Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 17. September 2011, 11.05 – 12.00 Uhr

Die Schlagader des Balkans - Eine Reise auf dem Autoput

mit Reportagen von Tom Schimmeck Moderation und Musikauswahl: Simonetta Dibbern

(DLF 2010)

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© - unkorrigiertes Exemplar –

Ein ehemaliger LKW-Fahrer aus Mazedonien über das Leben auf der Straße:

Ich habe das genossen, ich war sehr glücklich, wenn ich fahren konnte, von nach Ljubljana, durchs ganze Jugoslawien.

Und ein Mopedfahrer aus über die sogenannte Gastarbeiterroute: Das Dramatischste in den 60er, 70er ahren war, dass , vornehmlich Türken, Griechen, unendlich lange nach Hause gefahren sind. Fuhren langsam und schliefen ein.

Gesichter Europas: Die Schlagader des Balkans. Eine Reise auf dem Autoput. Eine Sendung von Tom Schimmeck. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern.

1 Die Transitstrecke zwischen Österreich und Griechenland hat viele Namen: Straße der Völkerwanderung wird sie genannt oder: Gastarbeiterroute. In der Sprache der europäischen Verkehrsminister: Paneuropäischer Korridor X. Durchgesetzt jedoch hat sich das serbische Wort für Autobahn: Autoput. Knapp 1200 Kilometer lang ist die Strecke von Villach nach , eine Diagonale von Nordwest nach Südost, mit einer Abzweigung über Bulgarien in die Türkei und weiter nach Asien. Eine berühmt-berüchtigte Route mit einer wechselvollen Geschichte: Früher waren hier die Karawanen gezogen, mit Kaffee und Teppichen im Gepäck. Später – und immer wieder: die Truppen verschiedener Eroberer und Kriegsmächte. Nach dem zweiten Weltkrieg wollte Jugoslawiens Staatspräsident Tito sie zum Zeichen des automobilen Fortschritts ausbauen und zum Verbindungsweg zwischen den Provinzen. In den 60er Jahren begann für die Hippies aus dem Westen hier die Reise nach Indien, für die Gastarbeiter aus der Türkei die Reise in die alte oder neue Heimat. Dann der Zerfall Jugoslawiens und der Krieg auf dem Balkan. Erst seit Ende der 90er Jahre ist der Autoput wieder befahrbar. Eine Reise, die durch 4 Länder führt: Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien. 4 mal Geld wechseln. Fünf Varianten einer Sprache hören. Und zahllose Geschichten finden. Wer die Reise wagt, von Nord nach Süd, der taucht schon zu Beginn der Fahrt tief ein in die Geschichte. Der Karawankentunnel – 1943 wurde er gegraben, von tausenden Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Unter Aufsicht der SS.

Kilometer Null. Am Loibl Pass. 1566 Meter hoch. Von Österreich aus sind wir in engen Serpentinen bergan gefahren, dann durch einen Tunnel quer durch die Karawanken. Mittendrin im Berg die Grenze – nur eine Markierung und ein Schild. Die Lüftung dröhnt. Auf slowenischer Seite ein Geschäft , ein Parkplatz. Vogelgezwitscher, steile Berghänge. Eine Europafahne, eine slowenische Fahne. Keine Kontrolle. Die Grenzstation ist verlassen – seit 2008 gehört das Land zum Schengen-Raum. Hier beginnt der Balkan. Oder?

Noch nicht – richtig.

Asja Herzegovac, meine Übersetzerin und Kollegin vom Klagenfurter Radio Agora, hat da Zweifel.

2 Für mich? Eher ab Kroatien. Slowenien teils-teils, gehört noch nicht so ganz zum Balkan. Eine Hälfte schon, aber nicht das Ganze.

Die Grenze zum Balkan ist nicht klar definiert, beginnt irgendwo zwischen Wiener Südbahnhof und Zagreb. Asja kennt sich aus auf dem Balkan. Geboren in Sarajevo, im bosnischen Krieg groß geworden, später nach Slowenien geflohen. Sie hat beide Staatsbürgerschaften, zwei Pässe. Jetzt studiert und arbeitet sie in Österreich.

Wir haben 1200 Kilometer vor uns.

Kilometer 55. Keine Stunde später, unsere erste Station: Ljubljana. Hauptstadt Sloweniens. Die Sonne scheint auf eine liebliche Kulisse. Im Zentrum findet gerade ein Kinderfestival statt, eine Schülerband spielt Sweet Home Alabama. Nein, Slowenien passt so gar nicht ins Balkan-Klischee, die Landschaft erinnert eher an eine Schokoladen-Reklame. Man merkt: Wir sind noch in der Eurozone. Spötter sagen, Slowenien sei ohnehin längst eine österreichische Kolonie. Der nördliche Nachbar hat hier enorm investiert. Überall Billa-Märkte und Raiffeisen-Banken. Die Firmenschilder vieler Discounter, Baumärkte, Banken und Tankstellen tragen bekannte österreichische Markennamen.

Also weiter zur nächsten Grenze. Die ist nicht weit. Aber neu. Es gibt sie erst seit 1991.

Kilometer 171. Grenzübergangsstelle Obrezje. Wo vor Jahren noch ein einsamer Container stand, ragt jetzt eine imposante Grenzanlage auf, mit einem Dutzend Fahrspuren, Unmengen von Computern, Videokameras, Strahlenmessgeräten.

Wir werden von Boris Brinovic empfangen, Kommandant der Grenzpolizei. Er geleitet uns eine Treppe hinauf, in einen Schulungsraum mit einer großen Tafel, nimmt Platz, stellt sich vor.

Der Oberpolizist scheint von eher unterkühltem Temperament. Schaut milde überrascht, als wir nach Problemen an der EU-Außengrenze zum Balkan fragen.

Es ist alles normal, so wie immer. Wie an allen Auslandsgrenzen des Schengen- Raums der EU .

3 An die 35000 Menschen kommen hier täglich durch, zehn Millionen pro Jahr. Doch Spektakuläres sei nicht zu vermelden, meint der Kommandeur, dem das Ganze sichtlich eine lästige Pflichtübung ist. Man müsse halt Instinkt und ein gutes Auge haben. Weil die Drogenschmuggler zum Beispiel nicht mehr diese leicht zu erkennenden Typen wären, mit langen Haaren und so weiter. Heute zählten eher die kleinen Widersprüche:

Zum Beispiel, wenn einer einen chicen Hugo-Boss-Anzug trägt und im Kofferraum Unterhosen für zwei Euro hat.

Und natürlich müssten sie auf die bei Dieben so begehrten deutschen Automarken achten: BMW, Mercedes, Passats und Golfs von Volkswagen.

Es sei sehr wichtig, immer auf dem neusten Stand zu sein, meint Kommandeur Brinovic, während er uns aus dem Posten geleitet.

Draußen stehen in langen Schlangen die Lastwagen. Bereit zur Fahrt Richtung Südosten. Es geht zäh voran.

Der Autoput ist in Ordnung, Ich liebe es, hier zu fahren.

Seit 20 Jahren fährt der Mann. Früher, meint er, war da noch keine Autobahn. Da war es schwerer. Im nächsten LKW sitzt ein Serbe. Gelangweilt.

Was soll ich sagen? Ich fahre seit 30 Jahren hier. Nach dem Krieg habe ich wieder angefangen. Die Strassen sind ok, besser als die Nationalstraßen.

In der zweiten Spur ein jüngerer, cooler Typ mit Sonnenbrille. Ein Slowene, Erst seit wenigen Jahren auf der Strecke.

Alles völlig normal, findet er.

In den beiden LKW-Schlangen scheinen vor allem die Völker des ehemaligen Jugoslawien versammelt: Kroaten, Serben, Bosnier, Slowenen, Mazedonier, Montenegriner. Dazu viele Bulgaren, einige Türken. Ab und an auch mal ein Holländer. Ein alter Kroate lehnt aus dem Fenster, seit Jahrzehnten auf dem Bock, von Portugal bis Rumänien, von Skandinavien bis in den Iran.

4 Er schwärmt von den guten Autobahnen in Skandinavien, Deutschland und Frankreich. In Kroatien taugten die nichts. Ja, man zahle viel dafür, an eine amerikanische Firma. Aber das sei keine Qualität. Das habe eher mit Politik und Korruption zu tun, meint er. Und grinst.

Ich fahre jetzt schon 33 Jahre international. Ungefähr 14 Jahre waren es in Ex- Jugoslawien, seit 1976. Keiner hat uns Fahrer je attackiert oder bestohlen, es gab nie Probleme. Das einzige Problem waren manchmal die anderen Fahrer, deren Kultur. Zwischen den Fahrern gab es Streit, an den Parkplätzen. Das hat sich geändert, nicht nur 100, sondern 300 Prozent. Vor allem bei den Türken. Die waren früher sehr aggressiv. Jetzt sind sie wirklich in Ordnung, sehr zuvorkommend. Helfen anderen gerne.

Nein, auf dem alten Autoput, sagt der Veteran, habe es nie nie Probleme mit Kriminalität gegeben, da konnte man mit offenen Türen und Fenster schlafen. Süditalien – oder auch die Gegend um Nizza und Cannes seien da viel gefährlicher. Und im Irak wurde seinen LKW einmal von einer Bombe getroffen.

Schlecht, schlecht, der alte Autoput war sehr schlecht. Der Autoput, diese Autobahnstrecke Belgrad-Zagreb-Ljubljana war damals aus Betonplatten gemacht. Aber in Kroatien hat sich, was den Autoput angeht, viel getan.

Früher, sagt ein Fahrer aus Montenegro, aus Podgoriza, war es sehr sicher. Heute müsse man sich einschließen. Vor allem Serbien und das Kosovo seien sehr, sehr gefährlich.

Man muss immer aufpassen und wissen wo man parken kann. Ich halte nicht einfach irgendwo an der Strasse oder im Wald, nur an ÖMV-Tankstellen – weil die beleuchtet sind und Videokameras haben. Ich fahre teure Fracht. Also bekomme ich ganz genau Bescheid, wo ich parken darf.

Ich weiß nichts von den alten Geschichten. Ich fahre seit einem Jahr von Novo Mesto nach Zagreb. Nie was gehört, keine Ahnung...

Früher waren da nur zwei Spuren, jetzt gibt es die Autobahn. Das geht viel schneller. Damals bin ich von Novska bis Ljubljana viereinhalb Stunden gefahren. Jetzt fahre ich nur noch drei.

5 Ein alter Bosnier, seit 1977 in ganz Jugoslawien unterwegs. Früher hätte man auch nicht so gute LKW gehabt, erzählt er, musste sowieso langsamer fahren. Und trotzdem schwärmt er von den alten, jugoslawischen Zeiten.

Damals war es schön: Jeder blieb stehen, wenn einer eine Panne hatte. Heute macht das niemand mehr. Jeder kümmert sich nur um sich selbst. Und: Früher gab es keinen Zoll, es war alles ein großes Haus. Und jetzt? Muss man schnell sein, um noch rechtzeitig seine Ware abzugeben.

Musik 2

Schnell vom Norden seiner sozialistischen Republik Jugoslawien in den Süden zu gelangen – das war Titos Ziel gewesen, als er Anfang der 50er Jahre die Transitroute zur Autobahn ausbaute. Autoput - Eine Straße der Brüderlichkeit und Einheit sollte es sein. Ein Symbol für den jugoslawischen Fortschrittsglauben, ein Kernstück der Propaganda dieses Sozialismus, der so ganz anders sein wollte als im sowjetgeprägten Ostblock. Mobilität war eins der Versprechen, die Tito erfüllen wollte – auch die große Autofabrik Zastava war Teil davon. Doch die Mobilität hatte bald ihre Grenzen: die schlecht ausgebauten Strecken waren dem automobilen Ansturm des Transitverkehrs nicht gewachsen – vollgepackte Autos, klapprige Busse und überladene LKW verstopften die Straße, vor allem im Hochsommer. Und wegen der vielen Unfälle wurde der Autoput zur berüchtigten Todesstrecke. So manche Wracks stehen immer noch am Straßenrand, und auch heute staut sich der Verkehr: an den Grenzübergängen und an den diversen neu eingerichteten Mautstellen. Doch eine Todesstrecke ist der Autoput nur noch in der Erinnerung

Ich bin Nenad Popovi ć, 1950 geboren, von Beruf Verleger, Und Deutsch spreche ich weil meine Eltern zehn Jahre lang in Deutschland Gastarbeiter waren.

Kilometer 200. In der Innenstadt von Zagreb. Wir sitzen vor dem Palast-Hotel beim Kaffee, am Trg Josipa Jurja Strossmayera, benannt nach einem Vorkämpfer für die Slawen in der österreich-ungarischen Monarchie. Neben uns rollen immer wieder Straßenbahnen vorbei. Popovi ć ist mit seinem Motorrad gekommen, um mit uns in die Geschichte des Autoput zu tauchen.

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Schüler, Studenten, junge Leute wurden angehalten, an Camps teilzunehmen, meistens zu besserer Jahreszeit. Und mit Spaten, in einer legendären Aufbaugeschichte, hat man die Straße gebaut. Das war übrigens eine soziale Pflichtübung. Man zeigte seinen gesellschaftlichen Optimismus, sein sozialistisches Bewusstsein, seinen Jugoslawismus, was auch immer, durch freiwillige Arbeitseinsätze.

Und es war auch attraktiv. Raus aus dem Elternhaus. In den Camps ging es recht lustig zu. Auch machten sich Arbeitseinsätze gut in der Biographie, halfen beim Aufstieg. Was Popovi ć irgendwie verpasste. Er machte lieber Sport.

Das hatte den Nachteil, dass man, sagen wir nach fünf Jahren Sport und so etwas nicht eingeladen wurde der Partei beizutreten, was ja ...bei genug Arbeitseinsätzen war die Krönung die Aufnahme in die Partei. Und das war dann schon eine Heldentat, das sah gesellschaftlich sehr gut aus.

Aus aller Welt strömten Jungaktivisten nach Jugoslawien. Es war der einzige Kommunismus, den man besichtigen konnte. Unter ihnen 1950 auch ein gewisser Pol Pot, Student der Radioelektronik aus Paris. Jener Pol Pot, der später zuhause in Kambodscha seine massenmörderische Variante des Kommunismus etablierte.

Der Autoput, sagt Popovi ć, das war die Hauptachse des künftigen Automobilismus. Titos liebstes Kind.

Ein Symbol des Aufbruchs, des Fortschritts, der Verbindung der Völker, die in Jugoslawien ja unbedingt gelingen sollte. Also wurde kräftig gebaut.

Autobahn, beziehungsweise Eisenbahnstrecken, Straßenbahnstrecken, also auf jeden Fall Trasse, Trasse, die Trasse.

Es war auch eine Zeitenwende. Während des Baus selber herrschte noch eine Art Spätstalinismus in Jugoslawien.

Und mit der Fertigstellung des Autoput sind wir dann sozusagen ins frühe Stadium des liberalen titoistischen Kommunismus eingetreten. Während der Aufbauphase gab es ja den berühmten Slogan: „Mi gradimo prugu - pruga gradi nas“ – Wir bauen die Trasse, die Trasse baut uns. Der neue Mensch entsteht, das Bewusstsein verändert sich.

Das war die spätstalinistische Phase, die frühliberale war dann die jugoslawische Familie mit fünf Mann in einem Fiat 600, also das klassische Bild.

7 Auf den Karten wurde die zweispurige Straße zu Propagandazwecken gern als Autobahn eingezeichnet. Das führte zu Fehleinschätzungen. Ein Grund für die vielen, verheerenden Unfälle auf der Strecke. Popovi ćs Vater sah die Folgen öfter als ihm lieb war.

Er war Internist in einem Krankenhaus direkt daneben, 20 Kilometer von Zagreb. Und natürlich hatte das Krankenhaus mit allerschlimmsten Unfällen zu tun. Das Dramatischste in den 60er, 70er Jahren war, dass Gastarbeiter vornehmlich, Türken, Griechen, unendlich lange nach Hause gefahren sind - oder von zuhause, oft ganz volle Autos. Und in Jugoslawien waren sie dann bereits übermüdet. Haben sich kaum ausgewechselt am Lenkrad, weil Führerscheine nicht so gängig waren. Fuhren langsam, weil sie voll bepackt waren und schliefen ein.

Sie wollten heim, die Verwandten und Freunde wiedersehen, ihnen Geschenke bringen. Und ihnen zeigen, dass sie es zu etwas gebracht hatten, dass sie jetzt ein Auto fuhren.

Was er erzählt hat ist, dass sich viele dieser Leute, die von Köln nach Anatolien gefahren sind, Ziegelsteine aufs Gaspedal montiert haben, weil sie nicht mehr mit dem Fuß konnten. Oder sie haben sich den Fuß angeschnürt ans Gaspedal…

Popovi ć streicht sich über das kurze graue Haar, blickt über den sonnigen Platz, schiebt die leere Kaffeetasse von sich..

Autoput war tatsächlich eine Todesstrecke, Noch 1990 sind zwei meiner Freunde, Kollegen umgekommen durch einen Zusammenstoß mit einem Lastwagen. So in klassischer Weise, sofort tot.

Später, zurück auf dem Autoput, lernen wir drei Motorradfahrer aus Mazedonien kennen, Zoran, Tosho und Vladko, ein Polizist, ein Anwalt und ein Unternehmer. Ältere Herren, die schon zu Titos Zeiten als Biker unterwegs waren.

8000 Kilometer hätten sie jetzt hinter sich, erzählt Zoran stolz. Von Mazedonien über Griechenland, die Türkei, Syrien, den Libanon, Jordanien bis nach Ägypten, dann mit der Fähre nach Venedig. Und jetzt sind sie hier.

Die Mazedonier haben eine Obsession mit Alexander dem Großen. Und auch sie, sagt Tosho, hätten diese Tour gemacht, um den Spuren Alexanders zu folgen. Als Pioniere.

Der Autoput war immer gefährlich. Und auch heute ist er es noch. Man muss wirklich aufpassen, vor allem auf die anderen Fahrer. Und die Augen offen halten.

8 Unser Slogan lautet: Wir fahren, um zurückzukommen.

Trotz all der Teilungen und Kriege würden die jugoslawischen Biker zusammenhalten, egal, welcher Herkunft. Wir kennen uns seit 40 Jahren.

Und wie lange bräuchte man, wenn man mit dem Motorrad von Slowenien bis Skopje durchbrettert?

Elf Stunden, maximum. Glauben die Herren. Aber auf dieser Strecke schlafen sie lieber mal zwischendurch.

Der Balkan ist ein Kulturraum mit vielen verschiedenen Charakteren. Und die schnurgerade Straßenverbindung von Norden nach Süden konnte nie über die vielen Unebenheiten und Konfliktherde in der Region hinwegtäuschen. Immer wieder sind sie aufgebrochen, haben diesen Teil Südosteuropas ins Chaos getrieben. Die kroatische Dichterin Ksenija Herceg Ribic ist Jahrgang 1965 - sie hat ihre Sehnsucht und ihre Angst in Worte gefaßt: in ihrem Gedicht „Zusammenfügen einer Stadt“.

Ich sitze im Feuer, die Arme in die Wolken getaucht, um sie zu kühlen, denn mit glühenden Gedanken und kalten Händen kann ich in die Zukunft schauen. Der dort wartet, nennt sich Hoffnung. Der dort läuft, nennt sich Angst. Beide reisen, sie schlafen auf den Knien. Und träumen von der Vergangenheit dieser Welt. Sie suchen Schutz vor dem Winde Im Schatten von hundert Schirmen, deren Gerippe eingemauert sind in die Fundamente der Felsen. Mit Drähten ohne Scharniere Die sich nicht drehen in die Richtung des Sturms, und unter Kilometern von Seide, die sich nicht auflöst im Laufe der Zeit. Ich sitze im Feuer, die Arme in die Wolken getaucht, und schaue auf morgen, Gott hat schon meine Tage gezählt. 9

Nicht nur der Verkehr auf der großen Diagonale durch das ehemalige Jugoslawien hat tausende Tote gefordert – entlang des Autoput finden sich auch viele andere Spuren der blutigen Vergangenheit. Immer wieder war der Balkan zum Schlachtfeld geworden: während der Balkankriege Ende des 19. Jahrhunderts. Während des ersten und während des zweiten Weltkriegs. Und zuletzt in den 90er Jahren, nach dem Zerfall Jugoslawiens. Der Autoput wurde zur Panzerrollbahn für die jugoslawische, genauer für die serbische Armee. Ab 1993 war der kroatische Straßenabschnitt komplett gesperrt, die Minenfelder reichten bis an den Straßenrand. Dann fielen in Serbien die Bomben der Nato, auch auf den Autoput. Transitreisende mußten ausweichen – über Bulgarien. Oder: über das Mittelmeer. Die Einheimischen haben ihre Toten beerdigt – überall entlang der Route sind kleine und große Gräber zu finden. Narben der jüngeren und älteren Geschichte.

Kilometer 300. Bei Novska runter vom Autoput. Ein paar Minuten Richtung Süden, bis zum Ufer der Save. In der grünen Flusslandschaft ragt ein mächtiges Denkmal aus grauem Beton auf, die „steinerne Blume“, ein Werk von Bogdan Bogdanovi ć, entstanden 1966. Neben dem ehemaligen KZ Jasenovac (Jaßenovats), im Zweiten Weltkrieg das größte Vernichtungslager im besetzten Südosteuropa.

Am Eingang ein dickes Buch mit 1888 Seiten. Gefüllt mit den Namen der Opfer – 72000. In der Datenbank, erfahren wir, finden sich inzwischen 10000 Namen mehr. Vor allem Juden, Roma und Serben wurden hier massenhaft ermordet.

Die Räume sind fast dunkel, die rauen Stellwände schwarz. Das Material ist gummiartig, verströmt einen schwachen, sehr unangenehmen Geruch. Das soll so sein. In Vitrinen sind Exponate zu sehen – letzte Spuren: Becher, Schmuck, Taschen, Hemden. An den Wänden Tafeln und Bilder, die den Zusammenhang herstellen, Monitore, auf denen Überlebende zu sehen sind, die über die Gräuel berichten. Die Stimmen erfüllen den Raum. An den Decken hängen, lamellenartig, viele Hundert Glasscheiben, auf denen, alphabetisch die Namen aller Opfer geschrieben stehen.

10 Da hängt etwa ein Aufruf der deutschen Wehrmacht von 1941, sämtlichen Stacheldraht abzuliefern, – „für spezielle, für den Staat wichtige Aufgaben“. Bei Androhung von Strafe. Wochenschauen zeigen die Verbrüderung der faschistischen Kroaten mit den deutschen Machthabern. Vjekoslav Luburi ć, Kommandant von Jasenovac, den sie nur den „Metzger“ nannten, hatte sein Handwerk im KZ Sachsenhausen gelernt.

Unser Ziel hier ist es, die Namen der Opfer zu finden und den Menschen, die hier in Massengräbern liegen, ihre Würde zurückzugeben.

Seit sechs Jahren, sagt Ivo Pejakovi ć, einer der Historiker hier, forsche man intensiv nach der Identität der Opfer. Die Grabfelder an beiden Uferseiten sind riesig, an die 66 Hektar.

Es gab keine Gaskammern. Die Menschen wurden erschossen, erhängt, erstochen, erschlagen, verbrannt. Sie verhungerten oder starben durch Erschöpfung von der Zwangsarbeit. Mehr als 18000 Kinder unter 14 Jahren sind hier gestorben.

Alle Menschen in Kroatien wissen, welche Tragödie hier geschehen ist. Aber es gibt immer noch Leute, die das verteidigen, die sagen: Es gab gute Gründe dafür.

Wir fahren über die Brücke, passieren den Grenzübergang nach Bosnien- Herzegowina, laufen über den Deich der Save, durch eine Idylle, durch sanfte, saftige Auen. Überall Storchennester, ein kleiner Trecker fährt vorbei. Kommen zum Gerippe eines gewaltigen toten Baumes, der auf einem großen Gestell ruht. Als Mahnmal. Für eine Hinrichtungsstätte.

An diesem Baum sind viele gestorben. Ein paar Schritte weiter die Massengräber. Grüne Wiesen. Und weiter in einen lieblichen Wald. Der auch voller Toten ist.

Und weil wir ohnehin schon in Bosnien sind, beschließen wir, einen kleinen Bogen zu schlagen und einen Kaffee in Banja Luka zu trinken, Hauptstadt der bosnischen Serbenrepublik, der Republika Srpska. Asja sagt, das sei in Ordnung. Obwohl sie hier den Krieg erlebt hat. Obwohl wir grad über Massengräber gelaufen sind. Während wir in einem Eiscafé sitzen, in der hübschen Fußgängerzone, durch die Horden von Teenagern schieben, gleich neben der mit viel Goldganz schick renovierten orthodoxen Kathedrale, beginnt Asja ihre Geschichte zu erzählen.

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Hier war ein großer Stützpunkt der serbischen Armee, halt eine sehr große Kaserne, und die hatten Listen, wo halt die christlichen Leute gelebt haben und von allen Muslimen, die hier gelebt haben, die sind einfach von Haus zu Haus gegangen und in Wohnungen reingeplatzt und haben einfach gefragt: Bist Du der und der und die haben dann einfach die Leute erschossen.

Sie stammt aus einer gemischten und eher atheistischen bosnischen Familie. Vor dem Krieg hatte sie nicht einmal gewusst, welcher Religion sie offiziell angehört. Es spielte keine Rolle. Und dann, mit acht Jahren, saß sie in Banja Luka, bei eine Tante versteckt. Und auch dort klopften sie an die Tür.

Das war nur ein paar Monate, das war nicht so lange. Und dann… haben sie sie eben umgebracht und ich war in diesem Haus, aber die haben mich nicht gesehen, weil die sind nicht reingekommen. Und dann war ich bei einer anderen Tante, mit ihren Kindern, und mit ein paar Leuten die dort gewohnt und gelebt haben. Ja.

Eine Zeit voller Angst, und zäher Langeweile.

Schule? Schule existierte nur in Kellern. Es gab auch Scharfschützen überall und man konnte nicht so frei spazieren, frei rumlaufen. Es war einfach anders.

Ihre Stimme scheint höher und gepresster als sonst. Es ist nicht zu übersehen, dass ihre Erinnerungen stärker wirken als die friedliche Szenerie der Fußgängerzone hier. Weg aus Banja Luka, beschließen wir, zurück auf den Autoput. Aber eines muss sie noch erzählen. Weil es so grauenhaft absurd ist. Manchmal, wenn sie grad nicht im Keller hockten, saßen die Kinder am Fenster, guckten auf die Straße, in deren Winkel die Sniper, die Heckenschützen lauerten. Und sahen Menschen beim Sterben zu.

Wir haben gewettet, ob der Sniper-Dings ihn trifft oder nicht. Wir haben einfach halt so Wetten gemacht. Das findet man nicht witzig. Aber wir hatten halt nicht so viel zu tun. Außer Reden, Lesen und halt Quatschen.

Um deine Nachbarn zu überfallen Brauchst du Öl, Räuber. Wir aber hausen an der Straße Die zum Öl führt. Deine Nase aus dem Tank hebend Nach Öl zu schnüffeln

12 Hast du unser kleines Land gesehen. Du hast unsere Oberen zu dir befohlen. Nach einem Feilschen von zwei Stunden Haben sie uns an dich verkauft. Für eine Nähmaschine und das Trinkgeld. Aber als sie zurückkamen Haben wir sie ins Gefängnis geworfen. Eines Morgens hörten wir ein Dröhnen über uns. Der Himmel war schwarz von deinen Flugzeugen Das Dröhnen war so stark Dass wir uns nicht hörten, als wir voneinander Abschied nahmen. Dann kamen deine Bomben und die Löcher im Boden Waren größer als unsere Häuser gewesen waren. Unsere Frauen und unsere Kinder Liefen weg, aber deine Flugzeuge Kamen herunter aus der Luft und jagten ihnen nach Und mähten sie nieder, den ganzen Tag lang. Unser ganzes Land Mit seinen Gebirgen und seinen Flüssen Nahmst du in dein Maul auf einmal Und die Berge stachen dir aus der Backenhaut Und die Flüsse liefen dir aus dem Maul Aber dann zermalmtest du es mit deinen Raubtierzähnen.

Bertolt Brecht: Bericht der Serben

Nach dem Zerfall Jugoslawiens und den Nachfolgekriegen gingen die ehemaligen Bundesstaaten unterschiedliche Wege: Slowenien ist längst ein prosperierendes EU- Land, Kroatien ist ein naher, Mazedonien ein etwas fernerer Beitrittskandidat. Serbien dagegen ist nach wie vor weit abgehängt, auch wenn es Ende 2009 die Mitgliedschaft beantragt hat. Noch so positive Wachstumsraten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Serbien sich mit der Bewältigung der Vergangenheit schwertut. Die Diktatur des Milosevic-Regimes. Später der Mord an Premier Zoran Dindic. Noch immer wirkt das Land instabil, nur langsam schwindet die internationale Isolation. Die Armut ist groß, die Arbeitslosigkeit hoch, das organisierte Verbrechen dagegen ist übermächtig. Und vor allem junge Leute sehen ihre Zukunft nicht in ihrer Heimat: sie wollen weg.

Kilometer 500. Endlich in Serbien. Zur Nacht sind wir bei Sremska Mitrovica vom Autoput abgebogen, haben im Zentrum einen stark ergrauten, siebenstöckigen Kasten mit der Aufschrift Hotel entdeckt. Bezahlbar. Die Halle verströmt klassischen

13 Jugoslawien-Charme: Sitzmöbel, die wohl in den 70ern modern waren. An der Decke ein Relief aus eigentümlichen, weißen Kunststoffzacken, das an alte Kaufhausfassaden erinnert. Das Zimmerfenster, aus dem man über die Stadt blicken will, ist blind vor Schmutz.

Kaum sind wir eingetroffen, bildet sich ein Spalier vor dem Eingang – mindestens Hundert erwartungsvoll dreinblickende Menschen. Durch sie hindurch schreitet nun eine Prozession junger Leute, frisch frisiert und festlich gekleidet, in Abendkleidern und Anzügen, kichernd, strahlend. Gefolgt von einer Band, die ihnen einheizt. Der Ball der Abiturienten beginnt.

Ich glaube, dass es hier große Perspektiven und Chancen gibt, weiterzuleben. Auch wenn das viele nicht glauben, weil ja die Wirtschaftslage hier und überhaupt in Serbien nicht so gut ist. Aber wenn man glaubt und Ziele hat, kann man alles erreichen.

Milica, groß und strahlend, trägt ein cremfarbenes Abendkleid. Sie hat heute nicht nur Abitur gemacht, sondern obendrein Geburtstag. Ist 19 geworden. Und, wie, sich bald herausstellen wird, optimistischer als viele hier.

Die europäische Union wird uns sicher nichts Schlimmes bringen. Wenn sie so vielen anderen Ländern nicht geschadet hat, warum sollte sie uns schaden?

Ist Europa die Zukunft? Das ist hier sonst kaum Thema. Eher die Frage: Was ist meine Zukunft? Für Zora etwa und ihre Freundin Jelena.

Ich will Pharmazie studieren in Novi Sad und dann ins Ausland gehen .

Hier nicht? Absolut nicht, sagt sie

Ich glaube, ich kann mit dem, was ich kann, woanders weiterkommen. Ich will nicht hier bleiben.

Und Zora?

Ich will Elektrotechnik in Belgrad studieren und dann irgendwo ins Ausland gehen.

Werden sie hier nicht gebraucht?

14 Schon. Aber ich sehe keinen Grund, hier zu bleiben.

Was müsste anders ein?

Bessere Schulen, bessere Jobs, mehr Geld.

Ich glaube, Serbien hätte eine bessere Zukunft, wenn die talentierten Leute hier bleiben würden. Dann wäre alles besser.

Uroš, ein sehr ernsthafter Typ, widerspricht den beiden Mädchen. Er will Archäologie studieren. In Belgrad. Und danach die alten Kulturen erforschen. Am besten hier in Sremska Mitrovica, das vor 2000 Jahren das römische Sirmium war. Gleich um die Ecke kann man eine große, aufwändig hergerichtete Grabungsstätte bewundern, mit schönen Mosaiken und Fundamenten.

Wobei die Beschäftigung mit alter Geschichte in Uroš Augen so etwas wie Medizin sein könnte. Wo doch Serbiens Ansehen ohnehin ramponiert ist.

Dann würde uns die Welt mit anderen Augen sehen und begreifen, dass auch wir zivilisiert sind.

Der Geist der Kriegszeit, sagt Uroš, sei sowieso längst passé.

Hallo, ich spreche Deutsch.

Eine dunkelhaarige Abiturientin mischt sich ins Gespräch. Ivana.

Ich heiße Ivana Jepi ć und ich will Deutsch studieren in Novi Sad. Weil ich liebe Deutsch - deutsche Sprache, deutschen Fußball, deutsche Musik und so. (Lacht) Es ist eine schöne Sprache.

Sie will Dolmetscherin werden, in England leben – besser noch in Deutschland. Am liebsten in München.

Serbien, ist nicht so toll mit Ökonomie und so. Deswegen will ich ins Ausland gehen.

Hat sie eine Erklärung dafür, dass so viele Jugendliche hier nur weg wollen? Ivana ist da ganz offen. Wir haben kein Geld, sagt sie.

Wir sind sehr glücklich, wir machen viel Party. Wir denken nicht viel über dieses Problem, das ökonomische und politische. Wir denken nur an uns. Das ist unser Ziel

15 jetzt. Wir denken nur an uns, wir denken nicht an unser Land.

Sie glaubt nicht daran, dass Serbien sich ändern kann.

Ja, vielleicht in 50 Jahren oder so. Aber jetzt nicht.

Als wir am Morgen aufbrechen, sind die partyfreudigen Abiturienten schon wieder auf der Straße.

Der Autoput ist fast leer an diesem Morgen. Wir kommen zügig voran. Erreichen im Nu Kilometer 620, Belgrad.

Der Autoput führt quer durch die serbische Hauptstadt, knickt später gen Süden, in Richtung Niš. Westlich liegt nun Krajuevac, die Autostadt. Einst eine Waffenschmiede. Bis die Arbeiter 1953 in einem Referendum beschlossen, Autos zu bauen. Geburtsort des Zastava und des Yugo. Allein vom Fi ća, einer Lizenzversion des Fiat 600, liefen fast eine Million Stück vom Band.

Die Landschaft wird hügeliger, balkanischer, vom nahen Kosovo dringt Albanisch ins Autoradio. Es regnet. Und dann, bei Leskovac, nach etwa 900 Kilometern, endet die Autobahn. Der Autoput wird zur Landstraße, windet sich zwischen grünen Bergen hindurch. Bis wir, in der Grdeli čka Schlucht, zum Motel Predejane kommen.

Die Gastarbeiter – dieser alte Begriff hat es selbst ins Serbokroatische geschafft –, die Gastarbeiter, sagt Vladimir Nedeljkovi ć, seien deutlich weniger geworden. Weil die Sorge hätten, ihre Jobs zu verlieren. Dafür gebe es immer mehr Touristen, auch aus Westeuropa.

Der Manager ist 68 Jahre alt, seit 1969 hier tätig. Früher war das Motel eine sehr schlichte Herberge. Es gab 220 Parkplätze. Und die waren immer voll. Bis heute. Außer während des Krieges.

Man geht mit der Zeit. Stolz zeigt uns Herr Nedeljkovi ć ein paar frisch renovierte Zimmer, mit Aircondition und Kabelfernsehen. Das mit den Tagungen laufe noch nicht so gut. Aber ansonsten, sagt er, sei das Motel hier „ein goldenes Huhn“.

16 Draußen wird emsig gebaut, die ohnehin schon riesige Terrasse erweitert. Im Saal oben tanzt eine große Hochzeitsgesellschaft. Allmählich erreiche man wieder das Niveau von früher, meint der Manager.

Dies ist der gefährlichste Teil des Autoput. In ein paar Jahren soll auch dieser nur zweispurige, kurvenreiche Abschnitt mit Viadukten und Tunneln begradigt und verbreitert werden. Aber das dauert noch.

Ein paar Kilometer weiter weitet sich die Landschaft wieder. Rechts am Straßenrand wirbt eine Reifenwerkstatt um Kundschaft. Seit 15 Jahren betreibt Ljubiša Stamenkovi ć sein Geschäft.

24 Stunden, nonstop. Immer bereit, sieben Tage die Woche. Ungefähr hundert Kilometer Strecke sind sein Revier.

Der Inhaber ist ein klein, rund, freundlich. Und durchaus stolz. Viele Jahre schuftete er in der nahegelegenen Papierfabrik. Bis er genug gespart hatte, um hier ganz klein anzufangen. Er ist heilfroh, dass er sein eigener Herr ist und ein Auskommen hat. Im Nachbarort, einem der ärmsten in Serbien, verdienen sie im Schnitt nur noch 60 Euro im Monat.

Katastrophe, das ist sein Lieblingswort.

Dušan, sein großer Sohn, läuft im Overall herum, schleppt Reifen herbei.

Während Papa uns die Werkstatt zeigt, das kleine Geschäft mit Autozubehör. Und das Zimmer im Hof, wo er Gäste bewirtet. Mit einer kleinen Bar. Er bietet uns einen Raki an. Wir lehnen dankend ab. Die Straße ist kurvig und der Weg noch weit.

Die Fahrt auf dem Autoput ist eine Reise durch viele Landschaften, durch viele unterschiedliche Kulturregionen. Eine fast schnurgerade Linie, mal vierspurige Autobahn, mal schecht ausgebaute Bundesstraße. Inzwischen gibt es entlang der Strecke Raststätten, nach und nach wird der Autoput auch von Reisenden wieder mehr benutzt.

Richtung Süden wird der Asphalt rauer – die Landschaft immer lieblicher. Die Route führt vorbei an der albanischen Enklave Presevo – von weitem sind die Minarette zu

17 sehen. Und dann, in Mazedonien: wieder die vergoldete Kuppenl christlich-orthoxer Kirchen.

Kilometer 1060: Skopje. Die letzte Grenze mühelos überquert. Es ist Sonntagmorgen. Im alten Zentrum ruft St. Dimitrija zum Gottesdienst. Unzählige Kerzen flackern in sandgefüllten Schalen. Die Ikonenwand schimmert prächtig gülden, die Heiligengesichter blicken verständnisvoll und tröstend. Weihrauch nebelt.

Ein älter Mann mit weißem Schnauzer verlässt frühzeitig der Kirche. Er trägt einen alten Anorak, wirkt müde, vielleicht ein wenig angetrunken. Heute, sagt er, gebe es nur noch ein paar Reiche hier – und viele Arme. Die, die schicke Luxusautos fahren und die, die nichts zu beißen haben.

Blagoje ist Rentner. War früher LKW-Fahrer. Viel auf dem Autoput unterwegs.

Ich habe das genossen, ich war sehr glücklich, wenn ich fahren konnte. Von Skopje bis Ljubljana, durchs ganze Jugoslawien .

Ja, sagt der Priester, alles sei anders geworden, auch die Menschen. Es gäbe, wie überall auf dem Balkan, Wirtschaftsprobleme und drastische Unterschiede zwischen arm und reich. Die Leute, sagt er, glauben in diesen turbulenten Zeiten immer weniger an die Politik und an die Zukunft. Da sei es seine Aufgabe als Priester, sich wenigstens um deren Würde zu kümmern.

Später wird er, etwas leiser, über die Moslems schimpfen, die immer so viele Kinder hätten.

Auf dem Mäuerchen am Kircheneingang sitzen zwei Schuhputzer.

Wenn du ein bisschen improvisierst, dann kannst Du ganz gut leben.

Der eine ist eher derb, der andere wirkt schüchtern. Sie debattieren die Lage. Wenn man Arbeit hat, dann geht’s, meint der Derbe. Der Schüchterne, ein schmaler Mann in Jeansjacke, zweifelt.

Der Staat achtet nur auf seine Interessen, und nicht auf die der einfachen Leute. Der ist schuld daran, dass es keine Arbeit gibt.

18 Er ist 48. Putzt seit 15 Jahren Schuhe. Davor hatte er einen vermeintlich sicheren Job in einer Fabrik für Autobusse – bis er entlassen wurde.

Sie sind zu sechst – seine Frau und er, zwei Kinder und eine Schwiegertochter mit Sohn.

Wenn die Parlamentarier mal an das Volk dächten, würde alles besser werden. Natürlich kann man alle drei, vier Jahre wählen. Aber das Resultat ist immer das Gleiche.

Kundschaft kommt kaum vorbei. Die Straße ist leer. Der Kiosk neben der Kirche verwaist. Gegenüber sitzt eine Bettlerin, ein Baby auf dem Arm.

Der Glaube, sagt auch der Schuhputzer, sei erst jetzt, mit der Ungewissheit, wichtig geworden. Zu jugoslawischen Zeiten habe Religion keine Rolle gespielt.

Noch einmal knapp 200 Kilometer durch Mazedonien bis zur griechischen Grenze.

Früher bin ich in ganz Europa gefahren, jetzt nur noch in Mazedonien. Ich komme grade aus Skopje.

An einer Raststätte, unter einem Sonnenschirm, stehen zwei stämmige kleine Männer, mit runden Schädeln und großen Pranken. Trinken Kaffee und rauchen eine. Lkw-Fahrer. Der eine, Dragan, trägt ein rotes T-Shirt und gewagt gemusterte Shorts. Er ist selbständig, seit 18 Jahren auf der Straße. Sein Kumpel Krstan ist angestellt.

Früher war die Autobahn ganz in Ordnung. Aber dann ist die NATO gekommen mit ihren sehr schweren LKW und hat alles kaputtgefahren. Obwohl - ein bisschen hat sie auch wieder repariert.

Und ganz nebenbei vielleicht verhindert, dass in Mazedonien ein weiterer Krieg ausbrach.Eigentlich wollte er einen neuen LKW kaufen, sagt Dragan und zeigt auf seinen grün-weißen Mercedes-Laster, der ein Stück weiter in der Sonne schmort. Aber das ist derzeit unmöglich.

Auch auf den Staat schimpfen sie, die hohen Gebühren, die miserablen Dienstleistungen. Es sei so enorm schwer geworden, überhaupt noch Geld zu verdienen. Seit Mazedonien unabhängig wurde. Seit all dieser Privatisierungen. 19 Dann drücken sie ihre Zigaretten aus, grinsen fröhlich und schwingen sich in ihre Laster. Winken zum Abschied.

Nur noch eine Stunde bis Thessaloniki. Auch Athen ist schon ausgeschildert. Wir sind am Endpunkt des Autoput, nach gut 1200 Kilometern. Geschafft.

Schlagader des Balkans. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Eine Reise auf dem Autoput. Eine Sendung von Tom Schimmeck. Die Gedichte von Ksenija Herceg Ribic und Bertolt Brecht wurden gelsen von Susanne Reuter. Ton und Technik: Gunter Rose und Beate Braun. Im Namen des ganzen Teams verabschiedet sich am Mikrophon Simonetta Dibbern.

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