NS-„Euthanasie“ im Gau Steiermark. Die Beteiligung des Ärzte- und Pflegepersonals am nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm in den steirischen „Heil- und Pflegeanstalten“.

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Martin BRANDTNER

am Institut für Geschichte Begutachter: Univ.-Doz. Dr.phil. Martin Moll

Graz, 2021

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die mich während der Bearbeitung dieser Diplomarbeit unterstützt haben.

Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich während meiner Studienzeit immer moralisch und finanziell unterstützt und mir mein Studium überhaupt erst ermöglicht haben. Auch in schwierigen Zeiten seid ihr mir stets zur Seite gestanden und habt nie an mir gezweifelt. Meiner Schwester und meinem Schwager danke ich für die motivierenden und kraftgebenden Gespräche, die mich in meinem Tun bestärkt haben.

Ich bedanke mich herzlichst bei Univ.-Dozent Dr. Martin Moll, der mir nicht nur ein großartiger Betreuer für diese Diplomarbeit war, sondern mir auch mit Rat und Tat zu Seite stand, bei Rückschlägen immer ein offenes Ohr für mich hatte und mir Lösungsansätze aufzeigte.

Ich möchte diese Arbeit meinem kürzlich verstorbenen Großvater Hugo Peinhopf widmen, der durch seine Erzählungen und historischen Erlebnisse, die er selbst über die Jahre hinweg gesammelt hat, mein Interesse an Geschichte geweckt hat.

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ...... 5

1.1 Themenstellung und Methode ...... 5

1.2 Kapitelübersicht ...... 7

1.3 Quellenlage ...... 11

1.4 Quellenkritik ...... 13

1.5 Forschungsstand ...... 17

2 Der Begriff „Euthanasie“ und seine Entstehungsgeschichte...... 22

2.1 Multidimensionales Bedeutungsfeld „Euthanasie“ von der Antike bis ins 20. Jahrhundert ...... 24

2.1.1 Ideologische Wurzeln des Nationalsozialismus: Sozialdarwinismus, Rassenhygiene/Eugenik ...... 29

3 „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ...... 37

3.1 Rassenhygienische Bewegung in Österreich ...... 42

3.1.1 Die Aufnahme der rassenhygienischen Ideen in die Ideologie des Nationalsozialismus ...... 46

3.1.2 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“...... 48

4 Die NS-„Euthanasie“ in ihrer Planung, Organisation und Durchführung ...... 52

4.1 Formen und Aktionen der NS-„Euthanasie“ ...... 54

4.2 Der Beginn der „Kindereuthanasie“ und der Fall „Leipzig“ ...... 56

4.2.1 Die Planung der „Kindereuthanasie“ ...... 59

4.3 Kinder als erste Opfer – Die Umsetzung der „Kindereuthanasie“ ...... 61

4.4 Planung und Organisation der „“ ...... 65

4.4.1 Briefköpfe als Tarnorganisationen der „Euthanasie-Aktion“ ...... 68

4.4.2 Auswahl und Beschreibung der Tötungsanstalten ...... 70

4.4.3 Die Erfassung, Selektion und Tötung der Patienten ...... 71

4.5 „Euthanasie“-Stopp und die zweite Phase der „Euthanasie“ ...... 74

5 NS-„Euthanasie“ am Grazer „Feldhof“ und seinen steiermärkischen Filialen 78 3

5.1 Struktur und Geschichte des „Feldhofs“ bis 1945 ...... 78

5.2 Die Filialen des Grazer „Feldhofs“ ...... 81

5.2.1 Steirische Siechenanstalten ...... 85

5.2.2 Vernichtungsanstalt Hartheim ...... 87

5.3 Die Vorgeschichte der Prägung der österreichischen NS-„Euthanasie“-Täter ... 88

5.4 Die „T4“-Transporte aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen nach Hartheim/Niedernhart ...... 93

5.4.1 Die Euthanasieaktion „T4“ in der übrigen Steiermark ...... 107

5.4.2 Exkurs: Der Massenmord in Hartheim ...... 111

5.5 Weitere „Euthanasiemaßnahmen“ in den steiermärkischen Heil- und Pflegeanstalten ...... 113

6 Ärzte und Pfleger als Erfüllungsgehilfen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms in der Steiermark ...... 123

6.1 Die Ärzte ...... 123

6.2 Die Pfleger ...... 169

7 Conclusio ...... 178

8 Literatur- und Quellenverzeichnis ...... 188

8.1 Literatur ...... 188

8.2 Quellen ...... 193

8.3 Internetquellen ...... 194

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1 Einleitung

1.1 Themenstellung und Methode

Das Thema der vorliegenden Arbeit ist die „Euthanasie“ des Hitler-Regimes mit dem Fokus auf der Beteiligung der Ärzte und des Pflegepersonals am nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm und der damit verbundenen Tötung geistig und körperlich behinderter, psychisch kranker Menschen in den steirischen Heil- und Pflegeanstalten. Der Beitrag dieser Arbeit zur Täterforschung soll vor allem die Darstellung jener Personen zum Inhalt haben, die als Erfüllungsgehilfen eines antihumanistisch ausgerichteten Regimes an der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durch toxische Medikation, Gas, Nahrungsentzug bzw. Verhungernlassen sowie durch Vernachlässigung ihrer pflegerischen und ärztlichen Pflichten beteiligt waren. Unter Bezugnahme auf die geschichtspolitischen Begleitumstände werden die Zusammenhänge aufgedeckt, die die Beantwortung der Frage ermöglichen sollen, wie und in welcher Form sich Ärzte und Pfleger im Gau Steiermark, die sich als solche grundsätzlich der Erhaltung von Leben verschrieben haben sollten, an den ungesetzlichen Tötungen beteiligten bzw. damit in Verbindung gebracht werden können. Zudem soll in dieser Arbeit gezeigt bzw. herausgearbeitet werden, dass die Hauptverantwortung für die in der Steiermark stattgefundenen Euthanasieverbrechen nicht allein bei den im Rahmen der Aktion „T4“ als Gutachter fungierenden Ärzten Dr. Oskar Begusch und Dr. Ernst Sorger gesucht werden kann – wie es viele literarische Darstellungen dieser Thematik propagieren – sondern dass es in der Steiermark durchaus weitere willige Erfüllungsgehilfen der NS-Vernichtungsmaschinerie unter dem medizinischen Personal der steirischen Heil- und Pflegeanstalten gab.

Angeregt wurde die Arbeit durch eine im Zuge des Proseminars „Zeitgeschichte“ unternommene Exkursion zur Gedenkstätte „Steinhof“ in Wien, einer Ausstellung des Dokumentationsarchives des österreichischen Widerstandes, wo ich mit den vom nationalsozialistischem Regime begangenen Gräueltaten an kranken und behinderten Menschen erstmalig konfrontiert wurde. Die Zugkraft, um sich mit der vorliegenden Thematik auseinanderzusetzen, stellt das eigene Interesse an der Täterforschung dar, ausgelöst durch den Umstand, dass in meinem Familienkreis eine Person unter einer schweren körperlichen Beeinträchtigung leidet, die, wie man annehmen muss, dem Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen wäre, hätte sie in dieser Zeit gelebt.

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Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 und dem damit verbundenen Angriff auf Polen begann auch der Krieg gegen wehrlose Menschen, die nicht den Vorstellungen von der „arischen Herrenrasse“ entsprachen. Ein Krieg der unter der euphemistischen Bezeichnung „Euthanasie“ gegen alles vermeintlich „Schwache“ und „Minderwertige“ geführt und mit dem ursprünglich im Oktober 1939 auf den 1. September rückdatierten geheimen „Gnadentod-Erlass“ Adolf Hitlers legitimiert wurde. Auf der Grundlage dieses Erlasses und einer von Rassenhygiene geprägten Ideologie der Nationalsozialisten mutierte die NS-Medizin zum Werkzeug der Auslese, die durch die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eine Neugestaltung der Gesellschaft anstrebte. Ein Faktum, das die Frage aufwirft, in welcher Form und Funktion Ärzte und Pfleger im Gau Steiermark für das Vernichtungsprogramm tätig und daran beteiligt waren. Was waren deren Aufgaben und in welcher Art und Weise unterstützten sie die NS-Ideologie?

Zunächst werden in dieser Arbeit möglichst detailliert die Genese der „Euthanasie“ im NS- Apparat und ihre ideengeschichtlichen Wurzeln beschrieben, die zunächst aus theoretischen Überlegungen im Hinblick auf die „Ausmerzung“ vermeintlich „Schwacher“ bestand und schließlich in Form von Massenmord an „minderwertigen“ Menschen in die Praxis umgesetzt wurde. In diesem historischen Kontex ist aufzuzeigen, dass die NS-„Euthanasie“ keineswegs aus dem Nichts entstanden ist bzw. keine Erfindung der Nationalsozialisten war, wurde doch, wie sich zeigen wird, schon in frühester Zeit die Tötung „schwacher“ Gesellschaftsmitglieder proklamiert. Dabei wird ausschließlich auf Sekundärliteratur zurückgegriffen.

Im Zentrum dieser Arbeit stehen die aus den ideengeschichtlichen Wurzeln resultierenden nationalsozialistischen „Euthanasieverbrechen“ in Form der Aktion „T4“ und der dezentralen Anstaltsmorde in den steirischen Heil- und Pflegeanstalten, an denen das Ärzte- und Pflegepersonal beteiligt war, waren es doch sie, die die ihnen anvertrauten Pfleglinge zwischen 1940 und 1941 im Zuge der Aktion „T4“ zur Vernichtung in die dafür vorgesehene Tötungsanstalt nach Hartheim verschickten und nach dem Stopp der Aktion dezentral in den Anstalten des Reichsgaus Steiermark weiter mordeten. Durch eine detaillierte Betrachtung des Grazer „Feldhofs“, seiner Filialen und der Siechenanstalten Knittelfeld und Kindberg sollen zum einen die dort begangenen „Euthanasieverbrechen“ während der NS-Zeit nachgezeichnet und zum anderen die dafür verantwortlichen Personen namhaft gemacht werden. Speziell wird dabei der Fokus auf das Wirken der in den steirischen Anstalten tätigen Ärzte und Pfleger gelegt, wobei das Ziel dieser Arbeit darin besteht, die Beteiligung und Funktion des medizinischen Personals an den Patiententötungen darzustellen und eine Antwort auf die

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Frage zu geben, in welchem Ausmaß sie am nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm beteiligt waren. Dazu dient eine biografische Darstellung jener Ärzte und Pfleger, die sich laut Anklageschriften, Zeugenaussagen und diverser Schriftwechsel der Beteiligung an den NS- „Euthanasieverbrechen“ im Gau Steiermark schuldig gemacht haben. Anhand dieses Quellenmaterials wird rekonstruiert, inwiefern sie an den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes in Bezug auf die „Euthanasie“ beteiligt und dafür verantwortlich waren.

Einen weiteren Schwerpunkt dieser Arbeit bilden die im Zuge der Aktion „T4“ von den steirischen Heil- und Pflegeanstalten abgehenden Transporte in die Vernichtungsanstalt Hartheim und deren Zwischenanstalt Niedernhart, die die Tötung der dorthin transportierten Patienten zur Folge hatten. Zu ermitteln sind die Zahl und Datierung der Transporte, die Opferzahlen sowie der organisatorische Fahrplan der Transporte. Ebenso wird Bezug auf die für die Todestransporte als Grundlage dienenden Selektionskriterien genommen. Schließlich soll ermittelt werden, inwiefern und in welchem Ausmaß sich Ärzte und Pfleger an der „Euthanasie“ im Zuge der Aktion „T4“ beteiligt haben. Für diesen Beitrag zur Täterforschung ist es unerlässlich, sich auch mit der sogenannten Kinderfachabteilung und der damit verbundenen Tötung von Kindern und Jugendlichen am Grazer „Feldhof“ auseinanderzusetzen. Zunächst gilt es zu ermitteln, ab welchem Zeitpunkt eine Kinderfachabteilung am „Feldhof“ existierte, wie diese organisiert war und welche Rolle in diesem Zusammenhang die Filialen der Zentralanstalt am „Feldhof“ spielten. Im Zuge dessen ist aufzuzeigen, welche Personen in die Abläufe der Kinderfachabteilung involviert waren, wer an der Tötung von Minderjährigen beteiligt war bzw. wie die Tötungsvorgänge konkret aussahen. Zudem wird versucht, die Zahl jener Kinder und Jugendlichen, die der „Minderjährigeneuthanasie“ am Grazer „Feldhof“ zum Opfer fielen, zu bestimmen.

1.2 Kapitelübersicht

Diese Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel samt Unterkapitel. Die thematische Einführung in diese Untersuchung beginnt mit Kapitel 2. Hier werden einleitend historische und begriffliche Grundlagen der NS-„Euthanasie“ erläutert, deren Ursprung teilweise schon in der Antike und der Neuzeit zu finden ist. Für die Auseinandersetzung mit der Thematik der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus ist eine detaillierte Beschreibung dieses Begriffs unerlässlich. Neben der Klärung des Begriffs „Euthanasie“ und dessen etymologischen Ursprungs wird dessen multidimensionales Bedeutungsfeld von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert dargelegt 7 und auf die Frage Bezug genommen, wie es sich im Lauf der Jahrhunderte verändert bzw. entwickelt hat. Dabei wird vor allem auf philosophische, medizinische und juristische Stellungnahmen zur Thematik „Euthanasie“ und Sterbehilfe eingegangen (Kapitel 2.1). Anschließend wird aufgezeigt, an welchen Ideologien sich die Nationalsozialisten orientierten. Dabei wird vor allem auf die Sterbehilfediskussionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen Theorien von Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Eugenik und deren Vertreter Bezug genommen, die eine „Ausscheidung der Schwachen“ tendenziell als positiv bewerteten (Kapitel 2.1.1).

Kapitel 3 zeigt auf, dass sich insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik die „Euthanasie-Debatte“ dahingehend veränderte, dass zum einen die Forderungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen und zum anderen nach der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ immer lauter wurden. Hier ist vor allem darzulegen, dass die Vorstellungen von der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, die im Lauf der 20er Jahre in den Begriff „Euthanasie“ eingingen, die Legitimationsbasis für den vom Nationalsozialismus begangenen Massenmord an Kranken und Behinderten bildeten. Anschließend wird versucht, eine Brücke zur Rassenhygienischen Bewegung in Österreich – die sich stark an jenen Vorstellungen der deutschen Initiative für Rassenhygiene orientierte – zu schlagen. Eine zentrale Rolle nahm dabei die „Wiener Gesellschaft für Rassenpflege“ ein. Hier wird gezeigt, wie die vor dem „Anschluss“ Österreichs 1938 noch theoretischen Überlegungen hinsichtlich der Rassenhygiene durch die staatliche Gesundheits- und Sozialpolitik des NS-Regimes ihre praktische Umsetzung im ganzen Land erfuhren (Kapitel 3.1). Im Anschluss wird der Ausgangspunkt für die Aufnahme rassenhygienischer Ideen in die Ideologie des Nationalsozialismus anhand einzelner Passagen aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“, worin er durch seine sozialdarwinistisch-rassenhygienischen Argumente bereits vor der Machtübernahme der NSDAP für die Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens eintrat, erläutert (Kapitel 3.1.1). Danach wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorgestellt und herausgearbeitet, welche Folgen die Verabschiedung dieses Gesetzes auch für Österreich hatte. Außerdem wird versucht die Frage zu beantworten, ob dieses Gesetz eine Signalwirkung für die Planung des „Euthanasie-Programms“ hatte (Kapitel 3.1.2).

Kapitel 4 beschäftigt sich vor allem mit der Planung, Organisation und Durchführung der NS- „Euthanasie“, deren Basis mit einer rassenhygienischen Propagandakampagne gelegt wurde. Die einzelnen „Euthanasie“-Formen werden hier kurz vorgestellt (Kapitel 4.1). Im Anschluss liegt der Fokus auf der Entwicklung und dem Ablauf der NS-„Euthanasie“, die mit der

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„Kindereuthanasie“ begann, wobei hier besonders auf den „Fall Leipzig“ und seine Bedeutung für den Beginn der „Euthanasie“ an Kindern Bezug genommen wird (Kapitel 4.2). Anschließend werden die Planung und der organisatorische Apparat der „Kindereuthanasie“ erklärt (Kapitel 4.2.1). Danach werden die tatsächliche Umsetzung der Tötung von Kindern im Zuge des „Reichsausschussverfahrens“ erläutert, auf die verschiedenen Tötungsmethoden der „Kindereuthanasie“ Bezug genommen und die dadurch verursachten Opferzahlen angegeben (Kapitel 4.3). Die 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beginnende Ausgrenzungspolitik erreichte mit der „Aktion T4“, der rund 70.000 kranke und behinderte Menschen zum Opfer fielen, ihren Höhepunkt. Zunächst wird erläutert, was es mit dieser „Aktion“ auf sich hatte und welchen Zweck sie erfüllen sollte. Anschließend wird besonders auf die Planung und Organisation dieser „Euthanasie-Aktion“ eingegangen (Kapitel 4.4) und darauf, wie die Nationalsozialisten versuchten, diese geheime Reichssache und die damit verbundene Ermordung tausender Menschen mit eigens dafür installierten Tarnorganisationen zu verschleiern (Kapitel 4.4.1). In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, einen kurzen Überblick über jene Anstalten zu geben, die für die Vernichtung „Minderwertiger“ durch Vergasung im Rahmen der „Aktion T4“ herangezogen wurden und auf welche Auswahlkriterien man dabei achtete (Kapitel 4.4.2). Danach wird detailliert auf die Erfassung, Selektion und Tötung der Patienten eingegangen, wobei zu beschreiben ist, auf welcher Grundlage Menschen für die anstehenden Todestransporte zwecks Vergasung ausgewählt wurden und wie die Tötungsvorgänge in den Vernichtungszentren vonstattengingen (Kapitel 4.4.3). Den Abschluss von Kapitel 4 bildet der Stopp der „Aktion T4“, der jedoch keineswegs das Ende des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms bedeutete, sondern vielmehr die zweite Phase der „Euthanasie“ einleitete, bei der nun kranke und wehrlose Patienten durch Verabreichung von Medikamenten, Verhungernlassen und Vernachlässigung in den Anstalten selbst den Tod fanden. Hier werden zudem die Gründe, die schließlich zur Einstellung der „Aktion T4“ führten, erläutert (Kapitel 4.5).

Kapitel 5 zeigt die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen am Beispiel des Gaus Steiermark auf, wobei hier besonders die Zentralanstalt am „Feldhof“, ihre Filialen, die Heil- und Pflegeanstalt Neu Cilli und die Landessiechenanstalten Kindberg und Knittelfeld im Fokus stehen. Zunächst werden die betreffenden Heil- und Pflegeanstalten in ihrer Struktur und Geschichte beschrieben, wobei zu klären ist, warum der Grazer „Feldhof“ als Zentralanstalt fungierte und auf seine im Umland liegenden Filialen angewiesen war (Kapitel 5.1 und 5.2). Nachfolgend steht ein kurzer historischer und struktureller Überblick über die

9 steirischen Siechenanstalten, die, obwohl sie keine Filialen des „Feldhofs“ im engen Wortsinn waren, im Zuge der späteren „Euthanasie“-Verbrechen des medizinischen Personals eine wesentliche Rolle spielten (Kapitel 5.2.1). Unverzichtbar ist in diesem Zusammenhang auch eine kurze Beschreibung der Tötungsanstalt Hartheim, deren Einzugsgebiet unter anderem die gesamte „Ostmark“ umfasste und wohin die Pfleglinge aus dem Gau Steiermark transportiert und durch Gas ermordet wurden (Kapitel 5.2.2). Anschließend wird die Vorgeschichte der Prägung der österreichischen „Euthanasie“-Täter dargelegt und ein historischer Abriss zur Geschichte der Psychiatrie gegeben. Hierdurch soll erkennbar werden, dass zur Entwicklung und Herausbildung der späteren nationalsozialistischen „Euthanasie“-Täter das politische Umfeld sowie der Einfluss der wissenschaftlichen Traditionen der involvierten psychiatrischen Schulen maßgeblich beitrugen (Kapitel 5.3). Im Anschluss liegt der Fokus auf den Abtransporten im Rahmen der „Aktion T4“ aus der Zentralanstalt Feldhof und seinen Filialen. Im Zentrum dieses Kapitels stehen vor allem der Ablauf, die Zahl der tatsächlich abgehenden Transporte zur Vernichtung nach Hartheim, die Zahl der Opfer und die in diese „Euthanasie-Maßnahme“ involvierten Personen (Kapitel 5.4). Danach wird aufgezeigt, dass von der „Aktion T4“ nicht nur der „Feldhof“ und seine Filialen betroffen waren, sondern diese Maßnahme zur Vernichtung kranker und behinderter Menschen auch in den Siechenanstalten Kindberg und Knittelfeld erfolgte. Auch hier wird versucht, eine möglichst genaue Opferzahl anzugeben und zu eruieren, wie viele Transporte aus diesen Anstalten zur Vergasung in das Mordschloss Hartheim abgingen, wie die Aktion dort ablief und wer an der Verschickung der Patienten beteiligt war (Kapitel 5.4.1). Dass die Ermordung der Patienten in der Vernichtungsanstalt Hartheim an ein System gebunden war und einem bestimmten Schema folgte, wird aus den folgenden Ausführungen ersichtlich (Kapitel 5.4.2). Im Anschluss werden weitere „Euthanasiemaßnahmen“, die als „dezentrale Euthanasie“ oder „Euthanasie der zweiten Phase“ bezeichnet werden und nach dem offiziellen Stopp der Aktion „T4“ in den steiermärkischen Heil- und Pflegeanstalten ergriffen wurden, um die Vernichtungsmaschinerie am Laufen zu halten, aufgezeigt. Diese „Euthanasiemaßnahmen“ betrafen wiederum verstärkt den Grazer „Feldhof“, insbesondere dessen Kinderfachabteilung. Hier ist vor allem zu klären, wie diese Abteilung aufgebaut und organisiert war und ab wann die Existenz einer Kinderfachabteilung am Grazer „Feldhof“ nachweisbar ist. Dabei wird auch auf die mit dieser Abteilung verbundenen Filialen des „Feldhofs“ Bezug genommen und aufgezeigt, welches Personal an den Abläufen und den damit verbundenen Tötungen Minderjähriger beteiligt war. Ebenso wird erläutert, wie diese Tötungsvorgänge vonstattengingen. Des Weiteren behandelt dieser Abschnitt eine weitere nationalsozialistische

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Schreckenstat, die in Verbindung mit der dezentralen Anstalts-„Euthanasie“ steht und sich gegen Kriegsende in der damaligen Filiale des „Feldhofs“ in Kainbach zugetragen hat. Danach wird noch kurz auf das Schicksal jener psychisch kranken sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter eingegangen, die ab 1944 im „Feldhof“ Aufnahme fanden (Kapitel 5.5).

Abschließend versucht Kapitel 6, eine biografische Darstellung jener Ärzte und Pfleger zu geben, die sich laut Anklageschriften bzw. polizeilicher Vorerhebungen, Zeugenaussagen und diverser Schriftwechsel der Beteiligung an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen in der Steiermark schuldig gemacht haben. Zudem soll rekonstruiert werden, inwiefern sie an den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes in Bezug auf die „Euthanasie“ beteiligt und dafür verantwortlich waren. Die biographischen Ausführungen sollen die Ergebnisse für den Leser plastischer und lebendiger gestalten und Auskunft darüber geben, inwiefern die NS- Ideologie eine Handlungsorientierung für das medizinische Personal in den steirischen Heil- und Pflegenanstalten war bzw. wie sie diese unterstützten. Es ist davon auszugehen, dass die hier namhaft gemachten Personen mehr als nur Erfüllungsgehilfen der NS-Gesundheitspolitik waren.

1.3 Quellenlage

Über die genaue Quellenlage zur NS-„Euthanasie“ im Gau Steiermark konnte das Steiermärkische Landesarchiv keine exakte Auskunft geben. Nach einem Beratungsgespräch1 wurde bezüglich der Thematik der vorliegenden Arbeit und der damit verbundenen Täterforschung auf die Personalakten des Feldhofarchivs2 und jene der Ärztekammer Steiermark3 verwiesen, die das Steiermärkische Landesarchiv zur Verfügung stellte und die sich nach näherer Durchsicht als besonders geeignet für eine detaillierte biographische Darstellung jener Ärzte und Pfleger, die in das Vernichtungsprogramm der

1 Beratungsgespräch mit Mag. Dr. Norbert Weiss MAS, Steiermärkisches Landesarchiv, 11.2.2021. 2 Vgl. beispielsweise Schreiben an den Reichsstatthalter in der Steiermark am 15. Jänner 1943, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Oskar Begusch, StLA; Schreiben der Direktion der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke „Am Feldhof“ bei Graz an das Präsidium der Landeshauptmannschaft Steiermark am 31. August 1937, Feldhof-Archiv, Personalakten Dr. Ernst Sorger, StLA; Schreiben der Direktion der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke am Feldhof an das Präsidium der Landeshauptmannschaft Steiermark vom 2. Dezember 1936, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Peter Korp, StLA. 3 Vgl. beispielsweise Fragebogen zu Personal- und Familiendaten, Fachliche Daten und Politische Daten der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Mayr 1949, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA; Schreiben von Dr. Hans Machan an den Präsidenten des Landesgerichtes Graz vom 26.1.1949, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA; Schreiben des Beauftragten des Reichsärzteführers an die KVD-Landesstelle Donauland vom 7.8.1939, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 11

Nationalsozialisten in der Steiermark involviert waren, erwiesen haben. Zudem konnten anhand einer eingehenden Literaturrecherche Quellen ausfindig gemacht werden, die insbesondere die Beteiligung des Personals der steirischen Heil- und Pflegeanstalten betreffen. Dabei handelt es sich zum einen um den Nachlass des zur Zeit des Nationalsozialismus in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt „Feldhof“ tätigen Arztes Dr. Ernst Arlt4 – eingesehen im STLA –, um Zeitzeugeninterviews, die teilweise Thomas Oelschläger selbst und teilweise Peter Nausner von 1982 bis 1998 führten5, und andererseits um die Akten des Landesgerichts für Strafsachen (LGS) Leoben,6 des LGS Graz7 und einen Akt einer kriminalpolizeilichen Sonderreihe der Polizei Graz,8 die für die durch das medizinische Personal begangenen „Euthanasie“-Verbrechen in der Steiermark besonders relevant sind und daher für die Namhaftmachung der „Euthanasie“-Täter für die vorliegende Arbeit herangezogen und ebenso vom STLA bereitgestellt wurden.

Zu einem ähnlichen Schluss sind auch Thomas Oelschläger, Rainer Danzinger und Udo Benzenhöfer gekommen, deren Untersuchungen der NS-„Euthanasie“ in der Steiermark – am Beispiel des Grazer „Feldhofs“ – sich ebenso unter anderem auf die Personalakten der Ärzte und Pfleger, das Tagebuch von Ernst Arlt und Zeitzeugeninterviews stützen.9 Heimo Halbrainer hingegen bezieht sich in seiner Forschungsarbeit zur NS-„Euthanasie“ in der Obersteiermark insbesondere auf die Akten des LGS Graz10 und des LGS Leoben.11 Birgit Poier hat in ihrer Diplomarbeit insbesondere den Bestand 191 der Landesregierung herangezogen und diese Quellen umfangreich bearbeitet, wobei Poier für ihre Forschungen auch das Tagebuch Arlts verwendet hat.12 Ebenso intensiv mit dem Bestand 191 der Landesregierung hat sich Helge Stromberger beschäftigt, der auf die Qualität dieser Quelle im

4 Tagebuch Dr. Ernst ARLT, Steiermärkisches Landesarchiv Graz, A. Arlt Ernst, Nachlass K. 1, H. 1. 5 Vgl. OELSCHLÄGER Thomas/DANZINGER Rainer/BENZENHÖFER Udo, Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, Linz 2015, 153-212. 6 Landesgericht für Strafsachen Leoben, Vr 11/1946 und Vr 973/46, StLA. 7 Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr 1261/1945, StLA. 8 KrPol-Sonderreihe der Polizei Graz, 6927-1945, StLA. 9 Vgl. OELSCHLÄGER/DANZINGER/BENZENHÖFER, Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 10-11. 10 Vgl. HALBRAINER Heimo, „Ich glaube, es hat lediglich Dr. Begusch davon gewusst.“ Die strafrechtliche Verfolgung der „Euthanasie“-Verbrechen in der Steiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014, 131-151. 11 Vgl. HALBRAINER Heimo, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“ NS-Euthanasie in der Obersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014, 83- 99. 12 Vgl. POIER Birgit, „Euthanasie“ in der Steiermark. Nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik gegen Behinderte und psychisch Kranke am Beispiel der Grazer Anstalt „Feldhof“. Ungedr. Dipl.-Arb. Graz, 2000. 12

Hinblick auf die NS-„Euthanasie“ verweist.13 Diese Quelle wurde jedoch für die vorliegende Diplomarbeit nicht eingesehen, da der Fundus der oben angegebenen Quellen als ausreichend angesehen wurde, um die Thematik dieser Untersuchung darlegen zu können, und da der Bestand 191 für die konkrete Fragestellung keine explizite Verwendung fand.

1.4 Quellenkritik

Als Quelle für die vorliegende Arbeit werden der Nachlass bzw. das Tagebuch des während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft als Primararzt am Grazer „Feldhof“ tätigen Dr. Ernst Arlts verwendet. Darin gibt er zum Teil sehr detaillierte Einblicke in die Geschehnisse, die sich von 194014 bis 1949 am „Feldhof“ zugetragen haben. Das Tagebuch beinhaltet neben relativ genauen Datumsangaben zu den einzelnen Abtransporten aus dem „Feldhof“ noch Angaben zur Zahl der deportierten Personen, Abschriften amtlicher Schriftstücke und teilweise Originalbriefe, Todesanzeigen für abtransportierte Patienten mit Kommentaren Arlts, Postkarten sowie Meldebögen. Des Weiteren beschreibt Arlt einige andere zu dieser Zeit am „Feldhof“ tätige Ärzte. Seine Charakterisierungen seiner Kollegen geben zudem zum Teil Aufschluss darüber, wie jene den Euthanasiemaßnahmen am „Feldhof“ gegenüberstanden und sich daran beteiligten.

Laut Widmung des Tagesbuches sollten die Aufzeichnungen erst nach Arlts Ableben dem Steiermärkischen Landesarchiv übergeben und erst 30 Jahre danach geöffnet werden.15 Im Sommer 1999 wurde das Tagebuch schließlich dem Steiermärkischen Landesarchiv übergeben.16 Mit relativ großer Wahrscheinlichkeit wurde dieses Tagebuch erst nachträglich verfasst. Einen Hinweis darauf gibt beispielsweise die dem Tagebuch vorangestellte Widmung, die erst vom 30. Mai 1959 stammt. Zudem weist das Tagebuch Zeitsprünge auf. Erkennen lässt sich dies zum Beispiel daran, dass der erste Eintrag Arlts vom Neujahrstag 1941 datiert ist,17 er jedoch anschließend die Ereignisse von 1940 rund um den Beginn der Abtransporte aus dem „Feldhof“ darlegt. Auffallend ist zudem, dass Arlt immer, wenn er das

13 Vgl. STROMBERGER Helge, Forschungsbericht zur Erfassung der steirischen T4 Opfer – Erläuterungen zu Projektabschnitt2 und Datenbank „STalleDB4“ (= unveröffentlichter Bericht für die Dokumentationsstelle Hartheim), Klagenfurt 2007, 19. 14 Poier gibt an, dass Arlts Aufzeichnungen den Zeitraum 1941-1949 umfassen, jedoch finden sich auch einige Einträge, die mit 1940 datiert sind. Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 7 und ARLT, 43-69, StLA. 15 Vgl. ARLT, 1, StLA. 16 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 7. 17 Vgl. ARLT, 11, StLA. 13

Wort „Euthanasie“ gebraucht, es unter Anführungszeichen setzt. Dies ist eine Schreibweise, die erst nach 1945 in Bezug auf die NS-Euthanasie verwendet wurde.

Betrachtet man Arlts Ausführungen, so erkennt man schnell, dass er unter keinen Umständen mit den am „Feldhof“ begangenen Gräueltaten in Verbindung gebracht werden wollte. Schon der erste Eintrag soll den Eindruck vermitteln, dass er die Aufdeckung dieser Taten als seine Pflicht ansah und sich dazu entschlossen hat, das Geschehen in der Anstalt zu dokumentieren.18 In diesem Zusammenhang spricht er von „ungeheuerlichen Geschehnissen, die in ihren Folgen unübersehbar sind“.19 Warum er sein Tagebuch erst 30 Jahre später für die Forschung zugänglich machte, sei dahingestellt. Was die Transporte betrifft, so gibt er des Öfteren an, zum Zeitpunkt der Abtransporte gar nicht in der Anstalt anwesend gewesen und erst im Nachhinein von Ärztekollegen darüber informiert worden zu sein. Stets berichtet Arlt von seiner ablehnenden Haltung gegenüber der „Euthanasie“ und dem Wunsch, dass diese rasch ein Ende findet. Nach seinen Angaben war er der Einzige, der Angehörige vor dem Abtransport der Patienten warnte und nur das Wohl der Pfleglinge im Sinn hatte. Immer wieder gibt er an, dass er praktisch zum Mitmachen gezwungen war, ihm die Hände gebunden waren und die Hauptschuldigen andere sein. Diese und ähnliche Rechtfertigungen ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Tagebuch. Andererseits konnte Arlt auch einen wesentlichen Beitrag zur Täterforschung leisten, indem er Abschriften wichtiger Briefwechsel und Dokumente anfertigte, die kurz vor Kriegsende vernichtet wurden und die essenziell für die Täterforschung im Hinblick auf die am „Feldhof“ begangenen Euthanasieverbrechen sind.

Letztendlich war es Birgit Poier, die durch ihre intensiven Forschungen und Aufarbeitungen der „Euthanasie“ und den Vergleich von Arlts Tagebuch und der Krankenakten des „Feldhofs“ aufzeigen konnte, dass diese mit den Ausführungen Arlts weitestgehend übereinstimmen. So bleibt festzuhalten, dass Arlts Tagebuch – auch wenn es höchstwahrscheinlich erst im Nachhinein verfasst wurde – eine detailreiche und vertrauenswürdige Quelle ist und einen tiefen Einblick in die NS-„Euthanasie“ im Hinblick auf ihre Organisation und die Beteiligung des Personals am Grazer „Feldhof“ gibt bzw. zulässt.

Für eine möglichst genaue biographische Beschreibung jener Ärzte und Pfleger, die an der NS-„Euthanasie“ in den steirischen Heil- und Pflegeanstalten beteiligt und dafür verantwortlich waren, wurden für die vorliegende Arbeit die Personalakten des

18 Vgl. ebd. 19 Ebda. 14

Feldhofarchivs und der Ärztekammer Steiermark als Quellen verwendet. Diese beinhalten persönliche Daten, Informationen zu den beruflichen Werdegängen, Aufschlüsse darüber, in welcher Funktion die Betreffenden in den Anstalten tätig waren und wie deren politische Einstellung aussah. Für eine biographische Beschreibung der „Euthanasie“-Täter sind diese Quellen besonders wertvoll.

Als weitere Quelle dienen die von Thomas Oelschläger und Peter Nausner 1982 bis 1998 durchgeführten Zeitzeugeninterviews, die in Auszügen im Anhang der Publikation „Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit“20 abgedruckt sind und daraus entnommen wurden. Bereits 1982 führte Nausner Gespräche21 mit zwei ehemaligen Oberpflegern, einer Oberschwester sowie einem Arzt, die zur Zeit des Nationalsozialismus am „Feldhof“ beschäftigt waren. Bei den von Oelschläger zwischen 1996 und 1998 durchgeführten Interviews wurde ein ehemaliger Oberpfleger der Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz, der von den Vorgängen am „Feldhof“ durch seine Geschwister, die während der NS-Herrschaft dort bedienstet waren, informiert worden war, befragt. Außerdem wurden Gespräche mit zwei geistlichen Schwestern geführt, die in den Filialen des „Feldhofs“ Bruck an der Mur, Kainbach und Pertlstein tätig waren.22

Erkennbar ist, dass sowohl Nausner als auch Oelschläger bei ihren Befragungen ein bestimmtes Schema anwenden. Die Interviews beginnen großteils mit einer offenen Frage, die sich zumeist darauf bezieht, wie die Befragten die Zeit zwischen 1939 und 1945 am „Feldhof“ oder in seinen Filialen bei den Befragungen der beiden geistlichen Schwestern erlebt haben. Anschließend folgen spezifischere Fragen in Bezug auf die abgehenden Transporte, deren Organisation, die Kinderabteilungen im „Feldhof“ und seinen Filialen, mögliche Widerstände in der Anstalt sowie auf eine mögliche Beteiligung von Ärzten und Pflegern an der NS- „Euthanasie“. Augenscheinlich ist, dass die Fragen an die Tätigkeit der Befragten angepasst wurden, um an Informationen zu gelangen, die der Befragte aufgrund seiner ehemaligen Stellung eigentlich haben müsste. Grundsätzlich lässt sich eine große Bereitschaft der Zeitzeugen zur Beantwortungen der Fragen erkennen. Bisweilen kommt es jedoch vor, dass Fragen ausgewichen wird, vor allem, wenn es darum geht, Verantwortliche für die Euthanasieverbrechen zu nennen. Diese Zurückhaltung ist vor allem bei den männlichen Befragten erkennbar und äußert sich in der Phrase „daran kann ich mich nicht erinnern“.

20 OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015. 21 Die von Nausner getätigten Interviews entstanden im Rahmen seiner Recherchen zum Dokumentarfilm „Unwertes Leben“ und der von ihm und Ulrike Benko produzierten Hörfunkserie „Sozial Lokal“. Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 153. 22 Vgl. ebd. 15

Zudem geht aus allen Befragungen hervor, dass die „Euthanasie“ in der Anstalt am „Feldhof“ ein offenes Geheimnis war und auf die Frage, ob man dagegen etwas unternehmen hätte können, stets geantwortet wird, dass man darauf keinen Einfluss hatte.

Nausners und Oelschlägers Zeitzeugeninterviews wurden erst Jahrzehnte nach den Euthanasieverbrechen in der Steiermark durchgeführt, was die Gefahr in sich birgt, dass die Erinnerung der befragten Personen lückenhaft ist bzw. vieles verdrängt oder vergessen wurde. Aufgrund der Vorgehensweise der beiden Interviewer in Bezug auf die Art der Fragen und den daraus resultierenden Erhalt wichtiger Informationen rund um die Geschehnisse, die Organisation und Beteiligung an der NS-„Euthanasie“ am Grazer „Feldhof“ ist diese Quelle jedoch sehr zuverlässig und eignet sich besonders für die vorliegende Arbeit.

Mit den Akten des Landesgerichts für Strafsachen Leoben, Vr 11/1946, Vr 973/46, des Landesgerichts für Strafsachen Graz, Vr 1261/1945, und einer Kriminalpolizeilichen Sonderreihe der Polizei Graz 6927-194523 wird das für diese Arbeit verwendete Quellenmaterial abgerundet.

In diesem Zusammenhang muss zunächst erwähnt werden, dass sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft sogenannte Volksgerichte an die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen machten. Daher wurden nach Kriegsende bei den Oberlandesgerichten Wien, Linz und Graz Volksgerichte installiert, die als Sondergerichte fungierten und deren Aufgabe es war, nationalsozialistische Kriegsverbrechen bzw. weitere Untaten zu ahnden. Anschließend begannen Staatsanwaltschaften in Österreich – zum einen an den Volksgerichten selbst und zum anderen an deren Außensenaten wie beispielsweise in Leoben – umfangreiche Ermittlungsverfahren wegen NS-Euthanasieverbrechen gegen Ärzte, das Pflegepersonal und die Anstaltsleiter einzuleiten.24

Die herangezogenen Akten enthalten Vernehmungsprotokolle von Angeklagten und Zeugen, Erhebungen von Ermittlungsbeamten, Haftschriften, Gutachten von Sachverständigen, Anklagen und Beschlüsse der Staatsanwaltschaft und Urteile der Richter.

Besonders im Hinblick auf die Vernehmungsprotokolle muss beachtetet werden, dass ihr Quellenwert stark vom Erinnerungsvermögen der Vernommenen abhängt bzw. davon, wie sie

23 An dieser Stelle möchte ich Frau Erika Trummer-Haas danken, die mir diese Sonderreihe aus ihrem Bestand zur Verfügung gestellt hat. 24 Vgl. HALBRAINER, „Ich glaube, es hat lediglich Dr. Begusch davon gewusst.“ 2014, 131. 16 die Ereignisse wahrgenommen haben. Es ist auch davon auszugehen, dass die Erinnerungsbereitschaft von Zeugen und Angeklagten unterschiedlich stark ausgeprägt war.

Nichtsdestotrotz sind es genau diese Akten, deren Aussagen von Zeugen und Angeklagten und polizeiliche Erhebungen eine Rekonstruktion der Ereignisse und der Beteiligung des Ärzte- und Pflegepersonals an den NS-Euthanasieverbrechen in der Steiermark zulassen und deren Verwendung als Quellen für die vorliegende Arbeit daher von großer Wichtigkeit ist.

1.5 Forschungsstand

Ansätze einer Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ bzw. der Medizin im Nationalsozialismus finden sich bereits 1947 mit der Erstausgabe des Dokumentenbandes „Das Diktat der Menschenverachtung“25 von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke26 und dem Werk von Platen-Hallermund27 von 1948, die aber nur wenig Aufmerksamkeit fanden. Im Anschluss blieb es für längere Zeit still im Hinblick auf Aufarbeitungsversuche der „Euthanasie“, was vor allem an der Weigerung der Ärzte und der Gesellschaft lag, sich mit den Geschehnissen des nationalsozialistischen Regimes auseinanderzusetzen. An diesem Umstand änderte auch Kurt Nowaks28 Dissertation zur Vernichtung „unwerten“ Lebens nichts.

Erst ab 1980 begannen sich eine neue Historikergeneration, Mediziner und Naturwissenschaftler mit der „Euthanasie“ und der damit verbundenen Vernichtung „unwerten“ Lebens intensiv zu befassen. Es sind vor allem die Arbeiten von Hans Walter Schmuhl,29 Götz Aly30 und Ernst Klee31, die ausschlaggebend dafür waren, dass die NS- „Euthanasie“ zunehmend in den Fokus der zeithistorischen Forschung rückte. Bereits

25 Vgl. für folgenden Abschnitt: OELSCHLÄGER Thomas, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“ des „Reichsgau Steiermark“. In: FREIDL Wolfgang/KERNBAUER Alois/NOACK Richard H./SAUER Werner (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck et al. 2001, 119-120. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 8-11. 26 MITSCHERLICH Alexander/MIELKE Fred, Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen, Heidelberg 1947. 27 PLATEN-HALLERMUND Alice, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der Deutschen Ärztekommission beim Amerikanischen Militärgericht, Frankfurt a.M. 1948. 28 NOWAK Kurt, Eugenische Ausmerze und Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens, Leipzig (Diss.) 1971. 29 SCHMUHL Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1890-1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), Göttingen 1987. 30 ALY Götz, Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 1). 2. Auflage, Berlin 1987; ALY Götz (Hrsg.), Aktion T4. 1939-1945. Die „Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4“, Berlin 1989. 31 KLEE Ernst (Hrsg.), Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt a.M. 1992; KLEE Ernst, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 1983 (3. Auflage 2018). 17 vorhandene Forschungsergebnisse wurden von ihnen aufgegriffen, erweitert und adaptiert und so gelang es ihnen, die Thematik der „Euthanasie“ auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich und verständlich zu machen. Die Untersuchungen Alys, Schmuhls und Klees zur NS- „Euthanasie“ bilden die Basis für die folgende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Komplex „Euthanasie“. Einige ihrer Erkenntnisse wurden durch den heutigen Forschungsstand widerlegt, dennoch zählen die Werke der genannten Autoren zweifelsfrei nach wie vor zur Standardliteratur rund um die „Euthanasie“.32 Als Beispiele für die 90er Jahre sind die Werke von Henry Friedlander33 und Heinz Faulstich34 zu nennen.

Vereinzelte Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen „Euthanasie“ bzw. der Medizin im Nationalsozialismus begannen in Österreich – ähnlich wie schon in Deutschland – mit immenser Verzögerung. Erst in den 80er Jahren wurden vereinzelte Arbeiten, die Bezug auf die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen im Rahmen der „Euthanasie“ in Österreich nahmen, veröffentlicht.35 In diesem Zusammenhang ist insbesondere Wolfgang Neugebauer36 hervorzuheben. 1982 fand in Wien ein Symposium zum „Schutz der Persönlichkeitsrechte am Beispiel der Behandlung von Geisteskranken“ statt, bei dem der Historiker die „Euthanasie“ erläuterte.37 Zudem publizierte der Leiter des Dokumentationsarchives des Österreichischen Widerstandes in den Folgejahren diverse Artikel zur NS-„Euthanasie“, wobei er seinen Forschungsschwerpunkt vor allem auf die Situation in Wien legte.38

Stellvertretend für die Aufarbeitungsbemühungen im Tirol der 90er Jahre steht die Publikation von Hartmann Hinterhuber39 von 1995, die ihren Schwerpunkt auf das Schicksal

32 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 119-120. 33 FRIEDLANDER Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. 34 FAULSTICH Heinz, Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau 1998. 35 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 120. 36 NEUGEBAUER Wolfgang, Zur Psychiatrie in Österreich 1938-1945: „Euthanasie“ und Sterilisierung. In: Justiz und Zeitgeschichte. Symposium „Schutz der Persönlichkeitsrechte am Beispiel der Behandlung von Geisteskranken, 1780-1982“ am 22. und 23. Oktober 1982, Wien 1983, 197-285. 37 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000. 38 NEUGEBAUER Wolfgang (2005), Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien. In: GABRIEL Erhard/NEUGEBAUER Wolfgang (Hgg.), Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938, Wien 2005, 53-63; NEUGEBAUER Wolfgang, Die „Aktion T4“. In: Brigitte KEPPLINGER/Gerhart MARCKHGOTT/Hartmut REESE (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 17-34. 39 HINTERHUBER Hartmann, Ermordet und Vergessen. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten, Innsbruck-Wien 1995. 18 psychisch kranker und behinderter Tiroler und Südtiroler Patienten legte, die der nationalsozialistischen „Euthanasie“ zum Opfer fielen.40

Als Wegbereiter der Erforschung der NS-„Euthanasie“ in der Steiermark gilt Peter Nausner, der jedoch zu Beginn seiner Recherchen zu den in der Steiermark begangenen „Euthanasieverbrechen“ auf große Schwierigkeiten stieß. 1982 gestaltete er gemeinsam mit Ulrike Benko eine Rundfunksendung. Ihr Thema war die steirische Psychiatrie in der NS- Zeit. Anschließend folgte der Dokumentarfilm „Unwertes Leben“,41 wobei 200442 die Originaltexte der Rundfunksendung und des Films verschriftlicht wurden.43 1998 wurde am Institut für Sozialmedizin der Karl-Franzens-Universität die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus in der Steiermark“ gegründet. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, eine möglichst detailgetreue Aufarbeitung der Geschichte bzw. Rolle der Medizin während der NS-Zeit in der Steiermark vorzulegen. Einen wesentlichen Schwerpunkt dieser Untersuchungen bildete die NS-„Euthanasie“.44 Daraus entstand das Werk „Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark“, dem 2001 ein weiteres Werk dieser Gruppe mit dem Titel „NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument“45 folgte. Im selben Jahr veröffentlichten Gerhard Fürstler und Peter Malina ein Werk über die Entwicklung der „Euthanasie“ in Österreich, das sich intensiv mit der Krankenpflege in den österreichischen Heil- und Pflegeanstalten zur Zeit des Nationalsozialismus befasst.46

Eine Pionierleistung im Hinblick auf die NS-„Euthanasie“ in der Steiermark hat Birgit Poier mit ihrer Diplomarbeit aus dem Jahr 2000 erbracht. Mit ihrer Untersuchung gelang es ihr, die im Zuge „der Aktion T4“ vom Grazer „Feldhof“ in die Vernichtungsanstalt Hartheim transportierten Opfer anhand von Krankenakten des Grazer „Feldhofs“ zu identifizieren.47 Mit ihrer Diplomarbeit und weiteren Artikeln hat sie einen immensen Beitrag zur Aufarbeitung

40 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 10. 41 NAUSNER Peter, Unwertes Leben, ORF o.J. 42 NAUSNER Peter, Unwertes Leben – Psychiatrie in der NS-Zeit. In: Wolfgang FREIDL/Werner SAUER (Hgg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, Wien 2004, 15-57. 43 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 9-11. 44 Vgl. FREIDL Wolfgang/KERNBAUER Alois/NOACK Richard H./SAUER Werner (Hgg.) (2001): Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck et al. 2001, 7-9. 45 FREIDL Wolfgang/SAUER Werner (Hgg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, Wien 2004. 46 FÜRSTLER Gerhard/MALINA Peter, „Ich tat nur meinen Dienst“. Zur Geschichte der Krankenpflege in Österreich in der NS-Zeit, Wien 2004. 47 POIER Birgit, „Euthanasie“ in der Steiermark. Nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik gegen Behinderte und psychisch Kranke am Beispiel der Grazer Anstalt „Feldhof“. Ungedr. Dipl.-Arb. Graz 2000. 19 der NS-„Euthanasie“ in der Steiermark geleistet.48 In diesem Zusammenhang muss auch auf die Studie von Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott und Hartmut Reese verwiesen werden, die ihren Forschungsschwerpunkt auf die in der Vernichtungsanstalt Hartheim begangenen Euthanasieverbrechen legten.49 Daneben sind hier die Publikationen von Walter Kohl50 und Tom Matzek51 zu nennen, die ausführlich über die Tötungsanstalt Hartheim und den dort begangenen Massenmord berichten.

Einen maßgeblichen Anteil an der Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in der Steiermark hat auch Helge Stromberger mit seinem unveröffentlichten Forschungsbericht52 und seinem im Band von Kepplinger, Reese und Marckhgott erschienenen Artikel, der einen Überblick über die „Aktion T4“ in der Steiermark gibt und zugleich weitere „Euthanasiemaßnahmen“ in der Steiermark aufzeigt.53 Zudem ist zu erwähnen, dass sich Stromberger bereits Ende 1980 in Kärnten auf regionalgeschichtlicher Ebene mit einer Publikation um eine Aufarbeitung der im Klagenfurter Gaukrankenhaus betriebenen NS-„Euthanasie“ bemüht hat.54

Umfangreich mit dem Thema „Kindereuthanasie“ und „Kinderfachabteilungen“ hat sich Udo Benzenhöfer beschäftigt. Er gibt ebenfalls einen kurzen Überblick über die Kinderfachabteilungen in Österreich, der Schwerpunkt seiner Forschung liegt jedoch auf Deutschland. Seine Werke liefern Informationen zu den Anfängen, Hintergründen und den Beteiligten an der „Kindereuthanasie“.55 In seiner Publikation „Der gute Tod?“ zeigt er die

48 Vgl. dazu beispielsweise POIER Birgit, „Erbbiologisch unerwünscht“. Die Umsetzung rassenhygienisch motivierter Gesundheits- und Sozialpolitik in der Steiermark 1938-1945. In: FREIDL Wolfgang/SAUER Werner (Hgg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, Wien 2004, 177-224; POIER Birgit, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung im Nationalsozialismus: „Euthanasie“ in der Steiermark. In: zeitgeschichte 27 (2000) H. 4, 269-299; POIER Birgit, Vergast im Schloss Hartheim – Die „T4“ PatientInnen aus der Grazer Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“. In: FREIDL Wolfgang/KERNBAUER Alois/NOACK Richard H./SAUER Werner (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck et al. 2001, 86-118; POIER Birgit, Vergast im Schloss Hartheim – Die „T4“ PatientInnen aus der Grazer Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014, 25-57. 49 KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008. 50 KOHL Walter, Die Pyramiden von Hartheim. „Euthanasie“ in Oberösterreich 1940 bis 1945 (= Edition Geschichte der Heimat). Grünbach 1997. 51 MATZEK Tom, Das Mordschloss. Auf der Spur von NS-Verbrechen in Schloss Hartheim, Wien 2002. 52 STROMBERGER Helge, Forschungsbericht zur Erfassung der steirischen T4 Opfer – Erläuterungen zu Projektabschnitt2 und Datenbank „STalleDB4“ (= unveröffentlichter Bericht für die Dokumentationsstelle Hartheim), Klagenfurt 2007. 53 STROMBERGER Helge, Die „Aktion T4“ in der Steiermark – Ein Überblick. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 411-436. 54 STROMBERGER Helge, Die ÄRZTE, die SCHWESTERN, die SS und der TOD. Die Region Kärnten und das produzierte Sterben in der NS-Periode, Klagenfurt 1987. 55 BENZENHÖFER Udo, Der Fall Leipzig (alias Fall „Kind Knauer“) und die Planung der NS- „Kindereuthanasie“, Münster 2008; BENZENHÖFER Udo, Kinder-„Euthanasie“. Genese und Struktur der „NS- 20 theologischen, philosophischen, medizinischen und juristischen Anschauungen über „Euthanasie“ und Sterbehilfe von der Antike bis zur Gegenwart auf und wie dieser Begriff von den Nationalsozialisten missbräuchlich für ihre Gräueltaten verwendet wurde.56 In Österreich hat sich vor allem Thomas Oelschläger mit der Erforschung der „Kinder- und Jugendlicheneuthanasie“ und den Kinderfachabteilungen auseinandergesetzt.57 Im speziellen mit der Kinderfachabteilung am Grazer „Feldhof“. Darin finden sich einige Hinweise zur Beteiligung des Ärztepersonals an der NS-„Euthanasie“ in der Steiermark und Informationen darüber, welche Rolle die Filialen des „Feldhofs“ im Hinblick auf die dort ansässige Kinderfachabteilung und die damit verbundene „Euthanasie“ an Kindern und Jugendlichen einnahmen.58 Weitere wichtige Werke zur „Kindereuthanasie“ in Österreich stammen vor allem von Waltraud Häupl.59

Ebenso liefert der Sammelband60 zu einer Tagung in Heidelberg 2006 neuere Beiträge zur NS-„Euthanasie“. Hier wird der Blick vor allem auf Opfer- und Täterbiographien gelegt, aber auch ein umfangreicher Überblick über den historischen Kontext der NS-„Euthanasie“ mit Österreichbezug gegeben. 2014 hat sich Heimo Halbrainer intensiv mit der NS-„Euthanasie“ in der Obersteiermark beschäftigt. Sein Beitrag dokumentiert die in den Siechenanstalten Kindberg und Knittelfeld vollzogenen „Euthanasieaktionen“ und die damit verbundenen Transporte von Patienten zur Vergasung in die Tötungsanstalt Hartheim. Das Besondere an diesem Beitrag ist, dass Halbrainer die für die Transporte verantwortlichen und darin involvierten Personen nennt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Täterforschung im Hinblick auf die „Euthanasie“-Verbrechen in der Obersteiermark leist.61 Zudem gibt er Einblicke darüber, wie die strafrechtliche Verfolgung dieser Verbrechen in der Steiermark

Kinder- und Jugendlicheneuthanasie“. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1012-1019; BENZENHÖFER Udo, „Kinderfachabteilungen“ und „NS-Kindereuthanasie“ (= Studien zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus 1), Wetzlar 2000. 56 BENZENHÖFER Udo, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009. 57 OELSCHLÄGER Thomas, Zur Praxis der Kinder-„Euthanasie“ am Beispiel Österreich. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1033-1042. 58 OELSCHLÄGER Thomas, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“ des „Reichsgau Steiermark“. In: FREIDL Wolfgang et al. (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck et al. 2001, 119- 135. 59 HÄUPL Waltraud, Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS- Kindereuthanasie, Wien-Köln-Weimar 2006; HÄUPL Waltraud, Der organsierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie, Wien-Köln- Weimar 2008; HÄUPL Waltraud, Spuren zu den ermordeten Kindern und Jugendlichen in Hartheim und Niedernhart. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie, Wien-Köln-Weimar 2012. 60 ROTZOL Maike et al. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn et al. 2010. 61 HALBRAINER Heimo, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“ NS-Euthanasie in der Obersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014, 83-96. 21 vonstattenging.62 Außerdem liefern Danzinger, Freidl und Oelschläger in dieser Publikation einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in der slowenischen Untersteiermark, indem sie die dort stattgefundenen Euthanasiemaßnahmen rekonstruiert haben.63 2014 wurde ein neues Forschungsprojekt an der Medizinischen Universität Graz ins Leben gerufen, das sich zum Ziel gesetzt hat, die NS-Euthanasieverbrechen in Kärnten anhand der „Landes-Irren- und Landes-Siechenanstalt Klagenfurt“ aufzuarbeiten. Daraus ging 2016 Freidls umfangreiches Werk über die Patiententötungen in der Landesirren- und Siechenanstalt Klagenfurt hervor.64

2015 veröffentlichten Oelschläger, Danzinger und Benzenhöfer eine Studie mit dem Titel „Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit“. Diese Publikation widmet sich vor allem der Tötung von Patienten im Grazer „Feldhof“ während der NS-Zeit und dem dafür verantwortlichen Personal. Es gibt einen detaillierten Überblick über die „Aktion T4“, die dezentrale Anstaltseuthanasie und die Kinder- und Jugendlicheneuthanasie am „Feldhof“.65 Seit 2018 widmet sich ein Forschungsprojekt der Karl-Franzens-Universität Graz der vergessenen Opfer der Kinder- und Jugendeuthanasie des ehemaligen St. Anna Kinderspitals und des Grazer „Feldhofs“. Der Schwerpunkt dieses Projekts liegt auf der Erfassung dieser Opfer in Form einer Datenbank. Nach Abschluss des Projekts sollen die Datenbanken die Möglichkeit zur biografischen Erforschung der Opfer bieten und den vergessenen Kindern und Jugendlichen einen Namen geben können.66

2 Der Begriff „Euthanasie“ und seine Entstehungsgeschichte

Für die Auseinandersetzung mit der Thematik der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus ist eine detaillierte Beschreibung dieses Begriffs unerlässlich. Im Fokus des folgenden Kapitels steht neben der Klärung des Begriffs „Euthanasie“ auch dessen multidimensionales Bedeutungsfeld und die Frage, wie es sich im Lauf der Jahrhunderte verändert bzw. entwickelt hat.

62 Vgl. ebd., 131-151. 63 DANZINGER Rainer/OELSCHLÄGER Thomas/FREIDL Wolfgang, Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014. 64 FREIDL Wolfgang (Hg.), Die NS-Psychiatrie in Klagenfurt, Wien 2016. 65 OELSCHLÄGER/DANZINGER/BENZENHÖFER, Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015. 66 Die Kinder- und Jugendeuthanasie in der Steiermark. Im Gedenken der vergessenen Kinderopfer des NS- Regimes des ehemaligen St. Anna Kinderspitals Graz und des Grazer Feldhofs im Kontext der historischen Medizin und Kinderbetreuung. https://www.nationalfonds.org/detailansicht/4250. 22

Das Wort „Euthanasie“, dessen Ursprung im Altgriechischen liegt, setzt sich aus den beiden Wörtern „eu“ (gut) und „thanatos“ (Tod) zusammen. Wörtlich übersetzt steht das Wort für „guter Tod“.67 Erstmalige Erwähnung findet der Begriff „Euthanasie“ im antiken Griechenland bei dem Dichter Kratinos im 5. Jahrhundert v. Chr., einem der Hauptvertreter der alten attischen Komödie.68 Das Wort „Euthanasie“ entstammt dem griechischen Wort „euthanasia“ und bezeichnet in der Antike einerseits – je nach Sprachgebrauch – ein leichtes und schmerzloses Sterben und andererseits nach den Wertvorstellungen der Stoiker einen guten und ehrenvollen Tod.69

Schon in der Antike wurden Ärzte mit Fällen unheilbar kranker Patienten konfrontiert, die sie aufgrund ihrer aussichtslosen Lage nicht mehr behandelten. Zudem berichtet Benzenhöfer, dass es in der Antike durchaus Möglichkeiten gab, sich durch diverse Mittel, die man vom jeweiligen Arzt erhalten konnte, selbst zu töten. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass Beihilfe zum Selbstmord seitens der Ärzte schon in der Antike eine gängige Praxis war. Belegen lässt sich diese These durch den für Ärzte zu leistenden Hippokratischen Eid. Schon allein die Tatsache, dass sich der Arzt mit diesem Schwur verpflichtete, keine Beihilfe zum Suizid zu leisten bzw. das Töten auf Verlangen zu verweigern, zeugt davon, dass es schon in frühester Zeit dementsprechende Anfragen an Ärzte gegeben haben muss.70

Festzuhalten bleibt außerdem, dass bereits in der Antike das Problemfeld „Euthanasie“ für Diskussionen unter Philosophen wie Platon oder Aristoteles sorgte.

Da für Platon die Interessen des Staates (Polis) an oberster Stelle standen, verfolgte er eine dem Staat dienliche Politik, die darauf abzielte, auf die Behandlung von Schwerkranken zu verzichten.71

Platon erweist sich in diesem Zusammenhang also als Befürworter der passiven Euthanasie. Grundsätzlich lehnte er – ganz im Sinne des Staates – Selbsttötungen ab, er propagierte jedoch den Suizid bei unheilbar Kranken, da dieser aufgrund der Unheilbarkeit der Patienten für ihn gerechtfertigt war. Ähnlich wie Platon legitimierte Aristoteles Tötungen, wenn sie im Interesse des Staates vollzogen wurden.72 Im Unterschied zu Platon positionierte sich

67 Vgl. https://www.gedenkstaetten-bw.de/begriff-euthanasie (6.1.2021). 68 Vgl. BENZENHÖFER Udo, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009, 13. 69 Vgl. SCHMUHL Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1890-1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75). Göttingen 1987, 25. 70 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 11-12. 71 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 28. 72 Vgl. ebd. 23

Aristoteles jedoch vehement gegen Selbstmord, da er bei einer möglichen Akzeptanz von Selbsttötungen seitens des Staates fürchtete, wehrfähige Bürger zu verlieren. Er bezeichnete Selbstmörder sogar als Verbrecher, die dem Staat Leben rauben würden, denn für Aristoteles gehörte ein menschliches Leben einzig und allein dem Staat. So war nach seinem Standpunkt auch eine unheilbare Erkrankung kein ethisches Motiv, sich das Leben zu nehmen. Ergo war für ihn die Beihilfe zum Suizid durch Ärztepersonal unzulässig.73

2.1 Multidimensionales Bedeutungsfeld „Euthanasie“ von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

Im Folgenden werden die verschiedenen Bedeutungsebenen des Begriffs „Euthanasie“ von der Antike bis ins 20. Jahrhundert erläutert. Schon in der Antike zeigt sich die Vieldeutigkeit des Begriffs, die auf eine Fülle verschiedener Bedeutungsebenen zurückzuführen ist. Nach Schmuhl resultiert diese Vieldeutigkeit außerdem daraus, dass sich diese andersartigen Bedeutungsebenen nach einem semantischen Wandel im Lauf der Zeit überlagerten, ohne dass bereits vorhandene Bedeutungsgehalte gänzlich beiseitegeschoben wurden.74

Unter „Euthanasie“ verstanden beispielsweise griechische Philosophen wie Poseidippos (ca. 310-240 v. Chr.), Philo von Alexandria (ca. 20 v. Chr.-ca. 50 n. Chr.) oder der eingangs erwähnte Kratinos (ca. 500-ca. 420 v. Chr.) einen „leichten“, schnellen Tod, der sich dadurch auszeichnete, dass er sich ohne eine lange Krankheit rasch vollzog.75

Ebenso für die Definition eines schnellen Todes im Hinblick auf „Euthanasie“ sprachen sich die Historiker Flavius Josephus (37/38-ca. 100 n. Chr.) und Sueton (70-122 n. Chr.) aus, wobei sich ihre Vorstellungen von „Euthanasie“ unterschieden. Während Flavius Josephus „Euthanasie“ als einen schnellen Tod durch die Hand eines Feindes bezeichnete – er nennt hier als Beispiel das Schicksal Aussätziger in der von feindlichen Truppen belagerten Stadt Samaria, die sich entweder für die schnelle Tötung durch Feindeshand entscheiden oder langsam an Hunger sterben müssen –, bezog sich Sueton auf den von Kaiser Augustus selbst gewählten Begriff „Euthanasie“, der für den Kaiser ein Sterben ohne Qualen symbolisierte. In

73 Vgl. ebd., 29-30. 74 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 25. 75 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 13-15. 24 diesem Zusammenhang deutete Sueton „Euthanasie“ als einen leichten, schmerzlosen und schnellen Tod.76

Eine gänzlich andere Betrachtungsweise des Begriffs „Euthanasie“ lässt sich bei dem griechischen Dichter und Komödienschreiber Meandros (342/341-293/292 v. Chr.) feststellen. Für ihn bedeutete „Euthanasie“ vor allem, früh- und rechtzeitig aus dem Leben zu scheiden, da nur der Tod in der Jugend als „guter“ Tod bezeichnet werden kann und einem somit die Mühen des Alters erspart.77

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Antike der Begriff „Euthanasie“ als eine Art Archetyp fungierte. Mit „Euthanasie“ wurde vor allem ein Ideal ausgedrückt. Auch auf den fehlenden Gebrauch des Begriffs „Euthanasie“ im medizinischen Kontext – in Bezug auf ärztliche Handlungen – ist an dieser Stelle hinzuweisen. Festzuhalten bleibt, dass das Wort „Euthanasie“ in der Antike im Zusammenhang mit der Beihilfe zur Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen nicht gebraucht wird bzw. unerwähnt bleibt. Begründet ist dies darin, dass sowohl der Hippokratische Eid als auch die antike Rechtsprechung die Beihilfe zur Selbsttötung verboten. Demnach konnte ein Arzt, der einen Patienten vorsätzlich tötete – auch wenn dies der Patient erbat – angeklagt und verurteilt werden. Laut Benzenhöfer ist aber kein Fall überliefert, der einen Tatbestand belegt, wonach ein Arzt aufgrund der absichtlichen Tötung eines Patienten vor Gericht gestellt und verurteilt wurde.78

Betrachtet man die Zeit ab dem christlichen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit in Europa, so lässt sich feststellen, dass auch hier – wie schon in der Antike – die Tötung von Kranken durch Ärzte ganz nach den vorherrschenden christlichen Vorstellungen verboten war. Für eine Beförderung des „guten“ Todes wurde die „Ars moriendi“ herangezogen, eine spezielle Literatur, die den Kranken bzw. Gläubigen auf einen heilsamen Tod vorbereitete.79 Zudem verschwand der Begriff „euthanasia“ aus dem lateinischen Sprachgebrauch, was zum einen dem Einfluss des Christentums und zum anderen dessen Betrachtungsweise geschuldet war. Das Wort „euthanasia“ zeigte sich erst wieder in der Renaissance.80

76 Vgl. ebd., 17-18. 77 Vgl. ebd., 13-14. 78 Vgl. ebd., 19-20. 79 Vgl. ebd., 54. 80 Vgl. POIER Birgit, „Euthanasie“ in der Steiermark. Nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik gegen Behinderte und psychisch Kranke am Beispiel der Grazer Anstalt „Feldhof“. Ungedr. Dipl.-Arb. Graz 2000, 18. 25

Im Folgenden werden besonders zwei Positionen zum „Euthanasie“-Verständnis vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert hervorgehoben bzw. erläutert, um die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des „Euthanasie“-Begriffs in diesem Zeitraum zu veranschaulichen. Dabei liegt der Fokus zunächst auf den Auffassungen des Staatsmannes und Autors Thomas Morus und des Philosophen Francis Bacon.

Morus schreibt in seinem Werk „Utopia“ erstmals über aktive Sterbehilfe; expliziter ausgedrückt, befasst er sich darin mit der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen. In einer bestimmten Passage dieses Romans, der zum einen ein kritisches Auge auf die Gesellschaft wirft und zum anderen den Charakter eines Gedankenspiels aufweist, geht es vor allem darum, unheilbar Kranken, die unter chronischen Schmerzen leiden, diverse Mittel zu verabreichen, die anschließend zum Tod führen. Um den Kranken von seinen Qualen zu erlösen und seine Mitmenschen von der Last, die der Unheilbare nach Auffassung der „Utopier“ darstellt, zu befreien, soll jener einen Tod aus freien Stücken – beispielsweise durch Verzicht auf Nahrung – wählen. Obwohl dieser Auszug aus Morusʼ „Utopia“ augenscheinlich eine Empfehlung für die Euthanasie darstellt bzw. darin der „Gnadentod“ befürwortet wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Thomas Morus ein Befürworter der „Euthanasie“, war laut Benzenhöfer gering, da Morus selbst ein gläubiger Christ war und die im Roman beschriebene „Euthanasie“ sich nicht mit seinen christlichen Wertvorstellungen vereinbaren ließe.81

Francis Bacon, dessen Schaffen nach allgemeinem Verständnis den Beginn der Philosophie der Neuzeit kennzeichnet82, stellte erstmals die Verbindung von ärztlichem Handeln, um unheilbar Kranke von ihren Qualen und Schmerzen zu erlösen, zum Begriff „Euthanasie“ her.83 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts befasste er sich vor allem mit der Neuordnung der Wissenschaften. Seine Überlegungen zu einer neuen Anordnung der Wissenschaften führten ihn dazu, sich auch mit dem damals vorherrschenden medizinischen Wissensstand und dessen Entwicklungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen, wobei er durch diese Beschäftigung zwangsläufig auf die komplexe Thematik von unheilbar Kranken und der „Euthanasie“ zu sprechen kam. Zunächst bemängelte Bacon die vorschnelle Diagnose unheilbarer Krankheiten seitens der Ärzte, denn einige als unheilbar bezeichnete Kranke würden trotzdem überleben und gerade aus diesem Grund sollte, nach Auffassung Bacons, das Ärztepersonal seine Forschungen zur Unheilbarkeit intensivieren. Vorschnelle Diagnosen unheilbarer

81 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 55-57. 82 Vgl. ebd., 58. 83 Vgl. ebd., 59-60. 26

Erkrankungen sah Bacon als eine Art Freibrief, der es den Ärzten ermöglichte, „Euthanasie“ an Patienten durchzuführen, ohne mit absoluter Sicherheit belegen zu können, ob es sich tatsächlich um unheilbare Kranke handelt. Als Pflicht der Ärzte empfand Bacon, dass sie nichts unversucht lassen dürfen, um zum einen die Gesundheit der Kranken wiederherzustellen und zum anderen für die Linderung der Schmerzen zu sorgen, sei es, um damit zur Gesundung oder zu einem sanften Tod beizutragen. Zudem steht Bacon für die Verabreichung betäubender und schmerzstillender Mittel durch Ärzte84 und verlangt damit gleichzeitig von diesen den Vollzug einer indirekten Sterbehilfe, also eine unbeabsichtigte Beschleunigung des Todeseintritts durch die Verabreichung von Medikamenten oder anderer Mittel.85

Damit verweist Bacon auch auf antike Vorstellungen hinsichtlich der „Euthanasie“ und nennt als Beispiel Epikur, der sich selbst mit Wein betäubte, um einen „leichten Tod“ zu erlangen.86

Mit dieser „euthanasia exterior“ (äußere „Euthanasie“) sollte den Sterbenden ihr Todeskampf erleichtert werden.87 Unberücksichtigt bleiben jedoch bei dieser Empfehlung Bacons an die Ärzte die Begleitung des Sterbenden und die Vorbereitung der Seele auf den Tod, die nach Benzenhöfer im Sinne einer modernen Palliativmedizin eine tragende Rolle spielt.88

Ältere Bedeutungen des Begriffs „Euthanasie“ im Sinne eines schmerzlosen Sterbens überlagerten beinahe zwei Jahrhunderte lang die neuen inhaltlichen Vorstellungen Bacons von diesem Begriff.89 1735 beschäftigte sich der Medizinstudent Zacharias Philippus Schulz im Zuge seiner Dissertation mit der „Euthanasie“ und den damit verbundenen Vorstellungen Bacons. Im Zentrum seiner Untersuchung standen – im Gegensatz zu Bacon – das Bereiten eines sanften Todes bzw. die Vorbereitung der Seele auf den bevorstehenden Exitus, ohne dabei Todkranken Medikamente zu verabreichen. Die Aufgabe der Ärzte sei es nach Schulz, Pflegemaßnahmen zu setzen, die den Tod des Patienten erleichtern. Keinesfalls sollten dafür diverse medizinische Mittel herangezogen werden.90 Der von Schulz verwendete Terminus „euthanasia medica“ wies nur zum Teil Parallelen zum Euthanasieverständnis Bacons auf,

84 Vgl. ebd. 85 Vgl. ebd., 9. 86 Vgl. ebd., 61. 87 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 25. 88 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 61. 89 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 25. 90 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 62-63. 27 denn Schulz ging davon aus, dass nur durch göttliche Fügung ein „leichter“ Tod zu erlangen sei und die Ärzteschaft diesen lediglich unterstützen dürfe.91

So waren es Schulz und Bacon, die die Debatte um die „Euthanasie“ in dieser Zeit prägten. Die dem „Utopia“-Modell von Morus zugrunde liegende Haltung der Tötung unheilbar Kranker wurde im 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts abgelehnt.92

Allerdings manifestierte sich in dieser Zeit der Vorschlag Bacons, Kranken medikamentös zu einem „sanften Tod“ zu verhelfen, immer stärker und traf vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Ärzten auf eine breitere Akzeptanz.93

Festzuhalten ist, dass die Bedeutung des „Euthanasie“-Begriffs im Lauf des 19. Jahrhunderts stark an ärztliches Handeln geknüpft war. Dieser bezeichnete in diesem Zeitraum einerseits eine möglichst schmerzlose und „leichte“ Durchführung des Todes und andererseits die Aufgabe der Ärzte, dem unheilbar Kranken in der letzten Phase seines Lebens Beistand zu leisten. So wurde im 19. Jahrhundert unter „Euthanasie“ Sterbebegleitung verstanden, die dadurch charakterisiert war, auf eine beabsichtigte Verkürzung des Lebens zu verzichten. Eine bewusst herbeigeführte Beschleunigung des Sterbens durch Ärzte lehnte man kategorisch ab. Diese Betrachtungsweise spiegelte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in Enzyklopädien der Medizin, sondern auch in allgemeinen Nachschlagewerken wider. Die problematische Frage der Leidensverlängerung durch Lebensverlängerung zeigt sich bereits zu dieser Zeit und bildet sozusagen die Basis dafür, dass der Gedanke der schmerzlosen Tötung in die Diskussion rund um die Bedeutung des Begriffs „Euthanasie“ implementiert wurde.94

Dass sich an der Grundhaltung der Ärzte – kein Zutun ihrerseits, um zu einer Verkürzung des Lebens beizutragen – gegen Ende des 19. Jahrhunderts wenig änderte, bedeutet nicht, dass hinsichtlich des „Euthanasie“-Diskurses nicht andere Einstellungen bzw. Auffassungen vertreten wurden. So waren es vor allem die Vertreter des Sozialdarwinismus und der Rassenhygiene bzw. der Eugenik, die sich für eine „Ausscheidung der Schwachen“ aussprachen und bereits zu dieser Zeit die Perspektive „einer Vernichtung lebensunwerten Lebens“ einnahmen.95

91 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 25-26. 92 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 63. 93 Vgl. ebd., 68. 94 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 26-27. 95 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 69. 28

Rekapituliert man die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen des „Euthanasie“- Begriffs in Dichtkunst, Philosophie und Medizin, so bleibt festzuhalten, dass „Euthanasie“ keineswegs dem Gedankengut der Nationalsozialisten entsprungen ist. Die Singularität von „staatlich verordneten Morden“96, der Vollzug von „Euthanasie“-Massentötungen, lässt sich in keinster Weise mit dem „guten Tod“ gleichsetzen. So kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer gänzlichen Bedeutungsentfremdung des Begriffs „Euthanasie“.

Im Weltbild der Nationalsozialisten stand „Euthanasie“ für die massenhafte Ermordung wehrloser und unschuldiger Menschen, die in der Gesellschaft als „nutzlos“ galten. Im Folgenden wird aufgezeigt, an welchen Ideologien sich die Nationalsozialisten orientierten. Dabei wird vor allem auf die Sterbehilfediskussionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen Theorien Sozialdarwinismus, Rassenhygiene und Eugenik Bezug genommen.

2.1.1 Ideologische Wurzeln des Nationalsozialismus: Sozialdarwinismus, Rassenhygiene/Eugenik

1859 veröffentlichte der Naturforscher Charles Darwin „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein“.97 Er widmete sich darin der „natürlichen Auslese“.98 Durch Darwins Auffassungen erfuhr die Wahrnehmung der biologischen Realitäten des Menschen nach Henke eine grundlegende Veränderung.99 Vor allem der anthropologische Ansatz in Darwins Evolutions- und Selektionstheorie betonte die Genese des Menschen als Gattung. Damit revolutionierte Darwin das vorherrschende Weltbild von Mensch und Natur und lieferte gleichzeitig die biologische Basis zur Bewertung des Menschen. Die Annahme, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes sei, wich der Auffassung, dass der Mensch einerseits als ein unfertiges Produkt der Natur und andererseits als verbesserungswürdig eingestuft werden könne.100

Auch wenn sich Darwins „natürliche Auslese“ zunächst nur auf das Tierreich bezog, lässt sich der Bezug seiner Entwicklungslehre auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen unschwer

96 Vgl. FRIEDLANDER Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, 21. 97 Original: „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“. 98 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 70. 99 Vgl. HENKE Klaus-Dietmar, Wissenschaftliche Entmenschlichung und politische Massentötung. In: HENKE Klaus-Dietmar (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008, 11. 100 Vgl. STRACHOTA Andrea, Heilpädagogik und Medizin: Eine Beziehungsgeschichte, Wien 2002, 134. 29 erkennen.101 Darwins Theorie besagt, dass jedes irdische Lebewesen ein Produkt seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt ist. Innerhalb dieses Vorgangs herrscht jedoch Ressourcenknappheit aufgrund zunehmender Vermehrung von Individuen. Im Kampf ums Dasein sind nach Auffassung Darwins jene Lebewesen am erfolgreichsten, die sich in Konkurrenz mit anderen am besten an die vorherrschenden Umweltbedingungen anpassen und dadurch überleben.102

Zunächst wandte Darwin seine Theorie mit Zurückhaltung auf den Menschen an, da sie nicht mit der biblischen Schöpfungsgeschichte in Einklang zu bringen war.103 Seine Gedanken zur „Ausscheidung der Schwachen“ äußerte er deswegen erst in seinem 1871 erschienenen Werk „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“.104

Darin vertrat Darwin betreffend die menschliche Fortpflanzung die Auffassung, dass diese zu früheren Zeiten ein Recht war, das ausnahmslos den „Stärksten“ einer Zivilisation zukam. Die Zivilisation beging aber den „Fehler“, veränderte Bedingungen einzuführen. Darwin spricht in diesem Zusammenhang von den Bemühungen einer Zivilisation bzw. Gesellschaft, sich um die „Schwachen“ und Kranken zu kümmern, und kritisiert, dass dieser Umstand die „Ausscheidung der Schwachen“ durch den zivilisierten Menschen verhindere. Allein diese „kontraselektorischen“105 Tätigkeiten des Menschen ermöglichen es den „Schwachen“, sich in einer zivilisierten Bevölkerung weiter zu vermehren. Darwin sieht darin den größtmöglichen Nachteil für die Rasse des Menschen.106

Es dauerte nicht lange und die Ideen und Gedanken Darwins fanden Aufnahme in Anthropologie, Medizin und Biologie. Die Unterstützer Darwins kamen schließlich zum Schluss, dass die moderne Gesellschaft aufgrund des Fortschritts der Medizin und der Sozial- und Ethikdisziplinen die natürliche menschliche Auslese außer Kraft setze und ergo kontraselektorisch wirke.107

101 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 70. 102 Vgl. ZANKL Heinrich, Von der Vererbungslehre zur Rassenhygiene. In: HENKE Klaus-Dietmar (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, Köln-Weimar-Wien 2008, 54. 103 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 70. 104 Original: „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“. 105 Zit. nach BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 71. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. HENKE, Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, 2008, 11-12. 30

Sozialdarwinismus:

Der wohl größte Anhänger Darwins im deutschsprachigen Raum war der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919), der Darwins theoretische Überlegungen auf den biologischen und kulturell-sozialen Bereich übertrug und somit ausweitete. Sein Konzept „Einheitstheorie“ des Lebens, das er selbst als Monismus bezeichnete, stellt den Versuch einer Einbeziehung des Menschen in die Abstammungstheorie (Deszendenztheorie) Darwins unter besonderer Berücksichtigung des biologischen und kulturell-sozialen Bereichs dar.108

In der überarbeiteten Fassung seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (1870), die sich vor allem dem „Kampf ums Dasein“ widmet, spricht Haeckel von den positiven Folgen der „künstlichen Züchtung“ und führt dafür als Beispiel die spartanischen Kindestötungen ins Feld.109 Nach Haeckel bildete die Gesetzeslage in Sparta – die bewusste Tötung von nicht vollkommenen bzw. behinderten Kindern war legal – die Basis dafür, jede Generation in ihrer physischen Vollkommenheit zu steigern.110 In seinem Werk übte er zudem Kritik an der „künstlichen Auslese“ moderner militärisch ausgerichteter Staaten, die zu häufig ihre besten Soldaten auf dem Schlachtfeld opfern würden. Auch die moderne Medizin war ihm ein Dorn im Auge, da diese für das Fortleben der Schwachen und Kranken sorge und ihnen damit die Option zur Reproduktion und Vererbung ihrer Krankheiten biete. Festzuhalten bleibt, dass Haeckel dem Modell der Tötung behinderter bzw. schwacher Kinder durchaus positiv gegenüberstand.111 Er sah in der „Ausmerze“ solcher Kinder den Türöffner für die „Menschenzüchtung“.112

Allerdings findet sich in Haeckels Schriften zur „Ausscheidung der Schwachen“ kein konkreter Appell zur „Euthanasie“ von vorgeblich „schwachen“ Individuen. Nach Schmuhl liegt dies allerdings nicht in den moralischen Abwägungen Haeckels begründet, sondern in seinem Optimismus betreffend die regulativen Mechanismen des Evolutionsprozesses, also seinem Vertrauen sowohl in „natürliche Züchtung“ als auch in die „natürliche Auslese“.113 Benzenhöfer hingegen geht einen Schritt weiter und bezeichnet Haeckel vor allem wegen seines Werks „Die Lebenswunder“ aus dem Jahr 1904 nicht nur als Befürworter der Freigabe

108 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 72. 109 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 31-32. 110 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 72. 111 Vgl. ebd., 72-73. 112 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 32. 113 Vgl. ebd., 32-33. 31 der „Kindereuthanasie“, sondern auch der Tötung auf Verlangen und der „Vernichtung unwerten Lebens“.114

Ein weiterer deutscher Sozialdarwinist war Alexander Tille (1866-1912). In seinem Werk mit dem fragwürdigen Titel „Volksdienst“ propagierte er durch Zuhilfenahme der „natürlichen Auslese“ eine „Sozial-Euthanasie“ der Schwachen und Untauglichen. Er bezog sich dabei ebenfalls auf das antike Sparta und vor allem auf die weltanschaulichen Grundlagen Haeckels, die er damit radikalisierte.115 Tille war der festen Überzeugung, dass dort, wo es zu einem Versagen der „natürlichen Auslese“ kommt, auf eine „künstliche Auslese“ zurückgegriffen werden muss.116

Tille fürchtete ebenfalls, wie schon Haeckel, mit seinem expliziten Programm zur Tötung behinderter Kinder auf geringe Akzeptanz zu stoßen. Stellvertretend dafür sprach er sich für ein Reproduktionsverbot der vorgeblich „Schwachen“ aus – eine explizite Tendenz, die den „Schwachen“ als lebensunwert diffamiert.117

Das Selektionsprinzip, das auf die Theorie Darwins zurückzuführen ist, stand fortan im Zentrum des Interesses der Sozialdarwinisten. Sie bewerteten die menschliche Gesellschaft immer mehr als biologischen Organismus. Zusätzlich konnten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert kulturpessimistische Strömungen gegenüber teleologischen Perspektiven des Evolutionsprozesses behaupten. Dies war ein Umstand, der die Diskussion bezüglich der eugenischen Problematik weiter anheizte.118

Rassenhygiene bzw. Eugenik:

Abgesehen vom Sozialdarwinismus rückten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Rassenhygiene bzw. Eugenik zwei weitere pseudo-wissenschaftliche Geisteshaltungen zur „Ausscheidung der Schwachen“ in den Fokus.119 Zunächst beschäftigte sich der englische Gelehrte Francis Galton (1822-1911) mit der menschlichen Vererbung. Im Zentrum seiner Forschung stand die menschliche Intelligenz. Darüber hinaus zog er eine Anwendung des der Evolutions- und Abstammungslehre Darwins zugrunde liegenden Selektionsprinzips auf den Menschen in Betracht. Galtons Auffassung lautete, dass es einer bewussten Steuerung der „natürlichen Auslese“ bedarf. Dadurch könne die menschliche

114 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 86. 115 Vgl. ebd., 74-75. 116 Vgl. ebd., 74. 117 Vgl. ebd., 74-75. 118 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 33. 119 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 75. 32

Evolution kontrolliert werden, was auch zu einer Verbesserung der Erbanlagen führe. 1883 prägte Galton für die „Verbesserung des menschlichen Erbgutes“ den Begriff „Eugenik“.120

Anfangs basierte die praktische Verwirklichung der Eugenik auf staatlichen Förderungen der geistigen Elite Englands. Durch diese Förderung sollte das geistige englische Establishment zur frühzeitigen Heirat und zur Zeugung möglichst vieler Nachkommen animiert werden.121 Die wahre Intention lag darin, eine kommende Generation mit möglichst vielen geistig brillanten Individuen zu schaffen, also den Menschen hinsichtlich seiner Genetik zu verbessern. Die Eugenik griff in diesem Zusammenhang Darwins theoretische Überlegungen bezüglich des Selektionsprinzips auf. Die Umsetzung dieses Prinzips – die biologische Eignung von Lebewesen unter Berücksichtigung bestimmter Umweltbedingungen – wurde nun auf die menschliche Lebenswelt projiziert. Die Selektionstheorie wurde durch den Sozialdarwinismus radikalisiert und entwickelte sich international zum führenden Modell allen sozialen und politischen Denkens.122

Galton unterschied zwei Arten von Eugenik. Die „positive Eugenik“ steht nach seinem Verständnis für die gezielte Förderung der „tüchtigeren“ Individuen beispielsweise durch Geburtenförderung. Im Sinne einer „negativen Eugenik“ sollten Personen, die als minderwertig eingestuft wurden, von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Der medizinische Fortschritt verbunden mit verbesserter Hygiene und die Armenfürsorge blockierten nach Galton die „natürliche Auslese“ im Hinblick auf den „Kampf ums Dasein“ und hätten einen Zerfall der weißen Rasse zur Folge.123

So kam es vor allem durch Darwins Evolutionstheorie zur Verschiebung des bis dato vorherrschenden, von Gott bestimmten Weltbildes hin zu einer von der Naturwissenschaft geprägten Lebensauffassung. Durch den mit der Theorie Darwins verbundenen Fortschrittsglauben in den Bereichen der modernen Technik, Medizin und Biowissenschaften gelangten viele zur Erkenntnis, dass dadurch zum einen eine Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände erreicht werden könne und zum anderen, dass es sich bei der von Sozialdarwinisten und Eugenikern angestrebten biologischen Vervollkommnung der Gattung

120 Vgl. STRACHOTA, Heilpädagogik und Medizin, 2002, 159. 121 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 75. 122 Vgl. HENKE, Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, 2008, 11-12. 123 Vgl. KLEE Ernst, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a.M. 1983 (3. Auflage 2018), 19. 33

Mensch nicht nur um eine utopische Vorstellung handle, sondern dass die Verwirklichung dieser Utopie durchaus möglich sei.124

In den 1890er Jahren – etwas später als in England – bildete sich in Deutschland die von Wilhelm Schallmayer und insbesondere Alfred Ploetz entwickelte Rassenhygiene heraus, die sich in vielen Punkten mit den Auffassungen der englischen Eugenik betreffend die „Ausscheidung der Schwachen“ überschnitt bzw. deckte.125 Festzuhalten ist, dass auch zu dieser Zeit ein direkter Aufruf zur Tötung bzw. „Ausscheidung“ vermeintlich „Schwacher“ unterblieb.126

Gleichzeitig fanden jedoch Begriffe wie Rassenverfall, Degeneration, Entartung, Schwäche und Minderwertigkeit immer mehr Verbreitung, was den bereits vorherrschenden Gedanken der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ weiter befeuerte. Der in Deutschland wahrscheinlich einflussreichste Propagandist des „Ausscheidungsprogramms“ war Alfred Ploetz, der mit seinem 1895 erschienenen Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“ den Begriff „Rassenhygiene“ prägte und bei dem sich inhaltlich alles um die Erhaltung der „menschlichen Rasse“ drehte.127

Der deckungsgleiche Ausdruck „Rassenhygiene“ fand neben dem Begriff „Eugenik“ bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Verwendung.128

Ploetz richtete sein Hauptaugenmerk auf die Erhaltung der Menschheit. Nach seiner Auffassung hatte der „ideale Rassenprozess“, der zu einer Vervollkommnung der „Rasse“ führen soll, die Steigerung der Erzeugung „besserer“ Varianten, die „Ausjätung“ der schlechteren Varianten und keine „Contraselection“129 zum Ziel. Ploetz kritisierte die moderne Medizin, die seines Erachtens für den Schutz der „Schwachen“ sorgte und somit die „Contraselection“ unterstützte. Mit der von ihm vertretenen Position, das Rassenwohl gegenüber dem Einzelwohl zu bevorzugen, stützte er sich auf die Theorien des Sozialdarwinismus.

124 Vgl. HENKE, Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, 2008, 11-12. 125 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 75. 126 Vgl. ebd. 127 Vgl. ebd., 76. 128 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 43. 129 Otmar Freiherr von Verschuer war ein führender Rassenhygieniker und Erbpathologe im Dritten Reich. Er setzte den Begriff „Kontraselektion“ mit jenem der „Gegenauslese“ gleich und verstand darunter das Überleben der Untüchtigen, was folglich eine größere Nachkommenschaft bedeuten würde. Vgl. https://www.aerzteblatt.de/archiv/46898/Medizingeschichte(n)-Medizin-im-Nationalsozialismus-Rassenhygiene. 34

Aufgrund der seinerzeit vorherrschenden Kulturideale glaubte Ploetz noch nicht an eine Umsetzung einer „idealen Rassenhygiene“ und versuchte aus der Not eine Tugend zu machen, indem er einen Kompromiss anstrebte, der für die Rasse wohl nachteilig wäre, jedoch auch zu einer gewissen Akzeptanz einer „idealen Rassenhygiene“ führen könne.130

Den von ihm angestrebten Mittelweg bezeichnete Ploetz als „rassenhygienische Utopie“. Mit dieser Bezeichnung verfolgte er das Ziel, seine Leser zu besänftigen, handle es sich doch bei seinem Standpunkt zur „Ausscheidung der Schwachen“ um reine Utopie. Ploetz schuf damit zur Besänftigung seiner Leserschaft vorgeblich Platz für Gegenargumente und erklärte seine Position als die nicht allein zutreffende. Seine Utopie ging von einem jungen verheirateten Paar aus, dem es aufgrund seiner Qualitäten gestattet sei, sich fortzupflanzen, denn die oberste Priorität eines Ehepaars müsse nach Ploetz die Zeugung „guter Kinder“ sein. Allerdings sollte diese nicht dem Zufall überlassen werden. Der Akt der Zeugung müsse geordnet und nach den von der Wissenschaft aufgestellten Grundprinzipien für die Zeit der Empfängnis und andere Bedingungen erfolgen. Sollte es sich beim Säugling jedoch um ein schwaches oder missgestaltetes Kind handeln, so sei die Ärzteschaft dazu ermächtigt, dem Neugeborenen einen sanften Tod zu bereiten.

Diese Ausscheidung bzw. Ausmerzung sollte nicht nur bei Zwillingen, sondern bei allen Kindern, die nach dem 45. Lebensjahr der Mutter bzw. dem 50. Lebensjahr des Vaters oder nach der sechsten Geburt geboren werden – entgegen einem gesetzlichen Verbot – vollzogen werden. Zu einem späteren Zeitpunkt müssten sich Kinder einer Ehetauglichkeitsprüfung unterziehen. Sollte diese Prüfung zum Ergebnis von körperlicher und psychischer Untauglichkeit der Kinder kommen, dürften diese keine Ehe eingehen. Ein Nichtbestehen würde die Kinder als „Schwache“ ausweisen und zudem den Fall in die Armut zur Folge haben.131 Auf eine Pflege der Kranken – alles „Schwachen“ – verzichtete Ploetz in seiner „Utopie“ bewusst, da diese die Wirkungskraft der natürlichen Zuchtwahl schmälern bzw. behindern würde. Augenscheinlich ist, dass Ploetz die Tötung schwacher, missgebildeter Kinder im Hinblick auf einen „idealen Rassenprozess“ zumindest in Teilen in Erwägung zog. Wenngleich unter dem Deckmantel eines Kompromisses auftretend, lässt sich die von ihm propagierte ausmerzende „ideale Rassenutopie“ als ein Vorbote kommenden Unheils nicht übersehen.132

130 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 77. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. ebd., 78. 35

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte der Begriff „Euthanasie“ eine veränderte bzw. erweiterte Bedeutung. Im Hinblick auf das Recht des Arztes, über Leben und Tod zu entscheiden, kam es praktisch zu einer totalen Umkehr des „Euthanasie“-Begriffs.133 Aufgrund eines Gesetzesvorschlags von Roland Gerkan – ein Mitglied des 1906 von Ernst Haeckel gegründeten „Deutschen Monistenbundes“134 – kam es zu einer Neuentfachung der Euthanasiekontroverse, die vor allem in der vom Bund herausgegebenen Zeitschrift „Das monistische Jahrhundert“ zwischen 1913 und 1917 geführt wurde.135 Der selbst an einer Lungenkrankheit leidende Gerkan legte in einem 1913 verfassten Brief an den damaligen Leiter des Bundes einen Gesetzesentwurf betreffend die Sterbehilfe vor, in dem er das Recht auf Sterbehilfe für unheilbar Kranke forderte. Der aus acht Paragraphen bestehende Entwurf Gerkans führte zu einer kontroversen Diskussion um die „Euthanasie“-Frage und fand neben Kritik auch Billigung vor allem unter Juristen.

Schlussendlich bewirkten die Debatten zur „Euthanasie“ keine Gesetzesänderung und so blieb der § 216 des RStGB von 1871 – der eine maximal dreijährige Gefängnisstrafe für Tötung auf Verlangen vorsah136 – aufrecht.137

Gerkans Vorschlag rief zur Tötung auf Verlangen auf und gebrauchte erstmals den Begriff „Euthanasie“ im Sinne von „Sterbehilfe“. Nach Schmuhl bezog man diesen Begriff seither nicht mehr ausschließlich auf die Sterbehilfe im unmittelbaren Todeskampf (Agonie), sondern auch auf die Tötung unheilbar Kranker und Behinderter, deren Leiden keinesfalls den Tod bedeuten mussten. Des Weiteren wurde ab diesem Zeitpunkt das Einverständnis der zu tötenden Personen – beispielsweise bei Geisteskrankheit oder Besinnungslosigkeit – nicht mehr generell vorausgesetzt. Die daraus resultierende Ausdehnung des „Euthanasie“-Begriffs machte die Übergänge zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ fließend.138

133 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 27. 134 Nach David Gasman verkörperte der Deutsche Monistenbund vor allem die nationalsozialistischen Prinzipien Deutschlands und war eine Vereinigung von deutschen Wissenschaftlern, die vor allem ihre wissenschaftliche Ideologie und moderne Weltanschauung verherrlichte. Vgl. BAUMANN Zygmunt, Moderne und Ambivalenz, 2005, 57. 135 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 27. 136 Vgl. ebd., 114. 137 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 88. 138 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 27. 36

3 „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich eine zunehmende Akzeptanz und Befürwortung des Rechts auf den eigenen Tod feststellen. Dieses Zugeständnis, das zunächst in einer bürgerlichen Denktradition verwurzelt war, entwickelte sich immer mehr zu einer liberalen, der Aufklärung zugrunde liegenden Front.139

Insbesondere die Zeit der Weimarer Republik steht für eine Radikalisierung der eugenischen und rassenhygienischen Diskussion. Was anfangs die Gedankengänge Einzelner bestimmte, traf nun vermehrt auf Einigkeit, was dazu führte, dass die Rassenhygieniker von nun an die Richtung der eugenischen Debatte dominierten. Das vorherrschende und anerkannte Postulat war die – aus Gründen der Eugenik – ärztliche und hygienische Überwachung der menschlichen Fortpflanzung, um zu einer besseren Übersicht bzw. Kenntnis der allgemeinen Volksgesundheit, aber auch des sogenannten Völkertodes zu gelangen. Der Hauptbefürworter dieser von ihm geprägten „Sozialhygiene“ war zu dieser Zeit der deutsche Arzt Alfred Grotjahn. Zur Vermeidung eines Völkertodes sprach sich Grotjahn für die Umsetzung sozialhygienischer Maßnahmen aus, die es „Minderwertigen“ nicht ermöglichen sollte sich fortzupflanzen.

Als „minderwertig“ bezeichnete Grotjahn neben Psychopathen, Krüppeln und Alkoholikern auch Landstreicher, Verbrecher und Prostituierte, deren Fortpflanzung es um jeden Preis zu verhindern galt, am besten durch Asylierung. Schwachsinnige sollten nach seinen Vorstellungen zwangssterilisiert werden. Im Rahmen dieser Zuspitzung rassenhygienischer Meinungen veröffentlichten der Jurist und der Psychiater 1920 ihre Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“140, mit der die eugenische und rassenhygienische Debatte eine neue Dimension erreichte.141

139 Vgl. DÖRNER Klaus, Der Nationalsozialismus. In: WÜTTENWEBER Ernst et al., Pädagogik bei geistigen Behinderungen, Stuttgart 2006, 24. 140 BINDING Karl/HOCHE Alfred, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. 141 Vgl. BAADER Gerhard, Heilen und Vernichten: Die Mentalität der NS-Ärzte. In: EBBINGHAUS Angelika/ DÖRNER Klaus (Hrsg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, 285-286. 37

Insbesondere der Begriff „lebensunwert“ ging aus diesem Werk hervor und fand von da an gehäuft Verwendung.142

Binding und Hoche verfassten ihre Schrift angesichts der Erfahrungen und Folgen des Ersten Weltkriegs und nahmen auch die damit verbundene Kontraselektion – als Konsequenz des Kriegsgeschehens – auf. Zur Veranschaulichung der kontraselektorischen Auswirkungen, die nach Binding ein solcher Krieg mit sich bringe, führte er – wie bereits viele Eugeniker vor ihm – das Argument ins Feld, dass im Kampf viele „wertvolle“ Individuen ihr Leben lassen müssten, während man auf der anderen Seite „wertlose“ Existenzen in für sie vorgesehenen Anstalten umsorgt und somit am Leben erhält.143

Die Schrift enthält die Aufforderung beider Autoren, die aktive Tötung minderwertigen oder – um es in der Sprache Bindings und Hoches auszudrücken – „lebensunwerten“ Lebens gesetzlich zu erlauben.144 Binding rechtfertigte die Tötung „Minderwertiger“ mit dem Argument, dass unheilbar Kranke ein Recht auf einen schmerzlosen Tod hätten. Hinter dem Selbstmordrecht unheilbar Kranker verbarg sich jedoch die wahre Intention Bindings und seiner späteren Sympathisanten, nämlich die Auslöschung des „unwerten“ Lebens gesunder, aber als „minderwertig“ stigmatisierter Individuen.145

Im ersten Teil der nur 62 Seiten umfassenden Schrift erläutert der Rechtspositivist Binding vom juristischen Standpunkt aus seine Befürwortung der Freigabe der Tötung „unwerten“ Lebens und teilt die für die Tötung in Betracht kommenden Menschen in drei Gruppen ein:146

1. In diese Gruppe sollen nach Binding jene Menschen aufgenommen werden, die sich ihrer unheilbaren Krankheit bewusst sind und von sich aus Erlösung wünschen.147 Unter diese Klassifikation würden nach Binding vor allem unheilbar Krebskranke, unrettbare Phthisiker (Tuberkulosekranke) und tödlich Verwundete fallen,148 deren Tötung Binding sogar als „Pflicht gesetzlichen Mitleids“149 bezeichnet: „Ich kann nun vom rechtlichem, dem sozialen, dem sittlichen, dem religiösen Gesichtspunkt aus schlechterdings keinen Grund finden, die Tötung solcher den Tod dringend verlangender Unrettbarer nicht an die, von denen er verlangt wird,

142 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 22. 143 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 49-50. 144 Vgl. ebd., 48. 145 Vgl. ebd., 49. 146 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 89-91. 147 Vgl. BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 29. 148 Vgl. ebd. 149 Ebd., 31. 38

freizugeben: ja ich halte diese Freigabe einfach für eine Pflicht gesetzlichen Mitleids, wie es sich ja doch auch in anderen Formen vielfach geltend macht.“150

2. Die zweite Gruppe soll Menschen umfassen, die unter „unheilbarer Blödsinnigkeit“ leiden und bei denen kein zu brechender Lebenswille vorhanden ist.151 Es gibt also zum einen keine Einwilligung zur Tötung seitens der „unheilbar Blödsinnigen“ und zum anderen würden diese nach Binding auch keinen Lebenswillen in sich tragen, den es zu brechen gelte. Zudem ist ihr Leben zwecklos und ihr Tod würde keine Lücke in der Gesellschaft hinterlassen.152 Wer unter „unheilbarer Blödsinnigkeit“ leide, führe, so Binding, ein lebensunwertes Leben, das nicht nur zwecklos sei, sondern vor allem eine Belastung für die Gesellschaft darstelle:153 „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber die empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin.“154

3. Unter der dritten Gruppe versteht Binding eine Mittelgruppe von Menschen, die durch verschiedene Umstände ihr Bewusstsein verloren haben. Würden diese jemals wieder erwachen, wären sie nichts weiter als ein „namenloses Elend“:155 „Ich habe von einer Mittelgruppe gesprochen und finde die in den geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis, etwa sehr schwere, zweifellos tödliche Verwundung, bewußtlos geworden sind, und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden.“156 Auch im Hinblick auf diese Mittelgruppe spricht sich Binding für die Freigabe der Tötung aus – obwohl auch hier keine Einwilligung vorliegt.157

Die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens knüpft Binding jedoch an eine Bedingung, die ihn in gewisser Weise von den späteren nationalsozialistischen Krankenmördern unterscheidet. Für Binding musste die Tötung durch einen Dritten so vonstattengehen, dass der zu Tötende sein Ableben – durch Zutun einer dritten Person – als Erlösung empfand; wäre dies nicht der Fall, so könne die Freigabe der Tötung nicht erfolgen.

150 Ebd., 31ff. 151 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 91. 152 Vgl. BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 31. 153 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 50. 154 BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 31. 155 Vgl. ebd., 33. 156 Ebd. 157 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 92. 39

Ebenso an eine Bedingung geknüpft war, dass es zu keiner Freigabe der Tötung kommen dürfe, wenn der Geistesschwache mit seinem Leben glücklich und zufrieden sei.158 Über diesen Gemütszustand müsse eine Art Ausschuss – bestehend aus einem Arzt für körperliche Krankheiten, einem Arzt für Geisteskrankheiten (Psychiater) und einem Juristen – entscheiden. Die Freigabe der Tötung könne nur bei Einstimmigkeit des Gremiums erteilt werden.159 Sollte es zu einer falschen Beurteilung kommen, so wäre dies keineswegs fatal, denn die Menschheit hätte bereits des Öfteren durch Irrtümer Angehörige verloren, sodass es auf einen mehr oder weniger nicht mehr ankomme.160

Bindings vom Rechtspositivismus geprägte Ansätze zeigen sich vor allem in seiner Unterscheidung zwischen dem Wert des Lebens für den Einzelnen und dem Wert des Lebens für die Gesellschaft. Nach Bindings Verständnis ist der Wert des Lebens eines Menschen für die Gesellschaft entscheidend für dessen Existenzberechtigung.161

Der zweite und kürzere Teil des Werkes beinhaltet die Auffassungen des Psychiaters Alfred Hoche, der die Freigabe der Tötung „lebensunwerten“ Lebens vom ärztlichen Standpunkt aus erläutert.162 Er unterscheidet dabei zwei Gruppen von unheilbar „Blödsinnigen“. In der ersten finden sich jene, deren „geistiger Tod“ im Lauf des Lebens eingesetzt und deren Leben folglich allen Wert verloren hat. Die zweite Kategorie umfasst jene, deren „geistiger Tod“ (Gehirnveränderungen) entweder im frühen Kindesalter eingesetzt hat oder bereits angeboren ist.163 Besonders die zweite Gruppe würde allein durch ihre Existenz einen großen Schaden für die Gesellschaft verursachen.164

Außerdem betont Hoche die durch die schätzungsweise 20-30.000 „Idioten“ verursachte wirtschaftliche Bürde für den Staat beispielsweise durch Pflegekosten.165 Hoche stellt in diesem Abschnitt der Schrift die entscheidende Frage, die durch die von Binding definierten Gruppen bereits zum Großteil beantwortet wurde:166

„Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsguts eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?“167

158 Vgl. BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 28-29. 159 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 92. 160 Vgl. BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 40. 161 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 115. 162 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 92. 163 Vgl. BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 51. 164 Vgl. ebd., 53. 165 Vgl. ebd., 54. 166 Vgl. BAADER, Heilen und Vernichten, 2001, 286. 167 BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 51. 40

Den dieser Frage zugrunde liegenden Begriff „lebenswert“ definiert Hoche für die Geisteskranken detailliert. So haben diese nach seinen Vorstellungen keinen eigenen Anspruch auf ihre Existenz. Begründet ist dies nach Hoche zum einen in deren völliger Hilflosigkeit, dem Nichtvorhandensein von Gefühlen und Wesensregungen und zum anderen im Fehlen produktiver Leistungen.168 So hofft Hoche auf die Einsicht der Gesellschaft für die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens:

„[…] aber wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt.“169

Hoche prägte Begriffe wie „Ballastexistenzen“, „Menschenhülsen“, „geistig Tote“ oder „Defektmenschen“, die sich in der Gesellschaft verbreiteten und popularisierten. Diese Begrifflichkeiten wurden alsbald mit Todesurteilen gleichgesetzt.

Eine „Euthanasie“ an Kindern – wie sie die Nationalsozialisten 20 Jahre später praktizierten – lehnte Hoche ab, da bis dato nicht festzustellen sei, ob der „geistige Tod“ bei einem zwei- oder dreijährigen Kind von Dauer sei. Als Hoche 1940 selbst von der „Euthanasie“ betroffen war – eine Verwandte wurde der „Euthanasie“ der Nationalsozialisten unterzogen – änderte er seine Meinung und nahm eine gegnerische Haltung zu den Krankenmorden ein. Er musste verdrängt haben, dass die Idee bzw. Forderung zur Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens nicht von den Nationalsozialisten stammte, sondern von ihm selbst.170

Festzuhalten bleibt, dass Binding und Hoche davon überzeugt waren, dass der Tod für eine bestimmte Gruppe von Menschen zum einen für sie selbst und zum anderen auch für den Staat bzw. die Gesellschaft eine Erlösung bedeutete, waren sie doch als „lebensunwerte“ Menschen gebrandmarkt und stellten in diesem Sinn eine wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Last für den Staat dar.171

Das in der Schrift von Binding und Hoche vorgetragene Plädoyer zur Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens wurde in juristischen und ärztlichen Fachkreisen kontrovers debattiert, es stieß jedoch bei beiden Berufsgruppen überwiegend auf Ablehnung.172 Allerdings lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Überlegungen zur

168 Vgl. BAADER, Heilen und Vernichten, 2001, 286. 169 BINDING/HOCHE, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, 57. 170 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 26. 171 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 116. 172 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 93ff. 41

Vernichtung bestimmter Menschengruppen im Sinne einer reinen Heilbehandlung und der damit verbundenen Erlösung für Gesellschaft, Staat und die Betroffenen selbst besonders auf die Schrift Bindings und Hoches zurückzuführen sind.173 Im Lauf der 1920er Jahre bildeten die Auffassungen, die mit „Euthanasie“ einhergingen, den Legitimationspunkt für den im Nationalsozialismus begangenen Massenmord an Kranken und Behinderten.174 Die späteren NS-Verbrecher machten sich Bindings und Hoches schriftliche Polemik zu Eigen und benutzten die darin vorgetragenen Argumente, um sich später für ihre Taten zu rechtfertigen.175

So lässt sich schlussfolgern, dass der Begriff „Euthanasie“ in den „moralischen“ Vorstellungen der Nationalsozialisten dem Gedanken auf „Erlösung“ entsprach. Nicht nur der „unheilbar Geisteskranke“ oder das geistig behinderte Kind sollten von ihren Leiden erlöst werden, sondern die durch diese Menschen hervorgerufene Belastung des Volkskörpers sollte ebenfalls eine „Erlösung“ finden. Der Hintergedanke war natürlich ein anderer. Jene Menschen sollten vernichtet werden, die zum einen im Sinne der Rassenhygiene als „minderwertig“ eingestuft und zum anderen im Hinblick auf die Leistungsanforderungen des Staates (Volkskörpers) als unbrauchbar definiert waren.176

3.1 Rassenhygienische Bewegung in Österreich

Die soziale und wirtschaftliche Lage in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg führte zu einer Verschärfung und Popularisierung negativ-eugenischer Ansprüche wie dem Fortpflanzungsverbot „Minderwertiger“, so auch in Österreich.177 Die rassenhygienische Bewegung in Österreich war stark von jener in Deutschland beeinflusst, nicht zuletzt wegen der in beiden Ländern verbreiteten deutschnationalen Gesinnung.178

Der Ausgangspunkt der Entwicklung des rassenhygienischen bzw. eugenischen Gedankenguts in Österreich – wobei besonders die Stadt Wien eine zentrale Stellung einnahm – war vor

173 Vgl. BAADER, Heilen und Vernichten, 2001, 287. 174 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 28. 175 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 51. 176 Vgl. BAADER, Heilen und Vernichten, 2001, 287. 177 Vgl. LÖSCHER Monika, Zur Umsetzung und Verbreitung von eugenischem/rassenhygienischem Gedankengut in Österreich bis 1934 unter besonderer Berücksichtigung Wiens. In: HORN Sonja/MALINA Peter, Medizin im Nationalsozialismus: Wege der Aufbereitung. Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin. Überarbeitete Vorträge der Internationalen Tagung im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien, Baumgartner Höhe, 5.-7. November 1998, Wien 2001, 106. 178 Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien. In: GABRIEL Erhard/NEUGEBAUER Wolfgang, Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938, Wien 2005, 53. 42 allem der Gesundheitszustand der Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg. Die großen Volkskrankheiten Tuberkulose, Syphilis und Alkoholismus waren besonders in der Arbeiterklasse weit verbreitet. Aus Angst vor einer Degeneration der Bevölkerung – ein Gefühl, das besonders rassenhygienische bzw. eugenische Denkweisen förderte – richtete man die Aufmerksamkeit in den Nachkriegsjahren vor allem auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung.179

Der österreichische Sozialist und Mediziner Julius Tandler vertrat die Auffassung, dass der Krieg eine „negativ selektorische Wirkung“ mit sich bringe.180 Er war der Meinung, dass Krieg eine Selektion der „Schlechteren“ bedeute. Indem die Besten im Krieg fallen würden und die „Untauglichsten“ zuhause überleben konnten, beraube man den Volkskörper seiner „Qualität“ und „Quantität“. Um dem entgegenzuwirken, entwickelte Tandler eugenische und sozialhygienische Konzepte, die sowohl eine „quantitative“ als auch eine „qualitative“ Hebung der Bevölkerung sicherstellen sollten.

Konkret ging es ihm dabei um eine Steigerung der Geburtenrate und die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Er prophezeite, dass es aufgrund dieser sexuell übertragbaren Krankheiten zu vermehrten Sterilisierungen kommen könnte und diese die für Tandler so wichtige Reproduktion reduzieren könnten. Die Lösung, um den niedrigen Geburtenziffern entgegenzuwirken, liege zum einen in einer besseren Aufzucht der Kinder und zum anderen in der Verhinderung von Auswanderung. Die Hauptursache der „qualitativen“ Schädigung durch den Krieg sei aber vor allem die „negative Selektion“. Tandler sah in der Kriegsselektion der Individuen einen Vorteil für jene, die sich nicht am Krieg beteiligen mussten (die „Schlechteren“), denn ihnen würde durch ihre Nichtbeteiligung am Krieg die Möglichkeit gegeben, ihre Abnormitäten weiterzuvererben. Obwohl Tandler grundsätzlich für eine generative Eugenik eintrat, die sich im allgemeinen Verständnis durch Freiwilligkeit auszeichnet, sprach er sich für Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten aus. Wie diese Zwangsbehandlungen erfolgen sollten, formulierte Tandler jedoch nicht detailliert.181

Tandlers Einstellung gegenüber einer „negativ“ behafteten Eugenik ist nach Löscher von Widersprüchen geprägt. Zum einen lehnte er Abtreibungen rigoros ab, da der Beginn menschlichen Lebens mit der Zeugung einhergehe, zum anderen wurden seine Überlegungen

179 Vgl. LÖSCHER, Zur Umsetzung und Verbreitung, 2001, 108-109. 180 Vgl. NEUGEBAUER, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, 2005, 54. 181 Vgl. LÖSCHER, Zur Umsetzung und Verbreitung, 2001, 107-108. 43 von der Furcht vor „lebensunwertem“ Leben geleitet. Diese Zwiespältigkeit vermittelt den Eindruck, dass Tandler in der Sekundärliteratur als Wegbereiter des Nationalsozialismus gilt. Allerdings stuft Löscher ihn keineswegs als Anhänger der „Euthanasie“ ein, vielmehr ginge es Tandler darum, Vorsorgemaßnahmen, die die Geburt eines behinderten Kindes verhindern sollten, zu treffen. Erblickt aber ein solches das Licht der Welt, so war man verpflichtet, für es zu sorgen. Tandlers Ziel war es, der Bevölkerung das richtige Wissen rund um die Eugenik näherzubringen. Damit sollte der Fokus auf eine der Fortpflanzung zugrunde liegende Ethik gelenkt werden. Aufklärung sollte ein „Eugenik-Gewissen“ in die Bevölkerung tragen, um es den Menschen zu ermöglichen, zwischen guter und schlechter Eugenik zu unterscheiden. Als idealer Ort dieser Wissensvermittlung galt die Eheberatungsstelle, die seit 1922 in Wien eigens dafür installiert wurde und die Ehewerber über die Wichtig- bzw. Notwendigkeit ihrer eigenen Gesundheit und der ihrer Nachkommen beriet. Diese Form der Beratung war in Europa einzigartig und galt als Vorbild für andere Länder.182

Als Alfred Ploetz – die zentrale Gestalt der deutschen Rassenhygiene – 1910 die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gründete, versuchte sich diese in den folgenden Jahren auch in Österreich zu etablieren. Bereits zum Zeitpunkt der Gründung dieser Gesellschaft gab es in Österreich Verfechter der Rassenhygiene. Wie erwähnt, spielte die Stadt Wien für die Durchsetzung und Verbreitung der Rassenhygiene eine zentrale Rolle, wenngleich sich die erste österreichische rassenhygienische Gesellschaft im September 1923 in Linz unter dem Namen Oberösterreichische Gesellschaft für Rassenhygiene formierte, deren Vorsitz der Arzt Dr. Richard Chiari innehatte. Im November desselben Jahres gründete Dr. Rudolf Polland – seines Zeichens Lehrstuhlinhaber für Dermatologie an der Karl-Franzens-Universität Graz – die Grazer Gesellschaft für Rassenhygiene, die sich jedoch bereits 1928 wieder auflöste.183

Im „Namen der deutschvölkischen Vereine“ wurde im Oktober 1924 die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene) auf Anraten des Tierarzts Willibald Neubacher gegründet. Öffentlich in Erscheinung trat sie am 18. März 1925 im Zuge der Eröffnungsrede des deutschen Anthropologen und Ethnologen Dr. Otto Reche, des ersten Vorsitzenden der Gesellschaft, an der Universität Wien. Seine Rede über „Die Bedeutung der Rassenpflege für die Zukunft unseres Volkes“184 leitete die folgende Gründungssitzung im Deutschen Haus in der Elisabethstraße ein und war die Initialzündung zur Etablierung der Wiener Gesellschaft

182 Vgl. ebd., 111-112. 183 Vgl. NEUGEBAUER, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, 2005, 53-55. 184 Vgl. LÖSCHER, Zur Umsetzung und Verbreitung, 2001, 121. 44 für Rassenpflege (Rassenhygiene).185 Reches Rede offenbarte die Vorstellungen der Gesellschaft über Rassenhygiene, indem er vor dem Ausbleiben der „natürlichen Selektion“ aufgrund der Fortschritte von Hygiene und Medizin warnte. Dadurch gäbe man „Minderwertigen“ – Reche bezeichnete sie als „Minusvarianten“ – die Möglichkeit, am Leben zu bleiben und ihre „schlechten“ Erbanlagen weiterzugeben. Hier zeigt sich insbesondere das von Reche verinnerlichte sozialdarwinistische Gedankengut.186

Wie Tandler vor ihm wollte Reche eine fortschreitende Degeneration der Bevölkerung, die er auf die Fortschritte von Medizin und Hygiene zurückführte, verhindern. Dies sollte durch Rassenpflege gelingen. In diesem Zusammenhang nennt er Maßnahmen, die einer Degeneration entgegenwirken sollen. Dazu gehören unter anderem die Bekämpfung von Genussmitteln (Alkohol, Nikotin, Rauschgift, Koffein), die Verhinderung der Fortpflanzung Geisteskranker, die Eliminierung von Verbrechern durch Sterilisationsgesetze und Heiratsverbot, ferner die Unterbindung der Vermischung „minderwertiger“ Rassenelemente. Sogenannte „gute Erbstämme“ hingegen sollten steuerlich gefördert werden. Um für die Umsetzung bzw. Steuerung dieser Maßnahmen zu sorgen, wäre nach Reche eine staatliche Aufsichtsbehörde für Rassenpflege nötig. Damit wird deutlich, dass sich Reche – durch die Idee der Gründung einer staatlichen Institution für Rassenpflege – bereits zu dieser Zeit klar für eine Eingliederung der Rassenpflege in die Politik aussprach.187

Unter den 137 Gründungsmitgliedern der Gesellschaft befanden sich neben Universitätsprofessoren und Dozenten vor allem Mediziner und Anthropologen, viele davon NSDAP-Mitglieder, was aufgrund der Nähe zum Gedankengut der NS-Rassenpolitik logisch erscheint.188 Die Rassenhygiene entwickelte sich im Lauf der folgenden Jahre zu einem wichtigen Bestandteil der Wissenschaft. Sie bildete neben dem zu dieser Zeit vorherrschenden Deutschtum und Antisemitismus den ideologischen Grundstock einer politischen Fraktion, die vor allem in studentisch-akademischen Kreisen großen Zuspruch fand. Zudem wurde die Rassenhygiene von führenden Wissenschaftlern in seriösen Publikationen vertreten. Als Beispiel ist hier die „Wiener Klinische Wochenschrift“ zu nennen – das angesehene Organ der Gesellschaft der Ärzte in Wien – die immer wieder Beiträge zur Rassenhygiene bzw. Eugenik veröffentlichte. So auch Abhandlungen des Universitätsprofessors Dr. Julius Wagner-Jauregg 1931-1935, dessen Ansichten – vor allem zur Eugenik – mit jenen der

185 Vgl. NEUGEBAUER, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, 2005, 55. 186 Vgl. LÖSCHER, Zur Umsetzung und Verbreitung, 2001, 121-122. 187 Vgl. NEUGEBAUER, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, 2005, 56. 188 Vgl. LÖSCHER, Zur Umsetzung und Verbreitung, 2001, 121-122. 45 nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, die seit 1933 in die Praxis umgesetzt wurden, weitestgehend übereinstimmten. Zu den zentralen Aufgaben der Eugenik gehörten nach Wagner-Jauregg zum einen die Verhütung erblich geschädigten und zum anderen die Förderung erblich gesunden Nachwuchses.189 Wie viele andere Eugeniker zur Zeit des Austrofaschismus musste Wagner-Jauregg jedoch mit Bedauern feststellen, dass – trotz wissenschaftlicher Untermauerung – „lediglich“ eine Eugenik unter Verzicht auf Sterilisation möglich war, da einerseits die päpstliche Enzyklika „Casti Connubii“ von 1930 einen solchen körperlichen Eingriff verbot und andererseits die österreichische Regierung an diesen katholischen Lehren festhielt. Allerdings war damit die Diskussion über Rassenhygiene bzw. Eugenik noch lange nicht beendet. Vor allem in Ärztekreisen wurde diese sogar noch intensiviert. Schließlich setzte sich die Forderung nach einer „negativen Eugenik“ am 14. Juli 1933 in Form des NS-Sterilisationsgesetzes durch.190

Die Rassenhygiene etablierte sich nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland in allen staatlichen Bereichen, was nach Neugebauer vor allem auf die Vorreiterfunktion der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege zurückzuführen ist. Die ab diesem Zeitpunkt als Ortsgruppe Wien firmierende Gesellschaft weitete ihre Aktivitäten über die gesamte „Ostmark“ aus und etablierte sich als eine der größten und aktivsten Gruppen der Deutschen Gesellschaft für Rassenpflege. Erkennbar ist dies an der Erhöhung der Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres von 250 auf mehr als 700. Von Beginn an stand genügend Personal für die rassenhygienische Arbeit der Gesellschaft zur Verfügung. Was noch vor 1938 theoretisch geplant und angedacht wurde, fand nun durch das Instrument der staatlichen Gesundheits- und Sozialpolitik des NS-Regimes seine praktische Umsetzung in der gesamten Bevölkerung bzw. im ganzen Land.191 Wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse der „Erb- und Rassenkunde“ fanden Eingang in die Politik und wurden im Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin.192

3.1.1 Die Aufnahme der rassenhygienischen Ideen in die Ideologie des Nationalsozialismus

Das Parteiprogramm der NSDAP ließ bereits 1925 deren Absichten im Hinblick auf die praktische Umsetzung der Rassenhygiene erkennen. Diese sollte mit allen Mitteln

189 Vgl. NEUGEBAUER, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, 2005, 61. 190 Vgl. ebd. 191 Vgl. ebd., 63. 192 Vgl. ebd., 53. 46 vorangetrieben und verwirklicht werden und sie wurde so zu einer der zentralen Forderungen der Nationalsozialisten. Das Einfließen rassenhygienischen Gedankenguts in die Ideologie des Nationalsozialismus lässt sich vor allem auf die sozialdarwinistisch-rassenhygienische Position Adolf Hitlers zurückführen, die er als einen der wichtigsten Programmpunkte der Partei verankerte.193 Hitlers von Biologismus und Sozialdarwinismus geprägte Weltanschauung offenbart sich in einigen Passagen seines Buchs „Mein Kampf“. In Anlehnung an die malthusianische Überbevölkerungstheorie widmet er sich der Frage, wie die drohende „Hungerverelendung“ – aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums – verhindert werden könne. Dabei basierten seine Lösungsansätze auf sozialdarwinistischen Argumenten:194

„Die Natur selber pflegt ja in Zeiten großer Not […] zu einer Einschränkung der Vermehrung der Bevölkerung von bestimmten Ländern oder Rassen zu schreiten; allerdings in ebenso weiser wie rücksichtsloser Methode. Sie behindert nicht die Zeugungsfähigkeit an sich, wohl aber die Forterhaltung des Gezeugten, indem sie dieses so schweren Prüfungen und Entbehrungen aussetzt, daß alles minder Starke, weniger Gesunde wieder in den Schoß des ewig Unbekannten zurückzukehren gezwungen wird. […] Damit ist aber die Verminderung der Zahl eine Stärkung der Person, mithin aber letzten Endes eine Kräftigung der Art.“195

Das in Hitlers Argumentation einfließende darwinistische Prinzip der natürlichen Zuchtwahl setzte zum einen den Lösungsgedanken des „Neomalthusianismus“, einer Überbevölkerung durch Geburtenkontrolle entgegenzuwirken, außer Kraft und vertrat zum anderen die rassenhygienische These, dass die Kombination von Geburtenbeschränkung und Gesundheitswesen eine langsame „Entartung“ zur Folge hätte. Zudem stellte Hitler eine Verbindung zwischen dem rassenhygienischen Degenerationsgedanken und einer weiteren sozialdarwinistischen Vorstellung – dem Konkurrenzkampf zwischen Staaten im Sinne eines Kampfes ums Dasein zwischen den Völkern – her. Demnach würden Staaten, die die Verschlechterung des Erbgutes zulassen, im Daseinskampf der Völker unterliegen.196 Allerdings verdeutlicht die angeführte Passage aus „Mein Kampf“ auch, dass nicht die „Euthanasie“ den Mittelpunkt von Hitlers rassenhygienischer Programmatik bildete, sondern er sein Hauptaugenmerk auf die Zwangssterilisierung und Zwangsasylierung der „weniger Gesunden“ legte.197 Eine weitere Textstelle belegt dies ebenso: „Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie

193 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 151. 194 Vgl. ebd. 195 Ebd. 196 Vgl. ebd., 152. 197 Vgl. ebd. 47

wird Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen, in der Folge aber zu einer steigenden Gesundung überhaupt führen. Die Entschlossenheit in dieser Richtung vorzugehen, wird auch der Weiterverbreitung der Geschlechtskrankheiten einen Damm entgegensetzen.“198

Eine Radikalisierung der Forderung nach „Euthanasie“ scheint sich in Hitlers Schlussrede zum Nürnberger Parteitag von 1929 zu zeigen:199

„Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein. Das Gefährlichste ist, daß wir selbst den natürlichen Ausleseprozeß abschneiden (durch Pflege der Kranken und Schwachen)… Der klarste Rassenstaat der Geschichte, Sparta, hat diese Rassengesetze planmäßig durchgeführt.“200

Schmuhl verweist in diesem Zusammenhang jedoch darauf, dass die Rhetorik Hitlers nicht überzubewerten sei, da weitere Belege für seine Befürwortung von „Euthanasie“ bis Mitte 1933 fehlen. Festzuhalten bleibt aber, dass die von Hitler angeführten sozialdarwinistisch- rassenhygienischen Argumente bereits damals darauf abzielten, „lebensunwertes“ Leben zu vernichten.201

Mit der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 wurde der rassenhygienische Zukunftsentwurf in die Praxis umgesetzt.202 Dabei verfolgten die Nationalsozialisten das Ziel, das deutsche Erbgut zu „säubern“. Infolgedessen nahmen sie eine Umstrukturierung der Gesellschaft vor, die das Streben der Partei nach einem rassisch homogenen, physisch zähen und geistig gesunden Gemeinwesen sicherstellen sollte.203

3.1.2 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

Die legistische Umsetzung dieser biopolitischen Ideen mündete in das am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ oder auch „Erbgesundheitsgesetz“ genannt, wobei dieses Gesetz, das von nun an die Sterilisation ermöglichte, offiziell am 1. Januar 1934 in Kraft trat.204 Die Auswahl der zu sterilisierenden Personen wurde nicht nach klinischen Kriterien vorgenommen, sondern nach den Belangen

198 Ebd., 153. 199 Vgl. ebd., 152. 200 Ebd. 201 Vgl. ebd. 202 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 52. 203 Vgl. ebd., 52. 204 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 39. 48 der „Volksgemeinschaft“.205 In § 1 des Gesetzes findet sich eine Auflistung jener Menschen, die als erbkrank galten206:

„Erbkrank im Sinne des Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch- depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung. Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“207

Um Unklarheiten hinsichtlich der im Gesetz festgeschriebenen „Erbkrankheiten“ und der damit verbundenen Verfahrensschritte vorzubeugen, wurde diesem ein umfangreicher Kommentar zur Seite gestellt. Zu dessen Verfassern gehörten der Mediziner Arthur Gütt, 1933 Leiter der Abteilung Volksgesundheit des Reichministeriums des Innern und zudem Vorsitzender des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, dem auch die beiden anderen Autoren Ernst Rüdin (Psychiater) und der Jurist Falk Ruttke angehörten, der außerdem an der Ausformulierung der Nürnberger Gesetze mitwirkte.208

Gerechtfertigt wurde die Verabschiedung des Gesetzes von jenen Autoren zum einen dadurch, dass das „Deutsche Volk“ geradezu von „Minderwertigen“ überhäuft war, und zum anderen dadurch, dass „Geisteschwache“, „Geisteskranke“, „Hilfsschüler“ und „Asoziale“ den Staat Millionen kosten würden und gesunde Familien für deren Erhalt hohe Steuern zahlen müssten.209 Die Verantwortlichen verteidigten das Gesetz ebenso mit dem Argument, dass auch in anderen Staaten ähnliche Sterilisationsgesetze galten, deren Umsetzung jedoch in keinster Weise mit der rücksichtslosen und kaltblütigen Durchführung, wie sie in Deutschland praktiziert wurde, vergleichbar war.210

Die in § 1 verwendete Formulierung „kann unfruchtbar gemacht werden“ zeigt den Handlungs- bzw. Ermessensspielraum der Ärzte und Richter auf, da selbst eine von ihnen vorgenommene Kategorisierung als „erbkrank“ nicht zwingend die Anordnung einer Zwangssterilisation zur Folge haben musste.211

205 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 155-156. 206 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 39. 207 Ebd. 208 Vgl. SPRING Claudia Andrea, Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940-1945, Wien 2009, 59. 209 Vgl. GÜTT Arthur/RÜDIN Ernst/RUDKE Falk, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen. 2. Auflage, München-Berlin 1936, 77. 210 Vgl. TRUS Armin, „… vom Leid erlösen“: Zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“- Verbrechen. Texte und Materialien für Unterricht und Studium, Frankfurt a.M. 1995 (2. Auflage 2003), 56. 211 Vgl. SPRING, Zwischen Krieg und Euthanasie, 2009, 60. 49

Der Sterilisationsantrag konnte einerseits vom zu Sterilisierenden selbst oder von seinem gesetzlichen Vertreter oder Pfleger gestellt werden; andererseits waren auch Amts- und Gerichtsärzte, Leiter von Heil- und Pflege-, Kranken- und Strafanstalten berechtigt, einen solchen Antrag bei den Erbgesundheitsgerichten einzubringen, die ihn prüften und bearbeiteten.212 Wurde der Antrag auf Sterilisation bewilligt bzw. bestätigt, musste die Unfruchtbarmachung binnen zwei Wochen durch einen zugelassenen Arzt an einer von den obersten Landesbehörden dazu ermächtigten Krankenanstalt vollzogen werden.213 Neben allen Personen, die aufgrund ihres Berufs eine beratende oder untersuchende Funktion (Ärzte) für Kranke innehatten, waren Lehrer, Fürsorger, Mitarbeiter des Sanitätswesens der Wehrmacht, Staatsbeamte und Mitglieder der NSDAP bei Verdacht des Vorliegens einer „Erbkrankheit“ verpflichtet, Anzeige beim Gesundheitsamt oder der jeweiligen Anstaltsleitung zu erstatten.214

Am 26. Juni 1935 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses novelliert. Es handelte sich dabei um einen Abtreibungsparagraphen, der einen Schwangerschaftsabbruch bei „erbkranken“ Frauen legitimierte.215 Durch den „Anschluss“ Österreichs an NS- Deutschland kam es zu einer Angleichung der beiden Rechtssysteme und damit zur Einführung der NS-Gesetze in der „Ostmark“. Die Nürnberger Rassengesetze erlangten bereits im Mai 1938 Gültigkeit in der „Ostmark“, während das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erst im Januar 1940 in Kraft trat. Dies lag zum einen daran, dass die Beratungen in Berlin bezüglich der Änderung des Gesetzes erst Mitte 1939 endeten, da man lange Zeit keine Einigung hinsichtlich der Diagnosen „Schwachsinn“ und „Fallsucht“ erzielen konnte. Im September 1939, bei Kriegsbeginn, kam es im Altreich zur Einstellung der Zwangssterilisationen, die jedoch wenig später in eingeschränkter Form wiederaufgenommen wurden. Ab diesem Zeitpunkt sollten nur noch Zwangssterilisationen wegen „besonderer Fortpflanzungsgefahr“ erfolgen. Gleichzeitig erging der für die späteren Tötungen im Zuge der NS-„Euthanasie“ zentrale Geheimerlass Hitlers. Als Folge dieses Erlasses wurden Ärzte und Hebammen dazu verpflichtet, „körperlich“ oder „geistig behinderte“ Kinder an den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ in Berlin zu melden. Dieser Ausschuss wurde von Reichsärzteführer Leonardo Conti

212 Vgl. GÜTT/RÜDIN/RUDKE, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 1936, 73-75. 213 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 158. 214 Vgl. SPRING, Zwischen Krieg und Euthanasie, 2009, 59-60. 215 Vgl. TRUS, „… vom Leid erlösen“, 2003, 55. 50 errichtet und entschied über Leben und Tod dieser Kinder. Im Reichsgau Steiermark wurden zwischen 1942 und 1943 313 Zwangssterilisationen durchgeführt.216

Zwischen 1933 und 1945 wurden im „Dritten Reich“ 400.000 Zwangssterilisationen vorgenommen. Tausende starben an den Eingriffen oder hatten unter den damit verbundenen Folgeschäden zu leiden.217 Auch die seit 1938 annektierten Gebiete, also auch Österreich, waren davon betroffen. Drei Viertel der Zwangssterilisationen fanden zwischen 1934 und 1939 seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dem Ausbruch des Krieges und dem damit verbundenen Start der Euthanasie-Aktionen statt.218

Laut Schmuhl lässt sich ab Mitte der 1930er Jahre und der damit verbundenen Verabschiedung der Gesetze zur Zwangssterilisation und zum Schwangerschaftsabbruch zumindest eine Tendenz zur Planung des „Euthanasie-Programms“ erkennen. Ob Hitler jedoch bereits bei seiner Machtübernahme dazu entschlossen war, „lebensunwerte“ Leben zu vernichten, lässt sich nicht belegen.219

Einflussreiche Nationalsozialisten wie der 1939 verstorbene Reichsärzteführer Gerhard Wagner, Contis Vorgänger, dachten indes laut über eine „Zwangseuthanasie“ nach, und so konfrontierte er auf dem Reichsparteitag 1935 in Nürnberg Hitler mit dieser Thematik. Wenn die Aussagen von Hitlers Begleitarzt von 1947 der Wahrheit entsprechen, dann lehnte Hitler die Durchführung zunächst deswegen ab, weil sie in Kriegszeiten einfacher umzusetzen sei. Allerdings habe Hitler seinen Entschluss geäußert, die „Euthanasiefrage“ im Krieg aufzugreifen und durchzuführen. Benzenhöfer verweist darauf, dass die Aussage Brandts im Zusammenhang mit dem Begriff „Entschluss“ auf Hörensagen beruht und im Hinblick auf den derzeitigen Forschungsstand maximal davon gesprochen werden kann, dass Hitler sich 1935 positiv zur „Euthanasie“ geäußert hat. Von einem zu dieser Zeit bereits existierenden Plan kann indes nicht die Rede sein.220

Letztendlich bleibt festzuhalten, dass der Begriff „Euthanasie“ im Sinne der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ drei Bedeutungsebenen umfasst: Erstens die Tötung schwacher, kranker, körperlich missgebildeter und geistig behinderter Säuglinge als Maßnahme zur Erbpflege. Zweitens die Tötung unheilbar Kranker und geistig Behinderter aus Mitleid und

216 Vgl. SPRING, Zwischen Krieg und Euthanasie, 2009, 70-73. 217 Vgl. TRUS, „…vom Leid erlösen“, 2003, 56. 218 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 159. 219 Vgl. ebd., 180. 220 Vgl. BENZENHÖFER Udo, Der Fall Leipzig (Alias Fall „Kind Knauer“) und die Planung der NS- „Kindereuthanasie“. 2. unveränderte Auflage, Münster 2012, 30-31. 51 drittens die Tötung „behandlungsunfähiger“ Langzeitpatienten in psychiatrischen Einrichtungen aus Kostengründen.221

4 Die NS-„Euthanasie“ in ihrer Planung, Organisation und Durchführung

Eine intensive Propagandakampagne zur Rassenhygiene sollte in den 1930er Jahren die Basis für die praktische Umsetzung von Sterilisationen und die „Euthanasie“ legen. Zum einen verfolgte diese nationalsozialistische Propaganda das Ziel, Zwangssterilisationen zu rechtfertigen, und zum anderen sollte damit die ideologische Berechtigung für den Mord an Kranken geschaffen werden.222 Ebenso beabsichtigte das Propagandaprogramm der Nationalsozialisten, das „Euthanasie“-Bewusstsein der Bevölkerung zu stärken. Es forderte von jedem Einzelnen die Einhaltung der „Gesundheitspflicht“. Die nationalsozialistische Ideologie verstand Gesundheit als einen Akt des Willens. Verfügte man nicht über diesen Willen, galt man als unmündig und es drohte die Gefahr, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen zu werden. Der Appell zur Einhaltung der „Gesundheitspflicht“ war letzten Endes ein Aufruf, die „Volksgemeinschaft“ nicht zu belasten.223 So heißt es in einem Artikel der Zeitschrift „Volk und Gesundheit“ vom Juni 1942 mit dem Titel „Gesundheit ist Pflicht“:

So wollen wir nicht nur die gesundheitliche Selbstverantwortung im Volke wecken, sondern wir wollen die Erkenntnis vermitteln, daß jeder Deutsche die Pflicht hat, gesund zu sein und gesunden Kindern das Leben zu schenken, dann ist die Ewigkeit des deutschen Volkes gewährleistet. Jeder Deutsche hat die Pflicht, alles Vermeidbare zu unterlassen, was der Gesundheit schaden kann, ebenso aber auch darüber zu wachen, daß unser Blut rein erhalten bleibt.224

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bis in die Zeit der „Euthanasieaktion“ die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nicht explizit in der rassenhygienischen Propaganda angesprochen wurde, da ein Ministerialerlass eine Thematisierung der „Euthanasie“ in der Propaganda untersagte. So wurde die „Euthanasie“-Botschaft in den 30er Jahren indirekt und versteckt verbreitet.225

221 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 355. 222 Vgl. ebd., 173-177. 223 Vgl. TRUS, „…vom Leid erlösen“, 2003, 57. 224 WUTTKE-GRONEBERG Walter, Medizin im Nationalsozialismus. Ein Arbeitsbuch. 2. unveränderte Auflage, Rottenburg 1982, 94. 225 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 177. 52

Zur Verbreitung seiner rassenhygienischen Propaganda nutzte das nationalsozialistische Regime sämtliche Massenmedien. Die Presse nahm die rassenhygienischen Ansichten in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften wie „NS-Volksdienst“, „Zeitschrift für Rassenkunde“, „Volk und Rasse“ oder „Das Schwarze Korps“ auf.226

Die darin abgedruckten Artikel stellten zumeist die Notwendigkeit der Ausmerze unheilbar Kranker aufgrund ihrer hohen Kostenverursachung, verbunden mit ihrer „Überflutung“ der Gesunden, dar. Durch Vergleiche wie beispielsweise im Organ des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, das diese „Untermenschen“ mit Schädlingen (Ratten, Wanzen, Flöhen) verglich, die auszumerzen seien, sprach man ihnen die menschliche Qualität ab.227

Das Rassenpolitische Amt der NSDAP war zum einen für die offizielle Sprachregelung im Hinblick auf die Erb- und Rassenpflege zuständig und zum anderen für die Überwachung und Vereinheitlichung der Propaganda. Das Amt arbeitete zudem an gesetzlichen Maßnahmen mit und bildete bis 1938 3.600 Mitarbeiter für die Erb- und Rassenpflege aus. Die Propagandazeitschrift „Neues Volk“ wurde vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP herausgegeben und erreichte eine Auflage von 800.000 Stück. Diesem Amt stand der „Reichsausschuss für Volksgesundheit“ im Reichsministerium des Innern gegenüber, der an der Ausbildung von Amtsärzten in der Erb- und Rassenpflege mitarbeitete. Außerdem wurden von diesem Ausschuss Unterrichtsmaterialien für Schulen und staatliche Ämter angefertigt und bereitgestellt.228

So wurden Schulbücher überarbeitet bzw. neu verfasst und mit entsprechenden Illustrationen versehen. Mathematikbücher enthielten unter anderem Rechenaufgaben, die den Schülern die Nutzlosigkeit der Fürsorge für „Erbkranke“ suggerieren sollten. Zudem wurde seit 1933 in Biologiebücher ein Kapitel über Rassenhygiene und Erbgesundheitspflege eingefügt.229 Schulausflüge in Heil- und Pflegeanstalten fanden statt, um den Schülern die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entlastung durch die „Ausmerze“ von Anstaltspatienten zu verdeutlichen bzw. sie dahingehend zu indoktrinieren, diese „Ausmerze“ als ein Argument für die „Euthanasie“ zu begreifen. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ war in den Schulbüchern jedoch nicht ausdrücklich formuliert.230

226 Vgl. ebd., 176. 227 Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Von der Rassenhygiene zum Massenmord. Ideologie, Propaganda und Praxis der NS-Euthanasie in Österreich. In: zeitgeschichte 28 (2001), 191. 228 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 174. 229 Vgl. TRUS, „…vom Leid erlösen“, 2003, 56. 230 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 175-176. 53

Auch das Medium Film hatte für die rassenhygienische Propaganda des Nationalsozialismus große Bedeutung. Abgesehen vom Spielfilm „Ich klage an“ wuchs 1934 die Zahl von Aufklärungsfilmen wie „Opfer der Vergangenheit“ oder „Paläste für Geisteskranke“ stark an.231 Mit diesen Filmen sollte die Bevölkerung für die kommenden „Euthanasie“- Maßnahmen gewonnen werden

4.1 Formen und Aktionen der NS-„Euthanasie“

Die systematisch geplante Tötung geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen fand in verschiedenen Phasen und Aktionen statt und war die erste staatlich praktizierte Massentötung des Hitlerregimes.232 Im Folgenden werden diese Phasen bzw. Aktionen kurz erläutert. Auf die für die vorliegende Arbeit relevante „Kindereuthanasie“ und die „Aktion T4“ wird in den entsprechenden Kapiteln detaillierter Bezug genommen.

o „Kindereuthanasie“: Der Beginn der „Kindereuthanasie“ 1939 und die damit verbundene Tötung „missgebildeter“ Säuglinge und Kleinkinder bedeuteten den Anfang der NS-„Euthanasie“.233 Ihre Durchführung fand in den sogenannten Kinderfachabteilungen statt und endete 1945.234 Nach Benzenhöfer ist die Bezeichnung „Kindereuthanasie“ jedoch problematisch, da sie den Eindruck eines einheitlichen Verfahrens und einer spezifischen Altersgruppe erweckt, weshalb er die Bezeichnung „Kinder- und Jugendlicheneuthanasie“ bevorzugt.235 o „Aktion T4“: Diese „Aktion“ bezeichnet die Ermordung von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten, die in sechs Vernichtungsanstalten des Deutschen Reiches 1940 und 1941 praktiziert wurde. Benannt war die „Aktion“ nach der in der Berliner Tiergartenstraße 4 beheimateten „Euthanasie“-Zentrale.236 Allerdings verweist Neugebauer darauf, dass die häufig verwendete Bezeichnung „Erwachseneneuthanasie“ unzutreffend ist, da innerhalb der „Aktion T4“ ebenso Kinder und Jugendliche getötet wurden.237

231 Vgl. ebd., 176-177. 232 Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Die „Aktion T4“. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 17. 233 Vgl. ebd., 17-19. 234 Vgl. ebd., 17. 235 Vgl. BENZENHÖFER Udo, Kinder-„Euthanasie“. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1012. 236 Vgl. NEUGEBAUER, „Die Aktion T4“, 2008, 17. 237 Vgl. ebd., 19. 54

o Die Tötung von Pfleglingen psychiatrischer Einrichtungen der besetzten Länder Polens und der Sowjetunion ab September 1939.238 o „Aktion 14f13“ oder „Sonderbehandlung 14f13“: Unter der „Aktion 14f13“ war die Tötung arbeitsunfähiger, rassisch oder politisch unerwünschter Häftlinge aus Konzentrationslagern zu verstehen, die in Euthanasievernichtungsanstalten 1941-1944 stattfand.239 Die Bezeichnung „Sonderbehandlung“ entstammt der Tätersprache und diente der Verschleierung. „14f13“ war ein Aktenzeichen, unter dem die Sterbefälle in den Dienststellen der Konzentrationslager geführt wurden. Dabei stand das Kürzel „14f1“ für alle Sterbefälle mit „natürlichen“ Todesursachen, „14f2“ für Suizid und „14f3“ für die Erschießung eines Häftlings auf der Flucht. „14f13“ bezeichnete, wie erwähnt, die Tötung bestimmter KZ-Häftlinge.240 o Ab 1943 wurden in den Euthanasievernichtungsanstalten ebenso psychisch kranke Ostarbeiter getötet.241 Am 29. September 1944 wurden 24 „geisteskranke Polen und Ostarbeiter“ vom Grazer „Feldhof“ in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling überstellt. Ob es zu einem Transport der Patienten in die Euthanasietötungsanstalt Hartheim gekommen ist, konnte bislang nicht eruiert werden.242 o Dezentrale Krankenmorde („wilde Euthanasie“): Durch einen Befehl Hitlers vom 24. August 1941 wurde die „Aktion T4“ für beendet erklärt. Ein besonderes Gewicht für den Stopp der „Aktion“ kommt dabei der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung zu. Damit war das Morden in vielen Heil und Pflegeanstalten jedoch nicht zu Ende.243 Von 1941 bis 1945 wurde in den Anstalten dezentral – „ohne Planung der Zentraldienststelle“244 – weitergemordet.245 Im Rahmen der „wilden Euthanasie“ wurden die Patienten durch Nahrungsentzug, Vernachlässigung, Kälte und diverse – oft intravenös zugeführte – Medikamente getötet.246

238 Vgl. ebd., 17. 239 Vgl. ebd. 240 Vgl. SCHWANINGER Florian, „Wenn du nicht arbeiten kannst, schicken wir dich zum Vergasen.“ Die „Sonderbehandlung 14f13“ im Schloss Hartheim 1941-1944. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 158. 241 Vgl. NEUGEBAUER, „Die AktionT4“, 2008, 17. 242 Vgl. STROMBERGER Helge, Die „Aktion T4“ in der Steiermark – Ein Überblick. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 425. 243 Vgl. KEPPLINGER Brigitte, Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 58-59. 244 Ebd., 59. 245 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 17. 246 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 60. 55

4.2 Der Beginn der „Kindereuthanasie“ und der Fall „Leipzig“

Eine genaue Datierung des Beginns der „Euthanasie“-Organisation lässt sich nach Benzenhöfer nicht vornehmen.247 Allerdings kommt er in seinen Forschungs- und Recherchearbeiten zu dem Schluss, dass der Fall „Knauer“ oder der Fall „Leipzig“248 – dazu folgen anschließend nähere Erläuterungen – als Anstoß zum Mord an behinderten Kindern und Erwachsenen aufzufassen ist, da jener Fall Hitler dazu veranlasste, eine zunächst mündliche Ermächtigung zur „Gewährung des Gnadentodes“ zu erteilen. Zwar scheint es durchaus möglich, dass es bereits davor in der Kanzlei des Führers Debatten über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ gab, jedoch ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht davon auszugehen, dass es vor dem Fall „Leipzig“ konkrete Pläne gab, die „Euthanasie“ in die Praxis umzusetzen.249

Nach seiner Übernahme des Reichspräsidentenamtes mit Erlass vom 17. November 1934 installierte Hitler die Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF) mit Sitz in Berlin. Die Leitung dieser neuen Kanzlei oblag Philipp Bouhler, der bis dahin als Geschäftsführer der Reichsleitung der NSDAP fungiert hatte.250 Bereits 1938/1939 trafen vermehrt Bittgesuche und Eingaben zur Sterbehilfe von Familienangehörigen unheilbar Kranker in der KdF ein, was den Nationalsozialisten die Möglichkeit gab, die „Euthanasie“ erneut aufzugreifen.251 Diese Gnadengesuche wurden im Amt II b (Beschwerden und Angelegenheiten der Reichs- und staatlichen Ministerien und weiterer Stellen)252 unter der Leitung von Dr. Hans Hefelmann bearbeitet. Die KdF spielte damit die zentrale Rolle in der Vorbereitungs- und Planungsphase der „Kindereuthanasie“, an der sowohl deren Leiter Bouhler als auch Hefelmann beteiligt waren.253

Zunächst bearbeitete die KdF Privatangelegenheiten Hitlers, sie entwickelte sich jedoch in der Folge zu einem fünf Hauptämter umfassenden Verwaltungsapparat. Die Planung für den Krankenmord fand innerhalb der KdF im Hauptamt II (Staats- und Parteiangelegenheiten) unter Viktor Brack statt.254 Neben Bouhler, Brack und Hefelmann war dessen Vertreter

247 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 116. 248 Benzenhöfers Revision und Recherchen führen dazu, dass von einem Fall „Leipzig“ vor Kriegsbeginn auszugehen ist. Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 27. 249 Vgl. ebd., 114-115. 250 Vgl. ebd., 33. 251 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 182. 252 BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 39. 253 Vgl. ebd., 68. 254 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 78-79. 56

Richard Hegener an der Planung und Vorbereitung der „Kindereuthanasie“, die von Anfang an als geheime Reichssache eingestuft war255, beteiligt.256 Am 15. Mai 1939 war die organisatorische Planung bzw. Vorbereitung für den Mord an Kindern abgeschlossen. Damit die KdF nicht mit der „Kindereuthanasie“ in Verbindung gebracht werden konnte, wurde die Tarnbezeichnung „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ erfunden. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch bei diesem Reichsausschuß um das Hauptamt II der KdF.257

Laut Benzenhöfer ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein bestimmter Fall für den Beginn der Planungen für die „Euthanasie“ an Kindern verantwortlich zeichnete. Möglicherweise handelt es sich dabei um ein behindert geborenes Kind aus Pomßen bei Leipzig, das am Tag vor Kriegsausbruch das Licht der Welt erblickte. Nach Angaben des französischen Journalisten Ph. Aziz führte dieser 1973 ein Interview mit der betroffenen Familie (laut Aziz trug sie den Familiennamen „Kressler“), die ihm von ihrem schwerstbehinderten Sohn berichtete. Dem Jungen fehlte der linke Unterarm und sein Bein war missgebildet. Außerdem war er blind und wurde von seiner Familie als „geistig zurückgeblieben“ beschrieben. Als der Familie klar wurde, dass sich der Gesundheitszustand des Kindes nicht ändern würde, brachte man es in die Leipziger Universitätskinderklinik und im Zuge dessen wurde man bei Prof. Werner Catel, dem Direktor der Klinik, vorstellig. Catel teilte der Familie mit, dass das Kind niemals ein normales Leben führen werde. Glaubt man den Angaben von Aziz, so verfasste der Vater des Kindes anschließend einen Brief an Hitler, in dem er um die Erlaubnis bat, seinem Kind den „Gnadentod“ zu gewähren.258

In seinem 2008 erschienenen Buch „Der Fall Leipzig“ begibt sich Benzenhöfer auf die Wahrheitssuche und beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob jener Fall tatsächlich den Anstoß zur Durchführung der „Kindereuthanasie“ gab. Dabei stützt er sich vor allem auf Aussagen Karl Brandts, die er im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses 1947 tätigte, und auf Behauptungen von Werner Catel und Hans Hefelmann (ehemaliger Sachbearbeiter der „Reichsausschußaktion“) Anfang der 60er Jahre. Durch eine Analyse der Aussagen hat Benzenhöfer versucht, einen Zusammenhang zum Fall „Leipzig“ herzustellen.259 Was den Namen des Kindes betrifft, finden sich Widersprüche in den Aussagen Brandts, Catels und

255 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 182. 256 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 43-45. 257 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 80. 258 Vgl. BENZENHÖFER Udo, Kinder-„Euthanasie“. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1014. 259 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 12ff. 57

Hefelmanns. Ersterer nannte bei seiner Befragung 1947 keinen Namen und sprach in diesem Zusammenhang lediglich von einem „Fall Leipzig“, während die beiden Letztgenannten den Namen „Knauer“ verwendeten, wobei Hefelmann angab, sich bezüglich des Namens irren zu können. Zum Alter des Kindes gibt es keine exakten Angaben, jedoch spricht Benzenhöfer von der hohen Wahrscheinlichkeit, dass das Kind bei seiner Vorstellung in der Leipziger Kinderklinik unter zwei Jahren alt war. Hinsichtlich des Geschlechts des Kindes ist ebenfalls auf fehlende Angaben zu verweisen.260 Glaubt man Aziz, handelte es sich um einen Jungen.261

Widersprüche finden sich auch in den Aussagen zum Grad der Behinderung des Kindes. Brandt beschrieb das Kind als blind und idiotisch, dem zudem ein Bein und ein Teil eines Armes fehlten, wohingegen Hefelmann von drei fehlenden Extremitäten und der Blindheit des Kindes sprach.262 Auf die Frage, wer das „Gnadentodgesuch“ abgeschickt hat, kann keine verbindliche Antwort gegeben werden. Brandt und Catel behaupteten, dass das Gesuch vom Vater des Kindes stammte. Hefelmann merkte an, dass der Antrag auf Tötung des Kindes von der Großmutter kam. Benzenhöfer gelangt zu dem Schluss, dass das „Gnadentodgesuch“ aus dem Kreis der Familie stammen muss.263

Laut Friedlander stammte das „Gnadentodgesuch“ vom Vater des Kindes, der sich an Werner Catel wandte mit der Bitte, das Kind zu töten. Catel verwies jedoch darauf, dass damit gegen das Gesetz verstoßen würde, und lehnte ab. Anschließend erbat die Familie des Kindes den „Gnadentod“ direkt vom Führer, worauf dieser seinen Begleitarzt Karl Brandt nach Leipzig entsandte, um das Kind zu begutachten. Sollte sich die Diagnose Brandts mit den im „Gnadengesuch“ dargelegten Befunden decken, war er befugt, die Tötung des Kindes freizugeben. Die Diagnose stimmte überein. Brandt genehmigte die „Euthanasie“ des Kindes und damit dessen Tötung.264

Am schwierigsten gestaltet sich die zeitliche Einordnung des „Falls Leipzig“, da nach den Aussagen von Catel, Brandt und Hefelmann sowohl das Jahr 1938 als auch 1939 infrage kommen. Allerdings kann anhand der Hinweise zumindest dahingehend eine zeitliche Eingrenzung vorgenommen werden, dass sich der „Fall Leipzig“ zwischen Ende 1938 und Anfang 1939 zugetragen haben muss. Ob es in Leipzig ein Kind namens „Knauer“ gab, das

260 Vgl. ebd., 51-52. 261 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1014. 262 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 52. 263 Vgl. ebd., 53-54. 264 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 84-85. 58 im erwähnten Zeitraum „verstorben“ ist, ist nach Benzenhöfer nicht belegbar.265 Sowohl die Aussagen Hefelmanns als auch jene Brandts stimmen darin überein, dass die Planungen für die NS-„Kindereuthanasie“ 1939 begannen. Sollte sich jedoch der „Fall Leipzig“ bereits 1938 zugetragen haben, ist auf eine zeitliche Lücke hinzuweisen, die diesen Fall nicht als konkreten Auslöser der Planung der NS-„Kindereuthanasie“ ausweist.266

4.2.1 Die Planung der „Kindereuthanasie“

Unmittelbar nach dem Fall „Leipzig“ ermächtigte Hitler Brandt und Bouhler mündlich, in ähnlichen Fällen genauso zu verfahren, was den Übergang von der 1935 legalisierten Zwangssterilisation zur Ermordung von Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen bedeutete. Dazu wurde mit der Installation des „Reichsausschußes zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“, der zum einen von der KdF und zum anderen von der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ im Reichsministerium des Innern unterstützt wurde, die Grundlage der weiteren Durchführung solcher Maßnahmen geschaffen.267

Im Lauf des Jahres 1939 konkretisierten sich die Planungen der „Kindereuthanasie“.268 Hefelmann bekam von Brandt den Auftrag, eine Planungskommission einzurichten. Das erste Mal traf die Kommission, bestehend aus Hefelmann, Ministerialrat Dr. med. Herbert Linden und Viktor Brack, auf Einladung Hefelmanns zusammen.269 Dabei wurde zunächst die persönliche Einstellung der einzelnen Kommissionsmitglieder zur Problematik der „Euthanasie“, deren Bereitschaft zur freiwilligen Mitarbeit und zu den künftig beabsichtigten Maßnahmen geklärt. Unter Einbezug „ärztlicher Experten“ folgten weitere Beratungen, in denen es laut Hefelmann vor allem darum ging, die Frage der Tötung „idiotischer“ und schwer missgebildeter Kinder zu erörtern.270 Zu den Ärzten zählten: Dr. med. Herbert Linden (Ministerialrat in der Abteilung IV im Reichsinnenministerium, somit war auch eine staatliche Stelle an der „Euthanasie“ beteiligt)271, der Augenarzt Dr. Hellmuth Unger272 (Pressereferent der Reichsärztekammer und des Reichsärzteführers), der Berliner Kinderarzt Dr. Ernst

265 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 54-60. 266 Vgl. ebd., 65. 267 Vgl. SCHMUHL Hans-Walter, Die Patientenmorde. In: EBBINGHAUS Angelika/DÖRNER Klaus (Hrsg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, 301. 268 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 68. 269 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1015. 270 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 67. 271 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 79. 272 Dr. Hellmuth Unger verfasste 1936 auch einen Roman mit dem Titel „Sendung und Gewissen“, der als Vorlage für den Propagandafilm „Ich klage an“ aus dem Jahr 1941 diente. Vgl. BENZENHÖFER, Kinder- „Euthanasie“, 2003, 1015. 59

Wentzler und Dr. (Psychiater, Görden).273 Ob Prof. Werner Catel (Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig) Mitglied dieser Kommission war, ist umstritten, aber sehr wahrscheinlich, da er wenig später neben Dr. Wentzler und Dr. Heinze Gutachter für den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“, kurz „Reichsausschuß“, wurde.274

Am 15. Mai 1939 waren nach Angaben Hefelmanns die Beratungen der Kommission beendet. Danach wurde der „Reichsausschuß“ gegründet.275 Die Leitung der Verwaltung hatte Viktor Brack inne. Ihn vertrat SA-Oberführer Werner Blankenburg.276 Zudem fungierten Hefelmann und sein Vertreter Hegener als Sachbearbeiter. Sie alle unterstanden wiederum Philipp Bouhler (Leiter der KdF) und Hitlers Leibarzt Dr. Brandt.277 Wie erwähnt, fungierte der „Reichsauschuß“ nicht nur als bürokratische Zentrale der „Kindereuthanasie“, sondern vor allem als Tarnorganisation für die Aktivitäten innerhalb der KdF.278

Nach Benzenhöfer stellt der August 1939 einen bedeutenden Zeitraum der Vorbereitung der „Kindereuthanasie“ dar. Eine im November 1940 per Brief versandte Rechnungsaufstellung des „Reichsausschußes“ für das Rechnungsjahr 1939 an das Reichsministerium des Innern liefert wichtige Informationen zu dessen Gründungszeitpunkt. Demnach begann die „rechnungstechnische“ Arbeit des „Reichsausschußes“ am 1. August 1939. Zudem wurden im August 1939 frühere Sitzungsprotokolle der Strafrechtskommission begutachtet, in denen es um die Legitimation von Tötungsdelikten und damit im weitesten Sinn auch um „Euthanasie“ ging. Hier zeigt sich, dass in der KdF schon zu diesem Zeitpunkt über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ diskutiert wurde. Schlussendlich sprach sich jedoch die Strafrechtskommission gegen die Freigabe der Tötung „lebensunwerten“ Lebens aus. Den Beginn der Erfassung der Opfer der „Kindereuthanasie“ markiert ein streng geheimer Erlass vom 18. August 1939, der gleichzeitig das Startsignal für die praktische Umsetzung der „Euthanasie“ an Kindern gab.279

273 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 69-70. 274 Vgl. ebd., 70. 275 Vgl. ebd., 74. 276 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 79. 277 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 74. 278 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 183. 279 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 76-78. 60

4.3 Kinder als erste Opfer – Die Umsetzung der „Kindereuthanasie“

Die Zielgruppe der „Kindereuthanasie“ umfasste zunächst alle Säuglinge und Kleinkinder, die sich in häuslicher Pflege und nicht in Anstaltspflege befanden. Kinder und Jugendliche, die bereits Patienten in Anstalten waren, fielen der „Aktion T4“ und der damit verbundenen Tötung in einer der sechs Vernichtungsanstalten des „Dritten Reichs“ zum Opfer. Um das geplante Mordprogramm an Kindern, die im Elternhaus lebten, in die Tat umzusetzen, benötigte der „Reichsausschuß“ zu deren Erfassung die Mithilfe der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des Innern unter Reichsgesundheitsführer Conti und der ihm unterstellten staatlichen Gesundheitsämter.280 Mittels Runderlass verordnete das RMdI am 18. August 1939 die Meldepflicht aller „mißgestaltete[n] usw. Neugeborene[n].“281 Der Erlass war jedoch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern richtete sich an die höheren Verwaltungsbehörden, die ihn wiederum an die Amtsärzte weiterleiteten. Meldepflichtig waren neben leitenden Ärzten von Entbindungsanstalten auch Hebammen. Zu melden waren Säuglinge und Kinder bis zum 3. Lebensjahr, die an folgenden „schweren angeborenen Leiden“ erkrankt waren:282

1. „Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind), 2. Mikrozephalie (abnorme Kleinheit des Kopfes, besonders des Hirnschädels), 3. Hydrozephalus (Wasserkopf) schweren bzw. fortgeschrittenen Grades, 4. Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von ganzen Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw., 5. Lähmungen einschl. Littlescher Erkrankung.“283 Die Meldungen erfolgten mit den dem Runderlass beigelegten Meldebögen. In diese waren Name, Alter, Geschlecht, Krankheitsverlauf mit Art und Dauer der Behandlung und Entwicklungsverlauf einzutragen. Außerdem sollte die Familienanamnese des betroffenen Kindes angegeben werden.284 Das ausgefüllte Formular wurde durch die Amtsärzte auf dessen Richtigkeit überprüft und unmittelbar danach an den „Reichsausschuß“285, Postfach 101, Berlin W9, versendet. Die wahre Absicht der Verpflichtung, jene Kinder, die an oben genannten Krankheiten litten, zu melden, wurde nie offenbart. Vielmehr erweckte der

280 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 183. 281 Vgl. KLEE Ernst (Hrsg.), Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt a.M. 1992, 239. 282 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 78-79. 283 KLEE, Dokumente zur „Euthanasie“, 1992, 239. 284 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 92-93. 285 Der „Reichsausschuß“ war eine Tarnorganisation. Damit die Anschrift dieser Dienststelle unbekannt blieb – diese Dienststelle war in Wahrheit die KdF – wurde beim Postamt Berlin W 9 ein Postschließfach eingerichtet. Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 81. 61

Runderlass bei den betroffenen Familien den Eindruck, dass er wissenschaftlichen Zwecken diene, um Kindern zu helfen oder statistische Erhebungen durchzuführen.286

Des Weiteren blieb unerwähnt, was mit den Kindern nach der Erfassung geschehen sollte. Der Erlass vom 1. Juli 1940 beinhaltete zumindest die Information, dass in Görden eine „Jugend- Psychiatrische Abteilung“ eingerichtet wurde, wo die erfassten Kinder „behandelt“ werden sollten. Zudem informierte der Erlass über das Vorhaben, weitere „Fachabteilungen“ einzurichten. Die Meldungen wurden im Amt 2b der KdF von Hefelmann und seinem Stellvertreter Hegener gesichtet. Jene Fälle, die nicht für die „Euthanasie“ geeignet schienen, wurden aussortiert. Fälle, die für die „Euthanasie“ infrage kamen (auch Zweifelsfälle)287, wurden an die drei Gutachter des „Reichsausschußes“, Prof. Werner Catel, Dr. Hans Heinze und Dr. Ernst Wentzler, weitergeleitet.288 Bei der Begutachtung der Meldebögen wandten sie ein Umlaufverfahren an. Das bedeutete, dass der zweite Gutachter Bescheid wusste, wie der erste entschieden hatte. Der dritte Gutachter kannte dann die Beurteilung der beiden Vorgutachter.289 Trifft die Aussage Hefelmanns zu, so oblag es den drei Gutachtern, durch Ankreuzen einer der folgenden Rubriken über Leben oder Tod der Kinder zu entscheiden:

• Ein „+“ signalisierte „Behandlung“ und hatte die Freigabe der Tötung des Kindes zur Folge. • Wurde im Meldebogen ein „−“ vom zuständigen Gutachter eingetragen, so bedeutete dies die Ablehnung der Freigabe. • Gelangte der Gutachter zu keinem sicheren Ergebnis, lautete sein Votum auf „vorläufige Zurückstellung“ oder „Beobachtung“.290

Für die Entscheidung über Leben oder Tod der Kinder galt einzig und allein der Meldebogen als Grundlage, den zumeist Hebammen ausfüllten. Eine Voruntersuchung der betroffenen Kinder seitens der Ärzte gab es nicht. Zweifelsfälle wurden zunächst noch mit den zuständigen Amtsärzten besprochen. Später wurden Kinder, bei denen die Gutachter zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt waren, zur Beobachtung in die Kinderfachabteilungen, die zur Tötung der Kinder bestimmt waren, eingewiesen. Somit wurden nicht nur die „+“- Fälle, sondern auch die Zweifelsfälle in die Kinderfachabteilungen eingeliefert. Die mit einem

286 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 92-93. 287 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 82. 288 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1016. 289 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 184. 290 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1016. 62

„-“ versehenen Fälle wurden abgelegt.291 Der „Reichsausschuß“ fertigte zudem eine „Ermächtigungsurkunde“ für jene Kinder an, die nach dem Gutachten mit einem „+“ versehen waren. Diese sollte als Beleg für die Zustimmung zur Behandlung der betroffenen Kinder in einer Kinderfachabteilung dienen, was zugleich den Tod dieser Kinder bedeutete. Nach einer schriftlichen Mitteilung des „Reichsausschußes“ an das zuständige Gesundheitsamt mit der Information, wann und in welche Kinderfachabteilung die Kinder eingeliefert werden sollten, konnte die Einweisung erfolgen. Außerdem enthielt dieses Schreiben eine Benachrichtigung der entsprechenden Anstalt.292

Das erste Kind, das nach dem genannten Schema vom „Reichsausschuß“ in eine „Kinderfachabteilung“ eingewiesen wurde, fand nachweislich Aufnahme am 2. Juli 1940 und starb am 29. August 1940.293

Laut Poier existierten im Deutschen Reich 30 Kinderfachabteilungen, drei davon in der „Ostmark“. Belegt ist die Existenz der Kinderfachabteilungen am Grazer „Feldhof“ und „Am Spiegelgrund“ in der Wiener Anstalt „Am Steinhof“. Ob es eine Kinderfachabteilung in der Landesirren- und Siechenanstalt Klagenfurt gab, ist nicht nachgewiesen, laut Poier jedoch sehr wahrscheinlich.294

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es in vielen Anstalten keine gesonderten Bereiche für eine Kinderfachabteilung gab, vielmehr wurde Letztere häufig mit anderen Abteilungen zusammengelegt.295 Begründen lässt sich dies dadurch, dass der „Reichsausschuß“ keine genauen Vorgaben erteilte, wie der Aufbau einer Fachabteilung für Kinder auszusehen hatte.296 Auch die Kinderfachabteilung des Grazer „Feldhofs“ verfügte über keine getrennten Räumlichkeiten, deshalb verteilten sich die Kinder auf mehrere Abteilungen. Die Kinderfachabteilung der Anstalt „Am Spiegelgrund“ in Wien verfügte jedoch über eine geschlossene Anstalt auf dem Gelände des „Steinhofs“.297 Die beiden Anstalten in Graz und Wien verband, dass vor allem zu Beginn der „Kindereuthanasie“ die Arbeit in den

291 Vgl. ebd., 1016. 292 Vgl. POIER Birgit, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung im Nationalsozialismus: „Euthanasie“ in der Steiermark. In: zeitgeschichte 27 (2000) H. 4, 276. 293 Vgl. BENZNEHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 86. 294 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2003, 276. 295 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1017. 296 Vgl. OELSCHLÄGER Thomas, Zur Praxis der Kinder-„Euthanasie“ am Beispiel Österreich. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1035. 297 Vgl. ebd., 1036-1037. 63

Kinderfachabteilungen von anstaltseigenem Personal (Ärzte und Pfleger) übernommen wurde. Später wurde je nach Bedarf auch fremdes Personal hinzugezogen.298

Die Kinder wurden im Regelfall in diesen Kinderfachabteilungen einzeln getötet.299 Dabei wurde primär die Tötungsmethode mittels Medikamenten präferiert, wobei die meisten Ärzte zum einen das Barbiturat Luminal und zum anderen auch Schlaftabletten, sogenanntes Veronal, verwendeten.

Waren Kinder gegen diese Medikamente resistent, so wurde ihnen das Sedativum Morphium- Skopolamin oder Brom verabreicht. Auswahl und Art der Verabreichung tödlicher Medikamente standen den Ärzten frei. Friedlander berichtet, dass diese Medikamente meist in Tablettenform gegeben wurden. Diese wurden dann in Flüssigkeiten aufgelöst – er nennt hier beispielsweise Tee –, damit die Medikation vermischt mit der Nahrung des Kindes aufgenommen werden konnte. Diese Substanzen wurden regelmäßig verabreicht und waren erst bei höherer Dosierung tödlich. Somit wurden die Kinder nicht durch ein fremdes Gift getötet, sondern durch die ihnen bereits bekannten Medikamente in Form einer Überdosis. Überdosen von Barbituraten und anderen Medikamenten führten nicht sofort zum Tod, sondern leiteten häufig eine Pneumonie (Lungenentzündung) ein, die letzten Endes in zwei bis drei Tagen zum Tod führte.300 Durch Kombinationen von Medikamenten konnte der Tod der Kinder tagelang hinausgezögert werden. Die Kinder hatten starke Schmerzen.301 Eine weitere Art der Tötung war das Verhungernlassen der Kinder. Die Nahrungsmittelrationen wurden reduziert, bis der Hungertod eintrat. Gegen Ende des Krieges kannte man gewisse Anstalten unter dem Namen „Hungerhäuser“.302 Nach dem Abbruch der Vergasungen im Zuge der „Aktion T4“ – auf die noch genauer eingegangen wird – wurde das Mindestalter für die „Kindereuthanasie“ von drei Jahren auf acht, dann auf zwölf und schließlich auf das siebzehnte Lebensjahr angehoben. Auf der Grundlage von „Sonderermächtigungen“ wurden neben physisch und psychisch geschädigten Kindern – ebenso Juden- und Zigeunerkinder (nach rassischen Merkmalen selektiert) und schwer Erziehbaren, die als „Psychopathen“ diffamiert wurden – auch Erwachsene in den Kinderfachabteilungen getötet.303

298 Vgl. ebd., 1035. 299 Vgl. BENZENHÖFER, Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1017. 300 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 105-106. 301 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 187. 302 Vgl. FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid, 1997, 105. 303 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 189. 64

Kepplinger versteht die „Kindereuthanasie“ als Archetyp der NS-„Euthanasie“, nämlich in dem Sinn, dass die Tötung der Kinder in einen wissenschaftlichen Kontext eingebettet war und somit zum Objekt medizinischer Forschungen avancieren sollte. Insgesamt fielen der „Kindereuthanasie“ etwa 5.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer.304

4.4 Planung und Organisation der „Aktion T4“

„Aktion T4“ bezeichnet die Ermordung von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten, die in sechs Vernichtungsanstalten des Deutschen Reiches in den Jahren 1940 und 1941 praktiziert wurde. Benannt wurde die „Aktion“ nach der in der Berliner Tiergartenstraße 4 beheimateten „Euthanasie“-Zentrale.305 Die Entscheidung zur Durchführung der „Aktion T4“ fiel im Zusammenhang mit den Planungen der „Kindereuthanasie“ im Frühsommer 1939.306 Schmuhl nennt für die konkrete Planung der Maßnahmen den Juli 1939,307 wobei nach Benzenhöfer beim gegenwärtigen Forschungsstand eher vom Frühsommer 1939 auszugehen ist, wenn es um den Planungsbeginn der „Erwachseneneuthanasie“ geht.308 Hitler beauftragte Philipp Bouhler, der sich bezüglich der Zuständigkeit für die Euthanasiemaßnahmen gegen Reichsärzteführer Leonardo Conti durchsetzen konnte,309 und Karl Brandt mit der Abwicklung der Massentötungen. Die beiden waren schon für die Mordaktionen der „Kindereuthanasie“ hauptverantwortlich gewesen.310 Da den Verantwortlichen bewusst war, dass sie für die Erfassung und Herausgabe der Patienten die Mithilfe staatlicher Stellen benötigten, sicherten sie sich die Unterstützung des Reichsministeriums des Innern in der Person von Ministerialrat Herbert Linden311 (ebenfalls Beteiligter an der „Kindereuthanasie“). Im Juli 1939 folgten etwa 15-20 Psychiater und Ärzte einer Einladung nach Berlin. Dort wurden sie von Brandt und Bouhler hinsichtlich der Planung des „Euthanasie“-Programms instruiert. In diesem einberufenen Personenkreis befanden sich auch die für die „Kindereuthanasie“ tätigen Gutachter Heinze, Unger und Wentzler. Ergänzt wurde dieses Planungsgremium von Leonardo Conti, Max de Crinis, Carl Schneider, Berthold Kihn

304 Vgl. KEPPLINGER Brigitte, „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Nationalsozialismus: Die „Aktion T4“. In: MORSCH Günther/PERZ Bertrand (Hgg.), Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin 2011, 80. 305 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 17. 306 Vgl. KEPPLINGER Brigitte, NS-Euthanasie in Österreich: Die „Aktion T4“ – Struktur und Ablauf. In: KEPPLINGER Brigitte/MARCKHGOTT Gerhart/REESE Hartmut (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim ( = Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3). 2. Auflage. Linz 2008, 37. 307 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 190. 308 Vgl. BENZENHÖFER, Der Fall Leipzig, 2012, 107. 309 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 37. 310 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 190. 311 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 38. 65

(Universitätsklinik Jena), Werner Heyde (ärztlicher Leiter der T4-Zentrale), Falthauser (Anstaltsdirektor in Kaufbeuren), Hefelmann, Linden und Pfannmüller. Nach Aussagen Hefelmanns waren zudem die Berliner Anstaltsleiter Ernst Wagenknecht und Wilhelm Bender während dieses Treffens anwesend.312

Am 11. August 1939 legte eine Strafrechtskommission Hitler einen Gesetzesentwurf zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ vor, den Hitler jedoch aus politischen Gründen ablehnte.313 Zudem fürchtete er den Widerstand der Kirchen. Brack kontaktierte im Auftrag Hitlers den katholischen Geistlichen Joseph Mayer (Diözese Augsburg), der ein theologisches Gutachten zur Euthanasie erstatten sollte. Das Ergebnis zeigte, dass es keine kategorische Ablehnung der „Euthanasie“ seitens der Katholischen Kirche gab. Dies bestärkte Hitler darin, den Start des „Euthanasie“-Programms durch eine geheime Führervollmacht zu befehlen.314 Eine gesetzliche Grundlage der NS-„Euthanasie“ hat es nie gegeben.315 Die einzige formelle Grundlage der NS-„Euthanasie“ war das auf den 1. September 1939 rückdatierte316 (Beginn des Krieges) und im Oktober 1939 auf dem privaten Briefpapier Hitlers unterzeichnete Ermächtigungsschreiben317 an Reichsleiter Bouhler und Dr. Karl Brandt, dessen Entwurf der steirische Psychiater Maximinian de Crinis ausgearbeitet haben soll. Allerdings hatte die „Ermächtigung“ Hitlers auch im nationalsozialistischen Staat keine Rechtsgültigkeit, was bedeutete, dass der Krankenmord bis zum Ende der NS-Herrschaft strafbar blieb.318 In dem von Hitler unterschriebenen Text heißt es:319

„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnis namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbaren Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“320

Als gesichert gilt, dass bis zum Frühjahr 1940 mehrere Besprechungen des genannten Planungsgremiums stattfanden, in denen auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung verwiesen wurde. Der Geheimerlass Hitlers wurde als gesetzesgleich ausgelegt und den Ärzten

312 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 83. 313 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 293-294. 314 Vgl. ALY Götz (Hg.), Aktion T4. 1939-1945. Die „Euthanasie-Zentrale“ in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1989, 85. 315 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 190. 316 Die Vermutung liegt nahe, dass der Grund für die Rückdatierung des Schreibens darin liegt, dass für den Fall des Bekanntwerdens der „Aktion“ eine bessere Argumentationslage geschaffen werden konnte. Vgl. POIER Birgit, Vergast im Schloss Hartheim. Die „T4“-PatientInnen aus der Grazer Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, Graz 2014, 31. 317 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 294. 318 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 26-27. 319 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 114. 320 Ebd., 114. 66

Straffreiheit zugesichert. Die Anwesenden erklärten sich zur freiwilligen Mitarbeit bereit und versuchten daraufhin in ihren Anstalten geeignetes Personal für die Umsetzung der „Euthanasie“ zu finden. Insgesamt beläuft sich die Zahl auf 50 Ärzte, die in verschiedenen Funktionen innerhalb des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Apparats tätig waren.321 Meist waren sie als Gutachter tätig. Da für die „Aktion T4“ wesentlich mehr Patienten erfasst wurden, war auch die Zahl der Gutachter – nach Poier rund 40 Personen – um einiges größer als bei der „Kindereuthanasie“. Die Funktion als Gutachter nahmen namhafte Anstaltsleiter und Ärzte ein, darunter die Grazer Ärzte Hans Bertha, Oskar Begusch, Ernst Sorger und Otto Reisch. Die Auswahl des Büro- und Anstaltspersonals oblag der Zentrale. Die Anwärter wurden nach Berlin eingeladen, wo man ihnen gute Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten zusicherte. Man konnte seine Mitarbeit jederzeit beenden, jedoch musste man sich auf die Schweigepflicht vereidigen lassen.322

Die „Aktion T4“ wurde wie schon die „Kindereuthanasie“ über das Hauptamt II der Kanzlei des Führers organisiert. Generell ähnelte die ganze Organisation sehr jener der „Kindereuthanasie“. Erkennen lässt sich dies daran, dass auch bei der „Aktion T4“ zunächst nur wenige ausgewählte Personen für den Ablauf zuständig waren und erst später Experten in Form von Ärzten und Psychiatern hinzugezogen wurden.323 Dem Hauptamt II der KdF (Leiter: Viktor Brack) unterstand die Zentraldienststelle „T4“ unter der Leitung von Dietrich Allers, die aus mehreren Abteilungen bestand und für die organisatorische Arbeit verantwortlich zeichnete.324 Insgesamt umfasste die „T4“-Dienststelle 100 Angestellte, die in sechs Abteilungen tätig waren. Jede Abteilung hatte ein eigenes Aufgabengebiet.325 Die Medizinische Abteilung, die ab Dezember 1941 Prof. Dr. Hermann Paul Nitsche leitete (sein Vorgänger war Prof. Dr. Werner Heyde), hatte zum einen die Erfassung und Begutachtung von Patienten mittels Meldebogen in den Anstalten und zum anderen die Begutachtung von Meldebogen und Opfern durch Gutachter zur Aufgabe.326 Die von Gerhard Bohne bis Juni 1940 geleitete Büroabteilung (Nachfolger war Tillmann) war für die Standesämter und die Nachlassregelungen der Opfer zuständig. Die sogenannte Transportabteilung wurde von Reinhold Vorberg geleitet. Ihr oblagen die Organisation und Durchführung der Patiententransporte.327 Die Hauptwirtschaftsabteilung besorgte Finanzen, Besoldung und

321 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 192. 322 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 281. 323 Vgl. ebd., 278. 324 Vgl. NEUGEBAUER, „Die Aktion T4“, 2008, 20-21. 325 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 278. 326 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 21. 327 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 67

Tötungsmittel und war für die Gebäudeverwaltung zuständig.328 Zudem wurden in dieser Abteilung, die bis 1941 Willy Schneider leitete, Wertsachen und Zahngold der Ermordeten verwertet. Die Personalabteilung kümmerte sich um Personalangelegenheiten.329 Eine Inspektionsabteilung führte Verhandlungen und Abrechnungen mit Behörden, Parteistellen und Kostenträgern durch.330 Die Leitung lag bei Dietrich Allers. Klee sieht jedoch Hans- Joachim Becker als den tatsächlich führenden Kopf dieser Abteilung an, die vor allem durch die Kostenstellung für Pflegetage längst getöteter Patienten Millionen erwirtschaftete.331

Diese Abteilungen der Dienstelle „T4“ schrieben, verhandelten und befahlen unter verschiedenen Decknamen, deren Bezeichnungen hauptsächlich Briefköpfe waren.332

Da die „Aktion T4“ gesetzwidrig war, waren die Verantwortlichen zur Geheimhaltung verpflichtet. Wegen der Illegalität der „Aktion“ sahen sich die Drahtzieher dazu gezwungen, Tarnorganisationen zu gründen, damit die Kanzlei des Führers und das Reichsministerium des Innern nach außen hin nicht mit der „Euthanasie-Aktion“ in Verbindung gebracht werden konnte.333

4.4.1 Briefköpfe als Tarnorganisationen der „Euthanasie-Aktion“

Der bürokratische Apparat der „Euthanasie-Aktion“ fungierte in Form folgender Tarnorganisationen:

o „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG)“: Diese Tarnorganisation war zuständig für die Versendung und Auswertung der Fragebögen bzw. Meldebögen334 und für die Erfassung der Opfer mittels Meldebögen. Zudem organisierte sie die Gutachtertätigkeiten, speicherte die Daten der Opfer335 und war für die Nachlassabwicklungen der ermordeten Patienten zuständig.336 Diese bürokratischen Aufgaben wurden in Form von Schriftverkehr mit den einzelnen

328 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 21. 329 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 330 Vgl. NEUGEBAUER, Die „Aktion T4“, 2008, 21. 331 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 332 Vgl. ebd., 121. 333 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 304. 334 Vgl. ebd., 304. 335 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 39. 336 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 68

Anstalten abgewickelt.337 In dieser Abteilung wurden kurz gesagt die Krankenmorde organisiert.338 Ihre Leitung hatten Brack, Heyde, Hefelmann und Nitsche inne.339 o „Gemeinnützige Krankentransport – GmbH (GEKRAT)“: Unter ihre Zuständigkeit fiel der „Transport“ der Patienten samt ihrer Krankenakten aus den einzelnen Anstalten in die Tötungsanstalten.340 Überhaupt organisierte sie die komplette Transportlogistik.341 So fielen auch die Erstellung der „Transportlisten“ und der Schriftwechsel mit den Behörden, Anstalten und Angehörigen in ihren Zuständigkeitsbereich.342 Geleitet wurde diese Tarnorganisation von Vorberg.343 o „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“: Ihre Aufgaben umfassten zum einen die Abwicklung aller finanziellen Transaktionen344 sowie die Finanzierung der gesamten „Euthanasie-Aktion“ und zum anderen trat diese Tarnorganisation als Arbeitgeber für alle an der „Aktion T4“ beteiligten Personen auf.345 o „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“: Diese Tarnorganisation wurde als Letzte ins Leben gerufen, als es im April 1941 zu einer Vereinheitlichung der Abrechnung der Pflegegelder mit den Kostenträgern kam.346 Ihre Aufgaben umfassten die Abrechnung sowohl der Pflege- als auch der Transportkosten. Durch die Verrechnung von Pflegetagen getöteter Patienten wurden Millionen erwirtschaftet.347

Nicht zu vergessen ist natürlich die allererste Tarnorganisation für die geheime „Euthanasie“- Organisation T4:

o „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“: Der Reichsausschuß zeichnete für die Abwicklung der „Kindereuthanasie“ verantwortlich. Geleitet wurde er von Brack und seinem Vertreter Blankenburg. Die praktische Arbeit oblag Hefelmann und seinem Vertreter Hegener, alles Nichtmediziner.348

337 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 279. 338 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 121. 339 Vgl. ALY, „Aktion T4“. 1939-1945, 1989, 12. 340 Vgl. ebd. 341 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 39. 342 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 279. 343 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 344 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 39. 345 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 194-195. 346 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 304. 347 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 122. 348 Vgl. ebd., 80-81. 69

Die Zusammenarbeit der sechs Abteilungen innerhalb der „Euthanasiezentrale“ konnte die Vorgänge verschleiern. Auf diese Weise trat die Dienstelle „T4“ nie als Gesamtkorpus in Erscheinung und machte es Angehörigen von Patienten nahezu unmöglich, Erkundigungen über deren Aufenthalt und Schicksal einzuholen.349

Nachdem sich das genannte Planungsgremium durch Hitlers „Gnadentoderlass“ abgesichert hatte, wurden die Kriterien zur Erfassung der Opfer festgelegt.350 Neben der Rekrutierung des Anstaltspersonals mussten geeignete Anstalten gefunden werden, in denen die Ermordung tausender Patienten möglichst unauffällig vonstattengehen konnte.351

4.4.2 Auswahl und Beschreibung der Tötungsanstalten

Die Auswahl der Tötungsanstalten unterlag bestimmten Kriterien. Sie sollten sowohl über ein großes Fassungsvermögen als auch über Räumlichkeiten, die ohne großen finanziellen Aufwand adaptiert werden konnten, verfügen.352 Ein weiteres Kriterium war ihre Abgeschiedenheit, um bei der ansässigen Bevölkerung keinen Verdacht zu erwecken. Dennoch mussten die Anstalten per Bus oder Bahn gut erreichbar sein. So wurden ausgerechnet ehemalige Behinderteneinrichtungen zu Tötungsanstalten umfunktioniert.353 Zudem sollten sich in der näheren Umgebung weitere sogenannte Zwischenanstalten befinden, die Patienten vorübergehend aufnehmen konnten, damit es zu keinem „Stillstand“ in den Tötungsanstalten kam. Die Zwischenanstalten fungierten zudem als Tarnung, um Nachforschungen zum Verbleib der Patienten seitens der Angehörigen zu erschweren.354 Insgesamt existierten sechs Tötungsanstalten, denen ein bestimmtes Einzugsgebiet zugewiesen war.355 Dies waren Grafeneck in Württemberg, Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale (Sachsen), Hartheim in Alkoven bei Linz, Sonnenstein in Pirna (Sachsen) und Hadamar in Hessen.356 Zum Einzugsbereich Hartheims zählten Teile Bayerns, die gesamte „Ostmark“ plus der ihr ab 1941 eingegliederten Untersteiermark sowie Teile des Sudetengaus.357

349 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 29. 350 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 38. 351 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 29. 352 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 279. 353 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 30. 354 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 279. 355 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 40. 356 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 30. 357 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 40. 70

Für die Vernichtungs- bzw. Tötungsanstalt Hartheim fungierten Ybbs, Gschwandt und vor allem Niedernhart bei Linz als Zwischenanstalten.358 Zudem verfügte jede Tötungsanstalt über spezifische Abteilungen, die wiederum die Funktion hatten, die ständig steigenden Todesraten in den einzelnen Anstalten zu verschleiern. Die Büroabteilungen der einzelnen Tötungsanstalten verfügten über eigene Standesämter, die den Tod der Patienten beurkundeten. Innerhalb der Büroabteilung gab es eine Trostbriefabteilung, deren Aufgabe darin bestand, die Angehörigen in Form eines Trostbriefs vom Tod des jeweiligen Patienten zu informieren. Außerdem richtete man sogenannte Absteckabteilungen ein. Sie hatten die Aufgabe, die Geburts- bzw. Heimatorte der Ermordeten anhand von Wandkarten abzustecken und somit zu erfassen359, um so die Zahl der Todesmeldungen am selben Ort zu verringern. Durch das Abstecken der Wandkarte sollte ein Todesdatum gewählt bzw. erfunden werden, das die wahren Vorgänge im Inneren der Tötungsanstalten verschleierte.360 Zudem verfügte jede Anstalt über drei bis vier Busse der GEKRAT für den Transport der Patienten, eine Wirtschaftsabteilung, die den Betrieb in den Anstalten regeln sollte, und über Personalunterkünfte. Die sogenannte Aufnahmestation, in der die letzte Begutachtung der Patienten erfolgte, bevor sie in der Gaskammer getötet wurden, eine Gaskammer und ein bis zwei Krematorien bildeten das „Herzstück“ der Tötungsanstalten.361

4.4.3 Die Erfassung, Selektion und Tötung der Patienten

Das Planungsgremium in der Kanzlei des Führers fasste den Entschluss, dass eine Erfassungsaktion ebenso für die „Aktion T4“ wie schon bei der „Kindereuthanasie“ durchgeführt werden musste.362

Um die Ablaufplanung der „Aktion T4“ zu gewährleisten, benötigte man genaue Informationen über die existierenden Anstalten sowie deren Patientenstand. Dazu erging am 21. September 1939 der Runderlass „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“, der die Zahl der Anstalten und den jeweiligen Patientenstand zu melden forderte.363 Diesem Erlass folgte am 9. Oktober 1939 ein Runderlass zur Erfassung der Anstaltsinsassen, der an die betreffenden Anstalten erging. Unter der Anmerkung der notwendigen „planwirtschaftlichen

358 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 31. 359 Vgl. ebd., 30. 360 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 208. 361 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 30. 362 Vgl. OELSCHLÄGER/DANZINGER/BENZENHÖFER, Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 64. 363 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 39-40. 71

Erfassung“ lagen dem Runderlass zwei Meldebögen und ein Merkblatt bei.364 Auf den Meldebögen waren beispielsweise Diagnosen, Arbeitseinsatzfähigkeit und Dauer des Anstaltsaufenthalts zu vermerken.365 Das Merkblatt beschrieb, welche Patientengruppe erfasst werden sollte:366

„Zu melden sind sämtliche Patienten, die

1. an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u.a.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie Epilepsie (wenn exogen, Kriegsbeschädigungen oder andere Ursachen angeben), senile Erkrankungen, Therapie-refraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, Huntington und andere neurologische Endzustände; oder 2. sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in der Anstalt befinden; oder 3. als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind; oder 4. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse und Staatsangehörigkeit“367 Die Meldebögen waren von den zuständigen Anstaltsleitern auszufüllen und an die Reichsarbeitsgemeinschaft zurückzusenden. Dort wurden sie fünffach kopiert und aufbewahrt. Drei dieser Kopien gingen an verschiedene „T4“-Gutachter, die anhand der Angaben – ähnlich wie bei der „Kindereuthanasie“ – über Leben und Tod der Patienten entschieden.368 Die Arbeitsfähigkeit der Kranken stellte das wichtigste Kriterium der Selektion dar.

• Sprachen sich die Gutachter für eine Tötung des Patienten aus, so trugen sie in den Meldebogen ein „+“ ein. • Kamen sie zum Entschluss, dass der Patient am Leben bleiben sollte, wurde im Meldebogen ein „-“ eingetragen. • Gelangten die Gutachter zu keinem eindeutigen Ergebnis, so vermerkten sie dies mit einem „?“ im Meldebogen.369

364 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 64. 365 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 40. 366 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 64. 367 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 197. 368 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 281. 369 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 66. 72

Die ausgefüllten Meldebögen wurden an die Reichsarbeitsgemeinschaft zurückgesandt und die Resultate in das Original eingetragen. Dieses Original wurde samt einer vierten Kopie an den Obergutachter weitergeleitet.370 Als Obergutachter der „Aktion T4“ fungierten zunächst Linden und Heyde, wobei Linden nach kurzer Zeit durch den Psychiater Nitsche ersetzt wurde. Letztlich oblag die abschließende Entscheidung über Leben und Tod der Patienten dem Obergutachter.371

Entschied sich der Obergutachter für die Tötung des Patienten, wurde der Originalmeldebogen gemeinsam mit den Krankenakten in die sogenannte „Z-Kartei“ aufgenommen bzw. dort abgelegt. Anschließend wurde die fünfte Kopie der vom Obergutachter zum Tode bestimmten Patienten an die GEKRAT weitergeleitet, die zusammen mit der Transportabteilung auf der Basis der Meldebögen Transportlisten erstellte, die im Anschluss den jeweiligen Anstalten zugeleitet wurden.372 So konnten sich die Anstalten auf die „Verlegung“ ihrer Patienten vorbereiten.373 Einen Tag, bevor die Patienten „verlegt“ werden sollten, überprüfte der Transportleiter, ob die vor dem Transport zu treffenden Maßnahmen eingehalten wurden.374 Diese Vorkehrungen beinhalteten zum einen, dass den Patienten ein Leukoplaststreifen mit ihren Namen zwischen die Schulterblätter geklebt werden musste; zum anderen mussten ihre Wertgegenstände und Kleider aufgelistet und gebündelt werden. Außerdem musste ihnen ihre Krankenakte mitgegeben werden. Handelte es sich um unruhige Patienten, war im Vorhinein dafür Sorge zu tragen, dass diese durch Beruhigungsmittel ruhiggestellt werden konnten, da die Transporte meistens von Bürokräften der „T4“-Zentrale und nicht vom dortigen Anstaltspersonal begleitet wurden.375 Die GEKRAT transportierte die Patienten anschließend in die Vernichtungszentren, wobei sich dies im Herbst 1940 insofern änderte, als sie aus Gründen der Tarnung zuerst in Zwischenanstalten gebracht und erst danach in die Vernichtungszentren „verlegt“ wurden.376 Dort wurden sie zunächst in den sogenannten Auskleideraum geführt, wo ihr Hab und Gut aufgelistet und deponiert wurde. Anschließend kam es im Aufnahmezimmer zur letzten „Untersuchung“, die zum Ziel hatte, anhand der Krankenakte der Patienten eine adäquate

370 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 281. 371 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 66. 372 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 282. 373 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 67. 374 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 282. 375 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 37. 376 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 67. 73

Todesursache zu finden, die im Anschluss in die Sterbeurkunde eingetragen wurde.377 Danach wurden sie fotografiert und in die Vergasungskammer, die als Duschraum getarnt war, gebracht.378 Die Leichen, denen man zuvor die Goldzähne entfernt hatte, wurden ins Krematorium gebracht379 und sofort „aus seuchenpolizeilichen Gründen“380 verbrannt. Laut dem „Ermächtigungserlass“ waren nur Ärzte befugt, den Gashahn zu betätigen. Abschließend kam es zur Ausstellung und Versendung der Sterbeurkunde durch einen Standesbeamten an die Angehörigen, der ein schematischer „Trostbrief“ – angefertigt in der Trostbriefabteilung – beilag. Darin wurde den Angehörigen mitgeteilt, dass der Patient in diese Anstalt – meist aus kriegstechnischen Gründen – „verlegt“ und in der betreffenden Anstalt plötzlich verstorben war.381 Die Asche der Leichen wurde in Urnen gesammelt und den Angehörigen geschickt, wobei die Ärzte fingierte Todesursachen in die Krankenblätter eintrugen und die „Standesämter“ gefälschte Sterbeurkunden ausstellten.382 Der angegebene Todestag stimmte mit dem tatsächlichen Sterbedatum nicht überein, um so von den gehäuften Todesfällen in einzelnen Anstalten abzulenken. Es kam auch vor, dass Krankenakten innerhalb der Anstalten ausgetauscht wurden. Damit wollte man verhindern, dass in einem Ort mehrere Menschen eine Todesnachricht von derselben Anstalt bekamen, um kein Misstrauen der Bevölkerung zu erwecken.383 Obwohl man durch Täuschung und Tarnorganisationen Vorkehrungen traf, die „Euthanasie“ geheim zu halten, ließ sich die Tötung psychisch Kranker und geistig Behinderter auf lange Sicht nicht verbergen. Nach Schmuhl fielen der „Aktion T4“ zwischen Januar 1940 und August 1941 70.273 Menschen, die in den Gaskammern der sechs Vernichtungsanstalten ermordet wurden, zum Opfer.384

4.5 „Euthanasie“-Stopp und die zweite Phase der „Euthanasie“

Durch einen am 21. August 1941 von Hitler seinem Begleitarzt Dr. Brandt erteilten mündlichen Befehl wurde die „Aktion T4“ abgebrochen.385 Da keine schriftlichen Zeugnisse

377 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 283. 378 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 67. 379 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 283. 380 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 67. 381 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 283. 382 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 308. 383 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 283. 384 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 308. 385 Vgl. ebd., 312. 74

über diesen Befehl existieren, gestaltet sich eine exakte Ursachenfindung als schwierig.386 In diesem Zusammenhang muss darauf verwiesen werden, dass es sich lediglich um eine vorläufige Einstellung der Massenvergasungen handelte.387 In Wahrheit änderte sich nur die Durchführung der NS-„Euthanasie“.388 Mittlerweile geht man in der Wissenschaft von mehreren wahrscheinlichen Gründen für den „Vergasungsstopp“ aus, wobei vor allem die vermehrte Unruhe in der Bevölkerung als wesentlicher Faktor gilt. Die Predigt von Erzbischof Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 sprach die Bedenken und Ängste der Bevölkerung öffentlich aus,389 indem sie die Massentötungen publik machte und die Verantwortlichen des Mordes bezichtigte. Zudem erstattete Galen Anzeige beim Polizeipräsidenten, nachdem es zur „Verlegung“ von Patienten aus Mierenthal und Warstein in die dafür vorgesehenen Tötungsanstalten gekommen war.390 Neben den kirchlichen Protesten und den öffentlichen Unmutsäußerungen der Zivilbevölkerung ergänzt Schmuhl das Ursachengeflecht durch die Umstände, dass es im Ausland bereits zu Berichterstattungen über die Patientenmorde gekommen war391 und das Planziel von 70.000 zu tötenden Patienten zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt war.392 Benzenhöfer führt als weitere mögliche Gründe für die Entscheidung Hitlers, den Stopp der „Aktion T4“ anzuordnen, die überraschend hohen Verluste während des Russlandfeldzuges und die vermehrten Angriffe der Royal Air Force auf Nordwestdeutschland, die die Stimmung der Bevölkerung kippen ließen, ins Feld.393

Der Abbruchbefehl Hitlers hatte jedoch keineswegs das Ende der NS-„Euthanasie“ zur Folge, vielmehr wurde damit eine zweite Phase mit neuen Organisationsformen eingeleitet.394 So führten laut Klee die verschiedenen Abteilungen der Tötungsanstalten ihren normalen Betrieb fort, wobei sich in dieser Phase die Tötungsmethoden änderten. Für die Vernichtungsaktion sollten nun unauffälligere Mordmethoden zur Anwendung kommen.395 Ab dem Sommer 1941 wird die zweite Phase der „Euthanasie“ auch als „dezentrale Euthanasie“ bezeichnet, die die Ermordung von Anstaltsinsassen durch Nahrungsentzug und Medikamente zur Folge hatte.396 Nach dem scheinbaren „Euthanasiestopp“ kam es im November 1941 zu einer Sitzung der

386 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 210. 387 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 312. 388 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 210-211. 389 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 40. 390 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 255-256. 391 Vgl. SCHMUHL, Die Patientenmorde, 2001, 312. 392 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 211. 393 Vgl. BENZENHÖFER, Der gute Tod?, 2009, 113. 394 Vgl. ebd. 395 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 386. 396 Vgl. KAMINSKY Uwe, Die NS-„Euthanasie“: Ein Forschungsüberblick. In: HENKE Klaus-Dietmar (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, 2008, 283. 75

Tötungsärzte in Sonnenstein/Pirna, in der ihnen erklärt wurde, dass durch den im August 1941 eingetretenen „Stopp“ die „Euthanasieaktion“ nicht beendet sei, sondern weitergeführt werden solle. Die Krankentötungen sollten von nun an dezentral in den Anstalten vom Pflegepersonal und den Anstaltsärzten durchgeführt werden. Die Ärzte bekamen von der Zentraldienststelle die Weisung, die Patiententötungen durchzuführen, ohne dabei spezifische Normen oder Verfahren zu befolgen.397 Das bedeutet, dass bei der Durchführung der dezentralen „Euthanasie“ auf ein explizites System – ganz im Gegensatz zur systematisierten „Aktion T4“ – verzichtet wurde. Die Vernichtung der Patienten wurde nun nicht mehr in eigens dafür vorgesehenen Vergasungsanstalten vollzogen, sondern durch Ärzte bzw. das Pflegepersonal direkt in regionalen „Heil- und Pflegeanstalten“. Ebenso wurde auf die Erfassung mittels Meldebögen weitgehend verzichtet.398

Was die Tötungsmethoden betrifft, vertrat die Ärztliche Leitung der Zentraldienststelle die Ansicht, dass die Patienten zunächst durch Nahrungsmittelentzug und Unterbringung in unhygienischen und unbeheizten Räumlichkeiten geschwächt werden sollten. Anschließend sollten sie durch eine Medikamentenüberdosis getötet werden. Als Vorbild diente das von Paul Nitsche eingeführte „Luminal-Schema“, das den Patienten mit einer Dosis von 0,3 g dreimal täglich verabreicht wurde. Gekoppelt mit dem durch die Hungerkost verursachten schlechten Zustand der Patienten, führte diese Dosierung unweigerlich zum Tod. Zudem wurden den Patienten im Zuge der „dezentralen Euthanasie“ ähnliche Substanzen wie Veronal entweder in ihr Essen gemischt oder durch Injektionen verabreicht. Die Medikamentenüberdosierung sollte die wahre Todesursache verschleiern und eine natürliche Todesursache vortäuschen.399

Zu einer weiteren Verschärfung der Vernichtung „unwerten“ Lebens führten die ab 1943 vermehrten Luftangriffe auf das Deutsche Reich. Der Fokus lag nun auf der Versorgung der Verwundeten der Luftangriffe. Um dies gewährleisten zu können, beschlossen die Verantwortlichen die Umsiedlung der Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten, woraufhin viele Anstalten diese Anweisung als Freibrief für Patiententötungen in noch größerem Umfang auffassten und diese auch durchführten.400

Die mit der Verlegung von Anstaltspatienten 1943/44 einhergehenden Ereignisse werden auch als „Aktion Brandt“ bezeichnet. Dabei handelt es sich zum einen um den

397 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 220. 398 Vgl. KAMINSKY, Die NS-„Euthanasie“, 2008, 284. 399 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 223. 400 Vgl. ebd., 230-231. 76

Zusammenhang der Umsiedlung der vom Luftkrieg betroffenen Anstalten und zum anderen um die damit verbundenen Tötungen. Die Tötung der Patienten erfolgte nach dem Schema der „dezentralen Euthanasie“ in Form von Medikamentenüberdosierung und Nahrungsentzug.401 Das Zusammenspiel der Schaffung freier Krankenbetten für die Verwundeten und der dadurch intensiveren Durchführung der NS-„Euthanasie“ begründete die Verlegungen. Zudem kam es zu einer Erweiterung des Patientenkreises, die für eine Umsiedlung infrage kamen. So wurden erstmals auch Bewohner von Altenheimen und psychisch deformierte Soldaten in die NS-„Euthanasieaktionen“ einbezogen.402 Nach dem von befohlenen „Euthanasiestopp“ konzentrierte sich das Krankenmorden auf spezifische Anstalten in spezifischen Regionen. Kaminsky spricht in diesem Zusammenhang einerseits von Regionen, die Patienten aufnahmen (mittel- und süddeutschen Gebiete sowie die österreichischen Anstalten), andererseits von Regionen, die Patienten abgaben (Anstalten in Nord- und Westdeutschland). Für die Koordination der Krankentransporte war die Stelle der Heil- und Pflegeanstalten im Reichsinnenministerium – basierend auf den Bestandsmeldungen der betreffenden Gebiete – verantwortlich. Innerhalb des „Euthanasie- Apparates“ bildete sich eine eigene Dynamik heraus, die den Einfluss übergeordneter Stellen abschwächte. Die „Euthanasie“-Zentrale wollte dieser Entwicklung entgegenwirken, indem sie durch zentrale Medikamentenverteilung versuchte, die unorganisierte „dezentrale Euthanasie-Aktion“ erneut unter Kontrolle zu bringen, um die Patiententötungen wieder in organisierter Form vornehmen zu können.403

Eine exakte Zahl jener Patienten, die im Zuge der „dezentralen Euthanasie“ ermordet wurden, lässt sich nach Schmuhl nur in den einzelnen Anstalten erheben. Insgesamt liegen seine Schätzungen – dafür zieht er die „Aktion T4“ und die „dezentrale Euthanasie“ heran – bei über 100.000 Menschen, die der nationalsozialistischen „Euthanasie“ zum Opfer gefallen sind.404

401 Vgl. ebd., 233. 402 Vgl. ebd., 234-235. 403 Vgl. KAMINSKY, Die NS-„Euthanasie“, 2008, 284-286. 404 Vgl. SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 1987, 236. 77

5 NS-„Euthanasie“ am Grazer „Feldhof“ und seinen steiermärkischen Filialen

5.1 Struktur und Geschichte des „Feldhofs“ bis 1945

Die erstmalige stationäre Unterbringung psychisch Kranker in Graz erfolgte im 17. Jahrhundert im Ordensspital der Barmherzigen Brüder, wo „Tollsinnige“ auf einer kleinen Station aufgenommen wurden. Nach einer Weisung des österreichischen Kaisers Joseph II. aus dem Jahr 1781, die beinhaltete, dass jede Landeshauptstadt über eine Versorgungsanstalt mit speziellen Abteilungen – Kranken-, Findel-, Gebär-, Siechen- und Irrenabteilungen – verfügen muss, kam es 1786 zur Errichtung eines allgemeinen Krankenhauses in der Paulustorgasse in Graz. Bereits zwei Jahre später wurde „Auf der Stiege“ am Fuß des Schloßbergs ein „Irrenhaus“ eröffnet. Schon bald war es so überfüllt, dass eine Erweiterung unausweichlich war. Zwei weitere Häuser in der Paulustorgasse wurden gekauft. Damit konnte man bis zu 350 Patienten aufnehmen.405 Innerhalb von vier Jahren wurde die Landes- Irrenanstalt „Am Feldhof“ erbaut und 1874 eröffnet.406 Als Prof. Dr. Richard Freiherr v. Krafft-Ebing mit Jahresbeginn 1874 das Lehramt der Psychiatrie als Extraordinarius an der Grazer Universität antrat, eröffnete er gleichzeitig die psychiatrische Klinik am „Feldhof“ (sein Vorgänger war Prof. Dr. Czermark, der im Sommer 1872, kurz vor der Fertigstellung des „Feldhofs“, verstarb).407 Krafft-Eibing legte im Oktober 1880 seine Funktion als Landesirrenanstaltsdirektor zurück. Sein Nachfolger wurde Dr. Fridolin Schlangenhausen, der eine bauliche Erweiterung des „Feldhofs“ forderte. Diese Forderung wurde durch den Landtag genehmigt,408 denn schon kurz nach der Eröffnung stieg die Zahl der Neuaufnahmen so rasant an, dass der „Feldhof“ überbelegt war. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, wurden in der Folge Zweiganstalten bzw. Filialen in der Umgebung des „Feldhofs“ eingerichtet, die für eine Entlastung sorgen sollten. Dazu zählten zunächst die Zweiganstalten Hartberg (das Hartberger Siechenhaus fungierte von 1887 bis zum Ausbruch des Ersten

405 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 12. 406 Vgl. ebd., 13-14. 407 Vgl. WEISS Norbert, Im Zeichen von Panther & Schlange: die Geschichte zum Jubiläum der steiermärkischen Landeskrankenanstalten, Graz 2006, 56. 408 Vgl. ebd., 60-62. 78

Weltkriegs als „Feldhof“-Filiale)409, Kainbach, Lankowitz und Schwanberg. Messendorf war erst ab 1933 eine Filiale des „Feldhofs“.410

Trotzdem veränderte sich die Belegungssituation „Am Feldhof“ kaum und man beschloss die Anstalt weiter auszubauen. 1907 kam es zur Fertigstellung des sogenannten D-Komplexes, der neben einem Administrationsgebäude jeweils vier Frauen- und Männerabteilungen umfasste. Zudem war in diesem Komplex die „Irren-Siechenanstalt“ untergebracht, die auch über eine Kinderstation verfügte.411 Seit der Eröffnung des „Feldhofs“ nahm der Bestand ständig zu. Nur während des Ersten Weltkriegs sank die Zahl der Patienten, wobei in dieser Zeit die Sterberate der Patienten in die Höhe schnellte. So starben gegen Ende des Ersten Weltkriegs 1918 22,4%. Der Grund für die hohe Sterberate lag vor allem in der schlechten Ernährungssituation der Anstalten, die zu einem „Hungersterben“ führte. Auch in den folgenden Jahren stieg der Anstaltsbestand und so befanden sich wenige Monate vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 2.095 Patienten im „Feldhof“.412 Im Lauf der Zeit wurde die Anstalt immer wieder umbenannt, so auch unter Anstaltsdirektor Otto Hassmann (1911-1931) im Jahr 1925. Der ursprüngliche Anstaltsname „Steiermärkische Landes-Irren-Heil u. Pflege-Anstalt Feldhof bei Graz“ wich der neuen Anstaltsbenennung „Landes-Heil- und Pflegeanstalt am Feldhof“.413 In der Zeit des Nationalsozialismus trug sie den Namen „Gau-Heil- und Pflegeanstalt am Feldhof“.414 Die letzte Namensänderung erfolgte 2015 von „Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF)“ in „LKH Graz Süd-West“. Die „LSF Graz“ wurde dabei zum „Standort Süd“ und das „LKH Graz-West“ zum „Standort West“.415

In den Jahren 1933-1945 teilte sich die Zentralanstalt des „Feldhofs“ in einen Fronttrakt (A), der sich im Zentralgebäude befand und in dem die Verwaltung untergebracht war, im linken Seitentrakt (B) gab es eine zweistöckige Männerabteilung mit mehreren Stationen und im rechten Seitentrakt (C) war die Frauenabteilung, die ebenso wie jene der Männer wieder aus einigen Stationen bestand, untergebracht. Der D-Komplex umfasste die Pflegestationen, eine Kinderabteilung und ab 1940 die „Siechenabteilung“. In dieser Abteilung wurden Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts aufgenommen. Nach der Auflösung der Siechenabteilung

409 Vgl. ebd., 63. 410 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 14-16. 411 Vgl. ebd., 16. 412 Vgl. ebd., 18-19. 413 Vgl. ebd., 17. 414 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 4. 415 Vgl. https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/LKH_Graz_II_Standort_S%C3%BCd#cite_note-news-4 [zuletzt aufgerufen: 1.3.2021]. 79 wurden die Patienten auf die übrigen Stationen verteilt. Im April 1941 wurde aufgrund des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien das „Reserve-Lazarett IV Graz“ auf dem Gelände des „Feldhofs“ errichtet. Es wurde von Dr. Hans Machan geleitet und alle Ärzte des „Feldhofs“ waren im „Reserve-Lazarett IV Graz“ tätig. Kurz vor Kriegsende im April 1945 wurde es aufgelöst.416 Zur Zeit des Hitler-Regimes fungierte der „Feldhof“ als Zentralanstalt, zu der die Filialen Kainbach, Lankowitz und Messendorf zählten. Der therapeutische Bereich war fast ausschließlich in der Zentrale des „Feldhofs“ untergebracht. In den Filialen hingegen wurden Pfleglinge aufgenommen, die entweder viel oder nur sehr wenig Pflege benötigten. Der „Feldhof“ kooperierte mit seinen Zweiganstalten und hatte über die meisten die ärztliche Oberaufsicht inne. Das bedeutete, dass die Pfleglinge, die in den Nebenanstalten untergebracht waren, zwar von den dort praktizierenden Ärzten betreut wurden, aber der Direktor des „Feldhofs“ für Aufnahmen und Entlassungen zuständig war.417 Von 1932 bis 1938 hatte Dr. Richard Weeber den Posten des Anstaltsdirektors am „Feldhof“ inne. Nach seiner Entlassung – er wurde wegen „unsozialen Verhaltens“ gegenüber dem Personal beurlaubt418 – übernahm am 15. September 1939 Dr. Oskar Begusch den Direktorposten. Nach seinem Tod 1944 wurde Dr. Ernst Sorger zum Direktor des „Feldhofs“ ernannt.419

1940 kam es zur Auflösung einiger Filialen des „Feldhofs“ wie beispielsweise Lankowitz und der Anstalt Neu-Cilli. Diese Auflassungen hatten zur Folge, dass viele Patienten in die Vernichtungsanstalt Hartheim transportiert wurden. Auch die ständig schwankende Zahl der Patienten am „Feldhof“ – im August 1939 wies der „Feldhof“ einen Überschuss von 220 Patienten auf, die im Anschluss auf die Filialen Messendorf, Kainbach und Lankowitz aufgeteilt wurden, sodass im Februar 1941 wiederum 260 freie Plätze bzw. Betten zur Verfügung standen – bezeugt die vielen Transporte nach Hartheim.420

Der „Feldhof“ verfügte außerdem über eine Schulabteilung in seinen Zweiganstalten Kainbach und Pertlstein, worauf in dieser Arbeit noch näher eingegangen wird.

416 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 20-24. 417 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 119. 418 Vgl. OELSCHLÄGER Thomas, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“ des „Reichsgau Steiermark“. In: FREIDL Wolfgang/KERNBAUER Alois/NOACK Richard H./SAUER Werner (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, 2001, 126. 419 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 35. 420 Vgl. POIER, „Euthanasie in der Steiermark“, 2000, 119-120. 80

5.2 Die Filialen des Grazer „Feldhofs“

Lankowitz

Das weststeirische Schloss Lankowitz stand im Besitz des Religionsfonds und wurde von den Barmherzigen Schwestern in Pacht genommen bzw. geleitet. Ab 1877 fungierte das Schloss als Filiale des „Feldhofs“,421 in der vor allem „ruhige unheilbare Frauen“ untergebracht waren.422 1940 verlor das Schloss Lankowitz seinen Status als „Feldhof“-Filiale und der Betrieb wurde geschlossen.423 Trotzdem wurde es nach der Auflösung weiter als Pflegeeinrichtung genutzt, was vor allem einzelne Überstellungen von Patienten aus dem „Feldhof“ nach Schloss Lankowitz zeigen.424 So auch im September 1943, als der „Feldhof“ restlos überfüllt war und im Zuge dessen Lankowitz mit 50 Patienten aus dem „Feldhof“ belegt wurde.425 Bis ins Jahr 1944 hinein können vereinzelt Überstellungen von „Feldhof“- Patienten in das Schloss Lankowitz nachgewiesen werden. Teilweise kam es auch zu Rücküberstellungen von Patienten aus Lankowitz in den „Feldhof“.426 Laut Stromberger gab es in Lankowitz keine Direktaufnahmen, da sich alle Patienten, bevor sie nach Lankowitz kamen, im „Feldhof“ befanden. Es hat den Anschein, dass dies auch bei allen anderen Filialen der Fall war.427

Pius-Institut in Bruck an der Mur

1879 wurde das Pius-Institut als Anstalt für mehrfach behinderte Kinder gegründet428 und steht seither in der Trägerschaft der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz. Schon ab dem Gründungsjahr verfügte diese Einrichtung über eine Sonderschule mit Internat für Kinder mit Behinderung.429 Stromberger gibt an, dass das Pius-Institut 1938-1940 als Filiale des „Feldhofs“ geführt wurde.430 Das Pius-Institut spielt besonders für dieKinderfachabteilung am

421 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 31. 422 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 412. 423 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 31. 424 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 425 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 31-32. 426 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 427 Vgl. ebd., 412. 428 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 24. 429 Vgl. http://www.pius-institut.at/Pius-Institut/Uber_uns.html [zuletzt aufgerufen: 11.3.2021]. 430 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 412. 81

„Feldhof“ eine zentrale Rolle.431 1940 lag der Patientenstand in Bruck bei 295 Kindern und Jugendlichen. Dieser Bestand wurde im Frühjahr 1940 in zwei Gruppen gesplittet, wobei die erste mit 190 Kindern und Jugendlichen ohne Angabe eines Ziels abtransportiert wurde und ihr Schicksal bis heute ungeklärt ist. Die zweite Gruppe transportierte man in den „Feldhof“.432 Durch die Übernahme der Kinder und Jugendlichen vom Pius-Institut in Bruck an der Mur wurde die ursprünglich kleine Kinderfachabteilung des „Feldhofs“ erweitert.433 Es folgten weitere Überstellungen im August und September 1940, wobei nach Oelschläger nicht genau festzustellen ist, ob die Pius-Zöglinge in den „Feldhof“ oder in dessen Filiale Kainbach gelangten. Anschließend wurde das Pius-Institut 1940 aufgelöst434 und durch das nationalsozialistische Regime enteignet.435 Das Pius-Institut wurde nach Kriegsende in Bruck an der Mur wiedereröffnet.436

Kainbach

1875 konnten sich die Barmherzigen Brüder in Kainbach ein 1618 erbautes Schloss aneignen, das als „Idiotenanstalt“ für männliche, mittellose Kranke genutzt werden sollte. Nachdem die Umbauarbeiten abgeschlossen waren, hatte man mit finanziellen Problemen zu kämpfen, die dazu führten, dass ab 1883 Patienten aus der damaligen „Landesirrenanstalt Feldhof“ gegen eine Aufwandsentschädigung in Kainbach aufgenommen werden mussten, um den Bestand der Anstalt zu sichern.437 Ab diesem Zeitpunkt diente Kainbach als „Feldhof“-Filiale für „ruhige unheilbare Männer“, die von den Barmherzigen Brüdern betreut wurden.438 Nach dem „Anschluss“ Österreichs unterstand Kainbach – zu diesem Zeitpunkt waren dort bereits 150 Betten für „Feldhof“-Insassen reserviert – der Verwaltung der Reichsstatthalterei, die die Barmherzigen Brüder aus der Anstalt vertrieb. Am 8. August 1940 wurde eine gemischtgeschlechtliche Schulabteilung in Kainbach eingerichtet, zudem verfügte die „Feldhof“-Filiale über eine Männerabteilung, deren Patienten landwirtschaftliche Arbeiten

431 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 24. 432 Vgl. ebd., 24-25. 433 Vgl. OELSCHLÄGER Thomas, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“ am Beispiel Österreich. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), H. 10, 1039. 434 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 24-25. 435 Vgl. http://www.pius-institut.at/Pius-Institut/Uber_uns.html [zuletzt aufgerufen: 11.3.2021]. 436 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 25, Fußnote 59. 437 Vgl. ebd., 29. 438 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 412. 82 verrichten mussten.439 Mit der Verlegung der Schulabteilung nach Pertlstein am 29. Mai 1942 wurde die Filiale Kainbach aufgelöst und im Zuge dessen der Reichsstatthalterei als Lehrerbildungsanstalt zur Verfügung gestellt.440 Kurz vor Kriegsende fungierte Kainbach aufgrund der Bombenangriffe auf Graz als Ausweichstelle für das Gaukrankenhaus Graz und umfasste eine medizinische und chirurgische Station.441

Pertlstein

Die Burg Pertlstein wurde um 1180 von Berthold I. von Emmerberg erbaut. Bis Anfang des 15. Jahrhunderts war die Burg im Besitz der Familie Emmerberg. Unter dem Besitzer Graf Ladislaus Koszielsky wurde die Burg 1871-1895 neugestaltet und restauriert. Von 1918 bis 2008 wurde sie als Kloster der Benediktinerinnen genutzt und ist seitdem im Besitz des Bischöflichen Ordinariats Graz-Seckau.442 Die Zweiganstalten Kainbach und Pertlstein bildeten gemeinsam mit der Schulstation am „Feldhof“ eine eigene Schulabteilung.443 Nach der Auflösung der „Feldhof“-Filiale Kainbach wurde das Schloss Pertstein bei Fehring von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und die Schulabteilung am 29. Mai 1942 in das Schloss Pertlstein verlegt.444 Die Minderjährigen wurden bei den Übersiedlungen von Ärzten im Hinblick auf ihre Bildungsfähigkeit untersucht. Bildungsfähige blieben in der Außenstelle Pertlstein. Bildungsunfähige wurden in den „Feldhof“ gebracht.445 Neben der Schulabteilung wurde ein Kindergarten im Schloss Pertlstein eingerichtet. Auch hier galt dasselbe Prinzip wie für die Schulabteilung: Kinder, die als bildungsfähig ausgewiesen waren, verblieben in Pertlstein. Wer als bildungsunfähig galt, kam in den „Feldhof“.446 Die Schulabteilung blieb bis April 1945 im Schloss Pertlstein.447

439 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 29-30. 440 Vgl. ebd., 31. 441 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 425. 442 Vgl. Bertholdstein | Steiermark | Burgen und Schlösser | Kunst und Kultur im Austria-Forum (austria- forum.org) [zuletzt aufgerufen: 12.3.2021]. 443 Vgl. WEISS, Im Zeichen von Panther & Schlange, 2006, 447. 444 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 27. 445 Vgl. WEISS, Im Zeichen von Panther & Schlange, 2006, 447. 446 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“ am Beispiel Österreich, 1039. 447Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 28. 83

Messendorf

Bereits 1871 war das Schloss Messendorf im heutigen Grazer Stadtbezirk St. Peter als Zwangsarbeitsanstalt eingerichtet worden.448 Als Filiale bzw. Zweiganstalt fungierte das in der Nähe des „Feldhofs“ gelegene Schloss seit 1933.449 Neben männlichen, arbeitsfähigen Patienten waren hier jugendliche Patienten untergebracht. Viele Pfleglinge mussten in der zur Anstalt gehörenden Landwirtschaft arbeiten. Zudem war Messendorf jene Filiale, in die Jugendliche und ältere Kinder zum Zweck der Überprüfung ihrer Arbeitsfähigkeit aus dem „Feldhof“ verlegt wurden.450 Erst im Sommer 1978 wurde die Zweiganstalt Messendorf aufgrund der Erhöhung der Bettenkapazitäten des Landes-Nervenkrankenhauses – zu diesem Zeitpunkt der offizielle Name des ehemaligen „Feldhofs“ – aufgelassen.451

Schwanberg

1889 war der „Feldhof“ so überfüllt, dass 40% der Patienten auf dem Boden schlafen mussten. Der Landesausschuss befürwortete daher die Errichtung eines neuen Irrensiechenhauses, das jedoch nicht am „Feldhof“ eingerichtet werden, sondern eine neue eigenständige Filiale sein sollte. Der Landtag entschied sich für die günstige Variante des über dem Markt Schwanberg gelegenen, gleichnamigen Schlosses. Schloss Schwanberg wurde als „Landes-Irren-Siechenanstalt“ adaptiert und ab 1892 mit Patienten aus dem „Feldhof“ belegt.452 In den Folgejahren wurde die Anstalt in „Landes-Pflegeheim für Geisteskranke Schwanberg“ umbenannt. Der Grazer „Feldhof“ war besonders mit der Filiale Schwanberg eng verzahnt. Belegen lässt sich dies durch zahlreiche Einzel- und Sammelverlegungen zwischen den beiden Anstalten. In diesem Zusammenhang muss jedoch erwähnt werden, dass Schwanberg eine eigene Buchführung, was die Patienten betraf, besaß. So wurden „Feldhof“-Patienten bei einer Verlegung nach Schwanberg formal entlassen. Umgekehrt wurden Schwanberg-Patienten formal in der Zentralanstalt „Feldhof“ aufgenommen. Oelschläger schließt daraus, dass Schwanberger Patienten keine Feldhofer Patienten waren.453 Poier verweist darauf, dass die Patienten in Schwanberg zwar von ortsansässigen Ärzten betreut wurden, jedoch der „Feldhof“ über die ärztliche Oberaufsicht

448Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 32. 449 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008. 450 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 32. 451 Vgl. WEISS, Im Zeichen von Panther & Schlange, 2006, 506. 452 Vgl. ebd., 65. 453 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 34. 84 verfügte, die es dem Direktor der Zentralanstalt „Feldhof“ ermöglichte, über Aufnahmen und Entlassungen in der Filiale Schloss Schwanberg zu entscheiden.454 Bis heute wird Schwanberg als Landes-Pflegeheim geführt.455

Schloss (Burg) Eibiswald

Das in der Südweststeiermark gelegene Schloss Eibiswald wurde Mitte 1944 als „Feldhof“- Filiale genutzt. Da die Stationen am „Feldhof“ restlos überfüllt waren, sah man sich nach Unterbringungsmöglichkeiten um und entschied sich für die ehemalige Burg der Grenzlandgemeinde Eibiswald. Dort sollten vor allem arbeitsfähige, weibliche Patienten untergebracht werden. Der Bezug des Schlosses mit 20 Patienten und 3 Pflegerinnen erfolgte im Juli 1944. Bereits am 7. August desselben Jahres wurde Eibiswald jedoch wieder freigemacht. Man benötigte die Räumlichkeiten des Schlosses für eine Landwirtschaftsschule, die zu diesem Zeitpunkt in der Untersteiermark lag, jedoch von Partisanen bedroht war. Diese sollte in das Schloss Eibiswald umgesiedelt werden. Schloss Eibiswald war die „Feldhof“- Filiale mit der kürzesten Belegungsdauer.456 Zudem verweist Oelschläger darauf, dass die vom „Feldhof“ nach Eibiswald transferierten Patienten auch nach dem 7. August 1944 im Bestand des „Feldhofs“ verblieben.457

Da neben der Gau-Heil- und Pflegeanstalt am „Feldhof“ und ihren Filialen noch weitere steirische Anstalten in die NS-„Euthanasie“ involviert waren, muss an dieser Stelle vor allem auf die für die Ober- und Untersteiermark wichtigsten Anstalten Bezug genommen werden. Dabei sind vor allem die obersteirischen Siechenanstalten Knittelfeld und Kindberg und die Anstalt Neu-Cilli in der Untersteiermark zu nennen, auf die im weiteren Verlauf dieser Arbeit im Zuge der „Euthanasieaktionen“ noch detailliert eingegangen wird.

5.2.1 Steirische Siechenanstalten

1869 befanden sich die steirischen Krankenhäuser in einem erschreckenden Zustand. Der Steiermärkische Landtag beschloss daraufhin Anstalten, die eigens für die Unterbringung von Siechen dienen und über die Steiermark verteilt werden sollten, zu errichten. Zunächst gab es Überlegungen, eine Siechenanstalt in Graz mit 300 Betten zu bauen. Allerdings konnte dieser Plan aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden. Die kostengünstigere Variante war die

454 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 119. 455 Vgl. STROMBERGER, Die „Aktion T4“ in der Steiermark, 2008, 412. 456 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 33. 457 Vgl. ebd., Fußnote 84. 85

Errichtung dezentraler Siechenhäuser. Die Wahl für das erste Siechenhaus fiel 1873 auf ein altes Schloss in Wildon, wobei man sich im Steiermärkischen Landes-Ausschuss schon zu Beginn klar darüber war, dass die Räumlichkeiten in Wildon für die Aufnahme von Siechen beschränkt waren, denn in Wildon konnten nur 104 Pfleglinge aufgenommen werden. So wurden 1875 in Pettau und 1876 in Knittelfeld weitere Siechenhäuser errichtet. In Knittelfeld konnten bis zu 200 Pfleglinge aufgenommen werden. Da in Knittelfeld vor allem Kinder untergebracht wurden, wurde 1883 eine anstaltseigene Schule innerhalb des Knittelfelder Siechenhauses errichtet.458 Von 1883 bis 1891 wurden in Mautern, Hartberg und Hochenegg bei Cilli drei weitere Siechenhäuser errichtet. Bereits 1900 waren alle existierenden Anstalten so überfüllt, dass eine weitere Siechenanstalt in Kindberg mit Platz für 270 Personen errichtet wurde. 1911 folgte in Feldbach der Bau einer 350 Betten umfassenden Siechenanstalt. Zudem wurde die Siechenanstalt Knittelfeld 1912 aufgrund stetig steigender Patientenzuwächse ausgebaut. Nach der Abtrennung der Untersteiermark in Folge des Ersten Weltkriegs gingen die Siechenhäuser Pettau und Hochenegg bei Cilli verloren, sodass in der Ersten Republik nur noch fünf steirische Siechenhäuser existierten.459

Bis zum Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1941 nahm das psychiatrische Krankenhaus Novo Celje – das sich im gleichnamigen Schloss befand – bei der Unterbringung bzw. Versorgung psychiatrischer Patienten aus der Untersteiermark eine zentrale Rolle ein. Das dreistöckige Schloss wurde zwischen 1754 und 1760 von Graf Anton Gaisruck erbaut und gelangte nach mehrmaligem Besitzerwechsel 1930 in kommunales Eigentum. Anschließend wurde es zu einem psychiatrischen Krankenhaus adaptiert und Anfang 1932 mit ersten Patienten belegt. Im April 1941 war die maximale Kapazitätsgrenze mit 400 Patienten, die vor allem aus Marburg und Umgebung stammten, erreicht. Darüber hinaus wurden im selben Jahr nach dem Einmarsch der Wehrmacht zum einen die Verwaltung des Krankenhauses ausgewechselt und zum anderen die Einrichtung in „Heil- und Pflegeanstalt Neu-Cilli“ umbenannt.460 Im Sommer 1941 wurde die Heil- und Pflegeanstalt aufgelassen und das Gebäude der SA und dem Steirischen Heimatbund zur Verfügung gestellt.461

458 Vgl. HALBRAINER Heimo, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“ NS-Euthanasie in der Obersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, 2014, 84. 459 Vgl. ebd., 84-85. 460 Vgl. DANZINGER Rainer/OELSCHLÄGER Thomas/FREIDL Wolfgang, Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, 2014, 64. 461 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 72. 86

5.2.2 Vernichtungsanstalt Hartheim

Die Erbauung von Schloss Hartheim erfolgte um 1600.462 1892 wurde das Schloss dem Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsverein in Form einer Schenkung übereignet und im Zuge dessen ein Heim für „Schwach- und Blödsinnige, Cretinöse und Idioten“ errichtet. Zudem wurde eine Landwirtschaft eingerichtet, die es der Institution ermöglichen sollte, sich selbst zu versorgen.463

In den 1930er Jahren betreuten die Barmherzigen Schwestern im Schloss Hartheim in etwa 200 geistig behinderte Menschen nach einem für diese Zeit sehr fortschrittlichen Modell. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 wurde die konfessionelle Wohlfahrtspflege ausgeschaltet und das Hitler-Regime erlangte die totale Kontrolle über die Sozialpolitik, was dessen gesellschaftspolitische Utopie einer erbgesunden und arischen Volkgemeinschaft realisierbar machte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 begannen auch in Österreich die Zurückdrängung und Ausschaltung der Wohlfahrtspflege und die Trägerschaft des Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsvereins der „Schwachsinnigenanstalt Hartheim“ wechselte zu jener der Gau- und Fürsorgeverwaltung.464

Zudem wurde der Name der Anstalt in „Landesanstalt Hartheim“ geändert.465 Wie es zur Entscheidung kam, das Mordzentrum der NS-„Euthanasie“ für die „Ostmark“, Bayern und die Untersteiermark im Schloss Hartheim einzurichten, lässt sich nicht exakt beantworten. Als gesichert gilt nur, dass Viktor Brack über die Frage des Standorts entschied.466 Laut Matzek begannen die Umbauarbeiten zur Errichtung der Tötungsanstalt im Schloss Hartheim im Spätherbst 1939 und dauerten bis zum Frühjahr 1940.467 Kepplinger datiert den Beginn der Umbauarbeiten auf März 1940.468 Die Patienten wurden anschließend in das Gau- Fürsorgeheim Baumgartenberg und in die Gau-Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart gebracht. So wie in allen „Euthanasieanstalten“ wurden auch in Hartheim eine ärztliche und eine verwaltungstechnische Leitung installiert. Ab 1. April 1940 hatte Dr. Rudolf Lonauer die ärztliche Leitung der Anstalt inne. Dr. Georg Renno wurde am 1. Mai 1940 sein

462 Vgl. MATZEK Tom, Das Mordschloss. Auf der Spur von NS-Verbrechen in Schloss Hartheim, 2002, 56. 463 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 63. 464 Vgl. ebd., 64-65. 465 Vgl. ebd., 69. 466 Vgl. ebd., 68. 467 Vgl. MATZEK, Das Mordschloss, 2002, 58. 468 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 74. 87

Stellvertreter.469 Zu Beginn des Umbaus wurden Hilfskräfte aus dem Ort angeworben,470 zu denen später Angestellte der „T4“-Zentrale in Berlin hinzukamen.471

In Schloss Hartheim wurden im Zuge der Umbauarbeiten ein Technikraum, ein Totenraum und eine Gaskammer eingerichtet.472 Nach Matzek wurde im April 1940 mit dem Bau des Krematoriums begonnen.473 Im Mai 1940 traf der erste Transport mit Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart ein und das Morden begann.474

5.3 Die Vorgeschichte der Prägung der österreichischen NS- „Euthanasie“-Täter

Der Beginn der Psychiatrie in Österreich lässt sich mit der Eröffnung des „Narrenturms“ als erste Irrenanstalt in der Anlage des Allgemeinen Krankenhauses in Wien durch Joseph II. am 19. April 1784 festsetzen. Ähnliche Anstalten wurden in den Folgejahren beispielsweise in Graz und Prag errichtet.475 Die Errichtung des „Narrenturms“ hatte primär zum Ziel, Geisteskranke vor sich, aber auch die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Es ging also nicht darum, Geisteskranke zu therapieren, sondern sie vielmehr in „Tollhäusern“ unterzubringen. Die Unterbringung der Kranken glich jedoch eher einem Gefängnisaufenthalt, da es durchaus Usus war, sie im „Tollhaus“ an Ketten gefesselt von der Gesellschaft fernzuhalten.476 An der Institution des „Narrenturms“ und der therapeutischen Behandlung von Geisteskranken änderte sich in Österreich – ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie England und Frankreich, wo bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gefängnisartigen Zustände und Behandlungsmethoden in „Tollhäusern“ gezielten therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten wichen – bis 1839 wenig.477 Erst in diesem Jahr ließ der designierte Primarius des Wiener „Narrenturms“ die Ketten entfernen und fortan wurde auf eine therapiezentrierte Behandlung gesetzt.478 Die erste private Irren-Heilanstalt Österreichs wurde bereits 1819 in Gumpendorf gegründet. Die Errichtung moderner Anstalten in

469 Vgl. ebd., 69-70. 470 Vgl. ebd., 74. 471 Vgl. ebd., 76. 472 Vgl. ebd., 75. 473 Vgl. MATZEK, Das Mordschloss, 2002, 59-60. 474 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 80. 475 Vgl. SABLIK Karl, Vom „Narrentum“ zur modernen Psychiatrie. In: Justiz und Zeitgeschichte. Symposium „Schutz der Persönlichkeitsrechte am Beispiel der Behandlung von Geisteskranken, 1780-1982“ am 22. und 23. Oktober 1982. Wien 1983, 1-2. 476 Vgl. ebd., 2-3. 477 Vgl. ebd., 4-5. 478 Vgl. ebd., 6. 88

Österreich zur besseren und fortschrittlicheren Behandlung von Geisteskranken erfolgte 1853 mit dem Neubau der Irren-Heil- und Pflegeanstalt auf dem Bründfeld, wo auf moderne Beschäftigungstherapien für Patienten gesetzt wurde.479 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es nach Sablik zu einer Forcierung der Universitätspsychiatrie und die bis dahin vorherrschende Anstaltspsychiatrie wurde in den Hintergrund gedrängt. Man wandte sich nun vermehrt pathologisch-anatomischen Ansätzen zu, die zur Folge hatten, dass hinter allen psychischen Krankheitsbildern Erkrankungen des Gehirns vermutet wurden.480 Maßgeblich für die Entwicklung und Prägung der österreichischen Psychiatrie waren vor allem Theodor Meynert, Richard Krafft-Ebing, Julius Wagner-Jauregg und Sigmund Freund.481

Ein von 1875 bis 1902 andauender Konflikt zwischen den Wiener Universitätspsychiatern rund um Meynert und den Anstaltspsychiatern führte zur Errichtung einer zweiten psychiatrischen Klinik im Allgemeinen Krankenhaus in Wien.482 Die Beilegung des Konflikts zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie in den 1880er Jahren ist vor allem Krafft- Ebing und Wagner-Jauregg zu verdanken. Krafft-Ebing war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts der Leiter der Klinik im Allgemeinen Krankenhaus.483

Im Gegensatz zu Krafft-Ebing gingen Wagner-Jauregg und Sigmund Freud aus der II. Wiener Medizinischen Schule hervor.484 Als außerordentlicher Professor kam Wagner-Jauregg zur I. Psychiatrischen Klinik und übernahm 1892 vom Gehirnanatomen Meynert die Leitung der II. Psychiatrischen Klinik. Nur ein Jahr später leitete er die Klinik an der Landesirrenanstalt und nachdem Krafft-Ebing 1902 pensioniert worden war, übernahm er schließlich die Klinik im Allgemeinen Krankenhaus.485 Nach Hubenstorf kam es dadurch zumindest zu einer formellen Vereinigung der beiden psychiatrischen Kliniken.486 Gleichzeitig muss jedoch auf die organisatorische Spaltung der österreichischen Psychiatrie mit der Meynert- und Krafft- Ebing-Tradition auf der einen und jener von Wagner-Jauregg auf der anderen Seite hingewiesen werden. Die Prägung von politischen und weltanschaulichen Orientierungen leistete einen erheblichen Beitrag zur Vorbereitung der österreichischen Psychiatrie auf die

479 Vgl. ebd., 6-7. 480 Vgl. ebd., 8. 481 Vgl. ebd., 10-11. 482 Vgl. HUBENSTORF Michael, Tote und/oder lebendige Wissenschaft: Die intellektuellen Netzwerke der NS- Patientenmordaktion in Österreich. In: EBERHARD Gabriel/NEUGEBAUER Wolfgang (Hgg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien Teil II, Wien 2002, 288. 483 Vgl. SABLIK, Vom „Narrenturm“ zur modernen Psychiatrie, 1983, 9. 484 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 288. 485 Vgl. SABLIK, Vom „Narrenturm“ zur modernen Psychiatrie, 1983, 10. 486 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 288. 89

Anpassung an den Nationalsozialismus.487 Meynert gilt als einer der Begründer der Neuroanatomie und Neuropathologie. Er prägte die österreichische Psychiatrie durch drei seiner späteren Schüler, Arnold Prock, Carl Mayer und Gabriel Anton, maßgeblich.488 Dies ist ein Umstand, der bedeutende Auswirkungen auf die NS-„Euthanasie“ haben sollte. Sigmund Freud gelang es, mithilfe seiner Psychoanalyse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art „Sprechstundenpsychiatrie“ zu etablieren.489

Der geistige Wegbereiter für das Denken und die Einstellung der österreichischen Schule der Psychiatrie und Neurologie nach dem Ersten Weltkrieg war Fritz Hartmann, ein Schüler Gabriel Antons. Ab 1907 wirkte Hartmann als außerordentlicher Professor und 1911-1934 als ordentlicher Professor an der Universität Graz. Zudem saß er im Vorstand der Psychiatrischen Universitätsklinik Graz und trat die Nachfolge Wagner-Jaureggs auf dem Grazer Lehrstuhl für Psychiatrie an. Durch Hartmann wurde das Gedankengut der Eugenik in die Grazer Klinik eingegliedert.490

Hartmann machte bereits 1919 kein Hehl aus seiner Vorliebe für Rassenhygiene. Dies zeigt sich anhand verschiedener Publikationen Hartmanns, in denen er vor allem die Wichtigkeit der erbbiologischen Reinhaltung der deutschen Rasse postuliert. Psychotherapeutische Ansätze wurden von Hartmann im Keim erstickt, da er sie als „jüdisch“ ansah. Seinen Schülern lehrte er die Vorstellung einer „weltanschaulichen“ Medizin, deren höchste Gebote die Achtsamkeit für die eigene Gesundheit und jene des Volkes waren. Die reinrassige eheliche Verbindung, aus der ebenso reinrassige Nachkommen hervorgehen müssen, zählte für ihn ebenfalls zum Kanon der Gesundheitslehre. Zudem sei es die Pflicht eines jeden Arztes, dieses rassenhygienische Gedankengut unters Volk zu bringen.491

Somit ist es wenig verwunderlich, dass aus der Schule Hartmanns die zentralen Täter der NS- „Euthanasie“ hervorgingen.492 Der aus Linz stammende Dr. Rudolf Lonauer, der Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, studierte in Graz bei Fritz Hartmann. Lonauer erfuhr durch ihn die ideologische Vorbereitung auf die „Euthanasie“ und galt gegenüber Hartmann als hörig.493

487 Vgl. ebd., 322. 488 Vgl. ebd., 263. 489 Vgl. SABLIK, Vom „Narrenturm“ zur modernen Psychiatrie, 1983, 11. 490 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 17. 491 Vgl. MATZEK Tom, Endstation Mordschloss, 2004, 291. 492 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 324. 493 Vgl. MATZEK Tom, Endstation Mordschloss. Von der Steiermark nach Hartheim: Verbindung einer dunklen Vergangenheit. In: FREIDL Wolfgang/ SAUER Werner (Hgg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthansie in der Steiermark. Wien 2004, 291. 90

Doch nicht nur Lonauer wurde von Hartmanns Schule geprägt. Weitere fünf Ärzte und „Euthanasie“-Täter entstammen Hartmanns psychiatrischer Universitätsausbildung: Die Grazer Ärzte Dr. Oskar Begusch und Dr. Ernst Sorger studierten bei Hartmann, des Weiteren der spätere Anstaltsleiter „Am Steinhof“ in Wien, Dr. Hans Bertha, und der Psychiater und Neurologe Maximinian de Crinis, seines Zeichens einer der Hauptverantwortlichen der Planung der NS-„Euthanasie-Aktionen“. Auch der ehemalige Führer des NSD-Ärztebundes in Österreich, Oskar Kaufmann, „lernte“ von Hartmann. Somit bleibt festzuhalten, dass mit Sorger, Begusch, Lonauer und Bertha vier von sechs österreichischen „T4“-Gutachtern494 und mit de Crinis der mächtigste medizinische Wissenschaftspolitiker495 und Berater der „T4“- Spitze der Tradition Hartmanns entstammen.496

Geht man noch etwas weiter zurück, so lässt sich feststellen, dass die Prägungen der „Euthanasie“-Ärzte ihren Anfang bereits bei Theodor Meynert in Wien genommen haben, denn beinahe alle Medizin-Täter gingen ursprünglich aus der Tradition Meynerts hervor.497 Die Grazer „Euthanasie“-Täter erfuhren ihre Prägung durch Meynert über Gabriel Anton, der Fritz Hartmanns Lehrer war.498

Durch Antons rassenhygienische Denkweise gelangte die Intention einer Zucht der Rasse in die Psychiatrie. Der radikale und einflussreiche Rassenhygieniker vertrat eine strikt deutschnationale Einstellung und war Mitglied der Deutschen Volkspartei in Österreich. Er beeinflusste die Orientierung seines Schülers Hartmann maßgeblich, wie auch folglich jene von Hartmanns Schülern. Festzuhalten bleibt, dass die Grazer Psychiatrie auf Meynerts Verständnis der Geisteskrankheiten als Erkrankungen des Vorderhirns aufbaute. Zudem radikalisierten Anton und Hartmann in Graz Meynerts Rezeption des Darwinismus und Maximinian de Crinis führte ebenfalls die Anschauungen Meynerts in Graz fort.499 Gleichzeitig ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Tradition Meynerts nur bei seinen jüngeren Schülern etablierte. Bei seinen älteren Schülern, etwa Sigmund Freud, fanden seine Ansichten keinen Widerhall.500

Eine weitere Berührungsstelle der späteren NS-„Euthanasie“-Täter lässt sich durch ihre Zugehörigkeit zur steirischen Heimwehrbewegung (ab 1922 Steirischer Heimatschutz)

494 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 323-324. 495 Vgl. MATZEK, Endstation Mordschloss, 2004, 291. 496 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 323. 497 Vgl. ebd., 275. 498 Vgl. ebd., 281. 499 Vgl. ebd., 335. 500 Vgl. ebd., 321. 91 nachzeichnen. Laut Hubenstorf definierte sich diese Bewegung vor allem als Verbindungslinie zwischen den Studentenverbindungen und ihrer später folgenden Unterstützung des bzw. Mobilisierung für den Nationalsozialismus.501 Zugleich war der steirische Heimatschutz aber auch ein Apparat „der Gewalttätigkeit auf politischer Ebene“.502 Hartmann gilt als einer der Begründer der steirischen Heimwehrbewegung. Ab 1925 traten auch Lonauer, de Crinis und Begusch der Bewegung im Stadtkreis Graz bei und wurden vor allem im Heimatschutz politisch aktiv. Somit kann festgehalten werden, dass Hartmann seine Schüler nicht nur im Hörsaal prägte, sondern auch außeruniversitär.503 Oskar Begusch übte das Amt des Kreisleiters im Stadtkreis Graz aus, Maximinian de Crinis hatte eine beratende Funktion in der Stadtleitung inne.504 Lonauer blieb bis zu seiner Promotion 1931 Mitglied des Grazer Heimatschutzes und schloss sich im selben Jahr der illegalen NSDAP an.505 Bertha blieb dem Grazer Heimatschutz bis 1933 treu. Es gab also eine sehr enge Beziehung zwischen der Grazer Nervenklinik und dem Heimatschutz.506 Zudem berichtet Matzek über weitere außeruniversitäre Aktivitäten bzw. Treffen Hartmanns mit seinen Schülern, die vor allem innerhalb der Grazer Burschenschafterszene stattgefunden haben.507

Für die Entwicklung und Herausbildung der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Täter spielte vor allem das politische Umfeld eine zentrale Rolle. Die Beeinflussung der wissenschaftlichen Traditionen der involvierten psychiatrischen Schulen trug nach Hubenstorf zwar auch zur Genese der „Euthanasie“-Täter bei, spielte jedoch im Gegensatz zur politischen Einflussnahme eine eher untergeordnete Rolle.508

Maßgeblich an der NS-„Euthanasie“ beteiligt war die Gruppe um Fritz Hartmann. Vergleicht man Hartmanns Schule mit allen anderen psychiatrischen Schulen, so lässt sich feststellen, dass aus ihr die meisten österreichischen „Euthanasie“-Täter hervorgingen.509 Bei der Schule Wagner-Jaureggs und jener von Krafft-Ebing lässt sich nur eine geringfügige Beteiligung an der NS-„Euthanasie“ feststellen, die jedoch mit jener der Schule Hartmanns nicht vergleichbar ist. Nachweisbar ist eine Beteiligung der jüngeren Schüler Wagner-Jaureggs jedoch an diversen Ausformungen der NS-Psychiatrie wie der Zwangssterilisation oder der

501 Vgl. ebd., 333. 502 Ebd. 503 Vgl. MATZEK, Endstation Mordschloss, 2004, 292. 504 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 334. 505 Vgl. MATZEK, Endstation Mordschloss, 2004, 292. 506 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 334. 507 Vgl. MATZEK, Endstation Mordschloss, 2004, 292. 508 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 323. 509 Vgl. ebd., 271. 92

Leistungsmedizin. Was die klinische Psychiatrie in der Tradition Krafft-Ebings im Hinblick auf die Entwicklung der „Euthanasie“-Täter betrifft, ist vor allem Carl Mayer zu nennen, der für kurze Zeit als Mitarbeiter Krafft-Ebings fungierte. Aus der Klinik Mayers ging der spätere „T4“-Gutachter Otto Reisch hervor. Aufgrund der Zusammenarbeit von Mayer und Krafft- Ebing und der Tatsache, dass Reisch ein Schüler Mayers war, ist somit zumindest eine indirekte Beteiligung der Krafft-Ebing-Tradition an der Genese der „Euthanasie“-Täter abzuleiten.510

Der Vergasungsarzt und Leiter der Vernichtungsanstalt Hartheim, Rudolf Lonauer, wurde vor allem durch seine Verbindungen zu Graz stark geprägt und beeinflusst. Nachdem er 1931 promoviert hatte, verließ er den Heimatschutz in Graz und trat in Linz der illegalen NSDAP bei. Nach der Absolvierung seiner Ausbildung am Allgemeinen Krankenhaus in Linz führte ihn sein Weg zurück nach Graz, wo er als Assistent an der Nervenklinik und am Pathologisch-Anatomischen Institut tätig war. 1937 wurde er zum Facharzt für Psychiatrie ernannt und nur kurze Zeit später übernahm er den Posten des Amtsarztes der Bezirkshauptmannschaft Graz. Zu dieser Zeit bekleidete er bereits den Rang eines SS- Untersturmführers (Leutnant).511

Politisch sozialisiert wurde Lonauer auch in seinem Privatleben durch die Heirat mit der Grazerin Maria Hoffer, einer fanatischen Nationalsozialistin, die als treibende Kraft für seine Karriere gilt. Neben der Beeinflussung durch seine Frau wurde er in Graz vor allem ideologisch und politisch geprägt. Ein Umstand, der entscheidend für seine spätere „Karriere“ in Hartheim und seine Beteiligung am NS-Vernichtungsprogramm war.512

5.4 Die „T4“-Transporte aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen nach Hartheim/Niedernhart

Die für die Steiermark zuständige Vernichtungsanstalt der Aktion „T4“ war Schloss Hartheim in Oberösterreich.513 Patienten aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen wurden entweder in die Hartheimer Zwischenanstalt Niedernhart oder direkt nach Hartheim transportiert, wo sie anschließend vergast wurden.514 Die von der GEKRAT erstellten Transportlisten wurden an

510 Vgl. ebd., 322. 511 Vgl. MATZEK, Endstation Mordschloss, 2004, 292. 512 Vgl. ebd. 513 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 74. 514 Vgl. POIER, Euthanasie in der Steiermark, 2000, 117. 93 die einzelnen Anstalten versandt, damit diese darüber informiert waren, wann und welche Patienten abgeholt werden würden. Um unvorhergesehene Schwierigkeiten zu vermeiden, war der Transportleiter meistens schon am Vortag in der jeweiligen Anstalt anwesend, um die Vorbereitungen zu überwachen und für einen reibungslosen Ablauf der Transporte zu sorgen. Zudem bekamen die Anstalten ein Rundschreiben mit zehn Punkten, die besagten, dass beim Transport die Krankenakten, Kleider und Wertgegenstände der Patienten mitzugeben sind. Unruhige Patienten wurden durch Injektionen von Beruhigungsmitteln gefügig gemacht. Im Gegensatz zu Deutschland (sogenanntes Altreich), wo Busse der GEKRAT die Patienten transportierten, wurde in Österreich zum Zweck des Transports auf die Bahn zurückgegriffen.515 Wann die ersten Meldebögen der Tarnorganisation „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) zur Erfassung der Patienten in der Zentralanstalt „Am Feldhof“ eingelangt sind, lässt sich nach heutigem Forschungsstand nicht mehr nachweisen.516

Poier nennt als primäres Ziel der Aktion „T4“ die Reduktion der Unterbringungskosten.517 Nach Kepplinger diente vor allem der erste Transport vom „Feldhof“ nach Hartheim der Platzbeschaffung, da die Landes-Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“ beim Start der Aktion restlos überfüllt war.518

Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verfügte man am „Feldhof“ über 1.480 Betten, auf Schloss Schwanberg 222, in Messendorf 220 und in Kainbach und Lankowitz über jeweils 150. Dies ergab einen Belagsstand von 2.222 Patienten am „Feldhof“ und seinen Filialen. Durch die Aktion „T4“ wurde der Stand bis 1941 beinahe halbiert.519 Laut Stromberger betrug dieser am 30. Juni 1941 1.263, eingerechnet alle Patienten aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen.520

Dr. Ernst Arlt gibt in seinen Aufzeichnungen ebenfalls Einblicke in die am „Feldhof“ herrschende Platznot. Um der schwierigen Situation Herr zu werden und den Erfordernissen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zu entsprechen, sprach er sich für

515 Vgl. POIER Birgit, Vergast im Schloss Hartheim – die „T4-PatientInnen“ aus dem „Feldhof“ 1940-1941. In: FREIDL Wolfgang/KERNBAUER Alois/NOACK Richard H./SAUER Werner (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, 2001, 102-103. 516 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 78. 517 Vgl. POIER Birgit, NS-Euthanasie in der Steiermark. Die Beteiligung von Pflegenden an der „Aktion T4“ und der „Kinder-Euthanasie“ am Beispiel des Grazer „Feldhof“. In: Österreichische Pflegezeitschrift 11 (2003), 30. 518 Vgl. KEPPLINGER, NS-Euthanasie in Österreich, 2008, 47. 519 Vgl. WEISS, Im Zeichen von Panther & Schlange, 2006, 442. 520 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 414. 94 eine Bettenaufstockung aus, die jedoch die Anstaltsdirektion nicht bewilligte. Zudem berichtete er über Gerüchte aus Wien bezüglich der Anstalt „Am Steinhof“, die besagten, dass es dort zu großen Räumungsaktionen kommen würde und die Patienten im Zuge dessen ins „Altreich“ gebracht und dort beseitigt werden würden.521 Am Nachmittag des 26. Mai 1940 erfuhr Arlt von einem Angestellten des „Feldhofs“, dass sich in den Morgenstunden dieses Tages – Arlt unternahm da eine Wanderung und war deshalb nicht im Dienst – eine Kommission bestehend aus Dr. Bertha, Dr. Sorger und einem Arzt aus Bayern in SS-Uniform – der Name des Arztes in Arlts Tagebuch ist unlesbar, jedoch gibt Oelschläger an, dass es sich dabei um den stellvertretenden Leiter der Vernichtungsanstalt Hartheim, Dr. Georg Renno, gehandelt hat522 – am „Feldhof“ eingefunden habe, um die Patienten der Pflegeabteilung D für den Abtransport nach Niedernhart auszuwählen.523 Nach einer eingehenden Analyse der Krankenakten des „Feldhofs“ kommt Poier zum Schluss, dass anhand von drei Kriterien entschieden wurde, welche Patienten in die Vergasungsanstalt Hartheim „verlegt“ werden sollten.524 Diese Kriterien decken sich mit jenen von Arlts Abschriften einiger Transportlisten. Die beigefügten Bemerkungen auf diesen Listen machen die Kriterien für einen Transport deutlich.525 Das erste Kriterium war der Erbcharakter der jeweiligen Krankheit. Man galt als „erbkrank“, wenn innerhalb der Familie gehäuft verschiedene Erkrankungen auftraten.526 Auf den Transportlisten in Arlts Aufzeichnungen finden sich beispielweise Diagnosen wie „schizoide Psychopathie“ oder „Hysteroepilepsie“.527 Zweites Kriterium für einen Abtransport war die Arbeitsleistung. Dazu finden sich nach Poier Eintragungen in Krankenakten mit Vermerken hinsichtlich der Arbeitsleistung der Patienten wie: „unproduktiv“ oder „zu keiner Beschäftigung verwendbar“.528 Es gab aber auch Patienten, die zwar als „erbkrank“ eingestuft waren, ihre Arbeit aber zufriedenstellend verrichteten. In den Bemerkungen zu den Transportlisten finden sich Einträge wie „fleißige Arbeiterin“ oder „besonders fleißig“. Ihre Arbeitsleistungen wurden im Anstaltsalltag benötigt und so lange es möglich war ausgenutzt.529

521 Vgl. Tagebuch Dr. Ernst ARLT, Steiermärkisches Landesarchiv Graz, A. Arlt Ernst, Nachlass K. 1, H. 1, 43- 44. 522 Vgl. OELSCHLÄGER, et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 81. 523 Vgl. ARLT, 44-45, StLA. 524 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 35. 525 Vgl. ARLT, 61-65 und 98-101, StLA. 526 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 35. 527 Vgl. ARLT, 99, StLA. 528 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 35. 529 Vgl. ARLT, 99, StLA. 95

Viele Anstalten wussten jedoch nicht über den wahren Zweck der Transporte Bescheid und so kam es, dass das Urteil über die Arbeitsleistung einiger Patienten nur halbherzig ausfiel. Dies hatte wiederum zur Folge, dass viele gute Arbeitskräfte den Transporten nach Hartheim zum Opfer fielen.530 Kriterium drei für oder gegen die Entscheidung eines Transports war das Verhalten der Patienten. Dieses wurde in Listen mit Worten wie „asozial“, „störend“, „anmaßend“, aber auch „fügsam“, fleißig“ und „gut lenkbar“ beschrieben, zudem regierte die Annahme, dass sich schlechtes Verhalten negativ auf die Arbeitsleistung auswirkte. Poier führt noch ein weiteres Entscheidungskriterium für eine „Verlegung“ von Patienten ins Feld. Sie spricht von der nationalsozialistischen Planwirtschaft, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass bei Überfüllung der Anstalt „Platz geschaffen werden musste“. Die Selektionskriterien fanden dann nahezu keine Berücksichtigung.531

Laut Arlt wurden am 27. Mai 1940 um 8.20 Uhr morgens 240 Patienten mit einem D-Zug532 vom Güterbahnhof des Grazer Hauptbahnhofs533 nach Niedernhart abtransportiert und somit der I. Transport nach Niedernhart vollzogen.534 Bei den Patienten dieses Transports handelte es sich vorwiegend um Kranke, die an Schizophrenie litten.535 Arlt notierte, dass bereits im Vorfeld des I. Transports eine Ärztekommission bestehend aus Dr. Bertha, Dr. Sorger und einem Arzt aus Bayern in SS-Uniform (es handelte sich dabei um Dr. Renno)536 am „Feldhof“ tätig war, insbesondere Patienten der Pflegeabteilung D untersuchte und anschließend für den Abtransport nach Niedernhart auswählte.537

Was die exakte Datierung und die Zahl der Patienten betrifft, so ist man sich in der Forschung uneins. Während Poier den 28. Mai 1940 als Abgangsdatum und die Patientenzahl mit 200 beziffert,538 verweist Stromberger darauf, dass der Transport sowohl am 27. als auch am 28. Mai stattgefunden haben könnte, da aus den vorhandenen Quellen nicht ersichtlich ist, ob es sich um den tatsächlichen Transporttermin oder um die Datierung des administrativen Abgangs handelt.539 Betreffend die Zusammensetzung des I. Transports geht Stromberger zwar wie Poier von 57 männlichen Patienten aus, korrigiert sie aber im Hinblick auf die

530 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 35-36. 531 Vgl. ebd., 36. 532 Vgl. ARLT, 47-48, StLA. 533 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 84. 534 Vgl. ARLT, 47, StLA. 535 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 80. 536 Vgl. ebd., 81. 537 Vgl. ARLT, 48, StLA. 538 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 539 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 414, Fußnote 19. 96 weiblichen Patienten des Transports, die er (anders als Poier mit 142540) auf 149 beziffert. Somit ergibt sich nach Stromberger die Gesamtsumme von 207 Patienten, die auch 19 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren beinhaltet.541 Nur einige Wochen nach dem I. Transport nach Niedernhart notierte Arlt, dass ihn Dr. Hans Mayr dahingehend unterrichtete, dass alle Patienten dieses Transports bereits gestorben waren.542

Stromberger berichtet, dass nach diesem Transport im Sommer 1940 ein „Verlegungskarussell“543, in das zunächst die Filialen Lankowitz, Kainbach und das Pius- Institut Bruck an der Mur der Zentralanstalt „Feldhof“ involviert waren, stattgefunden hat. Dadurch wurden ca. 200 Patienten von den Filialen in die Zentrale am „Feldhof“ verlegt. Stromberger schreibt in diesem Zusammenhang, dass am 1. Juli 1940 62 Patienten aus der Filiale Kainbach in den „Feldhof“ verlegt wurden, wovon jedoch der Großteil nach Hartheim weitergeleitet und dort ermordet wurde.544 Die Zentralanstalt „Feldhof“ fungierte also als „Zwischenanstalt Zweiter Ordnung“545 für ihre Filialen. Diese von Oelschläger geprägte Bezeichnung bedeutet, dass die Patienten aus den Filialen der Zentralanstalt „Feldhof“ zunächst in die Zentrale transferiert, dort aufgenommen, als anstaltseigene Patienten geführt und erst Tage oder Wochen später nach Hartheim oder Niedernhart weitertransportiert wurden.546 Dieses Verfahren kam auch am 8. August, am 26. und 30. September und am 18. Dezember 1940 bei der „Verlegung“ von insgesamt 140 Frauen aus der Filiale Maria Lankowitz in den „Feldhof“ zum Tragen.547 Oelschläger wiederum geht von 117 Patienten aus, die von Maria Lankowitz in den „Feldhof“ verlegt wurden, wobei nach seinen Recherchen 102 von ihnen nach Niedernhart und danach nach Hartheim transportiert wurden.548 Am 8. und 22. August 1940 wurden insgesamt 79 Kinder und Jugendliche aus dem Pius-Institut Bruck an der Mur in den „Feldhof“ überstellt.549 Aus den Filialen Kainbach, Messendorf und Schwanberg lassen sich im Rahmen der Aktion „T4“ keine weiteren größeren Transferierungen in die Zentralanstalt „Feldhof“ nachweisen. Als gesichert gilt

540 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 541 STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 414. 542 Vgl. ARLT, 50, StLA. 543 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 414. 544 Vgl. ebd., 414-415. 545 OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 76. 546 Vgl. ebd., 76-77. 547 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 548 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 83. 549 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 97 jedoch, dass Patienten aus Messendorf und Schwanberg direkt – ohne „Zwischenaufenthalt“ am „Feldhof“ – nach Niedernhart transportiert wurden.550

Am 8. August 1940 erhielt der Direktor der Anstalt „Am Feldhof“, Dr. Oskar Begusch, in einem Schreiben von Prof. Dr. Heyde die Weisung, sich am 15. August 1940 für eine Besprechung betreffend „dringender kriegswichtiger Maßnahmen auf dem Gebiete der Heil- und Pflegeanstalten“551 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin einzufinden.552 Laut Arlt war auch Dr. Sorger – neben Dr. Begusch der zweite „T4“-Gutachter des Grazer „Feldhofs“ – bei dieser Besprechung anwesend. Er erwähnt in seinen Aufzeichnungen, dass über den Inhalt dieser Zusammenkunft strenges Stillschweigen vereinbart wurde und dass Vertreter der Psychiatrie aus allen Gauen diesem Treffen beiwohnten.553 An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass Arlt in seinem Nachlass eine weitere Dienstreise Sorgers und Beguschs nach Berlin erwähnt. Am 18. März 1941 begaben sich die beiden „T4“-Gutachter für eine „eugenische“ Tagung abermals nach Berlin und kehrten eine Woche später, am 25. März 1941, an den „Feldhof“ zurück. Arlt erhoffte sich von der Reise, dass die Transporte enden würden.554 Auf seine Nachfrage bekam er jedoch die Antwort: „Es geht weiter!“555 Seiner Hoffnung auf die Einstellung der Transporte waren einige Zwischenfälle bei den Transporten vorausgegangen, die das Wissen der Öffentlichkeit hierüber und die anschließende Ermordung der Patienten ausweiteten.556

Der zweite Transport, der 1940 nach Niedernhart erfolgte, ist bei Arlt mit 14. Oktober 1940 datiert und umfasste 200 Patienten. Er spricht davon, dass es sich vorwiegend um männliche Patienten gehandelt hat.557 Stromberger hält sowohl den 13. als auch den 14. Oktober für die „Verlegung“ der 200 Patienten für möglich.558 Zudem gibt er an, dass sich unter diesen Patienten rund 100 Frauen aus der Filiale Lankowitz befanden, die zunächst in den „Feldhof“ transferiert und anschließend am 13. oder 14. Oktober zur Vernichtung nach Niedernhart transportiert wurden. Nachdem die Filiale Maria Lankowitz durch die Transporte des Jahres 1940 „entleert“ worden war, wurde sie als „Feldhof“-Filiale aufgelöst.559 Poiers Recherchen bezüglich des Transportdatums gehen mit den Angaben Arlts konform. Sie verweist jedoch

550 Vgl. ebd., 416-418. 551 ARLT, 231, StLA. 552 Vgl. ebd., 231-232. 553 Vgl. ebd., 49. 554 Vgl. ebd., 121. 555 Ebd. 556 Vgl. ebd., 82. 557 Vgl. ebd., 51. 558 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 417. 559 Vgl. ebd., 415. 98 darauf, dass es sich um 197 Patienten gehandelt hat, davon 100 Männer, 96 Frauen und eine Person, deren Geschlecht nicht eruiert werden konnte.560 In einem Gespräch mit Dr. Peter Korp erfuhr Arlt, dass es beim ersten Transport nach Niedernhart im Mai 1940 zu einer Verwechslung gekommen war und ein Mann anstelle einer Frau abtransportiert wurde, da beide den gleichen Namen trugen.561 Infolgedessen wurden beim zweiten Transport nach Niedernhart im Oktober 1940 alle abgehenden Patienten mit roter Farbe markiert.562 Jene Frau, die schon beim ersten Transport nach Niedernhart hätte abgehen sollen, stand nun auch auf der Liste für den zweiten Transport. Ihr Vater bekam aber bereits nach dem Abgehen des ersten Transports eine Todesnachricht und war überrascht, dass er nach eigens angestellten Nachforschungen seine Tochter lebend am „Feldhof“ vorfand. Die Verwechslung und die Nachforschungen ihres Vaters retteten ihr das Leben. Sie wurde nicht nach Niedernhart „verlegt“.563

Arlt kritisierte vor allem das leichtsinnige Vorgehen bei der Begutachtung der Patienten durch die zuständige Gerichtskommission, da während der gesamten Transporte auch Patienten zur „Ausmerzung“564 „verlegt“ wurden, bei denen sich die Gerichtskommission noch für kein Gutachten entscheiden konnte. Als Verantwortlichen für die Selektion der zu „verlegenden“ Patienten nennt er einen gewissen Dr. Klöpfer Junior aus Wien, der, wie dieser Arlt selbst in einem Schreiben mitteilte, über keinerlei Kompetenz auf dem Gebiet der Psychiatrie verfügte.565

In diesem Zusammenhang gibt Arlt auch einen Einblick in die Arbeit der sogenannten Trostbriefabteilung, die den Angehörigen stereotype Todesmeldungen der Opfer per Post zukommen lassen musste. Die in den Krankenblättern eingetragenen Todesursachen sind nach Arlt frei erfunden.566 Nach den Weihnachtsfeiertagen trat Arlt am 27. Dezember 1940 wieder seinen Dienst am „Feldhof“ an. Kurz nach seiner Rückkehr erfuhr er, dass eine weitere Transportliste aus Niedernhart am „Feldhof“ eingegangen war. Glaubt man den Angaben Arlts, so umfasste diese Liste 500 Namen, davon 259 Frauen. Er zeigte sich erleichtert darüber, dass seine Abteilung C, die Frauenabteilung, weitestgehend von diesem Transport verschont blieb. In seinem Nachlass gibt Arlt die Namen von 46 Patientinnen an, die nach

560 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 561 Vgl. ARLT, 51-52, StLA. 562 Vgl. ebd., 54. 563 Vgl. ebd., 52-53. 564 Ebd., 56. 565 Vgl. ebd. 566 Vgl. ebd., 57. 99

Niedernhart „verlegt“ werden sollten. Der Transport wurde jedoch zweimal verschoben, ehe er am 8. Februar 1941 tatsächlich stattfand,567 allerdings war die Zahl der Deportierten mit 67 weitaus geringer als zunächst geplant.568 In einem Schreiben Dr. Lonauers an Dr. Begusch wird der Grund für die Verzögerung bzw. Verschiebung des Transports genannt. Lonauer sprach davon, dass in Niedernhart zunächst die Rückstände aufgearbeitet werden müssen, bevor es zur Realisierung des Transports kommen könne.569

Durch diese Verzögerung gelang es Arlt nach seinen Angaben, neun Patienten vor diesem Transport zu bewahren, indem er ihre Angehörigen verständigte und ihnen nahelegte, die Betroffenen aus der Anstalt zu holen.570 Der Erlass der Reichsstatthalterei Zl. III. c. 182 Fh. 55/ 1 40 erzürnte Arlt am Ende des Jahres 1940. Laut ihm sollte künftig in der Gau-Heil- und Pflegeanstalt am „Feldhof“ eine eigene Abteilung „zum Zwecke der Asylierung von asozialen bzw. aussichtslosen Tuberkulose-Fällen“571 mit Platz für 14 Männer und 7 Frauen eingerichtet werden,572 die jedoch im Lauf des Jahres 1943 wieder geschlossen wurde, worauf die Patienten in der Siechenanstalt Kindberg untergebracht wurden.573 Arlt sah die Psychiatrie dadurch an einem Scheideweg und bezeichnete die Unterbringung von „aussichtslosen“ Fällen als menschlich und ärztlich unvertretbar. Es scheint der letzte Eintrag Arlts aus dem Jahr 1940 gewesen zu sein.574 Er schloss mit folgendem Satz: „So schließen wir das alte Jahr schwer enttäuscht und voll von Sorge für die Zukunft.“575

1941 änderte sich die taktische Ausrichtung der Transporte. Die Anstalt wurde ab diesem Zeitpunkt erst am Nachmittag vor dem Abtransport in Kenntnis gesetzt. Zudem sollten fortan nur noch kleinere Patientengruppen transportiert werden und die „Verlegungen“ sollten überraschend und so geheim wie möglich stattfinden.576 Neu war ferner, dass die Züge mit den Patienten nicht mehr vom Güterbahnhof des Grazer Hauptbahnhofs, sondern direkt vom Anstaltsgelände abgingen.577 Möglicherweise ist diese neue taktische Vorgehensweise bei den Transporten darauf zurückzuführen, dass nun auch im Ausland über die Ermordung unheilbar

567 Vgl. ebd., 60-66. 568 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 569 Vgl. ARLT, 239-240, StLA. 570 Vgl. ebd., 60-65. 571 Ebd., 68. 572 Vgl. ebd. 573 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 118. 574 Vgl. ARLT, 68-69, StLA. 575 Ebd., 69. 576 Vgl. ebd., 75. 577 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 84. 100

Kranker aus den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches berichtet bzw. spekuliert wurde.578

Am 15. Januar 1941 erfolgte ein weiterer Transport nach Niedernhart, von dem Arlt erst erfuhr, als er bereits abgegangen war. Informiert wurde er durch Dr. Mayr, den Leiter der Pflegestation D, der vom Abtransport von 70 Frauen aus seiner Station mit dem Ziel Niedernhart sprach.579 Poier erhöht die Zahl der Deportierten dieses Transports auf 71.580 Nach Strombergers Erhebungen erfolgte am 20. Januar 1941 ein Transport mit 70 Männern.581 Die Zahl und das Geschlecht der Patienten decken sich mit den Aufzeichnungen Arlts zu dieser „Verlegung“.582 Poier hingegen beziffert die Deportierten mit 72, wobei es sich nach ihren Angaben um 70 Männer und 2 Frauen handelte.583 Laut Stromberger waren bis auf zwei Transporte alle anderen strikt nach Geschlechtern getrennt.584 Ein Faktum, das den Angaben Poiers widerspricht.

Um aufzuzeigen, dass sich das Wissen der Öffentlichkeit über die Transporte im Rahmen der Aktion „T4“ und der anschließenden Ermordung der Patienten immer weiter ausweitete, muss kurz auf einen von Arlt in seinem Nachlass dokumentierten Zwischenfall nach diesem Transport eingegangen werden. Am 20. Januar 1941 notierte Arlt, dass eine völlig aufgelöste Frau – kurz nach dem Transport – am „Feldhof“ verzweifelt auf der Suche nach ihrem Sohn war und lautstark schrie585: „Warum ist er abgegangen? Dort wird er mir umgebracht!“586 Arlt behauptet, dass er erst auf diese Weise vom Transport, der in den frühen Morgenstunden nach Niedernhart abgegangen war, erfahren habe.587 Am 29. Januar 1941 sah sich Arlt mit Sabotagevorwürfen konfrontiert. So warf ihm Dr. Peter Korp vor (es ist anzunehmen, dass es sich um Korp gehandelt hat, da Arlt die Person mit Dr. „K“ benennt), dass er geheime Informationen über die Transporte an Angehörige weitergegeben habe.588 Der Vorwurf dürfte nicht unbegründet gewesen sein, da Arlt einige Zeit später vermerkte, dass er gewissen Angehörigen von Patienten geraten habe, ihre Schützlinge so schnell wie möglich aus dem

578 Vgl. ARLT, 82, StLA. 579 Vgl. ebd. 580 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 581 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 418. 582 Vgl. ARLT, 75, StLA. 583 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 584 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 418. 585 Vgl. ARLT, 82, StLA. 586 Ebd. 587 Vgl. ebd. 588 Vgl. ebd., 85. 101

„Feldhof“ herauszuholen.589 Daraufhin wurden die Barmherzigen Schwestern, die für die Pflege der Patienten am „Feldhof“ verantwortlich waren, von der Gestapo verhört. Als Konsequenz wurde ein telefonisches Auskunftsverbot an Angehörige ausgesprochen. In weiterer Folge sprach Arlt über fortlaufende kleinere Abtransporte, die so geheim vonstattengingen, dass er erst im Nachhinein von ihnen erfuhr und die Zahl der Abgehenden sich seiner Kenntnis entzog.590 Möglicherweise handelte es sich dabei um die von Poier angegebenen Transporte des 3., 4. und 7. Februars 1941, denen insgesamt 224 Patienten zum Opfer fielen.591 Stromberger gibt an, dass im Zuge des Transports vom 4. Februar 1941 46 Männer aus der Filiale Messendorf in den Tod geschickt wurden.592 Außerdem behauptet Arlt, dass ab diesem Zeitpunkt nur noch drei Personen über die Planung und Durchführung von Transporten in Kenntnis gesetzt wurden. Damit sollte gewährleistet werden, dass sich künftig kein Patient mehr durch die Hilfe von Angehörigen einer „Verlegung“ entziehen konnte. Laut Arlt handelte es sich bei den Eingeweihten um „Schwester Linhart, B., und S“.593 Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei den Kürzeln um Anstaltsdirektor Dr. Begusch, Dr. Sorger und Schwester Linhart gehandelt hat.

Am 8. Februar 1941 erfolgte der nächste Transport, der vor allem Arlts Frauenabteilung betraf, wobei er über die Zahl der Deportierten keine Angaben machte.594 Nach Poier wurden an diesem Tag 67 Patienten deportiert, 66 Männer und eine Frau,595 was mit der Aussage Arlts, dass vor allem seine Frauenabteilung von diesem Transport betroffen war, nicht übereinstimmt. Das Besondere an diesem Transport ist, dass ab diesem Zeitpunkt die Transporte offiziell nicht mehr nach Niedernhart, sondern direkt nach Hartheim gingen. Arlt berichtete an diesem Tag von einer vermeintlichen Umbenennung Niedernharts in Hartheim.596 Dass Niedernhart und Hartheim nicht identisch waren, wurde nach Arlts Aufzeichnungen den Angestellten des „Feldhofs“ erst bewusst, als eine Frau nach ihrer Tochter suchte und sie im Zuge ihrer Nachforschungen von Niedernhart nach Hartheim verwiesen wurde.597

589 Vgl. ebd., 113. 590 Vgl. ebd., 85. 591 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 592 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 418. 593 ARLT, 106, StLA. 594 Vgl. ebd., 86. 595 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 596 Vgl. ARLT, 86-87, StLA. 597 Vgl. ebd., 107-111. 102

Allein im Februar 1941 fanden neun Transporte statt, unter anderem am 12. und 13. Februar,598 wobei Arlt nur einen Hinweis darauf gibt, dass am 12. Februar ein Transport nach Hartheim stattgefunden hat. Dieser Hinweis findet sich in einer von Arlt in seinen Nachlass eingeklebten Todesanzeige eines Patienten mit dem Vermerk, dass dieser am 12. Februar 1941 abtransportiert wurde. Von einem Transport am 13. Februar erwähnt Arlt nichts.599 Laut Poier wurden am 12. Februar 52 Patienten und am 13. Februar 75 Patienten nach Hartheim transferiert.600 Unter den 75 Transportierten befanden sich nach Stromberger 13 Kinder und Jugendliche aus dem Pius-Institut Bruck an der Mur, die seit August 1940 – insgesamt wurden in diesem Monat 79 behinderte Kinder von Bruck in den „Feldhof“ „verlegt“ – am „Feldhof“ „zwischengelagert“ worden waren. Die übrigen 66 Kinder wurden in die Filiale nach Kainbach geschickt.601

Laut Poier fanden am 14., 15. und 17. Februar weitere Transporte statt. Die Patientenzahl bei diesen drei Transporten betrug insgesamt 173.602 Aus dem Nachlass Arlts erfährt man diesbezüglich nichts. Stromberger hat festgestellt, dass am 14. oder 15. Februar sowie am 16. oder 17. Februar 1941 zwei weitere Transporte abgingen. Dabei handelte es sich ausschließlich um Patienten der Filiale bzw. Zweiganstalt Schwanberg mit 144 Personen, die vor ihrem Abtransport zunächst in den „Feldhof“ kamen.603 Betrachtet man den Patientenstand Schwanbergs 1939 mit 222 Betten, so ergibt sich, dass auch diese Filiale nach den genannten Februartransporten weitgehend geleert wurde. Schwanberg wurde aber im Gegensatz zu Maria Lankowitz nicht aufgelöst, sondern im März und April 1941 wieder mit insgesamt 113 Patienten aus dem „Feldhof“ belegt.604 Dass es in absoluten Ausnahmefällen zu einer Rückverlegung von Patienten aus der Vernichtungsanstalt Hartheim in den „Feldhof“ kommen konnte, zeigt eine Aufzeichnung vom März 1941 in Arlts Nachlass, in der er von vier Männern berichtet, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Verdienste in Hartheim begnadigt und in den „Feldhof“ rücküberstellt wurden.605

In der Zwischenzeit zeichnete sich am „Feldhof“ ein immer größer werdendes „organisatorisches Chaos“606 ab. Aufgrund des damaligen Personalmangels in der

598 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 599 Vgl. ARLT, 106, StLA. 600 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 601 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 602 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 603 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 418. 604 Vgl. ebd., 415. 605 Vgl. ARLT, 121, StLA. 606 Ebd., 128. 103

Zentralanstalt – einige Ärzte wurden zum Militärdienst einberufen – berichtete Arlt von der Überforderung der übriggebliebenen Ärzte, die eine für die Patienten adäquate Behandlung nicht mehr gewährleisten könnten. Die Einrichtung eines 480 Betten umfassenden Reservelazaretts erschwerte die Versorgung der Patienten zusätzlich. Am 9. Juni 1941 kehrte Arlt nach 14-tägiger Abwesenheit von einer Musterungskommission aus Klagenfurt an den „Feldhof“ zurück. Am selben Tag schrieb er, dass ihm von einen Transport mit 37 Patienten – davon drei Pfleglinge seiner Abteilung –, der für den 10. Juni 1941 geplant war, berichtet wurde.607 Laut Poier fand dieser Transport bereits am 9. Juni mit 34 Patienten statt.608 Was die Patientenzahl betrifft, bestätigt Stromberger Arlts Angaben mit 37 „Abzutransportierenden“, er nennt jedoch den 9. Juni als Abgangsdatum des Transports. Außerdem fanden sich unter diesen 37 Personen sieben Patienten der Filiale Schwanberg. Es war zugleich der letzte „T4- Transport“, der aus dem „Feldhof“ in die Vernichtungsanstalt Hartheim abging.609

Am 12. Juni 1941 notierte Arlt, dass die „Organisatoren“610 aus der Untersteiermark mit dem Ergebnis zurückkehrten, die Anstalt Neu-Cilli und einige untersteirische Siechenhäuser aufzulösen. 600 Patienten aus der ganzen Untersteiermark sollten für den Transport nach Hartheim ausgewählt werden.611 In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass sich im Mai 1941 eine ärztliche Kommission bestehend aus Dr. Georg Renno, Dr. Oskar Begusch, Dr. Ernst Sorger und Schwester Linhart, die für die erbbiologische Bestandsaufnahme am „Feldhof“ eingeteilt waren, in die Heil- und Pflegeanstalt Neu-Cilli begab, um Patienten für den Transport nach Hartheim zu selektieren. 357 Patienten wurden für Hartheim bestimmt, wovon jedoch 32 ausgenommen wurden und in den „Feldhof“ gelangten.612 Die Untersteiermark gehörte ab diesem Zeitpunkt zum Einzugsgebiet des „Feldhofs“.613

Diese Kommission bereiste im Anschluss die Alten- und Siechenheime der Untersteiermark und begutachtete und selektierte die für die Tötung im Schloss Hartheim bestimmten Patienten. Im Rahmen der Aktion „T4“ wurden in der Untersteiermark 567 Patientenmeldebögen ausgefüllt. Diese Zahl unterscheidet sich nur geringfügig von den genannten Angaben Arlts. Wie viele untersteirische Patienten tatsächlich den Tod in der

607 Vgl. ebd., 128-129. 608 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 45. 609 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 415. 610 ARLT, 130, StLA. 611 Vgl. ebd. 612 Vgl. DANZINGER Rainer/OELSCHLÄGER Thomas/FREIDL Wolfgang, Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark. In: HALBRAINER Heimo/VENNEMANN Ursula (Hgg.), Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute, 2014, 65-67. 613 Vgl. ARLT, 131, StLA. 104

Gaskammer von Hartheim fanden, lässt sich jedoch nicht mehr feststellen.614 Neben der Anstalt Neu-Cilli wurden nach dem Abtransport der Insassen weitere untersteirische Einrichtungen aufgelöst. Daher fungierte der „Feldhof“ ab diesem Moment als zentrale Anlaufstelle für psychiatrische Patienten aus der Untersteiermark, was zu einer Überfüllung dieser Anstalt führte. Letzten Endes ist heute nicht mehr feststellbar, wie viele untersteirische Patienten am „Feldhof“ aktiven oder passiven „Euthanasiemaßnahmen“ außerhalb der „Reichsausschuß-Aktion“ bis zum Kriegsende zum Opfer fielen.615

Der offizielle Stopp der Aktion „T4“ erfolgte am 24. August 1941.616 Arlt gibt keine exakte Datierung für den Stopp der „T4“-Transporte an, er berichtet aber, dass diese im Sommer 1941 geendet haben. Als Hauptgründe dafür sah Arlt zum einen die ablehnende Haltung und einen drohenden Aufstand der Bevölkerung, zum anderen trug aber auch der persönliche Einsatz des Erzbischofs von Münster, Graf Galen, der sich in einer Predigt gegen die „Euthanasie“-Maßnahmen aussprach, wesentlich zum Ende der „Aktion“ bei.617 Die „T4“- Involvierten nahmen den Stopp der „Aktion“ eher als Unterbrechung wahr. Dass weitere Transporte nach Niedernhart bzw. Hartheim geplant waren, bezeugt ein Schreiben von Dr. Lonauer an Dr. Begusch.618 In diesem teilt Lonauer mit, dass weitere Transporte zurzeit aus „technischen Gründen“619 nicht möglich wären.620 Das Morden in Form der „dezentralen Euthanasie“ ging jedoch weiter. Dies zeigt sich auch in den Aufzeichnungen Arlts, der von weiteren „erbbiologischen Anfragen“ nach dem „T4“-Stopp berichtet.621 Arlt sprach von einer seelischen Erleichterung für ihn und die Angestellten des „Feldhofs“, er verwies aber gleichzeitig darauf, dass die Überforderung des Ärzte- und Pflegepersonals ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Auflösung von Anstalten führte zu einem Zustrom von Kranken in den „Feldhof“, den es seit Bestehen der Anstalt noch nie gegeben hatte.622 Der am „Feldhof“ herrschende Platzmangel ist auch aus Beguschs Antwortschreiben an Lonauer vom 29. August 1941 ersichtlich:

„Mit Schreiben vom 29.8.1941 haben Sie mir mitgeteilt, daß Sie aus technischen Gründen erst in 8 Wochen Kranke von meiner Anstalt übernehmen können. Da ich

614 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 67-69. 615 Vgl. ebd., 73-74. 616 Vgl. POIER Birgit, Vergast im Schloss Hartheim, 2001, 108. 617 Vgl. ARLT, 163, StLA. 618 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 89. 619 ARLT, 244, StLA. 620 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 89. 621 Vgl. ARLT, 139, StLA. 622 Vgl. ebd., 134. 105

dringend Platz benötige, bitte ich um Mitteilung ob ich Anfang November mit einem Waggon Männer u. einem Waggon Frauen zur Abgabe rechnen kann. Für die weitere Abgabe hätte ich dann bis Jänner 1942 Zeit.“623

Am 1. November 1941 verzeichnete der „Feldhof“ einen Überbelag von 59 Patienten, der bis zum 20. März 1942 auf 278 Patienten anstieg.624

Nach Poiers Recherchen wurden insgesamt 1.177 Patienten aus dem „Feldhof“ nach Niedernhart bzw. Hartheim transportiert. Sie verweist darauf, dass diese Zahl alle Patienten umfasst, die einerseits in den Rapportbüchern mit dem Stempel Niedernhart/Linz ausgetragen wurden, und andererseits jene, deren Krankenakten erhalten geblieben sind. Man muss jedoch davon ausgehen, dass es sich dabei nur um eine Minimalzahl handelt, da die Erschließung anderer Quellen höchstwahrscheinlich zu einer größeren Zahl von „T4“-Opfern aus dem „Feldhof“ führen würde.625 Stromberger bestätigt die Daten Poiers im Rahmen eines Forschungsprojekts für die Dokumentationsstelle Hartheim weitgehend, hat sie jedoch weiter präzisiert und vervollständigt.626 Er geht von insgesamt 14 „T4“-Transporten mit 1.232 Opfern aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen aus und erweitert damit die Zahl der namentlich erfassten Opfer um 55.627 Gleichzeitig vermerkt er in einer Fußnote, dass von diesen 1.235 abgegangenen Personen drei in den „Feldhof“ rücküberstellt wurden und überlebten.628 Arlt sprach andererseits wie erwähnt von vier Männern, die von der Vergasung in Hartheim verschont blieben und in den „Feldhof“ zurückkehrten.629 Weitere Opfer könnten bei entsprechender Recherche möglicherweise vereinzelt noch für die Filiale Schwanberg zu erwarten sein. Für die Erfassung weiterer „T4“-Opfer aus den anderen „Feldhof“-Filialen sei die Wahrscheinlichkeit jedoch sehr gering.630

Oelschläger, Danzinger und Benzenhöfer gehen hingegen von insgesamt 12 Transporten aus dem „Feldhof“ nach Niedernhart bzw. Hartheim aus. Die Zahl der Opfer beziffern sie mit 1.071. Diese Zahl ergibt sich aus den „registrierten“631 Patienten der Zentralanstalt und jener aus den „Feldhof“-Filialen und anderen Anstalten.632 Die Patienten aus der Filiale

623 Ebd., 246. 624 Vgl. ebd., 137. 625 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 42. 626 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 414. 627 Vgl. ebd., 419. 628 Vgl. ebd., Fußnote 33. 629 Vgl. ARLT, 120, StLA. 630 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 419-420. 631 OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 87. 632 Vgl. ebd., 89. 106

Schwanberg sind in die Opfergesamtzahl nicht aufgenommen, da Schwanberg eine eigene Bestandsführung unabhängig von der Zentralanstalt „Feldhof“ hatte.633

5.4.1 Die Euthanasieaktion „T4“ in der übrigen Steiermark

Es gab in der Steiermark auch „T4“-Transporte, die nicht aus der Zentralanstalt „Feldhof“ abgingen.634 Bereits am 7. März 1940 wurde die Gausiechenanstalt Knittelfeld mit einem Schreiben des Reichsstatthalters der Steiermark aufgefordert, eine „erbbiologische Bestandsaufnahme“ ihrer Patienten durchzuführen. Um eine möglichst rasche und dem Protokoll entsprechende Erfassung der Patienten zu ermöglichen, kam Dr. Ernst Sorger, der Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten“, am 5. April 1940 nach Knittelfeld. Er besichtigte dort die Kinderabteilung und sprach sich mit der Verwaltung bezüglich der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ ab, mit der in Knittelfeld der Arzt Dr. Max Pachmayer beauftragt wurde. Am 21. Juni 1940 erhielt die Anstalt erneut ein Schreiben des Reichsstatthalters mit dem Auftrag, die Patienten anhand der mitgeschickten Meldebögen zu erfassen und diese ausgefüllt bis 1. August 1940 nach Berlin zu schicken.635 Die von Dr. Pachmayer unterfertigten Meldebögen, die in Berlin begutachtet wurden und die Basis für die folgende „Euthanasie“ im Rahmen der Aktion „T4“ in Knittelfeld bildeten, erfassten 213 Patienten. Schon im Sommer 1940 nahmen Dr. Ernst Sorger und der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“, Dr. Oskar Begusch, eine Visitation der Gausiechenanstalt Knittelfeld vor, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Selektion der Knittelfelder Anstaltspatienten dienen sollte, sondern vielmehr den Hintergrund hatte, eine mögliche „Siechenabteilung für geistesschwache und geisteskranke Männer, Frauen und Kinder“ am „Feldhof“ zu installieren, in die Patienten aus den obersteirischen Siechenanstalten Knittelfeld und Kindberg transferiert werden sollten. Nach diesem Besuch befürchtete man in Knittelfeld, dass auch jene Patienten, deren Arbeitsleistung überaus zufriedenstellend war, an den „Feldhof“ abgegeben werden mussten. Durch den Einsatz des Verwalters der Gausiechenanstalt Knittelfeld und einiger Schwestern konnte dies verhindert werden.636

Ende Januar 1941 erfolgte ein weiterer Besuch Dr. Ernst Sorgers in Knittelfeld, wobei er dieses Mal eine Liste der zu selektierenden Patienten mit sich führte. Nach einer

633 Vgl. ebd., 89, Fußnote 137. 634 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 635 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 88. 636 Vgl. ebd., 90. 107

Zeugenaussage der damaligen Oberschwester Eleonora Reinthaler begutachtete Sorger die auf der Liste verzeichneten Patienten und machte sich dazu Notizen.637

Am 10. Februar 1941, so berichtet der damalige Insasse der Gausiechenanstalt Knittelfeld Josef Wundersamer, waren Sorger und Begusch wieder in der Anstalt. Sie machten in einzelnen Zimmern Visite, sprachen mit den Patienten und Begusch machte sich Notizen zu ihnen, manche strich er von der Liste. Nur kurze Zeit später erhielt die Verwaltung der Anstalt in Knittelfeld ein Schreiben aus Berlin, das eine Liste enthielt, die alle von Knittelfeld abzutransportierenden Patienten anführte. Trifft die Aussage einer ehemaligen Knittelfelder Verwaltungsangestellten zu, so wurden vor allem „Taubstumme und Schwachsinnige“ für den Transport nach Hartheim ausgewählt. Am 20. Februar 1941 wurden die auf der Liste vermerkten Patienten mit Autobussen – von Pflegern aus Hartheim begleitet638 – zum Bahnhof nach Bruck an der Mur gefahren, wo sie bei einem der anderen „T4“-Transporte „zugeladen“ wurden. Stromberger geht von 77 Patienten der Gausiechenanstalt Knittelfeld aus, die in Hartheim ermordet wurden.639 Halbrainer beziffert die Zahl der Patienten mit 76, von denen 30 männlich und 46 weiblich waren. 40 der 76 Pfleglinge hatten zum Zeitpunkt des Abtransports noch nicht die Volljährigkeit erreicht.640 Das bedeutet, dass es sich beim Großteil dieses Transports aus Knittelfeld um Kinder und Jugendliche gehandelt hat, die anschließend in der Vernichtungsanstalt Hartheim der Gaskammer zum Opfer fielen.

Der Startschuss zur „Euthanasiekation T4“ in der damaligen Landessiechenanstalt Kindberg weist starke Parallelen zur Vorgehensweise in der Gausiechenanstalt Knittelfeld auf. So traf auch in Kindberg ein Schreiben des Reichsstatthalters der Steiermark ein, mit der Aufforderung, eine „erbbiologische Bestandsaufnahme“641 vorzunehmen und die dem Schreiben beiliegenden Meldebögen bis 1. August 1940 nach Berlin abzusenden. Die Patientenmeldebögen von 265 Insassen wurden schließlich nach Berlin geschickt, wo sie begutachtet wurden. Gegen Ende August 1940 erhielt Kindberg – wie bereits zuvor die Gausiechenanstalt Knittelfeld – die Information, dass man beabsichtigte, am Grazer „Feldhof“ eine „Siechenabteilung für geistesschwache und geisteskranke Männer, Frauen und Kinder, getrennt nach Geschlechtern“642 zu installieren und Kranke aus Kindberg und Knittelfeld nach

637 Vgl. ebd. 638 Vgl. ebd., 91. 639 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 423. 640 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 91. 641 Ebd. 642 Ebd. 108

Graz zu verlegen.643 Die damalige Verwaltungssekretärin der Anstalt Kindberg gab bei ihrer Zeugenvernehmung 1945 an, dass der Direktor des „Feldhofs“, Oskar Begusch, und der Arzt Dr. Ernst Sorger im Januar 1941 die Landessiechenanstalt Kindberg aufsuchten und sich zunächst die Katasterblätter der betroffenen Patienten aushändigen ließen, um die Pfleglinge im Anschluss zu begutachten.644 Einige Tage später erschien Dr. Sorger wieder in der Anstalt, wobei er bei dieser Visite nicht von Dr. Begusch begleitet wurde, sondern von einer Schreibkraft (Name unbekannt), deren Tätigkeit während des Aufenthalts darin bestand, dass sie Eintragungen aus den Katasterblättern der Patienten in mitgebrachte Formulare vornahm.

Ferdinand Halla, der Oberverwalter der Landessiechenanstalt Kindberg, gab in einer Vernehmung 1945 zu Protokoll, dass am Abend des 13. Februars 1941 „ein Herr in brauner Parteiuniform und 3 Frauen“645 in Kindberg eintrafen. Laut Halla ging der erste Transport aus Kindberg mit 70 Patienten am 14. Februar 1941 „in eine andere Anstalt nach Linz a. d. Donau ab“646, wobei die Betroffenen zu Fuß zum Bahnhof gebracht wurden und sich zunächst darüber freuten, in eine vermeintlich bessere Anstalt zu kommen.647 Die Angaben Hallas bezüglich des tatsächlichen Transportdatums stimmen mit jenen Strombergers nicht überein. Strombergers Recherchen führen zum Ergebnis, dass der erste Transport von Kindberg nach Hartheim bereits am 10. Februar 1941 stattgefunden hat. Was die Zahl der zu Transportierenden betrifft, bestätigt Stromberger Hallas Aussage.648

Nach dem ersten Transport aus der Landessiechenanstalt Kindberg mit 44 Frauen und 26 Männer wurden die Stimmen in Kindberg immer lauter, dass diese in Hartheim ermordet wurden. Zum einen deshalb, weil kein Verwandter über deren Verlegung informiert wurde, und zum anderen erschien es dem Kindberger Pflegepersonal merkwürdig, dass kein verlegter Pfleglinge den Schriftkontakt mit ihnen suchte, obwohl die Patienten bei ihrem Abtransport Schreibmaterialien erhalten hatten. Schon im Herbst 1940 wurde im Bezirk Mürzzuschlag darüber spekuliert, dass „Verlegungen“ von Patienten mit ihrer Tötung einhergingen. Dies zeigt ein Bericht des Landrats des Kreises Mürzzuschlag an den Reichsstatthalter in Graz vom November 1940, in dem er auf die Gerüchte rund um die Tötung von 300 „Feldhof“- und 2.000 Steinhofpatienten an „einem Ort des Altreichs“649 Bezug nahm und dem

643 Vgl. ebd. 644 Vgl. ebd., 91-92. 645 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Ferdinand Halla, LGS Leoben Vr 11/1946, 66, StLA. 646 HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 92. 647 Vgl. ebd. 648 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 649 HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 93. 109

Reichsstatthalter zu verstehen gab, dass die Mürzzuschlager katholisch geprägte Bevölkerung sich über diese Vorgänge entrüstet zeigte.650

Am 25. Februar 1941 ging der zweite Transport von Kindberg nach Hartheim ab.651 Die ehemalige Schwester Christa berichtete, dass am selben Tag erneut die „Ärzte mit den sie begleitenden Frauen“652 nach Kindberg kamen und einen Transport mit insgesamt 69 Patienten, 40 Frauen und 29 Männer, zusammenstellten.653 Stromberger beziffert hingegen die abgehenden Patienten mit 68.654 Einige Schwestern der Landessiechenanstalt Kindberg sahen sich aufgrund der anhaltenden Gerüchte dazu verpflichtet, Verwandte jener Patienten zu kontaktieren, die nach der zweiten ärztlichen Kommission für den bevorstehenden Transport am 25. Februar 1941 ausgewählt worden waren. Den Verwandten wurde nahegelegt, ihre Angehörigen so schnell wie möglich aus Kindberg abzuholen. Auf diese Weise konnten die Schwestern vier Patienten vor dem Abtransport und der damit verbundenen Ermordung in Hartheim retten.655

Beim zweiten Transport aus der Landessiechenanstalt Kindberg freute sich keiner der hierfür ausgewählten Patienten mehr. Vielmehr kam es zu dramatischen Szenen in der Anstalt. Die Pfleglinge versuchten sich dem Abtransport zu entziehen und flehten um ihr Leben. Weigerten sie sich, sich dem Transport anzuschließen, wurden sie unter Anwendung von Gewalt eingereiht. Um für eine Entspannung der Lage zu sorgen bzw. um die Patienten zu beruhigen, mussten die Schwestern den Transport von der Anstalt zum Kindberger Bahnhof begleiten.656

Es ist davon auszugehen, dass die Patienten zunächst mit einem Bus zum Bahnhof gebracht und anschließend mit der Bahn weitertransportiert wurden.

Das weitere Vorgehen schilderte Schwester Christa wie folgt: „Am Bahnhofe in Kindberg kamen die Pfleglinge in einen Viehwaggon, in welchen gewöhnliche Bänke als Sitzgelegenheit aufgestellt waren.“657

650 Vgl. ebd. 651 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 652 HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 94. 653 Vgl. ebd. 654 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 655 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 93-94. 656 Vgl. ebd., 94. 657 Ebd. 110

Insgesamt wurden im Rahmen der Aktion „T4“ aus der Landessiechenanstalt Kindberg 138 Alte und Pflegebedürftige nach Hartheim transportiert und dort ermordet. Hinzuzufügen ist, dass es beim zweiten Transport aus Kindberg zu einer Rücküberstellung eines Patienten kam, an der auch der „Feldhof“ beteiligt war. So wurde ein älterer pflegebedürftiger Mann in die Steiermark zurücktransferiert. Am 6. März 1941 wurde der Mann „nach der am 26.2.1941 erfolgten Überstellung v. der Siechenanst. Kindberg in die Gauanstalt in Niedernhart-Linz“658 in die Anstalt am „Feldhof“ aufgenommen. Von dort wurde er mit der Diagnose „gebessert“ entlassen und überlebte.659 Warum dieser ältere Mann ausgerechnet in den „Feldhof“ und nicht in die Landessiechenanstalt Kindberg, von wo aus er abtransportiert worden war, „rücktransferiert wurde, lässt sich nicht eruieren.

5.4.2 Exkurs: Der Massenmord in Hartheim

Die Ermordung der Patienten in der Vernichtungsanstalt Hartheim verlief systematisch und folgte einem bestimmten Schema.

Zunächst wurden die Opfer mit Omnibussen durch das Tor des Wirtschaftstrakts vor den Schlosshaupteingang gebracht. Kurz nach Inbetriebnahme der Vernichtungsanstalt wurden die mit einem Fassungsvermögen von 30 Plätzen zu kleinen Busse durch größere ersetzt. Die neuen Busse waren jedoch so groß, dass die Toreinfahrt nicht mehr passierbar war. Deshalb errichtete man an der Westseite des Schlosses einen Holzschuppen, der zur Unterbringung der Fahrzeuge diente. Der Seiteneingang auf der Westseite des Schlosses wurde bewusst gewählt, da er weniger gut einsehbar war und so der Belegschaft bei der „Entladung“ der Patienten das Blickfeld genommen wurde. Die Fenster der „Euthanasieräume“ wurden zudem mit Brettern versehen, um die Geheimhaltung der Vorgänge innerhalb dieser Räume zu wahren.660

Vom westlich gelegenen Seiteneingang wurden die Patienten in den Nordflügel des Schlosses geführt, wo sich der Entkleidungsraum befand. Dort mussten sie neben ihrer Kleidung alle ihre Besitztümer dem Pflegepersonal übergeben. Danach wurden die nackten Patienten in den Aufnahmeraum, der sich im Erdgeschoss an der Nordseite des Schlosses befand, gebracht, wo sie zunächst Dr. Lonauer und Dr. Renno vorgeführt und anschließend von ihnen begutachtet wurden. Anhand der mit dem Transport mitgeschickten Krankenakten überprüften die beiden Ärzte die Identität der Patienten und fällten eine Entscheidung darüber, ob es sich beim

658 STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 659 Vgl. ebd. 660 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 80. 111 jeweiligen Patienten um einen besonderen medizinischen Fall handelte und ob dessen Gehirn oder andere „außergewöhnliche“ Organe für die Wissenschaft erhalten und präpariert werden sollten. War dies der Fall, so wurde der Patient ebenso markiert wie jene, die Goldzähne hatten.661

Nach diesem Martyrium wurden die für die Forschung relevanten Opfer in einer im Erker des Schlosses befindlichen Fotozelle662 fotografiert. Danach wurden sie wieder in den Aufnahmeraum gebracht und von dort durch eine Stahltür663 in die als Duschräume getarnten ca. 25 m² großen Gaskammern geführt.664 Dort wurden für gewöhnlich 30-60 Menschen zugleich durch Kohlenmonoxid ermordet. Die Betätigung des Gashahns oblag laut Vorschrift der Zentrale nur den Ärzten, jedoch wurde diese Aufgabe oftmals den Heizern bzw. Brennern übertragen. Das Gas wurde für 10-15 Minuten in die Kammer geleitet, dann waren die Opfer tot. Etwa eine Stunde nach der Vergasung wurde der Raum durch die Heizer entlüftet.665 Ebenso war es die Aufgabe der Heizer, die Toten in den Krematoriumsraum zu schaffen und den markierten Leichen die Goldzähne auszubrechen.666 Die für die Wissenschaft vorgesehenen Opfer wurden in einen Obduktionsraum, der sich im Westflügel des Schlosses befand, gebracht, wo ihnen Organe oder das Gehirn entnommen wurden. Wer die Abnehmer der Präparate waren, ist unbekannt.667 Die Leichen wurden in dem eigens dafür errichteten Krematorium verbrannt,668 der Ofen war ständig in Betrieb.669 Nach der Verbrennung der Leichen wurden die übriggebliebenen Knochenteile mit einer Knochenmühle zu Pulver zermahlen.670 Ein Teil der Asche wurde in Urnen gefüllt, die restliche Asche zunächst in Säcke gepackt und in die Donau geschüttet. Um keinen Verdacht in der Bevölkerung aufkommen zu lassen, entschied man sich zu einem späteren Zeitpunkt dafür, die Asche im hauseigenen Schlossgarten zu vergraben.671

Zwischen Mai 1940 und August 1941 wurden in der Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim insgesamt 18.269 psychisch und physisch kranke Menschen, die vorwiegend aus österreichischen Anstalten kamen, ermordet, darunter über 1.400 Opfer aus den steirischen

661 Vgl. ebd., 81-82. 662 Vgl. ebd., 82. 663 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 143. 664 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 83. 665 Vgl. ebd., 83-84. 666 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 146. 667 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 84. 668 Vgl. ebd., 85. 669 Vgl. KLEE, „Euthanasie“ im Dritten Reich, 2018, 147. 670 Vgl. ebd., 146. 671 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 85. 112

Heil- und Pflegeanstalten.672 Nach dem Stopp der Aktion „T4“ wurde die Vernichtungsanstalt Hartheim nicht geschlossen673, sondern war bis Ende 1944 in Betrieb,674 als im Rahmen der „Aktion 14f13“675 und durch die im Frühsommer 1944 beginnende „Ausmerze“ arbeitsunfähiger Ostarbeiter676 weitere tausende Menschen ermordet wurden. Die Gesamtzahl der in Hartheim ermordeten Menschen beläuft sich auf rund 30.000.677

5.5 Weitere „Euthanasiemaßnahmen“ in den steiermärkischen Heil- und Pflegeanstalten

Mit dem Stopp der Aktion „T4“ und der damit verbundenen Transporte aus den steirischen Heil- und Pflegeanstalten war das NS-„Euthanasie“-Vernichtungsprogramm noch nicht beendet.

In der Steiermark wurden nach dem 24. August 1941 (Stopp der Aktion „T4“) weitere „Euthanasiemaßnahmen“ gesetzt, die wiederum verstärkt den Grazer „Feldhof“ betrafen, insbesondere dessen Kinderfachabteilung.678 Die Quellenlage bzw. Materialbasis zur Kinderfachabteilung am „Feldhof“ ist jedoch sehr lückenhaft,679 da gegen Kriegsende 1945, wie in vielen anderen Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches, belastende Unterlagen zum größten Teil vernichtet wurden.680 Eine exakte Datierung der Errichtung der Kinderfachabteilung (KFA) am Grazer „Feldhof“ ist mit dem vorhandenen Quellenmaterial nicht möglich,681 doch geht Oelschläger anhand von Einweisungsdaten der am „Feldhof“ zu Tode gekommenen Minderjährigen682 und eines Schreibens vom 14. Juni 1941 des Reichsministeriums des Innern an den Gauleiter und Reichsstatthalter der Steiermark, Sigfried Uiberreither, das einen Besuch Viktor Bracks in der Steiermark – mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden bei diesem Besuch erste Gespräche über die Errichtung einer KFA in der Steiermark geführt – ankündigt, davon aus,683 dass die Eröffnung der KFA in der

672 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 96. 673 Vgl. KEPPLINGER, Tötungsanstalt Hartheim, 2008, 100. 674 Vgl. ebd., 111. 675 Vgl. ebd., 100. 676 Vgl. ebd. 677 Vgl. http://www.schloss-hartheim.at/index.php/historischer-ort/toetungsanstalt-hartheim-1940-1944 [zuletzt aufgerufen: 10.4.2021]. 678 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 422. 679 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 100. 680 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 127. 681 Vgl. ebd. 682 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1039. 683 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 127. 113 zweiten Jahreshälfte 1941 erfolgte.684 Da sich jedoch der Anstieg der Todesfälle 1942 nicht allein auf das „Reichsausschuß-Verfahren“,685 sondern auch auf gezielte Einzeltötungen von Minderjährigen, Unterversorgung und Nahrungsentzug zurückführen lässt, gibt Oelschläger in einer späteren Arbeit an, dass die Errichtung der Grazer KFA zumindest vor Januar 1943 stattgefunden haben muss.686

Wie dramatisch die Versorgungssituation am Grazer „Feldhof“ nach dem Herbst 1941 war, belegt ein Brief von Direktor Dr. Oskar Begusch vom 9. Februar 1942. Demnach mussten die Patienten auf dem Boden auf Strohsäcken schlafen, da durch die Auflösung der Anstalten Neu-Cilli und Maria Lankowitz und den Stopp der Transporte nach Hartheim ein immenser Platzmangel am „Feldhof“ herrschte, war doch, wie Beguschs Brief zu entnehmen ist, die gesamte Bettenplanung auf die Fortsetzung der Transporte ausgelegt.687

Die Basis der KFA am „Feldhof“ bildete die bereits im Zuge der „T4“-Transporte erläuterte Überstellung der Kinder des Pius-Instituts Bruck an der Mur im Sommer 1940 in den „Feldhof“.688 Die Auflösung und Unterbringung der Pius-Zöglinge am „Feldhof“ werden auch von den Aufzeichnungen Arlts bestätigt.689 Dadurch wurden die zunächst kleine KFA erweitert und in der Zweiganstalt Kainbach bzw. nach deren Auflösung 1942 im Schloss Pertlstein sowohl eine Schulabteilung als auch ein Kindergarten eingerichtet. Nach Pertlstein kamen jedoch nur bildungsfähige Minderjährige, die bildungsunfähigen blieben im D-Trakt am „Feldhof“.690 Die nur kurze Zeit später erfolgte Errichtung eines Reservelazaretts im D- Trakt führte zu einer Aufteilung der Kinder. Sie wurden nun in den Männer- (Station B) und Frauenabteilungen (Station C) untergebracht, wobei die Kleinkinder unter 6 Jahre, egal ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, in die Frauenabteilung und die Älteren geschlechtsabhängig in die Männerabteilung verlegt wurden. Demnach war die KFA am „Feldhof“ keine in sich geschlossene Abteilung. Zu diesen Abteilungen kam die Filiale Messendorf hinzu. Zur Überprüfung der Bildungs- bzw. Arbeitsfähigkeit wurden die Kinder

684 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1039. 685 Unter dem „Reichsausschuß-Verfahren“ versteht man die Erfassung von Kindern, die das Meldeverfahren dieses Ausschusses durchliefen. Wurden sie im Meldebogen mit einem „+“ bewertet, kamen sie in eine Kinderfachabteilung und wurden als „Reichsausschuß-Kinder“ bezeichnet. Vgl. dazu das Kapitel 4.3 „Kinder als erste Opfer – Die Umsetzung der „Kindereuthanasie“ in der vorliegenden Arbeit. 686 Vgl. ebd., 114. 687 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 100-101. 688 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 424. 689 Vgl. ARLT, 45, StLA. 690 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1039. 114 und Jugendlichen sowohl nach Messendorf, wo die Anstaltsinsassen landwirtschaftliche Tätigkeiten verrichten mussten, als auch in den „Feldhof“ überstellt.691

Die Kinder und Jugendlichen wurden durch die verschiedensten Abteilungen des „Feldhofs“ geschickt. Diese Rundreise,692 wie Oelschläger die Verlegungen der Minderjährigen bezeichnet, begann in der Zentralanstalt „Feldhof“, führte über die Schulabteilungen in Kainbach oder Pertlstein zur Arbeitsüberprüfung in Messendorf und endete bei Versagen der Kinder und Jugendlichen wieder am „Feldhof“. Dort kamen sie binnen weniger Tage oder Wochen zu Tode.693

1942 war ein signifikanter Anstieg der Todesfälle von Minderjährigen am „Feldhof“ zu verzeichnen, der bis Kriegsende anhielt.694 Zwar verteilten sich die Todesfälle über den gesamten „Feldhof“, doch häuften sich jene nach Oelschläger besonders auf Station C, Station C9, wo ältere weibliche Kinder und Jugendliche untergebracht waren, und auf der Station B für männliche Minderjährige.695 Das für diese Stationen verantwortliche Ärztepersonal setzte sich aus Dr. Peter Korp und seiner Assistentin Josefine Hermann, Dr. Hans Machan, Dr. Hans Mayr und Dr. Ernst Sorger zusammen.696 Auf die Aufgaben, Charakterisierung und Beteiligung am Vernichtungsprogramm der NS-„Euthanasie“ dieser und weiterer Ärzte bzw. des Pflegepersonals in den steiermärkischen Heil- und Pflegeanstalten wird im Verlauf dieser Arbeit noch explizit eingegangen.

Anhand der von Oelschläger eingesehenen Krankengeschichten der in Graz verstorbenen Kinder und Jugendlichen, die er dem Rapportbuch des „Feldhofs“ entnommen hat, führt er an, dass bei 193 Opfern Schwachsinn (Idiotie) unterschiedlichen Grades diagnostiziert wurde. Bei 55 Minderjährigen wurde in die Krankenakte Epilepsie eingetragen. 77 wiesen Kombinationen von Stummheit, Taubheit und Blindheit und 40 Lähmungen aller Art auf. Insgesamt starben 1938-1945 272697 Minderjährige am Grazer „Feldhof“ und in seinen Filialen.698 Welche Minderjährigen durch Medikation, Unterversorgung,

691 Vgl. ebd., 1039. 692 OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 130. 693 Vgl. ebd., 130-131. 694 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 424. 695 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1039. 696 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 39-43. 697 Ebd. 111. 698 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1040 115

Nahrungsmittelentzug oder eines natürlichen Todes starben, ist nicht belegbar.699 Ebenso lässt sich aufgrund der vorhandenen Quellen nur bedingt nachweisen, welche der verstorbenen Kinder und Jugendlichen „Reichsausschuß-Kinder“ waren und welche Minderjährigen „euthanasiert“ wurden.700 Lediglich 19 Minderjährige lassen sich durch ihre erhaltenen Krankengeschichten als „Reichsausschuß-Kinder“ identifizieren, die bis Mai 1945 am „Feldhof“ zu Tode kamen.701

Ein Drittel der verstorbenen Minderjährigen stammte aus der Untersteiermark, die im Zuge des Balkan-Feldzugs 1941 der deutschen Zivilverwaltung unterstellt wurde. Die 1942 in den „Feldhof“ verlegten untersteirischen Minderjährigen gehörten mehrheitlich nicht der deutschen Minderheit der Untersteiermark an. Nach Oelschläger lässt sich anhand der Eintragungen in den Krankenblättern dieser Patienten eine besondere Tendenz zur „Euthanasie“ beim Personal des „Feldhofs“ – besonders bei Fällen mit schwerer Behinderung – zumindest erahnen und aus den erhaltenen Krankenakten herauslesen.702

Jene Kinder und Jugendlichen, die durch die Bildungs- bzw. Arbeitsüberprüfung der „Feldhofer“ KFA und ihrer zugehörigen Kinderabteilungen in den Filialen der Zentralanstalt fielen, erwartete zum einen der Tod durch systematische Unterversorgung in Form von Nahrungsentzug und unterlassenen pflegerischen Maßnahmen703, zum anderen verweisen Zeitzeugenberichte darauf, dass eine große Zahl der am „Feldhof“ zu Tode gekommenen Minderjährigen durch toxische Dosen von Evipan704 oder in Einzelfällen durch umfangreiche Abgaben von Luminal getötet wurden.705 Auch Arlt nimmt in seinem Nachlass dazu Stellung und berichtet von diversen Vorfällen, bei denen vieles dafür spricht, dass Minderjährigen toxische Dosen Evipan verabreicht wurden.706

So berichtet er von einem Fall, der sich am 7. November 1944 ereignete. Demnach wurde eine 12jährige Patientin, bei der „Schwachsinn“ diagnostiziert worden war, in einem körperlich gesunden Zustand in die Direktionskanzlei des „Feldhofs“ gebracht. Nur kurze Zeit später fiel sie ins Koma und starb schließlich am 9. November 1944. Arlt zeigte sich

699 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 112. 700 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1040. 701 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 120. 702 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 129. 703 Vgl. ebd., 131. 704 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1040. 705 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 131. 706 Vgl. ARLT, 216, StLA. 116 verwundert über den plötzlichen Tod der Patientin und schien ihn sich nicht erklären zu können.707 In Ausnahmefällen überlebten Minderjährige die Verabreichung toxischer Dosen, wie Arlt in seinen Aufzeichnungen angibt. Beispielsweise die 17- und 11jährigen Mädchen Maria W. und Katharina B., denen 1944 in der Direktionskanzlei Evipan verabreicht wurde. Anscheinend war jedoch die Dosis zu gering und die Mädchen konnten sich nach einem mehrtägigen schläfrigen Zustand in Form einer Bewusstseinsstörung (Somnolenz) wieder erholen.708 Was den Ablauf dieser „Behandlungen“ betrifft, ist Arlts Aufzeichnungen zu entnehmen, dass diese stets einem bestimmten Schema folgten. Morgens um 7.30 Uhr bekam die jeweils diensthabende Pflegerin den Auftrag, die Minderjährigen in die Direktionskanzlei zu führen, die sie danach sofort wieder verlassen musste. Kurze Zeit später wurde sie angewiesen, das Kind oder den Jugendlichen wieder auf seine Abteilung zu geleiten.709 Was in dieser kurzen Zeit in der Direktionskanzlei mit den Minderjährigen geschah, liegt nach den von Arlt geschilderten Ereignissen auf der Hand. In Verbindung mit diesen „Behandlungen“ sind drei Personen zu nennen: Dr. Ernst Sorger, der Oberpfleger des „Feldhofs“ Adolf Jaluschka und der Kanzleiangestellte Ruschitzka. Auf die genannten Personen und ihre Beteiligung an der Verabreichung toxischer Mittel in Form von Injektionen an Minderjährige geht das folgende Kapitel ein.

Ob es in der KFA am „Feldhof“ medizinische Forschungen an Minderjährigen gegeben hat, lässt sich nicht belegen. Es wurde jedoch mit Blut von Fleckfieberkranken an Minderjährigen experimentiert.710 Arlt erwähnte in diesem Zusammenhang Gerüchte über eine „neue Kur“, die an einem Kind, das einen vom Gehirn ausgehenden Krampfzustand erlitt, erprobt wurde. Dieses Faktum wurde Arlt von einem weiteren „Feldhof“-Arzt, Dr. Tomaschitz, erst am 18. Mai 1945 bestätigt, da dieser die Weisung Dr. Sorgers erhalten hatte, über diese Versuche Stillschweigen zu bewahren. Die Experimente begannen mit dem Eintritt von Dr. C. (Arlt nennt nicht den vollständigen Namen dieses Arztes), der seinen Dienst zuvor auf der Stolzalpe verrichtet hatte und im Frühjahr 1943 seinen Dienst am „Feldhof“ antrat, und endeten nach Arlts Angaben im April 1943, als der ehemalige Oberarzt der Stolzalpe wegen Rauschgiftsucht in die geschlossene Abteilung der Grazer Nervenklinik gebracht wurde.711 Es ist davon auszugehen, dass es am „Feldhof“ auch zu gezielten Einzeltötungen von

707 Vgl. ebd., 192-193. 708 Vgl. ebd., 198. 709 Vgl. ebd., 214. 710 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1040. 711 Vgl. ARLT, 150-151, StLA. 117

Erwachsenen in Form der dezentralen Anstalts-„Euthanasie“ gekommen ist.712 Dies lässt sich anhand einer Stellungnahme der ehemaligen Schwester des „Feldhofs“, Josefine Walter, die sie in einem Interview gegenüber Peter Nausner für seinen Film „Unwertes Leben“ getätigt hat, zumindest vermuten.713 Demnach wurde sowohl Kindern als auch Erwachsenen dreimal täglich ein Mittel in Tropfenform verabreicht. Wer für die Verabreichung des Mittels verantwortlich war, gab Schwester Walter nicht bekannt. Es muss sich jedoch um einen männlichen Bediensteten des „Feldhofs“ gehandelt haben, da sie von einem „er“714 spricht. Des Weiteren berichtet sie davon, dass die Patienten nach der Einnahme des Mittels immer schwächer wurden, keine Nahrung mehr zu sich nehmen konnten und kurze Zeit später verstarben. Für die Einzeltötungen von Erwachsenen spricht die Tatsache, dass Schwester Walter in Bezug auf die Verabreichung des Mittels davon berichtet, dass „auch die Kinder“715, vor allem jene auf der Station C2, diese Tropfen erhalten haben. Mit „auch die Kinder“ nimmt sie augenscheinlich Bezug auf Erwachsene.716

Aus einem Interview, das Oelschläger 1996 mit dem ehemaligen Oberpfleger des „Feldhofs“ Karl Menzinger – Menzinger erlebte die Zeit des Nationalsozialismus nur als Kind, wusste aber über die „Euthanasie“-Vorgänge am „Feldhof“ Bescheid, da seine Geschwister zu dieser Zeit Angestellte der Anstalt waren717 – geführt hat, geht außerdem hervor, dass durch unterlassene pflegerische Maßnahmen und beabsichtigte „Euthanasiemaßnahmen“ eines bestimmten Pflegers – auch hier wird kein Name genannt – Patienten im „Tobtrakt“ (B2), der sich in der Männerabteilung befand, zu Tode kamen. So steckte dieser Pfleger nach Menzingers Aussagen Patienten in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser, wenn sich diese „beschmutzt“ hatten, öffnete anschließend das Fenster, versperrte das Bad, ging weg und ließ sie allein zurück. Die Patienten holten sich eine Lungenentzündung, die schließlich zum Tod führte.718 Nach Menzingers Angaben handelte es sich bei diesem Pfleger um einen ehemaligen Stuka-Piloten, der aufgrund einer im Krieg erlittenen Kopfverletzung als Pfleger am „Feldhof“ eingesetzt war, ohne jemals eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert zu haben. Laut Menzinger handelte es sich bei den Taten des Pflegers um seine persönliche

712 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 103. 713 Vgl. ebd., 103, Fußnote 165. 714 OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 103. 715 Ebd. 716 Vgl. ebd. 717 Vgl. ebd., 181. 718 Vgl. ebd., 104-105. 118

Verhaltensweise, keineswegs um die Methode der Anstalt im Umgang mit Patienten.719 Er verweist jedoch auch darauf, dass die Todesrate nach dem Stopp der Transporte am „Feldhof“ anstieg. Dies zum einen durch die Unterversorgung „lebensunwerter“ Patienten, zum anderen auch durch „natürliche Todesfälle“, die sich beispielsweise durch bakterielle Krankheiten wie Grippe ergaben.720 Wie viele Erwachsene den weiteren „Euthanasiemaßnahmen“ am „Feldhof“ und seinen Filialen zum Opfer fielen, ist nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es neben „natürlichen“ auch Todesfälle durch Unterversorgung, Hungersnot und gezielte Einzeltötungen nach dem August 1941 gab.721

Eine weitere nationalsozialistische Schreckenstat, die in Verbindung mit der dezentralen Anstalts-„Euthanasie“ steht, ereignete sich kurz vor Kriegsende in der „Feldhof“-Filiale Kainbach.722 Obwohl die Anstalt Kainbach am 29. Mai 1942 durch die Verlegung der Schulabteilung zusammen mit 50 volljährigen Arbeitspfleglingen nach Pertlstein aufgelöst worden war, fungierte sie ab 31. Mai 1942 als Lehrerbildungsanstalt.723 Da sich gegen Ende des Krieges die Bombenangriffe auf Graz immer mehr häuften, beschloss man Kainbach als Ausweichstelle für das Grazer Gaukrankenhaus zu nutzen. Fortan verfügte man in Kainbach über eine medizinische und chirurgische Station. Zudem gab es eine Abteilung des „Feldhofs“ mit „49-50 männlichen Geisteskranken“724, die rund um das Anstaltsgelände von Kainbach landwirtschaftliche Tätigkeiten verrichten mussten.725

Am 1. April 1945 wurden im Umland von Kainbach erstmals Gerüchte laut, dass es der Roten Armee gelungen war, die deutschen Linien bei Feldbach zu durchbrechen. Daraufhin ordnete die Direktion des Gaukrankenhauses Graz die sofortige Evakuierung der chirurgischen Abteilung mit 150 Betten von Kainbach in das Grazer Gaukrankenhaus an, um vor allem das Personal, das vorwiegend aus geistlichen Schwestern bestand, vor sexuellen Übergriffen durch die Russen zu schützen. Ein solches Bedrohungsszenario wurde vor allem gegen Ende des Krieges immer wieder von der nationalsozialistischen Propaganda eingesetzt, um die letzten Reserven im Kampf gegen die Sowjetarmee zu mobilisieren. Der Schutz durch die Evakuierung galt jedoch nur den Schwestern und drei in Kainbach tätigen Ärztinnen. Die „49- 50 Geisteskranken“ wurden nicht evakuiert und mussten in der Anstalt bleiben. Geleitet

719 Vgl. ebd., 191-192. 720 Vgl. ebd., 186. 721 Vgl. ebd., 105. 722 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 425. 723 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 31. 724 STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 426. 725 Vgl. ebd., 424-425. 119 wurde die Aussiedlung der Patienten von der in Kainbach tätigen Chirurgin Dr. Gertrude Tropper, einer fanatischen Nationalsozialistin. Tropper ging davon aus, dass die Russen nachts am 2. April 1945 die Anstalt erreichen würden.726 Die von ihr wahrgenommene Bedrohung trieb sie zu einer schier unglaublichen Gräueltat.

Um die Evakuierung so schnell wie möglich abzuwickeln und den ihr verhassten Russen zu entkommen, injizierte sie 14 – angeblich bereits dem Tode geweihten Patienten – eine Substanz, die so dosiert war, dass bei den meisten Patienten der Tod sofort und bei einigen wenigen kurze Zeit später eintrat. Nur eine Patientin überlebte diese Injektion, da sie nach Stromberger an die verabreichte Substanz gewöhnt war.727 Es ist also davon auszugehen, dass den Patienten in Kainbach öfters diverse Substanzen gespritzt wurden.

Die Evakuierung war am Abend des 1. April 1945 abgeschlossen. Von Graz aus gab Tropper dann noch den Befehl, die Leichen aus den Krankensälen in die Totenkammer zu schaffen und anschließend ein Massengrab auszuheben, in dem die 13 Toten verscharrt wurden. Diese Aufgaben mussten die in Kainbach zurückgelassenen „Geisteskranken“ verrichten.728

In der Zentralanstalt am „Feldhof“ verschlechterte sich die Versorgungslage der Patienten gegen Ende des Krieges dramatisch. So berichtete Arlt am 28. Februar 1945:

„Die Sterblichkeit unter den Kranken nimmt in erschreckendem Maße zu. Besonders ältere Frauen u. Greisinnen erkranken in den nicht heizbaren, kalten Räumen. Dazu kommen noch die zunehmenden Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung mit der dadurch hervorgerufenen Unterernährung. Auch die Erhaltung der Reinlichkeit wird durch Wegfall des warmen Wassers u. der Bäder sehr erschwert. Es steht lediglich kaltes Wasser in ungenügender Menge zur Verfügung. Desgleichen fehlt es an Seife und wirksamen Medikamenten.“729

Anfang April 1945 überstürzten sich die Ereignisse am „Feldhof“. Aus Angst vor der Sowjetarmee boykottierten viele Pflegekräfte ihren Dienst und verließen die Anstalt. Man begann die Filiale Pertlstein zu räumen und die dortige Schulabteilung in den „Feldhof“ zu überstellen. Am 9. April traf ein erster Teil der Kinder aus Pertlstein – Arlt nennt 54 Kinder aus der Filiale Pertlstein730 – am „Feldhof“ ein. Diese wurden im D-Komplex der Anstalt untergebracht, nachdem das Res. Laz. IV am 5. April aufgelöst worden war.731

726 Vgl. ebd., 426. 727 Vgl. ebd., 427. 728 Vgl. ebd. 729 ARLT, 209, StLA. 730 Vgl. ebd., 253. 731 Vgl. ebd., 250. 120

Wann der Rest der Pertlsteiner Kinder in den „Felhof“ kam, lässt sich nicht genau feststellen. Aus einem im Zuge von Oelschlägers Recherchen durchgeführten Interview mit Schwester Eleonore, die bei Kriegsende in Pertlstein tätig war, lässt sich jedoch deren beschwerlicher und grausamer Weg nach Graz in den „Feldhof“ nachzeichnen. Nach ihren Angaben wurde Pertlstein Ende April 1945 von den Russen besetzt und man entschied sich zur Flucht aus der Anstalt. Dabei wurden ein erst 13-jähriger Patient erschossen und eine Schwester verwundet. Im Zuge der Flucht trafen sie auf deutsche Soldaten mit Jeeps und Lastwagen, die sich jedoch weigerten, die „nicht lebenswerten“732 Kinder mitzunehmen. Eine Woche lang irrten die Schwestern mit den Kindern durch die Wälder, bis sie dann doch von Soldaten in kleinen Gruppen mitgenommen und im „Feldhof“ untergebracht wurden.733 Im Zuge eines Krankentransports aus dem „Feldhof“ in die Filiale Schwanberg erfuhr Arlt vom begleitenden Pflegepersonal, dass sich der Verpflegungszustand der Schwanberger Patienten rapide verschlechtert hatte und es dadurch zu gehäuften Todesfällen kam. Interessant ist, dass Arlt bei diesem Eintrag in seinem Tagebuch vom 27. April 1945 praktisch in einem Atemzug von den steigenden Todesfällen in Schwanberg berichtet und zugleich darauf verweist, dass diese Filiale verwaltungstechnisch nicht dem „Feldhof“ unterstand, sondern man lediglich die ärztliche Oberaufsicht über Schwanberg innehatte. Es wirkt, als würde Arlt die Verantwortung für die steigenden Todeszahlen in der Anstalt Schwanberg dem dort tätigen Ärzte- und Pflegepersonal zuschieben.734

Auch nach Kriegsende war die Zahl der Todesfälle am „Feldhof“ durch die schlechte Versorgungslage hoch.735 Dazu äußerte sich Dr. Ernst Arlt am 8. September 1945 in seinem Tagebuch: „Es beginnt an Medikamenten zu mangeln. Die Ernährungslage ist bedrohlich. Wir erhalten nunmehr für die Kranken pro Kopf für eine Woche ½ kg Kartoffel! Ich sehe eine große Not u. ein großes Sterben voraus.“736 Es ist von 297 Patienten auszugehen, die zwischen Mai und Ende Dezember 1945 in der Zentralanstalt am „Feldhof“ starben,737 die meisten davon wohl durch Hunger, Vernachlässigung und mangelnde Medikamentenversorgung. Eine andere Patientengruppe fiel einer weiteren „Euthanasiemaßnahme“ zum Opfer. Die Rede ist von den ab Herbst 1944 im „Feldhof“

732 OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 202. 733 Vgl. ebd., 202-203. 734 Vgl. ARLT, 266, StLA. 735 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 146. 736 ARLT, 338, StLA. 737 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 146. 121 internierten738 „psychisch kranken polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern“, wobei im Lauf der Zeit terminologisch zwischen Polen und „Ostarbeitern“ differenziert wurde. So wurden als Ostarbeiter die Zwangsarbeiter aus den besetzten sowjetischen Gebieten bezeichnet.739 Wie viele „psychisch kranke“ Zwangsarbeiter am „Feldhof“ aufgenommen wurden, ist unklar, da in den Aufnahmebüchern des „Feldhofs“ aus dem Jahr 1944 Seiten entfernt wurden.740 Ein Runderlass des Reichsministeriums des Innern legte fest, dass diese Gruppe von Patienten in eine der elf im Reichsgebiet gelegenen Sammelstellen zu transportieren sei. Dabei fungierte die Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling als Sammelstelle für die „Alpen- und Donaugaue“.741 In einem ersten Transport am 29. September 1944 gingen 24 polnische und sowjetische Zwangsarbeiter vom „Feldhof“ dorthin ab. Am 1. November folgten drei weitere Patienten,742 deren ärztliche Begleitung Dr. Arlt übernahm.743 Ob und wie viele der 24 „psychisch kranken“ Zwangsarbeiter von Mauer-Öhling in die Vernichtungsanstalt Hartheim weitertransferiert wurden, wird noch untersucht.744 Belegt ist jedoch der Tod von sechs Zwangsarbeitern in Mauer-Öhling, die mit den beiden genannten Transporten aus dem „Feldhof“ dorthin gebracht wurden. Ob diese Patienten eines natürlichen Todes starben oder getötet wurden, lässt sich heute nicht mehr ermitteln.745

Gegen Kriegsende wurde am „Feldhof“ damit begonnen, belastendes Material in Form von schriftlichen Unterlagen und Aufzeichnungen zu vernichten.746 Am 31. März 1945 notierte Arlt in seinem Tagebuch, dass ein gewisses Fräulein Markum (möglicherweise eine Kanzleiangestellte) von der Direktion damit beauftragt wurde, belastendes Material aus der Direktionskanzlei auszusieben.747 Dass sich die Vernichtung der Unterlagen über mehrere Tage hinweg erstreckte, zeigt ein weiterer Eintrag Arlts vom 3. April 1945, in dem es heißt: „Frl. Markum ist noch immer mit der Sichtung der zur Vernichtung zu bestimmenden Schriften u. Dokumente beschäftigt.“748 Er erwähnte aber auch, dass einige Dokumente vor

738 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 425. 739 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 132. 740 Vgl. ebd., 136. 741 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 425. 742 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 137. 743 Vgl. ARLT, 190, StLA. 744 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 425. 745 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 138. 746 Vgl. ebd., 141. 747 Vgl. ARLT, 224, StLA. 748 Ebd., 231. 122 der Zerstörung bewahrt werden konnten.749 Dabei handelt es sich um Dokumente, die den Schriftwechsel zwischen Dr. Begusch und Dr. Lonauer, aber auch zwischen Dr. Begusch und Dr. Heyde, der bis Ende 1941 der ärztliche Leiter der „T4“-Zentrale war, belegen. Arlt konnte von zehn Originalschreiben Abschriften anfertigen, die sich thematisch vor allem auf die Aktion „T4“ beziehen und vom 8. August 1940 bis zum 14. Oktober 1941 datieren. Wie es Arlt gelang, diese zur Vernichtung bestimmten Dokumente abzuschreiben, bleibt ein Rätsel.750

Es sind dies exakt jene Schreiben, die Oskar Begusch als treibende Kraft bei den „T4“- Transporten in die Vernichtungsanstalt Hartheim darstellen. An dieser Stelle muss jedoch explizit darauf hingewiesen werden, dass Begusch nicht allein für die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen in der Steiermark verantwortlich gemacht werden kann, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird.

6 Ärzte und Pfleger als Erfüllungsgehilfen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms in der Steiermark

Das folgende Kapitel versucht, eine biografische Darstellung jener Ärzte und Pfleger zu geben, die sich laut Anklageschriften, Zeugenaussagen und diverser Schriftwechsel der Beteiligung an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen in der Steiermark schuldig gemacht haben. Zudem soll rekonstruiert werden, inwiefern sie an den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes in Bezug auf die „Euthanasie“ beteiligt und dafür verantwortlich waren.

6.1 Die Ärzte

Dr. Oskar Begusch:

Er wurde am 21.1.1897 in Marburg an der Drau (Maribor) geboren. Begusch promovierte am 21.4.1921 zum Dr. med. an der Universität Graz. 1921-1928 absolvierte er seine medizinische Ausbildung an der Grazer Universitäts-Nervenklinik und eröffnete am 1.11.1928 eine

749 Vgl. ebd. 750 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 142. 123

Privatpraxis als Facharzt für Nervenkrankheiten in Graz, Morellenfeldgasse 9.751 In einem Schreiben des Gauamtsleiters Dr. Franz Riedl an Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti vom 11. August 1939 wurde Dr. Oskar Begusch als leitender Direktor der Landesirrenanstalt Feldhof/Graz vorgeschlagen752 und am 15.9.1939 zum Direktor der „Landes-Heil-und Pflegeanstalt für Geisteskranke“ „Am Feldhof“ bestellt.753 Er folgte damit Dr. Richard Weeber als Leitender Direktor der Anstalt und Dr. Hans Machan, der nach der Entlassung Weebers am 25. Mai 1938 als kommissarischer Leiter am „Feldhof“ fungiert hatte. Begusch wurde am 1.8.1940 Gaumedizinaldirektor und war ab 2.9.1940 als „T4“-Gutachter tätig.754 Möglicherweise hängt seine Ernennung zum Gutachter für die Aktion „T4“ auch damit zusammen, dass Begusch in Begleitung von Dr. Sorger am 15.8.1940 auf Weisung von Prof. Dr. Heyde an einer Besprechung in der Tiergartenstraße 4 in Berlin teilzunehmen hatte, in der „dringende kriegswichtige Maßnahmen auf dem Gebiete der Heil- und Pflegeanstalten“755 erörtert wurden. In seiner Tätigkeit als Anstaltsdirektor unternahm Begusch zudem weitere Dienstreisen, so am 18. März 1941 in Begleitung Sorgers, als Begusch an einer „eugenischen“ Tagung in Berlin teilnahm, bei der mit hoher Wahrscheinlichkeit auch über die Weiterführung der „T4-Transporte“ gesprochen wurde.756 Eine Reisekostenrechnung gibt zudem Aufschluss darüber, dass Dr. Begusch vom 27.11. bis zum 2.12.1942 eine Dienstreise nach Brandenburg unternommen hat.757 1943 erkrankte Begusch an einem Gallenleiden und wurde in dieser Zeit von seinem Stellvertreter Dr. Hans Machan vertreten. Begusch starb am 11.1.1944758 nach kurzer, schwerer Krankheit.759 Seit 1.7.1933 war er Mitglied der NSDAP und ab 1938 SS- Sturmbannführer.760 Die Todesanzeige bestätigt, dass Begusch Mitglied der SS war und den

751 Vgl. Fragebogen zur erstmaligen Meldung der Bezirksvereinigung Steiermark Ärztekammer Donauland am 12.8.1939, A. Ärztekammer Steiermark, K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 752 Vgl. Schreiben des Gauamtsleiters Dr. Franz Riedl an Pg. Dr. Conti, A. Ärztekammer Steiermark, K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 753 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an das Amt für Volksgesundheit z.H. des Gauärzteführers, A. Ärztekammer Steiermark, K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 754 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 35. 755 Vgl. Abschrift in ARLT, 231-232, StLA. 756 Vgl. ARLT, 121, StLA. 757 Vgl. Schreiben an den Reichsstatthalter in der Steiermark am 15. Jänner 1943, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Oskar Begusch, StLA. 758 Vgl. Meldung an die Reichsärztekammer Abteilung Fürsorge/Versorgung, Wien, A. Ärztekammer Steiermark, K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 759 Todesanzeige Pg. Dr. Oskar Begusch, A. Ärztekammer Steiermark K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 760 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 38. 124

Dienstgrad SS-Sturmbannführer trug. Zudem zeigt sie, dass Begusch im Reserve-Lazarett am „Feldhof“ ärztliche Tätigkeiten ausführte.761

Eine Vorbereitung auf Beguschs spätere Beteiligung an der NS-„Euthanasie“ findet sich bereits in seinen Jugendjahren, die er zum einen im Grazer Studentenfreikorps, in der deutschen Burschenschaft und zum anderen in der Deutschen Studentenschaft verbrachte, wo er als radikaler Antisemit bekannt war.762 Seine radikal nationalistische Einstellung war auch seinen Bediensteten am „Feldhof“ bekannt. So bezeichnete ihn die ehemalige Schwester des „Feldhofs“ Pepi in einem Interview mit Nausner 1982 als „Schwerer“ in Bezug auf seine nationalistische Einstellung.763 Andererseits galt er unter dem Personal als charakterlich einwandfrei und als Leiter der Anstalt „Feldhof“ als seriös und verständnisvoll.764 Seine psychiatrische Universitätsausbildung absolvierte er beim Rassenhygieniker Fritz Hartmann, der seine rassenhygienischen bzw. eugenischen Vorstellungen an Begusch weitergab.765 Begusch gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die Durchführung der „Euthanasie“- Aktion „T4“ in der Steiermark. Dies zeigt allein seine Gutachtertätigkeit im Rahmen der Aktion „T4“, die er von September 1940 bis Juli 1941 ausführte.766 Die Rekrutierung als „T4“-Gutachter lässt sich auf die erwähnte Einladung nach Berlin von Prof. Dr. Werner Heyde zurückführen, wobei Begusch in die Planung und Organisation der „T4“-Aktion eingeweiht wurde.767 Als gesichert gilt, dass Begusch im Oktober 1940 300 Meldebögen aus den Anstalten Regensburg und Kutzenberg begutachtete.768 Diese Meldebögen wurden von Heyde an Begusch versandt.769 In welchem Ausmaß Begusch (und Dr. Ernst Sorger) in seiner Funktion als „T4“-Gutachter selbst Begutachtungen bzw. Selektionen in den steirischen Heil- und Pflegeanstalten vorgenommen hat, ist bis dato ungeklärt.770 Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass er gemeinsam mit Sorger in der Steiermark sogenannte Vor-Ort-Selektionen771 von Patienten, die im Anschluss zur Vergasung nach Hartheim geschickt wurden,

761 Todesanzeige Pg. Dr. Oskar Begusch, A. Ärztekammer Steiermark K. 74, H. 2146: Dr. Oskar Begusch, StLA. 762 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 327. 763 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 177. 764 Vgl. ebd., 161. 765 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 323. 766 Vgl. ebd., 327. 767 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 29. 768 Vgl. ebd., 35. 769 Vgl. ARLT, 245, StLA. 770 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 413. 771 Laut Poier gab es in Österreich neben den offiziell eingesetzten Ärztekommissionen sogenannte „fliegende Kommissionen“, die eigenmächtig, meist ohne Berücksichtigung des vorgesehenen Meldeverfahrens, arbeiteten und besonders in kleineren Anstalten Vor-Ort-Selektionen durchführten. 125 durchgeführt hat.772 Laut dem Zeugenbericht eines ehemaligen Krankenpflegers der Heil- und Pflegeanstalt Neu-Cilli in der Untersteiermark traf in der ersten Maihälfte 1941 eine ärztliche Kommission des „Feldhofs“, bestehend aus Begusch, Sorger und Schwester Linhart, in Neu- Cilli ein. Der ehemalige Pfleger berichtet, dass vor allem Sorger die Begutachtung für den bevorstehenden „T4-Transport“ durchführte. Diese Kommission bestimmte 357 Patienten aus Neu-Cilli für den Abtransport in die Vergasungsanstalt Hartheim. Lediglich 30 Patienten wurden von der „Verlegung“ in die Gaskammer ausgenommen.773 Da auch Begusch dieser Kommission angehörte, ist seine Beteiligung am Tod von über 300 Patienten aus Neu-Cilli nicht von der Hand zu weisen. Dass Dr. Begusch in der Folge weitere Begutachtungen in der Untersteiermark vornahm, bestätigt das damalige Personal der Siechenanstalt Meretinzen. Dort soll Begusch die Untersuchungen allein vorgenommen und letztendlich 28 Patienten aus dieser Anstalt für den Transport nach Hartheim bestimmt haben.774 Ein weiterer Beleg dafür, dass Begusch zwecks Selektion untersteirischer Patienten im Rahmen der Aktion „T4“ in der Untersteiermark war, ist der von Dr. Ernst Arlt getätigte Eintrag in sein Tagebuch vom 12. Juni 1941, in dem er angibt, dass die „Organisatoren“775 aus der Untersteiermark mit dem Ergebnis zurückgekehrt sind, die Anstalt Neu-Cilli aufzulösen.776 Zudem bestätigte Begusch in einem Schreiben an die Reichsstatthalterei, dass nach der Auflösung von Neu-Cilli 300-400 Kranke nach Hartheim gebracht wurden.777 Wie viele Patienten aus der Untersteiermark im Rahmen der Aktion „T4“ in Schloss Hartheim getötet wurden, lässt sich nicht mehr eruieren.778 Dr. Begusch war bei den Abtransporten aus der Untersteiermark federführend, da er an der Selektion der für Hartheim bestimmten Patienten entscheidend beteiligt war bzw. daran mitwirkte.

Des Weiteren kann Dr. Beguschs Gutachtertätigkeit mit dem Abtransport von 76 Patienten aus der Gausiechenanstalt Knittelfeld in Verbindung gebracht werden. Laut Zeugenaussage der damaligen Oberschwester Eleonora Reinthaler besuchten Dr. Begusch und Dr. Sorger im Februar 1941 die Anstalt in Knittelfeld, wobei sie eine Liste mit sich führten, von Zimmer zu Zimmer gingen und mit den Patienten sprachen. Dabei machte sich Begusch immer wieder Notizen und strich einzelne Patienten wieder von der Liste. Kurze Zeit nach der Visite der beiden Ärzte in Knittelfeld kam ein Brief aus Berlin, der eine Liste mit den

772 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 32. 773 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 65-67. 774 Vgl. ebd., 68. 775 ARLT, 130, StLA. 776 Vgl. ebd. 777 Vgl. ebd., 152-153. 778 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 69-70. 126 abzutransportierenden Patienten enthielt. Am 20. Februar 1941 wurden zumindest 76 Patienten – Stromberger geht von 77 Abtransportierten aus –,779 der Großteil davon Minderjährige, nach Hartheim geschickt.780

Dass auch in der Siechenanstalt Kindberg sogenannte Vor-Ort-Selektionen durch Begusch und Sorger stattfanden, zeigt die Zeugenaussage der damaligen Verwaltungssekretärin der Anstalt Kindberg, Maria Bruckner, vom 24.11.1945, die angab, dass Begusch und Sorger im Jänner 1941 nach Kindberg kamen, die Ausfolgung der Katasterblätter der für den Transport nach Hartheim bestimmten Patienten verlangten, sich diese Pfleglinge vorführen ließen und anschließend begutachteten.781 Ferdinand Halla, Oberverwalter der Siechenanstalt Kindberg, gab im Zuge einer Vernehmung im November 1945 an, dass „ein Herr in brauner Parteiuniform“ am Abend des 13. Februar 1941 in Begleitung von drei Frauen in die Anstalt kam und am 14. Februar 1941 ein Transport von 70 Pfleglingen in eine Anstalt nach Linz an der Donau abging.782 Da nur Begusch und Sorger zu diesem Zeitpunkt als „T4“-Gutachter in den Heil- und Pflegeanstalten des Gaus Steiermark tätig waren, muss es sich bei jenem von Halla beschriebenen Herrn um einen der beiden Ärzte gehandelt haben. Am 25. Februar 1941 führten „die Ärzte mit den sie begleitenden Frauen“783 abermals eine Begutachtung von Patienten in Kindberg durch und stellten einen weiteren Transport von 69 Pfleglingen zusammen. Es ist auch hier anzunehmen, dass es sich um die gleiche Ärztekommission, bestehend aus Dr. Begusch und Dr. Sorger, gehandelt hat. Poier spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass im Beisein von Begusch und Sorger insgesamt 140 Patienten von Kindberg nach Hartheim transferiert wurden.784

Ein weiteres Indiz für die Rolle Beguschs als treibende Kraft der Aktion „T4“ ist der Schriftverkehr zwischen ihm und dem Direktor der Vernichtungsanstalt Hartheim, Dr. Lonauer.

Mit einem Schreiben vom 29. August 1941 informierte Lonauer Begusch darüber, dass in den nächsten acht Wochen aus „technischen Gründen“ keine Transporte stattfinden können,

779 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 423. 780 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 90-91. 781 Vgl. Zeugenvernehmung Maria Bruckner vom 24.11.1945, LGS Leoben, Vr 11/46, 34, StLA. 782 LGS Leoben, Vr 11/46: Beschuldigtenvernehmung mit Ferdinand Halla vom 22.11.1945, 85. StLA. 783 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 94. 784 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 32. 127

Lonauer ihn aber sofort verständigen werde, wenn sie wieder aufgenommen werden könnten.785

Am 14. Oktober 1941 richtete Begusch im Hinblick auf den Abtransport von „Feldhof“- Patienten folgende Anfrage an Lonauer:

„Mit Schreiben vom 29.8.1941 haben Sie mir mitgeteilt, daß sie aus technischen Gründen erst in 8 Wochen Kranke von meiner Anstalt übernehmen können. Da ich dringend Platz benötige, bitte ich um Mitteilung ob ich Anfang November mit einem Waggon Männer u. einem Waggon Frauen zur Abgabe rechnen kann. Für die weitere Abgabe hätte ich dann bis Jänner 1942 Zeit.“786

Zum Zeitpunkt dieses Schreibens waren die „T4-Transporte“ nach Hartheim bereits gestoppt, was Begusch anscheinend sehr missfiel, denn er schrieb, dass er trotz der „technischen Probleme“ für Platz in seiner augenscheinlich überbelegten Anstalt sorgen muss. Dieses Ansuchen Beguschs an Lonauer wirkt wie ein verzweifelndes Flehen, mit den Transporten nach Hartheim fortzufahren, und zeigt auch, dass Begusch aktiv an der „Euthanasie-Aktion- T4“ beteiligt war, was auch durch seine Gutachtertätigkeit im Rahmen dieser „Aktion“ belegbar ist.

Dass Begusch auch in die „Euthanasie“ an Kindern und Jugendlichen am „Feldhof“ involviert war, bestätigt ein Schreiben des Primararztes der Anstalt Klagenfurt, Dr. Franz Niedermoser, an Begusch. Am 23. Dezember 1942 übergab Begusch diesen Brief an Dr. Ernst Arlt zur Einsicht, der den schauderhaften Inhalt in seinem Tagebuch festhielt.787 Mit diesem Schreiben ersuchte Niedermoser Begusch darum, einzelne Kinder aus der Anstalt Klagenfurt „zum Zwecke der Euthanasie“ am „Feldhof“ zu übernehmen, da Niedermoser in seiner Anstalt mit besorgten Eltern konfrontiert war, die sich zwar zuerst für eine „Euthanasie“ ihrer Kinder ausgesprochen hatten, aber nun ihre Kinder wieder von dort abholten, weil sie innere Bedenken hatten.788 Laut Arlts Aufzeichnungen lehnte Begusch dieses Ansuchen jedoch ab und verwies auf die Gefährlichkeit dieses Schreibens, denn sollte es in Feindeshand gelangen, würde es großen Schaden anrichten.789 Dieser Schriftwechsel zeigt, dass man auch in anderen Anstalten augenscheinlich darüber Bescheid wusste, dass am „Feldhof“ Minderjährige in der Kinderfachabteilung der „Euthanasie“ zugeführt wurden.

785 Vgl. ARLT, 246, StLA. 786 Ebda. 787 Vgl. ARLT, 139, StLA. 788 Vgl. ebd., 139-140. 789 Vgl. ebd., 143. 128

Ein weiterer Beleg für die Involvierung Beguschs in die „Euthanasie“ an Minderjährigen am „Feldhof“ ist, dass die Post betreffend die Kinderfachabteilung des „Reichsausschußes zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin bis zum Ableben Beguschs an seine Privatadresse ging.790 Sehr verdächtig erscheint auch die erwähnte Dienstreise Beguschs 1942 nach Brandenburg, wenn man bedenkt, dass in der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden die erste Kinderfachabteilung des „Reichsausschußes“ eröffnet und in der Folge immer wieder von Ärzten aufgesucht wurde, um sich mit der Ausführung des „Reichsausschuß“-Konzepts vertraut zu machen. Ob Begusch im Zuge seiner Dienstreise tatsächlich in der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden war, lässt sich jedoch nicht belegen.791

Da Begusch bereits am 1.11.1944 starb, konnte er für die im Zuge seiner Tätigkeit als „T4“- Gutachter begangenen Euthanasieverbrechen und für seine entscheidende Beteiligung an der Vor-Ort-Selektion von untersteirischen sowie von Patienten aus Knittelfeld und Kindberg für die Todestransporte nach Hartheim gerichtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Dr. Ernst Sorger:

Er wurde am 11. Jänner 1892 in Alt-Zedlisch bei Böhmen im heutigen Tschechien geboren. Mit 1. Juni 1921 war Sorger provisorischer Assistenzarzt am „Feldhof“ und wurde am 13. März 1938 zum Primararzt ernannt. Ab 1932 leitete er die Männerabteilung (B-Stationen).792 Wie schon bei Begusch erfolgte auch Sorgers universitäre Ausbildung durch den rassenhygienisch geprägten Universitätsprofessor für Psychiatrie, Fritz Hartmann,793 der die nationalsozialistische Ideologie von der „Minderwertigkeit“ der psychisch Kranken und Behinderten in das Gedankengut Sorgers einpflanzte. Vom 20. bis 23. September 1937 nahm Sorger an einer Neurologentagung in München teil, bei der vor allem die Themen Gehirngeschwülste, Epilepsie und die neuzeitliche Behandlung von Demenz im Vordergrund standen. Die Direktion des „Feldhofs“ bat das Präsidium der Landeshauptmannschaft Steiermark darum, Sorger den Besuch der Tagung zu ermöglichen, da Sorger über besondere Kenntnisse in den genannten Gebieten verfügte. Besonders die Behandlung von schizophrenen Geistesstörungen mit Cardiazol scheint das Fachgebiet Sorgers gewesen zu sein. In der Folge führte er die sogenannte Cardiazolschocktherapie am „Feldhof“ ein. Es

790 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 38. 791 Vgl. ebd., 38, Fußnote 93. 792 Vgl. Feldhof-Archiv, Personalakten Dr. Ernst Sorger, StLA. 793 Vgl. HUBENSTORF, Tote und/oder lebendige Wissenschaft, 2002, 323. 129 wurde darauf hingewiesen, dass Dr. Sorger seit Jänner 1937 über 1.200 Injektionen mit Cardiazol an Patienten am „Feldhof“ verabreicht hat und dadurch die Entlassungszahlen in die Höhe geschnellt sind.794 Sorger war Fachredner im Rassenpolitischen Amt795 und als Fachpublizist in führenden psychiatrischen Fachzeitschriften tätig, wo er beispielsweise gemeinsam mit Dr. Ernst Hofmann eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „Beobachtungen und Ergebnisse bei der Cardiazol-Krampfbehandlung der Schizophrenie“ publizierte.796 Im Januar 1940 erfolgte die Ernennung Sorgers zum Landesobmann für die erbbiologische Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten des Reichsgaus Steiermark.797 Am 15. August 1940 reiste er gemeinsam mit Dr. Begusch nach Berlin und nahm an jener Besprechung in der Tiergartenstraße 4 teil, auf der „dringende kriegswichtige Maßnahmen auf dem Gebiete der Heil- und Pflegeanstalten“ besprochen wurden.798 Wie Begusch war Sorger nach dieser Besprechung ab 2. September 1940 als „T4“-Gutachter tätig.799 Gemeinsam mit Begusch reiste er am 18. März 1941 nach Berlin, um an einer „eugenischen“ Tagung teilzunehmen, deren Inhalt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch um die Fortsetzung der „T4-Transporte“ drehte.800 Mit seiner Ernennung zum Gaumedizinaldirektor am 1. August 1944 übernahm er das Direktorenamt der Gau-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke „Am Feldhof“ und folgte somit Begusch nach. Zudem war Sorger als vorstehender Stabsarzt der Infektionsabteilung im Reservelazarett IV Graz am „Feldhof“ tätig. Die Leitung der Männerstation gab Sorger jedoch am 31. Dezember 1944 ab.801 Am 11. April 1945 verließ Sorger seinen Direktorposten, um sich zur Dienstleistung bei der Wehrmacht in Velden zu melden. Dr. Ernst Arlt übernahm als Dienstältester die

794 Vgl. Schreiben der Direktion der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke „Am Feldhof“ bei Graz an das Präsidium der Landeshauptmannschaft Steiermark am 31. August 1937, Feldhof-Archiv: Personalakten Dr. Ernst Sorger, StLA. 795 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 44. 796 Vgl. Qualifikationsbeschreibung Ernst Hofmanns durch den Amts- und Abteilungsvorstand der Landes-Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“ am 14. Dezember 1937, Feldhof-Archiv: Personalakten Dr. Ernst Hofmann, StLA. 797 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 43. 798 Vgl. Abschrift in ARLT, 231-232, StLA. 799 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 43. 800 Vgl. ARLT, 121, StLA. 801 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 43. 130 provisorische Leitung der Anstalt.802 Militärisch bekleidete er als SA-Arzt den Rang eines Obersturmführers.803

Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP ab April 1938 wurde Sorger von der Landeshauptmannschaft Steiermark am 5. Juli 1945 aus dem Beamtendienst entlassen. Die Landeshauptmannschaft berief sich dabei auf das am 8. Mai 1945 in Kraft getretene Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP.804 Am 9. August 1945 beging Dr. Ernst Sorger Suizid.805

Beteiligung:

Bereits in den 1930er Jahren war Sorger als Fachredner im Rassenpolitischen Amt tätig und sprach sich schon zu diesem Zeitpunkt für die Zwangssterilisation behinderter Menschen aus.806 Am 12.1.1940 wurde er zum Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten des Reichsgaues Steiermark“ ernannt und nahm damit eine zentrale Stellung bei der Umsetzung und Durchführung von Zwangssterilisationen ein. Die Landeshauptmannschaft stellte Sorger in der Folge drei Tage pro Woche von seinen Anstaltsdiensten frei, damit er seinen Tätigkeiten bei der erbbiologischen Erfassung entsprechend nachgehen konnte.807 Ab 1940 existierte auch am „Feldhof“ eine solche Erfassungsstelle, die Sorger leitete. Sorgers Aufgabe war es, Untersuchungen im Rahmen laufender Erbgesundheitsverfahren durchzuführen und eine Kartei von Patienten anzulegen, die zum einen aus Sippentafeln bzw. Sippenbögen der Patienten bestand und zum anderen wurden der Kartei diverse Informationen über die Patienten von verschiedenen Stellen – beispielsweise Gemeindeämtern oder dem Strafregisteramt – hinzugefügt. Anhand der in der Kartei des Patienten gesammelten Daten sollte der Erbcharakter der Erkrankung eruiert werden, was nach Poier vielfach willkürlich geschah. In den Krankenakten des „Feldhofs“ wurden dann das Verhalten der Patienten, ihre mögliche Arbeitsleistung und Behandlungsmethoden – meistens Cardiazol- oder Insulintherapien – dokumentiert.808 Wie erwähnt, wurden die von Sorger am „Feldhof“ eingeführten Schocktherapien als Heilmittel

802 Vgl. ARLT, 255-256, StLA. 803 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 44. 804 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an Gaumedizinalrat Dr. Ernst Sorger, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Ernst Sorger, StLA. 805 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 147. 806 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 34. 807 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an den Deutschen Gemeindetag vom 12.1.1940, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Ernst Sorger, StLA. 808 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 274-275. 131 für schizophrene Geistesstörungen angesehen. Man ehrte Sorger dafür, dass er durch diese Behandlungen die Entlassungszahlen in die Höhe schnellen ließ, und wahrte damit den Schein, dass Sorger mit diesen Therapien zur Gesundung von Patienten beitrug.809 Dass die von Sorger durchgeführten Schocktherapien zu qualvollen Anfällen bei den Patienten, in den meisten Fällen nicht zum Erfolg in Form einer Verbesserung des Geisteszustandes des Betroffenen führten und viele Patienten als Folge dieser Therapie starben, wurde gemäß der nationalsozialistischen Verschleierungstaktik unter den Teppich gekehrt.810

An wie vielen Zwangssterilisationen Dr. Sorger beteiligt war, lässt sich nicht feststellen, man geht jedoch davon aus, dass allein zwischen 1942 und 1943 im Reichsgau Steiermark 313 Zwangssterilisationen stattfanden.811

Tatsache ist jedoch, dass Sorger durch die von ihm vorgenommenen Untersuchungen und in seiner Stellung als Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten des Reichsgaues Steiermark“ den weiteren Lebensverlauf bzw. das Schicksal vieler Menschen maßgeblich beeinflussen konnte.

Am 2. September 1940 nahm Dr. Ernst Sorger seine Arbeit als Gutachter der Aktion „T4“ auf.812 Bereits im Vorfeld des ersten „T4-Transports“ aus dem „Feldhof“ nach Niedernhart wurde nach den Angaben Arlts in seinem Tagebuch eine Ärztekommission, der auch Sorger angehörte, in der Anstalt am „Feldhof“ tätig. Diese Kommission untersuchte insbesondere Patienten der Pflegeabteilung D und war für die Auswahl der für den ersten Transport nach Niedernhart bestimmten Patienten aus dem „Feldhof“ verantwortlich.813 Dass die ärztliche Direktion bzw. Sorger selbst die jeweiligen Oberpfleger auf den einzelnen Abteilungen dahingehend beauftragten, eine Liste – die zuvor aus Berlin geschickt worden war – der an die RAG zu meldenden Patienten vor dem Abtransport in die Vernichtungsanstalt Hartheim zusammenzustellen814, zeigt eine Stellungnahme des damaligen Oberpflegers Beletz, der in einem Interview mit Peter Nausner 1982 den ihm von Sorger erteilten Auftrag im Zuge des Abtransports von Patienten Revue passieren lässt:

809 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an Gaumedizinalrat Dr. Ernst Sorger, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Ernst Sorger, StLA. 810 Vgl. NAUSNER Peter, Euthanasie – Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. In: FREIDL Wolfgang/SAUER Werner (Hgg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, 2004, 29. 811 Vgl. SPRING, Zwischen Krieg und Euthanasie, 2009, 73. 812 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 33. 813 Vgl. ARLT, 48, StLA. 814 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 79. 132

„Schreibenʼs mir die Schizophrenen alle raus und so“, und das hab ich halt gemacht. Bin ich durchgegangen, weil ich damals schon Mitarbeiter war in der Kanzlei, durchgegangen und die Oberpfleger aufgefordert: „Bitte, schreibt’s mir die Schizophrenen heraus, und dann Schwachsinnige und Kretine und so weiter.“ Und die sind ja dann ausgesucht worden. Und dann hat’s halt geheißen: „Die sind diesen und jenen Tag anzuziehen, parat zu machen.“815

Nach den Aussagen von Beletz und dem Tagebucheintrag Arlts bezüglich der Zugehörigkeit Sorgers zur erwähnten Ärztekommission und der damit verbundenen Auswahl und Begutachtung von Patienten im Vorfeld des ersten Transports vom „Feldhof“ nach Niedernhart – wohin über 200 Pfleglinge transferiert und anschließend in Hartheim ermordet wurden – ist also anzunehmen, dass Sorger an der Selektion von Patienten – zumindest was den ersten Transport betrifft – im Rahmen der Aktion „T4“ am „Feldhof“ beteiligt war.

Dass Sorger auch in die „T4-Transporte“ aus der Untersteiermark involviert war, wird zum einen durch die Aussage eines ehemaligen Krankenpflegers der Heil- und Pflegeanstalt Neu- Cilli, der Sorger vor allem als jenen Arzt beschrieben hat, der die Begutachtung der Patienten vornahm und anschließend darüber bestimmte, welche Pfleglinge in die Vernichtungsanstalt Hartheim geschickt werden sollten, und zum anderen dadurch belegt, dass Sorger jener Ärztekommission angehörte, die im Mai 1941 in jener Anstalt eintraf.816 Ein weiteres Indiz dafür, dass Dr. Sorger über einen längeren Zeitraum hinweg in der Untersteiermark seinen Tätigkeiten als „T4“-Gutachter – in Form einer Vor-Ort-Selektion817 – nachging, ist aus Arlts Tagebucheintrag vom 12. Juni 1941 herauszulesen, in dem er angibt, dass die „Organisatoren“ aus der Untersteiermark an den „Feldhof“ zurückgekehrt seien, mit dem Ergebnis, die Anstalt Neu-Cilli und einige weitere untersteirische Siechenhäuser aufzulösen.818 Mit den „Organisatoren“ kann Arlt nur die beiden „T4“-Guatchter Sorger und Begusch gemeint haben, denn nachdem die Arbeit der ärztlichen Kommission in der Untersteiermark beendet bzw. abgeschlossen war, wurde der Großteil der Patienten aus der Anstalt Neu-Cilli direkt nach Hartheim transferiert und ein kleinerer Teil der Patienten in den „Feldhof“ verlegt.819 Die Einteilung der Neu-Cilli-Patienten im Zuge der Aktion „T4“ erfolgte zunächst in drei Gruppen. Die erste Gruppe, bei der im Patientenverzeichnis ein Kreuz eingetragen wurde, war für den Transport in die Vernichtungsanstalt Hartheim bestimmt. Gehörte man der zweiten Gruppe an, wurde man in den „Feldhof“ verlegt. Für diese Patienten wurde dann entweder ein Gedankenstrich, ein Fragezeichen oder ein Kreis in das Patientenverzeichnis eingetragen. Bei

815 Ebd., 169. 816 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 65-66. 817 POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 32. 818 Vgl. ARLT, 130, StLA. 819 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 53, Fußnote 43. 133 den Patienten der dritten Gruppe wurde die Entscheidung, ob diese nach Hartheim transportiert oder in den „Feldhof“ verlegt werden sollten, vertagt. Bis zur endgültigen Entscheidung über das Schicksal dieser Patienten verblieben sie in der Anstalt Neu-Cilli. Dass vor allem Sorger die Patienten in Neu-Cilli untersuchte und die anschließende Einteilung in die beschriebenen Gruppen vornahm, bestätigt die Aussage des ehemaligen Krankenpflegers der Anstalt Neu-Cilli, Franc Vajs, der sich nach dem Krieg an folgende Situation erinnerte:820 „Als Krankenpfleger mußte ich auf dem Flur stehen, wo ich sah, wie die einzelnen Patienten in den Apothekenraum eingelassen wurden. Zuerst untersuchte sie Dr. Sorger, der dann seine Meinung äußerte.“821

Schlussendlich muss anhand der von Vajs getätigten Aussage davon ausgegangen werden, dass Sorger als Teil der Ärztekommission, die von Mai bis Juni 1941 in der Untersteiermark tätig war, durch seine Vor-Ort-Selektion und die damit verbundene Einteilung für den bevorstehenden „T4-Transport“ insgesamt 357822 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Neu- Cilli nach Hartheim geschickt hat. Welches Schicksal die Patienten dort erwartete, ist bekannt.

Zu weiteren Vor-Ort-Selektionen Sorgers dürfte es auch in den obersteirischen Anstalten Knittelfeld und Kindberg gekommen sein. Am 5. April 1940 begab sich Sorger in die Gau- Siechenanstalt Knittelfeld, zum einen, um die dortige Kinderabteilung zu besichtigen, und zum anderen, um sich mit der Verwaltung der Anstalt Knittelfeld für die bevorstehende „erbbiologische Bestandsaufnahme“ abzusprechen.823 Sorgers Besuch ging ein Schreiben des Reichstatthalters der Steiermark vom 7. März 1940 an die Anstalt Knittelfeld voraus, das die Aufforderung beinhaltete, in der Anstalt Knittelfeld eine „erbbiologische Bestandsaufnahme“ durchzuführen.824 Um für einen reibungslosen Ablauf der Erfassung der Patienten zu sorgen, kam Sorger in seiner Funktion als Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten“ im April 1940 nach Knittelfeld, wo er Dr. Max Pachmayer in seine Aufgaben als „beauftragter Arzt für die erbbiologische Bestandsaufnahme in der Gausiechenanstalt in Knittelfeld“ einwies.825 Am 21. Juni 1940 erhielt die Verwaltung

820 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 66. 821 Ebd. 822 Ebd., 67. 823 Vgl. Schreiben von Dr. Ernst Sorger an die Verwaltung der Siechenanstalt Knittelfeld vom 2.4.1940, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 824 Vgl. Schreiben des Landeshauptmanns der Steiermark an die Verwaltung der Landessiechenanstalt Knittelfeld vom 7.3.1940, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 825 Vgl. Schreiben der Reichsstatthalterei Steiermark an Dr. Max Pachmayer vom 18.4.1940, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 134

Knittelfeld erneut ein Schreiben des Reichsstatthalters, dem zwei Meldebögen beigelegt waren, mit dem Auftrag, die Patienten zu erfassen, die Meldebögen auszufüllen und diese zur Begutachtung nach Berlin zu schicken.826 In der Folge fertigte Dr. Pachmayer die Patienten- Meldebögen aus, die nach Berlin gesandt wurden, insgesamt 213 Patienten betrafen und die Grundlage der folgenden „Euthanasie“ bildeten.827

Im Sommer 1940 kam Sorger abermals mit Begusch in die Anstalt Knittelfeld, wobei dieser Besuch noch nicht der Selektion der Patienten gedient haben dürfte. Vielmehr besichtigten die beiden die Anstalt mit dem Vorhaben, Patienten aus Knittelfeld und Kindberg in die „Siechenabteilung für geistesschwache und geisteskranke Männer, Frauen und Kinder“ am „Feldhof“ zu verlegen. Für eine von Sorger Ende Januar 1941828 vorgenommene Vor-Ort- Selektion in der Anstalt Knittelfeld spricht die Zeugenaussage der damaligen Oberschwester Eleonora Reinthaler, die berichtet, dass Sorger mit einer Liste in Knittelfeld vorstellig wurde, die dort vermerkten Patienten begutachtete und nach ihrer eventuellen Arbeitsbeschäftigung befragte, wobei er sich zu den einzelnen von ihm begutachteten und befragten Patienten Notizen machte. Zwei Wochen später kam Sorger mit Begusch wieder in die Anstalt und besichtigte die auf der Liste vermerkten Patienten erneut, wobei nach Schwester Reinthaler Begusch einige wieder strich.829 Kurz nach diesem Besuch erhielt die Anstalt eine Liste aus Berlin, die insgesamt 76 Patienten anführte. Diese 76 Patienten wurden am 20. Februar 1941 nach Hartheim transportiert.830

Dass Sorger in der Anstalt Knittelfeld zugegen war, bestätigt allein sein Schreiben an die Verwaltung der Anstalt, worin er seinen ersten Besuch in Knittelfeld für den 5. April 1940 zur „Unterstützung“ Pachmayers bezüglich der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ von Knittelfelder Patienten ankündigte. Dass Sorger durch seine Vor-Ort-Selektionen im Januar und Februar 1941 maßgeblich an dem am 20. Februar 1941 abgehenden „T4-Transport“ von Knittelfeld in die Vernichtungsanstalt Hartheim beteiligt war, bestätigt die Aussage Reinthalers. Somit war Sorger neben Begusch mitverantwortlich dafür, dass 76 Menschen aus Knittelfeld dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm in Hartheim zum Opfer fielen. Zu diesem Schluss kam auch die Kriminalpolizei Leoben, die im März 1946 von der Staatsanwaltschaft Leoben den Auftrag erhielt, Nachforschungen über eine mutmaßliche

826 Vgl. Schreiben der Siechenanstalt Knittelfeld an den Reichsminister des Innern vom 24.6.1940. Meldebogen 2 wurde bereits am 21. Juni rückgesandt und ist diesem Schreiben beigelegt. LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 827 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 90. 828 Vgl. ebd. 829 Vgl. Zeugenvernehmung von Eleonora Reinthaler vom 10.3.1946, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 830 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 91. 135

Transferierung von Patienten aus der Anstalt Knittelfeld nach Hartheim anzustellen.831 Im Zuge der Ermittlungen stieß man unter anderem auf eine mögliche Beteiligung von Christian Gmeiner, des Verwalters der Anstalt Knittelfeld. Das am 19. Juni 1946 gegen Gmeiner eingeleitete Verfahren832 wurde im April 1947 eingestellt. Gmeiner konnte kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden. Die Kriminalpolizei versuchte Dr. Ernst Sorger und Dr. Oskar Begusch auszuforschen, was natürlich nicht gelang, da beide schon tot waren.833 So heißt es im Polizeibericht an die Staatsanwaltschaft Leoben:

„Für die Verschickung der schwachsinnigen Pfleglinge als Hauptverantwortliche kommen der Direktor der Landes Heil- und Irrenanstalt Am Feldhof Dr. Begusch und Dr. Ernst Sorger in Betracht. Nach fernmündlicher Mitteilung der Kriminalpolizei Graz […] sind beide Ärzte bereits verstorben.“834

Wer für die Vor-Ort-Selektionen in der Siechenanstalt Kindberg und die damit verbundenen Abtransporte von Patienten nach Hartheim hauptverantwortlich zeichnet, lässt sich nicht einwandfrei eruieren. Es steht jedoch fest, dass sich die beiden „T4“-Gutachter Sorger und Begusch ebenfalls im Januar 1941 – nachdem auch in Kindberg ein Schreiben des Reichsstatthalters betreffend die „erbbiologische Bestandsaufnahme“ von Kindberger Patienten eingegangen war835 – in der Siechenanstalt Kindberg aufhielten und sich vom dortigen Personal die Katasterblätter der Patienten aushändigen ließen. Anschließend wurden ihnen die Patienten vorgeführt.836 Nur wenige Tage später kam Sorger gemeinsam mit einer unbekannten Schreibkraft wieder nach Kindberg, die im Auftrag Sorgers Eintragungen aus den Katasterblättern der Patienten in mitgebrachte Formulare übertrug.837 Laut dem damaligen Oberverwalter der Siechenanstalt Kindberg kamen am 13. Februar 1941 abends „ein Herr in brauner Parteiuniform und 3 Frauen“838 wieder in die Anstalt. Bereits am Tag darauf, am 14. Februar 1941, wurden nach Aussage Hallas 70 Patienten für den Transport in eine Anstalt in Linz zusammengestellt und zum Kindberger Bahnhof gebracht, wo sie anschließend abtransportiert wurden.839 Es ist augenscheinlich, dass der Transport die Vernichtungsanstalt Hartheim zum Ziel hatte. Zudem ist davon auszugehen, dass der „Herr in brauner Parteiuniform“ und die drei Frauen noch am Tag des Abtransports in Kindberg

831 Vgl. Polizeikommissariat Leoben, 9.3.1946, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 832 Vgl. Antrags- und Verfügungsbogen, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 833 Vgl. Bericht der Kriminalpolizei vom 13.3.1946, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 834 Ebd. 835 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 91. 836 Vgl. Zeugenvernehmung der Verwaltungssekretärin der Siechenanstalt Kindberg Maria Bruckner vom 24.11.1945, LGS Leoben, Vr 11/46, 33, StLA. 837 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 92. 838 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Ferdinand Halla vom 22.11.1945, LGS Leoben, Vr 11/46, 84, StLA. 839 Ebd. 136 zugegen waren, da Halla davon spricht, dass die Zusammenstellung des Transports erst am Abgangstag erfolgte.

Dass es sich bei dem „Herrn in brauner Parteiuniform“ um Sorger gehandelt haben könnte, ist nicht belegbar, jedoch sehr wahrscheinlich, da er nach Danzinger, Oelschläger und Freidl schon in der Anstalt Neu-Cilli im Zuge der von ihm vorgenommenen Selektion von Patienten aus Neu-Cilli in seiner Uniform auftrat.840

Die ehemalige Bedienstete der Siechenanstalt Kindberg, Schwester Christa, berichtete, dass am 25. Februar 1941 die beiden Ärzte – wiederum in Begleitung der drei Frauen – nach Kindberg kamen, wo sie im Ordinationsraum der Anstalt Patientenkarteikarten durchsahen und anschließend einen weiteren Transport mit 69 Patienten zusammenstellten.841 Schwester Christa benennt die beiden Ärzte zwar nicht, spricht aber explizit davon, dass „die beiden Ärzte wieder in Begleitung der 3 Frauen“842 in die Anstalt nach Kindberg kamen. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den von ihr angegebenen Ärzten um Sorger und Begusch gehandelt hat. Diese Annahme deckt sich mit jener Poiers, wonach sowohl Sorger als auch Begusch an diesem Tag in Kindberg waren und dem Abtransport der 69 Patienten nach Hartheim beiwohnten.843 Die Zeugenaussagen bezüglich einer Beteiligung Sorgers und Beguschs an den beiden Transporten aus Kindberg nach Hartheim sprechen eine eindeutige Sprache. Die Selektion bzw. Zusammenstellung des ersten Transports dürfte demnach Sorger allein vorgenommen haben, was ihn nicht nur in Verbindung mit der anschließenden Tötung von 69844 Kinderberger Patienten im Mordschloss Hartheim bringt, sondern ihn vielmehr dafür hauptverantwortlich macht. Die Selektion für den zweiten Transport dürften Begusch und Sorger gemeinsam vorgenommen haben. Schlussendlich ist eine Beteiligung der beiden an der Tötung von insgesamt 138845 Patienten aus Kindberg in Hartheim vor allem durch die Zeugenaussagen ehemaliger Bediensteter der Siechenanstalt Kindberg nicht von der Hand zu weisen.

840 Vgl. DANZINGER et al., Die NS-Euthanasie in der slowenischen Untersteiermark, 2014, 65. 841 Vgl. Zeugenaussage von Schwester Christa (Maria Puntigam) vom 24.11.1945, LGS Leoben, Vr 11/46, StLA. 842 Ebd. 843 Vgl. POIER, Vergast im Schloss Hartheim, 2014, 32. 844 Halbrainer vermerkt, dass ein Patient, der im Zuge des ersten Transports von Kindberg nach Hartheim transferiert wurde, im März 1941 in den „Feldhof“ rücküberstellt und zu einem späteren Zeitpunkt von dort „als gebessert“ entlassen wurde. Er scheint der einzig Überlebende der Kindberger Transporte gewesen zu sein. Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 98, Fußnote 41. 845 Vgl. ebd., 96. 137

Dr. Ernst Sorger wird zudem vor allem mit der am „Feldhof“ vollzogenen „Euthanasie“ an Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht. Nach Zeugenaussagen des ehemaligen „Feldhof“-Personals ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sorger einzelne Tötungen von Minderjährigen am „Feldhof“ durchführte, wobei diese nach Oelschläger nicht unmittelbar in die Abläufe auf der Kinderfachabteilung im Sinne des „Reichsausschußes“ einzugliedern sind,846 sondern mutmaßlich von Sorger in Eigenregie vorgenommen wurden, ohne von einer zentralen Instanz (Reichsausschußverfahren) dazu ermächtigt worden zu sein.847 Dafür spricht zumindest ein Eintrag Arlts, in dem es heißt, dass bei den von Sorger vorgenommenen Tötungen durch eine Überdosierung des Mittels Evipan keine Sektion am Pathologisch- Anatomischen Institut erfolgte, was jedoch innerhalb des „Reichsausschußverfahrens“ bei sogenannten „Reichsausschußkindern“ üblich war.848 Es ist also davon auszugehen, dass Sorger Minderjährige getötet hat, die dieses Verfahren nicht durchlaufen hatten und mit den Abläufen und Vorgängen auf der Kinderfachabteilung am „Feldhof“ nicht in Verbindung standen.

Die von Sorger vorgenommenen Tötungen von Minderjährigen am „Feldhof“ folgten stets demselben Schema. So bekamen die diensthabenden Pflegerinnen von Sorger den Auftrag, die für die „Behandlung“ bestimmten Kinder und Jugendlichen zu ihm in die Ambulanz (Direktionskanzlei) zu bringen, wo ihnen Injektionen verabreicht wurden. Nach Beendigung dieser „Behandlung“ beauftragte Sorger dann wieder die Pflegerinnen, die Minderjährigen auf ihre Abteilungen zurückzubringen. Dort starben sie innerhalb kürzester Zeit.849 Den Ablauf der Tötungen bestätigt auch die Zeugenaussage der ehemaligen Pflegerin Berta Kosnik, die seit 1942 am „Feldhof“ tätig war und 1945 in die Frauenabteilung C2 versetzt wurde, wo nach ihren Angaben auch Kleinkinder und Säuglinge behandelt wurden. Sie gab zu Protokoll, dass sie eines Tages (das genaue Datum war ihr entfallen) den Auftrag bekam, ein Kleinkind zum Zweck der Krankengeschichte-Aufnahme in die Aufnahmekanzlei zu Sorger zu bringen. Danach wurde ihr befohlen, die Kanzlei zu verlassen, um ein weiteres Kind dorthin zu bringen. Nach ca. 15 Minuten kehrte Kosnik mit einem weiteren Kind zurück, übergab es und brachte das von Sorger bereits „behandelte“ Kind auf die Abteilung zurück. Dort angekommen, konnte sie eine totale Wesensveränderung des Kindes wahrnehmen. Das Kind

846 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 132. 847 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 122. 848 Vgl. ARLT, 193, StLA. 849 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 121. 138 war kreidebleich und hatte blaue Lippen. Nur einige Stunden, nachdem das Kind die Kanzlei Sorgers verlassen hatte, starb es. Sie gab an, dass sie 2-3 Mal den Auftrag bekam, Kinder in die Kanzlei zu Sorger zu bringen. Dabei fiel ihr einmal eine Injektionstasse mit einer Injektionsspritze, die auf Sorgers Schreibtisch lag, auf. Welche Medikation die Spritze enthielt, konnte sie nicht angeben, fügte jedoch hinzu, dass es am „Feldhof“ ein offenes Geheimnis war, dass Sorger „Unternehmungen“ anstellte, um geistesschwache Kinder früher aus der Welt zu schaffen. Sie schloß ihre Zeugenvernehmung wie folgt:850 „Meiner Meinung nach wären die Kinder sonst nicht gestorben, wenn nicht ein fremder Eingriff an ihnen vorgenommen worden wäre.“851

Darauf, dass Sorger gezielt einzelne Minderjährige getötet haben dürfte, verweist auch die Aussage der damaligen Pflegerin Juliane Petrak, die sich daran erinnerte, einmal ein weibliches Kleinkind in die Kanzlei zu Dr. Sorger geführt zu haben. Nach der von Sorger vorgenommenen Untersuchung bzw. „Behandlung“ des Mädchens wies es dieselben Symptome auf, wie sie für das von Kosnik überbrachte Kind geschildert wurden. Durch die aufopfernde Pflege des Personals konnte die Patientin zunächst vor dem Tod bewahrt werden. Dasselbe Mädchen musste Sorger unter dem Vorwand, an ihr eine Schädelmessung durchzuführen, neuerlich vorgeführt werden. Es starb nur zwei Tage später.852 Dies ist ein Indiz dafür, dass die von Sorger zur „Behandlung“ – und zur damit verbundenen Tötung – ausgewählten Patienten ihrem Schicksal nicht entkommen konnten.

Pflegerin Baumgartner, die ab 1943 in der Abteilung C2 Dienst verrichtete, gab zu Protokoll, dass von Oktober 1944 bis Februar 1945 neun Kleinkinder zur Untersuchung zu Sorger gebracht wurden, wo zum Zweck der Aufnahme der Krankengeschichte Messungen des Kopfes und anderes erfolgten. Sie gab an, dass sie während dieser Vorgänge anwesend war, jedoch des Öfteren von Sorger weggeschickt wurde, um weitere Kinder zu holen. Aus diesem Grund sei es ihr nicht möglich, Angaben zu den Tätigkeiten Sorgers während ihrer Abwesenheit zu machen. Sie verwies zusätzlich darauf, dass alle Kinder ihrer Abteilung C2 sich einer solchen Untersuchung unterziehen mussten. Es kam jedoch vor, dass manche Kinder danach plötzlich verstarben. Ergänzend erwähnte sie, dass sie in der Kanzlei Sorgers niemals Spritzen oder Medikamente gesehen hatte. Von den neun Kindern, die sie in die

850 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Berta Kosnik vom 12. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 4-4a, StLA. 851 Ebd. 852 Vgl. Abschrift Protokoll Berta Kosnik und Juliane Petrak vom 8. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 3, StLA. 139

Kanzlei brachte, wurden einige zwei bis drei Mal von Sorger untersucht. Alle starben nach wenigen Stunden oder spätestens nach ein bis zwei Tagen.853

Die geistliche Schwester Ida (Gertrude Jakubowsky), die ab 1928 als Krankenschwester am „Feldhof“ tätig war, berichtete von einem Vorkommnis, das sich am 20. Oktober 1944 während ihres Dienstes abspielte. Demnach wurde auf Weisung Sorgers ein zweijähriger geistesschwacher Bub in die Aufnahmekanzlei gebracht. Zwei Stunden, nachdem das Kind aus der Kanzlei auf ihre Station zurückgebracht worden war, wurde sie von einer Pflegerin benachrichtigt, dass der Bub tot sei. Dieser war nach ihren Angaben, bevor er zu Sorger kam, in guter körperlicher Verfassung, was sie zwar misstrauisch machte, aber sie nicht daran denken ließ, dass Sorger für den Tod des Buben verantwortlich sein könnte. Erst als sich diese Fälle wiederholten und die Pflegerinnen untereinander zu reden begannen: „Dr. Sorger hat bestimmt eine Injektion gegeben!“, wurde auch sie hellhörig. Außerdem bemerkte sie bei einem anderen Kind, dass es nach der Untersuchung bei Sorger einen Injektionsstich am Gesäß hatte. Das Kind starb nach zwei Tagen. Laut ihren Angaben kann der Tod von zwölf Kindern, die allesamt zuvor von Sorger untersucht wurden, nicht als einwandfrei gelten.854 Sie ist die einzige Zeugin, die Sorger ausdrücklich als Verantwortlichen für diese Kindestötungen bezeichnet: „Als Täter kann nur Dr. Sorger in Frage kommen, weil kein anderer Arzt die Behandlung hatte.“855

Dass nach Sorgers Untersuchungen Kinder auf unnatürliche Weise starben, war auch Dr. Ernst Arlt bewusst:

„Der Umstand, dass in der erwähnten Zeit Säuglinge bezw. Kleinkinder eines unnatürlichen Todes starben, konnte an der Anstalt bei der Auffälligkeit der Vorkommnisse nicht verborgen bleiben.“856

Über die näheren Vorgänge in der Kanzlei wusste Arlt bei seiner Vernehmung nichts Weiteres zu berichten.857 Präziser wurde Arlt jedoch in seinen privaten Aufzeichnungen, worin er Sorger eindeutig als Täter für die am „Feldhof“ vorgenommene „Euthanasie“ ausmachte: „S. tilgt bewußt Menschenleben aus und glaubt wohl, sich dadurch Verdienste um die Nation zu erwerben, was jedoch durch eine gegen das Sittengesetz verstoßende

853 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Aloisia Baumgartner vom 12. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927- 1945, 7, StLA. 854 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Schwester Ida vom 20. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 10, StLA. 855 Ebd., 11. 856 Abschrift der Zeugenaussage von Dr. Ernst Arlt vom 11.7.1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 8, StLA. 857 Vgl. ebd. 140

Handlung nicht möglich ist und sich auch für das Volk nur ungünstig auswirken kann.“858

Die strafrechtlichen Ermittlungen zu den durchgeführten Tötungen von Minderjährigen durch Dr. Ernst Sorger am „Feldhof“ wurden zwischen Mai und Juli 1945 eingeleitet. Das für diesen Fall relevante Material wurde am 27. Juli 1945 an die Staatsanwaltschaft Graz übergeben. Kurze Zeit später, am 3. August 1945, wurde der Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens an die Gerichtsabteilung 8 des Landesgerichts für Strafsachen Graz gesendet und schließlich kurz darauf das Verfahren gegen Sorger und zwei weitere Bedienstete des „Feldhofs“, auf die in weiterer Folge eingegangen wird, eröffnet. Sorger wurde die Tötung von 13 behinderten Kindern zur Last gelegt, die er in die Direktionskanzlei beordert hatte, unter dem Vorwand, sie einer Schädelmessung zu unterziehen. Dort hätte er ihnen anschließend tödliche Injektionen verabreicht.859

Nur knapp eine Woche nach Eröffnung des Verfahrens, am 9. August 1945, verübte Sorger in Graz Suizid.860 Nach der Aussage seiner Frau Leopoldine Sorger nahm er, während sie in der Küche war, Luminal zu sich.861 Das Verfahren gegen ihn wurde sodann eingestellt.862

Mit seinem Selbstmord entzog sich Sorger seiner Verantwortung für die von ihm in der Steiermark begangenen „Euthanasie“-Verbrechen. So konnte er weder für die Tötung der 13 Minderjährigen am „Feldhof“ im Sinne der dezentralen Anstalts-„Euthanasie“ noch für seine Funktion als „T4“-Gutachter und die damit verbundene Selektion von Patienten aus der Unter- und Obersteiermark, aus dem „Feldhof“ und seinen Filialen, die den Abtransport in die Vernichtungsanstalt Hartheim und somit den sicheren Tod bedeutete, belangt werden.

Dr. Peter Korp:

Peter Korp wurde am 15.7.1898 in Oberlatein (Deutschlandsberg) geboren. Er studierte an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz und promovierte am 2.4.1927 zum Dr. med. Seine fachärztliche Ausbildung als Sekundararzt absolvierte er zunächst ab April 1927 im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Graz, ab März 1928 im Krankenhaus der Elisabethinen und schließlich ab November 1929 im Landeskrankenhaus Graz. Am 1.4.1931

858 ARLT, StLA, 214. 859 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 147. 860 Vgl. HALBRAINER, „ Ich glaube, es hat lediglich Dr. Begusch davon gewusst“, 2014, 142. 861 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Leopoldine Sorger am 26. August 1945, KrPol-Sonderreihe 6927- 1945, 41, StLA. 862 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 147. 141 begann sein Dienstverhältnis als provisorischer Assistenzarzt in der Landesheilanstalt „Am Feldhof“, wo er am 1.4.1936 zum Primararzt ernannt wurde und gleichzeitig als gerichtlicher Sachverständiger fungierte. Korp war Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Innere Medizin.863 1936 wurde ihm die Leitung der Filialen der Zentralanstalt „Feldhof“ übertragen.864 Laut Zeitzeugenbericht der ehemaligen Schwester Eleonore, die 1938-1945 Schulleiterin der Schulabteilungen Bruck, Kainbach und Pertlstein war, war Korp der verantwortliche Arzt der Kinderabteilungen am „Feldhof“, der Schulabteilung der Filiale Kainbach und nach deren Auflösung in Pertlstein und hatte zudem die medizinische Betreuung aller Schul- und Kinderabteilungen sowohl am „Feldhof“ als auch in dessen Filialen inne.865 Nach Durchsicht zahlreicher Krankenanamnesen kommt Oelschläger zu dem Schluss, dass Korp auch auf der Station C2 am „Feldhof“ tätig war, wo „Reichsausschuß“- Kinder untergebracht waren.866 Er war Angehöriger der Wehrmacht und verrichtete vom 9.4.1941 bis zum 31.3.1944 seinen Kriegsdienst im Truppenteil San. Abteilg. Graz, wo er als Unterarzt und Leiter der Kriegsgefangenenabteilung des Res. Laz. IV Graz tätig war.867 Im April 1945 erhielt Korp zudem die Leitung der Männerabteilung des „Feldhofs“ übertragen.868 Am 18.3.1946 folgte er dem nach dem Ableben von Dr. Ernst Sorger mit der kommissarischen Leitung des „Feldhofs“ betrauten Dr. Ernst Arlt als regulärer Direktor der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke „Am Feldhof“ nach.869 Im August 1947 forderte die Steiermärkische Ärztekammer ein politisches Gutachten über Korp bei der Kriminalpolizei Graz an, um eine mögliche Mitgliedschaft oder Anwartschaft in der NSDAP zu überprüfen. Die Begutachtung ergab, dass Korp kein Mitglied oder Anwärter der NSDAP

863 Vgl. Fragebogen für Personal- und Familiendaten der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Peter Korp, A. Ärztekammer Steiermark, K. 141, H. 2648: Dr. Peter Korp, StLA. 864 Vgl. Schreiben der Direktion der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke am Feldhof an das Präsidium der Landeshauptmannschaft Steiermark vom 2. Dezember 1936, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Peter Korp, StLA. 865 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 196-197. 866 Vgl. ebd., 40. 867 Vgl. Fragebogen der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Peter Korp, A. Ärztekammer Steiermark, K. 141, H. 2684: Dr. Peter Korp, StLA. 868 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 40. 869 Vgl. Schreiben an die Landeshauptmannschaft für Steiermark in Graz von Dr. Peter Korp, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Peter Korp, StLA. 142 gewesen war und somit in staatspolitischer Hinsicht als unbescholten galt.870 Dr. Peter Korp starb am 15. April 1954 nach kurzer schwerer Krankheit.871

Beteiligung:

Allein die Tatsache, dass Korp am „Feldhof“ auf der Station C2, wo sich ein Großteil der Kinderfachabteilung befand, „Reichsausschusß“-Kinder betreute,872 lässt seine unmittelbare Beteiligung an den „Euthanasie“-Maßnahmen an Minderjährigen zumindest erahnen, hatten doch die in den Kinderfachabteilungen tätigen Ärzte im Sinne des „Reichsausschusßes“ zum einen die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen zu beobachten, und zum anderen jene Kinder, die als „minderwertig“ oder „lebensunwert“ eingestuft wurden, zur Tötung freizugeben.873 Zudem wurden an den Kindern sogenannte Intelligenztests und umfangreiche somatische Untersuchungen durchgeführt sowie weitere verschiedenste Beurteilungskriterien herangezogen, um ihre Bildungs- bzw. Arbeitsfähigkeit zu überprüfen.874 Die Kinder und Jugendlichen, die durch die Bildungs- bzw. Arbeitsüberprüfung der „Feldhofer“ Kinderfachabteilungen und ihrer zugehörigen Kinderabteilungen in den Filialen (Kainbach, Pertlstein, Messendorf) der Zentralanstalt fielen, erwartete zum einen der Tod durch systematische Unterversorgung in Form von Nahrungsentzug und unterlassenen pflegerischen Maßnahmen, zum anderen verabreichte man in Einzelfällen auch Luminal in umfangreichen Dosen, die die Betroffenen zunächst in einen Dämmerzustand versetzten und nach einiger Zeit unweigerlich zum Tod führten.875 Zwecks Überprüfung auf Bildungsfähigkeit wurden die Kinder zunächst aus Kainbach und Pertlstein für Intelligenztests in die Zentralanstalt am „Feldhof“ gebracht. Im Auftrag Korps wurden die Intelligenztests in den Schulabteilungen Kainbach und Pertlstein ab 1941 von den dort tätigen Schwestern, vor allem der Schulleiterin der Schulabteilungen Kainbach und Pertlstein, Schwester Eleonore, durchgeführt, wie sie in einem Interview 1996 angab.876 Ob die Ergebnisse der Tests direkt an Korp gingen, ist unbekannt. Die körperlichen Untersuchungen der Kinder führte Korp ein bis zwei Mal pro Woche selbst in Kainbach und Pertlstein durch, sie dürften sich jedoch eher auf

870 Vgl. Schreiben der Steiermärkischen Ärztekammer an die Polizeidirektion Graz, Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Peter Korp, StLA. 871 Sterbemeldung Dr. Peter Korp an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, A. Ärztekammer Steiermark, K. 141, H. 2684: Dr. Peter Korp, StLA. 872 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 115. 873 Vgl. POIER, Rassenwahn und Wirtschaftsplanung, 2000, 277. 874 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der Kinderfachabteilung, 2001, 130-131. 875 Vgl. ebd., 131. 876 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 200-201. 143

Routineuntersuchungen und Kontrollen beschränkt haben. Die große Untersuchung, die darüber entschied, ob die jungen Patienten aus Kainbach und Pertlstein in den „Feldhof“ verlegt wurden – was in den meisten Fällen nach einigen Tagen oder Wochen zum Tod der Kinder führte877 – fand nach Aussage der ehemaligen Schwester Rita in der Zentralanstalt „Feldhof“ statt. Nach ihren Angaben war sie selbst bei den Untersuchungen, die vor allem Korp durchführte, anwesend. Bei diesen Untersuchungen wurde den Kindern und Jugendlichen Flüssigkeit aus dem Rückenmark entnommen und zum Zweck der Vererbung aufbewahrt. Zudem berichtet sie davon, dass Korp Schädelmessungen an den Minderjährigen durchführte, diese geröntgt wurden und ihnen Korp auch Injektionen verabreichte. Die „schlechten“ Fälle mussten nach Abschluss der Untersuchungen am „Feldhof“ bleiben. Dass die Kinder dort auf unnatürliche Weise starben, war Schwester Rita bekannt, sie war jedoch nach ihren Angaben durch die Direktion der Zentralanstalt „Feldhof“ zum Stillschweigen verpflichtet.878 Bezüglich der von Schwester Rita geschilderten Verabreichung von Injektionen an Minderjährige durch Korp ist unklar, welche Wirkung diese auf die einzelnen Kinder und Jugendlichen hatten und zu welchem Zwecke sie erfolgten. Ob es sich bei diesen Injektionen um Abgaben von Luminal handelte und ob diese zu einer beabsichtigten Tötung führen sollten, lässt sich nicht feststellen.

Belegbar ist Korps Involvierung in die „Euthanasie“ von Minderjährigen durch einen von Dr. Ernst Arlt stammenden Tagebucheintrag vom Juni 1943. Darin gibt Arlt an, dass ihm ein Pfleger, den er nur R. nennt, in einem Gespräch berichtete, dass jener bei einem verstorbenen Jungen nicht genau wusste, ob er für den monatlichen Bericht für den Reichsausschuss879 die Spalte „durch Behandlung“ oder jene „ohne Behandlung“ auszufüllen habe. Um sicherzugehen, fragte er bei Dr. K. (die Auflösung dieses Kürzels durch Arlt erfolgte bereits im Oktober 1940 mit „Dr. Korp“) nach, der ihm zunächst entgegnete: „Durch Behandlung“,

877 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der Kinderfachabteilung, 2001, 131. 878 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 208-10. 879 Die Anstalt „Feldhof“ musste im Sinne des „Reichsausschußverfahrens“ einen monatlichen Bericht an den „Reichsausschuß“ in Berlin erstatten. Dieser Bericht enthielt einerseits Angaben über die Entwicklung der „Reichsausschuß“-Minderjährigen zu Monatsbeginn, über die im Monatsbericht vom „Feldhof“ an den „Reichsausschuß“ gemeldeten Kinder und Jugendlichen und andererseits über die in die Anstalt „Feldhof“ eingewiesenen, entlassenen bzw. verlegten oder verstorbenen Minderjährigen. Zudem musste angegeben werden, welche „Reichsausschuß“-Minderjährigen sich am Ende des Berichtsmonats noch am „Feldhof“ befanden. Die Verstorbenen mussten auf der Rückseite des Berichts namentlich bekanntgegeben werden. Hinzuzufügen war des Weiteren entweder die Anmerkung „durch Behandlung verstorben“, womit die Tötung des Minderjährigen gemeint war, oder „ohne Behandlung verstorben“. Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 115-116. 144 daraufhin aber zurückruderte und erklärte, dass er sich noch erkundigen müsse. Kurz darauf wies Dr. Korp den Pfleger an, die Spalte „ohne Behandlung gestorben“ zu wählen.880

Anhand des Tagebucheintrags Arlts ist festzustellen, dass Korp (sowie der Verfasser des Eintrags) Kenntnis über die Abläufe des „Reichsausschuß-Verfahrens“ hatten. Es scheint zwar so, dass das Ausfüllen der Spalten die Aufgabe des diensthabenden Pflegepersonals war, jedoch ist nach Arlts Aufzeichnungen deutlich erkennbar, dass dies nach Korps Weisung erfolgte. Es ist anzunehmen, dass die Entscheidung, welche Spalte letztendlich auszufüllen sei, von der Anstaltsleitung (Dr. Begusch) gemeinsam mit Korp getroffen wurde.

Die von Oelschläger nachgewiesenen am „Feldhof“ verstorbenen 19 „Reichsausschuß- Minderjährigen“ starben zwar auf verschiedenen Stationen, doch war die Zahl der Todesfälle auf Station C2, wo Korp als Arzt tätig war, bedeutend höher als auf anderen Abteilungen, in denen diese Minderjährigen ebenfalls untergebracht waren.881

Ob Korp aktiv für „Euthanasie-Maßnahmen“ an Kindern und Jugendlichen in Form systematischer Unterversorgung, Nahrungsentzug oder Abgabe von Injektionen sorgte, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Schwester Rita verwies in ihrer Aussage zwar darauf, dass Korp Kindern und Jugendlichen Injektionen verabreichte, ob diese jedoch zum Tod führten, blieb unerwähnt. Als gesichert gilt jedoch, dass Korp anhand seiner Untersuchungen und der von ihm angeordneten Intelligenztests darüber entschied, welche Kinder und Jugendlichen bildungs- oder arbeitsfähig waren und somit in den Schulabteilungen Kainbach, Pertlstein bzw. in Messendorf, wo die Minderjährigen für landwirtschaftliche Arbeiten herangezogen wurden, bleiben konnten oder durch den ihnen von Korp zugewiesenen Status aus dem „Feldhof“ dorthin verlegt wurden, was ihre Überlebenschancen bedeutend steigerte. Ebenso war Korp dafür verantwortlich, dass bildungs- und arbeitsunfähige Minderjährige bei Nichtbestehen der Tests oder der Arbeitsüberprüfung in den „Feldhof“ aufgenommen wurden, wo viele von ihnen innerhalb weniger Tage oder Wochen zu Tode kamen. Seine Zuständigkeit für die Kinderabteilungen am „Feldhof“, dessen Filialen Kainbach, Pertlstein, Messendorf und das Wissen um die dortigen Geschehnisse bzw. die Vorkommnisse in der Kinderfachabteilung am „Feldhof“ zeigen, dass Korp an der „Euthanasie“ an Kindern und Jugendlichen beteiligt war.

880 Vgl. ARLT, 156, StLA. 881 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 115. 145

Zudem dürfte er generell gegenüber den „Euthanasie“-Maßnahmen eine positive Haltung eingenommen haben, wie Arlts Tagebucheintrag vom 29. Januar zeigt. An diesem Tag wurde Arlt von K. (K. steht für Korp)882 vorgeworfen, dass er im Zuge der Abtransporte vom „Feldhof“ nach Niedernhart Informationen an Angehörige der Patienten weitergegeben habe mit der Absicht, Patienten vor bevorstehenden Transporten zu bewahren.883 Nach Arlts Angaben erfuhren infolge dieser Konfrontation nur noch Dr. Begusch, Dr. Sorger und Schwester Linhart im Vorhinein von den Transporten.884 Im März 1941 notierte Arlt: „Gelangt trotzdem vorher jemand zur Entlassung, tobt K.“885 Aufgrund der von Arlt geschilderten Reaktion Korps ist anzunehmen, dass dieser dafür eintrat, dass keiner der abzutransportierenden Patienten seinem Schicksal entrinnen konnte.

Dr. Josefine Hermann:

Sie wurde am 1.3.1911 in Bruck an der Mur geboren und promovierte 1939 an der Universität Graz zum Dr. med.,886 wobei sich das genaue Promotionsdatum nicht aus den Personalakten eruieren lässt. Ab 1.11.1939 verrichtete sie ihren Dienst an der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik in Graz, wo sie im April 1941 die Leitung des Frauenambulatoriums übernahm.887 Ebenso war Hermann von 1.11.1939 bis 14.8.1940 als Hilfsärztin am Landeskrankenhaus Graz tätig und wurde am 1.1.1943 aufgrund ihrer neurologischen Fachkenntnisse zur wissenschaftlichen Assistentin der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Graz ernannt.888 Zu einem unbestimmten Zeitpunkt wurde Hermann als „Assistentin“ von Dr. Peter Korp im „Feldhof“ auf Stationen aktiv, wo Kinder und Jugendliche untergebracht waren, bzw. in den Schulabteilungen der Filialen Kainbach und Pertlstein.889 Laut Zeitzeugenbericht von Schwester Rita stand Hermann im Dienst der Universitätsklinik Graz und verrichtete zunächst nur „stundenweise“ Dienst am „Feldhof“, in Pertlstein und Kainbach.890 Nach Oelschläger besaß Hermann zudem fachliche Kenntnisse im Bereich der Pädiatrie (Kinderheilkunde), was ausschlaggebend dafür war, dass sie neben ihrer Tätigkeit an der Universitätsklinik Graz auch

882 Vgl. ARLT, 58, StLA. 883 Vgl. ebd., 85. 884 Vgl. ebd., 106. 885 Ebd. 886 Vgl. Schreiben an Dr. Josefine Hermann von Landeshauptmannstellvertreter Machold vom 7. Juni 1946, Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann, StLA. 887 Vgl. Dienstbeschreibung Dr. Josefine Hermann vom 9. Juli 1947, Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann, StLA. 888 Vgl. Schreiben des Betriebsratsobmanns an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 1, vom 30. August 1948, Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann, StLA. 889 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 39. 890 Vgl. ebd., 207. 146 von der Direktion des „Feldhofs“ für die medizinische Betreuung von Abteilungen, in denen Kinder und Jugendliche untergebracht waren, angefordert wurde.891 Am 15. Juli 1946 erfolgte die Definitivanstellung von Dr. Josefine Hermann als Oberärztin der Frauenabteilung am „Feldhof“.892 Zudem erhielt Hermann direkt nach Kriegsende die Leitung der neuen Heilpädagogischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am „Feldhof“.893

Am 30. Juni 1968 wurde Hermann in den Ruhestand versetzt, nicht zuletzt wegen der zuvor gestellten Diagnose „nervöser Erschöpfungszustand“. Hermann hatte seit Jahren mit psychischen Belastungsstörungen zu kämpfen und litt unter Angstzuständen und Depressionen.894

Beteiligung:

Als Dr. Josefine Hermann zu einem ungeklärten Zeitpunkt ihren Dienst am „Feldhof“ bzw. in den Schulabteilungen Kainbach und Pertlstein antrat, wurde sie von Dr. Peter Korp in die Angelegenheiten und Gepflogenheiten am „Feldhof“, was die ärztliche Betreuung der Minderjährigen betraf, eingewiesen. Laut Zeitzeugenaussage von Schwester Rita hat es den Anschein, dass vor allem Korp die Expertise der damals noch jungen Ärztin sehr schätzte und sie aus diesem Grund von der Universitätsklinik Graz – zunächst nur „stundenweise“ – für den „Feldhof“ anforderte. Mit ihrem Eintritt in die Zentralanstalt „Feldhof“ und den damit verbundenen Visiten in den Schulabteilungen Kainbach und Pertlstein, die sie gemeinsam mit Korp nach Schwester Ritas Angaben zweimal wöchentlich vornahm,895 nahm Korp sie unter seine Fittiche und sie wurde zu seiner persönlichen Assistentin. Als solche war sie zusammen mit Korp einerseits für jene Abteilungen der Zentralanstalt zuständig, wo Kinder und Jugendliche untergebracht waren, und andererseits für die Schulabteilung in Pertlstein und Kainbach.896 Hermann nahm laut Schwester Rita an den körperlichen Untersuchungen an Minderjährigen in der Zentralanstalt „Feldhof“ teil, die darüber entschieden, ob die Kinder und Jugendlichen bildungs- bzw. arbeitsfähig waren oder nicht. Waren Hermann und Korp der Meinung, dass es sich bei den von ihnen untersuchten und selektierten Minderjährigen um

891 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Praxis der NS-Kinder-„Euthanasie“, 2003, 1040. 892 Schreiben des Betriebsobmanns der Heil- und Pflegeanstalt Graz Feldhof an die Steiermärkische Landesregierung in Graz betreff Dienstantritts von Dr. Josefine Hermann vom 15. Juli 1946, Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann, StLA. 893 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilungen“, 2001, 133. 894 Vgl. Fachärztlicher Befund von Dr. Grete Schallaböck an den ärztlichen Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Feldhof Prim. Dr. Fritz Mayer vom 28.4.1962, Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann, StLA. 895 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 205. 896 Vgl. ebd., 206. 147

Bildungsunfähige handelte, mussten diese am „Feldhof“ verbleiben,897 wo viele von ihnen getötet wurden.898

Durch die von ihr vorgenommenen Untersuchungen hat Hermann das Schicksal vieler Kinder und Jugendlicher maßgeblich beeinflusst und sie, wenn ihre Begutachtung das ergab, in den „Feldhof“ und somit in vielen Fällen wissentlich in den Tod geschickt. Nach den Schilderungen Schwester Ritas, die angab, dass sie sehr eng mit Korp und Hermann zusammengearbeitet hat, muss zumindest von einer passiven Beteiligung von Dr. Josefine Hermann an der „Euthanasie“ an Minderjährigen ausgegangen werden.

Dr. Hans Mayr:

Er wurde am 22.4.1893 in Graz geboren, maturierte im Juli 1911 am k.k. II. Staatsgymnasium in Graz und begann im selben Jahr sein Studium an der Universität Graz. Im Mai 1920 promovierte er zum Dr. med. Seine fachärztliche Ausbildung absolvierte Mayr im KH Graz auf den Abteilungen Chirurgie und Interne von 1.8.1925 bis 1.2.1927. Am 2.2.1927 trat er seinen Dienst als provisorischer Assistenzarzt am „Feldhof“ an und wurde dort kurze Zeit später ordentlicher Assistenzarzt. Ab dem 4.4.1931 war er Primararzt der Pflegeabteilung am „Feldhof“899 und avancierte in weiterer Folge zum Leiter aller Stationen im D-Komplex (Pflegeabteilung D).900 Mayr war Facharzt für Psychiatrie und wurde mit Beschluss vom 11.4.1942 zum Gaumedizinalrat befördert.901 Bis 1943 war Mayr Leiter der Prosektur für die Obduktionen im „Feldhof“. Im selben Jahr wurde er zum Wehrdienst nach Kärnten abkommandiert.902 Er war Angehöriger der Deutschen Wehrmacht und als Stabsarzt des Reservelazaretts V tätig. Seit Mai 1938 war er Mitglied der NSDAP ohne Funktion und Mitglied der DAF (Deutsche Arbeitsfront) und der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt).903 Auch Mayr musste sich einer Überprüfung betreffend der weiteren Berufsausbildung nach § 19, Abs. 2 VG 1947 seitens der Sicherheitsdirektion für Steiermark unterziehen. Am 19. September 1947 wurde einer weiterführenden Berufsausbildung zugestimmt, da die Erhebungen bezüglich seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP ergaben, dass

897 Vgl. ebd., 207. 898 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 72. 899 Vgl. Fragebogen zu Personal- und Familiendaten, Fachliche Daten und Politische Daten der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Mayr 1949, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 900 Vgl. ARLT, StLA, 83. 901 Vgl. Fragebogen zu Personal- und Familiendaten, Fachliche Daten und Politische Daten der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Mayr 1949, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 902 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 42. 903 Vgl. Fragebogen der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Mayr vom 23.8.1945, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 148

Mayr als minderbelastet einzustufen ist.904 Die Kleine Zeitung schrieb am 7.9.1952: „Nervenarzt Dr. Mayr ordiniert wieder“.905 Am 1.1.1959 wurde Mayr in den Ruhestand versetzt906 und starb am 13.3.1967.907

Beteiligung:

Besonders die Aussagen der ehemaligen Schwester Rita zu Mayrs Beteiligung an der Tötung von Kindern und Jugendlichen belasten den ehemaligen Leiter der Pflegeabteilung D, wo hochgradig behinderte Minderjährige untergebracht waren,908 schwer. Dass am „Feldhof“ tödliche Injektionen verabreicht wurden, war auch Schwester Rita bekannt, die angab, dass jene Minderjährigen, die nicht bildungs- oder arbeitsfähig waren, am „Feldhof“ in die Pflegabteilungen D und C gelangten. Dort sollten sie nach den Schilderungen der ehemaligen Schwester zunächst mit Medikamenten beruhigt und in weiterer Folge „abgespritzt“ werden.909 Diese Vorkommnisse beschrieb sie wie folgt:

[…] „abgespritzt haben’s die! Da sind dann die Eltern manchmal gekommen und haben gesagt: „Ich hab’da einen Totenschein gekriegt, da stand Lungenentzündung auf.“ Aber da sind’s abgespritzt worden, da sind die Eltern gekommen und haben gefragt: „Was ist da eigentlich mit meinem Kind gewesen?“ Wir haben gesagt: „Ist gestorben, ja, ich weiß nicht, wir haben die Nachricht nicht geschrieben.“ Mit der Lungenentzündung, das ist x-mal so gegangen. Aber wir haben uns ja nicht rühren dürfen.“910

Namentlich nannte Schwester Rita Dr. Hans Mayr, der an der Tötung von Minderjährigen auf Station D aktiv beteiligt war. In Bezug auf die von Mayr durchgeführte „Euthanasie“ gab sie Folgendes an:

„Die Kinderabteilung, die war im D-Gebäude, vom Primar Hans Mayr. Und dann, der Dr. Mayr, der hat die ganz schwachen, die ganz debilen Kinder gehabt. Wenn die in den Feldhof gekommen sind, die ganz schwach waren, die sind dann auf die C-Station gekommen, ansonsten auf die D-Station. Der Dr. Mayr hat die Kinder auch gespritzt, totgespritzt. Die Angehörigen sind oft zu uns gerannt: „Was tut der Doktor da?“ Und da haben wir gesagt: „Das wissen wir nicht, das geht uns nichts an“ […] Die Kinder haben sogar selber gesagt, die 12, 13jährigen, das haben sogar einige Kinder gesagt, die von der Landesregierung scheinbar eingewiesen worden

904 Vgl. Überprüfung nach § 19 Abs. 2 VG 1947, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 905 Ausschnitt Kleine Zeitung vom 7.9.1952, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 906 Vgl. Schreiben der Direktion der Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke Graz-Feldhof an die Ärztekammer Steiermark vom 21. Jänner 1959 betreffend Standesführung der Ärzte, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 907 Vgl. Meldung an Pressestelle der Ärztezentrale Wien durch die Ärztekammer Steiermark am 21.4.1967, A. Ärztekammer, K. 164, H. 2873: Dr. Hans Mayr, StLA. 908 Vgl. POIER, „Euthanasie“ in der Steiermark, 2000, 76. 909 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 210-211. 910 Ebd., 211. 149

sind und so: „Beim Dr. Mayr, bei dem müssen wir alle sterben, weil wir dumm sind.“ Die haben das gesagt, ganz viele haben das gesagt.“911

Aufgrund der von Schwester Rita relativ detailgetreu geschilderten Ereignisse und der damit verbundenen namentlichen Nennung Mayrs ist davon auszugehen, dass neben Sorger auch Mayr einzelne Minderjährige durch Injektionen getötet hat. Oelschläger verweist zudem darauf, dass die von Mayr höchstwahrscheinlich vorgenommene „Euthanasie“, so wie bei Sorger, außerhalb des „Reichsausschuß“-Verfahrens in Eigenregie durchgeführt wurde.912 Mayr wurde jedoch für die ihm vorgeworfenen Gräueltaten nie belangt bzw. angeklagt und übte seinen Beruf als Arzt letztendlich bis zu seiner Pensionierung 1959 aus.

Dr. Johann Machan

Geboren am 7.12.1886 in Stainz bei Graz. Machan absolvierte das Akademische Gymnasium in Graz und promovierte am 23.3.1911 zum Dr. med. an der Universität Graz. Seine fachärztliche Ausbildung erfolgte in der Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke Graz- Feldhof, wo er ab Juli 1911 seinen Dienst als Assistenzarzt verrichtete.913 Am 13. Juli 1915 erfolgte die definitive Übernahme Machans als provisorischer Assistenzarzt am „Feldhof“.914 Am 1. Jänner 1923 erfolgte die Ernennung zum Primararzt.915 Der Facharzt für Psychiatrie war zudem von 1926 bis 1945 als Sachverständiger für Psychiatrie beim Landesgerichtssprengel Graz tätig.916 1931 wurde Machan mit der Leitung der Frauenabteilung (C-Stationen) am „Feldhof“ betraut.917 Nach der Beurlaubung des Anstaltsdirektors Dr.Weeber hatte Machan die kommissarische Leitung des Feldhofs von März 1938 bis September 1939 inne. Ebenso wurde er in der Übergangsphase nach dem Tod von Direktor Dr. Begusch mit der kommissarischen Leitung des „Feldhofs“ bis August 1944 betraut. Er war Angehöriger der Wehrmacht und leitete das Res.-Laz. IV Graz auf dem Gelände des Feldhofs. Die Personalakten Machans verweisen außerdem darauf, dass er als Oberstabsarzt im Res.-Laz. III Graz, Pörtschach und Lienz tätig war. Seit 1936 war er Mitglied des Vereins deutscher Ärzte in Österreich, ab 1. März 1938 Mitglied der NSDAP

911 Ebd., 211-212. 912 Vgl. ebd., 116. 913 Vgl. Fragebogen der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Machan, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 914 Vgl. Schreiben des steiermärkischen Landesausschusses an die Direktion der Landes-Irrenanstalt Feldhof vom 13. Juli 1915, Feldhof-Archiv, Personalakten: Hans Machan, StLA. 915 Vgl. Schreiben der Steiermärkischen Landesregierung an Dr. Hans Machan vom 4. Dezember 1923, Feldhof- Archiv, Personalakten: Hans Machan, StLA. 916 Vgl. Schreiben von Dr. Hans Machan an den Präsidenten des Landesgerichtes Graz vom 26.1.1949, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 917 Vgl. Schreiben an die Reichsstatthalterei Steiermark von Dr. Hans Machan betreffend Funktionszulage vom 19. April 1940, Feldhof-Archiv, Personalakten: Hans Machan, StLA. 150 ohne Funktion und seit Sommer 1938 Mitglied des NSD-Ärztebundes.918 Im Juni 1945 musste sich Machan einer Überprüfung der Landeshauptmannschaft Steiermark unterziehen, die klären sollte, ob er illegales Mitglied der NSDAP gewesen war. Machan verlor seine Zulassung als Kassenarzt und wurde mit Wirkung vom 31.12.1945 vom Dienst am „Feldhof“ enthoben.919 Die Überprüfung des Sicherheitsdirektors der Steiermark ergab jedoch, dass Machan als minderbelastet eingestuft und ab 21.9.1947 wieder als Arzt zugelassen wurde.920 Am 23. Juli 1949 teilte Machan der Steiermärkischen Ärztekammer mit, dass er sich seit Februar 1949 im Krankenstand befinde, an einem Herzmuskelleiden erkrankt sei und es ihm daher zukünftig nicht mehr möglich sein werde, eine ärztliche Praxis auszuüben.921 Machan starb am 12. November 1949 an einem Herzschlag.922

Beteiligung:

In seiner Funktion als Leiter der Frauenabteilung – auf deren Station C2 sich ein Großteil der Kinderfachabteilung befand – war Dr. Hans Machan in die Abläufe der KFA und die dortigen Geschehnisse involviert.923 Auch aufgrund der gehäuften Todesfälle von „Reichsausschuß- Kindern“ auf der von ihm geleiteten Station C2 muss davon ausgegangen werden, dass Machan mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Tötungen Minderjähriger im Rahmen des „Reichsausschußverfahrens“ wusste.924 Belegbar ist seine Beteiligung an der „Euthanasie“ an Minderjährigen dadurch, dass nach dem Tod von Dr. Oskar Begusch der Schriftverkehr bezüglich des „Reichsausschußes zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ nicht mehr an Beguschs Privatadresse, sondern direkt an die Anstalt „Feldhof“ ging.925 Da Machan ab 1944 die kommissarische Leitung der Anstalt innehatte, ging die Post des „Reichsausschußes“ ab diesem Zeitpunkt an ihn.

Als weiteren Beleg für Machans Kenntnis und Involvierung in das „Reichsausschußverfahren“ und die damit verbundene „Minderjährigeneuthanasie“ führt

918 Vgl. Fragebogen der Steiermärkischen Ärztekammer an Dr. Hans Machan, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 919 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an Dr. Hans Machan betreffend Enthebung vom Dienst vom 30. November 1945, Feldhof-Archiv, Personalakten: Hans Machan, StLA. 920 Vgl. Überprüfung nach § 19 Abs. 2 VG 1947 vom 3. September 1947, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 921 Vgl. Schreiben von Dr. Machan an die Steiermärkische Ärztekammer Graz vom 23. Juli 1949, A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 922 Todesanzeige Dr. Hans Machan Primararzt i.R., A. Ärztekammer Steiermark, K. 158, H. 2818: Dr. Hans Machan, StLA. 923 Vgl. OELSCHLÄGER, Zur Geschichte der „Kinderfachabteilung“, 2001, 132. 924 Vgl. OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, 2015, 115. 925 Vgl. ebd., 117. 151

Oelschläger den Schriftverkehr zwischen dem Direktor der Universitätsaugenklinik Graz, Prof. Dr. Pillat, und Machan 1943 an. Pillat stellte darin an Machan die Anfrage, ob ein erblindeter Junge in die Kinderfachabteilung am „Feldhof“ aufgenommen werden könnte.926 Machan antwortete, dass der Junge „am 20.7.1943 vom Reichsausschuss wegen Erblindung der Kinderfachabteilung bei der Gau Heil- u. Pflegeanstalt Feldhof bei Graz zugewiesen wurde.“927

Dr. Johann Kossär:

Er wurde am 24.6.1898 in Cilli geboren. Zunächst war Kossär als Distriktarzt in Kindberg und Kindberg-Umgebung tätig. Ab November 1938 war er als Vertragsarzt für die medizinische Betreuung von Pfleglingen der Landessiechenanstalt Kindberg verantwortlich, wo er zugleich eine eigene Praxis führte und als Hausarzt fungierte. Seit 1938 war Kossär Mitglied der NSDAP, ohne jedoch eine Funktion auszuüben.928

Beteiligung:

Am 10.11.1945 langte am Gendarmerieposten Kindberg von der Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag eine schriftliche Beschwerde über die unmenschliche Behandlung von Pfleglingen in der Landessiechenanstalt Kindberg durch den Krankenwärter Johann Kohlhauser zur Erhebung und Berichterstattung ein.929 Bei den Erhebungen der Gendarmerie gegen Kohlhauser stieß man auch auf die Vorgänge vom Februar 1941, die sich im Rahmen der Abtransporte von Pfleglingen aus Kindberg in die Vernichtungsanstalt Hartheim zugetragen hatten. In diesem Zusammenhang lag nun ein Tatbestand nach dem Kriegsverbrechergesetz gegen Dr. Johann Kossär vor. Zudem wurde gegen den Oberverwalter der Landessiechenanstalt Kindberg, Ferdinand Halla, und zwei Schwestern ermittelt,930 die jedoch für die vorliegende Arbeit nicht relevant sind. Kossär wurde am 4. Dezember 1945 verhaftet, da er nach §§ 3 und 4 des Kriegsverbrechergesetzes verdächtigt wurde, im Februar 1941 bei der Abstellung von 140 Pfleglingen aus Kindberg, die nach Hartheim zur Vergasung geschickt wurden, sich nicht gegen die Abtransportierung eingesetzt zu haben, obwohl ihm das als Anstaltsarzt möglich gewesen wäre. Des Weiteren wurde Kossär nach § 4

926 Vgl. ebd., Fußnote 191. 927 Ebd. 928 Vgl. Beschuldigtenniederschrift Johann Kossär, Gendarmeriepostenkommando Kindberg an das Bezirksgericht Kindberg vom 4. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 3, StLA. 929 Vgl. Übernahmebericht des verhafteten Johann Kohlhauser, LGS Leoben Vr 11/1946, 5, StLA. 930 Vgl. Erhebungsbericht der Gendarmerie Kindberg an das Bezirksgericht Leoben und an die Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag vom 12.12.1945, LGS Leoben Vr 11/46, StLA. 152

Kriegsverbrechergesetz unterlassene Hilfeleistung an 70 Pfleglingen, die im Vorraum der Anstalt Kindberg bereitgestellt waren und ihn um Hilfe anflehten, vorgeworfen. Er soll gesagt haben: „Soll ich dazu vielleicht noch eine Musik beistellen?“, was die Menschenwürde der Patienten verletzte. Als weitere Begründung für die Verhaftung Kossärs wurde Verabredungsgefahr angegeben, da man fürchtete, dass sich der Arzt mit Zeugen und weiteren Beschuldigten wie dem bereits inhaftierten Krankenwärter Johann Kohlhauser verabreden könnte.931 Das Volksgericht Leoben stellte anschließend umfangreiche Ermittlungen an, bei denen unter anderem mehrere Schwestern, Pfleglinge sowie der Oberverwalter Ferdinand Halla, der ebenfalls beschuldigt wurde, an der Zusammenstellung der Transporte beteiligt gewesen zu sein, und die Verwaltungssekretärin Maria Bruckner als Zeugen vernommen wurden.

Dass man sich in der Anstalt Kindberg nach dem ersten Abtransport bewusst war, dass die betroffenen Pfleglinge in Hartheim ermordet wurden, bestätigt die Aussage von Schwester Capistrana (Emilie Felkar), die seit 1930 in der Anstalt Kindberg tätig war. Sie gab zu Protokoll, dass die Schwestern nach dem ersten Transport vermuteten, dass die Patienten in Hartheim umgebracht werden sollten. Sie hatte zu dieser Zeit bereits Gerüchte aus dem Altreich gehört, dass Patienten transportiert und anschließend ermordet wurden, noch bevor in Österreich damit begonnen wurde. Zudem berichtete sie, dass beim ersten Transport nach Hartheim die Patientin „Mitzi“ Pichler mitabgegangen sei. Zuvor verständigte diese ihre Schwester, sie aus Kindberg abzuholen, doch es war zu spät. Ihre Schwester fuhr nach Hartheim, wo man ihr mitteilte, dass der Transport zwar angekommen sei, ihre Schwester aber nach Unbekannt verlegt wurde. Einige Tage später bekam sie die Nachricht, dass ihre Schwester gestorben sei, und ihr wurde eine Urne zugeschickt. Dadurch wurden Schwester Capistrana und ihre Kolleginnen in ihrer Vermutung bestätigt und sie gab an, dass sie nun vor dem Abgang des zweiten Transports wussten, dass die Patienten in Hartheim ermordet werden würden.932

Nach der Zeugenaussage des ehemaligen Pfleglings der Anstalt Kindberg, Alois Massenbichler, war Dr. Kossär gemeinsam mit zwei Ärzten aus Graz (gemeint sind Dr. Begusch und Dr. Sorger) an der Zusammenstellung des zweiten Transports beteiligt.933 Auch die ehemalige Verwaltungssekretärin der Anstalt Kindberg, Maria Bruckner, gab an, dass

931 Vgl. Haftschrift vom 4. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 1, StLA. 932 Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Schwester Capristana am 18.1.1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 97c, StLA. 933 Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Alois Massenbichler am 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 23, StLA. 153

Kossär zumindest beim zweiten Transport anwesend war.934 Dies wurde ebenso von der Ordinationsschwester Christine Leopold bestätigt, die zudem angab, dass er an der Zusammenstellung des Transports beteiligt war. Die Schwester berichtete außerdem von einem Gespräch zwischen ihr und Kossär, bei dem er sie fragte, ob sie wisse, wohin die Pfleglinge transportiert werden. Sie entgegnete: nach Hartheim bei Linz. Im Zuge ihrer Vernehmung wurde sie gefragt, welche Miene Kossär zu dieser Frage gemacht habe. Leopold sagte aus, dass sie Kossär absichtlich nicht ins Gesicht sah, da sie der Meinung war, dass er die Frage deshalb an sie richtete, um die Schwester zu „fangen“. Sie dachte sich schon damals, dass er ohnehin die Wahrheit kenne und nur von ihr wissen wollte, ob sie es auch weiß.935

Im Zuge seiner Vernehmung durch die Gendarmerie Kindberg gab Kossär zu Protokoll, dass er im Februar 1941 (das exakte Datum war ihm entfallen) von der Anstalt Kindberg fernmündlich darüber informiert worden war, dass Dr. Begusch ihn um 11 Uhr dort erwarten würde und er sich in der Anstalt einzufinden habe. Er äußerte, bis zu diesem Zeitpunkt Begusch nur vom Sehen gekannt zu haben. Bei einer fünfzehnminütigen Unterredung erklärte ihm Begusch, dass sein Besuch dazu diene, sich alle geisteskranken Pfleglinge vorführen zu lassen, wobei die schweren Fälle nach Hartheim kommen sollten. Kossär sagte aus, dass während seiner Anwesenheit kein Pflegling direkt vorgeführt wurde, sondern diese nur im Gänsemarsch an ihm und Begusch vorbeigingen, wobei sich dieser, ohne die Patienten zu untersuchen, gewisse Personen in einem mitgebrachten Verzeichnis notierte. Kossär will beim Abtransport der Pfleglinge nicht mehr anwesend gewesen sein, da er laut seiner Aussage von Dr. Begusch die Erlaubnis erhielt, die Anstalt zu verlassen, um sich seinen Patienten, die er als Hausarzt zu betreuen hatte, widmen zu können. Aufgrund seiner Abwesenheit war es ihm daher nicht möglich, den abzutransportierenden Pfleglingen Hilfestellung zu leisten bzw. die ihm vorgeworfene Äußerung getätigt zu haben.936

Am 6. Dezember 1945 wurde Kossär dem Richter Dr. Ebenberger vorgeführt und abermals vernommen. Seine Angaben deckten sich im Wesentlichen mit jenen, die er schon bei der Vernehmung durch die Gendarmerie Kindberg gemacht hatte. Er beteuerte, von Begusch nicht in Kenntnis gesetzt worden zu sein, was den Zweck des Abtransports betrifft, und schon

934 Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Maria Bruckner am 24. November 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 33, StLA. 935 Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Christine Leopold am 18.1.1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 97, StLA. 936 Vgl. LGS Leoben Vr 11/1946, Beschuldigtenniederschrift Johann Kossär, Gendarmeriepostenkommando Kindberg an das Bezirksgericht Kindberg vom 4. Dezember 1945, 5, StLA. 154 gar nicht wurde ihm mitgeteilt, dass diese Pfleglinge vergast werden sollten. Auch deshalb sah er keine Veranlassung, den aufgelösten und von Angst geplagten Pfleglingen zu helfen und sich in diese Angelegenheit einzumischen. Vielmehr waren nach seinen Aussagen Abtransporte nichts Außergewöhnliches und da er deren wahren Grund nicht kannte und sich die Patienten nach dem ersten Transport aus Kindberg nach Hartheim gefreut hätten, war für ihn kein Verbrechen ersichtlich, gegen das er sich zur Wehr hätte setzen sollen. Was mit den Transporten tatsächlich bezweckt war, wussten nach Kossär nur die beiden Grazer Ärzte.937 Der Oberverwalter Ferdinand Halla hingegen, der wie Kossär ebenfalls beschuldigt wurde, an der Zusammenstellung der Transporte in die Vernichtungsanstalt Hartheim beteiligt gewesen zu sein, gab bei seiner Vernehmung an, dass sowohl Kossär als auch er selbst beim zweiten Mal, als Begusch und Sorger in die Anstalt kamen und den zweiten Transport zusammenstellten, anwesend waren. Was Kossärs menschenunwürdige Äußerung betrifft, sagte Halla aus, dass er diese laut und deutlich gehört hatte.938 Hinsichtlich der Anwesenheit und des Wissens Kossärs um die Transporte aus Kindberg gab Halla zu Protokoll:

„Wenn Dr. Kossär in seiner Verantwortung angibt, dass er vom ersten Transport nach Hartheim bei Linz keine Kenntnis hatte, so kann ich nur annehmen, dass das nicht wahr ist. Wenn Dr. Kossär beim ersten Besuch durch Begusch tatsächlich nicht hiergewesen sein sollte, und etwa an diesem Tag, an welchem der 1. Abtransport erfolgte, etwa auch nicht in der Anstalt erschienen ist, so hat er, sei es durch Vorlage der Katasterblätter oder jedenfalls durch mündliche Mitteilung, von diesem ersten Transport Kenntnis gehabt. Jedenfalls war er anwesend, als Dr. Begusch das zweitemal hier war und abermals für einen 2. Transport die Pfleglinge aussuchte.“939

Die Verantwortung für die Transporte aus Kindberg nach Hartheim wurde von den Beschuldigten vor allem auf Dr. Oskar Begusch und Dr. Ernst Sorger abgeschoben. Auch die Aussage Kossärs, dass ihm die wahren Hintergründe der Transporte unbekannt gewesen seien, ist typisch für die wegen „Euthanasieverbrechen“ in der Steiermark einvernommenen Personen. Kossär rechtfertigte sich in seinen Vernehmungen immer wieder damit, nicht mit der Zusammenstellung der Vernichtungstransporte in Verbindung gestanden zu haben bzw. die ihm vorgeworfenen Taten nicht begangen haben zu können, da er zu den Zeitpunkten der Abtransporte nicht zugegen war. Obwohl die Mehrheit der Bediensteten aus der Landessiechenanstalt Kindberg aussagte, dass Kossär einerseits über die Transporte nach Hartheim Bescheid wusste und andererseits zumindest beim zweiten „Abgang“ von 70 Patienten anwesend war, konnte ihm – so wie Ferdinand Halla – keine Beteiligung an der Verschickung der Pfleglinge nachgewiesen werden.

937 Vgl. LGS Leoben Vr 11/1946, Vernehmung des Beschuldigten am 6.12.1945, 9-10, StLA. 938 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Ferdinand Halla am 17.1.1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 82-83, StLA. 939 Ebd., 86. 155

Bereits während der skizzierten Zeugenvernehmungen befand sich Kossär seit 5. Jänner 1946 wieder auf freiem Fuß.940 Am 26.9.1947 wurde er nach einem Beschluss der Ratskammer des Kreisgerichts Leoben außer Verfolgung gesetzt und das Verfahren gegen ihn eingestellt.941 Schon zuvor hatte der politische Ausschuss der Steiermärkischen Ärztekammer am 17. Juni 1947 entschieden, dass Kossär im Hinblick auf seine Mitgliedschaft in der NSDAP als minderbelastet einzustufen ist, sein Berufsverbot aufgehoben wird und er wieder als praktischer Arzt tätig sein kann.942

Dr. Max Pachmayer:

Pachmayer wurde am 13. März 1863 in Großlobming geboren.943 Er promovierte am 13. Juni 1890 an der Universitätsklinik Graz zum Dr. med.944 Pachmayer war Mitglied der NSDAP und des NSD-Ärztebundes. Er verfügte über keine fachärztliche Ausbildung und war als Allgemeinpraktiker zugelassen.945 Als Distriktarzt war er für den Sanitätsdistrikt Knittelfeld II zuständig.946 Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde er Anstaltsarzt der Gausiechenanstalt Knittelfeld und am 18. April 1940 zum beauftragten Arzt für die „erbbiologische Bestandsaufnahme“ in der Gausiechenanstalt Knittelfeld bestellt. Pachmayer war somit für die vom Landesobmann für „die erbbiologische Bestandsaufnahme“, Dr. Ernst Sorger, beauftragte Sippenuntersuchung in Knittelfeld verantwortlich.947 Er starb am 14.12.1941.948

Beteiligung:

Am 5. April 1940 begab sich Dr. Sorger in die Gau-Siechenanstalt Knittelfeld, um sich mit der Verwaltung der Anstalt für die bevorstehende „erbbiologische Bestandsaufnahme“ abzusprechen.949 Um für einen reibungslosen Ablauf der Erfassung der Patienten zu sorgen,

940 Vgl. Enthaftungsbericht, LGS Leoben Vr 11/1946, 111, StLA. 941 Vgl. Beschluss der Ratskammer des Kreisgerichtes Leoben vom 26.9.1947, Vr 11/1946, 313, StLA. 942 Vgl. Schreiben der Steiermärkischen Ärztekammer an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung vom 17. Juni 1947, LGS Leoben Vr 11/1946, 305, StLA. 943 Fragebogen zur erstmaligen Meldung der Ärztekammer Donauland an Dr. Max Pachmayer vom 3. November 1938, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 944 Schreiben des Beauftragten des Reichsärzteführers an die KVD-Landesstelle Donauland vom 7.8.1939, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 945 Fragebogen zur erstmaligen Meldung der Ärztekammer Donauland an Dr. Max Pachmayer vom 3. November 1938, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 946 Meldung an die Ärztekammer vom 12.7.1941, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 947 Vgl. Schreiben der Reichsstatthalterei in der Steiermark (Gauselbstverwaltung) vom 18. April 1940, LGS Leoben Vr 973/1946, StLA. 948 Meldung an die Ärztekammer vom 18.12.1941, A. Ärztekammer Steiermark, K. 178, H. 2991: Dr. Max Pachmayer, StLA. 949 Vgl. Schreiben von Dr. Ernst Sorger an die Verwaltung der Siechenanstalt Knittelfeld vom 2.4.1940, LGS Leoben, Vr 973/46 StLA. 156 kam Sorger in seiner Funktion als Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten“ im April 1940 nach Knittelfeld, wo er Dr. Max Pachmayer in seine Aufgaben als „beauftragter Arzt für die erbbiologische Bestandsaufnahme in der Gausiechenanstalt in Knittelfeld“ einwies.950 Am 21. Juni 1940 erhielt die Verwaltung Knittelfeld ein Schreiben des Reichsstatthalters, dem zwei Meldebögen beilagen, mit dem Auftrag, die Patienten zu erfassen, die Meldebögen auszufüllen und diese zur Begutachtung nach Berlin zu schicken.951 Für eine Beteiligung Pachmayers sprechen die von ihm unterzeichneten und nach Berlin geschickten Patienten-Meldebögen, die insgesamt 213 Patienten betrafen und nach der Begutachtung in Berlin die Basis der folgenden „Euthanasiemaßnahmen“ der Aktion „T4“ in Knittelfeld bildeten.952 Da Pachmayer bereits am 14.12.1941 gestorben war, wurde gegen ihn kein Verfahren eingeleitet, das Aufschluss über seine tatsächliche Rolle als beauftragter Arzt für die „erbbiologische Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten“ geben hätte können.

Dr. Gertrude Tropper:

Geboren am 22.3.1908 in Graz, wo sie am 12.7.1940 an der Universität Graz zum Dr. med. promovierte. Ab 1. Dezember 1940 war sie an der Chirurgischen Abteilung im Landeskrankenhaus Graz, danach vom 31. Mai 1941 bis 21. Juni 1942 im Unfallkrankenhaus Graz als Volontärarzt tätig. Am 22. Juni 1942 trat sie abermals in den Verband des Gaukrankenhauses ein und wurde am 1. November 1943 zur Oberärztin ernannt. Ab März 1944 leitete sie die chirurgische und medizinische Abteilung in Kainbach.953 Zu diesem Zeitpunkt fungierte die ehemalige Siechenanstalt Kainbach aufgrund der Bombenangriffe auf Graz als Ausweichstelle für das Gaukrankenhaus Graz. Tropper war seit 12.3.1933 (ab Juni 1933 illegales) Mitglied der NSDAP, bekleidete nach 1938 die Funktion einer Gaufrauenturnwartin und wurde als fanatische Nationalsozialistin beschrieben.954

950 Vgl. Schreiben der Reichsstatthalterei Steiermark an Dr. Max Pachmayer vom 18.4.1940, LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 951 Vgl. Schreiben der Siechenanstalt Knittelfeld an den Reichsminister des Innern vom 24.6.1940. Meldebogen 2 wurde bereits am 21. Juni zurückgesandt und war diesem Schreiben beigelegt. LGS Leoben, Vr 973/46, StLA. 952 Vgl. HALBRAINER, „Wir bedauern, Ihnen die Mitteilung machen zu müssen, …“, 2014, 90. 953 Vgl. Schreiben der Direktion des Gaukrankenhauses Graz-Ost an den Regierungsrat Dr. Turk vom 1. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 11, StLA. 954 Vgl. Schreiben der Kriminalpolizei Graz Abteilung I an die Abteilung V vom 3. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 113, StLA. 157

Beteiligung:

Am 19. September 1945 erstattete die Landeshauptmannschaft für Steiermark gegen Gertrude Tropper, die zu diesem Zeitpunkt nach § 14 Verbotsgesetz ihre Zulassung als Ärztin bereits verloren hatte, bei der Kriminalpolizei Graz Anzeige.955 Der Vorwurf lautete:

„Die Genannte hat am 1.4.1945 um 15:00 Uhr, 15 schwer kranken Patienten anlässlich der angeordneten Räumung des Ausweichkrankenhauses in Kainbach zugestandenermassen Morphiuminjektionen in tödlicher Dosis verabreicht und dadurch den Tod von 13 Kranken verursacht.“956

In Folge dessen wurden umfangreiche Ermittlungen gegen Dr. Gertrude Tropper eingeleitet und die Beschuldigte am 24.9.1945 um 15:00 Uhr in Gröbming wegen Mordes in 13 Fällen und Tötung auf Verlangen verhaftet.957

Am 25. September 1945 wurde Tropper das erste Mal von der Kriminalpolizei Graz über die ihr zur Last gelegten Taten einvernommen bzw. zu den Ereignissen des 1. April 1945 in Kainbach befragt. Sie berichtete, dass sie im Auftrag ihres Vorgesetzten Prof. Dr. Winkelbauer in das Ausweichkrankenhaus Kainbach versetzt worden war.958 In Kainbach leitete sie die chirurgische Frauen- und Männerabteilung und war dort die verantwortliche Ärztin. Am Ostersonntag 1945 um 12:00 Uhr gab es ein Telefongespräch zwischen ihr und dem Zentraldirektor Prof. Dr. Schneider, der wegen der immer näherrückenden Bedrohung durch die Rote Armee Tropper mit der Räumung Kainbachs beauftragt haben soll. Die Räumung sollte so vorbereitet werden, dass sie in zwei bis drei Tagen abgeschlossen werden könne. Daher besprach sie sich mit den leitenden Schwestern und ihren Ärztekollegen. Nach dem Mittagessen erschien Stabsarzt Dr. Payer und überbrachte im Auftrag des Zentraldirektors den Befehl, Kainbach sofort zu räumen. Daraufhin rief Tropper abermals den Zentraldirektor an, der ihr mitteilte, dass ihr für die Evakuierung weder die Lastautos des Roten Kreuzes noch jene des Betriebes zur Verfügung stünden. Als sie ihn fragte, wie sie dann vorgehen solle, erwiderte er ihr, dass sie auf sich gestellt sei. Auf die Frage, was sie mit den im Sterben liegenden Patienten machen solle, antwortete er „liegen lassen“. Als sie sagte, sie könne das nicht machen, gab er zur Antwort „Spritzen“.959 Diese Angabe Troppers wurde auch von Dr. Bergrath, die zum Zeitpunkt des Telefonats im Zimmer anwesend gewesen sein

955 Vgl. Schreiben der Landeshauptmannschaft für Steiermark an die Polizeidirektion, Kriminalpolizei Graz vom 15. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 2, 9. 956 Ebd. 957 Vgl. Haftschrift Kriminalpolizei Graz vom 24. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 223. 958 Vgl. Vernehmungsniederschrift von Dr. Gertrude Tropper vom 25. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 225. 959 Vgl. Vernehmungsniederschrift von Dr. Gertrude Tropper vom 28. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 225, StLA. 158 will, bestätigt. Sie sagte aus, dass sie durch die lauttönende Telefonmuschel deutlich hören konnte, dass Schneider das Wort „Spritzen“ gebrauchte.960 Die Anordnung des Zentraldirektors legte Tropper nach ihren Angaben so aus, Patienten in einen Dämmerschlaf zu versetzen, um sie transportfähig zu machen. Sie entschloss sich aufgrund der Anordnung Schneiders dazu, den moribunden Patienten niedere Dosen von narkotischen Mitteln (Evipan) zu verabreichen, was sie nach ihren Angaben mit ihren Kollegen – darunter Dr. Hofmann – abgesprochen hatte.

Bei ihrer anschließenden Visite, die sie nach ihren Angaben nur auf der chirurgischen Abteilung durchführte, meinte sie sich erinnern zu können, dass sie Injektionen verabreicht hat. Im Lauf der Zeit will sie vielen Kranken verschiedene Injektionen verabreicht haben, darunter sowohl Herz- als auch schmerzstillende Mittel. Mehreren Kranken habe sie Evipaninjektionen verabreicht. Dies geschah im Beisein Dr. Hofmanns. Diese Injektionen wurden nach Troppers Aussage nur jenen Patienten gespritzt, die ansonsten nicht transportfähig gewesen wären. Es handelte sich dabei um 10-12 Patienten ihrer Abteilung.961 Was die medizinische Abteilung betrifft, vermerkte sie, dass sie dort lediglich zwei Herzmittelinjektionen verabreichte und mit den dort geschehenen Todesfällen nichts zu tun hatte, da Hofmann für diese Abteilung verantwortlich war. In der medizinischen Abteilung verstarben sechs Patienten. Auf Befragen bestritt Tropper, an diesem Tag auf dieser Abteilung Visite gemacht zu haben; daher sei sie nicht für die Injektionsabgabe an diese sechs Patienten der medizinischen Abteilung verantwortlich.962 Außerdem betonte sie immer wieder, den am 1.4.1945 verstorbenen Patienten in Kainbach keine Injektionen mit letaler Dosis verabreicht zu haben. Sie hätte im Gegenteil darauf geachtet, die Dosen sehr niedrig zu wählen, sodass eine Gefährdung der Patienten vollkommen ausgeschlossen sei.963

Dr. Adolf Winkelbauer, Direktor der Chirurgie des KH Graz, gab bei seiner Zeugenvernehmung an, dass er von Schwestern, die am 1.4.1945 ihren Dienst in Kainbach versahen, unterrichtet wurde, dass Tropper Injektionen verabreicht hätte, die zum Tod von Patienten führten. Er berichtete, dass Tropper noch am selben Tag abends in die chirurgische

960 Vgl. Schlussbericht der Kriminalpolizei Graz vom 8. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 271, StLA. 961 Vgl. Vernehmungsniederschrift von Dr. Gertrude Tropper vom 28. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 225-241. 962 Vgl. Vernehmungsniederschrift von Dr. Gertrude Tropper vom 28. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 245. 963 Vgl. Vernehmungsniederschrift von Dr. Gertrude Tropper vom 5. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 101-102, StLA. 159

Klinik Graz kam und er sie daraufhin zur Rede stellte:964 „Was ist Ihnen denn eingefallen, sind Sie wahnsinnig geworden, was können Sie so etwas unternehmen, ohne mich vorher hievon zu verständigen.“965 Er gab an, dass sie sich ihm gegenüber damit verantwortete, ihn telefonisch nicht erreicht, anschließend Direktor Schneider angerufen und mit seinem Einverständnis den nicht transportfähigen Patienten Injektionen verabreicht zu haben. Ob Tropper während der Unterredung mit Winkelbauer erwähnte, dass sie über Auftrag Schneiders letale Dosen gespritzt hätte, konnte er nicht angeben. Einige Tage später konfrontierte Winkelbauer Schneider mit dem Vorfall, der mit energischem Ton diesen Auftrag in Abrede stellte. Er habe laut seinen Angaben mit Tropper nicht mehr gesprochen, da er sie nach Gröbming abkommandierte. Ob Tropper auch Patienten auf der medizinischen Abteilung Injektionen verabreicht hatte oder ob das durch Hofmann geschah, entzog sich Winkelbauers Kenntnis; er habe lediglich von den Schwestern erfahren, dass auch auf der medizinischen Abteilung Patienten verstorben waren.966 Er schloss seine Vernehmung wie folgt:

„Aus den ganzen Vorfällen in Kainbach musste ich den Schluss ziehen, dass der eingetretene Tod der Patienten mit den Injektionen in einem Zusammenhang stand. Frau Dr. Tropper, die die Räumung in Kainbach allein durchgeführt hat, dürfte durch die Panikstimmung den Kopf verloren haben.“967

Schwester Arkadia, die erst seit einem Jahr im Ausweichkrankenhaus Kainbach tätig war, sagte bei ihrer Zeugenvernehmung am 26. September 1945 aus, dass ihr bekannt war, dass Dr. Tropper am 1. April 1945 14 Patienten Injektionen mit letalen Dosen verabreicht hat. Sie selbst war bei der Verabreichung der Injektionen nicht zugegen, wurde jedoch an diesem Tag von einer anderen Schwester darüber informiert, dass Tropper jetzt „zu spritzen beginnt“. Infolgedessen erteilte sie allen anderen Schwestern den Auftrag, unter keinen Umständen in die Nähe der Ärztin zu gehen und keinerlei Handreichungen vorzunehmen. Es bestand laut ihrer Aussage keine Möglichkeit, Tropper von ihrer Handlung abzubringen. Sie fügte außerdem hinzu, dass Tropper schon einige Tage vor Anrücken des Feindes geäußert hätte, dass sie die nicht transportfähigen Patienten „verspritzen“ werde. Um ca. 15:30 Uhr begann Tropper nach Angaben der Schwester mit dem „Spritzen“. Sie berichtete von zwei männlichen Patienten, die sofort nach der Injektion verstarben. Kurz nach ihrem Weggang aus der Klinik um ca. 19:00 Uhr notierte sich die Schwester die Namen der verstorbenen

964 Vgl. Zeugenniederschrift von Alois Winkelbauer vom 1.10.1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 199, StLA. 965 Ebd. 966 Vgl. Zeugenniederschrift von Alois Winkelbauer vom 1.10.1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 199-201, StLA. 967 Ebd., 201. 160

Patienten, die sie von den zuständigen Zimmerschwestern erhielt. Dabei wurde ihr gemeldet, dass die Patientin Josefa Lys tot sei, die ebenfalls von Tropper eine Injektion erhalten hatte. Diese Patientin war jedoch an hohe Dosen Morphium gewöhnt bzw. schon resistent und kam in der Nacht wieder zu sich. Die Toten wurden noch über Nacht liegengelassen und Lys, die überlebte, lag unter den Toten. Erst am nächsten Tag wurde diese Patientin überführt. Besonders belastend ist die Aussage, die Schwester Arkadia am Ende ihrer Vernehmung tätigte:

„Ich kann bezeugen, dass Frau Dr. Tropper für die Kranken, die an diesem Tag gestorben sind, keinen Auftrag zum Abtransport gegeben hat. Auch hat Frau Dr. Tropper keiner Schwester und auch keinem anderen Personal den Auftrag gegeben, bei den 14 Kranken zu verbleiben.“968

Schwester Zelesta (Juliane Strempfl), die sich seit dem 1. März 1944 in Kainbach befand und auf der dortigen Männerabteilung ihren Dienst verrichtete, war nach ihren Angaben während der Visite Troppers anwesend. Auf Anordnung Troppers mussten die „leichteren“ Kranken, die abtransportiert werden sollten, angezogen werden. Für die Schwerkranken gab sie den Befehl zuzuwarten. Ein schwerkranker Patient namens Niederl war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon angekleidet, worüber sich Tropper maßlos ärgerte und fragte, warum jener angekleidet war. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Injektionsspritze in der Hand, erfasste grob den Arm des Patienten und verabreichte ihm die Injektion. Der Patient fiel nach Angaben Schwester Zelestas rückwärts ins Bett, überdrehte die Augen und verstarb noch während der Verabreichung der Injektion. Zelesta fügte hinzu, dass Niederl zwar sehr krank war, aber man nicht annehmen musste, dass er in nächster Zeit versterben werde. Über die Geschehnisse auf der medizinischen Abteilung konnte sie nichts angeben. Auf der chirurgischen Männerabteilung starben laut Zelesta drei Patienten innerhalb kürzester Zeit.969

Am 4. Oktober 1945 wurde Schwester Zelesta abermals als Zeugin befragt. Ergänzend gab sie an, dass Tropper bei Niederl nach Verabreichung der Injektion nicht den Puls gefühlt hat. Auch sei ihr nicht bekannt, dass die Beschuldigte, wie diese selbst angab, herzstärkende oder schmerzstillende Mittel injiziert hätte.970 Sie schloss ihre Zeugenaussage wie folgt: „Mit

968 Vgl. Zeugenniederschrift mit Schwester Arkadia vom 26. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 125-129. 969 Vgl. Zeugenniederschrift mit Schwester Zelesta vom 26. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 135-139. 970 Vgl. Fortsetzung der Zeugenniederschrift von Schwester Zelesta vom 4. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 141. 161

Sicherheit kann ich angeben, dass kein Patient sich im Zustand des Dämmerschlafes befunden hat und ein solcher schlafend nach Graz abtransportiert wurde.“971

Auch Schwester Wendelina (Maria Flisar) hatte am 1. April 1945 in Kainbach Dienst. Am Räumungstag nahm Tropper nach ihren Angaben auf der chirurgischen Frauenabteilung, wo die Schwester ihren Dienst verrichtete, eine Visite vor. Nach Abschluss der Visite, bei der Schwester Wendelina nicht anwesend gewesen sein will, ging Tropper nach Angaben der Schwester auf die chirurgische Männerabteilung. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie laut der Schwester eine Injektionsspritze in der Hand und ging an einem Zimmer, in dem sich Wendelina aufhielt, vorbei. Kurz darauf musste Schwester Wendelina das Zimmer verlassen. Als sie zurückkam, war ihre Patientin nicht mehr in diesem Zimmer. Wendelina machte sich auf die Suche nach ihr und fand sie samt Bett in einem anderen Zimmer, wo drei tote Patienten lagen, unter ihnen die von der Schwester gesuchte Patientin. Bei allen dreien konnte sie Einstiche von Injektionen erkennen. Insgesamt waren laut der Schwester während der Visite Troppers, die maximal eine Stunde dauerte, auf der chirurgischen Abteilung vier Frauen und drei Männer gestorben.972

Bei einer neuerlichen Vernehmung Wendelinas gab sie bezüglich der von Tropper verabreichten Injektionen und des damit verbundenen Tods von Patienten Folgendes zu Protokoll:

„Ich bin seit 15 Jahren Krankenschwester und kenne den Unterschied zwischen Bewusstlosigkeit und Tod. Bei den vier Patientinnen Sackl, Samssa, Schmied und Pollaischer war bereits der Tod eingetreten. Dass diese vorgenannten Kranken vorher eine Injektion bekommen haben ist sicher. Ich habe bei Abräumen der Betten blutige Tupfer und blutige Decken bezw. Leintücher vorgefunden. Diese Blutspuren stammen von der Injektion. Nach dieser Feststellung muss Frau Dr. Tropper den Kranken intravenöse Injektionen verabreicht haben.“973

Dass Tropper auch auf der medizinischen Abteilung – ganz entgegen ihrer Aussage – Injektionen an Patienten verabreichte, die kurz darauf starben, gab Schwester Evilasia (Johanna Wagner) bei ihrer Zeugeneinvernahme am 4. Oktober 1945 an: „Ich war Augenzeuge wie Frau Dr. Tropper am 1.4.1945 um ca. 14 Uhr 30 dem Patienten Hanke von

971 Ebd. 972 Vgl. Zeugenniederschrift von Schwester Wendelina vom 26. September 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 147-149. 973 Fortsetzung der Zeugenniederschrift von Schwester Wendelina vom 4. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 151. 162 der medizinischen Abteilung in Kainbach eine Injektion verabreicht hat. Dieser Patient ist hernach verstorben.“974

Ab Dezember 1945 bzw. Januar 1946 wurden in Kainbach Exhumierungen von 12 Personen durchgeführt.975 Alle Leichen waren in einem Massengrab beigesetzt worden.976 Der dreizehnte in Kainbach zu Tode gekommene Patient wurde nach Halbrainer bereits im April 1945 in Eggersdorf bestattet.977 Das Gutachten des Medizinisch-Chemischen Instituts der Universität Graz ergab, dass in einer exhumierten Leiche das Alkaloid Morphin (Morphium) nachgewiesen werden konnte.978 Erwiesenermaßen hatte man dieser Person kurz vor ihrem Tod Morphium verabreicht. Da die nachgewiesene Menge jedoch gering war, konnte nicht mehr eruiert werden, ob diese Dosis therapeutischen Zwecken diente oder mit Tötungsabsicht verabreicht wurde. Zudem war die Leiche schon stark verwest, was die Begutachtung zusätzlich erschwerte.979

Am 11. Juli 1946 wurde Tropper wegen Meuchelmord und Verbrechen der Tötung auf Verlangen angeklagt.980 Gegen die Anklage erhob Tropper mehrmals Einspruch. Darin argumentierte sie, dass sie zum Giftkasten, in dem das Morphium aufbewahrt wurde, gar keinen Zugang hatte, sondern nur die Schwester über den Schlüssel verfügt hätte und überhaupt erst festzustellen sei, ob zu dieser Zeit solche großen Mengen Morphium in Kainbach zur Verfügung standen, um, wie es die Anklage behauptete, 12 Menschen töten zu können.981 Betreffend den Umstand, dass in Kainbach am 1.4.1945 in kürzester Zeit 13 Patienten starben, gab sie zu, dass es schon auffällig war, dass an diesem Tag 13 Personen in der medizinischen und chirurgischen Abteilung verstorben waren. Sie führte das jedoch darauf zurück, dass diese Personen ohnehin Todeskandidaten gewesen waren, und berief sich dabei auf deren Krankengeschichten:982

„Dass an einem Tage sich soviele Todesfälle ereignen, mag ein Zufall sein. Mir konnte aber an diesen natürlichen Ereignissen ein strafbares Verschulden nicht

974 Zeugenniederschrift von Schwester Evilasia vom 4. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 161. 975 Augenschein und Vernehmung von Sachverständigen vom 21.1.1946, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 1, 425, StLA. 976 Vgl. HALBRAINER, „ Ich glaube, es hat lediglich Dr Begusch davon gewusst.“, 2014, 146. 977 Vgl. ebd., 151, Fußnote 34. 978 Vgl. Schreiben des Medizinisch-Chemischen Institutes der Universität Graz an das Landesgericht für Strafsachen Graz vom 13.2.1946, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 1, 565, StLA. 979 Vgl. Gutachten über die Todesursache der Elisabeth Dostal, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 1, 581, StLA. 980 Vgl. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Graz gegen Dr. Gertrude Tropper vom 11. Juli 1946, LGS Graz Vr 1261/1945, Band 1, 647, StLA. 981 Vgl. Einspruch gegen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 11.7.1946, ebd., 659. 982 Vgl. ebd., 673. 163

angelastet werden. Es können verschiedene, derzeit gar nicht bekannte Zwischenursachen, den Tod einzelner Patienten herbeigeführt haben.“983

Tropper führte die Anklage generell auf die feindselige Haltung der Schwestern ihr gegenüber zurück. Zudem war es ihr unbegreiflich, dass das Verfahren gegen Dr. Hofmann eingestellt worden war, da sie der Meinung war, dass es sich bei Hofmann um denselben Tatbestand handelte wie bei ihr.984

Im November 1946 richtete Tropper sogar ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten. Darin erklärte sie, dass sie weder die ihr

„zur Last gelegten noch andere verbrecherische Handlungen in böser oder gar feindseliger Absicht, daher ohne jeden verbrecherischen Dolus, vielmehr in einem unverschuldeten Notstande und in der reinsten nur von den Gesetzen der Menschlichkeit diktierten Absicht begangen habe, die Schmerzen der moribunden Patienten beim Transporte zu lindern und auch nur auf Befehl des Direktors Prof. Schneider, ich daher ein Verbrechen in meiner Handlung überhaupt nicht erkennen konnte, durch meinen mit Vollmacht in Beilage ausgewiesenen Vertreter die tiefgefühlte und ergebene BITTE zu richten, in Würdigung dieser Sach-Rechtslage und der besonderen Umstände des Falles die Einstellung des Strafverfahrens gegen mich im Gnadenwege verfügen zu wollen.“985

Die Anklage gegen sie sei unbegründet und nicht beweisbar, da sie das narkotische Mittel Evipan lediglich anwendete, um einen Dämmerschlaf herbeizuführen. Nach ihrer Ansicht wäre schon aus diesem Grund jede Tötungsabsicht auszuschließen.986 Das Gnadengesuch wurde am 14. Februar 1947 abgelehnt.987

1947 wurden vom Medizinisch-Chemischen Institut der Universitär Graz und vom Wiener Pharmakologischen Institut im Auftrag des Landesgerichts für Strafsachen Graz laufend Gutachten erstellt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Daraufhin beauftragte das LGS Graz am 1. Dezember 1947 die Medizinische Fakultät der Universität Innsbruck mit einem abschließenden Gutachten.988 In diesem 18seitigen Schriftstück kam man zu dem Ergebnis, dass bei einigen der am 1.4.1945 in Kainbach verstorbenen Patienten der Tod auch auf natürliche Weise eingetreten sein konnte. Bei anderen könnten die Evipaninjektionen zum Tod geführt bzw. diesen beschleunigt haben. Letztendlich könne keine Tötungsabsicht oder

983 Ebd. 984 Vgl. ebd., 668. 985 Gnadengesuch von Dr. Gertrude Tropper an den Bundespräsidenten der Republik Österreich November 1946, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 2, 6-7, StLA. 986 Vgl. ebd., 42-42. 987 Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Graz an das Landesgericht für Strafsachen Graz vom 14. Februar 1947, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 167, StLA. 988 Vgl. Schreiben des Landesgerichtes für Strafsachen Graz an das Landes- und Bezirksgericht Innsbruck vom 25. November 1947, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 187, StLA. 164

Fahrlässigkeit bei der Verabreichung der Injektionen festgestellt werden.989 Bezüglich der Beschuldigten hieß es:

„Eine Erfahrung über die Wirkung von Evipaninjektionen unter den Bedingungen, die damals zusammentrafen, konnte die Angeklagte nicht haben. Diese besonderen Bedingungen waren die durch die Feindnähe verursachte Aufregung der Kranken, die körperliche Verfassung der zum grossen Teil vom nahen Tode gezeichneten Kranken, die gebotene Eile und schliesslich die Erregung der Ärztin selbst.“990

Auf der Basis dieses Gutachtens wurde Tropper am 20. April 1948 aus der Haft entlassen. Die Staatsanwaltschaft war von der Anklage gegen Tropper gemäß § 227 StPO zurückgetreten und stellte das Verfahren ein.991 Nach Stromberger begünstigten Fehler bei der Vorbereitung des Beweisverfahrens die aus heutiger Sicht ungerechtfertigte Einstellung des Verfahrens. Tropper machte – nachdem sie als Ärztin wieder zugelassen worden war – Karriere beim Roten Kreuz Steiermark.992

Tropper bestritt, die zum Tod führenden Injektionen in Tötungsabsicht verabreicht zu haben, was der Staatsanwaltschaft anscheinend genügte, um sie wieder auf freien Fuß zu setzen. So kam es zu keiner Hauptverhandlung und das Verfahren gegen Tropper reichte lediglich bis zur Anklageschrift.

Dr. Gertrude Hofmann:

Geboren am 18.5.1917 in Krems an der Donau.993 Sie promovierte 1940 an der Universität Graz zum Dr. med. Nach Abschluss ihres Studiums kam sie als Volontärärztin ins Krankenhaus Krems, wo sie zwei Jahre verblieb. Von 1942 bis 1944 war sie Volontärärztin an der Medizinischen Klinik Graz. Von dort wurde sie im Juli 1944 nach Kainbach abgeordnet, wo sie bis zum 1.4.1945 ihren Dienst versah und die dortige medizinische Abteilung leitete. Anschließend wurde sie in das Krankenhaus Judenburg versetzt. Seit Mai 1938 war sie Anwärterin der NSDAP und erhielt im Frühjahr 1944 das Mitgliedsbuch.994

Beteiligung:

Im Verlauf der Ermittlungen gegen Dr. Tropper wurde auch Dr. Hofmann mit der Mordsache in Kainbach in Verbindung gebracht. Als leitende Ärztin der medizinischen Abteilung im

989 Vgl. Abschrift Gutachten an das Landesgericht Graz, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 18, StLA. 990 Ebd. 991 Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Graz an das Präsidium des Landesgerichts für Strafsachen Graz, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 2, 184, StLA. 992 Vgl. STROMBERGER, Die Aktion „T4“ in der Steiermark, 2008, 427, Fußnote 53. 993 Vgl. Haftschrift der Kriminalpolizei Graz vom 2. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 207. 994 Vgl. Vernehmungsniederschrift mit Dr. Gertrude Hofmann vom 2. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 209. 165

Ausweichkrankenhaus Kainbach war sie dringend verdächtig, durch Verabreichung einer letalen Injektion vorzeitig bei einer Patientin den Tod herbeigeführt zu haben. Zudem wurde ihr vorgeworfen, von der Tötung der anderen 12 Patienten durch Tropper gewusst zu haben.995 Am 2.10.1945 wurde Hofmann in Judenburg wegen Mordverdachts in Haft genommen996 und am 7. Oktober 1945 wegen desselben Vorwurfs und Mitwisserschaft bezüglich der Ereignisse vom 1.4.1945 in Kainbach in das landesgerichtliche Gefangenhaus in Graz eingeliefert.997

Hofmann wurde am 3. Oktober 1945 erstmals von der Kriminalpolizei Graz zu den schrecklichen Ereignissen, die sich an jenem 1.4.1945 in Kainbach abgespielt hatten, verhört. Zunächst gab sie an, dass sie bezüglich der Abtransporte aus dem Ausweichkrankenhaus Kainbach zu keiner Zeit den Auftrag an die Schwestern erteilte, die 14 bis 15 schwerkranken Patienten auf ihrer Station in Kainbach zurückzulassen. Während der Räumung, meinte sie sich erinnern zu können, habe sie drei Patienten herzstärkende Mittel in Form von Injektionen verabreicht, darunter der Patientin Dostal. Den übrigen Patienten, die an diesem Tag in Kainbach zu Tode kamen, verabreichte sie laut ihrer Aussage keine Injektion. Des Weiteren gab sie zu Protokoll, dass sie während dieses „chaotischen Durcheinanders“ – bezogen auf die Räumung Kainbachs – ein Schreiben erhielt, das sie aufforderte, sofort an die Klinik Graz zurückzukehren, da man dort auf ihre ärztlichen Dienste angewiesen war. Zur Zeit ihres Abgangs aus Kainbach, nach ihren Angaben am Evakuierungstag gegen 17:00 Uhr, hätten alle Patienten auf der von ihr geleiteten medizinischen Abteilung noch gelebt. Wer den Patienten der medizinischen Abteilung die Injektionen verabreicht hatte, wusste sie nicht anzugeben. Erst am nächsten Tag will sie erfahren haben, dass im Zuge der Räumung Todesfälle zu beklagen waren, die auch ihre Abteilung betrafen. Sie berichtete, dass ihr gerüchteweise zu Ohren kam, dass Dr. Tropper mehreren Patienten in Kainbach Injektionen mit letaler Dosis verabreicht habe. Darüber hätte sie jedoch mit Tropper nie gesprochen, da sie am 4.4.1945 nach Judenburg beordert wurde.998 Am Ende dieser Vernehmung gab sie an:

„Ich habe von Dr. Tropper nie zu solch einer Handlung einen Auftrag bekommen. Auch wurde Dr. Tropper von mir für die Durchführung einer solchen Handlung nie ersucht. Wenn Dr. Tropper auch die Patienten von meiner Station Injektionen verabreicht hat, so hat sie dies nur im eigenen Wirkungskreis gemacht. Ich kann darüber nichts näheres angeben. Ich fühle mich in keiner Hinsicht schuldig und habe

995 Vgl. Schlussbericht der Kriminalpolizei Graz vom 8. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 273. 996 Vgl. Haftschrift der Kriminalpolizei Graz vom 2. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 207. 997 Vgl. Schreiben der Kriminalpolizeistelle Graz an das Landesgericht Graz vom 7. Oktober 1945. Vgl. Haftschrift der Kriminalpolizei Graz vom 2. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 1, 291. 998 Vgl. Vernehmungsniederschrift mit Dr. Gertrude Hofmann vom 3. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, 213-217, StLA. 166

nichts getan, was mit meinem ärztlichen Gewissen nicht vereinbar ist. Ich stehe mit den Vorfällen in Kainbach in keinen Zusammenhang.“999

Besonders die Zeugenaussage der Krankenwärterin Schafernak belastete Hofmann schwer. Sie gab an, dass Hofmann die Patientin Dostal durch Verabreichung einer Injektion getötet habe.1000

Schafernak, die seit September 1944 als Krankenwärterin auf der medizinischen Abteilung in Kainbach ihren Dienst verrichtete, gab bezüglich der Ereignisse rund um die Räumung Kainbachs am 1.4.1945 an, dass sie sich an jenem Tag in den Frauensaal begab und die Kranken darüber informierte, dass das Spital geräumt werden müsse. Daraufhin ging sie in die Chirurgie, wo sie „hektisches Treiben“ wahrnahm. Anschließend kehrte sie wieder in den Frauensaal zurück, wo sie von einer Schwester beauftragt wurde, beim Anziehen der Kranken mitzuhelfen. Sie zog die Patientin Dostal an. Danach kamen Dr. Tropper und Dr. Hofmann in den Frauensaal und Letztere ging auf das Bett Dostals zu.1001 Danach geschah nach Schafernak Folgendes:

„Dr. Hofmann wies mich nun an, das Ankleiden stehen zu lassen und bei der Kranken Dostal zu „stauen“. Ich nahm nun das Handtuch und band den linken Oberarm der Dostal ab. Dr. Hofmann hatte bereits eine fertig hergerichtete Injektionsspritze in der Hand und verabreichte nun der Dostal die Injektion. Die Injektionsspritze war gross und hat Dr. Hofmann den Inhalt der Injektionsspritze in einen in die Vene gespritzt. Die Flüssigkeit der Injektion hatte glaublich eine gelbliche Farbe. Dr. Hofmann zog die Injektionsspritze heraus, wies mich an die Stauung locker zu lassen und ging sofort vom Bett der Dostal weg. Beim Einstich drang Blut heraus und hat Dr. Hofmann das Blut nicht weggewischt. Dies hab ich dann selbst gemacht. Die Patientin Dostal ist eine kurze Zeit darauf verstorben. Die Zeit kann ich nicht genau angeben, doch waren es nur ein paar Minuten.“1002

Nach diesem Vorkommnis lief Schafernak weinend aus dem Frauensaal. Über die Vorgehensweise Hofmanns war sie erschüttert.1003 Abschließend sagte sie: „Es ist richtig, dass Dr. Hofmann und Dr. Tropper zugleich in den grossen Frauensaal kamen und dass Dr. Hofmann der Patientin Dostal eine Injektion verabreicht hat, worauf diese verstarb. Dies kann ich jederzeit bei Gericht beeiden.“1004

Am 5. Oktober 1945 wurde Hofmann abermals vernommen, wobei ihr die Zeugenaussage der Krankenwärterin Schafernak vorgehalten wurde. Daraufhin erbat sie sich Bedenkzeit und die Vernehmung wurde erst um 14 Uhr desselben Tages fortgesetzt. Wieder beteuerte sie, dass sie

999 Ebd., 217. 1000 Vgl. Schlussbericht der Kriminalpolizei Graz vom 8. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 287. 1001 Vgl. Zeugenniederschrift von Maria Schafernak vom 4. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 3, 171, StLA. 1002 Ebd., 173. 1003 Vgl. ebd. 1004 Ebd., 175. 167 während der Räumung keinem Patienten ihrer Abteilung Evipan oder Morphium in Form von Injektionen verabreicht hätte, jedoch drei Patienten Kombetininjektionen (herzstärkende Mittel) gespritzt hätte, wobei eine dieser Patienten die genannte Dostal war. Mit dem Ableben Dostals musste nach ihren Angaben ohnehin stündlich gerechnet werden. Bei dieser Vernehmung gab sie zu, Dr. Tropper beauftragt zu haben, unruhigen Patienten beruhigende Injektionen zu verabreichen. Tags zuvor machte sie diesbezüglich noch folgende Angabe: „Ich habe von Dr. Tropper nie zu solch einer Handlung einen Auftrag bekommen. Auch wurde Dr. Tropper von mir für die Durchführung einer solchen Handlung nie ersucht […]“. Darauf angesprochen, verwies sie darauf, Tropper beauftragt zu haben, lediglich schmerzstillende Mittel zu verabreichen und nicht die Patienten durch Injektionen zu töten. Dass Dostal nach Verabreichung der Kombetininjektion gestorben war, führte sie auf deren schlechten Allgemeinzustand zurück. Es sei ihr durchaus bekannt gewesen, dass Ärzte in ihrem Umfeld der „Euthanasie“ positiv gegenüberstanden, sie persönlich lehne jedoch eine solche Vorgehensweise strikt ab, da sie dies niemals mit ihrem Gewissen vereinbaren könne und es nicht ihren Wertvorstellungen als Ärztin entspreche.1005 „Ich kann nur erklären, dass ich mit dem Sterben der Patienten in Kainbach in keinem Zusammenhang stehe. Ich habe weder Tropper hiezu aufgefordert noch wurde ich von ihr diesbezüglich in Kenntnis gesetzt.“1006

Am 25.5.1946 wurde das Verfahren gegen Dr. Gertrude Hofmann gemäß § 109 StPO eingestellt und Hofmann wieder auf freien Fuß gesetzt, da kein Grund für eine weitere gerichtliche Verfolgung gefunden werden konnte.1007

Letztendlich sah man die Verantwortung für die in Kainbach zu Tode gekommenen Patienten zunächst allein bei Dr. Gertrude Tropper, der schließlich ebenso wenig ein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden konnte wie Hofmann. Aufgrund der getätigten Zeugenaussagen erscheint es jedoch paradox, dass beide Ärztinnen nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten.

1005 Vgl. Fortsetzung der Vernehmungsniederschrift von Gertrude Hofmann vom 5. Oktober 1945, LGS Graz, Vr 1261/1945, 219-221, StLA. 1006 Ebd., 221. 1007 Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Graz an das Landesgericht für Strafsachen Graz vom 25.5.1946, LGS Graz, Vr 1261/1945, Band 1, 627. 168

6.2 Die Pfleger

Adolf Jaluschka:

Er wurde am 31.8.1906 in Marburg geboren.1008 Seit Mai 1931 war Jaluschka in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“ als Pfleger tätig. Er wurde 1938 zum Oberpfleger und 1942 zum Pflegevorsteher ernannt.1009

Beteiligung:

Am 10.7.1945 wurde Jaluschka in Graz-Puntigam wegen NSDAP-Mitgliedschaft und des Verdachts der Beteiligung am Mord an geisteskranken Kindern verhaftet.1010 Die Anzeige bei der Staatspolizei Graz erfolgte durch den Betriebsrat der Landes-Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“.1011 Jaluschka wurde verdächtigt, an den Kindestötungen in der Anstalt „Feldhof“ mitgewirkt und dem Hauptbeschuldigten Dr. Ernst Sorger Beihilfe geleistet zu haben. Mit den ersten Ermittlungen wurde Krim. Ob. Ass. Hackl von der Staatspolizei betraut, der in der Folge einige Pflegepersonen und Angestellte des „Feldhofs“ vernahm. Die Anzeige wurde am 17. Juli 1945 von der Staatspolizei an die Kriminalpolizei Graz abgetreten.1012 Bereits am 8. Juli – also zwei Tage vor der Verhaftung Jaluschkas – begannen die Zeugeneinvernahmen der Feldhof-Pflegerinnen Berta Kosnik und Juliane Petrak.1013

Berta Kosnik gab bei ihrer Zeugenvernehmung an, dass sie 2-3 Mal beauftragt worden war, Kinder in die Aufnahmekanzlei zur Krankengeschichte-Aufnahme zu Dr. Sorger zu bringen, wo sowohl der damalige Pfleger Adolf Jaluschka als auch der Kanzleiangestellte Ruschitzka anwesend waren. Besonders in Erinnerung blieb ihr ein Vorfall, der sich eines Tages – nachdem sie wieder einmal ein Kind in die Kanzlei hatte bringen müssen – folgendermaßen zutrug: Sie hatte die Aufgabe, ein Kleinkind zu Sorger zu bringen. Dieses wurde in der Kanzlei von Jaluschka aufgenommen und sie bekam den Befehl, die Kanzlei zu verlassen, um sogleich ein weiteres Kind für die „Untersuchung“ von der Station C2 zu holen. Nachdem sie

1008 Vgl. Abschrift Haftschrift der Staatspolizei Graz vom 10. Juli 1945 unter Punkt A „Angaben der verhafteten Person“, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 16, StLA. 1009 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Adolf Jaluschka, 10. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 16, StLA. 1010 Vgl. Abschrift Haftschrift der Staatspolizei Graz vom 10. Juli 1945 unter Punkt B „Wann, wo, von wem und warum verhaftet?“, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 16, StLA. 1011 Vgl. Kriminalpolizei Graz, Amtsvermerk mit Betreff: Jaluschka Adolf-Verdacht der Beteiligung am Mord an Geisteskranken Kindern-Festnahme vom 25. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 1, StLA. 1012 Vgl. ebd. 1013 Abschrift Protokoll Berta Kosnik und Juliane Petrak vom 8. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 3, StLA. 169 das nächste Kind zur Kanzlei gebracht hatte, wurde ihr das erste Kind wieder von Jaluschka übergeben und sie brachte es zurück auf die Station. Das Kind hatte nach der „Untersuchung“ eine totale Wesensveränderung angenommen und starb nur wenige Stunden später. Zu den Geschehnissen, die sich während ihrer Abwesenheit in der Kanzlei ereignet hatten, konnte sie keine Angaben machen, sie fügte jedoch hinzu, dass Jaluschka ständig bei diesen Untersuchungen Sorgers in der Kanzlei anwesend war. Ob jener während der gesamten Untersuchung zugegen war, konnte sie nicht bestätigen. Vielmehr verwies sie darauf, dass es durchaus möglich sei, dass Jaluschka, wie sie selbst, von Sorger, während er die „Behandlung“ durchführte, aus der Kanzlei verwiesen wurde.1014 Am Ende ihrer Vernehmung meinte sie: „Ob Jaluschka seine Hand dabei im Spiele hatte, kann ich nicht sagen. Über ihn kann ich nur gutes angeben.“1015

Nach Aussage der Pflegerin Elisabeth Bartholner musste auch sie 2-3 Kinder zu Dr. Sorger bringen, die nur kurze Zeit nach der „Untersuchung“ auf den Stationen verstarben. Ob Jaluschka bei der „Untersuchung“ anwesend war, konnte sie nicht angeben, da auch sie unter einem Vorwand – während der Zeit der „Behandlung“ – von Sorger mit einer anderen Aufgabe betraut und aus der Kanzlei weggeschickt wurde.1016 Die Übernahme der Kinder erfolgte nach ihrer Aussage jedoch durch Jaluschka, der „bei jedesmaligen Kommen in der Kanzlei anwesend“1017 war. Auch Pflegerin Baumgartner, die ab 1943 auf der Station C2 ihren Dienst verrichtete, gab an, dass bei den Krankengeschichte-Aufnahmen stets der Pflegevorsteher Jaluschka und der Kanzleiangestellte (Vertragsbedienstete) Ruschitzka zugegen waren.1018 Sie schloss ihre Aussage wie folgt ab: „J. war immer sehr nett zu den Angestellten. Ob er an den vermuteten Eingriffen des Primarius seine Hand im Spiele oder sonst davon gewusst hatte, weiss ich nicht.“1019

Die am „Feldhof“ in der Ambulanz tätige Pflegerin Johanna Dokter wurde am 20. Juli 1945 von der Kriminalpolizei Graz einvernommen. Eine ihrer Tätigkeiten bestand darin Injektionsspritzen auszugeben. Nach ihren Erinnerungen händigte sie Jaluschka, der diese im Auftrag Sorgers von ihr verlangte, zwei Mal solche Spritzen aus, wobei sie sich nicht mehr

1014 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Berta Kosnik vom 12. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 4-4a, StLA. 1015 Ebd., 4a. 1016 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Elisabeth Bartholner vom 12. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927- 1945, 6-6a, StLA. 1017 Ebd., 6a. 1018 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Aloisia Baumgartner vom 12. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927- 1945, 7, StLA. 1019 Ebd., 7b. 170 daran erinnern konnte, wann dies geschah. Sie bezeichnete die Ausgabe der Spritzen als nichts Auffälliges, da solche Spritzen tagtäglich abgeholt und wieder zurückgebracht wurden. Nach der Rückgabe roch sie für gewöhnlich an den Spritzen und konnte keinen fremden Geruch wahrnehmen, da sie die Spritzen ohne Medikamente ausgab. Von der großen Kindersterblichkeit erfuhr sie nach ihren Angaben erst, als man Jaluschka festgenommen hatte. Ob und inwiefern Jaluschka an den Kindestötungen am „Feldhof“ beteiligt war, konnte auch sie nicht näher erläutern, sie erklärte aber, wie schon aus den anderen Zeugenbefragungen ersichtlich, dass es sich bei Jaluschka um einen allseits beliebten Pflegevorstand gehandelt habe. Nach ihren Angaben sei die Anzeige gegen ihn auf Gehässigkeit zurückzuführen.1020

Adolf Jaluschka selbst gab bei seiner Beschuldigtenvernehmung an, dass er bei Sorgers Untersuchungen an geistesschwachen Kindern anwesend war. Zur Durchführung dieser Untersuchungen berichtete er, dass Sorger die Kinder betreffend ihre geistigen Fähigkeiten, Größe des Schädels und den körperlichen Zustand untersuchte. Dabei diktierte er dem ebenfalls anwesenden Kanzleiangestellten Ruschitzka den Befund. Jaluschka selbst will nie etwas davon bemerkt haben, dass den Kindern Injektionen verabreicht wurden, die zu einem unnatürlichen Tod geführt hätten.1021 Bei den erwähnten Untersuchungen will Jaluschka zwar anwesend gewesen sein, jedoch gab er zu Protokoll, dass es des Öfteren vorkam, dass er von Sorger aus der Kanzlei geschickt wurde, um die Krankengeschichte des zu untersuchenden Kindes oder diverse Gegenstände, die für die Untersuchung vonnöten waren (Maßband, Taschenlampe), zu holen. Somit schlussfolgerte er, dass es durchaus möglich war, dass Sorger während seiner Abwesenheit an den Kindern etwas unternommen hat, er davon aber keine Kenntnis hatte.1022

Am 20. Juli 1945 wurde die Beschuldigtenvernehmung von Adolf Jaluschka fortgesetzt. Er gab zu Protokoll, dass er niemals eine Injektionsspritze in der Kanzlei Sorgers gesehen habe. Gegen Ende der Vernehmung sagte Jaluschka wiederum aus, dass er im Auftrag Sorgers immer wieder Injektionsspritzen aus der Ambulanz geholt habe.1023 Einerseits sagte er, dass er nie Spritzen in der Kanzlei Sorgers gesehen hat, andererseits gab er zu, diese im Auftrag Sorgers geholt und ihm anschließend ausgehändigt zu haben.

1020 Vgl. Abschrift der Zeugenaussage von Johanna Dokter vom 20. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 9, StLA. 1021 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Adolf Jaluschka, 10. Juli 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 16, StLA. 1022 Vgl. ebd., 17. 1023 Vgl. ebd., 18. 171

Danach musste er die Spritzen in die Ambulanz zurückbringen. Nach seinen Angaben betrachtete er die Spritzen nie genau und wusste daher auch nicht, ob diese gereinigt wurden. Jaluschka war sich keiner strafbaren Handlung bewusst und führte die gegen ihn erstattete Anzeige wegen Beteiligung an der Tötung von Kindern auf Gehässigkeit zurück.1024 In diesem Kontext muss erwähnt werden, dass Jaluschka der Meinung war, dass der damalige „Feldhof“-Pfleger Rudolf Ruisz großes Interesse an seinem Posten als Oberpfleger gehabt und er die Anzeige gegen ihn, die dann vom Betriebsobmann des „Feldhofs“ erstattet wurde, ins Rollen gebracht hat. Anschließend brachte Jaluschka eine mögliche Mitwisserschaft des Kanzleiangestellten Johann Ruschitzka an den Tötungen der Kinder ins Spiel. Er gab an, dass jener auch bei den Untersuchungen Sorgers zugegen war und daher die Möglichkeit bestünde, dass jener möglicherweise weniger oft von Sorger aus der Kanzlei weggeschickt wurde als er.1025 Am Ende seiner Vernehmung gab Jaluschka Folgendes zu Protokoll:

„Ich füge noch bei, dass ich, als das Sterben von Kleinkindern nach einer erfolgten Untersuchung in der Kanzlei schon in der Anstalt besprochen wurde und mir dies selbst auffiel, den Direktor Dr. Sorger die Frage stellte, warum er die Kinder untersuchen muss, obwohl dies auf der Abteilung durch den Abteilungsarzt geschehen könnte. Darauf erklärte mir Dr. Sorger er müsse über jede Untersuchung eines Kindes dem Reichsausschuss nach Berlin Bericht erstatten. Damit gab er mir zu verstehen, dass mich eine solche Untersuchung nichts angehe. Ich habe ihn auch diesbezüglich nicht mehr gefragt.“1026

Schließlich kam die Kriminalpolizei Graz zu dem Schluss, dass die Angaben Jaluschkas zu seiner Beteiligung an der Tötung von Kindern am „Feldhof“ der Wahrheit entsprechen dürften, zumal keine konkreten Beweise für seine Schuld erbracht werden konnten.1027 Zudem hieß es im vorläufigen Schlussbericht der KRIPO Graz:

„Die blosse Anwesenheit in der Kanzlei des Dr. Sorger bei der Übernahme und Rückgabe der Kinder gibt nicht genug Anhaltspunkte, die für seine Mitschuld gewertet werden können. […] Vollständige Klarheit in der Angelegenheit wird erst dann geschaffen werden können, wenn die Aussagen des Dr. Sorger vorliegen werden, der sich drzt. in Wolfsberg, Kärnten aufhalten soll.“1028

Jaluschka wurde bereits am 9.6.1945 wieder aus der Haft entlassen, da ihn der am „Feldhof“ wiedereingesetzte Betriebsobmann Lammer aus der Haft auslöste.1029

Jaluschka hat zwar jede Schuld bestritten, gab aber zu, von den Gerüchten, die sich in der Anstalt am „Feldhof“ bezüglich der Tötung von Kindern durch Sorger verbreitet hatten,

1024 Vgl. ebd., 18. 1025 Vgl. ebd. 1026 Ebd. 1027 Vgl. Abschrift Vorläufiger-Schlussbericht der Kriminalpolizei Graz, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 34, StLA. 1028 Ebd. 1029 Vgl. ebd., 17. 172

Kenntnis gehabt zu haben. Aufgrund mangelnder Beweise konnte der gegen ihn bestandene Verdacht der Beteiligung am Mord an geisteskranken Kindern nicht erhärtet werden. Zu einer Aussage Sorgers, der über die tatsächlichen Vorkommnisse in der Kanzlei und eine mögliche Beteiligung des Oberpflegers Jaluschka Aufschluss geben hätte können, kam es aus den bekannten Gründen nicht mehr.

Am 28.9.1945 wurde auch der Kanzleiangestellte Johann Ruschitzka wegen Verdachts der Mitwisserschaft an den Kindesmorden am „Feldhof“ in Graz festgenommen.1030 Bei seiner Einvernahme durch die Kriminalpolizei Graz stritt er dies ab.1031 Er gab wie Jaluschka zuvor zu Protokoll, nichts von den verbotenen Eingriffen Sorgers wahrgenommen zu haben. Er musste zwar die Untersuchungsergebnisse Sorgers notieren,1032 wurde aber wie Jaluschka immer wieder von Sorger aus der Kanzlei weggeschickt, um ihm Akten oder weitere Gegenstände für die bevorstehende Untersuchung zu holen. Somit könne er keine näheren Angaben dazu machen, was Sorger, als er allein in der Kanzlei war, getrieben hat.1033 Seiner Ansicht nach wurde er nur deswegen verdächtigt, etwas über die Tötungen von Kindern gewusst zu haben, weil er vermeintlich als Kanzleikraft Einblicke in die Handlungen Sorgers gehabt habe. Dies war jedoch laut seinen Angaben bei Sorger nicht der Fall, weil jener generell sehr misstrauisch und reserviert war. Am Ende der Vernehmung wies er noch einmal ausdrücklich darauf hin, nichts mit den Kindesmorden zu tun gehabt zu haben, Sorger aber durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, wenn er allein in seiner Kanzlei war, die ihm zur Last gelegten Morde ohne Zeugen zu begehen.1034

Das Strafverfahren gegen Adolf Jaluschka und Johann Ruschitzka wurde eingestellt. Das Verfahren gegen Sorger musste bereits zuvor wegen dessen Selbstmords abgebrochen werden und die Staatspolizei Graz konzentrierte ihre Erhebungen auf das im Zuge der Abtransporte vom „Feldhof“ nach Niedernhart und Hartheim möglicherweise involvierte Personal des „Feldhofs“.1035

1030 Vgl. Haftschrift der Kriminalpolizeistelle Graz vom 29. September 1945, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, 50, StLA. 1031 Vgl. Beschuldigtenvernehmung von Johann Ruschitzka vom 29. September 1945, KrPol-Sonderreihe 6927- 1945, 56, StLA. 1032 Vgl. ebd., 54. 1033 Vgl. ebd., 55. 1034 Vgl. ebd., 57. 1035 Vgl. Schreiben des Landesgerichts für Strafsachen Graz an die Kriminalpolizeistelle Abteilung I Graz vom 25.1.1946, KrPol-Sonderreihe 6927-1945, StLA. 173

Johann Kohlhauser:

Kohlhauser wurde am 16.4.1889 in Grafendorf, Bezirk Hartberg, geboren und war ab 1936 in der Siechenanstalt Kindberg als Krankenwärter auf der Männerabteilung 4 tätig, wo „geistesgestörte Pfleglinge, Altersrentner und Arbeitsunfähige Menschen untergebracht sind“.1036

Beteiligung:

Am 10.11.1945 langte von der Bezirkshauptmannschaft eine schriftliche Beschwerde über die unmenschliche Behandlung von Pfleglingen in der Landessiechenanstalt Kindberg durch den Krankenwärter Johann Kohlhauser am Gendarmerieposten Kindberg zur Erhebung und Berichterstattung ein. Infolgedessen wurden mehrere Zeugen einvernommen und es ergab sich gegen Kohlhauser der Tatbestand des § 3 Kriegsverbrechergesetz. Wie Kossär wurde auch Kohlhauser wegen Verabredungsgefahr am 20.11.19451037 festgenommen1038 und am 21.11. in das Bezirksgericht Kindberg überstellt.1039 Kohlhauser wurde vorgeworfen, dass er sich über Jahre hinweg in der Zeit des Nationalsozialismus unter Ausnützung seiner dienstlichen Stellung als Krankenwärter in der Siechenanstalt Kindberg an kranken, hilflosen Anstaltspfleglingen durch Faustschläge, Fußtritte und andere Gewalttaten vergangen hat. Dadurch verletzte er die Gesetze der Menschlichkeit. Des Weiteren soll sich Kohlhauser nach Aussagen mehrerer Anstaltspfleglinge im Februar 1941 bei der Zusammenstellung von 140 Pfleglingen, die nach Hartheim zur Vergasung transportiert wurden, in der Anstalt durch Verabreichung von Schlägen und Herauszerren aus dem Bett an kranken, siechen und hilfsbedürftigen Menschen und an den Gesetzen der Menschlichkeit vergangen haben, was er teilweise gestand.1040

Der Pflegling Alois Massenbichler berichtete, dass Kohlhauser unter den Pfleglingen als Tyrann galt, grundlos Patienten schlug und mit Füßen nach ihnen trat. Zudem wurden Pfleglinge von Kohlhauser unter Anwendung von Schlägen und Tritten in das unbeheizte Badezimmer gejagt, wo sie sich nackt ausziehen mussten und von ihm in eine Badewanne, die

1036 Beschuldigtenvernehmung von Johann Kohlhauser (keine Datumsangabe), LGS Leoben Vr 11/1946, 55, StLA. 1037 Übernahmsbericht des verhafteten Johann Kohlhauser, LGS Leoben Vr 11/1946, 5, StLA. 1038 Vgl. Schreiben des Gendarmeriekommandos Kindberg an das Bezirksgericht Kindberg vom 12. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, ohne Seitenangabe, StLA. 1039 Schreiben des Gendarmeriekommandos Kindberg an das Bezirksgericht Kindberg vom 20. November 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, ohne Seitenangabe, StLA. 1040 Vgl. ebd. 174 mit eiskaltem Wasser gefüllt war, gestoßen wurden.1041 Dies bestätigte der Pflegling Josef Edlinger. Laut seinen Angaben habe Kohlhauser Patienten in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser getaucht. Für die kranken Menschen war das Wasser zu kalt.1042 „Natürlich war der Betreffende zwei Tage nach diesem kalten Bad im Jenseits.“1043 Mit dieser Aussage beschuldigte Edlinger Kohlhauser, nicht mehr „nur“ Patienten misshandelt, sondern deren Tod durch die genannten Methoden herbeigeführt zu haben.

Nach Angaben Massenbichlers beschwerte man sich oft über den unmenschlichen Umgang von Kohlhauser, stieß damit aber bei Oberverwalter Halla auf taube Ohren. Massenbichler gab ebenso an, dass Kohlhauser beim zweiten Transport aus Kindberg gegen Patienten, die sich dagegen passiv wehrten, mit roher Gewalt vorging. Besonders in Erinnerung geblieben war Massenbichler die brutale Vorgehensweise Kohlhausers bei einer Patientin namens „Steffi“. Zur Eingliederung in den 2. Transport aus Kindberg nach Hartheim zerrte er sie aus ihrem Zimmer über die Stiege in den Gang des Hochparterres, wo er sie einreihte. Sie schrie vor Schmerzen und aus Angst und wurde daraufhin durch Faustschläge Kohlhausers zum Schweigen gebracht. Massenbichler verwies darauf, dass er nur Zeuge dieser Misshandlungen war, selbst jedoch nicht vom Beschuldigten geschlagen wurde.1044

Von körperlich schweren Misshandlungen durch Kohlhauser berichtete auch der Pflegling Martin Krausnik. Er sagte aus, dass Kohlhauser einen Pflegling solange mit Fusstritten bearbeitete, bis dieser bewusstlos auf dem Fußboden liegenblieb.1045 Erschreckend ist auch die Aussage des Pfleglings Anton Bugner, der ebenso wie die beiden anderen Befragten angab, dass Kohlhauser Pfleglinge körperlich misshandelte. Er berichtete, dass Kohlhauser bettlägrige Pfleglinge absichtlich beim Rasieren schnitt. Zeigten sich diese daraufhin erbost, so bekamen sie eine Ohrfeige. Bugner gab des Weiteren zu Protokoll, dass die Kreuzschwestern, die sich laut ihm gut um alle Pfleglinge kümmerten, gegen Kohlhauser nichts ausrichten konnten, da er sie anbrüllte und sie Gefahr liefen, ebenso von ihm verprügelt zu werden. Halla wusste laut Bugner über diese Misshandlungen Bescheid, unternahm diesbezüglich aber nichts. Bugner bezeichnete den Krankenwärter als rohen und blutrünstigen

1041 Vgl. Zeugenvernehmungsniederschrift von Alois Massenbichler vom 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 23, StLA. 1042 Vgl. Zeugenvernehmung von Josef Edlinger vom 18. Jänner 1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 97d, StLA. 1043 Ebd. 1044 Vgl. Zeugenvernehmungsniederschrift von Alois Massenbichler vom 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 23, StLA. 1045 Vgl. Zeugenniederschrift von Martin Krausnik vom 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr 11/1946, 25, StLA. 175

Menschen, der nicht in einer solchen Anstalt tätig sein dürfte. Auch er fügte am Ende seiner Befragung hinzu, selbst von Kohlhausers Prügelattacken verschont geblieben zu sein.1046

Der Pflegling Konrad Reinisch hingegen wurde nach seinen Angaben des Öfteren von Kohlhauser getreten, geschlagen oder zu Boden geworfen. Nach Reinisch verschafften diese Misshandlungen Kohlhauser eine körperliche Befriedigung, da er danach immer ruhiger wurde und sich abfällig über die von ihm misshandelten Patienten äußerte.1047 Am Ende seiner Vernehmung sagte Reinisch: „Mit der Festnahme des Kohlhauser machen Sie Gendarm uns die grösste Weihnachtsfreude, denn was wir Pfleglinge durch diesen Menschen zu leiden hatten, kann ich in Worten gar nicht sagen.“1048

Der Pflegling Adolf Michelssohn gab bei seiner Zeugenvernehmung am 8. August 1946 an, Kohlhauser einmal beobachtet zu haben, wie dieser einen Pflegling zum Badezimmer führte, indem er ihn am Hemdkragen festhielt und durchschüttelte. Was danach im Badezimmer passierte, konnte der Zeuge nicht angeben, da er nicht vor Ort war.1049 Er sagte aus: „Ich dachte mir nur, dass es für den Pflegling schädlich sein könnte, barfuss auf dem Steinboden gehen zu müssen. Einige Tage später ist dieser Pflegling dann tatsächlich gestorben. Ob dies eine Folge der Behandlung des Kohlhauser gewesen ist, weiss ich nicht. Wahrscheinlich hat sich dieser Pflegling beschmutzt.“1050

Zu den ihm von den Zeugen zur Last gelegten Misshandlungen von Pfleglingen gab Kohlhauser bei seiner Vernehmung an, dass er den einen oder anderen Pflegling manchmal gröber angefasst hätte. Dies geschah laut Kohlhauser aber nur, weil er sich gegen die gewalttätigen Pfleglinge zur Wehr setzen musste, hatte er doch nach seinen Angaben nur solche Pfleglinge zu betreuen, die auf anderen Abteilungen nicht mehr zu bändigen waren.1051 „Ich tat nur meine Pflicht als Wärter und schützte mich vor Angriffen“.1052 Hinsichtlich des Vorwurfs von Pflegling Reinisch rechtfertigte er sich damit, dass jener Differenzen mit einer Schwester hatte und daraufhin sehr laut wurde. Nach mehrmaliger Abmahnung Kohlhausers ging Reinisch mit einer Aufwischkrücke auf ihn los, sodass er keine andere Wahl hatte und ihn zu Boden warf. Getreten habe er ihn nicht. Dass er gewisse Patienten mit abfälligen

1046 Vgl. Zeugenniederschrift von Anton Bugner vom 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr. 11/1946, ohne Seitenanzahl. 1047 Vgl. Zeugenniederschrift von Konrad Reinisch vom 3. Dezember 1945, LGS Leoben Vr. 11/1946, 29. 1048 Ebd. 1049 Vgl. Zeugenniederschrift von Adolf Michelssohn vom 8. August 1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 237, StLA. 1050 Ebd. 1051 Vgl. Abschrift der Beschuldigtenvernehmung von Johann Kohlhauser (keine Datumsangabe), Vr 11/1946, 57, StLA. 1052 Ebd. 176

Worten beleidigte, gab er zu. Er tat dies jedoch nur deshalb, weil er der Meinung war, dass sie sich absichtlich im Bett beschmutzten, obwohl diese Patienten gehfähig waren und aufstehen hätten können, um die Toilette aufzusuchen. Faustschläge oder Fußtritte habe er gegen Pfleglinge nie ausgeteilt. Anderslautende Behauptungen seien frei erfunden. Bezüglich des von Massenbichler geschilderten Vorfalls mit dem weiblichen Pflegling „Steffi“, die unter Gewaltanwendung von Kohlhauser zum 2. Transport gebracht worden sein soll, sagte Kohlhauser aus, dass diese sich zunächst weigerte, sich ohne ihre Tasche zur Sammelstelle für den anstehenden Transport zu begeben. Sie erhielt ihre Tasche und begab sich dann aus freien Stücken und ohne Anwendung von Gewalt zur Sammelstelle. Dass er beim „Verladen“ der Pfleglinge in die Transportmittel geholfen hatte, bestritt Kohlhauser nicht. Es war eben ein Teil seiner Arbeit. Vom Zweck des Transports nach Hartheim will Kohlhauser erst zwei Wochen nach dessen Abgang erfahren haben. Demnach gab er zu Protokoll, dass er von der Vergasung der Pfleglinge in Hartheim durch ein Gespräch mit einer ihm bekannten Frau erfahren habe, die ihm sagte, dass es einem Pflegling gelang, aus Hartheim zu flüchten, und dieser nach seiner Flucht erzählte, dass die Pfleglinge in Hartheim vergast wurden.1053

Kohlhauser wurde während seiner Haftzeit auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht, da er selbst angab, unter einem Nervenleiden zu leiden.1054 Das Gutachten ergab, dass keine Nerven- oder Geisteskrankheit feststellbar war. Laut Gutachten handelte es sich bei Kohlhauser jedoch um „einen Menschen mit mäßiger Intelligenz, einer zweiffellos vorhandenen Gefühlskälte und rohem Grundcharakter.“1055

Am 26.9.1947 wurde Johann Kohlhauser auf Beschluss der Ratskammer des Kreisgerichts Leoben außer Verfolgung gesetzt und das Verfahren gegen ihn eingestellt. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft bekanntgegeben, dass es keinen Grund für die weitere Verfolgung gebe. Am 8.10.1947 wurde Kohlhauser auf freien Fuß gesetzt.1056 Das Kreisgericht Leoben begründete die Einstellung des Verfahrens wie folgt: „Aufgrund der bisherigen

1053 Vgl. ebd. 1054 Vgl. Schreiben des Landesgerichts für Strafsachen Graz an das Kreisgericht Leoben vom 29.5.1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 207, StLA. 1055 Gerichtsärztlicher Befund und Gutachten in der Strafsache des Kreisgerichtes Leoben 16 Vr 11/46 gegen Johann Kohlhauser wegen § 3 Abs. 2 und §§ 3, 4 und 6 Kriegsverbrechergesetz, LGS Leoben Vr 11/1946, 211, StLA. 1056 Vgl. Beschluss der Ratskammer des Kreisgerichts Leoben vom 26.9.1947, LGS Leoben Vr. 11/1946, 311, StLA. 177

Untersuchungsergebnisse konnte nicht nachgewiesen werden, dass Kohlhauser von dem beabsichtigten Zweck der Überstellung zur Zeit derselben bereits Kenntnis hatte.“1057

Was die ihm zur Last gelegten Misshandlungsvorwürfe betrifft, scheint es an Beweisen gefehlt zu haben. Obwohl zahlreiche Zeugen angaben, dass Kohlhauser prügelte, trat und Methoden anwendete, die nach Aussage zweier Pfleglinge sogar zum Tod von Patienten führten, wurden die Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Den Aussagen der Pfleglinge schenkte man anscheinend keinen Glauben.

7 Conclusio

Schon in den Jahrzehnten vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft manifestierte sich in Wissenschaft und Politik ein von Rassenhygiene und Eugenik geprägtes Gedankengut, das die Basis für eine der zentralen Intentionen des Nationalsozialismus bildete, nämlich die „Ausmerze“ psychisch und körperlich kranker Menschen, denen der Status „minderwertig“ zugeschrieben wurde. Theoretische Überlegungen wie jene des Naturwissenschaftlers Charles Darwin vom Kampf ums Dasein, den nach seiner Theorie nur die Stärksten gewinnen konnten, und die damit verbundene natürliche Auslese, die sich zunächst noch auf die Natur bzw. die Tierwelt beschränkte, wurden von Rassenhygienikern aufgegriffen und auf den Menschen umgemünzt. Durch die Beseitigung all jener Menschen, die in der nationalsozialistischen Ideologie als „lebensunwert“ galten, sollte ein gesunder „Volkskörper“ geschaffen werden, der die Reinerhaltung der „arischen Rasse“ gewährleisten soll. Die praktische Umsetzung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ begann mit der Legalisierung der Zwangssterilisation „Minderwertiger“ und gipfelte im Massenmord an körperlich und geistig behinderten Menschen.

Als gesichert gilt, dass von Mai 1940 bis Juni 1941 1.232 Patienten von der Landes-Heil- und Pflegeanstalt „Feldhof“ in die Vernichtungsanstalt Hartheim transportiert und dort getötet wurden. Wann der erste Transport vom „Feldhof“ stattfand, konnte nicht exakt datiert werden. Poier geht vom 28. Mai 1940 aus. Stromberger hingegen gibt an, dass es sich dabei sowohl um den 27. als auch um den 28. Mai 1940 gehandelt haben könnte. Er verweist bezüglich des von Poier angegebenen Transportdatums darauf, dass es sich dabei auch um das Abgangsdatum, das nicht mit dem tatsächlichen Datum des Transports gleichzusetzen ist,

1057 Schreiben des Kreisgerichts Leoben an das Oberlandesgericht Graz vom 23.9.1946, LGS Leoben Vr 11/1946, 279, StLA. 178 handeln könne. Betreffend die Gesamtzahl der Transporte aus dem „Feldhof“ zur Vernichtung nach Hartheim haben sowohl Poiers als auch Strombergers Recherchen ergeben, dass vom 27./28. Mai 1940 bis 9. Juni 1941 14 Transporte aus der Anstalt am „Feldhof“ abgingen. Aus der Landessiechenanstalt Kindberg wurden in zwei Transporten insgesamt 138 Alte und Pflegebedürftige nach Hartheim transportiert und dort ermordet. Betreffend die Zahl der „T4“-Opfer aus der Siechenanstalt Knittelfeld ist von 76 Patienten auszugehen, die in einem Transport nach Hartheim transferiert wurden und dort ihr Leben ließen. Dank Strombergers intensiven Forschungen und seinen Ergänzungen von Poiers Ergebnissen konnten nahezu alle steirischen Opfer der „Euthanasie“ im Rahmen der Aktion „T4“ erfasst werden. Lediglich aus der „Feldhof“-Filiale Schwanberg könnten nach Stromberger noch weitere „T4“-Opfer ausgeforscht werden. Dass das Personal des „Feldhofs“ über die wahre Intention dieser Transporte zumindest kurz nach dem ersten Transport Bescheid wusste, geht aus den Aufzeichnungen Arlts hervor, der angibt, von Dr. Hans Mayr nach dem Abgang dieses Transports darüber informiert worden zu sein, dass bereits alle abtransportierten Patienten verstorben waren. Für die bürokratische Organisation und Abwicklung dieser Transporte aus dem „Feldhof“ war Dr. Oskar Begusch, der die Anstalt während dieser „Euthanasieaktion“ leitete, zuständig. Dass Begusch schon an der Planung der Aktion „T4“ beteiligt war, lässt sich durch einen an ihn gerichteten Brief – der in Abschrift in Arlts Tagebuch vorhanden ist – des Leiters der „T4“-Zentrale in Berlin, Werner Heyde, belegen, der ihn aufforderte nach Berlin zu kommen, um „Maßnahmen“ bezüglich der Heil- und Pflegeanstalten zu besprechen. Kurz nach dieser Reise, die er gemeinsam mit Dr. Ernst Sorger unternahm, wurden beide zu „T4“-Gutachtern bestimmt. Dieser Umstand spricht insbesondere dafür, dass beide im Gau Steiermark maßgeblich an dieser „Aktion“ beteiligt waren.

Zudem konnte diese Arbeit aufzeigen, dass Begusch und Sorger neben ihrer Funktion als „T4“-Gutachter sogenannte Vor-Ort-Selektionen in der Untersteiermark und in den obersteierischen Siechenanstalten Kindberg und Knittelfeld durchführten, was Zeugenaussagen bestätigen. Aufgrund der von Begusch und Sorger durchgeführten Selektionen von Patienten in den erwähnten Anstalten fanden hunderte Menschen in der Vernichtungsanstalt Hartheim den Tod. Arlt liefert zudem den Hinweis, dass Sorger zumindest an der Selektion der Patienten für den ersten Transport aus dem „Feldhof“ beteiligt war. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den die vorliegende Arbeit herausarbeiten konnte, ist, dass Begusch und Sorger bereits im Laufe ihres Studiums quasi auf ihre spätere Beteiligung an der NS-„Euthanasie“ durch ihren „Lehrmeister“ Fritz Hartmann und dessen

179 rassenhygienische Weltanschauung vorbereitet wurden. Es mag plausibel erscheinen, dass Begusch und Sorger aufgrund ihrer Funktion als „T4“-Gutachter und ihrer leitenden Stellen als Direktor der Zentralanstalt am „Feldhof“ bzw. als „Landesobmann für die erbbiologische Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten des Reichsgaus Steiermark“ hauptverantwortlich für die NS-„Euthanasie“ im Rahmen der Aktion „T4“ in der Steiermark waren. Allerdings steht außer Frage, dass sie bei ihren Tätigkeiten Unterstützung durch weitere Anstaltsärzte erfuhren, so durch den Knittelfelder Anstaltsarzt Dr. Max Pachmayer, den beauftragten Arzt für die erbbiologische Bestandsaufnahme in der Gausiechenanstalt in Knittelfeld, den Sorger bezüglich der Selektion von Patienten in Knittelfeld instruierte und dessen ausgefertigte Meldebögen die Basis der folgenden „Euthanasie“ im Zuge des Abtransports von Knittelfelder Patienten nach Hartheim bildeten. Da Pachmayer bereits 1941 verstarb, konnte seine tatsächliche Beteiligung an der Verschickung von Patienten aus Knittelfeld zur Vergasung in Hartheim nie nachgewiesen werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Pachmayer als beauftragter Arzt für die erbbiologische Bestandsaufnahme sehr wohl darüber Bescheid wusste, welche Folgen die von ihm unterfertigten Meldebögen für die betreffenden Patienten haben würden.

Betreffend die Transporte aus Kindberg konnte diese Arbeit neben Begusch und Sorger zwei weitere Personen namhaft machen, die vermutlich an der „Euthanasieaktion“ in Kindberg beteiligt waren. Dabei handelt es sich um Dr. Johann Kossär, Anstaltsarzt der Siechenanstalt Kindberg, und den ebenfalls dort tätigen Krankenwärter Johann Kohlhauser, die beide Ende 1945 wegen ihrer möglichen Beteiligung an den Abtransporten aus Kindberg verhaftet und zu diesen Ereignissen vernommen wurden. Zudem wurde Kohlhauser vorgeworfen, Patienten in Kindberg über Jahre hinweg körperlich und seelisch misshandelt zu haben. Im Zuge der Ermittlungen gegen Kossär und Kohlhauser wurden Bedienstete und Pfleglinge als Zeugen befragt. Kossär rechtfertigte sich bei seiner Vernehmung damit, dass er mit der Verschickung der Pfleglinge nichts zu tun hatte, da er an den Tagen der Abtransporte nicht in der Anstalt zugegen war. Obwohl die Mehrheit der befragten Zeugen aussagte, dass Kossär einerseits über die Transporte nach Hartheim Bescheid wusste und andererseits zumindest beim zweiten Abgang von 70 Patienten anwesend war, war ihm keine Beteiligung an der Verschickung der Pfleglinge nachzuweisen. Ähnlich gestaltete sich die Sachlage bei Kohlhauser, der sogar selbst zugab, beim „Verladen“ der Patienten mitgewirkt zu haben, jedoch angab, dass er über den wahren Zweck der Transporte nicht Bescheid wusste. Zuvor hatten die Zeugen mehrheitlich angegeben, dass zumindest nach dem ersten Transport aus Kindberg jedem in

180 der Anstalt klar war, dass die betroffenen Patienten in Hartheim ermordet werden würden. Auch zeigte Kohlhauser sich, was die Misshandlungsvorwürfe betrifft, teilweise geständig. Dennoch konnte auch ihm weder eine Verstrickung in die Transporte noch die Misshandlung von Pfleglingen nachgewiesen werden. Paradoxerweise schenkte man den Aussagen der Beschuldigten mehr Glauben als jenen der Zeugen. Die Ermittlungen gegen Kossär und Kohlhauser wurden eingestellt und Kossär konnte ab 1947 wieder seinem Beruf als Arzt nachgehen.

Als gesichert gilt, dass die Aktion „T4“ am 24. August 1941 gestoppt wurde. In den steirischen Heil- und Pflegeanstalten wurden daraufhin weitere „Euthanasiemaßnahmen“ in Form der dezentralen „Anstaltseuthanasie“ gesetzt, so auch am „Feldhof“, besonders in dessen Kinderfachabteilung. Diesbezüglich ist aufgrund der lückenhaften Forschungslage vieles nicht exakt eruierbar. Ab wann eine Kinderfachabteilung am „Feldhof“ existierte, konnte diese Arbeit nur unbefriedigt beantworten. Ging Oelschläger zunächst anhand der Aufnahmedaten Minderjähriger und eines Besuchs Viktor Bracks in der Steiermark 1941 davon aus, dass die Installation einer solchen Abteilung am „Feldhof“ 1941 geschah, revidierte er diese Annahme in einer späteren Publikation dahingehend, dass der Anstieg der Todesfälle von Minderjährigen 1942 nicht allein auf das „Reichsausschuß-Verfahren“, sondern auch auf gezielte Einzeltötungen von Minderjährigen – außerhalb dieses Verfahrens – durch Unterversorgung und Nahrungsentzug zurückzuführen ist. Daraus schließt er, dass die Errichtung der Kinderfachabteilung am „Feldhof“ zumindest vor Januar 1943 stattgefunden haben muss. Fest steht jedoch, dass die Kinderfachabteilung im eigentlichen Sinn keine eigenständige Station im „Feldhof“, sondern über mehrere Abteilungen verteilt war. Die Kinder waren in den Männer- (Station B) und Frauenabteilungen (Station C) untergebracht, wobei die Kleinkinder unter 6 Jahren, egal ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, in die Frauenabteilung und die Älteren geschlechtsabhängig in die Männerabteilung kamen.

Weiters konnte diese Arbeit aufzeigen, dass Minderjährige im Hinblick auf ihre Bildungs- und Arbeitsfähigkeit überprüft wurden. Dies geschah in den Filialen des „Feldhofs“ Kainbach, Pertlstein und Messendorf. Fielen die Minderjährigen durch diese Überprüfungen bzw. Tests, wurden sie wieder in die Zentralanstalt „Feldhof“ gebracht. Dort kamen sie innerhalb weniger Tage oder Wochen zu Tode. Belegt werden konnte inzwischen die Zahl der am „Feldhof“ verstorbenen Minderjährigen. Dies ist vor allem der intensiven Forschung Oelschlägers zu verdanken, der anhand der Krankengeschichten und Rapportbücher 272 Minderjährige, die zwischen 1938 und 1945 am „Feldhof“ und seinen Filialen gestorben sind,

181 ausmachen konnte. Welche Minderjährigen durch Medikation, Unterversorgung, Nahrungsmittelentzug oder eines natürlichen Todes starben, ist nicht belegbar. Des Weiteren konnte nicht eruiert werden, welche Minderjährigen „euthanasiert“ wurden und welche verstorbenen Kinder und Jugendlichen dem „Reichsausschuß-Verfahren“ unterlagen. 1942 war ein signifikanter Anstieg der Todesfälle von Minderjährigen am „Feldhof“ zu verzeichnen, der bis Kriegsende anhielt. Zwar verteilten sich die Todesfälle über den gesamten „Feldhof“, doch häuften sie sich besonders auf Station C, Station C9, wo ältere weibliche Kinder und Jugendliche untergebracht waren, und auf der Station B für männliche Minderjährige.

Anhand der von Oelschläger und Nausner geführten Zeitzeugeninterviews, die dieser Arbeit als Quelle dienten, konnte das für diese Stationen verantwortliche Ärztepersonal ausfindig gemacht werden. Demnach waren Dr. Peter Korp, seine Assistentin Josefine Hermann, Dr. Hans Machan, Dr. Hans Mayr und Dr. Ernst Sorger in die „Kindereuthanasie“ involviert. Allein Korps Stellung als verantwortlicher Arzt der Kinderabteilungen am „Feldhof“, der Schulabteilung in Kainbach und Pertlstein und der damit verbundenen medizinischen Betreuung aller Kinderabteilungen am „Feldhof“ und seinen Filialen ist schon ein Indiz dafür, dass Korp an der „Kindereuthanasie“ beteiligt war. Zudem konnte in dieser Arbeit herausgefunden werden, dass er auch auf der Station C2, wo „Reichsauschuß-Kinder“ untergebracht waren und viele von ihnen starben, tätig war. Ob Dr. Korp aktiv für „Euthanasie-Maßnahmen“ an Kindern und Jugendlichen in Form systematischer Unterversorgung, Nahrungsentzug oder Abgabe von Injektionen sorgte, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Eine ehemalige Schwester verwies in dem von Oelschläger geführten Interview zwar darauf, dass Korp Kindern und Jugendlichen Injektionen verabreichte; ob diese jedoch zum Tod führten, ist nicht belegbar. Als gesichert gilt, dass Korp anhand seiner Untersuchungen und der von ihm angeordneten Intelligenztests über das weitere Schicksal der Minderjährigen entschied. Bestanden sie die Tests, so verblieben sie in den Filialen. Fielen sie durch, kamen sie zurück zum „Feldhof“, wo sie in kurzer Zeit verstarben. Anhand seiner Zuständigkeit für die Kinderabteilungen am „Feldhof“, seine Filialen Kainbach, Pertlstein und Messendorf und des Wissens um die die dortigen Geschehnisse in der Kinderfachbateilung des „Feldhofs“ ist davon auszugehen, dass Korp an der „Euthanasie“ an Kindern und Jugendlichen beteiligt war. Zudem zeigen die Aufzeichnungen Arlts, dass dieser den „Euthanasiemaßnahmen“ durchaus positiv gegenüberstand.

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Korps Assistentin Dr. Josefine Hermann war wegen ihrer Stellung einerseits für jene Abteilungen der Zentralanstalt zuständig, wo Kinder und Jugendliche untergebracht waren, und andererseits für die Schulabteilung in Pertlstein und Kainbach. Dass Hermann ebenso an den Überprüfungen der Minderjährigen teilnahm, konnten ebenfalls Zeitzeugenaussagen bestätigen. Durch die von ihr vorgenommenen Untersuchungen hat Hermann das Schicksal vieler Kinder und Jugendlicher maßgeblich beeinflusst und sie, wenn ihre Begutachtung das ergab, in den „Feldhof“ und somit in vielen Fällen wissentlich in den Tod geschickt. Die tatsächliche Entscheidung über den Verbleib der Minderjährigen fällten aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch Korp und die Anstaltsleitung. Es waren vor allem die Zeitzeugenberichte ehemaliger Schwestern der Filialen Kainbach und Pertlstein, die zumindest eine passive Beteiligung Hermanns an der Euthanasie von Kinder und Jugendlichen andeuten. Als Leiter der Frauenabteilung (Station C2), wo sich ein Großteil der Kinderfachabteilung befand und viele „Reichsauschuß-Kinder“ starben, war auch Dr. Hans Machan in die Abläufe der KFA und die dortigen Geschehnisse involviert. Belegen lässt sich seine Beteiligung an der „Euthanasie“ an Minderjährigen dadurch, dass nach dem Tod von Dr. Oskar Begusch der Schriftverkehr bezüglich des „Reichsausschußes zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ nicht mehr an Beguschs Privatadresse, sondern direkt an die Anstalt „Feldhof“ ging. Wie aus seiner Personalakte hervorgeht, übernahm er 1944 die kommissarische Leitung des „Feldhofs“. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass er nach dem Ableben Beguschs für den Schriftwechsel mit dem „Reichsausschuß“ in Berlin zuständig war. Somit ist gesichert, dass Machan Kenntniss über das „Reichsausschußverfahren“ und die damit verbundene „Minderjährigeneuthanasie“ hatte bzw. darin verwickelt war.

Dass einzelne Kinder und Jugendliche auch auf Station D, der Pflegestation des „Feldhofs“, durch Injektionen getötet wurden, lässt die Aussage einer ehemaligen Schwester vermuten.Verantwortlich dafür war nach ihren Angaben Dr. Hans Mayr, der Leiter dieser Station. Explizit sagte sie aus, dass Mayr dort Kinder totgespritzt hat. Belegbar ist diese Anschuldigung nicht, da Mayr für die ihm vorgeworfenen Taten nie gerichtlich belangt wurde und bis zu seiner Penionierung 1959 am „Feldhof“ als Arzt aktiv war. Interessant ist jedoch, dass das Gespräch mit dieser Schwester in den 90er Jahren stattfand und sie nach dieser Anschuldigung gefragt wurde, warum sie erst jetzt mit diesen Informationen herausrückte. Darauf antwortete sie, dass sie nun keine Angst mehr haben müsse. Über den Wert dieser Aussage kann es eigentlich keine zwei Meinungen geben.

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Als gesichert gilt, dass zwischen 1944 und 1945 am „Feldhof“ 13 Minderjährige durch Verabreichung von Injektionen „euthanasiert“ wurden. Laut Arlt handelt es sich dabei um Überdosierungen von Evipan, wobei diese Annahme durch Zeugenvernehmungen nicht bestätigt werden konnte. Wie diese Arbeit durch Zeugenaussagen und einzelne Tagebucheinträge Arlts aufzeigen konnte, nahm diese Tötungen aller Wahrscheinlichkeit nach Dr. Ernst Sorger vor. Anhand der von Schwestern des „Feldhofs“ getätigten Aussagen konnte der Ablauf, der immer dem gleichen Schema folgte, rekonstruiert werden. Auf Befehl Sorgers wurden die betroffenen Kinder von den diensthabenden Schwestern in die Direktionskanzlei/Ambulanz gebracht. Danach wurden sie von Sorger nach ihren Angaben aus diesem Zimmer geschickt und nach Beendigung der „Behandlung“ mussten sie die Minderjährigen dort wieder abholen und auf ihre Stationen bringen. Alle befragten Schwestern gaben an, dass die von Sorger untersuchten Kinder und Jugendlichen kurz darauf starben. Dass die Tötungen durch Injektionen herbeigeführt wurden, konnte im Zuge der Ermittlungen vor allem eine Schwester bestätigen, die bei der Versorgung eines Kindes, das kurz zuvor zur Untersuchung zu Sorger gebracht worden war, Einstiche feststellen konnte. Im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen gegen Sorger wegen der ihm zur Last gelegten Tötung von Minderjährigen, die zwischen Mai und Juli 1945 begannen, wurde auch der Krankenpfleger Adolf Jaluschka damit in Verbindung gebracht. Ihm wurde vorgeworfen, Sorger bei den Kindestötungen Beistand geleistet zu haben. Jaluschka wurde verhaftet und zu den Vorwürfen befragt. Er gab an, Sorger bei den erwähnten Untersuchungen unterstützt, die in die Kanzlei gebrachten Kinder übernommen zu haben und in der Kanzlei anwesend gewesen zu sein. Doch wurde auch er, wie alle anderen Schwestern aussagten, immer wieder von Sorger aus der Kanzlei geschickt, um beispielsweise für die Untersuchung relevante Materialien zu holen. Was Sorger in der Zwischenzeit mit den Kindern machte, entzog sich daher seiner Kenntnis. Aufgrund mangelnder Beweise wurde Jaluschka enthaftet. Die Erhebungen der Kriminalpolizei Graz ergaben, dass Jaluchkas Anwesenheit in der Kanzlei nicht als Mitschuld am Tod der 13 Minderjährigen gewertet werden konnte. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Aufschluss über Jaluschkas tatsächliche Rolle hätte nur der Hauptbeschuldigte Sorger geben können, der sich jedoch kurz nach der Eröffnung des Verfahrens gegen ihn das Leben genommen hatte. Mit seinem Selbstmord entzog sich Sorger seiner Verantwortung für die von ihm in der Steiermark begangenen „Euthanasie“- Verbrechen. So konnte er weder für die Tötung der 13 Minderjährigen am „Feldhof“ im Sinne der dezentralen Anstalts-„Euthanasie“ noch für seine Funktion als „T4“-Gutachter und die damit verbundene Selektion von Patienten aus der Unter- und Obersteiermark, aus dem

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„Feldhof“ und seinen Filialen, die den Abtransport in die Vernichtungsanstalt Hartheim und somit den sicheren Tod bedeutete, gerichtlich belangt werden. Anhand der im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen Sorger und Jaluschka getätigten Zeugenaussagen und der von Arlt in seinem Tagebuch aufgezeichneten Ermordung der Kinder ist ferner gesichert, dass die 13 minderjährigen Patienten durch die Hand Sorgers starben.

Dass nicht nur am „Feldhof“ in Form der dezentralen „Anstaltseuthanasie“ gemordet wurde, konnte anhand der Ereignisse, die sich gegen Kriegsende in der ehemaligen Filiale des „Feldhofs“ Kainbach abgespielt haben, die damals als Ausweichkrankenhaus fungierte, aufgezeigt werden. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass in Kainbach 13 Patienten durch Verabreichung von Injektionen in tödlicher Dosis getötet wurden. Hauptverantwortlich dafür wurde Dr. Gertrude Tropper gemacht, die Leiterin der dortigen chirurgischen Abteilung. Ihr wurde vorgeworfen, anlässlich der befohlenen Räumung Kainbachs wegen des Näherrückens der Roten Armee durch Verabreichung von tödlich dosierten Morphiuminjektionen den Tod von 13 Patienten herbeigeführt zu haben. Tropper wurde daraufhin wegen Mordes in 13 Fällen in Gewahrsam genommen. In der Folge wurden gegen sie umfangreiche Ermittlungen eingeleitet. Im Zuge dieser Ermittlungen stieß man auch auf eine mögliche Beteiligung Dr. Gertrude Hoffmanns an diesen Tötungen, die für die medizinische Abteilung in Kainbach zuständig war. Bei ihrer Einvernahme begründete Tropper die von ihr verabreichten Injektionen damit, dass diese lediglich dazu dienen sollten, Schwerkranke in einen Dämmerzustand zu versetzen, um sie leichter aus Kainbach abtransportieren zu können. Wie diese Arbeit aufzeigen konnte, widersprachen alle einvernommenen Zeugen dieser Aussage. Vielmehr gab es unter den Befragten Augenzeugen, die gesehen hatten, wie Tropper Patienten spritzte. Diese starben nur wenige Minuten danach. Tropper bestritt, Injektionen mit letaler Dosis an Patienten verabreicht zu haben. Um die Sachlage zu klären, wurden in Kainbach Exhumierungen der dort in einem Massengrab verscharrten Leichen durchgeführt. Tatsächlich war bei einer obduzierten Leiche Morphium feststellbar, doch war es nicht mehr möglich zu klären, ob diese Dosis in Mordabsicht verabreicht worden war. Daraufhin wurde gegen Tropper Anklage erhoben, gegen die sie mehrfach Einspruch erhob. Ihr an den Bundespräsidenten gerichtetes Gnadengesuch hatte keinen Erfolg. In der Folge wurden im Auftrag der Staatsanwaltschaft mehrere Gutachten von Gerichtsmedizinern erstellt, die alle zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Das letzte Gutachten entlastete Tropper, die zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre in Haft saß. Betreffend die Verabreichung der Injektionen konnte ihr keine Tötungsabsicht nachgewiesen werden. Auf der Basis dieses Gutachtens trat die

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Staatsanwaltschaft schließlich von der Anklage gegen Tropper zurück und sie konnte in den folgenden Jahren Karriere beim Roten Kreuz machen.

Die Ermittlungen gegen Dr. Gertrude Hoffmann verliefen ebenfalls im Sand. Obwohl auch sie von einer Augenzeugin massiv belastet wurde, eine Patientin durch eine von ihr verabreichte Injektion getötet zu haben, und teilweise anwesend war, als Tropper dasselbe bei anderen Patienten vollzog, konnte ihr kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden und so wurden die Ermittlungen gegen sie ebenfalls eingestellt. Tatsache ist jedoch, dass Tropper und Hoffmann 13 Patienten Injektionen verabreicht haben und die Betreffenden kurze Zeit darauf verstorben sind. Zwar konnte die Tötungsabsicht beider Ärztinnen gerichtlich nicht geklärt werden, dennoch ist anhand der Zeugenaussagen, auch was Troppers Vita als bekennende Nationalsozialistin betrifft, davon auszugehen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass nach eingehendem Studium des Strafakts Tropper der Eindruck entstanden ist, dass die Staatsanwaltschaft, nachdem Tropper schon lange in Untersuchungshaft gesessen hatte, nicht vehement auf einen Prozess aus war, sondern die Ermittlungen gegen sie relativ rasch beenden wollte. Zu einer ähnlichen Erkenntnis ist auch Helge Stromberger bei der Durchsicht dieses Aktes gelangt, der der Staatsanwaltschaft Fehler der Beweisführung vorwirft, die zu einer ungerechtfertigten Einstellung des Verfahrens geführt haben.

In Bezug auf die Frage, inwiefern Ärzte und Pfleger in den steirischen Heil- und Pflegeanstalten am nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm der „Euthanasie“ beteiligt waren, konnte diese Arbeit neben den für die in der Steiermark begangenen Euthanasieverbrechen als Hauptverantwortliche geltenden Dr. Oskar Begusch und Dr. Ernst Sorger weitere Ärzte und Pfleger mithilfe des Tagebuchs von Ernst Arlt, der Zeitzeugeninterviews Oelschlägers und Nausners sowie der verwendeten Strafakten namhaft machen. Wie hier ebenso aufgezeigt wird, gab es zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter in der Steiermark mehrere polizeiliche und gerichtliche Vorerhebungen, die in einigen Fällen zur Verhängung der Untersuchungshaft führten. Es fällt jedoch besonders auf, dass keine der in dieser Arbeit namhaft gemachten Personen gerichtlich belangt wurde. Bezogen auf die „Euthanasieverbrechen“ rund um den „Feldhof“ mag das daran liegen, dass der größte Teil jener Dokumente, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit detaillierten Aufschluss über Beteiligte an den „Euthanasiemaßnahmen“ der Aktion „T4“ und an der dezentralen „Anstaltseuthanasie“ bzw. „Euthanasie“ an Minderjährigen geben hätten können, gegen Ende des Krieges, wie diese Arbeit durch die Aufzeichnungen Arlts belegen konnte, vernichtet wurden. Durch den frühen Tod Beguschs und den von Sorger gewählten Freitod war es für

186 die weiteren Verdächtigen ein Leichtes, die Hauptverantwortung für die „Euthanasieverbrechen“ in der Steiermark auf diese beiden abzuwälzen und sich dadurch ihrer Verantwortung zu entziehen. Anders ist es nicht zu erklären, dass viele von den in dieser Arbeit namhaft gemachten Tätern, beispielsweise Tropper, Korp, Hermann oder Kossär, nach Kriegsende weiter als Ärzte praktizieren, Karriere machen bzw. leitende Positionen bekleiden konnten.

Vor allem in den letzten Jahren lässt sich ein immer stärker werdender Wille der Forschung beobachten, sich mit dem Themenkomplex NS-„Euthansie“ auseinanderzusetzen. Es bleibt zu hoffen, dass es auch künftig viele Forschungsarbeiten hierzu geben wird, obwohl dies aufgrund der dürftigen Quellen ein schwieriges Unterfangen ist. Ein noch zu erforschender Aspekt wäre beispielweise der Bezug auf die tatsächliche Opferzahl von Schwanberg- Patienten im Rahmen der Aktion „T4“. Nach Stromberger könnten hier bei intensiver Recherche noch weitere Opfer zu finden sein. Obwohl in den letzten Jahren viele Forschungsergebnisse publiziert wurden, die maßgeblich zur Aufarbeitung bzw. Aufklärung beigetragen haben, ist es unerlässlich, dass dieses Thema und die damit verbundenen Gräueltaten der Nationalsozialisten in der Wahrnehmung unserer Gesellschaft verankert bleiben und nicht in wieder in Vergessenheit geraten. Der Mantel des Schweigens über diesen Teil der Vergangenheit wurde lange genug ausgebreitet. Gegenwärtig gibt es noch immer Menschen, die über kein Wissen zur NS-„Euthanasie“ verfügen, obwohl in den letzten Jahren einiges für die öffentliche Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“ getan wurde. Die Forschung kann weiter einen immensen Beitrag dazu leisten, dass dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte nicht wieder totgeschwiegen wird, im kollektiven Gedächtnis bleibt und folglich für eine noch stärkere Sensibilisierung unserer Gesellschaft sorgt, um sicherstellen zu können, dass kranke und behinderte Menschen nie wieder als „lebensunwert“ angesehen werden. Die vorliegende Arbeit steht stellvertretend für weitere Bemühungen um eine intensive Aufklärung und Aufarbeitung.

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8 Literatur- und Quellenverzeichnis

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Feldhof Archiv, Personalakten: Josefine Hermann.

Feldhof-Archiv, Personalakten Dr. Ernst Sorger.

Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Oskar Begusch.

Feldhof-Archiv, Personalakten: Dr. Peter Korp.

Feldhof-Archiv, Personalakten: Hans Machan.

Feldhof-Archiv: Personalakten Dr. Ernst Hofmann.

KrPol-Sonderreihe der Polizei Graz, 6927-1945. 193

Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr 1261/1945.

Landesgericht für Strafsachen Leoben, Vr 11/1946.

Landesgericht für Strafsachen Leoben, Vr 973/46.

Interviews:

Interview von Peter Nausner mit Oberpfleger Beletz. In: OELSCHLÄGER et al., Die Ermordung psychiatrischer Patienten aus der Steiermark in der NS-Zeit, Linz 2015, 161-172.

Interview von Peter Nausner mit Schwester Peppi. In: ebd., 177-180.

Interview von Thomas Oelschläger mit Schwester Eleonore. In: ebd., 196-203.

Interview von Thomas Oelschläger mit Schwester Rita. In: ebd., 204-212.

Interview von Thomas Oleschläger mit Oberpfleger Menzinger. In: ebd., 181-195.

8.3 Internetquellen https://www.nationalfonds.org/detailansicht/4250 https://www.gedenkstaetten-bw.de/begriff-euthanasie https://www.aerzteblatt.de/archiv/46898/Medizingeschichte(n)-Medizin-im- Nationalsozialismus-Rassenhygiene http://www.pius-institut.at/Pius-Institut/Uber_uns.html http://www.schloss-hartheim.at/index.php/historischer-ort/toetungsanstalt-hartheim-1940- 1944

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