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Inhalt Monatsschrift Kinderheilkunde • Band 59 • Supplement  • Januar 2011

Monatsschr Kinderheilkd 2011 [Suppl. 1] 159:1–20 DOI 10.1007/s00112-010-2380-4 © Springer-Verlag 2011

I m Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) – Begleitheft zur Gedenkveranstaltung und Ausstellung der DGKJ

2 Vorwort 3 Editorial Im Gedenken der Kinder. F. Zepp Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit 4 Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) anlässlich der Gedenkveranstaltung am 18. September 2010 in Potsdam 6 „Was habt ihr mit meinem Kind gemacht, das ist ja mein Kind gar nicht mehr! ...“ – Zeitzeugnisse 9 Der Nationalsozialismus als biopolitische Entwicklungsdiktatur – Konsequenzen für die Kinderheilkunde H.-W. Schmuhl 13 Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit – Ausgewählte Tafeln aus der Ausstellung in Potsdam-Babelsberg, 16.09.–19.09.2010 21 Vorschau 21 Impressum

Bildnachweis: Alle Bilder © Institut für Geschichte der Medizin, PD Dr. Thomas Beddies, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften

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Im Gedenken der Kinder

Im vorliegenden Supplement werden Texte und Ebenso gilt unser Dank Prof. Dr. Hans-Walter- Bilder publiziert, die im Rahmen der Ausstellung Schmuhl für seinen Vortrag „Der Nationalsozia- und Gedenkveranstaltung „Im Gedenken der Kin- lismus als biopolitische Entwicklungsdiktatur – der. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern Konsequenzen für die Kinderheilkunde“, Nadja Uhl, in der NS-Zeit“ verlesen und gezeigt wurden. die in beeindruckender Weise aus Originalbriefen Die DGKJ bedankt sich bei allen, die die Konzep- gelesen hat, sowie Mitgliedern des „Orchesters der tion und die Organisation dieser Veranstaltungen Deutschen Kinderärzte“ für die musikalische Um- unterstützt haben. Hier sei vor allem die „Arbeits- rahmung der Gedenkveranstaltung. gruppe Potsdam 2010“ genannt: An dieser Stelle möchten wir auch dem Springer- z PD Dr. Thomas Beddies Verlag und der Redaktion der „Monatsschrift Kin- derheilkunde“, die die Erstellung des Supplements z Dr. Petra Fuchs für die DGKJ ermöglicht haben, ganz herzlich unse- z Prof. Dr. Gerhard Gaedicke ren Dank aussprechen. z Dr. Kristina Hübener Der Vorstand der DGKJ z Dr. Astrid Ley Berlin, Januar 2011 z Dr. Gudrun Noleppa VORWORT Kontaktadresse: z Prof. Dr. Lothar Pelz Deutsche Gesellschaft für Kinder- z Prof. Dr. Michael Radke und Jugendmedizin (DGKJ) z Wolfgang Rose, MA Chausseestr. 128/129, 10115 Berlin z Werbefotografie Wolfgang Chodan [email protected]

Freier Online-Zugang zu dem Supplement „Im Gedenken der Kinder“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin Greifen Sie in unserem Onlinearchiv kostenlos auf alle Beiträge dieses Supplements zu. www.MonatsschriftKinderheilkunde.de 2 | Notfall + Rettungsmedizin 7 · 2010 Im Gedenken der Kinder

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Sonderheft fasst Ergebnisse einer zur Ermordung kranker und behinderter alle, die sich mit diesem grauenvollen langjährigen kritischen Auseinanderset- Kinder. Mehr als 10.000 Kinder und Ju- und bedrückenden Thema befasst haben. zung der Deutschen Gesellschaft für Kin- gendliche fielen bis 1945 den Programmen Hans-Walter Schmuhl geht in seinem Bei- der- und Jugendmedizin (DGKJ) mit der zur Vernichtung sogenannten „lebensun- trag „Der Nationalsozialismus als biopoli- Verwicklung der Kinderheilkunde und werten Lebens“ zum Opfer. In vielen Fäl- tische Entwicklungsdiktatur“ (S. 9 ff.) dem ihrer Repräsentanten in die Verbrechen len waren es Kinderärzte und Kinderärz- Werdegang einiger prominenter Kinder- der Kinder-„Euthanasie“ in der NS-Zeit tinnen, die die Kinder im Namen der Wis- ärzte nach. zusammen. senschaft meldeten, begutachteten, in Ex- Die Briefe von Eltern, deren Kinder in Schon seit vielen Jahren befasst sich perimenten benutzten und töteten. Diese „Kinderfachabteilungen“ untergebracht die DGKJ mit der Aufarbeitung ihrer Ge- Ver brechen fanden im Zentrum des ge- wurden (S. 6 f.), sprechen von Sorge und schichte während der Zeit des National- sellschaftlichen Lebens in Deutschland Trauer, teils von Misstrauen gegenüber sozialismus. Die 1984 gegründete Histori- statt, in Arztpraxen und Krankenhäu sern, den Institutionen, aber auch von offener sche Kommission hat diese Aufgabe mit staatlichen Ämtern und wissenschaftli- Dankbarkeit für die Tötung des Kindes, großer Ernsthaftigkeit vorangetrieben, chen Institu ten. das als Belastung für Familie und Volk entscheidende Beiträge geleistet und wich- Im September 2010 veranstaltete die empfunden wurde. tige Impulse gegeben. Bereits 1998 hat sich DGKJ auf ihrer Jahrestagung in Potsdam Die Abbildungen und Fotos, die die- die DGKJ in der „Dresdner Erklärung“ 1 eine zentrale Gedenkveranstaltung zur ses Sonderheft begleiten, entstammen mit der Gleichschaltung der Kinderheil- Erinnerung an die Opfer der NS-Medi- der Ausstellung „Im Gedenken der Kin- kunde im Nationalsozialismus befasst. zinverbrechen an Kindern. Vor den 800 der. Die Kinderärzte und die Verbrechen Dabei ging es um das Schicksal hunder- Teilnehmern der Gedenkfeier wurde eine an Kindern in der NS-Zeit“. Die Bildtafeln ter jüdischer Kinderärzte zwischen 1933 Erklärung verlesen, die die Aner kennung stellen die politischen, wirtschaftlichen und 1945, die auch unter Mitwirkung ihrer von Schuld und die Mitwirkung von Kin- und sozialen Dimensionen der NS-Me- Kolleginnen und Kollegen ausgegrenzt derärzten und -ärztinnen an den NS- dizinverbrechen dar, sie geben aber auch und vertrieben wurden. Die persönlichen Medizinverbre chen festhält (s. S. 4 f.). berührende Einblicke in das kurze Leben Schicksale, die häufig in den NS-Konzen- Die Erklärung der DGKJ bekräftigt von Kindern, die der Gesellschaft „lebens- trationslagern endeten, wurden nachge- auch die Selbstverpflichtung der Wissen- unwert“ waren. zeichnet und dokumentiert.2 schaft, ihre Grenzen in den unverzichtba- Diese Vergangenheit der Kinderheil- Anlass und Auftrag für die DGKJ, sich ren Rechten und der unan tastbaren Wür- kunde in Deutschland wird niemals „Ge- erneut mit der Rolle der Kinderheilkun- de jedes einzelnen Menschen zu sehen. schichte sein“ im Sinne eines abgeschlos- de im Nationalsozialismus zu befassen, ist Die DGKJ appelliert zudem an alle For- senen, düsteren Kapitels der Historie – die das Gedenken an die ab 1940 aufgebauten scher und Wissenschaftler, sich jedweder Opfer dieser Verbrechen dürfen nie ver- sogenannten „Kinderfachabteilungen“ Form von Mitläufertum und Meinungs- gessen werden. konformismus entgegenzustellen. Der Frage, wie und warum Kinderärz- 1 Monatsschrift Kinderheilkunde, Mai 1999, tinnen und -ärzte zu Tätern der NS-Me- 147. Band, Suppl. 1. 2 Eduard Seidler: Jüdische Kinderärzte dizinverbrechen wurden, wie sie ihr Han- 1933–1945. Entrechtet – Geflohen – Ermordet. deln rechtfertigten und nach 1945 unan- Prof. Dr. Fred Zepp Erweiterte Neuauflage Basel/Freiburg 2007. getastet weiter praktizierten, bewegt wohl Präsident der DGKJ

Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 | 3 Im Gedenken der Kinder

Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) anlässlich der Gedenkveranstaltung am 18. September 2010 in Potsdam

Meine Damen und Herren,

im Jahr 2008 feierte die Deutsche Gesell- hat international höchstes Lob und Wür- sätzlich getäuscht: Sie gaben ihre Kinder schaft für Kinder- und Jugendmedizin ihr digung erfahren. häufig in der Hoffnung auf eine moderne, 125-jähriges Bestehen. Unsere wissenschaft- In Anerkennung der Tatsache, dass Erfolg versprechende Behandlung in die liche Fachgesellschaft hat gegenwärtig über lan ge – zu lange – nichts zur Aufklärung Hände der Täter. Mehr als 10.000 Kinder 14.000 Mitglieder, mehr als die Hälfte von der Rolle der Kinderärzte in der NS-Zeit und Jugendliche wurden bis zum Ende des ihnen sind jünger als 45 Jahre, also mehr als unternommen wurde und dass auch unse- Zweiten Weltkriegs Opfer der verschiede- 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Welt- re Fachgesellschaft sich erst spät ihrer Ver- nen Programme zur Vernichtung sog. „le- kriegs geboren. antwortung in dieser Frage gestellt hat, bensunwerten Lebens“; viele von ihnen Vielleicht liegt in dieser Altersstruktur unternehmen wir jetzt einen zweiten be- wurden von Kinderärzten an politisch in- ein Grund dafür, dass – nach einer langen deutsamen und schwierigen Schritt zur doktrinierte, staatliche Gesundheitsbehör- Phase kollektiver Verdrängung – in der zu- Aufarbeitung der Geschichte der deut- den gemeldet, begutachtet, für Experimen- rückliegenden Dekade auf den Jahresta- schen Kinderheilkunde in den Jahren zwi- te herangezogen und getötet. (Anm.: Sie gungen unserer Gesellschaft gleich meh- schen 1933 und 1945. finden diese Tatsachen in der Ausstellung rere gut besuchte und erfolgreiche wissen- Wir gedenken der minderjährigen „Im Gedenken der Kinder“, die hier ab S. 13 schaftliche Symposien zum Thema „Kin- Opfer des menschenverachtenden Pro- dokumentiert ist.) Die in den zurücklie- derheilkunde und Nationalsozialismus“ gramms von „Auslese und Ausmerze“ der genden Jahren erarbeiteten wissenschaft- stattfinden konnten. Und besonders die NS-Medizin, an dem auch Kinderärztin- lichen Befunde konfrontieren uns mit der 1998 in Dresden durchgeführte Gedenk- nen und Kinderärzte beteiligt waren. Tatsache, dass auch Kinderärzte die kör- veranstaltung für rassisch und politisch Wir gedenken der Kinder und Jugend- perliche Unversehrtheit ihrer Patienten verfolgte Pädiater in der NS-Zeit kann als lichen, die aus der so genannten Volksge- missachtet und sie für politisch motivier- markantes Ereignis in einem noch andau- meinschaft ausgegrenzt, asyliert und ste- te Interessen missbraucht haben. Es wa- ernden Prozess der Bewältigung des „Na- rilisiert wurden, die für Menschenver- ren Ärzte, die über die ihnen anvertrau- tionalsozialismus in der Kinderheilkunde“ suche missbraucht und zu Tausenden in ten Kinder die Todesurteile fällten, ihnen verstanden werden: Der Auftrag, eine Do- die Kranken-Mordaktionen des Zweiten tödliche Dosen von Luminal verabreich- kumentation möglichst aller nach 1933 ver- Weltkriegs einbezogen wurden. Es han- ten. Es waren Ärzte, die zusahen, wie vie- folgten, vertriebenen und ermordeten kin- delte sich um kranke und behinderte Jun- le Kinder in den „Kinderfachabteilungen“ derärztlichen Kolleginnen und Kollegen gen und Mädchen, die von Ärzten und Er- verhungerten. Rechtliche Konsequenzen zu erarbeiten, erging seinerzeit vom Vor- ziehern nicht als Patienten oder als schutz- hatten sie in dieser Zeit nicht zu fürchten. stand und von der Mitgliederversamm- befohlene Heimzöglinge behandelt wur- Wir bekennen die geistige Miturheber- lung der Deutschen Gesellschaft für Kin- den, sondern für fragwürdige Experi- schaft und das aktive Mittun von Kinder- der- und Jugendmedizin. Die pub lizierte mente missbraucht, deportiert und um- ärztinnen und Kinderärzten an diesen Ver- Dokumentation konnte inzwischen in er- gebracht wurden. Dabei wurde gleichzei- brechen; wir beklagen darüber hinaus jede weiterter Form neu aufgelegt werden1 und tig die allzeit bestehende Abhängigkeit des Form von Mitläufertum und Meinungs- Kindes vom Erwachsenen, also der Ver- konformismus, ohne die das Regime nicht trauensvorschuss, den das Kind zu ge- hätte funktionieren können und die es den 1 Eduard Seidler: Jüdische Kinderärzte währen gezwungen ist, durch Ärzte und Tätern erst möglich machte, ihre Verbre- 1933–1945. Entrechtet – Geflohen – Ermordet. Pfleger in gröbster Weise verraten. Auch chen durchzuführen. Verbrechen, die ja Erweiterte Neuauflage Basel/Freiburg 2007. die Eltern und Angehörigen wurden vor- nicht im Ungewissen ferner Landstriche

4 | Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 und besetzter Gebiete, sondern in der Mit- keine Zielvorgaben in der Forschung und te des gesellschaftlichen Lebens und mitten in der Betreuung von Patienten geben, die in Deutschland in Arztpraxen und Kran- als so wichtig und hochrangig angesehen kenhäusern, staatlichen Ämtern und wis- werden können, dass sie die Missachtung senschaftlichen Instituten stattfanden. individueller Menschenwürde und Men- Zweifellos ist es schmerzlich, geschicht- schenrechte rechtfertigen. Wissenschaft liche Tatsachen rückhaltlos offen zu legen findet ihre Grenzen in den unverzichtba- und Licht in das Dunkel der eigenen Ver- ren Rechten und der unantastbaren Wür- gangenheit zu bringen. Die Wahrheit an- de jedes einzelnen Menschen. Davon sind zunehmen, Schuld zu bekennen und sich Kinder und Jugendliche nicht ausgenom- dieser Verantwortung zu stellen, ist aber men. gleichzeitig, so hoffen wir, eine angemes- Der Nationalsozialismus hatte Ärzte sene Art der Entschuldigung bei den Op- und Forscher weitgehend von ihrer Ver- fern und ihren Angehörigen, von denen antwortung gegenüber ihren Patien- nicht wenige noch heute unter den Folgen ten entbunden, indem er scheinbar hö- der historischen Ereignisse leiden. here Werte und politische Interessen des Wir können dieses Leid nicht löschen, Volksganzen in den Vordergrund stell- aber wir können uns dessen bewusst wer- te. Wir haben uns der Tatsache zu stel- den und dürfen nicht aufhören, uns mit len, dass viele Kinderärztinnen und Kin- der Vergangenheit zu beschäftigen und derärzte nicht die Kraft aufbrachten, den nach Wegen der Aufarbeitung zu suchen. Versuchungen zu widerstehen. Sie haben Erste Schritte sind mit Beginn der syste- damit sich und der deutschen Kinderheil- matischen Bearbeitung der NS-Vergan- kunde schwerste Schuld aufgeladen. genheit getan, und so stellt sich die Deut- Wir verneigen uns heute in Demut vor sche Gesellschaft für Kinder- und Jugend- den Opfern und ihren Angehörigen und medizin dieser Aufgabe. bitten im Namen der Deutschen Gesell- Wir müssen uns vor allem dafür ein- schaft für Kinder- und Jugendmedizin setzen, dass Ausgrenzung, Angriffe auf um Verzeihung für das Leid, das Kinder- die Menschenwürde und menschenver- ärztinnen und Kinderärzte ihnen in dieser achtende Ideologien in unserer Gesell- Zeit zugefügt haben. schaft keine Chance mehr erhalten. Meine Damen, meine Herren! Potsdam, 18. September 2010 Jeder Wissenschaft und insbesondere den biowissenschaftlichen und medizini- Prof. Dr. Fred Zepp schen Disziplinen gehören klare ethische Präsident der Deutschen Gesellschaft und rechtliche Grenzen gesetzt. Es darf für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)

Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 | 5 Im Gedenken der Kinder

„Was habt ihr mit meinem Kind gemacht, das ist ja mein Kind gar nicht mehr! ...“ – Zeitzeugnisse

Bei den nachfolgend abgedruckten Do- hier allgemeines Stadtgespräch. Kenne vier Brief 3 kumenten handelt es sich ganz über- Kranke, wo auch so plötzlich gestorben Der Direktor der Universitäts-Kinder- wiegend um Briefe von Eltern, deren sind (...). Der alte Gott, er lebt noch. Bitte klinik Heidelberg, Prof. Dr. Johann Kinder in die Maßnahmen zur Vernich- Herrn Direktor (um) Diskussion über mein Duken, an einen Vater (Juli 1942): tung „lebensunwerten“ Lebens einbe- Schrei ben, bin so aufgeregt. „Heute morgen habe ich die Nachricht zogen wurden oder einbezogen wer- Herzliche Grüße nebst Pflegerinnen“ von Herrn Prof. Schneider erhalten, daß den sollten. am Freitag Ihr Kind in eine andere Anstalt Das Spektrum der Reaktionen reicht von Brief 2 verlegt wird. (Anm.: „andere Anstalt“ war unverhohlener Zustimmung über resig- Eine Mutter, die ihr Kind in der Psychia- die Tarnbezeichnung für die Verlegung in nierende Hinnahme bis zur bitteren Kla- trischen und Nervenklinik der Berliner eine Tötungsanstalt.) ge über die Behandlung und Ermordung Charité vorgestellt hatte, schreibt im No- Sie werden von dort aus näheren Be- der Kinder. vember 1941 an die dortige Fürsorgerin: scheid erhalten. Ich möchte Ihnen in diesem Selbstverständlich verbietet sich aus der „Liebes Fräulein Pederzani! Augenblick raten, Ihrer Gattin zunächst gar ausschließlichen Lektüre der hier isoliert Nun sind wir schon wieder eine Woche nichts zu sagen, damit sie dann einfach eines wiedergegebenen Texte eine wertende zu Hause, wie schnell doch die Zeit vergeht Tages vor der festen Tatsache steht. Sollten Beurteilung im Einzelfall. Spürbar wer- bei diesen kurzen Tagen. Die Reise ist ganz für Sie selbst irgendwelche Fragen auftau- den aber in vielen Briefen wie auch in gut verlaufen und die Zahnwunden bei chen, so bitte ich Sie, mich anzurufen. der zusammenfassenden Betrachtung unserem Rolf sind schon gut verheilt. Ich benutze diese Gelegenheit (Ihnen) der Dokumente, die Nöte und Schreck- Ich kann es noch immer gar nicht fassen, und ganz besonders Ihrer Gattin, von Her- nisse, denen man die Angehörigen mit dass er sich nun so weiter abquälen muß in zen alles Gute für die Zukunft zu wün- der Zumutung der Preisgabe ihrer Kin- seinem Leben, und weil er trotzallem so ein schen. Möchte der Kummer sich bald ver- der aussetzte. sonniges Gemüt hat, werde ich es wohl nie ziehen und dann der Raum für neues Wer- übers Herz bringen, ihn in eine Anstalt zu den frei werden! Brief 1 tun. Mit den besten Empfehlungen und Heil Eine Pflegemutter aus schreibt Hoffentlich erleben wir es mal noch, Hitler“ im Oktober 1940 an den Leiter der „Er- dass eine Ärzte-Kommission gegründet ziehungs- und Pflegeanstalt für Geistes- wird, die über das Leben solcher Unheil- Brief 4 schwache Mosbach/Schwarzacher Hof“: barkranken mit der Erlösung entscheidet, Ein Vater schreibt an den Chefarzt der „Geehrter Herr Direktor! zum Segen der Kranken selbst und auch für städtischen Nervenklinik für Kinder in Ihre so herzliche Teilnahme an dem die Angehörigen. (...) ich danke Ihnen und Berlin-Wittenau: Heimgang meiner lieben Elfriede habe ich Ihren Helferinnen für Ihre Liebe und Güte, „Im Felde Nordfront, den 3. Dezember dankend erhalten. Todesursache angeblich die sie uns entgegenbrachten. 1942. Betrifft: Rosemarie K. (...) Durch die Krampf, aber ich bin anderer Meinung, das Freundliche Grüße für alle auf Station 7 Zeilen meiner Frau habe ich erfahren das Gesetz, das vor Jahren geplant, ist zur Aus- und Heil Hitler“ mein Kind Rosemarie (...) vom Rittberg- führung gekommen. Haus Bln.-Lichterfelde nun in Ihre Klinik Die armen kranken Menschen, wie das überwiesen ist. Ich wende mich nun an Sie Vieh zum Schlachthof geführt (...). Das ist mit der Bitte mir ein ärztliches Attest über ja ein Massensterben, fällt doch auf, ist den Zustand meiner Tochter Rosemarie zu

6 | Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 Brief 2: Originalbrief 29.11.1941 (Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Geschichte der Medizin, Berlin)

Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 | 7 senden. Bitte aber mir tatsächlich das mit- ten. Als Soldat, einberufen 1914/18 von An- Kind dort wegholt wird und mir einfach die zuteilen wie es nun auch für später um mei- fang bis Ende, mit Auszeichnung, verwun- Asche zugeschickt wird? Gewiß es geschehen ne Tochter gestellt ist. Ich als Frontsoldat ha- det, Führung gut und unbestraft. heute noch andere Dinge. Aber zu der Sorge be seit 1939 viel hinter mir und bin alles ge- Seit 1. September 1939 stehe ich ebenfalls um meinen Mann und der vielen Arbeit, die wöhnt. Als SS Angehöriger kann ich mich wieder für Volk und Führer unter Waffen. auf mir ruht, kommt dann noch dieser quä- nicht von dem Gedanken lösen, daß solch Heil Hitler“ lende Gedanke: Was geht jetzt mit dem Kin- ein Kind dem Staat eine ungeheure Last ist de vor, wo werden sie es hintun? Könnten Sie und das Pflegepersonal jetzt, wo wir im tota- Brief 6 das Kind nicht nach Heidelberg in die Klinik len Krieg stehen, meinen verwundeten Ka- Eine Mutter an die Oberärztin der Heil- holen und es dort einschlafen lassen?“ meraden zu gute kommen kann. Bin selbst und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden 2 mal verwundet und weiß, was eine Schwes- vom November 1943: Brief 8 ter für uns im Lazarett bedeutet. „Sehr geehrte Frau Doktor Pusch! 1984 berichtet eine Mutter im Rahmen Habe jetzt ein Gesuch an meinen Batail- Schrecklich beeindruckt hat mich der eines Ermittlungsverfahrens von dem lons-Kommandeur geschrieben um Urlaub, Besuch am letzten Mittwoch bei meinem Wiedersehen mit ihrer damals siebenjäh- um das alles, was mich als SS Mann be- Söhnchen Hans-Dieter (...). Tief erschüttert rigen Tochter in der Psychiatrischen Uni- schäftigt, zu regeln und schließlich ein sanf- trat ich meinen Heimweg an und aus die- versitätsklinik Heidelberg im Herbst 1944: tes Entschlafen zu erwirken. Brauche dazu sem Gefühl heraus und um die Sorge um „Meine Tochter hat auf mich fast nicht aber das verlangte Attest, um Unterlagen mein Kind muß ich Ihnen heute schreiben reagiert. Ich war fassungslos, wie abgema- zwecks Urlaub zu haben. Auch will ich mei- und Sie bitten mir ganz offen und ehrlich zu gert und apathisch mein Kind war. Ich nahm ner Frau das alles leichter machen den Ab- sagen, wie es mit meinem Kind steht. Ent- meine Tochter in den Arm und heulte los. schied vom Kinde. setzt war ich, wie sehr sich das Kind in ver- Ich rief: „Was habt Ihr mit meinem Kind ge- Heil Hitler“ hältnismäßig kurzer Zeit verändert hat und macht, das ist ja mein Kind gar nicht mehr!“ verfallen war. Ich bin stark genug, die volle (...) Ich habe in meiner Erregung weiter ge- Brief 5 Wahrheit zu verstehen und zu tragen. Wenn äußert: „Wer hat das Recht, mir das Kind Brief eines Vaters, der als Soldat in Frank- Sie als Ärztin ja ihre Kranken auch mit an- zu nehmen – Ihr laßt es ja verhungern!“ (...). reich steht, an die Direktion der Landes- deren Augen sehen, so nehme ich an, daß sie Die Ordensschwester sagte zu mir, ich heilanstalt Hadamar (März 1943): aber auch mich als Mutter verstehen, die ihr müsse schnell handeln und alles versuchen, „Von der Heil- und Pflegeanstalt Scheu- Kind liebt und besonders wenn es so leiden daß ich das Kind wiederbekomme, ehe es ern (...) habe ich Nachricht erhalten, daß muß. Ich vergesse nie die unsagbar trauri- zu spät sei. mein Kind Willi in Ihre Anstalt verlegt gen Augen und das Gesichtchen wie ein klei- Bei zwei weiteren Besuchen findet die wurde. Ein Päckchen mit Keks und Bon- ner Greis. (...) Es ist doch so für das Kind und Mutter das Kind in noch schlechterem bons wird ihn nicht mehr lebend erreicht auch für mich als Mutter, die ich schon recht Zustand vor. Schließlich kann sie die Ent- haben. Ich erhielt von meiner Frau die bit- viel seelische Kummer und Leid (mit)ge- lassung durchsetzen: tere Nachricht, daß mein Kind bereits zur macht habe, eine Qual. Die Schwestern schienen mir bereits vor- letzten Ruhe gebettet ist. (...) Ich bitte Sie also nochmals herz- bereitet gewesen zu sein und auch froh, daß So habe ich mir den Heimgang meiner lichst, mir baldmöglichst Nachricht zu ge- sie mir das Kind übergeben durften. (...) Ich Kinder nicht vorgestellt. Mein Kind verließ ben, was sie von Dieters Krankheit halten, hatte für Renate neue Kleider mitgebracht, die Anstalt Scheuern bei Wohlbefinden. In- sind es nun nur die Versuche, die ihn jetzt die ihr auf der Station angezogen worden nerhalb von 8 Tagen krank, tot, beerdigt, so schnell abfallen ließen oder geht es mit sind. Mir wurde Renate ins Besuchszim- ohne daß ich eine Ahnung davon habe. Ich ihm rapide zu Ende? (...)“ mer gebracht. Sie konnte nicht mehr lau- könnte es begreifen vor eine solche bittere fen. Ich wickelte sie in eine Decke und trug Tatsache gestellt zu sein, bei meinem ältes- Brief 7 sie auf den Armen aus der Klinik. (...) Ich ha- ten Sohne, als Soldat, er steht an der Ost- Eine Mutter, deren Tochter in der Anstalt be meine Tochter zu Hause langsam wieder front, war schon 2 mal verwundet. „Schwarzacher Hof“ lebte, schreibt im Ju- aufpäppeln müssen. Nach ein paar Wochen Ich stehe kurz vor meinem Urlaub und li 1944 an die Psychiatrische Universitäts- konnte sie wieder laufen und freudige Reak- hätte auf eine Nachricht von Ihnen in die- klinik in Heidelberg: tionen zeigen. sem Falle, den Urlaub sofort antreten kön- „Es wurde mir bekannt, daß Erika in Sie lebt heute in der Heil- und Pflege- nen. Es war meine Absicht das Kind heim- eine andere Anstalt verlegt werden soll. Was anstalt Stetten.“ zuholen. In der Anstalt Scheuern war ich das heißt, weiß ich. Mein heißer Wunsch mit der Unterbringung zufrieden. Bei Ih- wäre, das arme Kind möchte seine Ruhe ha- Zusammenstellung und Bearbeitung: nen hätte ich mich erst überzeugen müssen. ben, daß es aber für eine Mutter sehr hart ist PD Dr. Thomas Beddies Ich kann mich nicht damit abfinden, mir zu wissen, auf welche Art es geschieht, dür- Charité – Universitätsmedizin Berlin Zentrum für Human- und Gesundheits- kommt es vor, als wenn mein Kind behan- fen Sie mir glauben. Könnte man das Kind wissenschaften delt worden wäre wie erblich belastet oder nicht dort einschlafen lassen, wo seine zwei- Institut für Geschichte der Medizin wie das Kind eines Trinkers. Ich verwahre te Heimat war und ich mir das Kind dann Historische Kommission der DGKJ mich dagegen. Im Privatleben unbeschol- heimholen könnte? Muß es so sein, daß das

8 | Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 Im Gedenken der Kinder

Der Nationalsozialismus als biopolitische Entwicklungs- diktatur – Konsequenzen für die Kinderheilkunde Vortrag von apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl anlässlich der Gedenk veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) am 18. September 2010 in Potsdam

Am 5. Januar 1944 schrieb Prof. Jussuf Ibra- rahims vor, die offen „Euthanasie“ vor- ab. Er wollte, dass der Krankenmord – frei him, Professor für Kinderheilkunde und schlagen. 1943 hatte sich Dr. Herbert Lin- von allen bürokratischen Hindernissen Direktor der Universitätskinderklinik in Je- den, der als „Reichsbeauftragter für Heil- und juristischen Einschränkungen – im na, einen kurzen Brief an Dr. Gerhard und Pflegeanstalten“ eine zentrale Rol- rechtsfreien Raum stattfand. Die „Euthana- Kloos, den Leiter der Thüringer Landes- le im „Euthanasie“-Apparat spielte, beim sie“ blieb daher bis 1945 nach dem Gesetz in heilanstalten Stadtroda. Es ging um einen Rektor der Universität Jena beschwert, Deutschland strafbar. Kein Arzt konnte ge- zwei Jahre alten Jungen, den Ibrahim ver- dass die Jenaer Kinderklinik immer wie- zwungen werden, sich daran zu beteiligen, mutlich in der ambulanten Sprechstunde der Vermerke wie „Euthanasie beantragt“ und die Organisatoren hüteten sich, Druck untersucht hatte. Das geistig behinderte oder „Die beantragte Euthanasie ist noch auf die Mediziner auszuüben. Sicher: Es Kind litt an schweren Krämpfen. Ibrahims nicht bewilligt“ in die Krankengeschich- bestand eine Meldepflicht für Kinderärzte, Empfehlung: „Offenbar aussichtslose Zu- ten eintrage.1 Das war heikel, weil die Geburtshelfer und Hebammen. Sie hatten kunft. Vielleicht könnte er bei Ihnen eine Kinder-„Euthanasie“ als geheime Reichs- behinderte Säuglinge und Kleinkinder den nähere Beobachtung und Beurteilung fin- sache eingestuft war und nicht an die Öf- Gesundheitsämtern anzuzeigen, welche die den. Euth.?“ Tatsächlich wurde das Kind fentlichkeit dringen sollte. Meldungen an die „Euthanasie“-Zen trale am 9. Februar 1944 in die von Kloos geleite- Es ist zu betonen, dass die Zuarbeit Ib- weiterleiteten. Die Meldepflicht wurde je- te „Kinderfachabteilung“ aufgenommen. rahims auf freiwilliger Basis erfolgte. Es gab doch nicht allzu streng eingehalten, und Was bedeutete das? Stadtroda war Teil eines keine gesetzliche Grundlage, die ihn dazu die „Euthanasie“-Zentrale hatte wegen des Netzwerks von etwa dreißig „Kinderfach- verpflichtet hätte. Den Entwurf zu einem konspirativen Charakters ihrer Organisa- abteilungen“, in denen zwischen 1939 und „Gesetz über Sterbehilfe“, das der medizi- tionsstruktur auch kaum Zwangsmittel zur 1945 zwischen 5.000 und 10.000 Säuglinge, nische Expertenstab der „Euthanasie“-Ak- Hand, um die Meldepflicht durchzusetzen. Kinder und Jugendliche ermordet wurden. tion ausgearbeitet hatte, lehnte Hitler 1940 Aber Ibrahims Kontakte folgten ohne- Auch der kleine Junge, den Ibrahim über- hin nicht dem bürokratischen Procedere: wiesen hatte, überlebte die „Kinderfachab- 1 Renate Renner/Susanne Zimmermann, Prof. Er ergriff von sich aus die Initiative und teilung“ nicht. Ende Mai erkrankte er – den Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie, nahm auf direktem Weg – von Kollege zu in: Ärzteblatt Thüringen 14 (2003), H. 7/8, S. 522- Eintragungen im Krankenblatt zufolge – Kollege – Kontakt zu Kloos auf. Und er 525, 597-599 (Zitate: S. 522, 597); dies., Der Jena- an einem fieberhaften Darminfekt. Das er Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877-1953) und die beschränkte sich nicht darauf, den Fall zu Kind starb am 2. Juni 1944, als Todesursa- Tötung behinderter Kinder während des Natio- melden, er deutete von sich aus die Mög- che wurde „Herz-Kreislaufschwäche“ ver- nalsozialismus, in: Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Oli- lichkeit der „Euthanasie“ an – das wog merkt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ver Lemuth/Rüdiger Stutz (Hg.), „Kämpferische schwer angesichts der Autorität Ibrahims Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im bei seinem Tod „nachgeholfen“ wurde – Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003, S. 437-451; auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Sei- und sei es auch nur durch Unterlassen. Susanne Zimmermann, „Euthanasie wäre durch- ne aktive Rolle innerhalb des Tatgesche- Es war nicht der erste und nicht der aus zu rechtfertigen …“. Der Jenaer Professor hens ist hervorzuheben – und es handelte einzige Fall dieser Art. Zwischen 1941 und Jussuf Ibrahim und die NS-Kindermorde, in: sich hier, wie die jüngere Forschung zeigt, 1945 wurden nachweislich sieben Kin- Ralf Forsbach (Hg.), Medizin im „Dritten Reich“. keineswegs um einen Einzelfall. Humanexperimente, „Euthanasie“ und die der aus der Jenaer Universitätskinderkli- Debatten der Gegenwart, u.a. 2006, Man muss sich klarmachen, dass die nik nach Stadtroda überwiesen, die dort S. 81-98. Vgl. jetzt auch: Sandra Liebe, Prof. Dr. „Euthanasie“ auf eine solche freiwillige Zu- auch zu Tode kamen. In zwei Fällen lie- med. Jussuf Ibrahim (1877-1953). Leben und arbeit aus den Reihen der Ärzteschaft ange- gen handschriftliche Überweisungen Ib- Werk, Diss. Universität Jena 2006. wiesen war. Ein dichtes Netzwerk kollegia-

Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 | 9 ler Kontakte lieferte Hinweise auf Säuglin- Doch auch diese Begriffsbestimmung, so bestand auf eine zahlreiche, gesunde und ge, Kinder und Jugendliche, die dann in die schränkte Conti ein, sei noch zu eng gefasst, leistungsstarke Nachkommenschaft ange- „Kinderfachabteilungen“ verlegt wurden. „da sie nur die heutige, gegenwärtige Gene- wiesen seien. Und der Bedeutungszuwachs Ohne die mittelbare Beteiligung einer Viel- ration“ bezeichne. Der Begriff „Volk“ um- der deutschen Kinderheilkunde nach dem zahl von Ärzten hätte der Vernichtungsap- fasse aber auch die dahingegangenen und verlorenen Ersten Weltkrieg, die Anerken- parat längst nicht so effektiv arbeiten kön- vor allem die kommenden Generationen. nung als Spezialdisziplin mit einer drei- nen. Die Frage nach den Motiven für diesen Daraus leitete Conti als Aufgabe des Staates jährigen Ausbildungszeit Mitte der 1920er vorauseilenden Gehorsam ist nicht leicht zu ab, die Rahmenbedingungen dafür zu Jahre, hing eng mit der Erwartung zusam- beantworten. Politischer Druck, ängstliche schaffen, dass sich das Volk „von Genera- men, die Kinderheilkunde werde die „Wie- Anpassung, beruflicher Ehrgeiz, ideolo- tion zu Generation kraftvoller und schöner deraufforstung des deutschen Volksbestan- gische Indoktrinierung – das alles mag in erneuern“ könne. Diese Staatsaufgabe zer- des“3 beschleunigt vorantreiben. Das war dem einen oder anderen Fall eine Rolle ge- falle in zwei Gebiete, die „Erbgesundheits- ein Pfund, mit dem die Pädiatrie auch nach spielt haben. Entscheidend war es sicher pflege“ und die „Anlageförderung“. Die 1933 wuchern konnte. Dass sich nun die Ge- nicht. Dazu sind die Quellen, die bei den eine forme das „Erbbild“, die andere das wichte zunehmend von der kurativen zur an der NS-„Euthanasie“ mittelbar oder un- „Erscheinungsbild des Volksgenossen“.2 präventiven Medizin, vom kranken zum mittelbar beteiligten Ärzten auf ein hohes Es war von vornherein klar, dass inner- gesunden Kind verschoben, wurde dabei Maß an Zustimmung, ja Begeisterung hin- halb einer solchen biopolitischen Entwick- als Chance, nicht als Risiko begriffen. Kin- deuten, zu zahlreich. Handlungsleitend war lungsdiktatur der Medizin eine Schlüssel- derheilkunde sollte um eine „Jugendmedi- in vielen Fällen eine regelrechte Aufbruch- stellung zugewiesen würde – und dass sich zin“ erweitert und zur „ärztlichen Jugend- stimmung, das Hochgefühl, an einem so- der Kinderheilkunde im „Dritten Reich“ kunde“ fortentwickelt werden. Dr. Wilfried zialsanitären Großprojekt von welthistori- ganz neue Perspektiven eröffneten: etwa Zeller, Schularzt in Berlin-Tiergarten, be- scher Bedeutung beteiligt zu sein. Um dies auf dem Feld der Vorbeugung, der syste- schrieb 1936 das erweiterte Aufgabenspek- verstehen zu können, müssen wir uns zu- matischen Reihenuntersuchungen von Kin- trum des künftigen „Jugendarztes“ mit den nächst die besondere Signatur jenes Mas- dern und Jugendlichen, der Gesundheits- beiden Begriffen „Gesundheitspflege“ und senmordes an psychisch kranken und geis- erziehung und Gesundheitsführung der Ju- „Gesundheitsführung“ der Jugend: „Ge- tig behinderten Menschen vergegenwärti- gend, der Körperertüchtigung, des Kampfes sundheitspflege bedeutet: Bewahrung vor gen, den das nationalsozialistische Regime gegen Alkohol und Nikotin, der Sexualhy- Krankheit und körperlichem Schaden, Ge- vor dem Hintergrund des Zweiten Welt- giene und des Kampfes gegen Geschlechts- sundheitsführung dagegen: Steigerung der krie ges ins Werk setzte. krankheiten. Das bedeutete – über die tradi- Gesundheit zu höheren Stufen des Gesund- Man kann den Nationalsozialismus mit tionellen Tätigkeitsbereiche der Säuglings- seins. Denn wie in dem Begriff ‚krank’ al- guten Gründen als eine biopolitische Ent- und Kleinkinderfürsorge, der Behandlung le möglichen Steigerungsgrade des Krank- wicklungsdiktatur auffassen, die darauf ab- von Infektionskrankheiten und Ernäh- seins ausgedrückt werden können, so um- zielte, die Kontrolle über Geburt und Tod, rungsstörungen hinaus – ei ne Ausweitung fasst der Begriff ‚gesund’ neben der farblo- Sexualität und Fortpflanzung, Körper und der Kinderheilkunde auf neue Praxis- und sen Bedeutung ‚nicht krank’ alle Stufen im- Keimbahn, Variabilität und Evolution an Forschungsfelder, die Erweiterung der pä- mer besserer Gesundheit, das heißt, gestei- sich zu bringen, den Genpool der Bevölke- diatrischen Zuständigkeit auf Jugendliche gerter Widerstands- und Leistungsfähig- rung von allen unerwünschten „Beimi- bis zur Geschlechtsreife und eine Expan- keit.“ 4 Gesundheit als dynamischer Begriff, schungen“ zu „reinigen“ und auf diese Wei- sion des Kompetenzbereichs der Pädiater den man immer enger und damit das eigene se einen homogenen „Volkskörper“ zu gegenüber den Schulärzten und den Ärz- Arbeitsgebiet immer weiter fassen konnte – schaffen. „Volkskörper“ – das ist der Schlüs- ten des Gesundheitsdienstes der Hitlerju- dies schien der Pädiatrie immer neue Felder selbegriff nationalsozialistischer Biopolitik. gend. Diese Perspektive war für die Pädia- der Prophylaxe, der Sozialhygiene, der Ge- Für Dr. Leonardo Conti etwa, der seit 1939 ter und die Pädiatrie eine Verführung, zu- sundheitserziehung zu eröffnen. als „Reichsgesundheitsführer“ an der Spit- mal sie sich mit eigenen Zielvorstellun- Die Risiken dieses Ansatzes wurden ze der staatlichen wie auch der parteiamtli- gen traf. War doch die deutsche Kinder- nicht erkannt – oder aber billigend in chen Gesundheitsführung stand, hatte der heilkunde seit den Anfängen ihrer Eta- Kauf genommen. Denn der Fokus ärztli- Staat für den Nationalsozialismus „nur blierung als eigenständige Fachdisziplin in chen Handelns verschob sich in der bio- Sinn als die Organisationsform des deut- der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit politischen Entwicklungsdiktatur des Na- schen Volkes. Sinn und Zweck gibt ihm erst dem Anspruch aufgetreten, durch die Sen- tionalsozialismus vom individuellen zum der lebendige Volkskörper“. Der National- kung der Säuglings- und Kindersterblich- „Volkswohl“. Der Wert des Menschen lei- sozialismus habe den Begriff des Volkes keit einen Beitrag zur Stärkung des Volkes tete sich aus seiner Position und Funktion „vertieft“. „Das Volk ist nicht die Summe und des Staates zu leisten, die zu ihrem Fort- der Staatsbürger des Landes, […] sondern 3 Zit. n. Thomas Beddies, „Du hast die Pflicht, […] die rassische und damit im Zusammen- gesund zu sein“. Der Gesundheitsdienst der 2 Leonardo Conti, Körperliche Ertüchtigung Hitler-Jugend 1933-1945, Berlin 2010, S. 67. hang stehende kulturelle, geistige und see- als biologische Aufgabe des Staates, Typoskript, 4 Wilfried Zeller, Der Jugendarzt, seine Auf- lische Gemeinschaft, deren äußerer Aus- Teilnachlass Leonardo Conti, Privatbesitz gaben und Methoden, in: Gesundheit und druck erst die staatliche Verbundenheit ist.“ (demnächst Bundesarchiv Berlin). Erziehung 49 (1936), S. 129-136, hier: S. 129.

10 | Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 Jussuf Ibrahim (1877-1953)

Jena

In den 1990er Jahren wurden Vorwürfe laut, der Für den unbedarften Umgang mit den Kranken- ehemalige Leiter der Jenaer Universitäts-Kinderklinik tötungen durch Ibrahim sind Beschwerden des Jussuf Ibrahim sei in die Krankenmorde verwickelt Direktors der Anstalt in Stadtroda, Gerhard Kloos, gewesen, indem er Kinder aus seiner Klinik an die bezeichnend, wonach in der Kinder klinik die zuständige „Kinderfachabteilung“ des Landes- Frage der „Euthanasie“ offen mit den Eltern krankenhauses in Stadtroda selbst überwiesen besprochen worden sei, obwohl doch, wie es aus bzw. dies geduldet habe. Eine Kommission der dem Innenministerium hieß, nach außen hin die Universität Jena kam im April 2000 zu dem Ergebnis, Tatsache, dass „in Einzelfällen Euthanasie gewährt dass aus der Kinderklinik zwischen 1941 und 1945 werden kann, nicht in Erscheinung treten“ sollte. tatsächlich „insgesamt sieben schwerstgeschädigte Kinder nach Stadtroda überwiesen [wurden], die Einer Empfehlung der Kommission folgend wurde auch dort verstarben“, zudem liegen für zwei Kinder die seit 1953 nach Ibrahim benannte Kinderklinik „handschriftliche Überweisungsschreiben Ibrahims 2001 in „Klinik für Kinder- und Jugendmedizin“ vor, die offen ‚Euthanasie‘ vorschlagen“. umbenannt. in dem als Organismus höherer Ordnung gendlichen in den „Kinderfachabteilun- zu – eine Verantwortung, die auch Gren- verstandenen „Volkskörper“ ab – und für gen“ und weiterer 4.200 in den Gaskam- zen medizinischer Praxis und medizini- den „Volkskörper“ hatte ein Mensch nur mern der „“ widerspruchslos scher Wissenschaft respektiert, die kom- dann einen Wert, wenn er „erbgesund“ hinnahmen, warum manche – so wie Jus- promisslos den einzelnen Menschen zum und „rasserein“, leistungsstark und le- suf Ibrahim – die Gelegenheit nutzten, Ausgangspunkt der Berufsethik macht. benstüchtig, fruchtbar und wehrhaft war. Kinder, bei denen keine Behandlungsper- Das heißt vielleicht auch: Erwartungen Nun sah sich die Kinderheilkunde seit spektive bestand, in Einrichtungen der enttäuschen, Zumutungen zurückweisen, den Anfängen der Eugenik und Rassenhy- „Euthanasie“ abzuschieben, warum an- Druck standhalten. Am Ende gilt: Ein Ge- giene am Ende des 19. Jahrhunderts dem dere – wie der Direktor der Universitäts- meinwesen ist dann am stärksten, wenn es Vorwurf ausgesetzt, sie setze mit ihrem Kinderklinik in Leipzig, Prof. Werner Ca- vom Schwächsten her denkt. Kampf gegen die Säuglings- und Kinder- tel – im eigenen Haus eine „Kinderfachab- sterblichkeit die „natürliche Auslese“ ein teilung“ einrichteten oder Kinder, die als Korrespondenzadresse Stück weit außer Kraft und trage auf diese „lebensunwert“ ermordet werden sollten, apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl Weise zur Degeneration der Erbmasse des im Zuge „verbrauchender Forschung“ be- Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie Volkes bei. Mit der Machtübernahme der nutzten – so etwa Prof. Georg Bessau, der der Universität Bielefeld Nationalsozialisten wurde nun die Rassen- Direktor der Kinderklinik an der Charité, Storchsbrede 2 hygiene zur Staatsdoktrin erhoben, und die der in mehreren Testreihen Tuberkulose- 33613 Bielefeld Kinderheilkunde musste sich dieser Her- impfstoffe an solchen Kindern prüfen ließ. [email protected] ausforderung stellen. Die „Deutsche Gesell- Es deutet sich an, warum Ärzte aktiv an schaft für Kinderheilkunde“ – sie hatte sich diesem Massenmord teilnehmen konn- mittlerweile im Zuge der „Selbstgleich- ten, ohne da rin einen Widerspruch zum schaltung“ ihrer jüdischen und politisch eigenen ärztlichen Selbstverständnis zu missliebigen Mitglieder entledigt – tat dies sehen. Wie etwa der Berliner Kinderarzt auf ihrer Jahrestagung 1934. Nachdem die Dr. Ernst Wentzler, eine der Schlüsselfi- Versammlung sich von Prof. Otmar Frhr. v. guren der Kinder-„Euthanasie“, der 1942 Verschuer, Abteilungsleiter des Kaiser-Wil- – die Mordaktion lief auf vollen Touren helm-Instituts für Anthropologie, mensch- – den Vorsitz des neu gegründeten Ver- liche Erblehre und Eugenik in Berlin, dem eins „Deutsches Kinderkrankenhaus e.V.“ damals führenden deutschen Humangene- übernahm – eines Vereins, der sich den tiker, über den Stand der Erblehre des Men- Bau mustergültiger Kinderkrankenhäu- schen hatte unterrichten lassen, referierte ser zum Ziel gesetzt hatte. Die Dialektik Thilo Brehme über die „Aufgaben und Be- von Heilen und Vernichten ermöglichte deutung der Kinderheilkunde im Neuen es allen diesen Medizinern, sich als „Arzt Deutschland“. Dabei setzte er sich auch mit am Volkskörper“ zu verstehen – und die „Vorwürfe[n] gegenüber der Pädiatrie we- schwächsten unter ihren kleinen Patien- gen der Erhaltung lebensunwerten Lebens“ ten preiszugeben. auseinander und wagte eine Prognose: „Es Es ist wichtig, diesen Motivlagen im- ist möglich, dass eine neue, mehr die Ge- mer wieder nachzuspüren – auch mit samtheit als das Einzelindividuum berück- Blick auf die Gegenwart, auf aktuelle Dis- sichtigende ethische Grundhaltung uns kussionen um Präimplantationsdiagnos- einmal zwar nicht die Verpflichtung auf- tik und Designerbabys. Allen neo-eugeni- erlegt, wirklich lebensunwertes Leben aus- schen Sozialutopien müssen wir das skep- zumerzen, aber vielleicht doch die Freiheit tische Wort Immanuel Kants entgegen- lässt, gegebenenfalls nichts zu seiner Erhal- setzen: „Aus so krummem Holze, als wo- tung zu tun.“5 raus der Mensch gemacht ist, kann nichts An diesem Punkt beginnt sich das ganz Gerades gezimmert werden.“ 6 Behin- Bild zu klären. Wir bekommen eine Vor- derung, Krankheit, Schwäche und Hilflo- stellung davon, warum so viele Pädiater sigkeit gehören – wie Empathie, Respekt, – wie auch Kinder- und Jugendpsychia- Demut, Erbarmen und Güte – zur con- ter – die Ermordung von bis zu 10.000 be- ditio humana. Hier kommt gerade auch hinderten und kranken Kindern und Ju- der Medizin eine große Verantwortung

5 Thilo Brehme, Aufgaben und Bedeutung 6 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen der Kinderheilkunde im neuen Deutschland, in: Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Monatsschrift für Kinderheilkunde 62 (1934), Werke in 6 Bänden, Bd. 6, hg. v. Wilhelm Wei- S. 183 ff., hier: S. 184. schedel, Darmstadt 1975, S. 33-50, hier: S. 41.

12 | Monatsschrift Kinderheilkunde Supplement 1 · 2011 „Im Gedenken der Kinder. Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ lautet der Titel einer die DGKJ-Jahrestagung in Potsdam-Babelsberg begleitenden Ausstellung, die über die Einbeziehung kranker und behinderter Kinder in die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus und die Verwicklung der Kinderärzte in diese Taten informiert. Die Ausstellung wurde in Zusammenar- beit mit der Brandenburgischen Historischen Kommission realisiert und belegt umfassend den medizi- nischen und ordnungspolitischen Zugriff auf die minderjährigen Opfer der NS-Medizin. Sie wird Anfang 2011 auch im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam gezeigt; weitere Präsentationen sind u.a. in Leipzig und Berlin geplant.

„Kind K“ und der Beginn systematischer Krankenmorde 1939

Im Frühjahr 1939 richtete ein Elternpaar aus Sachsen ein Gesuch zur Tötung seines schwer behinderten Säuglings an . Das Schreiben wurde in Hitlers Privatkanzlei, der „Kanzlei des Führers der NSDAP“, bearbeitet. Ihr Leiter, Philipp Bouhler, und Hitlers Begleitarzt, der Chirurg , wurden von Hitler mit der Prüfung des Falls „Kind K“ beauftragt. Karl Brandt überbrachte dem Direktor der Universitäts-Kinderklinik Leipzig, Werner Catel, persönlich die Zustimmung Hitlers zur „Einschläferung“ des Kindes. Wahrscheinlich Ende Juli 1939 wurde es in der Klinik getötet.

Der Fall des „Kindes K“ soll dazu beigetragen haben, dass Hitler im Herbst Karl Brandt (1904-1948) 1939 Brandt und Bouhler mit der Durchführung eines umfassenden „Euthanasie“-Programms beauftragte. Das entsprechende Schriftstück wurde auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, datiert; mit der Aggression nach außen begann damit auch die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im eigenen Land. Die Krankenmorde unterlagen strikter Geheim- haltung; ein „Euthanasie“-Gesetz wurde nie verabschiedet.

Philipp Bouhler (1899-1945) Das „Reichsausschuß“-Verfahren

Richard von Hegener (1905-1981)

Hans Hefelmann (1906-1986)

Die „Kinder-Euthanasie“ oblag dem Amt IIb der Gutachter im „Reichsausschuß“-Verfahren waren Kanzlei des Führers. Unter der irreführenden Be- die Kinderärzte Werner Catel aus Leipzig und Ernst zeichnung „Reichsausschuß zur wissenschaft lichen Wentzler aus Berlin sowie der Psychiater Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer aus Brandenburg-Görden. Befürworteten sie die Leiden“ regelten zwei Sachbearbeiter, der Diplom- Tötung eines Kindes, so wurden die Eltern aufge- landwirt Dr. Hans Hefelmann und der Bankkauf- fordert, ihre Tochter oder ihren Sohn in eine von mann Richard von Hegener, die Meldung, Begut- rund 30 „Kinderfach abteilungen“ aufnehmen zu achtung, Einweisung und schließlich Tötung von lassen, die zumeist pädiatrischen oder psychiatri- mehr als 5 000 Kindern. Organisatorisch wurden schen Kliniken angeschlossen waren. Dort wurden sie von der Gesundheitsabteilung des Reichs- die Kinder von den zuständigen Ärztinnen und Ärz- innenministeriums (Dr. med. Herbert Linden) ten in der Regel mit Medikamenten vergiftet. Nicht unterstützt; bereits am 18. August 1939 war ein ver- selten ging der Tötung eine Zeit der klinischen traulicher Erlass zur Meldung behinderter Beobachtung voraus; in etwa der Hälfte der Einrich- Kleinkinder herausgegeben worden. Die zunächst tungen fand begleitende Forschung statt. wohl noch in gutem Glauben von Hebammen und Ärzten ausgefüllten Meldebogen dienten drei „Fachgutachtern“ als Grundlage zur Selektion „lebensunwerter“ Kinder. Gutachter im „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“

Werner Catel (1894-1981) Hans Heinze (1895-1983) Ernst Wentzler (1891-1973)

Direktor der Universitäts-Kinder- Psychiater mit kinder- und jugend- Besitzer einer privaten Kinderklinik klinik Leipzig; über den Fall psychiatrischer Spezialisierung; in Berlin-Frohnau; verfügte über „Kind K“ von Beginn an in das seit 1934 im brandenburgischen enge persönliche Kontakte zur „Reichsausschuß“-Verfahren Anstaltsdienst, seit 1938 Leiter der Kanzlei des Führers. Wentzler eingebunden. Nach 1945 zu- Anstalt Brandenburg-Görden mit gehörte zum engsten Kreis der nächst in Hessen ärztlich tätig, rund 1 000 Betten. Heinze arbeitete ärztlichen Berater und Organi- war Catel 1954 bis 1962 Professor u.a. eng mit dem Kaiser-Wilhelm- satoren der Krankenmordaktionen; für Kinderheilkunde an der Uni- Institut für Hirnforschung in in seiner Privatklinik gab es keine versität . Er rechtfertigte die Berlin-Buch (Julius Hallervorden) Kinderfachabteilung. „Euthanasie“ kranker und behin- zusammen. Kurz nach Entlassung derter Kinder nach 1945 in zahl- aus russischer Haft wurde er 1954 Nach 1945 war er als niedergelas- reichen Publikationen unter Leiter der jugendpsychiatrischen sener Kinderarzt in Hannoversch Leugnung jeder individuellen Klinik in Hannover-Wunstorf. Münden tätig. Schuld im Hinblick auf die Medizin verbrechen in der NS-Zeit. Karte der „Kinderfachabteilungen“

Schleswig-Hesterberg Königsberg Schleswig-Stadtfeld

Konradstein Langenhorn Sachsenberg Ueckermünde Rothenburgsort Lüneburg Berlin „Wiesengrund“ Uchtspringe Berlin Buch Tiegenhof Görden Dortmund- Posen Aplerbeck

Marsberg Leipzig Großschweidnitz Waldniel Leipzig-Dösen Breslau

Bonn Stadtroda Loben Kalmenhof

Eichberg Prag Wiesengrund Ansbach Wiesloch Brünn

Stuttgart Wien „Am Spiegel- Niedernhardt grund“ Eglfing-Haar Kaufbeuren

Graz „Feldhof“

Klagenfurt

Gesicherter Standort Noch nicht gesicherter Standort Günther E. – „Wie anhänglich er ist, beweist er jeden Tag“

Der 1929 geborene Günther stammte aus einer Arbeiterfamilie in Wittstock/Dosse. Wegen „Verwahrlosung“ kamen er und seine drei Schwestern 1934 zunächst in Fürsorgeerziehung; zwei Jahre später wurden die Geschwister „zur geistigen und körperlichen Förderung“ in die Landesanstalt Potsdam verlegt. Mit der Auf- lösung der Anstalt 1938 gelangten die vier Kinder nach Branden- burg-Görden. Günther wurde den „bildungsunfähigen“ Kindern zugerechnet: „nicht beschulungsfähig“, heißt es im Meldebogen, auch Besuch erhalte er „keinen“. Am 21. Mai 1940 wurde der 10-jährige Junge in der Gaskammer des benachbarten Brandenburger Zuchthauses ermordet. Brief einer Mutter an Prof. Duken Sehr verehrter Herr Professor ! ... Unsere liebe kleine Christel ist nach 5tägigem Aufenthalt in der Heilanstalt Eichberg am 30. Juni gestorben. Ich war sehr erschrocken über diesen schnel- len Tod in Eichberg und glaubte zuerst das Kind sei dort doch nicht gut ver- sorgt worden, da ich es noch so munter von Heidelberg dorthin brachte. Wenn ich geahnt hätte, daß das kl. Leben sowieso bald erlöschen würde, hät- te ich diese beschwerliche Reise nicht mehr unternommen und hätte das Kind noch in Heidelberg gelassen. Hatten Sie es damals schon für möglich gehalten, daß das Kind so schnell sterben würde? Ich denke an Ihre Worte, daß das Kind wohl doch nicht alt geworden wäre, und auch nimmer gesund geworden wäre, und tröste mich mit dem Gedanken, daß es erlöst ist, von seinem schweren Leiden. Uns Eltern ist damit eine grosse Sorge für die Zukunft genommen. Das Kind wurde in Eichberg sektiert. ... Wir Eltern würden natürlich auch gerne näheres darüber erfahren. Da ich den Arzt der Anstalt ja kaum kenne, würde ich Sie bitten, sich den Bescheid von dort geben zu lassen und mir nochmal zu schreiben, wenn es Ihre Zeit nicht über- mässig beansprucht. Ich habe in den Tagen, in denen Christel bei Ihnen in der Klinik war, grosses Vertrauen zu Ihnen gefasst und komme deshalb auch heute nochmal zu Ihnen mit meiner Bitte. ... Ich danke Ihnen sehr herzlich und grüsse Sie bestens Ihre Mathilde N.

Brief von Prof. Duken an einen Vater

Johann Duken (1889-1954) Heidelberg

In Heidelberg bestand keine „Kinderfachabteilung“; Kinder, die aus der Universitäts kinderklinik unter Johann Duken dem „Reichsausschuß“ gemeldet wurden, verlegte man – nicht selten über die Psychiatrische Universitätsklinik unter Carl Schneider – in die nahegelegene Anstalt Eichberg (Dr. Friedrich Mennecke), wo sie getötet wurden.

Aber auch unabhängig von dem „Reichsausschuß“-Verfahren im engeren Sinne wurden in der Kinderklinik Patienten durch Nichtbehandlung und Nahrungsentzug getötet: „Da es sich um ein minderwertiges Kind handelt, wird keine Frauenmilch gegeben“, heißt es in einer Akte, und in einem weiteren Fall eines „minderwertigen“ Kindes mochte die behandelnde Ärztin „nur hof- fen, dass es bald ad exitum kommt.“ Dukens Einstellung war dabei in Heidelberg und sogar bei den alliierten Kriegsgegnern durchaus bekannt; nicht zuletzt in seinen Vorlesungen soll er die „unbemerkte Euthanasierung“ geistig behinderter Kinder offensiv vertreten haben. Diktat in der Intelligenzprüfung (1942): „Schwer war der Winter für das Volk, noch schwerer draußen für unsere Truppen. Das Deutsche Volk aber wußte, daß es alles auf sich nehmen mußte, um die Voraussetzungen für den Sieg draußen an der Front zu schaffen. Die Haltung unseres Volkes im Innern war deshalb der Haltung unserer Kämpfer draußen ebenbürtig. Beide, die Front in der Heimat, vor allem aber die Front draußen, haben soeben die Anerkennung und den Dank des Führers in einer Weise gesagt bekommen, wie sie schöner und größer nicht ausgesprochen sein kann. (...)“ Herausgeber Monatsschrift Kinderheilkunde

Organ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) Organ der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ)

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