Sach- mittelausstattung und eine sofortige Aufstockung des Allerdings vermittelt der Begriff „Schwarzarbeit“ ei- Personals auf 8 000 Stellen. Außerdem muss die Perso- gentlich ein falsches Bild von dem Problem, über das nalstärke der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in Zukunft wir hier sprechen. Im allgemeinen Sprachgebrauch zielt mit jeder neuen Aufgabe, die ihr zugewiesen wird, nach er doch eher auf den kleinen Handwerker ab, der sich in oben angepasst werden. Das wird zum Beispiel dann 19634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) notwendig, wenn, wie angekündigt, weitere Branchen in Sie schlagen die Ablösung des Sozialversicherungs- (C) das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen wer- ausweises und die Mitführungspflicht von persönlichen den. Ausweisdokumenten in den Branchen vor, die besonders von Schwarzarbeit betroffen sind. Das sind zum Beispiel Zum Zweiten muss sich die Bundesregierung endlich der Bau, die Gastronomie oder die Fleischwirtschaft. Es dem Problem stellen, dass in Einspruchs- und Gerichts- stimmt, dass wir es hier mit besonders anfälligen Bran- verfahren die verhängten Geldbußen regelmäßig dras- chen zu tun haben. Deshalb wurde nicht ohne Grund bei- tisch reduziert werden. Ein Appell an die Länder, die Er- spielsweise in der Baubranche seit Jahren eine Job- oder richtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und die Chipkarte gefordert. Dieses Projekt hat die Bundesregie- Aufstockung der Kapazitäten von Staatsanwaltschaften rung nun zugunsten der Ausweislösung beerdigt. Auch und Gerichten in Erwägung zu ziehen, ist definitiv zu dazu erreichen uns jedoch Einwände aus der Praxis: Ins- wenig. Die Bundesregierung darf sich an diesem Punkt besondere ausländische Beschäftigte haben Angst vor nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern muss das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. Wir for- dem Verlust ihrer Papiere, deren Wiederbeschaffung für dern die Bundesregierung auf: Ergreifen Sie die weiteren sie häufig schwierig oder gar unmöglich ist und aufent- Schritte, die notwendig sind, um Schwarzarbeit und ille- haltsrechtliche Probleme an anderer Stelle nach sich zie- gale Beschäftigung tatsächlich wirksam zu bekämpfen. hen würde. Wir möchten über Ihren Vorschlag daher in Als kleine Anregung möchte ich Ihnen noch einmal un- den Ausschussberatungen gerne noch einmal diskutie- seren Antrag „Für eine wirksame Bekämpfung von Ver- ren. stößen gegen den Mindestlohn im Baugewerbe“ ans Herz legen, der zwar im Baugewerbe ansetzt, aber auch Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Der darüber hinaus wichtige Ansatzpunkte liefert. Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht vom Januar 2008 etliche Fragen zum Aufbau und zur Effizienz der für die Bekämpfung der Schwarzarbeit zuständigen Fi- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) aufgeworfen. Darin Die Bekämpfung der Schwarzarbeit ist ein zentrales An- bezweifelt der Bundesrechnungshof unter anderem, dass liegen von Bündnis 90/Die Grünen. Schwarzarbeit ist Sie überhaupt in der Lage sind, verlässliche Aussagen kein Kavaliersdelikt und darf auch nicht als solches be- über die Wirkung der FKS zu treffen. Aus diesem Grund handelt werden. In vielen Wirtschaftsbereichen ver- hat der BRH damals auch vorgeschlagen, auf die ge- drängt Schwarzarbeit nach wie vor legale Arbeitsplätze. plante Umstrukturierung der FKS im Rahmen der Re- Legal arbeitende Unternehmen haben deutlich schlech- form der Zollverwaltung zu verzichten, bis eine Evalua- tere Wettbewerbschancen gegenüber der illegalen Kon- tion vorliegt. Aber trotz dieser ernst zu nehmenden kurrenz. Der öffentlichen Hand und den Sozialversiche- (B) Kritik wurde quasi im erkenntnisfreien Blindflug die (D) rungsträgern gehen Einnahmen in Milliardenhöhe FKS neu in der Zollverwaltung organisiert. Ob das der verloren. Bekämpfung der Schwarzarbeit dienlich ist, wage ich zu Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir bezweifeln. mit dem Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Die Lösung eines anderen Problems packen Sie eben- Schwarzarbeit einen maßgeblichen Schritt zu einer bes- seren Bekämpfung und Aufdeckung von Schwarzarbeit falls nicht an: Die mangelnde Vollstreckung von Bußen gemacht. Nun will auch die Koalition für mehr „Recht und Strafen. Es reicht nicht, wenn die FKS Ihren Erfolg und Ordnung“ auf dem Arbeitsmarkt sorgen und hat ih- auf Basis der Höhe ausgesprochener Geldbußen und -stra- rem Aktionsprogramm einen Gesetzentwurf folgen las- fen definiert. Wichtig ist, diese Gelder auch hereinzuho- sen, der Teile davon aufnimmt. Ich möchte hier im len; denn nur so kann ein Gesetz den Sprung vom Wesentlichen auf zwei Punkte Ihres Gesetzentwurfes Papiertiger zum wirkungsvollen Instrument schaffen. eingehen. Deshalb wollen wir Grünen auch die Einrichtung eines Korruptionsregisters, das auch die Unternehmen listet, Wir Grünen unterstützen eine schnellere Meldepflicht die schwarzarbeiten lassen und beispielsweise keinen bei der Sozialversicherung, um Kontrollen effizienter Mindestlohn zahlen. Aufträge zu ergattern, muss für und erfolgreicher zu gestalten. Allerdings finden wir diese Unternehmen schwieriger werden. Einwände aus der Praxis, die die sofortige Meldung Es gibt also noch viel zu tun bei der Bekämpfung von – unabhängig von Tages- oder Nachzeit, unabhängig da- Schwarzarbeit. von, ob Werk- oder Feiertag – als unpraktikabel erachtet. Wir schlagen deshalb vor, dass eine Meldepflicht am ers- ten Werktag nach Beschäftigungsbeginn vorgeschrieben Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- wird. Das würde gegenüber dem Status quo, der es Un- minister für Arbeit und Soziales: Die letzten Wochen ha- ternehmen gestattet, bis zu sechs Wochen nach Beschäf- ben uns in ganz drastischer Weise vor Augen geführt, tigungsbeginn mit der Meldung bei der Sozialversiche- dass der Markt Regeln braucht. Unsere Tradition setzt rung zu warten, erhebliche Verbesserungen bringen. auf einen politischen, sozialen und kulturellen Rahmen Gleichzeitig würde dieser Kompromiss den Unterneh- für den Markt. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur men entgegenkommen, die am Wochenende und in der freier Wettbewerb, sondern auch fairer Wettbewerb; Nacht Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, wie Wettbewerb um die besten Produkte und den besten Ser- zum Beispiel bei den Gebäudereinigern. vice, um besseres und effizienteres Management, und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19635

(A) nicht Wettbewerb mit schlechten Arbeitsbedingungen Anlage 16 (C) und schlechten Löhnen. Zu Protokoll gegebene Reden Gerade Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zur Beratung der Beschlussempfehlung und des sind Versuche, sich unfaire Vorteile zu verschaffen zu- Berichts: EU-Übersetzungsstrategie überarbei- lasten aller durch Hinterziehung von Steuern, zulasten ten – Nationalen Parlamenten die umfassende der Arbeitnehmer, die ungesichert arbeiten, zulasten der Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ermögli- Versichertengemeinschaft und der ehrlichen Konkurren- chen (Tagesordnungspunkt 21) ten, die Beiträge zahlen. Mit dem Aktionsprogramm „Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ hat das Ka- Hans Peter Thul (CDU/CSU): Der vorliegende ge- binett darum ein umfangreiches Paket beschlossen, des- meinsame Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd- sen zentrale Punkte in dem Gesetzentwurf stehen, der Ih- nis 90/Die Grünen ist auch nach der Vorlage der Mittei- nen heute vorliegt. lung der Kommission zur Mehrsprachigkeit vom Eine wesentliche Verbesserung ist die Einführung ei- 18. September 2008 weiterhin aktuell und angezeigt, so- ner Sofortmeldepflicht bei Beschäftigungsbeginn. Sie gar mehr denn je. Aus diesem Grund erfolgte die unein- ermöglicht eine schnelle und zweifelsfreie Feststellung, geschränkte Zustimmung von allen Fraktionen im Bera- ob der Arbeitgeber seinen sozialversicherungsrechtli- tungsverfahren des federführenden Ausschusses für die chen Pflichten bereits nachgekommen ist. Das verhin- Angelegenheiten der Europäischen Union am 24. Sep- dert Ausreden und eilige Nachmeldungen ertappter tember. „schwarzer Schafe“. Damit wird die Arbeit der Prüfer in Nachdem zu unserer Verwunderung die geforderten den Branchen erheblich einfacher, in denen ein erhöhtes Änderungen der Sprachenregelung in dieser Mitteilung Risiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung be- nicht berücksichtigt worden sind, müssen die von uns steht; denn sie macht eine Überprüfung schon am Tag bereits mehrfach formulierten Forderungen insbesondere der Aufnahme einer Beschäftigung möglich. Da ohnehin nach zeitnaher Überarbeitung des Sprachenregimes der jeder Arbeitgeber vor einer Beschäftigungsaufnahme mit Europäischen Union und einer daraus folgenden Verbes- seinen Beschäftigten einen Arbeitsvertrag abschließen serung der Übersetzungsleistungen weiterhin so lange muss, stellt das Übermitteln von vier Daten zur Renten- gestellt werden, bis sie schließlich in einer Überset- versicherung keinen wesentlichen Mehraufwand dar. zungsstrategie verbindlich niedergelegt werden. Die für Aber neben der Prüfung erleichtert es auch die Arbeit 2008 angekündigte Überarbeitung der Übersetzungsstra- der Berufsgenossenschaften, die im Leistungsfall auf die tegie hat die Europäische Kommission auf unbestimmte Daten zugreifen und bei Verdacht auf Schwarzarbeit den Zeit verschoben. Wir werden unter diesen Umständen (B) Arbeitgeber in Regress nehmen können. weiter regelmäßig die für uns beratungs- und entschei- (D) dungsrelevanten Informationen auf Englisch oder Fran- Ein weiteres Problem der Überprüfung von Schwarz- zösisch erhalten. arbeit und illegaler Beschäftigung war bisher die eindeu- tige persönliche Identifizierung der Beschäftigten. Der Wir arbeiten hier gemeinsam auf der Grundlage eines Gesetzentwurf sieht deshalb die Pflicht zur Mitführung Mandates, das wir in freien und geheimen Wahlen von und Vorlage von Ausweisdokumenten in den Branchen unseren Wählerinnen und Wählern erhalten haben, und mit Sofortmeldepflicht vor. Gleichzeitig heben wir die wir haben diesen Wählerauftrag nach bestem Wissen bisher geltende Pflicht auf, den Sozialversicherungsaus- und nur unserem eigenen Gewissen folgend zum Wohle weis mitzuführen. der gesamten Gesellschaft wahrzunehmen. Dies setzt aber voraus, dass wir die Grundlagen unserer Entschei- Dadurch, dass Arbeitgeber zukünftig ihre Beschäftig- dungen erfassen, im wörtlichen Sinne also Wort für Wort ten nachweislich und schriftlich über diese Pflicht beleh- aufnehmen, abwägen und prüfen können. Dies alles geht ren müssen, stehen sie mit in der Verantwortung für die – hier sind wir uns mit großer Mehrheit in diesem Hause Einhaltung der Regeln. Im Gegenzug befreien wir durch einig – für uns am besten auf Deutsch, unserer offiziel- die neue zentrale, elektronische Übermittlung von An- len Amtssprache. schriftendaten der Beschäftigten die Arbeitgeber von Dies gilt im Übrigen für jede innerhalb der Europäi- bisher immerhin jährlich rund 16 Millionen Meldevor- schen Union gesprochene Sprache. Insofern gilt das, was gängen. Das bedeutet unterm Strich 25 Millionen Euro wir fordern, im übertragenen Sinne selbstverständlich geringere Bürokratiekosten. auch für alle anderen Sprachen und alle von der Spra- chenregelung und ihren Regelungsdefiziten betroffenen Dazu werden die Kommunen und die Rentenversi- Parlamentarier. Daher richtet sich unser Antrag weder cherungsträger von erheblichen Kosten entlastet. Auch gegen irgendeinen der anderen Mitgliedstaaten noch dis- das sind noch einmal etwa 180 Millionen Euro im Jahr. kriminiert er die Verwendung einer der anderen inner- halb der Gemeinschaft gesprochenen Sprachen. So gelingt es uns durch dieses Gesetz, mit geringem Aufwand durch zusätzliche Melde- und Nachweispflich- Im Übrigen sollten wir alle daran interessiert sein, die ten in einigen Branchen die Schwarzarbeit besser be- Akzeptanz der EU-Regelungen bei den Bürgerinnen und kämpfen zu können, und gleichzeitig senken wir Büro- Bürgern – besonders angesichts der im kommenden Jahr kratiekosten. Faire Regeln und ein Gewinn für alle – anstehenden Wahlen – zu erhöhen und zumindest das auch das sind Kerne der sozialen Marktwirtschaft. Nachvollziehen der einzelnen Entscheidungen des Euro- 19636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) päischen Parlaments durch die Aufnahme muttersprach- ten pro Seite“ spricht. Weiter heißt es wörtlich unter der (C) licher Texte zu ermöglichen. Identifikation mit Europa laufenden Nummer 5 der eben erwähnten Antwort: und damit die Stärkung des Wunsches nach Teilhabe und Mitwirkung der Bürger setzen voraus, dass sie verste- Die Kommission sieht keine besonderen Schwierig- keiten und speziellen Probleme, was den Bedarf an hen, was Europa regelt und entscheidet. Dies ist eine Übersetzungen ins Deutsche und die fristgerechte Verantwortung, die nicht allein auf die einzelnen Mit- Vorlage anbelangt. Wenn dem so ist, so gibt es auch gliedstaaten abgewälzt werden kann, sondern es ist Auf- keinen ernst zu nehmenden Einspruch gegen unser gabe der Kommission, den Mitgliedstaaten das nötige berechtigtes Begehren. Handwerkszeug zur Verfügung zu stellen. Daneben er- wartet und wünscht doch auch die EU-Kommission die Die bereits erwähnten und verschobenen Vorgänge stärkere Mitwirkung der nationalen Parlamente. können nicht so lange warten, bis uns einmal intelligen- tere Technik bzw. Software die Arbeit des Übersetzens Diese Selbstverständlichkeiten haben wir – das sind abnimmt. Aber genau darauf scheinen einige in Brüssel CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – in zu warten. Wir unterstützen diese Hinhaltetaktik auch dem vorliegenden Antrag gemeinsam formuliert und in noch – so viel Kritik muss erlaubt sein –, wenn der deut- der Zwischenzeit auch unmittelbar in Brüssel dem zu- sche EU-Kommissar Verheugen seine Reden ausschließ- ständigen EU-Kommissar Leonard Orban und dem stell- lich auf Englisch hält, wie zuletzt im April dieses Jahres; vertetenden Generalsekretär, Herrn Jouanjean, erläutert. und das, obwohl eine Simultanübersetzung für nicht Daneben hatten wir Gelegenheit, sachkundigen Vertre- deutschsprachige Teilnehmer verfügbar wäre. Das ist tern außerparlamentarischer Organisationen, etwa dem kontraproduktiv und widerspricht dem Gedanken der eu- Goethe-Institut, unser Anliegen zu erklären und deren ropäischen Pluralität. Der Gebrauch der deutschen Spra- Rat einzuholen. In allen diesen Gesprächen haben wir che bei der Amtsausübung muss für Herrn Verheugen so keinen einzigen Einwand hören können, der unserem selbstverständlich sein wie die Verwendung der französi- Antrag entgegenstünde. Im Gegenteil, die zurzeit gelten- schen Sprache für seinen französischen Kollegen Barrot. den Grundsätze der Sprachenregelung in der Verordnung Alles andere ist falsch verstandene Höflichkeit – und un- Nummer 1/58 nennen ausdrücklich alle Amtssprachen nötig noch dazu. als gleichrangig. Derzeit werden innerhalb der Gemein- schaft 23 Sprachen gesprochen, und nach unserer Über- Schließlich erfahren wir für unseren Antrag Zustim- zeugung gilt das, was wir fordern – ich wiederhole das mung von allen Seiten innerhalb und außerhalb dieses gerne an dieser Stelle –, für alle zurzeit und zukünftig Parlamentes. In der jüngsten Vergangenheit sind in die- gesprochenen Sprachen gleichermaßen. ser Sache Briefe geschrieben und eine ganze Reihe von Gesprächen geführt worden. Es liegt jetzt an der EU- (B) Des Weiteren sind wir uns einig, dass die Überset- Verwaltung, ein neues Sprachenregime zu formulieren (D) zungsleistungen alle beratungs- und entscheidungsrele- und alsbald, ohne weiteres Verschieben und Vertrösten, vanten Dokumente, mithin auch die Anlagen und An- in Kraft zu setzen. Diese Forderung werden wir auch ge- hänge, umfassen müssen. Dabei können nur wir selbst genüber Kommissar Orban bei seinem angekündigten entscheiden, welche Informationen für unsere Entschei- Besuch im Dezember dieses Jahres erneut deutlich ma- dungen von Bedeutung sind. Die Abwägung zwischen chen. Demokratie mag dem ein oder anderen in diesem der Notwendigkeit und der rechtlichen Verpflichtung zur Zusammenhang teuer vorkommen, aber das Modell ei- Übersetzung eines Dokumentes ist Sache des nationalen ner freien demokratischen Gesellschaft, das Wirtschafts- Parlamentes und eben nicht Sache der Kommission in modell Europa, ist zu wertvoll für die freie Entfaltung Brüssel. Unser Eindruck ist vielmehr, dass viele Doku- der hier lebenden Menschen, als dass wir es allein mit mente schematisch ohne Ansehen der inhaltlichen Rele- fiskalischen Interessen beschränken. Wir sehen daher die vanz herabgestuft werden. Verabschiedung eines neu gefassten Sprachenregimes als eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Parla- Zurzeit können nahezu fünfzig einzelne Vorgänge mente an. nicht von dem deutschen Parlament abschließend bear- beitet werden, weil die entsprechenden Dokumente eben Lassen sie mich zu Schluss noch einmal die wichtigs- nicht vollständig in deutscher Sprache vorliegen. Dies ten Forderungen unseres Antrages zusammenfassen: Neufassung der für 2008 zugesagten Übersetzungsstrate- hemmt unsere Arbeit und führt zu vermeidbaren Verzö- gie alsbald und kurzfristig; angemessene parlamentari- gerungen bei den anstehenden Entscheidungen. Dies ist sche Beteiligung der Mitgliedstaaten bei dieser Ausar- nicht hinnehmbar, weil die Problemlösungen in einem beitung; vollständige und zeitnahe Bereitstellung aller immer mehr an Dynamik zunehmenden globalen Wett- beratungs- und entscheidungsrelevanten Dokumente; an- bewerb eher nach flinken Lösungen verlangen als nach gemessene Mittelbereitstellung in den Haushalten und einem langatmigen Zuwarten. eine stärkere Förderung und Verwendung der deutschen Die Kosten der Übersetzungsleistungen fallen für alle Sprache in der kulturellen Präsenz und im Arbeitsge- Sprachen etwa in gleicher Höhe an. Dies betont Herr brauch innerhalb der Institutionen in Brüssel. Orban gleich an zwei Stellen in seiner schriftlichen Ant- wort vom 11. Juni 2008 auf eine entsprechende Anfrage Michael Roth (Heringen) (SPD): „Die Sprache Eu- des Europakollegen Gahler, wenn er von „… kaum ins ropas ist die Übersetzung“, sagt Umberto Eco und bringt Gewicht fallenden Unterschieden der Übersetzungskos- es auf den Punkt. Treffender kann ein Zitat kaum sein. ten“ oder an anderer Stelle von „… entsprechenden Kos- Das greift auch die Europäische Kommission in ihrer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19637

(A) Mitteilung „Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, tag engagierter in den EU-Gesetzgebungsprozess ein. (C) aber auch gemeinsame Verpflichtung“ vom 18. Septem- Wenn uns das gescheiterte Referendum in Irland etwas ber dieses Jahres auf. gezeigt hat, dann doch, dass Europa mehr Bürgernähe braucht. Hier stehen wir auch als nationale Politiker in Die Kommission mahnt die Förderung der Mehrspra- der Verantwortung. Nationale Parlamente haben inner- chigkeit an. Damit wir uns nicht missverstehen: Spra- staatlich bereits Befugnisse bei europäischer Rechtsset- chenlernen ist richtig und wichtig. Sprachen ermögli- zung. Das ist auch den europäischen Institutionen be- chen den Zugang zu anderen Kulturen und Menschen. wusst. Die Mammutaufgabe, Europa zu vermitteln, kann Sie sind Instrument der Annäherung. Sprache macht nur in einem gemeinsamen Kraftakt gelingen. Die Re- Europa für die Menschen erst erlebbar. Für das Spra- form der Übersetzungsstrategie muss weiterverfolgt chenlernen spricht sicher noch viel mehr. Selbstver- werden. Das bedeutet auch, dass wir in der Pflicht ste- ständlich setzen wir uns hier in Deutschland dafür ein, hen. In der Pflicht, EU-Dokumente, die wir zugeleitet dass Menschen die Chance haben, Sprachen zu erlernen bekommen, nicht lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Wir – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Dieser Ver- müssen Prioritäten setzen und konkret sagen, wo der antwortung nehmen wir uns gerne an. Die Kommission Schuh drückt und gegebenenfalls Alternativvorschläge muss ihrer eigenen Verantwortung für die Sprachenviel- unterbreiten. falt in Europa gerecht werden. Es ist ein Erfolg, dass der Deutsche Bundestag ge- Kommissar Orban hat für seine Mitteilung wirklich schlossen hinter dem Antrag steht. Über Fraktionsgren- schöne Worte gefunden. Aber schöne Worte allein rei- zen hinweg gilt es, alle Abgeordneten in die Lage zu ver- chen nicht aus. Allein davon wird unsere parlamentari- setzen, sich angemessen mit EU-Dokumenten und EU- sche Arbeit nicht besser. Wir wollen unsere Aufgaben Vorlagen auseinanderzusetzen – in deutscher Sprache. wahrnehmen. Aber erledigt die Kommission auch ihre Hausaufgaben, um uns dazu in die Lage zu versetzen? Ebenso freue ich mich, dass dieses Anliegen von der deutschen Bundesregierung mitgetragen wird. Unser Wir warten. Viel zu lange schon warten wir auf eine Antrag soll die Bemühungen der Bundesregierung unter- Initiative von Herrn Orban. Eine Überarbeitung für das stützen und sie ermuntern, am Ball zu bleiben. Ich for- Übersetzungsregime wurde für dieses Jahr angekündigt. dere die EU-Kommission dazu auf, endlich dem berech- Leider habe ich einem Brief des Kommissars an unseren tigten Interesse des Deutschen Bundestages besser zu Außenminister Frank-Walter Steinmeier entnehmen entsprechen – im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. müssen, dass die Überprüfung der Übersetzungsstrategie auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Fehlende finan- zielle Mittel beklagt der Kommissar. Wir haben doch Michael Link (Heilbronn) (FDP): Die Kommission (B) keine Beliebigkeit gefordert! Es soll nicht jeder Text beginnt ihre aktuelle Mitteilung zur Mehrsprachigkeit in (D) – sei er noch so irrelevant – übersetzt werden. Aber es Europa mit den Worten „die harmonische Koexistenz muss sichergestellt werden, dass die Dokumente, die aus vieler Sprachen in Europa ist ein kraftvolles Symbol für unserer Sicht relevant sind, zwingend übersetzt werden. das Streben der EU nach Einheit in der Vielfalt, einem Wir haben konkrete Dokumente zur Übersetzung ange- der Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks.“ mahnt, aber leider für 23 eine negative Antwort erhalten. Diese Einschätzung teilen wir Liberalen. So drückt Eine Erhöhung der finanziellen Mittel ist für die Reform diese philosophisch anmutende Aussage zuallererst aus, der Übersetzungsstrategie nicht unbedingt notwendig. dass die Sprachenvielfalt in Europa nicht zum destrukti- Eine Umschichtung, die den Bedarf der nationalen Par- ven Babylonischen Stimmengewirr führt, dass diese lamente berücksichtigt, ist jedoch denk- und machbar. Vielfalt einen Teil der Identität Europas darstellt. Nicht allein die Förderung der deutschen Sprache, Natürlich stellt diese Vielzahl der Sprachen die Euro- sondern die Förderung der sprachlichen Vielfalt in päische Union im alltäglichen Gebrauch auch vor große Europa ist unser Anliegen. Diese sprachliche Vielfalt ist Herausforderungen. Es erfordert strukturelle, logistische nicht bloß eine Herausforderung des europäischen Über- und finanzielle Anstrengungen, um die reibungslose setzungsdienstes. Vielmehr ist sie Bestandteil unseres Kommunikation innerhalb der EU zu ermöglichen. kulturellen Reichtums. Wenn von den nationalen Parla- menten gefordert wird, dass sie sich frühzeitig in den Die lang erwartete Mitteilung der Kommission vom Gesetzgebungsprozess der EU einbringen, dann muss 18. September 2008 zur Mehrsprachigkeit enttäuscht be- man uns auch die Möglichkeit dazu geben. Mit „uns“ züglich der Antworten auf diese Herausforderungen, ob- meine ich die Parlamentarier der nationalen Kammern wohl die Mitteilung interessante Aussagen zur Stärkung aller Mitgliedstaaten. Der Deutsche Bundestag, der pol- der Sprachenkompetenz und des Sprachenbewusstseins nische Sejm, die französische Assemblée nationale, der trifft. Denn entgegen ursprünglicher Äußerungen Kom- litauische Seimas und alle anderen Kolleginnen und Kol- missar Orbans enthält diese Mitteilung keine Überarbei- legen aus den Partnerländern der EU wirken an Europa tung der Übersetzungsstrategie. Und dabei wäre genau mit. dies der Bereich, an den die Kommission selbst Hand anlegen und dazu klare Aussagen treffen könnte, statt Auch angesichts der Unklarheit darüber, wann der sich mit Wunschvorstellungen an die Mitgliedstaaten zu Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird, bin ich über- wenden. zeugt, dass die Rolle nationaler Parlamente wächst. Der Lissabon-Vertrag stärkt formal unsere Mitgestaltungs- Die Verabschiedung unseres interfraktionellen An- möglichkeiten. Doch schon jetzt bringt sich der Bundes- trags „EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten – Natio- 19638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) nalen Parlamenten die umfassende Mitwirkung in EU- Daneben kann man nicht genug daran erinnern, dass (C) Angelegenheiten ermöglichen“ ist damit wichtiger denn auch auf die Partnerfraktionen im EP Einfluss zu neh- je. men ist, die im Haushalt mitzubestimmen haben. An der Bereitschaft der Kommission, transparent und Interessant wäre es heute von Ihnen, sehr geehrte offen mit den nationalen Parlamenten zusammenzuarbei- Koalitionsfraktionen, zu erfahren, welche Fortschritte ten, bestehen erhebliche Zweifel. Was sich unter anderem Sie bei Ihren Gesprächen einerseits mit der zuständigen an der fehlenden, jedoch zugesicherten Überarbeitung Hauptberichterstatterin, der SPD-Kollegin Jutta Haug, der Übersetzungsstrategie, der lediglich begrenzten Zahl andererseits mit dem Vorsitzenden des Haushaltsaus- an erbetenen Nachübersetzungen beratungsrelevanter schusses im Europäischen Parlament, dem CDU-Kolle- Dokumente und der fehlenden Darstellung der tatsäch- gen Reimer Böge, EVP/CDU verzeichnen konnten. lich benötigten Mittel und Kosten für eine angemessene Übersetzungsleistung ausdrückt. Neben diesem Engagement dürfen wir auch nicht nachlassen, bei der Kommission die regelmäßige Be- In der Debatte zur ersten Lesung dieses Antrages nachteiligung von deutschen Nichtregierungsorgani- habe ich betont, dass der Antrag auch ein Zeichen setzt, sationen und deutschen Mittelständlern und anderen. dass sich der Bundestag in dieser Angelegenheit nicht durch die bevorzugte Verwendung von Englisch/Franzö- auf wenig vertrösten lassen wird – und zwar weder von sisch in Wirtschaftsdatenbanken, bei Ausschreibungen der Bundesregierung noch von der Kommission. und generell bei Internetauftritten in der EU zu kritisie- Natürlich muss die Kommission für die notwendigen ren sowie deren Ende gemäß den bestehenden europäi- Übersetzungen sorgen, die Bundesregierung muss nun schen Rechtsvorschriften, die Deutsch als gleichberech- aber endlich den Druck erhöhen und dies in der EU auch tigte Amts- und Arbeitssprache der EU festsetzen, durchsetzen. Und zwar auf Chefebene – denn die Dis- nachdrücklich einzufordern. kussionen auf Arbeitsebene haben – wie wir sehen – bis- her zu nichts geführt. Zwar scheint das Bewusstsein der Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): In gebotener Bundesregierung dafür geweckt und auch groß zu sein. Kürze eine Bemerkung zum Antrag selbst und eine Be- Auch sind wohl bereits Gespräche mit dem Kommis- merkung zum Verfahren: Das Anliegen des Antrags ist sionspräsidenten Barroso geführt worden, doch nach wie gerechtfertigt. Wir unterstützen es voll und ganz. Durch vor wurde dabei wenig erreicht. Deshalb müssen wir als unzureichende Übersetzungen von EU-Dokumenten Bundestag ebenfalls den Druck auf die Bundesregierung wird der Bundestag bei der Beteiligung an der Rechtset- erhöhen. zung auf europäischer Ebene und auch sonst ganz erheb- (B) Zeitlich kommt unser Antrag dafür genau zum richti- lich behindert. Das muss korrigiert werden, und zwar so (D) gen Zeitpunkt. Denn die Verhandlungen über den EU- schnell wie möglich. Es geht aber nicht nur um den Bun- Haushalt 2009 sind nun in der heißen Phase. Aktuell be- destag. Es geht vor allem darum, dass eine demokrati- rät das Europäische Parlament in seinen Ausschüssen sche Öffentlichkeit die politischen Positionen selbst und im Plenum bevor es am 21. November zu einer Ver- begleiten und kritisch hinterfragen können muss. Da rei- mittlungsrunde zwischen Rat und EP zum EU-Haushalt chen politisch interpretierende und gefilterte Pressebe- 2009 kommt. richte nicht. Wer Demokratie will, muss in der Sprache der jeweils betroffenen Menschen kommunizieren, auch In unserem Antrag stellen wir hinsichtlich dieses wenn es in der EU viele unterschiedliche Sprachen sind. Haushaltes konkrete Forderungen an die Bundesregie- Ein EU-Verwaltungsenglisch als „lingua franca“ der rung: Erstens, eine differenzierte Ausweisung der Mittel europäischen Eliten genügt demokratischen Prinzipien für Übersetzungsleistungen von der Kommission zu er- in keiner Weise. Die Forderung nach einer anderen möglichen und zweitens darauf hinzuwirken, dass im Übersetzungsstrategie der EU-Kommission bedarf der Einzelplan 3 der Kommission durch Umschichtungen Bezugnahme auf den Vertrag von Lissabon nicht, wie sie angemessene Mittel für Übersetzungen eingestellt wer- im Antrag enthalten ist. Eine solche Bezugnahme ist im den. Gegenteil in hohem Maße kontraproduktiv. Die EU- Kommission soll ihre verkorkste Sprachenpolitik nicht Mir scheint es erforderlich, noch vor der geplanten irgendwann, sondern schnell ändern. Wenn das vom Vermittlungsrunde am 21. November von der Bundesre- Wirksamwerden des Vertrags abhinge, würde das Ge- gierung detailliert Auskunft zu verlangen, wie sie bei der Umsetzung unserer Forderungen auf EU-Ebene agiert genteil erreicht: Der Vertrag von Lissabon wird nach hat bzw. agieren will. Beispielsweise könnte dies im EU- Lage der Dinge auf keinen Fall am 1. Januar 2009 in Ausschuss am 12. November 2008 geschehen. Denn Kraft treten, wahrscheinlich wird er es nie tun. Das stör- Sympathiebekundungen der Bundesregierung mit uns rische Festhalten der anderen Fraktionen an der Bezug- Parlamentariern reichen nicht aus. Die Bundesregierung nahme auf den Vertrag ist daher skurril. Es stellt ein muss darstellen, mit welcher Strategie sie unsere Forde- Stück Realitätsverweigerung durch die ganz Große rungen tatsächlich durchsetzen will. Koalition aus den vier anderen Fraktionen dar. Trotzdem werden wir heute keinen Änderungsantrag zur Behebung Sollten diese Forderungen ungehört bleiben, müsste dieses Mangels stellen, sondern nur in dieser Form zu die Bundesregierung in letzter Konsequenz dem Haus- Protokoll geben, dass wir ohne „Wenn“ und „Aber“ für halt 2009 seine Zustimmung verweigern. Ein kraftvolles die schnellstmögliche Revision der Übersetzungsstrate- Signal! gie eintreten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19639

(A) Jetzt die Bemerkung zum Verfahren: Bei dem hohen gern vorgenommen. Statt Hochglanzbroschüren zu (C) Maß an sachlicher Übereinstimmung hätte hier die Mög- drucken und Häppchen auf Abendveranstaltungen zu lichkeit bestanden, einen Allfraktionenantrag einzubrin- servieren, sollte sie da anfangen, wo es am sinnvollsten gen. Dass das bewusst vermieden wurde, ist schlicht al- ist, nämlich bei der Sprache. Die Kommission muss da- bern. Es kontrastiert auch zu pathetischen Appellen an für sorgen, dass dieser Dialog auch in beide Richtungen die Gemeinsamkeit und die Solidarität in nationalen Fra- gehen und verstanden werden kann. Von der Bundes- gen, die in den vergangenen Tagen von Regierungsseite regierung fordern wir, dass sie nachdrücklich und auf al- immer wieder beschworen wurde. Wo es in der Sache len Ebenen für eine neue Übersetzungsstrategie eintritt. möglich wäre, wollen Sie diese Gemeinsamkeit nicht. Denn auch sie hatte sich für ihre Ratspräsidentschaft Trotz dieses miesen Stils: Wie lassen uns von einer Zu- vorgenommen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bür- stimmung zu sinnvollen Sachentscheidungen auch durch ger in die Europäische Union zu stärken. die von den anderen Fraktionen akzeptierte Marotte des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden nicht abbringen, keine Wir Grünen begrüßen sehr, dass sich die Fraktionen Anträge zusammen mit unserer Fraktion zu unterzei- im Bundestag in dieser Frage jetzt einig sind. Denn noch chen. Irgendwann aber sollten zumindest die anderen im letzten Jahr ging es CDU/CSU und SPD doch vor al- Fraktionen diese kleingeistigen Mätzchen lassen! lem darum, nur die deutsche Sprache zu stärken. In die- sem Jahr sind wir uns einig, dass es sich nicht nur um ein deutsches Problem handelt, sondern dass alle relevanten Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Informationen für alle in der Europäischen Union ver- NEN): Sprache ist Kultur, Sprache ist Identität. Deshalb ständlich sein müssen. Denn sonst werden wir nie die müssen wir die Sprachenvielfalt in Deutschland, in der hehren Ziele einer europäischen Öffentlichkeit, einer EU und auch weltweit schützen. Es ist ein gutes Zeichen, europäischen Identität und einer gelebten Unionsbürger- dass die Vereinten Nationen das Jahr 2008 zum inter- schaft erreichen. Dazu brauchen wir eine transparente nationalen Jahr der Sprachen erklärt haben. Auch die und verständliche Europäische Union. Europäische Union muss ihren Reichtum an Sprachen- vielfalt sichern, und deshalb ist es richtig, dass jedes Land vor einem Beitritt in die Europäische Union ange- Anlage 17 ben kann, welche Sprache es als sogenannte Amtsspra- che wählt. In diesen momentan 23 Amtssprachen kön- Zu Protokoll gegebene Reden nen sich dann alle Bürgerinnen und Bürger an die zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Institutionen der Europäischen Union wenden. Und das Einführung Unterstützter Beschäftigung (Ta- ist gut so. Denn die Bürgerinnen und Bürger haben ein gesordnungspunkt 22) (B) Recht darauf, zu erfahren, was in ihrem Namen ge- (D) schieht. Hubert Hüppe (CDU/CSU): In der Koalitionsverein- Sprache ist also ein wichtiger Schlüssel für die Bürge- barung haben wir uns darauf geeinigt, mehr für die be- rinnen und Bürger zur Europäischen Union. Aber auch rufliche Integration von Menschen mit Behinderungen für kleine und mittlere Unternehmen, die sich an EU- zu tun. Unser Ziel ist, mehr behinderten Menschen die Ausschreibungen beteiligen möchten, und nicht zuletzt Möglichkeit zu eröffnen, außerhalb von Werkstätten für auch für uns Abgeordnete ist es notwendig, dass wir behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allge- wichtige Informationen in unserer Sprache erhalten. meinen Arbeitsmarkt erarbeiten zu können. Denn es ist unsere ureigene Aufgabe, zu kontrollieren, Die Bundesregierung hat diesen Punkt der Koalitions- wie die Bundesregierung in Brüssel handelt und ob sie vereinbarung aufgegriffen und einen Gesetzentwurf vor- unsere Anliegen auch richtig vertritt. gelegt, den wir heute beraten. Der Gesetzentwurf sieht Genau deshalb ist es doch absolut unverständlich, die „Unterstützte Beschäftigung“ als eine neue Leistung wenn wichtige Initiativen, Beschlüsse und auch Internet- zur Teilhabe am Arbeitsleben vor. Ziel der „Unterstütz- auftritte, zum Beispiel der Generaldirektionen, nicht in ten Beschäftigung“ ist ein regulärer, sozialversiche- allen Sprachen zur Verfügung stehen. Wir verstehen rungspflichtiger Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Ar- nicht, warum nicht alle wesentlichen EU-Dokumente in beitsmarkt. allen 23 Amtssprachen erhältlich sind. Es kann nicht Der Gesetzentwurf schafft neue Teilhabechancen auf sein, dass für eine Übersetzung allein formale Kriterien dem allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behin- ausschlaggebend sind und wichtige Informationen, die derungen, denen zur Zeit nur die Werkstatt für behin- sich in Anhängen oder in „nachgeordneten Dokumen- derte Menschen offen steht. Zur Zielgruppe des Gesetz- ten“ finden, deshalb nicht übersetzt werden. Nicht ir- entwurfs gehören insbesondere behinderte Menschen, gendwelche Kriterien, sondern die politische Bedeutung die vor der Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte muss entscheiden, was übersetzt wird. Menschen stehen, also in erster Linie junge behinderte Menschen, denen eine berufsvorbereitende Maßnahme Deshalb fordern wir von der Europäischen Kommis- oder eine Berufsausbildung wegen Art oder Schwere ih- sion, dass sie endlich wie angekündigt eine überarbeitete rer Behinderung nicht möglich ist. Übersetzungsstrategie vorlegt. Das sollte und muss noch in diesem Jahr und damit vor der Europawahl gesche- Zusätzlich ist die „Unterstützte Beschäftigung“ ge- hen. Die Kommission hat sich doch mit ihrem „Plan D“ dacht für Menschen, bei denen sich beispielsweise we- einen verstärkten Dialog mit den Bürgerinnen und Bür- gen eines Unfalls oder einer physischen oder psychi- 19640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) schen Erkrankung im Laufe ihres Erwerbslebens eine ten für behinderte Menschen ist nicht in Sicht. Die CDU/ (C) Behinderung eingestellt hat. CSU-Bundestagsfraktion glaubt nicht, dass mit derzeit etwa 1 bzw. 3 Prozent ausgelagerten Werkstattplätzen im Die neue Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ glie- Berufsbildungs- und Arbeitsbereich und unter 1 Prozent dert sich in zwei Phasen. Die erste Phase ist die „indivi- Übergängen aus Werkstätten auf den allgemeinen Ar- duelle betriebliche Qualifizierung“, die in der Regel beitsmarkt die Möglichkeiten für werkstattberechtigte zwei Jahre dauert und mit einem regulären Arbeitsver- Menschen ausgeschöpft sind. Ich bin fest davon über- hältnis endet. Daran schließt sich der zweite Baustein zeugt, dass für behinderte Menschen mehr Möglichkei- der „Unterstützten Beschäftigung“, die „Berufsbeglei- ten geschaffen werden können. Auch und gerade im Ar- tung“ an. Die „Berufsbegleitung“ wird dann geleistet, beitsleben kommt es darauf an, ein selbstverständliches wenn weitere Begleitung nötig ist, um den Arbeitsplatz Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderun- zu sichern. Der Mensch mit Behinderung ist also nicht gen zu stärken. Behinderten Menschen mehr Teilhabe- auf sich allein gestellt, wenn er den Sprung in ein regulä- chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzuräu- res Arbeitsverhältnis geschafft hat und auf weitere Un- men, bleibt eine Aufgabe, der wir uns weiter zu stellen terstützung angewiesen ist. haben. Wir wollen, dass Absolventen von Förderschulen in der Praxis nicht automatisch in die Werkstatt für behin- Die neue Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ ist derte Menschen gehen. Diesem Ziel dient der Gesetzent- ein Mosaikstein des Ziels von CDU/CSU und der Koali- wurf. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch, tion, mehr Teilhabechancen für behinderte Menschen Schulpraktika für behinderte Jugendliche vermehrt in auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Für Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes anzubieten. den Erfolg der neuen Leistung wird es darauf ankom- Hier sind weitere Anstrengungen zu unternehmen. men, die Rahmenbedingungen an funktionierenden For- men der „unterstützten Beschäftigung“ zu orientieren. Für die CDU/CSU ist es wichtig, dass mit dem Ge- Es wird insbesondere auf eine ausreichend intensive und setzentwurf ein Weg beschritten wird, der dem Men- individuelle Betreuung der behinderten Menschen auf schen eine praxis- und betriebsorientierte Teilhabe- dem Arbeitsplatz während der gesamten Maßnahme an- chance eröffnet. Die neue Leistung „Unterstützte kommen. Hinzu müssen finanzielle Leistungen an den Beschäftigung“ geht vom Prinzip „Erst platzieren, dann Arbeitgeber kommen, wenn nur so das Arbeitsverhältnis qualifizieren“ aus. Das heißt, es wird zuerst einmal ein gesichert werden kann. Wir hoffen bei der Umsetzung Platz für den behinderten Menschen in einem Unterneh- natürlich auch auf die Unterstützung durch Arbeitgeber. men gesucht. Dann kann der behinderte Mensch erpro- Menschen mit Behinderungen müssen eine Chance er- ben, welche Tätigkeit er am besten ausüben kann. Spe- halten, zu zeigen, dass sie eine Bereicherung für einen (B) zielle Betreuer qualifizieren den behinderten Menschen Betrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sein können. (D) anschließend für eine ganz konkrete Tätigkeit im Unter- nehmen. Das Prinzip „Erst platzieren, dann qualifizie- Jörg Rohde (FDP): Die berufliche Teilhabe behin- ren“ ist keine fixe Idee von Politikern. In der Praxis hat derter Menschen ist eine der größten Herausforderungen es sich schon vielfach bewährt. Dies zeigt die erfolgrei- in der Politik für Menschen mit Behinderung. Berufliche che Arbeit von Leistungsanbietern, wie beispielsweise Teilhabe bedeutet für den behinderten Menschen die An- der Hamburger Arbeitsassistenz oder Access Erlangen. erkennung seiner Fähigkeiten und den Respekt vor sei- Menschen mit Behinderungen dürfen nicht in der ner Arbeitsleistung. Sie trägt dem Wunsch vieler neuen Maßnahme „zementiert“ sein. Vielmehr muss eine Schwerbehinderter Rechnung, nicht in einer Werkstatt Durchlässigkeit zwischen einzelnen Maßnahmen beste- für behinderte Menschen, sondern im ersten Arbeits- hen. Die Maßnahme „Unterstützte Beschäftigung“ markt einer Tätigkeit nachzugehen. Es ist deshalb Auf- berücksichtigt deshalb, dass sich in der Phase der „indi- gabe des Gesetzgebers, die geeigneten Rahmenbedin- viduellen betrieblichen Qualifizierung“ andere Maßnah- gungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu schaffen, men als bedarfsgerechter herausstellen können. In diesen damit die Integration behinderter Menschen in den ers- Fällen gibt es die Möglichkeit, alternativ zur „Unter- ten Arbeitsmarkt gelingt. Geeignete Rahmenbedingun- stützten Beschäftigung“ beispielsweise berufsvorberei- gen heißt in diesem Zusammenhang: der Bau einer tende Berufsbildungsmaßnahmen, eine Berufsausbil- Brücke von der Werkstatt oder ähnlichen Beschäftigungs- dung oder Leistungen in einer Werkstatt für behinderte angeboten für behinderte Menschen in den ersten Ar- Menschen durchzuführen. beitsmarkt. Nötig ist dieser Brückenbau, weil der über- wiegende Teil der Betroffenen bislang nicht mit den Die positiven Seiten der neuen Maßnahme zu nennen, Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes konfrontiert heißt aber nicht zu verschweigen, was die „Unterstützte war und in der ersten Zeit im neuen Job ergänzende Un- Beschäftigung“ nicht leistet. Ich bin mir bewusst, dass terstützung benötigt, zum Beispiel durch berufliche Qua- der Gesetzentwurf noch nicht Teilhabelösungen auf dem lifizierungsmaßnahmen, aber auch durch persönlich- allgemeinen Arbeitsmarkt aufzeigt für die vielen behin- keitsbildende Begleitung. derten Menschen, die sich zurzeit in Werkstätten für be- hinderte Menschen befinden. Wie Sie vielleicht wissen, Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erkennt die steigt die Zahl der behinderten Menschen in Werkstätten Bundesregierung diesen Unterstützungsbedarf behinder- stetig an. Von 1994 bis 2006 stieg die Zahl der Men- ter Erwerbstätiger ausdrücklich an und stellt die perso- schen in Werkstätten um etwa 80 Prozent von nenzentrierte Hilfe in den Vordergrund. Denn wie auch 150 000 auf 270 000. Ein Ende des Zulaufs zu Werkstät- bei der Vermittlung und Förderung Langzeitarbeitsloser, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19641

(A) Geringqualifizierter oder anderer Erwerbsloser mit Ver- komplett. Die 69 Optionskommunen führen bezüglich (C) mittlungshemmnissen gilt auch für die Integration behin- Arbeitsvermittlung behinderter Menschen keine Statisti- derter Menschen: Jedes Hilfsangebot muss dem indivi- ken, Arbeitslose in Maßnahmen werden nicht erfasst und duellen Hilfebedarf des behinderten Menschen und den viele Menschen mit Behinderungen sind aus unter- Besonderheiten seines Arbeitsplatzes im ersten Arbeits- schiedlichsten Gründen nicht mehr als arbeitsuchend re- markt gerecht werden. Nur mit maßgeschneiderten Hil- gistriert. Vom Rückgang der Arbeitslosigkeit haben Men- fen kann es gelingen, ein langfristig solides und wirt- schen mit Behinderungen am wenigsten partizipiert – hier schaftliches Arbeitsverhältnis zwischen dem behinderten ist die Arbeitslosenquote doppelt so hoch, wie bei Nicht- Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber herzustellen. Leider behinderten. folgen die Regierungsfraktionen diesem Grundsatz ins- gesamt in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik viel zu Das ist die Situation trotz der vielen Maßnahmen und selten. Aktivitäten des Bundes, welche im Bericht der Bundesre- gierung über die Wirkung der Instrumente zur Sicherung Die FDP erkennt an, dass die Bundesregierung mit von Beschäftigung und zur betrieblichen Prävention darge- dem vorliegenden Gesetzentwurf ein individuelles Un- legt wird. Übrigens: Dieser Bericht, Drucksache 16/6044, terstützungsangebot schaffen möchte. Wie so oft ist es vom 2. Juli 2007 wurde bis heute nicht von der Koalition der Bundesregierung allerdings auch in diesem Gesetz- auf die Tagesordnung gesetzt. Warum wohl? gebungsverfahren nicht gelungen, einen Entwurf vorzu- legen, dem die Interessenvertretungen behinderter Men- Nun legt die Bundesregierung im Eilverfahren – eine schen sowie die ausführenden Länder und Kommunen Anhörung im zuständigen Ausschuss ist für den 5. No- uneingeschränkt zustimmen können. So wird zum Bei- vember und die 2./3. Lesung im Bundestag ist für den spiel von Behindertenverbänden über Länder und Kom- 13. November geplant – den „Gesetzentwurf zur Einfüh- munen bis hin zu den Arbeitgebern kritisiert, dass die für rung Unterstützter Beschäftigung“ vor. die Unterstützung infrage kommende Zielgruppe nicht Die Linke unterstützt das „Ziel der Unterstützten Be- hinreichend klar definiert ist. Auch die ohnehin ange- schäftigung (ist), behinderten Menschen mit besonderem spannte finanzielle Lage der meisten Integrationsämter Unterstützungsbedarf eine angemessene, geeignete und findet im vorliegenden Gesetzentwurf keine Würdigung, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermögli- obwohl auf diese mittel- und langfristig weitere finan- chen und zu erhalten“ (siehe § 38 a). Ergänzend möchte zielle Belastungen durch die Nachbetreuung behinderter ich anmerken, dass wir hier Arbeit meinen, von der man Erwerbstätiger zukommen dürften. Nicht zuletzt deshalb auch leben kann. Menschen mit Behinderungen sollen hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme die Bundesre- ihren gesamten Lohn für ihren Lebensunterhalt wie alle gierung zum wiederholten Male ermahnt, die Grundla- anderen auch behalten können und nicht bis auf den ge- (B) gen für Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeit und ring bemessenen Selbstbehalt nach SGB XII für die be- (D) Wohnen behinderter Menschen endlich auf ein neues ge- hinderungsbedingten Mehrbedarfe wieder abführen setzliches Fundament zu stellen. müssen. Schließlich ist zu bezweifeln, ob das Instrument der Der Ansatz des Gesetzentwurfs zur Einführung Un- unterstützten Beschäftigung in der vorliegenden Fassung terstützter Beschäftigung – erst platzieren, dann qualifi- dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Arbeitneh- zieren – ist grundsätzlich sinnvoll. Menschen mit Behin- mers in größtmöglichem Maße Rechnung trägt. derungen brauchen mehr Chancen, einen Arbeitsplatz Die FDP kritisiert ferner ausdrücklich die völlig un- auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu erlangen. zulängliche parlamentarische Behandlung dieses wichti- Die Tendenz, dass immer mehr Menschen mit Behinde- gen sozialpolitischen Themas: Die erste Lesung erfolgt rungen lebenslänglich in Aussonderungseinrichtungen zu so vorgerückter Stunde, dass keine mündliche Aus- geparkt werden – von der (Aus)Sonderschule zur sprache mehr erfolgen kann, für die Anhörung im Aus- (Aus)Sonderberufsschule und dann zur Beschäftigung in schuss für Arbeit und Soziales sollen nur 60 Minuten zur einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen – muss Verfügung stehen, und die zweite und dritte Lesung soll aufgebrochen werden. Spätestens mit der Ratifizierung nach Willen der Regierungsfraktionen erneut erst zu der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit nachtschlafender Zeit erfolgen. Dieses Vorgehen wird Behinderungen müsste das auch in diesem Hohen Haus der Bedeutung des Themas in keiner Weise gerecht. klar und einleuchtend sein. Die FDP erwartet bei uneingeschränkter Zustimmung Insofern begrüße ich auch ausdrücklich den Bezug zum Ziel der Teilhabe behinderter Menschen am ersten auf diese Konvention im Gesetzentwurf. Maßstab ist Arbeitsmarkt eine kritische Auseinandersetzung mit dem hier insbesondere der Artikel 27 „Arbeit und Beschäfti- vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss für Arbeit gung“, den ich (gekürzt) zitieren möchte: und Soziales, damit die Ziele des Gesetzentwurfes in der 1. Die Vertragsstaaten erkennen das gleichberech- Praxis auch erreicht werden können. Hier dürfte es noch tigte Recht behinderter Menschen auf Arbeit an; erheblichen Korrekturbedarf geben. dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Über 3 Millionen Ar- einem offenen, integrativen und für behinderte beitslose meldete die Bundesagentur für Arbeit für Sep- Menschen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeits- tember 2008, darunter mehr als 150 000 schwerbehin- umfeld frei gewählt oder angenommen wurde. Die derte Arbeitslose. Die Daten sind aber längst nicht Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirkli- 19642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) chung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Und weiter: Das Gesetzentwurf will die Informations- (C) Menschen, die während der Beschäftigung eine Be- pflicht der Bundesagentur für Arbeit über die Beschäfti- hinderung erwerben, durch geeignete Schritte, ein- gungsquote schwerbehinderter Menschen bei öffentli- schließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um chen Arbeitgebern abschaffen. Wem nützt das? Wenn unter anderem der Überblick fehlt, ist auch ein effizienter Einsatz von Mitteln für die Förderung von Arbeit für Menschen mit a) Diskriminierung auf Grund einer Behinderung in Behinderungen nicht möglich. Deswegen ist die Ab- allen Fragen der Beschäftigung jeder Art, ein- schaffung der Informationspflicht für die Linke nicht ak- schließlich der Bedingungen in Bezug auf Rekrutie- zeptabel. rung, Einstellung und Beschäftigung, Weiterbe- schäftigung, Aufstieg sowie sichere und gesunde Überhaupt nicht nachvollziehbar bleibt die bereits Arbeitsbedingungen, zu verbieten; vollzogene Umstrukturierung der ZAV (Zentralstelle für Arbeitsvermittlung) trotz nachgewiesener Vermittlungs- b) das gleichberechtigte Recht behinderter Men- erfolge von schwerbehinderten Akademikerinnen und schen auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedin- Akademikern. Die vielfachen Hinweise, Proteste und gungen, einschließlich Chancengleichheit, gleiches Demonstrationen der Betroffenen blieben ungehört. Entgelt für gleichwertige Arbeit, sichere und ge- sunde Arbeitsbedingungen, einschließlich Schutz Gegen Einsparungen an sich – wie sie laut Gesetzent- vor Belästigungen, und Abhilfe bei Beschwerden wurf erwartet werden – hat auch die Linke nichts einzu- zu schützen; wenden. Dagegen sind wir aber, wenn es auf Kosten der Betroffenen geht. Das ist Sparen an der falschen Stelle. d) behinderten Menschen wirksamen Zugang zu allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungs- Am 13. November ist die erste Lesung des Gesetzent- programmen, Stellenvermittlung sowie Berufsaus- wurfes zur Ratifizierung der UN-Konvention über die bildung und Weiterbildung zu ermöglichen; Rechte der Menschen mit Behinderungen auf der Tages- ordnung des Bundestages. Ein Umsetzungs- bzw. Voll- e) Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für zugsgesetz hält die Bundesregierung für nicht erforder- behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt sowie lich und auch das vorliegende Gesetz zur Unterstützten Unterstützung bei der Arbeitsuche, dem Erwerb Beschäftigung leistet dazu keinen wirklichen Beitrag. und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes und beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu för- Deshalb stimmt die Linke folgender Forderung des dern; Bundesrates (siehe Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf, Punkt 1 d) zu – ich zitiere: „Der Bundes- g) behinderte Menschen im öffentlichen Sektor zu (B) rat fordert die Bundesregierung auf, in einem umfassen- (D) beschäftigen; den Gesetzesvorhaben die gleichberechtigte und selbst- h) die Beschäftigung behinderter Menschen im pri- bestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von vaten Sektor durch geeignete Strategien und Maß- Anfang an bei Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeit nahmen, wie gegebenenfalls Förderprogramme, und Wohnen zu ermöglichen und die gesetzlichen Anreize und andere Maßnahmen, zu fördern; Grundlagen dafür zu schaffen bzw. zu verbessern.“ So ein Gesetz wäre ein wichtiger und richtiger Beitrag zur i) sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemes- Umsetzung der UN-Konvention. sene Vorkehrungen für behinderte Menschen ge- troffen werden; Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): k) Programme für die berufliche Rehabilitation, den Grundsätzlich ist für einige Menschen mit Behinderung Erhalt des Arbeitsplatzes und den beruflichen Wie- die Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ ein hilfrei- dereinstieg behinderter Menschen zu fördern. ches Angebot, weil sie die Teilhabe am Arbeitsleben be- darfsgerecht und personenzentriert verbessern kann. In- Inwieweit wird aber das Gesetz zur Unterstützten Be- sofern begrüßen wir die Initiative der Bundesregierung. schäftigung diesen Ansprüchen gerecht? Für die Linke enthält der Gesetzentwurf noch eine Menge fragwürdi- Gefährlich wird es aber dann, wenn die vielen Kritik- ger und ungeklärter Regelungen. punkte an dem Gesetzentwurf nicht beachtet werden. Dann nämlich kehrt sich die Absicht, mehr Möglichkei- So ist es zu begrüßen, wenn der Bund Menschen mit ten zur beruflichen Teilhabe herzustellen, ganz schnell in Behinderungen, die nicht im Sinne des Gesetzes als ihr Gegenteil um und schränkt die Wunsch- und Wahl- schwerbehindert gelten, bei der Beschaffung von Arbeit rechte der betroffenen Menschen de facto ein. Um es auf dem ersten Arbeitsmarkt helfen will. Gerade diese konkret zu machen: Wenn die noch offenen Fragen der Menschen fallen allzu oft durch jedes Raster. Als Ziel- Qualitätsstandards, der Rückkehrmöglichkeit in die gruppen nennen Sie Absolventen von Förderschulen, die Werkstatt oder der langfristigen Finanzierung nicht im nicht in der Lage sind, eine Berufsausbildung wahrzu- Sinne der Betroffenen geklärt werden, droht diesen Per- nehmen und Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine sonen eine äußerst prekäre Situation auf dem Arbeits- Behinderung erfahren. Beide Gruppen sollen arbeits- markt. platzbegleitend eine maximal zweijährige Ausbildung erhalten. Aber was dann? Wie wird danach die notwen- Ich verlange von der Bundesregierung, dieses Risiko dige dauerhafte Förderung bzw. Assistenz zum Erhalt ernst zu nehmen und nicht herunterzuspielen. Denn es ist des Arbeitsplatzes gesichert? doch so: Ohne einen ausreichenden und dauerhaften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19643

(A) Nachteilsausgleich hat insbesondere der Personenkreis, Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen als (C) der ohne ambulante Unterstützung auf die Leistungen ei- auch die Integrationsämter sein. Auch die Bundesagen- ner Werkstatt für behinderte Menschen angewiesen tur für Arbeit, die nach dem Übergang des behinderten wäre, mittel- bis langfristig kaum eine Perspektive auf Menschen vom Berufsbildungsbereich in den Arbeitsbe- dem allgemeinen Arbeitsmarkt. reich bislang ihre Trägerschaft verliert, sollte Finanzver- antwortung übernehmen. Nur so fällt für die Bundes- Wir werden die einzelnen Kritikpunkte im Ausschuss agentur für Arbeit der negative Anreiz beim Übergang und in der geplanten Anhörung diskutieren. Doch lassen von dem Berufsbildungs- in den Arbeitsbereich weg. Ein Sie mich an dieser Stelle noch eine weitere Sorge zum fest vereinbarter Finanzschlüssel sowie eine klare Struk- Ausdruck bringen, die für mich doch exemplarisch be- turverantwortung eines Trägers kann diese Zwischenlö- legt, mit wie vielen Unsicherheiten dieser Gesetzentwurf sung so gestalten, dass sie dem oder der Betroffenen noch behaftet ist: nicht zum Negativen gereicht. Optimal und als mittel- Die „Berufsbegleitung“ im Anschluss an die „Indivi- fristige Perspektive ist jedoch eine Zusammenführung duelle betriebliche Qualifizierung“ stellt eine zusätzliche leistungsrechtlicher Vorschriften der Teilhabe am Ar- Leistung für die Personen mit besonders hohem Unter- beitsleben in einem Gesetz vonnöten. stützungsbedarf dar. Sie kann und darf nicht als Substitut Alles in allem müssten bei einer Gesamtbetrachtung für nachfolgende Eingliederungszuschüsse der Bundes- noch viele Fragen im Detail geklärt werden. Sicher ist agentur für Arbeit angesehen werden. Genau diese Auf- nur eins: Die Bundesregierung verweigert sich eben die- fassung vertritt jedoch die BA, die sich damit einmal ser Gesamtbetrachtung und liefert stattdessen Stück- mehr der Finanzierungsverantwortung entziehen werk, das im schlimmsten Fall den Betroffenen zum Ne- möchte. Hier muss die Bundesregierung schon im Vor- gativen gereicht. feld klarstellen, dass zukünftig sowohl Eingliederungs- zuschüsse der BA als auch Begleitung im Arbeitsleben Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eins anmerken: durch die Integrationsämter weiterhin zur Verfügung ste- Die im Gesetzentwurf geplante Abschaffung der Be- hen. richtspflicht für öffentliche Arbeitgeber ist aus zweierlei Sicht blanker Hohn. In der Begründung für diesen Punkt Unabhängig von den genannten Kritikpunkten stehen heißt es, die Erfragung der Bundesagentur für Arbeit Bündnis 90/Die Grünen für einen umfassenderen Ansatz nach der Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten zur beruflichen Teilhabe behinderter Menschen. Denn würde keinen Anreiz für öffentliche Arbeitgeber darstel- auch bei einer guten Ausgestaltung des neuen Fördertat- len, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Diese Be- bestandes kann dieser nur ein Mosaiksteinchen in der gründung ist völlig inakzeptabel! Die Berichtspflicht ist ganzheitlichen Förderung für alle Menschen mit hohem (B) vor allem aus politischer Sicht sinnvoll, da sie ein wirk- (D) Unterstützungsbedarf darstellen. sames Kontrollinstrument zur Beschäftigungssituation Im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts schwerbehinderter Menschen darstellt. Ich kann mir die- müssen nach unserer Auffassung alle Menschen mit Be- sen Punkt im Gesetzentwurf, der im übrigen vollkom- hinderungen – unabhängig von der Art oder Schwere ih- men sachfremd ist und mit der Unterstützten Beschäfti- rer Behinderung – in die Lage versetzt werden, selbst gung überhaupt nichts zu tun hat, nur als Teil einer entscheiden zu können, in welcher Form sie am Arbeits- politischen Verhandlungsmasse vorstellen. Irgendwann leben teilhaben möchten. Entscheidend ist, dass sie indi- im Verlauf der parlamentarischen Auseinandersetzung viduell gefördert und bei Bedarf nach dem Prinzip des werden die Koalitionsfraktionen die Abschaffung der Nachteilsausgleichs dauerhaft unterstützt werden. Berichtspflicht streichen und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Der Rest des Gesetzentwurfes wird Zu einem dauerhaften Nachteilsausgleich gehört auch dann wahrscheinlich samt bestehenden Kritikpunkten die Möglichkeit, aus verschiedenen Unterstützungsfor- abgesegnet. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, men zu wählen. Unterstützte Beschäftigung im ur- dieses offensichtliche Störmanöver aus dem Entwurf zu sprünglichen Sinne ist dabei viel weiter angelegt, als nun streichen und die wirklich relevanten Unklarheiten anzu- von der Bundesregierung intendiert. Grundlegend für gehen! diese Idee ist, dass auch stark leistungsgeminderte Per- sonen Arbeitsplätze außerhalb einer Werkstatt finden können. Das eigentliche Konzept der Unterstützten Be- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- schäftigung geht vom Menschen aus, erfindet und ge- minister für Arbeit und Soziales: Der Teilhabe am Ar- staltet neue passgenaue (Nischen-)Arbeitsplätze und ori- beitsleben kommt eine Schlüsselstellung zu. Denn an der entiert sich dabei an den Fähigkeiten, Wünschen und Arbeit hängen Existenzgrundlage, Identität, Selbstach- Potenzialen des behinderten Menschen. Neben der frü- tung und Zugehörigkeitsgefühl. Arbeit und Kolleginnen hen Vorbereitung in der Schule, gegebenenfalls dauer- und Kollegen zu haben, das bedeutet dazuzugehören und haften Unterstützung und Qualifizierung werden die das Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Es be- Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit berück- deutet, aus eigener Kraft Unabhängigkeit und Selbst- sichtigt. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti- ständigkeit zu erreichen. Diese Erwartung haben auch gung wird nicht notwendigerweise angestrebt. Menschen mit Behinderungen. Allerdings stoßen sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt immer noch auf hohe Kostenträger sowohl des Minderleistungsausgleichs Hürden. Die Bundesregierung will ihnen dabei helfen, als auch der Formen der Unterstützten Beschäftigung diese Hindernisse zu überwinden. Aus diesem Grund müssen nach unserer Auffassung sowohl die Träger für führen wir mit der „Unterstützten Beschäftigung“ eine 19644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) neue Fördermöglichkeit im Sozialgesetzbuch III ein. Sie mung zu diesem Gesetz mit, dass diese Perspektive Rea- (C) soll behinderten Menschen mit einem besonderen Unter- lität werden kann. stützungsbedarf bei der Integration in eine sozialversi- cherungspflichtige Beschäftigung helfen. Anlage 18 Wen wollen wir mithilfe der Bundesagentur für Ar- beit fördern? Wir wollen Schulabgängerinnen und Zu Protokoll gegebene Reden Schulabgänger aus Förderschulen den Übergang von der Schule in den Beruf erleichtern, und wir wollen denen, zur Beratung die im Laufe ihres Erwerbslebens behindert werden, den – Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Wiedereinstieg erleichtern. Dabei konzentrieren wir die Vorschriften auf dem Gebiet des ökologi- Unterstützung auf diejenigen, die in einer Berufsausbil- schen Landbaus an die Verordnung (EG) dung oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen überfor- Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 dert, in einer Werkstatt für behinderte Menschen aber über die ökologische/biologische Produktion unterfordert wären. Denn „Unterstützte Beschäftigung“ und die Kennzeichnung von ökologischen/ ist – und das ist wichtig – nachrangig zu berufsvorberei- biologischen Erzeugnissen und zur Aufhe- tenden Maßnahmen und Berufsausbildungen. bung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 Wie sieht die Förderung aus? Dem genannten Perso- – Beschlussempfehlung und Bericht: For- nenkreis wird künftig eine individuelle betriebliche Qua- schung für den ökologischen Landbau aus- lifizierung angeboten. Dabei handelt es sich um eine Re- bauen habilitationsmaßnahme, die bis zu zwei Jahre, in Ausnahmefällen bis zu drei Jahre dauert. Während die- (Tagesordnungspunkt 23 a und 23 b) ser Zeit wird der Teilnehmer nach dem Prinzip „Erst platzieren, dann qualifizieren“ auf verschiedenen Quali- Marlene Mortler (CDU/CSU): Wir beschließen fizierungsplätzen direkt im Betrieb auf eine Beschäfti- heute die Umsetzung von Änderungen der gemeinschaft- gung vorbereitet. Dabei wird er von einem Jobcoach un- lichen Rahmenvorschriften für den ökologischen Land- terstützt. Es geht nicht um ein reines Anlernen, sondern bau. Sie gelten ab dem 1. Januar 2009. Zwei Vorgaben um eine umfassende Qualifizierung, orientiert an den machten dieses Gesetzesverfahren notwendig. individuellen Fähigkeiten, inklusive der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und berufsübergreifenden Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Kenntnissen. legte uns einen Punkt zur Abarbeitung vor. Aufgrund des Urteils musste das Niederlassungserfordernis für Kon- (B) (D) Wenn nach der Qualifizierung ein Arbeitsvertrag zu- trollstellen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäi- stande kommt, dann kann der behinderte Mitarbeiter die schen Union im Öko-Landbaugesetz gestrichen werden. Unterstützung des Jobcoaches bei Bedarf über die Be- Die Änderung der EG-Öko-Basisverordnung wiederum rufsbegleitung weiter in Anspruch nehmen. Dafür wer- machte eine weitere wichtige Änderung notwendig. So den in der Regel die Integrationsämter zuständig sein. müssen Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung, wie Damit die Qualifikationsangebote auch einen ange- Gaststätten, Kantinen und Großküchen explizit in den messenen Standard halten, formulieren wir im Gesetz Regelungsbereich der Kontroll- und Kennzeichnungs- klare Qualitätskriterien. Außerdem bekommen die zu- vorschriften der erwähnten EG-Öko-Basisverordnung ständigen Leistungsträger die Vorgabe, eine gemeinsame einbezogen werden. Vor dem Hintergrund des geänder- Empfehlung zur Qualität in der „Unterstützten Beschäf- ten Gemeinschaftsrechts erhalten wir ihnen damit den tigung“ zu erarbeiten. Die Einhaltung der Qualitätskrite- Status quo. Die bereits erwähnte Änderung der EG-Öko- rien wird Voraussetzung dafür sein, dass ein Dienstleis- Basisverordnung zog nach sich, dass die Straf- und Buß- ter mit der Durchführung „Unterstützter Beschäftigung“ geldvorschriften des Öko-Landbaugesetzes überarbeitet beauftragt werden kann. werden mussten. Mit diesen Regelungen schaffen wir die Grundlage Der Bundesrat hatte uns in einer Stellungnahme Ände- dafür, dass „Unterstützte Beschäftigung“ künftig bun- rungswünsche zum Gesetzentwurf für die im zuständigen desweit angeboten werden kann. Dadurch werden neue Landwirtschaftsausschuss erfolgte Beratung mitgegeben. Chancen auf Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeits- Die Wünsche hielten sich jedoch in weiten Teilen im markt wachsen. Rahmen des bestehenden Konzepts und waren teilweise auch nur technischer und redaktioneller Natur. Die Ich hoffe, dass der Ansatz der „Unterstützten Be- Koalition hat in ihrem Änderungsantrag zum Gesetzent- schäftigung“ auch auf andere Bereiche ausstrahlen wird. wurf einige Punkte davon aufgenommen. Das sind die Denn Menschen mit Behinderungen haben ein Recht Punkte: eingeschränkter Personenkreis bei der Auf- darauf, voll am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – gabenübertragung, ersatzweise Wahrnehmung der Kon- in der Schule, in der Ausbildung, in der Arbeitswelt. trollaufgaben nur durch andere Kontrollstellen, Ergänzung Dies ist möglich, wenn man die Unterstützung konse- der Informationspflichten der Kontrollstellen, Ergänzung quent individuell organisiert. Mit dem neuen Instrument der Bußgeldvorschriften sowie redaktionell-technische der „Unterstützten Beschäftigung“ zeigen wir, wie eine Klarstellungen. Zudem haben wir in leicht veränderter individuelle Förderung funktionieren kann. Die Perspek- Fassung aufgenommen, die aufschiebende Bedingung zu tive ist volle Teilhabe. Helfen Sie bitte mit Ihrer Zustim- streichen, die das Wirksamwerden der Zulassung einer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19645

(A) Kontrollstelle an die darauffolgende Aufgabenübertra- abschließen können. Die Zustimmung des Bundesrates (C) gung durch die Länder knüpft. Dem konnte mit der Er- vorausgesetzt wird unser Gesetz pünktlich zum 1. Januar gänzung zugestimmt werden, dass Nebenbestimmungen 2009 in Kraft sein. bei der Zulassung von Öko-Kontrollstellen zusätzlich auch zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Kontroll- Im Laufe der Beratungen kam immer deutlicher zu systems zulässig sind. Tage, dass die Länder die Interpretationsspielräume der Basisverordnung unterschiedlich nutzen. Die dadurch Weitere Änderungsvorschläge konnten aus unter- entstehenden Differenzen bei der Umsetzung der Kon- schiedlichsten Gründen leider nicht berücksichtigt wer- trolle stellen nicht nur die Kontrollstellen vor Probleme. den. So konnte wegen verfassungsrechtlicher Bedenken Sie bedeuten auch unterschiedliche Wettbewerbsbedin- der Vorschlag zur Aufgabenteilung zwischen Bund und gungen für Unternehmen. Insbesondere für Unterneh- Ländern – Stichwort Mischverwaltung – nicht aufge- men und Kontrollstellen, die in mehreren Bundesländern nommen werden. In meiner Rede zur Einbringung des tätig sind, wird es schwierig. Wettbewerbsverzerrungen Gesetzentwurfes erwähnte ich den positiven Wunsch des und bürokratische Reibungsverluste gilt es auch in ei- Bundesrates auf Erweiterung der Mitteilungspflichten nem föderalen System zu minimieren, und dazu möchte der Importeure bei der Einfuhr von Öko-Produkten aus ich die Länder aufrufen. Die zur Harmonisierung der Drittländern. Hier mussten wir leider zur Kenntnis neh- Länderbestimmungen ins Leben gerufene Länderarbeits- men, dass dieses Verfahren dem geltenden Gemein- gemeinschaft Ökologischer Landbau – kurz LÖK – muss schaftsrecht widersprechen würde und auch WTO-recht- sich verbindlicher an ihre Beschlüsse halten. Ich erwarte lich angreifbar wäre. auch, dass sie sich mit den Wirtschaftsbeteiligten kon- struktiv abstimmt, um die bestehenden Reibungspunkte Wir haben alles in allem den vom Bundesrat verfolg- abzubauen. ten Anliegen soweit wie möglich Rechnung getragen. Die Länder sind an einem rechtzeitigen Inkrafttreten des Meine Gespräche mit Vertretern des Bundes, der Län- geänderten Öko-Landbaugesetzes zum 1. Januar 2009 der, der Konferenz der Kontrollstellen und des Bundes- sehr interessiert. Andernfalls droht wegen der zum verbandes der Ökologischen Lebensmittelwirtschaft wa- 1. Januar 2009 geänderten Gemeinschaftsrechtslage er- ren davon geprägt, dass wir vorerst untergesetzlich hebliche Rechtsunsicherheit im Vollzug. Daher bin ich Lösungen suchen. Sollte sich allerdings herausstellen, mir sicher, dass – auch wenn nicht allen Vorschlägen ge- dass weiterhin Unterschiede zwischen Baden-Württem- folgt werden konnte – mit einer Zustimmung des Bun- berg und Bayern oder Mecklenburg-Vorpommern und desrates im zweiten Durchgang zu rechnen ist. Niedersachsen herrschen, müssen wir über die Einset- zung eines Sachverständigenbeirates nachdenken. Ich Abschließend noch ein Wort zum Entschließungsan- (B) bin nicht begeistert über weitere Beiräte und Gremien, (D) trag der Grünen. Für mich sieht parlamentarische Eti- doch sollte es notwendig werden, dann werden wir es kette anders aus. Mein Standpunkt ist und bleibt, dass auch tun. Wir werden die Entwicklung genau beobach- ich einem weiteren Bürokratieaufbau mittels eines neu ten, doch gehen wir vorerst davon aus, dass es den Ver- zu schaffenden Beirates nicht zustimmen werde. Dass antwortlichen gelingt, gleiche Bedingungen zu schaffen. ich keine Vorurteile hege, kann ich auch als CSU-Vertre- Schließlich handelt es sich auch hierbei um Effizienz- terin mit einem Zitat von Friedrich Engels unterlegen, steigerungen, die es auszuschöpfen gilt, um den wach- mit dem ich meine Rede beenden möchte: senden Biomarkt von Hemmnissen zu befreien. Niemand kann für eine Sache kämpfen, ohne sich Feinde zu schaffen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Wegen der geän- derten Rechtslage in der EU müssen wir das Ökoland- baugesetz ändern. Ich hätte mir gewünscht, dass die Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute in zweiter Regierung die Gelegenheit beim Schopfe packt, die und dritter Lesung über ein neues Gesetz zur Anpassung Mängel, über die seit über einem Jahr diskutiert wird, der Vorschriften für den ökologischen Landbau. Damit mit dieser Novelle abzuräumen. passen wir das Gesetz an die umfangreich geänderte und zum 1. Januar 2009 in Kraft tretende EG-Öko-Basisver- Wir sind uns doch in diesem Hause alle einig, dass es ordnung an. Wie wir aus erster Lesung bereits wissen, für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen Land- betreffen die Änderungen insbesondere das europäische wirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher Ver- Kontrollsystem und die Kennzeichnung ökologisch er- trauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade ange- zeugter Produkte. Kontrolle und Kennzeichnung der Au- sichts steigender Importe ist es wichtig, dass die ßer-Haus-Verpflegung müssen explizit einbezogen und Kontrollen transparent und effektiv sind. Und doch fehlt daher angepasst werden. Auch dient die Vorlage der dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt die notwen- Umsetzung des anhängigen EuGH-Urteils zur Niederlas- dige Klarheit. Zwar sind einige Kritikpunkte des Bau- sungspflicht von Kontrollstellen. ernverbandes, des Bundesverbandes Ökologischer Land- bau und der Vereinigung der Kontrollstellen aufgegriffen Wie die gestrigen Ausschussberatungen gezeigt ha- worden, doch insbesondere einige Vorschläge zur größe- ben, waren diese Punkte durchweg unstrittig, sodass wir ren Effizienz der Kontrollen blieben unberücksichtigt. den straffen Zeitplan des Verfahrens gut gehalten haben. Ich freue mich, dass uns die überfraktionelle Zusammen- Die bisherige Rechtspraxis ist geprägt von Zersplitte- arbeit unter den Berichterstattern so gut gelungen ist, rung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese Zer- dass wir das parlamentarische Verfahren jetzt planmäßig splitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen und 19646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) auf die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Des- Der Ökolandbau spielt gerade in den neuen Bundes- (C) wegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheitli- ländern eine besonders starke Rolle. Mecklenburg-Vor- chen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile der pommern und Brandenburg sind Spitzenreiter. Ökologi- deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen Kon- sche Landwirtschaft bietet aus Sicht der Linken große kurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprüfungen Vorteile. Die regionale Wertschöpfung und die Arbeits- durch unterschiedliche staatliche Stellen oder Institutio- platzbindung sind vergleichsweise hoch. Die Produktion nen, die staatlich überwacht werden. Selbstverständlich erfolgt unter Schonung der natürlichen Ressourcen. sind die Lebensmittel- und damit auch die Ökokontrollen Dafür brauchen wir verlässliche Rahmenbedingun- Ländersache. Doch bei allem Bekenntnis zum deutschen gen, und deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf zu. Föderalismus dürfen die Ökokontrollen nicht in Klein- staaterei verharren. Die kostenträchtigen und zeitintensi- Nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen: Nach ven Doppel- und Dreifachprüfungen müssen endlich ein ihm soll die Forschung für den ökologischen Landbau in Ende haben. In diesem Punkt hätte der Gesetzentwurf Deutschland und Europa ausgebaut werden. Die Linke dringend korrigiert werden müssen. stimmt auch diesem Antrag zu – allerdings bedauern wir, dass die Grünen mit dieser Forderung immer wieder nur Auch die Forderung nach einem nationalen Beirat für ihre eigene Klientel bedienen. Das macht sie nicht be- die Interpretation und Umsetzung der EU-Ökoverord- sonders glaubwürdig, denn eigentlich muss die Forde- nung wurde von der Koalition leider nicht ernsthaft in rung ganz klar lauten: Schluss mit dem Abbau der Erwägung gezogen. Agrarforschung, denn wir brauchen nicht weniger, son- dern deutlich mehr universitäre und außeruniversitäre Die Novelle sollte eigentlich das Ziel haben, die Agrarforschung! Das gilt für den Ökolandbau genauso Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter wie für die konventionelle Landwirtschaft. und damit die Kontrollen kostengünstiger und transpa- renter zu gestalten. Leider wird die Regierung trotz ein- Deutschland hat als Agrarforschungsstandort eine zelner Verbesserung diesem Ziel nicht gerecht. große Tradition und hat weltweit Maßstäbe gesetzt. Das ist vorbei. Der Wissenschaftsrat hat die Krise der Agrar- forschung zutreffend beschrieben. Besonders in Ost- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der deutsche deutschland sind Forschungsstandorte geschlossen oder Ökolandbau hat in der Vergangenheit oft Maßstäbe ge- verkleinert worden. Auch der Agrarressortforschungsbe- setzt. Und das für ganz Europa. Dabei ist ein ansehnli- reich hat seit 1996 einen massiven Stellenabbau und ches Regelwerk entstanden. An diesem haben sowohl Standortschließungen zu verkraften, die unter Schwarz- die Pioniere des Ökolandbaus als auch kritische Verbrau- Gelb beschlossen und von Rot-Grün nicht korrigiert, (B) cherinnen und Verbraucher aktiv mitgewirkt. Im Jahr sondern umgesetzt wurden. Minister Seehofer hat den (D) 2007 wurde dieses Regelwerk auf EU-Ebene als Verord- Stellenabbau fortgeschrieben und die Liste der zu schlie- nung zum ökologischen Landbau novelliert. Jetzt müs- ßenden Standorte verlängert. sen wir es in Deutschland umsetzen. Die Besonderheit Die Entwicklungen in der ökologischen Landwirt- hierzulande ist das aktive Engagement der Expertinnen schaft sind völlig konträr zu den gesellschaftlichen und Experten aus dem ökologischen Landbau, das heute Trends. Die Bedeutung von Bio-Supermärkten und ökolo- noch Ausdruck findet in der Organisation der vorwie- gischen Produkten in Discountern wächst kontinuierlich. gend privatrechtlich bestimmten Ökokontrolle. Das Zweistellige prozentuale Steigerungsraten im Verbrauch, Kontrollsystem für die Ökoprodukte hat sich über die so viel wie in keinem anderen Produktionsbereich der Jahre bewährt. Die Verbraucherinnen und Verbraucher Landwirtschaft, skizzieren viel Potenzial. Leider kommt vertrauen dieser Kontrolle. Leider ist es nicht ganz ge- die einheimische Erzeugerseite nicht nach. Hier müssen lungen, diese Expertise bei der Entwicklung des Ge- dringend Impulse gesetzt werden. Dazu gehört der Aus- setzesentwurfs umfassend zu nutzen. Damit bleiben ei- bau der Forschung. Institute und Projekte, die sich expli- nige Unzulänglichkeiten im Gesetzentwurf bestehen. Es zit mit Fragestellungen der ökologischen Landwirtschaft sind vielleicht nur Details, aber sie würden im Ergebnis beschäftigen, sind noch rar gesät. Im Vergleich zu For- einiges erleichtern. schungsmitteln, die für die Agro-Gentechnik ausgege- ben werden, ist die Ökolandbauforschung ungenügend. Mit der Novelle der EU-Ökoverordnung ist eine staatli- Eine Umschichtung ist dringend nötig. che verantwortete Kontrolle zwingend. Da die Kontrolle aber im föderalen deutschen System zu den Länderaufga- Dabei gibt es viele Fragestellungen, die Betriebsleiter ben gehört, kann das zu Abgrenzungsproblemen führen. und Berater auf den Biobetrieben bewegen. In der Tier- Jedes Bundesland hat dann vielleicht seine eigene Rege- und besonders in der Pflanzenzucht, in der Landtechnik lung, was problematisch wäre. Auch die Errichtung ei- oder im betrieblichen Management gibt es eine Vielzahl nes Sachverständigenrates beim Bundesamt für Land- von speziellen Fragen aus Sicht des Ökolandbaus an die wirtschaft und Ernährung, der die Kontrollverfahren Forschung. Doch diese werden zumeist gar nicht oder bundesweit koordinieren könnte, wurde ausgeklammert. wenn, dann nur mit den begrenzten Mitteln des Thünen- Instituts oder der wenigen anderen Einrichtungen bear- Trotzdem ist die Verabschiedung des Gesetzes wich- beitet. Hinzu kommt, dass Drittmittelforschung auch nur tig. Sonst würde die Bundesrepublik eine Fristverletzung in geringem Umfang geleistet werden kann. Das ge- bei der Umsetzung der EU-Ökoverordnung riskieren. samte wirtschaftliche Umfeld ist einfach noch zu klein. Das könnte teuer werden. Der Staat ist hier in der Pflicht. Neben einer kontinuierli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19647

(A) chen und nachhaltigen Erhöhung der Mittelausstattung men der Kontrolle zu schaffen. Hier muss noch einmal (C) auf Bundesebene gehört auch das Engagement auf euro- nachgearbeitet werden. Dabei muss erläutert werden, päischer Ebene dazu. In anderen Bereichen der For- dass die Kontrollpflicht auch für alle Unternehmen gilt, schung ist europäischen Forschungsplattformen dieses die lose Ware oder selbst abgepackte und etikettierte bereits gelungen. Warum sollte das nicht auch für den Ware anbieten. Möglichkeiten zur Flexibilisierung von Ökolandbau klappen? Zumal die Entwicklung der ver- Art und Umfang der Kontrolle sollten bundeseinheitlich gangenen Jahre zeigt, dass in ganz Europa das Interesse geregelt werden. an Produkten der Ökolandwirtschaft wächst und eine zu- nehmende Anzahl von Menschen die Vorteile des Bio- Eine Stärkung des Ökolandbaus erfordert drittens den landbaus für Umwelt, Gesundheit und Natur erkennt. Ausbau der Forschung in diesem Bereich. Dazu fordern wir die Umwandlung des Bundesprogramms Ökoland- bau in ein permanentes Forschungsprogramm und den Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ausbau des Instituts für Ökolandbau des Johann- Zahlen sind bekannt. Seit Jahren hat die Biobranche Heinrich-von-Thünen-Instituts sowie vermehrte interdis- zweistellige Zuwachsraten im Handel. Leider hat sich je- ziplinäre, querschnittsorientierte Forschung zum Öko- doch seit der schwarz-roten Regierungsübernahme der landbau auch an anderen Instituten. Gleichzeitig muss Wertschöpfungszuwachs im Bereich der ökologischen das Forschungsbudget für den ökologischen Landbau Lebensmittelproduktion aus Deutschland nahezu verab- deutlich erhöht und auf bisher nahezu unbearbeitete For- schiedet. Die Abwehr des Ökolandbaus scheint immer schungsfelder wie die ökologische Pflanzen- und Tier- noch eine der großen ideologischen Bastionen der Union zucht, die ökologische Tier- und Pflanzenernährung, den zu sein. ökologischen Weinbau und den biologischen Pflanzen- schutz ausgeweitet werden. In diesen Zusammenhang passt auch die Auslassung des Kollegen Bleser, dass Hunderte Millionen Menschen verhungern müssten, wenn wir die weltweite Ackerflä- Anlage 19 che nur ökologisch bebauen würden. Aber ich gehe da- von aus, dass auch Sie, lieber Herr Kollege, mittlerweile Zu Protokoll gegebene Reden einen Blick in den Weltagrarbericht geworfen haben bzw. über die Ergebnisse der FAO-Tagung zum Öko- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des landbau informiert wurden. Beide bescheinigen nämlich Berichts: einer ökologischen, nachhaltigen Landwirtschaft in bäu- – zu der Verordnung der Bundesregierung: erlichen Strukturen höchste Lösungskompetenz in Be- Verordnung zur Vereinfachung des Deponie- (B) zug auf die Welternährungskrise und auch den Klima- rechts (D) schutz. – zu dem Antrag: Grenzwerte bei Müllver- Die Stärkung des Ökolandbaus erfordert erstens eine brennungsanlagen dem technischen Fort- deutliche Anhebung der Umstellungs- und Beibehal- schritt anpassen und deutlich absenken tungsprämien sowie die Wiedereinführung des Förder- tatbestandes „Ökologischer Landbau“ bei den Agrarin- (Tagesordnungspunkt 29) vestitionen, der einen um 10 Prozentpunkte erhöhten Fördersatz von 35 Prozent ermöglicht. Sie erfordert Michael Brand (CDU/CSU): Der vorliegende Ent- zweitens eine Überarbeitung des von der Regierung hier wurf einer Verordnung zur Vereinfachung des Deponie- vorgelegten Ökolandbaugesetzes. Vor allem die unein- rechts ist vom Ansatz her richtig und insgesamt auch heitliche Interpretation und Umsetzung der EU-Ökover- handwerklich solide umgesetzt. Den Fachleuten aus der ordnung durch die einzelnen Bundesländer führen bei Administration in Bund und Ländern sowie aus den Unternehmen und Kontrollstellen zu enormen Wettbe- Kommunen und der Wirtschaft ist zu danken für den rei- werbsverzerrungen und zusätzlichen Kosten. chen inhaltlichen Input in dieser für Nichtfachleute nur schwer zu durchdringenden, sehr technischen Materie. Exemplarisch zu nennen sind hier unterschiedliche Auslegungen bei der Etikettierung von Ökolebensmit- Dass die Konsolidierung der auf viele unterschiedli- teln, der Vergabe von Ausnahmegenehmigungen oder che Stellen verstreuten Vorschriften auch eine Überprü- der Verwendung von Aromen. Dieses Problem könnte fung auf Notwendigkeiten sowie Möglichkeiten zur durch die Schaffung eines nationalen Beirats für die In- Straffung umfasst hat, ist zu begrüßen. terpretation und Umsetzung der EU-Ökoverordnung ge- löst werden. Dieses beratende Gremium sollte paritä- Nach dem Lob muss jedoch ein Aber und eine gut ge- tisch mit Vertretern der Biobranche, der Kontrollstellen, meinte Warnung folgen. Es darf durch die Neuregelung der Wissenschaft, des Bundesministeriums für Ernäh- nicht zu einer Aufweichung des durch TA Siedlungsab- rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, der Bun- fall und Abfallablagerungsverordnung niedergelegten desanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sowie der Deponierungsverbotes für nicht vorbehandelte und somit Länder besetzt werden. inerte Abfälle kommen. Aus eigener Anschauung weiß ich sehr wohl, dass es sehr gute Gründe geben kann, im Versäumt wurde es im Gesetzesentwurf auch, Klar- Einzelfall mit Zwischenlagerungsmöglichkeiten Engpäs- heit über die Rolle und Aufgaben der Kontrollstellen so- sen in der Entsorgung zu begegnen und Übergangsfris- wie die Rechte und Pflichten der Unternehmen im Rah- ten einzuräumen. 19648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) Insgesamt jedoch muss es dabei bleiben: Die Prinzi- daran nichts geändert. Ab 2020 soll möglichst wenig (C) pien und die Hierarchie der Kreislaufwirtschaft müssen Abfall – sprich: nur noch vorbehandelter Restmüll – de- bestehen bleiben, und da rangiert vor der Deponierung poniert werden. Es bleibt beim Deponierungsverbot für ganz klar die Verwertung. Bundesregierung und Bundes- unbehandelten Abfall, es bleibt bei genauen Kontrollen. rat sind dazu aufgerufen, diese Hierarchie als einen zen- Es gibt aber bestehende Deponien. Es gibt die Reste tralen Pfeiler unserer Kreislauf- und Stoffstromwirt- von behandelten Abfällen, die abgelagert werden müs- schaft nicht aus dem Gleichgewicht zu heben und sen. Für bestehende Deponien bedarf es Regelungen. Übergangsfristen zu definieren, die nicht zu einer Wie- Das gleiche gilt für die Annahme von Abfällen. Diese dereröffnung von Deponien alter Prägung führen dürfen. Bestimmungen sind bisher in der Deponieverordnung, Dass die vorliegende Verordnung die entsprechend zu der Deponieverwertungsverordnung und der Ablage- integrierenden EU-Regelungen, hier die EG-Deponie- rungsverordnung geregelt. Darüber hinaus wurden Ein- richtlinie, in einem 1:1-Verhältnis angeglichen und dabei zelheiten bei der Beschreibung der Beseitigungstechnik auch vereinfacht hat, ist zu begrüßen und entspricht der in drei Verwaltungsvorschriften aus den 90er-Jahren ge- deutschen Position gegenüber europäischer Regulierung. regelt. Dass wir dabei manche bereits implementierte deutsche Diese äußerst knappe Darstellung des Deponierechts Qualitätslösung beibehalten, ist dann umso mehr zu be- zeigt, wie zersplittert das Recht in diesem Bereich ist. grüßen, wenn der drohende Flickenteppich von lokalen Diese Zersplitterung führt zu zusätzlicher Bürokratie. und regionalen Ausnahmen nach dem Prinzip „Lässt du Gleichzeitig ist das Regelwerk in Teilen veraltet. Der mir meine Deponie, lass’ ich dir deine Deponie“ nicht Bundesrat hat bereits 2002, anlässlich der Zustimmung Platz greift, sondern ein insgesamt verantwortbares Re- zur Deponieverordnung, die Bundesregierung in einer gime mit bundesweiter Gültigkeit im Bereich der Depo- Entschließung gebeten, das Deponierecht in einer inte- nierung durchgesetzt wird. Es muss Gültigkeit behalten, grierten Verordnung zusammenzufassen. Die Bundesre- was hier im Deutschen Bundestag übergreifend Konsens gierung ist dieser Bitte mit dem vorliegenden Entwurf ist: Moderne Deponien müssen nach dem geltenden nachgekommen. Stand der Technik ausgelegt sein, um Risiken für Um- welt und Mensch zu minimieren. Der Verordnungsentwurf wurde in den vergangenen Monaten mit den Beteiligten der Länder, der Kommunen Dass die Länder hier unterschiedliche Interessenlagen und der Wirtschaft intensiv beraten. Nach meinem haben, ist klar und nachvollziehbar. Dennoch befürwor- Kenntnisstand wird der Entwurf von allen Seiten be- ten wir als CDU/CSU klare Regelungen, die Grundwas- grüßt. Grundsätzlich gibt es meines Wissens Zustim- ser und Klima schützen, die Verbraucher und Wirtschaft mung von allen Seiten. (B) bei Abgaben nicht über Gebühr belasten und die den (D) Ländern und Kommunen deren Aufgaben nicht unnötig Damit kommen wir zu dem Ziel der heute vorliegen- erschwerten. den Verordnung. Die bisher gültigen drei Verordnungen und drei technischen Anleitungen werden in einer Rege- Da wir nach dieser ersten Lesung durchaus mit einer lung, der sogenannten integrierten Deponieverordnung, veränderten Verordnung rechnen, in der sich trotz Vorab- zusammengefasst. Ziel ist es, das Deponierecht zu ver- stimmung die Interessen der Bundesländer niederschla- einheitlichen, Doppelbestimmungen aufzuheben und gen werden, will ich abschließend für die CDU/CSU Regelungen zusammenzufassen. Gleichzeitig werden nochmals feststellen: Die vorliegende Verordnung ist Er- noch notwendige Anpassungen an das europäische gebnis insgesamt guter Umsetzung eines lange und in- Recht vorgenommen. Keineswegs sinken aber die Um- tensiv von der Fachebene vorbereiteten Ansatzes zur weltstandards. Entbürokratisierung einer wichtigen Umweltvorschrift. Dass wir dabei für die Einhaltung hoher und explizit ge- Die neue Deponieverordnung setzt die auch im Ab- gen ein Dumping in Bezug auf Grundregeln unserer Um- fallrecht begonnene Entbürokratisierung fort. Die An- weltpolitik – Stichwort: Übergangsfrist statt Langzeitla- wendung soll gleichzeitig einfacher und flexibler wer- ger – eintreten, trifft auf die Unterstützung der Mehrheit den. Dabei soll die Flexibilisierung nicht zulasten der der Beobachter. Umwelt gehen. Vielmehr werden starre Regelungen durch Eckwerte da ersetzt, wo es möglich ist. So werden Die CDU/CSU erteilt insgesamt diesem guten Ansatz zum Beispiel Eckwerte für Abdichtungskomponenten mit ihrer Zustimmung in der ersten Lesung eine gute vorgegeben. Diese Eckwerte stellen sicher, dass keine Note und blickt mit guter Erwartung auf die Ergebnisse schädlichen Stoffe in die Umwelt und insbesondere in der zwischenzeitlichen Beratungen vor der zweiten Le- das Grundwasser gelangen. Gleichzeitig werden aber sung hier im Deutschen Bundestag. Planern und Bauherren Freiräume eingeräumt, die es er- lauben, die für den jeweiligen Standort beste technische Gerd Bollmann (SPD): Seit dem 1. Juni 2005 gilt in Variante einzusetzen. Flexible Regelungen an Stelle star- Deutschland das Deponierungsverbot für unbehandelten rer Vorgaben, das ist Bestandteil eines modernen, unbü- Abfall. Seitdem dürfen nur noch vorbehandelte, biolo- rokratischen Rechts. Das Vorschreiben bestimmter Tech- gisch inaktive Abfälle abgelagert werden. Das Ziel der niken ist nicht nur starr, sondern in manchen Fällen auch SPD und der Bundesregierung ist die möglichst vollstän- kontraproduktiv. Am Standort A wird zum Beispiel das dige Verwertung von Siedlungsabfällen bis zum Jahre Einsickern von Schadstoffen in das Grundwasser am 2020. Um es klarzustellen: Mit der jetzt besprochenen besten durch Technik B erreicht, während am Standort B Verordnung zur Vereinfachung des Deponierechts wird ein Einsatz einer anderen Technik sinnvoller ist. Durch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19649

(A) die vorgesehene Flexibilisierung wird auch die Erfüllung Grenzwerte und eine optimale Anpassung an den Stand (C) geltender Umweltstandards erleichtert. der Technik einsetzen. Natürlich dient die Vereinfachung des Deponierechts auch der Kostensenkung. Durch Flexibilisierung beim Horst Meierhofer (FDP): Stinkende Müllberge so- Einsatz technischer Lösungen, Anpassung an örtliche weit das Auge reicht – dieses Bild gehört zumindest theo- Gegebenheiten und Abbau von bürokratischen Doppel- retisch der Vergangenheit an. bestimmungen, wird die Chance eröffnet, Kosten zu sen- Dass es in der Entsorgungsbranche trotzdem immer ken. Circa 570 000 Euro Bürokratiekosten könnten ge- wieder schwarze Schafe gibt, will ich an dieser Stelle genüber heute eingespart werden. Dies darf jedoch nicht nicht verschweigen. Erst kürzlich konnte man in der zulasten von Mensch und Umwelt gehen. Ich bin über- Presse lesen, dass nach wie vor hunderttausende Tonnen zeugt, dass die Verordnung zur Vereinfachung des Depo- Müll jedes Jahr auf illegalen Müllkippen und nicht in der nierechts diesen Spagat schafft. Verwertung landen. Bei aller Vereinfachung wird der einmal ereichte na- tionale Deponiestandard nicht verschlechtert. Im Gegen- Doch die Betonung liegt auf „illegal“. Unser Abfall- teil: Eine moderne Entsorgungswirtschaft benötigt auch recht hat sich in den letzten Jahren von einem Recht der heute noch Deponien. Es bleibt unser Ziel, Abfall wei- Abfallbeseitigung zu einem Recht der Abfall- und Kreis- testgehend zu vermeiden und zu verwerten. Der letzte laufwirtschaft fortentwickelt. Zwar kommt eine nachhal- Rest muss jedoch sicher deponiert werden. Dafür benöti- tige Entsorgungswirtschaft auch heute nicht ohne Depo- gen wir modernste Deponien, die dem Stand der Technik nien aus. Doch seit 2005 ist Schluss mit der Ablagerung entsprechen. Meiner Meinung nach wird die hier vorge- nicht vorbehandelter Abfälle – und das ist gut so. Das schlagene Verordnung dem gerecht. Deponieverbot ist ein wichtiger Schritt weg von einem Anhäufen von Altlasten zulasten der Umwelt und der zu- Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten der Deponie- künftigen Generationen. verordnung quälen. Ich bin auch nicht Fachmann genug, um spezielle technische Regelungen zu bewerten. Ich Deshalb möchte ich auch hier noch einmal betonen: gehe aber davon aus, dass die Fachleute im Ministerium Die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Errichten, und den Bundesländern gerade in diesen Fällen eng zu- Betreiben und Stilllegen von Deponien müssen immer sammen gearbeitet haben. und ausnahmslos modernsten Standards genügen. Daran muss sich Gesetzgebung in diesem Bereich nach Auffas- Sollten aus dem Bundesrat gemeinsame Änderungen sung der FDP-Bundestagsfraktion messen lassen und vorgebracht werden, welche nichts Grundsätzliches be- dies muss auch für die Deponievereinfachungsverord- treffen, sondern Einzelregelungen verbessern, sehe ich (B) nung gelten. Wir glauben, dass dies hier gelungen ist, (D) darin keine Probleme. und werden der Verordnung deshalb zustimmen. Aus all den genannten Gründen bitte ich Sie, der Ver- Wozu die Deponievereinfachungsverordnung? Die ordnung zur Vereinfachung der Deponieverordnung zu- Verordnung will das Deponierecht vor allem kürzen, zustimmen. vereinfachen und zusammenfassen. Anforderungen sol- Lassen Sie mich aber noch ein Wort zum Vollzug und len entflochten, und Freiräume dort, wo es möglich ist, zur Überprüfung sagen. Wenn wir heute die Deponiever- geschaffen werden. ordnung verabschieden, werden viele Bürger in erster Diesen Ansatz des Bürokratieabbaus und der Deregu- Linie an die Skandale in ostdeutschen Ton- und Kiesgru- lierung begrüßen wir. Für uns bietet die Beschränkung ben denken. Die Müllentsorgung in Ton- und Kiesgru- auf die Vorgabe von Zielen eine Chance, über den Ein- ben war, ist und bleibt illegal. Ich kann hier, wie schon satz der jeweils besten Technik individuell entscheiden mehrmals, die Bundesländer nur auffordern, bestehende zu können. Wir wissen aber auch: Je weniger der Bund gesetzliche Regelungen zu kontrollieren. Ohne Kon- regelt, desto mehr muss von den Behörden vor Ort ent- trolle hilft das schärfste Gesetz nicht. Gerade im Um- schieden werden und das geht oft nicht ohne Gutachten weltbereich darf Personalabbau in Behörden nicht zu ei- und Fachdiskussionen, sprich: Es bedarf Personal, das ner löchrigen Überwachung führen. Deshalb fordere ich auch die notwendige Fachkenntnis hat. Ich möchte an die Bundesländer auf, ihre Vollzugsaufgaben gewissen- dieser Stelle aber auch betonen: Den Ländern ist es un- haft durchzuführen. Ich bin aber auch für jeden Ände- benommen, dort, wo es sinnvoll ist, sich auf einheitliche rungsvorschlag, der zur Verbesserung führt, offen. Vorgaben im Vollzug zu verständigen. Grundsätzlich offen und positiv stehen wir Sozialde- Letztendlich einverstanden sind wir auch mit der mokraten auch dem Ziel gegenüber, die Grenzwerte von Klarstellung, wann eine Deponie aus der Nachsorge ent- Müllverbrennungsanlagen zu senken. Die Grenzwerte lassen werden darf. Sich hier nicht nur an den Konzen- müssen dem Stand der Technik entsprechen. Einen trationswerten, sondern auch an der Schadstofffracht zu Schnellschuss auf nationaler Ebene halte ich jedoch im orientieren, ist durchaus sinnvoll. Moment für wenig sinnvoll. Auf EU-Ebene wird zurzeit über die „Richtlinie über Industrieemissionen“ verhan- Zum Antrag der Grünen: Natürlich ist auch die FDP- delt. Die Abfallrahmenrichtlinie muss demnächst in Bundestagsfraktion für eine möglichst niedrige Schad- deutsches Recht umgesetzt werden. Beide Regelwerke stoffbelastung durch Müllverbrennungsanlagen. Aber: betreffen auch MVAs und deren Emissionen. Wir Sozial- Entweder Sie betreiben jetzt inhaltsleere Ökosymbolik demokraten werden uns bei der Umsetzung für schärfere oder Sie haben in der Zeit Ihrer Regierungsverantwor- 19650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) tung Ihre Hausaufgaben nicht gemacht! Erst „hü“ und in ber könnten nicht mehr bis „Oberkante Unterlippe“ an (C) der Opposition dann „hott“ schreien, ganz so wie man es die heutigen Grenzwerte fahren, um Filter einzusparen gerade brauchen kann, ist unglaubwürdig! und somit den Wirkungsgrad des Kraftwerksteils zu er- höhen. Das unterstützen wir. Und nicht anderes machen Sie, wenn Sie jetzt eine Änderung der Schadstoffstandards fordern. Während der Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die damalige Umweltminister Trittin noch 2005 sagte, die Kritik an EBS-Kraftwerken nicht nur von der Linken Abfallwirtschaft habe in den vergangenen 15 Jahren ei- kommt. Auch das Umweltbundesamt sieht dies ähnlich. nen großen Beitrag dazu geleistet, die Belastungen der So hat der UBA-Abfallexperte Markus Gleis in der Süd- Umwelt und der Gesundheit der Bürger zu verringern deutschen Zeitung erklärt, in klassischen Müllverbren- und dies liege auch an den scharfen Standards der nungsanlagen lägen die Dioxinemissionen am Rande der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung, sollen die gül- Nachweisgrenze. Sehr niedrige Werte würden auch für tigen Grenzwerte eben dieser Verordnung nach dem jet- Quecksilber, Arsen und Kadmium gelten. Ferner seien zigen Antrag als seit Jahren unverändert und veraltet an- die deutschen Grenzwerte für Schadstoffe in der Abluft zusehen sein. die strengsten weltweit und würden dennoch meist um 80 Prozent unterschritten. Aufwendige Filtermethoden Ja was denn nun? Und wenn das so ist, warum haben entfernten alles aus dem Rauchgas, was technisch mög- Sie unter Rot-Grün nichts daran geändert? lich sei. Die neuen Ersatzbrennstoffkraftwerke hingegen Hinzu kommt: Die Einführung dynamischer Grenz- nutzten die gesetzlichen Grenzwerte viel stärker aus als werte. Das ist aus unserer Sicht mit dem Bestandsschutz die klassischen Müllverbrennungsanlagen. Der Grund: nicht vereinbar. Was geschieht mit dringend nötigen In- minderwertige Filter für diese Anlagen. So würden die vestitionen, wenn der Bestandsschutz fehlt? Wie lange Grenzwerte für Schadstoffe deutlich geringer als bisher kann sich dann ein Anlagenbetreiber auf die erteilte Ge- unterschritten. Aber genau dies rechnet sich. Michael nehmigung einer modernen Anlage verlassen? Braungart von der Uni Lüneburg hat ermittelt, dass die Verbrennung einer Tonne Müll in den besten Anlagen Wir lehnen diesen Antrag daher ab! Kosten von bis zu 400 Euro verursacht, bei vielen Er- satzbrennstoffkraftwerken hingegen nur 50 Euro. Braun- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das zentrale gart wortwörtlich: „Viele Emissionswerte sind um ein Element des Verordnungsentwurfs ist die Integration der Mehrfaches höher als bei den bestehenden Anlagen, die Deponieverwertungsverordnung und der Abfallablage- Profite dafür umso größer“. rungsverordnung in die Deponieverordnung. Wir begrü- ßen diese Zusammenführung. Das vereinfacht sicher das Ich frage mich nun, was macht eigentlich die Bundes- (B) Verständnis der Materie und den praktischen Umgang in regierung? Sie sollte die Augen aufmachen und auch be- (D) der Sache, gerade das Abfallrecht ist ja äußerst kompli- rücksichtigen, dass der Boom bei der Planung und beim ziert. Zu prüfen wäre nun, ob bei der Vereinfachung des Bau sogenannter Ersatzbrennstoffkraftwerke unzählige Deponie-Regelwerkes Umweltstandards gesenkt bzw. Bürgerinitiativen auf den Plan gerufen hat. Industrieun- Beteiligungs- und Informationsrechte unzulässig einge- ternehmen wie Holzverarbeitungs- und Papierverarbei- schränkt werden. Dies können wir noch nicht abschlie- tungsbetriebe bauen Heizkraftwerke, die angeblich mit ßend beurteilen. Darum enthalten wir uns bei der Ab- eigenen Produktionsabfällen beschickt werden sollen. stimmung. Doch die meisten dieser Anlagen sind vollkommen über- dimensioniert. Sie werden nicht im Entferntesten mit ei- Der Antrag der Grünen fordert niedrigere Grenzwerte genen Abfällen gefüttert werden können. In Branden- für Müllverbrennungsanlagen. Diese Grenzwerte sind burg etwa sind Anlagen in Betrieb, im Bau oder in – obwohl sich die Technik rasant weiterentwickelt hat Planung mit einer Gesamtkapazität von drei Millionen und moderne Anlagen nur ein Bruchteil der geltenden Jahrestonnen. Das ist das Sechsfache dessen, was tat- Grenzwerte emittieren – seit Jahren unverändert. Mo- sächlich an Ersatzbrennstoffen im Land anfällt. Hier mentan drohen Anlagen sogar wieder auf den Emis- steht ein gigantischer Mülltourismus bevor, nicht nur in sionsstand der 80er-Jahre zurückzufallen. Denn viele ha- Brandenburg. Und die jüngst liberalisierte EU-Abfall- ben ihre Kapazitäten schrittweise erheblich ausgeweitet, rahmenrichtlinie wird diesen Mülltourismus noch er- ohne entsprechende Filter nachzurüsten. leichtern. Zudem werden neue Anlagen gebaut, die von vorn- Vielleicht kann die Senkung der Emissionsgrenzwerte herein einen höheren Schadstoffausstoß haben. Obwohl hier dämpfend wirken, deshalb stimmen wir dem Antrag hier die Problematik der so genannten Ersatzbrennstoff- der Grünen zu. Für eine grundlegende Lösung bedarf es kraftwerke (EBS-Kraftwerke) im Antrag nicht explizit aber unserer Meinung nach einer koordinierten Planung angesprochen wird, geht es wohl dabei vor allem um von EBS-Kapazitäten. Leider lehnt die Bundesregierung diese. Es sind Müllverbrennungsanlagen, die Strom, und so etwas oder entsprechende Bedarfsnachweise grund- zum Teil auch Wärme produzieren. Sie werden im Un- sätzlich ab. Sie setzt hier allein auf den Markt. Auch hier terschied zu klassischen Müllverbrennungsanlagen mit werden dies die Bürgerinnen und Bürger zu bezahlen ha- dem Ziel gebaut, Energie zu liefern. Dabei stört aber je- ben. Diesmal mit ihrer Gesundheit. der Filter. Denn dieser senkt den Wirkungsgrad. Die Änderung der 17. BImSchV, wie sie die Grünen Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorschlagen, würde also auch sie betreffen. Die Betrei- Auch der heutige Tag steht unter dem Eindruck der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19651

(A) Finanzmarktkrise, und da am Freitag über das Rettungs- über die „Bewirtschaftung von Abfällen aus der mineral- (C) paket von unvorstellbaren 470 Milliarden Euro beraten gewinnenden Industrie für nicht dem Bergrecht unterfal- und entschieden wird, war auch keine Zeit, sich am Mitt- lende Betriebe“ ist wieder nicht für die Zusammenfas- woch im zuständigen Fachausschuss mit Beratungen zu sung aller Ablagerungsstätten unter Umweltrecht der hier abzustimmenden Deponie-Vereinfachungsver- genutzt worden. 1 600 Gewinnungsbetriebe und damit ordnung zu befassen. Die hier vorgelegte Rechtsverord- die Mehrheit der aktiven Betriebe fallen weiterhin unter nung geht weiter in den Bundesrat, der angesichts der zu Bergrecht. erwartenden 200 Änderungsanträge zum Thema bereits Abfallbewirtschaftungspläne werden jetzt für Ab- einen Unterausschuss beschlossen hat, der am 4. No- raumdeponien zur Pflicht. Das ist auch zur geordneten vember tagt. Grund für die Änderungsanträge sind die und effizienten Beschickung dieser Deponien höchst länderspezifischen Interessen der Abfallentsorger. notwendig. Eine weitergehende Dokumentationspflicht Schließlich werden auch die Genehmigungen für die Er- scheint mir allerdings auch bei den übrigen Deponien richtung und den Betrieb der Deponien in den einzelnen überfällig. Unzureichenden Kontrollen wurden in der Kommunen erteilt. Vergangenheit zu Missbrauch und Betrug genutzt – das Ich befürchte, dass die hier zur Debatte stehende Neu- zeigen immer neue Enthüllungen illegaler Müllablage- regelung ebenso korruptionsanfällig ist wie das bereits rungen in Kies- und Tongruben, die zum Teil als Depo- geltende, verworrene Deponierecht. Für die Umsetzung nien sogar zugelassen waren. Dieser Problembereich ist es gut, dass die drei bestehenden Regelwerke Depo- wurde in der Verordnung der Bundesregierung nicht auf- nieverordnung, Abfallablagerungsverordnung, Deponie- gegriffen. Vielmehr besteht Anlass zu der Sorge, dass verwertungsverordnung und die drei Verwaltungsvor- mit Vereinfachungen der Berichts- und Dokumentations- schriften jetzt zusammengefasst werden. Wie schwer die pflichten die Situation bei der Abfallendlagerung noch Anwendung des geltenden Rechts ist, zeigt folgendes kritischer wird. Beispiel: Derzeit werden aus Kostenersparnisgründen ei- Daher lehnen die Grünen die Verordnung zur Verein- nige schadstoffhaltige Abfälle nach Immobilisierung auf fachung des Deponierechts in der vorgelegten Form ab. Hausmülldeponien abgelagert, die eigentlich in Unterta- gedeponien oder in den Bergversatz gehören. Dies sollte nach geltendem Recht nicht möglich sein, faktisch ist es Anlage 20 aber nach Information der Entsorgungsbranche so und teilweise wurden Spielräume durch die Genehmigung Zu Protokoll gegebene Reden der zuständigen Behörde vor Ort erst geschaffen. Die Entsorger, die sich an geltende Vorschriften halten, ver- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur (B) lieren dadurch Aufträge, da sie höhere Preise ansetzen Veröffentlichung von Informationen über die (D) müssen. Den Behörden vor Ort ist die Überwachung ein Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Stück weit überlassen. Geht es um die Sauberkeit im Fonds für Landwirtschaft und Fischerei Sport, gibt es weniger Scheu vor Probenahmen, Labor- (Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Ge- untersuchungen und Einlagerungsnotwendigkeiten. Und setz – AFIG) (Tagesordnungspunkt 31) auch hier zeigt sich, dass Nachuntersuchungen zur Über- führung von Betrügern und Falsch-Deklarationen not- Marlene Mortler (CDU/CSU): Das uns vorliegende wendig sind. Gesetz setzt eine EU-Verordnung um, die die Veröffent- lichungspflicht vorsieht. Die Mitgliedstaaten müssen da- Auch die zu erbringenden Sicherheitsleistungen nach jedes Jahr nachträglich Informationen über die (§ 18) stehen im Ermessen der Behörden. Damit werden Empfänger von Mitteln aus dem Europäischen Garan- sie Verhandlungssache zwischen der Genehmigungsbe- tiefonds für die Landwirtschaft, dem Europäischen hörde und dem Betreiber. Die Erfahrung zeigt, dass mit Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländli- den durch die Behörde ermöglichten Befreiungen – wie chen Raumes und dem Europäischen Fischereifonds und auch hier bei Langzeitlagern vorgesehen – die Kosten die Beträge, die jeder Empfänger aus diesem Fonds er- für die Beseitigung entstandener Umweltgefahren wie- halten hat, im Internet veröffentlichen. der beim Steuerzahler hängen bleiben. Insofern fordern die Grünen die ersatzlose Streichung von § 25 der Depo- Fakt ist – ob wirklich sinnvoll oder nicht: Transparenz nie-Verordnung, die Langzeitlager von Regelungen und ist richtig und wichtig. Aber die Finanzkrise zeigt: Ge- von Überprüfungen durch Sachverständige befreit. Drin- rade dort, wo sie bitter nötig gewesen wäre – auf den Fi- gend reformbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch nanzmärkten – herrscht bis heute Intransparenz. Die der § 61 des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes, Betroffenen fragen sich zu Recht: Sind wir denn im fal- der eine Höchstgrenze von 50 000 Euro für Bußgelder schen Film? festlegt. Angesicht der Gewinnmargen illegaler Betrei- Die Diskussion zur Offenlegung aller Empfänger von ber und der Millonenkosten für die nachträgliche Sanie- EU-Zahlungen wurde zurückblickend oftmals sehr öf- rung ist das lächerlich. fentlichkeitswirksam – nicht selten einseitig zulasten der Die Inhalte des neuen Deponierechts sollen später in Landwirtschaft – geführt. Während der Verhandlungen das UGB integriert werden. Es ist nur zu hoffen, dass zur Verabschiedung des entsprechenden Gemeinschafts- sich die Koalition den grünen Argumenten anschließt, rechts ist es gelungen, wesentliche Forderungen Deutsch- im Umweltgesetzbuch auch das Bergrecht mit aufzuneh- lands durchzusetzen. Hierzu gehören ein im Vergleich zu men. Die hier vollzogene Umsetzung der EU-Richtlinie anderen EU-Förderbereichen späterer Veröffentlichungs- 19652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) zeitpunkt für den Agrarsektor, der Verzicht auf detaillier- sensibilisieren.Mit dem Gesetzentwurf haben wir ver- (C) tere und maßnahmenspezifische Förderangaben und pflichtende EU-Vorgaben national umzusetzen. Die Zu- insbesondere die Angabe des Straßennamens. Weiterge- stimmung fällt mir nicht leicht. Deshalb werbe ich ein- hende Forderungen Deutschlands, wie beispielsweise der dringlich für einen sachlichen und fairen Umgang mit Verzicht auf Angabe des Gemeindesitzes und der Post- den offenzulegenden Daten. leitzahl im Rahmen einer Internetsuchmaschine, fanden keine Mehrheit bei den anderen Mitgliedstaaten. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Mehr als Wir Politiker und auch alle betreffenden Organisatio- 40 Milliarden Euro gibt die Europäische Union für die nen sollten mit der Umsetzung der Transparenzinitiative Direktzahlungen und Marktstützungen im Rahmen der verantwortungsvoll gegenüber den Bäuerinnen und Bau- Agrarpolitik aus. Das ist viel Geld. Wir unterstützen es, ern umgehen, sachlich und fair. Ich hoffe, der vorlie- dass der Steuerzahler auch erfahren kann, wer von die- gende Gesetzentwurf trägt dem Rechnung. Wichtig ist sem Geld eigentlich profitiert. auch, dass mit diesen Daten in keiner Weise Missbrauch Wir unterstützen diese Transparenzinitiative und betrieben wird. freuen uns, dass sie nun auch in Deutschland umgesetzt Große Bedeutung kommt neben der eigentlichen Ge- wird. Sicher wird die Veröffentlichung der Zahlungen setzesgrundlage der Gestaltung der entsprechenden In- die Diskussion um die Förderung der Landwirtschaft an- ternetseite zu. Dort müssen einfach nachvollziehbare heizen. Ich bin mir allerdings sicher, dass wir diese Dis- und klare Erläuterungen zu den EU-Zahlungen, in allge- kussionen bestehen können. Und: Die Diskussion wird meiner Form über die einzelnen Förderprogramme so- nicht durch die Veröffentlich entfacht. Die Diskussion wie die damit verbundenen agrarpolitischen Ziele vorge- läuft bereits, sie kann – wenn wir sie annehmen – durch sehen werden. Wir haben positiv vermerkt, dass die die Transparenzinitiative versachlicht werden. Bundesregierung und die Länder dieser Anregung folgen Die Gemeinsame Agrarpolitik hat eine klare Richtung werden. bekommen: Wir haben die Zahlungen von der Produk- Die weitere Forderung nach einer Information der Be- tion abgekoppelt. Stattdessen sind dies Zahlungen mit günstigten über Besucher der Internetseite bzw. Anzahl Leistungen für die Umwelt, für die Qualität und für den der Zugriffe auf die Internetseite fand leider keine Mehr- Tierschutz verknüpft. Geld für Leistungen, die der Markt heit. Dass dem aus Kosten- und Verwaltungsgründen nicht honoriert, die aber die Gesellschaft verlangt – ich nicht gefolgt wurde, kann ich noch verstehen. Dass dem denke wir haben damit schon längst die Weichen ge- aber aus informationstechnischen und datenschutzrecht- stellt, mit denen wir die Debatte um die Agrarpolitik be- stehen können. (B) lichen Gründen nicht gefolgt wurde, erschließt sich mir (D) nicht. Datenhändlern wird dadurch Tür und Hoftor ge- Ich weiß, dass in der Debatte um die Agrarpolitik im- öffnet. Transparenz ist doch keine Einbahnstraße! mer wieder die Argumentation auftaucht, das Geld, das die EU für die Landwirtschaft ausgibt, sei Geld der Bau- Ich halte es auch für wichtig, dass Bund und Länder ern. Wer so argumentiert, wer daraus ableitet, dass die Offenlegung aller Empfänger von EU-Zahlungen Transparenz nur eine Gängelung der Landwirtschaft ist, einheitlich durchführen, da auch andere Wirtschafts- der sorgt erst dafür, dass die Steuerzahler nachfragen. gruppen und Unternehmen bis hin zu Einzelpersonen EU-Gelder als Förderung bzw. Ausgleichszahlung erhal- Ich verstehe die Sorge jeder Betriebsleiterin und jedes ten. Wenn bei der Landwirtschaft Empfänger mit Na- Betriebsleiters, die einen erhöhten öffentlichen Rechtfer- men, Vornamen, Ort und Postleitzahl offengelegt werden tigungsdruck fürchten. Ich bin mir aber sicher, wir kön- sollen, dann muss dies meines Erachtens aus Gleichbe- nen die Debatte bestehen. Die EU-Transparenzinitiative handlungsgründen auch bei Empfängern aus anderen bietet die Chance, klar herauszustellen, welche Leistun- Bereichen wie dem Europäischen Sozialfonds und dem gen die heimische Landwirtschaft für die Gesellschaft Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gesche- erbringt. Das Geld im EU-Agrarhaushalt ist und bleibt hen. erstmals Geld der Steuerzahler. Wir müssen begründen können, warum wir es ausgeben. Das können wir nicht, Wenn wir echte Transparenz anstreben, dann darf sie wenn wir uns verstecken, dazu müssen wir aus der De- nicht nur in Bezug auf EU-Zahlungen Anwendung fin- ckung kommen und erklären was für Leistungen wir mit den, sondern sollte sich auch zum Beispiel auf die Emp- diesen Milliarden bezahlen. Ich bin mir sicher, wir kön- fänger von nationalen Beihilfen erstrecken, wie sie der nen gewinnen, wenn wir mit offenem Visier kämpfen. Subventionsbericht des Bundesfinanzministeriums zum Gegenstand hat. Dort kann man auch nachlesen, dass der Wir wissen doch, dass es keine Milchseen und Butter- Anteil der Landwirtschaft an den nationalen Subventio- berge mehr gibt. Dann können wir doch dem Vorurteil, nen vergleichsweise gering ist. Letztlich müssten sämtli- wir würden nur Überproduktion finanzieren entgegentre- che staatlichen Beihilfen offengelegt werden, also von ten. Wer was produziert, das entscheidet der Markt; Pro- EU, Bund und Regionen bzw. Ländern. Sonst entsteht duktion richtet sich nicht mehr an Subventionen aus. Das ein Zerrbild. ist das wichtigste Ergebnis der letzten Agrarreform. Da- mit können wir bestehen. Und noch einmal zum Missbrauch: Die Datenskan- dale der letzten Wochen und der zunehmende Miss- Wir wissen auch, dass die Größe der Betriebe nicht brauch von Daten im Internet müssen uns noch mehr über die Leistungen entscheidet. Wir wissen doch, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19653

(A) das Monster Agrarindustrie genauso wenig die Realität einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem wir (C) beschreibt wie der kuschelige Kleinbauer. Wir wissen, die Umsetzung der EU-Verordnung forderten. dass die Einhaltung von Fruchtfolgen nicht von der Größe des Betriebes abhängt. Wir wissen, dass große Wir teilen das Ziel der EU, öffentliche Finanzzuwen- Milchbetriebe oft modernste Freilaufställe haben, wäh- dungen offenzulegen. Der von der EU-Kommission vor- rend die kleinen oft ihre Kühe noch anbinden. Und wir geschlagene Weg über ein Portal im Internet ist hoffent- wissen auch, dass die Zahl der Arbeitskräfte von der lich ohne zusätzliche Bürokratie und benutzerfreundlich Produktionsrichtung und weniger von Produktionsweise zu realisieren. Da es seit der großen Agrarreform für die abhängen. Auch das können wir erklären, auch hier kön- Landwirtschaft auch keinen Grund gibt, verschämt die nen wir bestehen. öffentlichen Ausgleichsleistungen für die erschwerten Produktionsbedingungen in Europa zu verschweigen, ist Wir wissen auch, was für Wirkungen unsere Export- die Umsetzung der EU-Verordnung nicht nur europa- subventionen haben. Uns wird die Frage gestellt, warum rechtlich geboten, sondern auch politisch sinnvoll und die Industrieländer 349 Milliarden Dollar an Produk- richtig. tions- und Exportsubventionen ausgeben. Wir werden gefragt, warum wir damit niedrige Exportpreise fördern Das Gesetz stellt eine 1:1-Umsetzung dar, weshalb und so lokale Produktion in den Entwicklungsländern wir Liberalen zustimmen werden. Doch ich will hier vernichten. Mit unseren Vorschlägen für die Doha- auch gleich deutlich machen, dass wir einzelne Forde- Runde haben wir diese Fragen schon aufgegriffen, wir rungen nach weiteren Veröffentlichungen im Bereich der müssen weiterhin deutlich machen, dass diese Politik Landwirtschaft ablehnen. Die Angaben, die die EU jetzt ernsthaft fortgeführt wird. Dann können wir auch hier öffentlich zugänglich machen möchte, sind völlig ausrei- bestehen. chend. Ich halte den Vorschlag des Bauernverbandes, dass die User des Internetportals sich registrieren müs- Gerade im Hinblick auf Debatten um den EU-Haus- sen, damit nachvollzogen werden kann, wer die Daten halt ab 2013 sind alle – Berufsstand, Politik und die akti- einsieht, für bedenkenswert und fordere das Ministerium ven Landwirte – gefordert, die öffentliche Diskussion zu auf, in der Durchführung dem Rechnung zu tragen. suchen. Es ist unmissverständlich darzustellen, dass die Zahlungen nicht mehr als Einkommenstransfer, sondern Auch muss dringend darauf geachtet werden, dass bei ausschließlich als Ausgleich gesellschaftlicher Leistun- der noch zu erlassenden Verordnung sichergestellt wird, gen zu verstehen sind. dass die Balance zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener EU-Kommissarin Mariann Fischer-Boel hat die Trans- Daten sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ge- (B) parenzinitiative explizit mit der Ausrichtung der Ge- wahrt bleibt. (D) meinsamen Agrarpolitik verknüpft. Warum? Wir stehen vor der Reform des EU-Finanzsystems und wir stehen An dieser Stelle muss auch klar gesagt werden, dass damit mitten in einer Debatte, die explizit den Agrar- die Bundesregierung bei der Umsetzung der Transpa- haushalt auf den Prüfstand stellt. Wir sehen doch, wel- renz-VO nicht stehen bleiben darf. Wenn die Landwirte che Folgen mangelnde Offenheit hat. Die Mathematik künftig ihre staatlichen Leistungen offenlegen müssen, der Menschen ist ganz einfach: Wer nicht bereit ist, seine gibt es keinen Grund, warum andere Empfänger staatli- Zahlungen zu veröffentlichen, der hat was zu vertu- cher Leistungen dies nicht auch tun müssen. Transparenz schen. Dem kann man doch offensiv entgegentreten. nur im Bereich Landwirtschaft ist weder sinnvoll noch Dem muss man auch offensiv entgegentreten. Wenn wir fair. hier nicht in die Offensive gelangen, wenn wir es nicht Abschließend noch ein Wort zu verschiedentlich in schaffen, deutlich zu machen, warum wir das Geld aus- der Landwirtschaft laut gewordenen Befürchtungen, geben, dann werden wir in der Debatte um das EU-Fi- dass die Veröffentlichung der staatlichen Leistungen den nanzsystem schlechte Karten haben. Neid in den Dörfern schüren würde. Diese Befürchtung Wir sind uns einig, dass wir Leistungen von der Land- teile ich nicht. Normalerweise wird bekannt sein, welche wirtschaft erwarten, für die wir die Landwirtschaft auch Flächen die Nachbarn gepachtet und im Eigentum ha- honorieren müssen. Wir müssen uns nicht verstecken. ben, sodass sich ja bereits heute jeder ausrechnen kann, Im Gegenteil: Nutzen wir die Chance, uns die Rücken- welche Prämien der Einzelne bekommt. Die Landwirt- deckung der Menschen zu holen. schaft wird also mit gutem Beispiel vorangehen, und die übrigen Empfänger staatlicher Leistung werden hoffent- Zum Schluss möchte ich noch auf eines hinweisen: lich bald folgen. Was für die Agrarförderung gilt, muss auch für andere Zahlungen so zum Beispiel für die Strukturfonds gelten: Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Mit dem Seien wir doch endlich etwas mutiger und offener. Das Agrarinformationsgesetz wird eine Debatte beendet, die hilft den Menschen Politik zu verstehen. Geheimniskrä- in den letzten Jahren hohe Emotionen hervorgerufen hat. merei verursacht Misstrauen. Schaffen wir Vertrauen Es geht um die Transparenz in der europäischen Agrar- und holen wir uns damit Rückhalt für unsere Politik. förderung. Rund 40 Prozent des europäischen Haushalts wird für den Landwirtschaftssektor ausgegeben. Dabei Hans-Michael Goldmann (FDP): Die FDP tritt für handelt es sich um einen Betrag von fast 50 Milliarden Transparenz ein. Bereits vor über zwei Jahren haben wir Euro, der letztlich ausschließlich aus Steuermitteln auf- 19654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) gebracht wird. Die Linke sieht daher ein berechtigtes verlieren würden. 44 Prozent, also knapp die Hälfte, (C) Anliegen, Informationen zu den Fördermitteln zu be- würden allein die neuen Länder verlieren. kommen, wenn sich Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dafür interessieren. Dies ist im Übrigen ein grundsätzli- Somit wird aus Sicht der Linken deutlich, dass letzt- ches Anliegen und nicht nur auf die Landwirtschaft be- endlich Transparenz mehr Nutzen bringt als Schaden, schränkt. Staatliche Förderung sollte in allen Bereichen wenn sie denn nicht instrumentalisiert wird. Der Agrar- transparent verteilt werden. sektor ist wie kein anderer den handels- und europapoli- tischen Entscheidungen ausgeliefert, und die Debatte um Die Linke hat die Transparenzinitiative grundsätzlich die Subventionierung der Landwirtschaft geht weiter. unterstützt, wenn wir auch die Begrenzung der Debatte Dies kann auch aus Sicht der Linken nur gut gehen, auf den Agrarsektor immer kritisiert haben. Gerade die wenn die Transparenz der Agrarförderung gewährleistet pauschale Verdächtigung, bei der Nichtoffenlegung von ist. Fördermittelzahlungen an Großbetriebe gehe es um Si- cherung unberechtigter Pfründe, spricht für die Transpa- renz der Fördermittelverwendung, weil sie den vielen Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ostdeutschen Landwirtschaftsbetrieben nicht gerecht Offenlegung der Agrarsubventionen ist ein wichtiger wird, die unter schwierigen Bedingungen Arbeitsplätze und nötiger Schritt, dessen Umsetzung viel zu lange ge- sichern und zur Sicherung sozialer Infrastruktur in den dauert hat. Unser Erfolg ist es, dass die Bundesregierung ostdeutschen Dörfern beitragen. die von der EU geforderte Offenlegung überhaupt end- lich auf den Weg bringt. Jahrelang hat die Bundesregie- Für uns ist klar: Die Direktzahlungen an Landwirt- rung auf Verzögerung und Verhinderung gesetzt. 13 EU- schaftsbetriebe müssen legitimiert werden durch Leis- Mitgliedstaaten oder Teilstaaten, die längst freiwillig die tungen im gesellschaftlichen Interesse. Intransparenz Empfänger von Agrarbeihilfen offenlegen, haben ihren führt eher zu Misstrauen der Verbraucherinnen und Ver- Bürgern deutlich eher mitgeteilt, was mit ihren Steuer- braucher bzw. bei Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. geldern passiert. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf zur Und um es klar zu sagen: Auch in Ostdeutschland muss Veröffentlichung von Agrarsubventionen ist als Grund- sich niemand verstecken. lage zu mehr Transparenz beim Verbleib von Steuergel- Die Veröffentlichung dieser Daten hat ja bereits statt- dern in der Agrarförderung mehr als überfällig. gefunden – auf Länderebene. Die Landesbehörden sind weiterhin für das korrekte Einstellen der Daten ins Inter- Die Umsetzung der Bundesregierung jedoch ist löch- net zuständig. Die zentrale Internetplattform, die über rig wie ein Schweizer Käse: Zum einen kommen mit das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) dem gewählten Termin eine Verwendung der Informatio- (B) (D) betrieben werden soll, macht den Zugang für Interessen- nen für eine transparente öffentliche Diskussion zum tinnen und Interessenten einfacher und demokratischer. Einsatz und Effizienz der Agrarhaushaltsmittel zur EU- Agrarreform „Gesundheitscheck 2008“ zu spät. Zum an- Nachdem die ersten Daten auf Länderebene im ver- deren soll die Veröffentlichungspflicht nicht für Aus- gangenen Jahr veröffentlicht wurden, ist inzwischen die künfte über Zahlungen aus nationalen Töpfen gelten. Debatte ruhiger und sachlicher geworden. Dass auch flä- Darüber hinaus reißt die im Gesetzentwurf vorgesehene chenstarke Betriebe in den neuen Ländern Direktzahlun- ausschließliche Minimalangabe von Summe und Emp- gen erhalten, ist heute kein Skandal mehr, sondern findet fängername die Fördersummen völlig aus dem Kontext. zunehmend Verständnis. Hektar muss Hektar sein, egal Es ist nicht ersichtlich, in welchem Verhältnis die Sum- wie groß der Betrieb ist oder wo er liegt. Die betriebli- men stehen. chen Organisationsformen sind aufgrund der neueren Agrargeschichte unterschiedlich. Große Betriebe bieten Dies ist kein rundes Programm, sondern ein mageres lohnabhängige Arbeitsplätze. Bezieht man die Direkt- Programmchen, welches mehr Unklarheiten schafft, als zahlungen auf die betrieblichen Arbeitskräfte, relativiert es lösen soll. So bleiben Fragen offen wie: Werden mit sich der Unterschied bei den Fördersummen pro Betrieb den Fördergeldern vor allem bäuerliche Betriebe geför- zwischen Ost und West. Leider ist das aus den Veröffent- dert oder eher international agierende Agrarkonzerne? lichungen nicht immer ersichtlich. Hinzu kommen Ge- Schafften oder sichern die Fördergelder Arbeitsplätze, nossenschaften, in denen viele Eigentümerinnen und und wenn ja, wie viele? Wird mit den Fördergeldern eine Eigentümer für einen Betrieb stehen. umweltfreundliche Landwirtschaft gefördert? Wie viel Im Laufe der Debatte ist das Verständnis für die be- Geld fließt in Betriebe mit artgerechter Tierhaltung, wie sonderen ostdeutschen Bedingungen gewachsen. Nur so viel in Anlagen mit Massentierhaltung? Schon 2005 be- ist zu erklären, dass in Deutschland die Unterstützung mängelte Friedrich Heinemann, ausgewiesener Experte der EU-Kommission für den Vorschlag der progressiven der EU-Finanzpolitik vom Zentrum für Europäische Modulation sehr überschaubar ist. Nur die Grünen unter- Wirtschaftsforschung in einem Interview: „Wir reden stützen ihn und merken nicht oder ignorieren, dass dieser viel zu viel über den Umfang und zu wenig darüber, wo- Vorschlag Schaden anrichtet für die strukturschwachen für das Geld ausgegeben wird.“ Nur wenn weiterge- ländlichen Regionen. In der Antwort auf meine diesbe- hende Informationen bekannt sind, ist eine Bewertung zügliche Anfrage antwortete die Bundesregierung, dass auch im Hinblick auf soziale und ökologische Kriterien einheimische Betriebe durch die vorgeschlagene pro- möglich. Transparenz sollte vor allem im Dienst einer gressiver Modulation circa 1,2 Milliarden Euro bis 2013 gesellschaftlichen Diskussion über die sinnvolle Vergabe Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19655

(A) von Steuermitteln stehen. Dazu gehört auch die Frage figuriert, dass komplexere Passwörter für den Zugang zu (C) nach der Effizienz der Fördermittel. Datenbanken erforderlich sind, ein schärferes Monito- ring, eine Speicherung der Zugriffe auf Kundendaten Bisher werden kleine und arbeitsintensive Betriebe führende Datenbanken und eine teilautomatisierte Über- benachteiligt. Flächenstarke und durchrationalisierte Be- wachung der Sicherheit von Datenbank-Administration triebe erhalten bis zu 120 000 Euro pro Arbeitskraft an und Datenbank-Konfiguration entwickelt. Zur Verbesse- öffentlicher Unterstützung. In kaum einem anderen Be- rung der Transparenz sind weitere Maßnahmen, die die reich werden zur Unterstützung eines einzelnen Arbeits- Deutschen Telekom AG in ihrer Pressemitteilung vom platzes solche Summen ausgegeben. Es ist in keiner 10. Oktober 2008 dargelegt hat, geplant. Zudem können Weise nachvollziehbar, wieso der Steuerzahler nicht er- Kunden auf Wunsch kostenlos ihre Mobilfunknummer fahren darf, für wie viele Arbeitskräfte und welche Leis- ändern lassen. tungen die Betriebe Gelder bekommen und wieso die na- tionalen Mittel ausgespart werden. Das hat mit einer Hinsichtlich Telekommunikationsüberwachungsmaß- „Transparenzinitiative“ nichts zu tun; das ist eher Verne- nahmen, die aufgrund von Vorschriften der StPO, des belungstaktik. Es geht uns nicht, wie der Deutsche Bau- Artikel-G10-Gesetzes oder des Zollfahndungsdienstge- ernverband befürchtet, darum, dass die Bauern an den setzes angeordnet werden und gegebenenfalls von der Pranger gestellt werden. Wir wollen keine Neiddebatte Deutschen Telekom AG umzusetzen sind, weist die führen, auch keine Streichdebatte, sondern eine Quali- Bundesregierung ausdrücklich darauf hin, dass das hier- tätsdebatte. für vorgegebene und verwendete technische Verfahren Agrarförderung muss konsequenter an klare soziale keine Sammlung von Daten beinhaltet. und ökologische Kriterien und nachhaltige Wertschöp- fung gebunden und in Einklang mit anderen gesell- schaftlichen Zukunftsaufgaben gebracht werden. In der Anlage 22 Agenda 2000 ist mit der „multifunktionalen Landwirt- Antwort schaft“ eine Definition gewählt worden, die neben der Lebensmittelproduktion auch eine flächendeckende Ge- des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage staltung unserer Landschaft, die Sicherung der Sied- der Abgeordneten Elke Reinke (DIE LINKE) (182. Sit- lungsstruktur, die Sicherung von Arbeitsplätzen und die zung, Drucksache 16/10519, Frage 45): Sicherung der gesellschaftlichen Anforderungen im Um- Auf welche Weise möchte die Bundesregierung auf die welt-, Verbraucher- und Tierschutz berücksichtigen soll. Energieversorgungsunternehmen einwirken, um einen vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Die Veröffentlichung von Daten, die der Öffentlich- heit, Sigmar Gabriel, bereits mehrfach geforderten (Strom-)- (B) (D) keit nicht erlauben, eine Beurteilung der Zahlungen nach Sozialtarif für Haushalte mit geringem Einkommen durchzu- setzen, und wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, sozialen, ökologischen und Tierschutz-Kriterien vorzu- eine wirksame Strompreisaufsicht mit Zuständigkeit bei den nehmen, ist für eine gesellschaftliche Kontrolle dieser Ländern einzuführen, der gegenüber die Energieversorgungs- Zielrichtung ungeeignet. unternehmen die Zusammensetzung aller Tarife offenlegen müssen? Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass der Ge- Anlage 21 genstand Ihrer Fragen morgen auch Thema einer Plenar- Antwort debatte ist. Der Antrag Ihrer Fraktion und Ihre heutige Frage „doppeln“ sich also. Zur Sache selbst möchte ich des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage Ihnen sagen: der Abgeordneten Petra Pau (DIE LINKE) (182. Sit- zung, Drucksache 16/10519, Frage 42): Die Gestaltung der Preisstruktur liegt auch im Ener- Welche Kenntnis hat die Bundesregierung darüber, welche giebereich grundsätzlich in der Verantwortung der Schritte die Deutsche Telekom AG unternommen hatte, nach- Unternehmen. Bei Vorliegen marktbeherrschender Stel- dem ihr Datensätze über ihre 17 Millionen T-Mobile-Kunden lungen unterliegen die Unternehmen einer kartellrechtli- (darunter unter anderem prominente Mitglieder der Bundes- chen Missbrauchsaufsicht. Im Vordergrund stehen dabei regierung, des Zentralrats der Juden) entwendet wurden, um die Sicherheit und den Schutz der Privatssphäre ihrer Kunden angemessene Preise für alle Haushalte, insbesondere zu gewährleisten, und ist die Bundesregierung der Ansicht, auch für die grundversorgten Haushalte. Darüber hinaus dass die Daten, die die Deutsche Telekom AG für gibt es in Deutschland ein funktionierendes allgemeines Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen sammelt, dort Sozialrecht, das auch hier wirkt, wie zum Beispiel die sicher aufbewahrt sind? von der Bundesregierung durchgesetzte Erhöhung des Nach Kenntnis der Bundesregierung hat die Deutsche Wohngeldes zeigt. Auf diese Weise werden einkom- Telekom AG, nachdem ihr der Fall bekannt wurde, im mensschwache Bürger wirksam unterstützt. Frühjahr 2006 umgehend neben der Anzeige bei der Staatsanwaltschaft umfangreiche Maßnahmen ergriffen, Die Wiedereinführung einer Strompreisaufsicht durch um die Sicherheit ihrer Kundendaten und den Schutz der die Bundesländer in dem – auch durch europäische Vor- Privatsphäre der Kunden sicherzustellen. gaben – für Wettbewerb geöffneten Bereich lehnt die Bundesregierung ab. Das Instrument stammt aus den Nach eigenem Bekunden wurden unter anderem Zu- Zeiten vor der Marktöffnung im Energiebereich und griffsberechtigungen auf die Kundendatenbanken stärker würde zu keiner wirksamen Aufsicht führen. Es wurde eingeschränkt, die technischen Zugangssysteme so kon- gerade abgeschafft, weil es in den neuen Marktstruktu- 19656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008

(A) ren nicht mehr wirkt. Die Preisaufsicht über Stromliefe- rem bisherigen Lieferanten nicht zufrieden sind, durch (C) ranten wäre auch deshalb ungeeignet, weil sich die Wahl eines neuen Lieferanten reagieren. Soweit in Ein- Strompreise für Haushaltskunden zu über 90 Prozent aus zelfällen gleichwohl eine intensivere staatliche Aufsicht Bestandteilen zusammensetzen, die nicht vom Liefe- notwendig ist, hat die Bundesregierung mit einer Ver- ranten veranlasst sind, aber das Preisniveau insgesamt schärfung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht bestimmen. Die in den Preisen enthaltenen Netzentgelte Ende letzten Jahres reagiert. Wie die aktuellen Gaspreis- sind ohnehin reguliert. Auf der hier in Rede stehenden missbrauchsverfahren des Bundeskartellamtes zeigen, Ebene der Stromlieferanten können Kunden, die mit ih- wirkt dieses Instrument auch, wo es erforderlich ist.

(B) (D)

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