Verwaltung Des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau Im Nationalsozialismus (Schluss + Anhang; S. 691-788)
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691 SCHLUSS Zusammenfassung und Resümee An den nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmordaktionen wirkten bestimmte regionale Anstaltsträger- und Fürsorgebehörden in einem weit größeren Ausmaß mit, als die historische For- schung bislang meist annahm. Zu diesen besonders exponierten regionalen Behörden, deren Rolle bislang nicht eingehend untersucht worden war,1 zählte – neben den Innenministerien in Dresden und Stuttgart sowie dem preußischen Provinzialverband in Stettin – auch der Bezirksverband Nassau in Wiesbaden. Bisher richtete sich der Blick besonders auf andere, weniger engagierte regionale Anstalts- träger. Dadurch stand entweder nur deren – vermeintlich passive – „Konfrontation“2 mit den Verbre- chen der zentralen Organisation „T4“ oder aber die aktive, auftragsgemäße Beteiligung an der „Durch- führung“ durch „Selektion [und] Organisation [...] auf regionaler Ebene“3 im Vordergrund. Während derartige „geforderte“ Tätigkeiten – wie die Meldebogenausfüllung oder die Wegverlegung der Patien- ten – von allen Anstaltsträgerbehörden geleistet wurden, gab es einzelne Regionalbehörden, die mit Initiative über die reine Erfüllung der Erwartungen hinausgingen. Damit unterstützten diese Verwal- tungen – darunter der Bezirksverband Nassau – die „T4“-Gasmordaktion als besondere Kooperations- partner der zentralen Mordorganisation in erheblicher Weise, indem sie in den Jahren 1940/41 Immobi- lien oder Personal für die „T4“-Gasmordanstalten zur Verfügung stellten, oder sie engagierten sich nach dem „Euthanasiestopp“ besonders bei der Fortsetzung der Kranken- und Behindertenmorde durch Medikamente und Nahrungsentzug. Die Übernahme einer solche Sonderrolle durch den Bezirksverband Nassau hatte zwei Hauptbedin- gungen: Entscheidend war zunächst, dass die politischen Beamten an der Verbandsspitze die Ideologie der so genannten „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ überzeugt verfochten. Ebenso wichtig war aber auch, dass die Verbandsverwaltung insgesamt Mittel und Wege fand, diesen politischen Willen in die Tat umzusetzen und dabei zugleich die Verbandsinteressen – machtpolitischer und wirtschaftlicher Art – zu verfolgen. Nur die Allianz von Überzeugung und Pragmatismus, von Intention und Struktur konnte eine derart weit gehende Mitverantwortung des Bezirksverbandes für die NS-„Euthanasie“-Ver- brechen hervorrufen. Als scheinbare Legitimation genügte eine wie auch immer geartete „Erlaubnis von oben“ – zunächst durch Hitler, später recht allgemein durch beteiligte „Berliner Stellen“. Beson- ders Landeshauptmann Traupel und Anstaltsdezernent Bernotat – beide SS- und langjährige Parteimit- glieder – personifizierten den ideologischen Anspruch, den Bezirksverband als eine dezidiert national- sozialistische Fürsorgeverwaltung zu positionieren, z. B. durch ihre gezielte Personalpolitik – die Besetzung von Schlüsselstellen mit SS-Mitgliedern. Sie konnten ihre Ziele aber nur deshalb so unange- fochten durchsetzen, weil u. a. der Verwaltungs- und Personaldezernent sowie der Kämmerer, beide einst Mitglieder von „Weimarer Parteien“, sich anscheinend ohne Bedenken in den Dienst der neuen Politik stellten. Sie bemühten sich auch unter den Bedingungen des NS-Staats weiterhin darum, den (vordergründigen) Nutzen des Bezirksverbandes zu mehren. Indem sie eine „saubere“ Verwaltungsfüh- rung und eine einträgliche Etatgestaltung höher ansetzten als das Wohl der Patienten, leisteten sie mit ihren Fachabteilungen einen Beitrag auch zur Umsetzung der rassenpolitischen Ziele, selbst wenn es in den Abteilungen auch Beamte gab, die diese Ziele nicht teilten. 1 Wichtige Anhaltspunkte für die Rolle der jeweiligen Behörden liefern allerdings zum PV Pommern: Bernhardt, Anstalts- psychiatrie (1994); zum MdI Sachsen: Schilter, Ermessen (1999); zum MdI Württemberg: Stöckle, Aktion (1996), sowie weitere Beiträge im Sammelband Pretsch, „Euthanasie“ (1996); sowie insgesamt für deren Rolle bei den dezentralen Mord- aktionen: Faulstich, Hungersterben (1998). 2 Sueße/Meyer (1988), in Bezug auf den PV Hannover. – Ausgehend vom PV Westfalen formuliert auch Behr, Provinzial- verbände (1987), S. 44: Die „Rassenideologie [...] konfrontierte die Provinzialverbände [...] mit dem Problemkreis der ‚Eutha- nasie‘“. 3 Walter, Psychiatrie (1996), S. 704, S. 719, in Bezug auf den PV Westfalen. 692 Schluss Die Entwicklung im Bezirksverband Nassau zeigt prototypisch, dass bei den „Euthanasie“-Verbre- chen zunehmend die Vertreter der Verwaltung die Richtung bestimmten – und immer weniger die Vertreter der Medizin, die ursprünglich mit einem vermeintlich „idealistischen“ Ansatz das Thema „Euthanasie“ eingebracht und vorangetrieben hatten. Nach der öffentlichen Unruhe und damit dem Debakel der „T4“-Gasmordaktion, bei der Ärzte eine bestimmende Rolle gespielt hatten, nahmen ab 1941 – sowohl in der Berliner Zentrale als auch in einzelnen Regionen – zunehmend die Verwaltungs- experten das Heft in die Hand. Sie organisierten mit verwaltungstechnischen, strukturellen Mitteln – z. B. Verlegungen aus Luftkriegsgründen, Nahrungsentzug durch Änderung des Haushaltsplans – die möglichst unauffällige und „reibungslose“ Fortsetzung der Kranken- und Behindertenmorde. Diese Entwicklung entsprach in den Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau einer bereits seit Ende der 1930er Jahren vorangetriebenen Ausrichtung, wonach Macht und Einfluss der ersten Verwaltungs- beamten gestärkt wurden – auf Kosten des Einflusses der ärztlichen Direktoren. Ohne dass deshalb die Mitverantwortung der Medizin an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen geschmälert würde, gilt doch grundsätzlich, dass Ärzte im Zeitverlauf zunehmend als bloß noch ausführende Organe der Mordpolitik wirkten, während die wichtigen Entscheidungen – nämlich welche und wie viele Menschen ermordet werden sollten – von der Verwaltung ausgingen. Manche preußischen Provinzial- und Bezirksverbände konnten in der NS-Zeit ein erhebliches Maß an Eigenmächtigkeit bewahren oder erlangen. Während nämlich das Prinzip der kommunalen Selbst- verwaltung suspendiert wurde, blieben die Verwaltungen der Selbstverwaltungskörperschaften erhal- ten. Für den Bezirksverband Nassau zeigt sich, dass gerade durch die nationalsozialistischen Gleich- schaltungsmaßnahmen die Macht der Verbandsverwaltung sogar gesteigert wurde. Auf der einen Seite nämlich entfiel 1933/34 durch Abschaffung des Kommunallandtags das parlamentarische Gremium, das bislang die Verwaltung kontrolliert hatte. Auf der anderen Seite aber wurde eine Anbindung der Verbände an die Staatsverwaltung vergleichsweise locker vollzogen, indem der Oberpräsident als Person die Leitung des Verbandes übernahm. Anders als bei jenen Provinzialverbänden, bei denen der Oberpräsident zugleich Gauleiter war und zudem am Sitz des Provinzialverbandes residierte,4 nahm der formale Leiter des Bezirksverbandes Nassau, Philipp Prinz von Hessen, als schwacher Oberpräsident im fernen Kassel, der zudem häufig im Ausland weilte, kaum Einfluss auf Politik und Verwaltungsfüh- rung des Wiesbadener Verbandes. Dieses Machtvakuum gab der Verbandsverwaltung die Möglichkeit, die Ausrichtung des Verbandes in sehr weit gehendem Maße selbst zu bestimmen. Dass aber der Be- zirksverband dieses Machtvakuum so extensiv zum Schaden von Leib und Leben der Patienten nutzte, dazu bedurfte es des Willens seiner leitenden Beamten und zumindest einer Bereitwilligkeit der übri- gen Verwaltungsbeamten, diesen politischen Willen durch ein vermeintlich „normales“ Verwaltungs- handeln zu erfüllen. Dass Mitarbeiter des Bezirksverbandes Nassau während des „Dritten Reiches“ überhaupt an den „Euthanasie“-Verbrechen beteiligt sein konnten, geht zurück auf die langjährige Zuständigkeit des Verbandes für die finanzielle Fürsorge und für die Anstaltsunterbringung von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Dieser Fürsorgebereich war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen generell den Provinzialverbänden übertragen worden, ebenso wie nach und nach auch ande- re Zuständigkeiten, etwa im volkswirtschaftlichen Bereich (z. B. Straßenbau und Wirtschaftsförderung) oder auf dem Gebiet der Kultur. In der preußischen Provinz Hessen-Nassau kamen diese Aufgaben, um regionale Rücksichten zu nehmen, nicht wie sonst dem Provinzialverband, sondern den beiden Be- zirksverbänden mit Sitz in Kassel und Wiesbaden zu. Der Bezirksverband des Regierungsbezirks Wiesbaden konstituierte sich wie die anderen Verbände – nach ständischen Anfängen – als Organ der kommunalen Selbstverwaltung. Anfangs verstand der Verband sich durchaus als Sachwalter regionaler 4 Dies war z. B. der Fall beim PV Westfalen (Gauleiter u. OP Dr. Alfred Meyer in Münster) oder beim PV Pommern (Gau- leiter u. OP Franz Schwede-Coburg in Stettin). Zusammenfassung und Resümee 693 und lokaler Interessen gegenüber dem preußischen Staat; die Stadt- und Landkreise als Träger konnten in dem noch jungen Verband ihr Repräsentationsorgan sehen.5 Mit zunehmender Aufgabenausweitung und zugleich steigender finanzieller Abhängigkeit von staat- lichen Finanzmitteln drohte sich der Bezirksverband in der Weimarer Zeit zunehmend von seinen Ursprüngen – und seinen Trägern – zu entfernen. Seine Bedeutung als gewichtige Institution im Gefü- ge des gesamtstaatlichen Gemeinwesens wuchs, da die Aufgabenwahrnehmung auf den verschiedenen genannten Gebieten durch den Bezirksverband reibungslos vonstatten ging und die Tätigkeit dem Staat – sowohl Preußen als auch dem Reich – daher zugute kam. Einerseits konnte die Autonomie der Kommunen als Träger des Verbandes durch die verschiedensten Aufgabenzuweisungen des