Sonderrecht in Der Frühen Neuzeit

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Sonderrecht in Der Frühen Neuzeit Sonderrecht in der Frühen Neuzeit als ein normatives Angebot zu sehen: Die Sonder- rechtstraktate sind Speicher von juristischem und nicht- THOMAS DUVE juristischem Wissen, das sich in den vergangenen Jahr- hunderten in Bezug auf diese Lebenslagen angesammelt hatte und bei der Rechtsfindung herangezogen werden konnte – wenn die konkreten Umstände es zuließen Der Beitrag stellt einige Aspekte aus der Arbeit des ehema- oder erforderten. Als ein wichtiger Teil des frühneuzeit- ligen Teilprojekts C 13 vor, die in eine Habilitationsschrift lichen Rechtsquellenpluralismus waren die dort gesam- eingegangen sind, mit der sich der Verfasser im Februar melten Belege aus dem gemeinen und dem partikularen 2005 an der Juristischen Fakultät der Universität Recht, die Juristenschriften, aber auch Bibelzitate, Sen- München habilitiert hat. Seitdem unterrichtet Thomas tenzen und der gesamte bunte frühneuzeitliche Zitaten- Duve Römisches Recht, Rechtsgeschichte und Kirchen- strauß natürlich geltendes Recht. Doch es handelte sich rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät und an der um normative Sätze von relativer, nicht von absoluter Fakultät für Kirchenrecht der Pontificia Universidad Autorität: Sie standen dem Juristen bei der (Re-)Pro- Católica Argentina (Buenos Aires). Das Teilprojekt wird duktion des rechtlichen Rahmens seiner Entscheidung seither als Kooperationsprojekt fortgeführt. zur Verfügung, banden ihn jedoch nicht.4 Die frühneuzeitlichen Sonderrechte der personae miserabiles, der ‘mitleidswürdigen Personen’, mögen Für den Juristen des 20. Jahrhunderts ist Sonderrecht verdeutlichen, was gemeint ist.5 Über ein Kaiser Kons- vor allem ein „rechtssystematisches Ärgernis“1, für das tantin zugeschriebenes Gerichtsstandsprivileg, das in 19. Jahrhundert war es Ausdruck des auf Ungleichheit den Codex aufgenommen worden war, hatte der Termi- aufgebauten Ordnungsmodells des Ancien Régime, von nus Eingang in die Tradition des gelehrten Rechts dem man sich bewusst distanzieren wollte; nicht Son- gefunden; die Kirche eignete ihn sich wohl im 13. Jahr- derrecht, sondern die am Gleichheitssatz ausgerichteten hundert an, um für die in der Kaiserkonstitution aus- Kodifikationen und die Arbeit am System beschäftigen drücklich benannten Witwen, Waisen und Kranken seitdem die Rechtswissenschaft. Vielleicht haben sich ihre Jurisdiktionskompetenz zu begründen. Legistik auch die Rechtshistoriker deswegen dem Sonderrecht in und Kanonistik fügten zahlreiche Varianten und Erwei- der Frühen Neuzeit bisher kaum gewidmet.2 Blickt terungen von Tatbestand und Rechtsfolgen hinzu, und man freilich in Bibliotheksbestände, in Bibliographien auch in der zunehmenden partikularen Rechtssetzung und Dissertationenkataloge der Frühen Neuzeit, so ist finden sich viele Bezugnahmen auf die persona misera- die häufige Nutzung des auf ein Digestenfragment bilis. So verband sich mit dieser Bezeichnung bald ein (Dig. 1.3.16) zurückgeführten Sonderrechtsprinzips Bündel vor allem justizieller Privilegien. unübersehbar. Man findet eine Fülle von Schriften zu den iura singularia oder privilegia verschiedenster Perso- Im 16. und dem 18. Jahrhundert wurde nun eine nengruppen und Lebenslagen: Monographien zu den Fülle von Traktaten produziert, die diese Überlieferung sammelten und aufbereiteten. Viele stammten von Au- Rechten des Adels (privilegia nobilium), der Armen und 37 mitleidswürdigen Personen (privilegia pauperum et toren deutscher Universitäten, wichtige Werke kamen miserabilium personarum), der Alten (privilegia senum), aber auch aus Neapel, Valencia oder Wien. Wer freilich der Kranken (privilegia aegrotorum), der Kaufleute (pri- exakt zu den personae miserabiles zu zählen war, war vilegia mercatorum), der Kleriker (privilegia clericorum), schwer auszumachen. Für einen angesehenen Neapoli- der Soldaten, Handwerker, Frauen, Witwen und Musi- taner Juristen des 17. Jahrhunderts, Giovanni Maria ker, um nur einige zu nennen. Namhafte Vertreter der Novarius, gehörten zu ihnen nicht allein Mündel, Wit- Zunft beteiligten sich an dieser Produktion: Johann wen und die von dauernder Krankheit Geschwächten, Oldendorp, André Tiraqueau oder Georg Adam Struve.3 also die in der in den Codex aufgenommenen Konstitu- tion (Cod. 3.14) ausdrücklich Genannten. Es seien viel- Um diese Sonderrechtstraktate und ihren Inhalt an- mehr andere hinzuzufügen, die nach der ratio mitleids- gemessen zu würdigen, muss man sie als Teil der früh- würdig seien, etwa: Waise, Arme, Mittellose, Gefange- 1/2007 neuzeitlichen Wissenschafts- und einer von dieser ne, Eingesperrte, Fremde, Reisende, Huren, Ausgesetz- geprägten Rechtskultur begreifen, die den spezifischen te, Freigelassene, Büßer, vor kurzer Zeit zum Glauben Regeln der zeitgenössischen gelehrten Praxis folgte und Bekehrte, Greise, Jungfrauen, Scholaren, Bauern, der ein ganz besonderes Verständnis von Geltung hatte. Verschwender, der Geizige, der von Abgaben bedrückte So ist der größte Teil des Inhalts dieser Schriften eher Kaufmann, die Kirche und Kleriker, Liebeskranke, zur ITTEILUNGEN M Galeerenstrafe Verurteilte, auf Schiffe Deportierte, vom 1. Bydlinski 1996, 419. 2. Vgl. allerdings mit weiteren Nachweisen Mohnhaupt 1981 und ders. 1987; Schröder 1999; Scherner 1988; weitere Nachweise 4. Zu diesem besonderen Geltungsbegriff vgl. Simon 2005 sowie auch bei Duve 2004a und ders. 2006. zu der Konzeption Duve 2003. 3. Vgl. zu den frühneuzeitlichen Sonderrechten ausführlicher 5. Ein Überblick über einige Aspekte des Folgenden bei Duve Duve 2006 und ders. 2007. 2004a. Teufel Besessene, der Ruinierte, Trunksüchtige, Rasen- Wie hoch das Pluralisierungspotential dieser dispa- de, Narren, Fallsüchtige sowie Körperschaften und raten Überlieferung, vom Buchdruck zu wahren Papier- Gesellschaften.1 Für diese stellte er in seinem vielfach fluten2 multipliziert, war, wird besonders durch einen wiederaufgelegten Tractatus de miserabilium personarum Blick auf die Neue Welt deutlich.3 Dort verfestigte sich privilegiis (1623, 1637, 1669, 1709, 1739) nicht weni- die Ansicht, „daß die Indianer aus allen vorgenannten ger als 176 Sonderrechte zusammen, Gründen ihrer elenden Lebenslage aus dem kirchlichen und weltlichen alle Vorzüge und Privilegien in Recht. Ähnlich, wenn auch etwas Anspruch nehmen können, die den weniger barock, fielen zum Beispiel Minderjährigen, Armen, Bauern und eine unter dem Namen von Georg anderen mitleidswürdigen Personen Adam Struve veröffentlichte Disserta- zustehen, sowohl im Prozeß als auch tion (1680), eine aus Spanien stam- außerhalb […]“, wie einer der wohl mende Abhandlung des später in der wichtigsten Autoren des Derecho Neuen Welt lebenden Gabriel Álvarez indiano, also des in Spanisch-Amerika de Velasco (1630, 1663, 1739) oder geltenden Rechts, im 1639 erstmals eine umfangreiche Wiener Hoch- aufgelegten zweiten Band seines De schulschrift (Senutti 1717) aus. Indiarum iure ausführte.4 Aus den Sonderrechten reicher adliger Wit- Blickt man näher in diese Trak- wen oder aus einem mit Blick auf die tate und die dort zusammengestellten Reform der Armenfürsorge verfassten Autoritäten, so wird freilich deutlich, Traktat wie dem Novarius’ wurden dass hinter dem Gebrauch der persona nun besondere Rechte der Indianer miserabilis ein jeweils unterschied- oder Einrichtungen wie der Protector liches Leitbild stand. War der Termi- de Indios hergeleitet. So bezog sich der nus in Rom wohl aus dem Gegensatz Abbildung 1 Autor einer an den Vizekönig von zwischen inferiores und potentiores Denkschrift zur Neugestaltung des Amtes des Protector de Peru gerichteten Denkschrift zur hervorgegangen, so dachte die hoch- Indios aus dem Jahr 1671 von Nicolás Mathías del Campo y de la Rynaga [nach einer Kopie im Instituto de Investigaciones de Historia Neugestaltung des Amtes des Protector mittelalterliche Papstkirche bei der del Derecho, Buenos Aires]. de Indios aus dem Jahr 1671 wie Berufung auf diese Rechtsfigur nicht zuletzt daran, sich selbstverständlich auf die Autorität dieser Figur und die Jurisdiktionskompetenz für Rechtsstreitigkeiten führte eine Reihe von Werken des gelehrten Rechts als reicher adliger Witwen gegen die Lehnsherren zuzu- Beleg an: „Hoher Herr!“, heißt es dort, „[d]ie Indianer sprechen, wie es seit 1234 auch im Liber Extra zu lesen Perus, so wie die anderen des Westens, sind und müssen war (X. 2.2.15). Im 17. Jahrhundert gebrauchte man zu den Personen gezählt werden, die im Recht als die den Terminus auf der Ebene der Reichsgerichtsbarkeit miserables bezeichnet werden [...].“5 zur Umgehung der Austräglinstanz und in protestan- tischen und katholischen Territorien im Zusammen- Das konnte er tun, denn im 17. Jahrhundert war es 38 hang mit der Neuordnung des Fürsorgewesens: Hier bereits so selbstverständlich, die Indianer als personae sollten den Hospitälern und ihren Trägern die zahlrei- miserabiles anzusehen, dass Solórzano Pereiras Zeit- chen Sonderrechte zukommen, die sich in der Tradition genosse Bischof Fray Gaspar de Villarroel sich in seinem für die personae miserabiles finden ließen. Standardwerk des Kirchenregiments in Lateinamerika, dem Gobierno Eclesiástico Pacífico y Unión de los dos cuchillos, pontificio y regio, auf die Bemerkung beschrän- ken konnte:6 1. Novarius 21637, Sectio Prima, Praeludium VIII, n. 1–6: „Hercle, si juris rigorem attendere velimus certe in illo miserabiles Personae, proprie sunt nominati Pupilli, Viduae morbo diuturno fatigati, ac debiles, ut cernitur in l. unic. C. 2. Vgl. zu der quantitativen Seite des Pluralisierungsbegriffs 1/2007 quando Imper. inter Pupill. & Vid. At non per hoc aliae tales Brendecke
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