Immobilienwirtschaft Vom Industriestandort zum lebendigen Teil der Stadt

Stefan Kögl Vom Industriestandort zum lebendigen Teil der Stadt 2.0 als „Smart District“ in

Historisch gewachsen liegen klassische Industriestandorte heute nicht selten in- mitten einer Stadt oder in attraktiven Randgebieten. Ein typisches Beispiel: die so- gar nach dem Unternehmen benannte Siemensstadt in Berlin-. Mit einem umfassenden Konzept wird nun ein Teilareal umgewandelt, das insgesamt 32-mal so groß ist wie der Alexanderplatz. Vom derzeit noch geschlossenen Büro- und Pro- duktionsstandort zu einem offenen und modernen Stadtteil, der Arbeiten, Leben, Forschen, Lehren und Wohnen sinnvoll miteinander verbindet: die Siemensstadt 2.0.

Berlin im Jahre 1897: In der Hauptstadt des Deutschen Reiches Die neue Siemensstadt – ein Kiez der Zukunft leben rund 1,8 Millionen Menschen. Die Wirtschaft prospe- Im Zentrum des Ortsteils Siemensstadt liegt jedoch ein ge- riert und die Industrialisierung schreitet voran. Während sich schlossenes Industrieareal, das weder den modernen Anforde- kleinere Unternehmen der seit Jahren expandierenden Elekt- rungen des Unternehmens noch denen der Stadt entspricht. roindustrie nach wie vor in der Stadt ansiedeln, sieht sich das Darum unterzeichneten und das Land Berlin im Ok- damalige Siemens & Halske gezwungen, die komplette Ferti- tober 2018 einen Zukunftspakt für die Umgestaltung des 70 gung an Standorte außerhalb zu verlagern. Bis 1923 Hektar großen Areals in einen modernen und von vielfältiger erwirbt das Unternehmen Stück für Stück insgesamt über 210 Nutzung geprägten urbanen Stadtteil der Zukunft: die Sie- Hektar Fläche unerschlossenes Terrain zwischen Spandau im mensstadt 2.0. Von Beginn an steht dabei fest: Hier soll in Westen und im Südosten: die Nonnenwie- eine neue Arbeits- und Lebenswelt investiert werden, in der sen. Bereits 1914 offiziell in „Siemensstadt“ umbenannt, ent- Wissenschaft und Wirtschaft zusammenwirken, in der Men- stehen Produktion und Verwaltung, aber auch ein zentrales schen leben, arbeiten und an den Schlüsseltechnologien und Forschungslabor. Ende der 1920er Jahre arbeiten hier über Innovationsfeldern von morgen forschen. 65.000 Menschen. Für sie wird Wohnraum geschaffen und eine eigene S-Bahn-Verbindung zur Innenstadt gebaut: die Ein neuer Kiez der Zukunft soll entstehen, der im Sinne des . Heute ist die Siemensstadt zu einem lebendi- Gründungskonzepts der Siemensstadt Arbeiten, Forschung gen Teil des nordwestlichen Berlins geworden. Die Stadt ist und Wohnen vereint und damit eine intakte Symbiose für viele gewachsen und hat den Ortsteil ganz selbstverständlich inte- weitere Jahrzehnte Siemensstadt schafft. Die besondere Her- griert. Noch immer wird hier gelebt, geforscht und gearbeitet. ausforderung dabei: Das Projekt gleicht einer „Operation am

Abb. 1: Gemälde des Siemensareals 1930 – rechts im Bild die Trasse der Siemensbahn (© Siemens AG)

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Abb. 2: Städtebauliches Konzept Siemensstadt 2.0 (© Siemens AG) offenen Herzen“, denn das Areal wird aktuell für Produktion, den wie Möglichkeiten der Digitalisierung, die das Internet of Forschung und Verwaltung genutzt. Alle Arbeiten zur Umge- Things (IoT) oder Künstliche Intelligenz eröffnen. staltung können also nur Zug um Zug erfolgen, denn viele Forschung als Triebfeder der Tätigkeiten sollen mit so wenig Beeinträchtigungen wie möglich fortgeführt werden. Das lohnt sich für das Unternehmen wie die Stadt, denn mit der angestrebten Vermischung soll die Strahlkraft der neuen Städtebaulicher Wettbewerb – ein umfassendes Siemensstadt 2.0 weit über Berlin hinausreichen. Dafür sollen Konzept Forschungs-, Fach- und Gründungszentren sowie außeruniver- Gemeinsam mit dem Land Berlin startete Siemens 2019 sitäre und wissenschaftliche Einrichtungen und deren Partner- einen städtebaulichen Wettbewerb, zu dem 18 lokale, natio- unternehmen angesiedelt werden. Eine Absichtserklärung mit nale und internationale Architektur- und Stadtplanungsbüros dem Land Berlin, der TU Berlin, der Fraunhofer-Gesellschaft eingeladen wurden. Unter der zentralen Fragestellung „Wie und der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung wollen wir in der Zukunft leben und arbeiten?“ waren sie auf- (BAM) stellt die Weichen für erste konkrete Maßnahmen, die gefordert, einen zukunftsweisenden Stadtteil zu entwickeln. sowohl dedizierte Kerntechnologien als auch spezifische An- Wörtlich heißt es gleich in der Einleitung: „Bereits beim ersten wendungsfelder im Bereich der konventionellen Kraftwerks- Konzept der Siemensstadt 1897 kombinierten die Siemens- technik adressiert. Gründer moderne, werkseigene Wohnungen mit der Arbeits- Inzwischen wurde zudem das „Werner-von-Siemens Centre welt vor Ort. Auch kulturelle und soziale Einrichtungen wie for Industry and Science“ gegründet. Als Forschungs- und Kirchen, Schulen, Freizeiteinrichtungen und Parks waren im- Entwicklungskooperation zwischen Partnern aus Industrie mer ein Teil davon. Diese über 100-jährige Tradition soll jetzt und Wissenschaft schafft es Verbindungen in den Kerntech- weitergeführt und weiterentwickelt werden!“ nologien Digitalisierung, Additive Manufacturing und neue Als beispielhafter „Smart District“ und schon heute elfter Zu- Werkstoffe sowie Beschichtungen – Themen, mit denen sich kunftsort in Berlin soll das Quartier kurze Wege bieten und Siemens am Standort Spandau in den kommenden Jahrzehn- gut mit der Umgebung vernetzt sein. Mit 24/7-Vitalität sollen ten verstärkt beschäftigen will. Die Technische Universität hier die Grenzen zwischen traditionell nebeneinander stattfin- Berlin (TU) soll dafür drei Professuren einrichten. So entsteht denden Lebensbereichen überbrückt werden. Dabei sollen in- ein Umfeld, in dem junge Talente ihre Ideen gemeinsam mit novative Mobilitätskonzepte und Lösungen des Klimaschutzes Experten aus Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft in die Tat mit angestrebter CO2-Neutralität genauso eingebracht wer- umsetzen können.

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sich der Individual-, aber auch der Öffentliche Nahverkehr Stimmen zur Siemensstadt 2.0 in den nächsten Jahren entwickeln wird. Brauchen wir dann überhaupt noch Bushaltestellen oder besteigen wir autonom Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin: „Berlin fahrende Busse an Halteplätzen unserer Wahl? Ist die heu- darf sich auf ein neues, innovatives Stadtquartier freuen, das in te noch notwendige Zahl an Parkplätzen in 10, 20 oder 30 besonderer Weise Potenziale und Chancen nutzt. Der Gewinner- Jahren nicht völlig überdimensioniert? Wie können wir diese entwurf berücksichtigt unsere Ansprüche in außergewöhnlicher Flächen dann kurzfristig sinnvoll umnutzen? Mit Fragen wie Weise und lässt gleichzeitig Raum für neue Gedanken und Ent- diesen muss sich jeder beschäftigen, der heute einen Stadt- wicklungen, für Wissenschaft und Forschung, für Zukunft.“ teil der Zukunft plant. Variabilität wird so – übrigens nicht Cedrik Neike, Vorstand der Siemens AG: „Aus der historischen nur in Bezug auf die Verkehrsplanung – zu einem Kernele- Industrie-Ikone Siemens wird in Spandau ein Berliner Zukunfts- ment jeglicher Stadtplanung. Gleichzeitig wird der öffent- ort. Es wird ein neuer, lebenswerter Stadtteil entstehen, in dem liche Nahverkehr in Zeiten rasant wachsender Städte eine die Bürger wohnen, arbeiten, lernen und forschen können. Wir immer größere Bedeutung erhalten. Darum ist auch geplant, holen den Kiez zu uns in die Siemensstadt. Wir holen Berlin und die in den 1920er Jahren gebaute und zwischenzeitlich still- die Welt zu uns.“ gelegte Siemensbahn wieder in Betrieb zu nehmen. Als S- Bahn bietet sie eine schnelle Anbindung an die Stadtmitte Prof. Dr. Ralf P. Thomas, Finanzvorstand der Siemens AG: „Die in beide Richtungen und erhöht damit die Attraktivität des Siemens AG wird hier in den kommenden Jahren mit bis zu 600 Standorts. Millionen Euro in einen Zukunftsstandort investieren, der weit über die Grenzen von Berlin hinaus Strahlkraft entwickeln wird.“ Die Bürger beteiligen

Helmut Kleebank, Bezirksbürgermeister von Spandau: „Ein ge- Ein Projekt dieser Größenordnung kann man heute nicht schlossenes Industrieareal wird sich zukünftig für die Bürgerin- mehr „am Bürger vorbei“ planen und realisieren. Darum hat nen und Bürger öffnen. Leben und Arbeiten finden eine sinnvol- Siemens von Beginn an die Nachbarschaften, aber auch die le Verbindung und es wird eine attraktive soziale Infrastruktur interessierte Öffentlichkeit und seine Mitarbeiter in den Pla- geben.“ nungs- und Entstehungsprozess eingebunden. In Bürgerforen informierten Projektverantwortliche von Siemens Real Estate Arbeiten, Wohnen und Leben gemeinsam mit Vertretern des Landes Berlin sowie des Bezirks Spandau über den Fortgang der Planung, standen Rede und Vom ersten Tag an war dabei auch geplant, neuen Wohnraum Antwort und nahmen die Anregungen aus der Bevölkerung im Areal zu schaffen. Denn die althergebrachte Trennung hat auf. Ein zusätzliches Online-Forum bot Interessierten die Mög- heute in Zeiten der immer weiterreichenden Verschmelzung lichkeit, ihre Wünsche an das neue Quartier zu formulieren traditionell getrennter Bereiche ausgedient. Darum soll in der und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Die hier geäußerten Siemensstadt 2.0 weniger ein Nebeneinander als ein Mitei- Anregungen flossen als zusätzliche Inspirationsquelle bereits nander realisiert werden. Unterschiedliche Zielgruppen – Fa- in den zu diesem Zeitpunkt noch laufenden Architekturwett- milien, Singles, Seniorengruppen, Mehrgenerationenwohnen, bewerb ein. Auch zukünftig wird die Einbindung und Kom- betreutes Wohnen und Wohngemeinschaften – sollen auf munikation mit der interessierten Öffentlichkeit eine wichtige engem Raum miteinander leben können. Durch die räumlich- Rolle spielen. Denn hier soll ein Kiez für die Bürger von Berlin funktionale Verzahnung mit den anderen Nutzungen soll eine entstehen. besondere Mischung entstehen, bei der Störungen durch Lärm vermieden werden, aber urbane Dichte entsteht. Rund Siemens Campus Erlangen – Eine Stadt im Wandel 2.750 neue Wohnungen sind geplant – unter Anwendung der Neben der Siemensstadt 2.0 in Berlin betätigt sich Siemens Berliner Modells zur Baulandentwicklung auch mit mietpreis- Real Estate auch in Erlangen als Gestalter eines neuen Stadt- gebundenem Wohnungsbau. Zusätzlich wird die notwendige teils. Dort wird derzeit ebenfalls ein ehemals geschlossenes, soziale Infrastruktur – unter anderem eine Grundschule, zwei 54 Hektar großes Industrieareal bis 2030 Zug um Zug in einen Kindertagesstätten und eine Jugendfreizeitstätte – geschaf- lebendigen Stadtteil umgestaltet. Auf dem bisherigen, 1965 fen. Angebote für Einzelhandel und Gastronomie runden das eröffneten Forschungsgelände in Süden der Stadt entsteht ein Konzept ab, so dass sich das neue Quartier zu einem lebendi- attraktiver Campus mit zeitgemäßen Gebäuden, moderner gen Stadtteil entwickeln kann. Büroinfrastruktur sowie großzügigen Grünflächen und Frei- bereichen. Neben Büro-, Forschungs- und Laborarbeitsplätzen Städtische Einbindung – Neubelebung der Siemens- werden auch hier Wohnungen sowie eine Infrastruktur mit bahn Hotel, Geschäften und Restaurants gebaut. Inzwischen ist das Fragen der internen Verkehrserschließung wie der externen erste Modul bereits weitestgehend fertiggestellt und die ers- Anbindung stellen die Planer heute vor besonders große ten Mieter sind eingezogen. Die Bauarbeiten im zweiten Mo- Herausforderungen. Denn niemand kann vorhersagen, wie dul laufen auf Hochtouren.

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Abb. 3: Campus Erlangen (© Siemens AG) Abb. 4: Öffentlicher Raum in Siemensstadt 2.0 (© Siemens AG)

Der Grundstein in Siemensstadt ist gelegt Zusätzliche 60-Meter-Bauten sind sehr geschickt gesetzt und Noch nicht physisch, aber zumindest planerisch ist inzwischen markieren eindeutig die Eingänge ins Areal, ohne dabei in der Grundstein gelegt. Der städtebauliche Wettbewerb ist ab- Konkurrenz zu den historischen Bestandsgebäuden zu tre- geschlossen, der Gewinner steht fest: Es ist das Büro Ortner & ten. Auch an der Nonnendammallee bilden sie eindeutige Be- Ortner Baukunst (O&O) aus Berlin. Der Entwurf von O&O – so zugspunkte. Insgesamt besehen entstehen so sehr viele gute hat es der Jury-Vorsitzende Stefan Behnisch formuliert – bietet Adressen. Es gibt keine Bereiche, die offensichtlich eindeutig besser oder schlechter sind. Durch die Plätze und Raumfol- „eine gute Grundlage für die Gestaltung der zukünftigen Sie- gen wird es vielmehr viele, sehr gute A-Adressen geben. Und mensstadt. Er ist kein fertiges Bild, sondern er lässt Raum für not- schließlich wurde auch den Anforderungen des Denkmal- wendige Entwicklungen. Dies ist ein Entwurf, der respektvoll mit schutzes an die geschützten Bestandsgebäude Rechnung ge- den historischen Gebäuden umgeht, und sie gleichzeitig in eine tragen, für die ein nachhaltiger Nutzungsmix vorgesehen ist. zeitgemäße Nutzung führt. Er erfüllt in großen Teilen die heuti- So werden die historischen Gebäude in das neue Stadtgefüge gen Bedingungen, lässt jedoch auch Raum für die künftigen Ent- integriert und mit ihm vernetzt. wicklungen einer modernen, neuen Wohn- und Arbeitsstadt.“ Sinnvolle Koexistenz Hier einige Highlights: Grundsätzlich setzt der Siegerentwurf von O&O Baukunst auf eine nachvollziehbare Einfachheit Die Tradition der Siemensstadt wird nicht nur fortgesetzt, als städtebauliches Konzept. Dabei werden sämtliche Erd- sondern vielmehr zielgerichtet in eine Zukunft geführt, in der geschosszonen zu einem durchgängigen und öffentlichen Leben und Arbeiten sinnvoll verbunden miteinander koexistie- ren – aus stadtplanerischer Sicht äußerst sinnvoll und auch für „Stadtgeschoss“ gestaltet. Große und kleine Plätze wech- uns als Immobilienunternehmen in der Verantwortung eines seln sich als Freiflächen ab und schaffen ein Bild, wie man internationalen Konzerns mit vielen positiven Effekten für das es beispielsweise aus der italienischen Toskana kennt. Lange Unternehmen und seine Mitarbeiter. Der Baubeginn ist nach Straßen werden so vermieden und es entstehen Teilbereiche, den nun anstehenden, weiteren Planungs- und Genehmi- die mit mehr oder weniger Wohnnutzung gemischt genutzte gungsschritten für 2022 geplant. Schritt für Schritt wird dann Quartiere bilden können. Dabei schafft eine zentrale Achse der neue „Smart District“ entstehen und ab 2030 sicht- und Orientierung. Sie erschließt das gesamte Areal für Fußgänger erlebbar sein. und Radfahrer mit einem eindeutigen Anfang an der S-Bahn- Station und dem Ende am neuen Zentrum. Hier bildet ein Stefan Kögl, General Manager für das Siemensstadt 2.0 prägnantes Hochhaus mit dem davorliegenden „Stadtplatz“ Projekt in Berlin, zuvor rund zehn Jahre verantwortlich für einen eindeutigen Orientierungspunkt. Es ergänzt die histo- alle weltweiten Siemens-Bauvorhaben sowie das Thema rischen Ikonen Schaltwerkhochhaus und Verwaltungsgebäu- Technologie in Bezug auf Gebäudeinnovationen und -digi- de um ein modernes und ebenfalls ikonisches Gebäude, das talisierung, Siemens Real Estate (SRE) Berlin/München gleich zeigt: Hier entsteht eine Stadt der Zukunft.

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