Lelewel­Gespräche 2/2010

Eduard Mühle Was war das frühpiastische regnum – : Gab es im frühen Mittelalter Staaten? Einführung zum 3. Joachim­Lelewel­Gespräch des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, Dienstag, 1. Juni 2010

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In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts tritt auf dem Gebiet des heutigen Polen ein geographisch­ politisches Gebilde ins Licht der Geschichte, das die Quellen des ausgehenden 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts "Land des Mescheqqo",1 "Herrschaft des Nordens", "civitas schinesghe", "gnezdun civitas", "regnum" oder "Polonia" nennen. Was war dieses Gebilde? Welche Art von gesellschaftlich­ politischem Zusammenschluss haben die Zeitgenossen mit den zitierten Quellentermini bezeichnet? Und mit welchen Begriffen lässt sich sein spezifischer, historischer Charakter von der Geschichtswissenschaft heute am besten erfassen, am adäquatesten beschreiben?

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Die polnische Mediävistik spricht seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert wie selbstverständlich von "Staat" (państwo), wenn sie jenen geographisch­politischen Verband erörtert, der von den ersten piastischen Herrschern, . und Bolesław Chrobry, zusammengehalten wurde. Diese Sichtweise ist im letzten halben Jahrhundert vor allem durch Henryk Łowmiański und Gerard Labuda verfestigt und geradezu kanonisiert worden. So suchte Łowmiański in einem monumentalen siebenbändigen Werk über die Anfänge Polens vor allem zwei Probleme zu lösen: das Problem "der Genese des Staates und der Genese der Nationalität, beides eng miteinander verflochten, da der Staat in der Regel die Schöpfung einer bestimmten ethnischen Gruppe ist…".2 Demgegenüber lehnte Gerard Labuda wiederholt kategorisch jegliche Zweifel daran ab, dass Mieszko I. als Fürst der Polanen bereits über einen Staat herrschte, der im vollen Sinne ein polnischer Staat war.3 Auch in aktuellen Synthesen zur mittelalterlichen Geschichte sprechen polnische Mediävisten vom "Gnesener Staat Mieszkos I." (państwo gnieźnieńskie Mieszko I.) oder dem "Staat Bolesław Chrobrys" (państwo

1 Relacja Ibrahima ibn Ja' kuba z podróży do krajów słowiańskich w przekazie Al­Bekriego, hg. von Tadeusz Kowalski, Kraków 1946, 50. 2 Henryk Łowmiański: Początki Polski, 7 Bde., warszawa 1963­1985, hier: Bd. 1: Z dziejów Słowian w I. tysiącleciu n.e., Warszawa 1963, 7: "W pojęciu początków Polski kryją się dwa zagadnienia: genezy państwa i genezy narodowości, pozostające ze sobą w ścisłym związku, gdyz państwo jest z reguły wytworem określonej grupy etnicznej …". 3 Gerard Labuda: Mieszko I, Wrocław 2002, 29.

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Auch in der neueren deutschen mediävistischen Polenforschung geht man mitunter davon aus, dass es im 10. Jahrhundert in Ostmitteleuropa zu einer "militärischen, administrativen und kultischen Organisierung des Staates unter der unumstrittenen Führung des Fürsten" gekommen sei und dass "durch die Fürstenherrschaft vereinte und mit einer landeskirchlichen Organisation versehene Staaten" hervortraten. Für die ersten Piasten habe beispielsweise das so genannte Dagome­Iudex­ Regest den Anspruch auf "die Unversehrtheit und Ganzheit des Staates […] innerhalb festgeschriebener Grenzen" erhoben, sei Otto III. im Jahr 1000 "ins Zentrum des polnischen Staates" gereist."8

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Andere Forscher bevorzugen es dagegen, von "großräumigen Herrschaftsbildungen", von "Reichen" bzw. von einer "piastischen Herrschaftsbildung" oder dem "Reich Bolesławs" zu sprechen – wenn sie nicht gleich ganz auf jede moderne Begriffsbildung verzichten und nur die Quellentermini selbst verwenden. Mit ihrem Verzicht auf den modernen Begriff 'Staat' wollen sie die Konsequenz aus mehreren Beobachtungen ziehen: 1. dass die frühmittelalterlichen regna "noch keine Flächenstaaten" waren, sondern "stärker auf

4 Stanisław Szczur: Historia Polski, Średniowiecze, 2. Aufl., Kraków 2007, 47, 58; Jerzy Wyrozumski: Dzieje Polski piastowskiej, Kraków 1999, 79, 82, 84. 5 Jerzy Strzelczyk: Bolesław Chrobry, 2. Aufl., Poznań 2003, 6­7; ders.: Probleme der Christianisierung in Polen, in: Michael Müller­Wille (Hg.): Rom und Byzanz im Norden. Mission und Glaubenswechsel im Ostseeraum während des 8.­14. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart 1998, 191­214, hier: 195­197. 6 Jerzy Strzelczyk: Auf der Suche nach der nationalen Identität im Mittelalter. Der Fall Polen, in: Michael Borgolte (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs, Berlin 2001, 359­369, hier: 362, 362. 7 Jerzy Strzelczyk: Bohemia and : two examples of successful Western Slavonic state­formation, in: The New Cambridge Medieval History, Bd. 3, hg. von Timothy Reuter, Cambridge 1999, 514­535, Zitate: 516, 522, 523. 8 Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.­11. Jahrhundert), Köln u.a. 2001, 1, 4, 336. Lübke will hier "Staaten" lediglich "in einem allgemeineren Sinne als durch die Begriffe Land und Herrschaft geprägte Gebilde" verstehen, "in denen die Bevölkerung institutionell an eine zentrale Herrschaftsinstanz gebunden ist."

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Solche Überlegungen knüpfen an Einsichten einer von anthropologischen und kulturgeschichtlichen Paradigmen inspirierten Forschung an, die – wie Hagen Keller mit Bezug auf das Ottonenreich betont – gezeigt haben, "dass die herkömmliche Interpretation der Herrschaftsorganisation unter staatlich­ institutionellen, stark juristisch geprägten Kriterien weder den Charakter der politischen Ordnung noch das Funktionieren der [frühmittelalterlichen] Königsherrschaft zutreffend erklärt."10 Vielmehr verstelle die traditionelle Fixierung auf Ämter, Hierarchien, Instanzenzüge und die Funktionsweisen des modernen Staates "den Weg zum Verständnis der mittelalterlichen Verhältnisse."11 Wolle man die regna des frühen Mittelalters in ihrem spezifischen Charakter begreifen, so müsse man sie eher als "vorstaatlich", als "Königsherrschaften ohne Staat"12 begreifen und beschreiben. Schließlich seien sie von einer politischen Ordnung bestimmt gewesen, deren "Vorstaatlichkeit" auf mehreren Feldern evident sei, nämlich 1. in einem konsensualen Zusammenwirken von Herrscher, weltlichen und geistlichen Großen – Königtum, Adel und Kirche –, das auf mündlich verhandelten, nirgendwo schriftlich fixierten Gewohnheiten beruhte; 2. in einem für die politischen Führungsschichten offensichtlichen Vorrang verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Bindungen gegenüber herrschaftlichen Bindungen; 3. in spezifischen Verfahren und Gewohnheiten der Konfliktführung und Konfliktbeilegung bzw. der Etablierung und Aufrechterhaltung von Ordnung, die in erster Linie durch rituelle Kommunikation und symbolische Handlungen erfolgten; 4. in einer Durchdringung von weltlicher und geistlicher Macht, Königtum und Kirche, die "mit

9 Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh­ und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa, Berlin / New York 2001, 66­67, 75, 79; Auch Brather übersetzt hier regnum mit "Herrschaft". 10 Hagen Keller / Gerd Althoff: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen 888­1024 (=Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3), Stuttgart 2008, 25. 11 Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997, 14. 12 Gerd Althoff: Die Ottonen, Königsherrschaft ohne Staat, 2. Aufl., Stuttgart 2005, 8.

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Dem ist wiederum entgegen gehalten worden, dass die Vorstellung, das Frühmittelalter sei durch "vorstaatliche Herrschaftsformen" bestimmt gewesen, "möglicherweise den unvoreingenommenen Blick" verdecke.14 Schließlich könne man – so Hans­Werner Goetz – zumindest karolingischen Geschichtsschreibern eindeutige Belege für die Existenz frühmittelalterlicher Staatsvorstellungen entnehmen. Jedenfalls müsse der in Chroniken, Annalen und Viten zu findende Quellenbegriff regnum als ein "offener Staatsbegriff" verstanden werden, der keineswegs "zwangsläufig nur den Ausschnitt aus dem Gesamtzusammenhang der politischen Ordnung bezeichnet [habe], der den König betrifft, sondern als Institution weit darüber hinausgeht und eine feste Ordnung impliziert, die es erlaubt, von einem Staat im abstrakten Sinn zu sprechen." Indem regnum "eine feste und vom Herrschaftsbereich seines Herrschers unabhängige, räumlich und institutionell bestimmte Größe" bezeichnet habe, bezeuge der Begriff bereits für das 9. Jahrhundert die Anfänge eines transpersonalen Staatsdenkens.15 Daher erscheint es Goetz wenig sinnvoll, "dem frühmittelalterlichen Staat eine 'Staatlichkeit' abzusprechen oder ihn als 'archaisch' zu klassifizieren."16

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Dass karolingische bzw. frühmittelalterliche Autoren klare Vorstellungen von ihrem "Staat" besessen hätten bzw. von einem solchen bereits im 9. Jahrhundert gesprochen werden könne, ist von anderer Seite freilich vehement in Zweifel gezogen worden. So hat Johannes Fried zu zeigen versucht, dass regnum im 9. Jahrhundert "keineswegs den als solchen noch unkonzipierten […] Gesamtzusammenhang der politischen Ordnung des karolingischen Herrschaftsverbandes [bezeichnet habe], sondern nur einen bestimmten […] Ausschnitt desselben." Der regnum­Begriff habe "auf keine abstrakte, von den natürlichen Personen unabhängige 'Staatsperson'" gezielt, vielmehr lediglich den 'königlichen' Rechtskreis, das heißt jenen Bereich umschrieben, in dem der König sein 'Königtum' zur Geltung zu bringen vermochte. Regnum – das in den Quellen im Übrigen nur als Objekt, nicht als handelndes Subjekt gesehen werde – habe auch nicht "in einem instrumentalen Sinne die Gesamtheit und die spezifische Mechanik aller Apparaturen zur Verwaltung der Macht" bezeichnet. Der Begriff könne daher nicht als "Kurzformel spezifisch mittelalterlicher Staatlichkeit" angesehen werden, sondern habe nur "ein gesellschaftliches Segment, die eigentümliche Ausprägung königlicher Herrschaft" bezeichnet. Dieser Herrschaft will Fried gewisse

13 Vgl. Keller / Althoff: Die Zeit der späten Karolinger (wie Anm. 10), 439­442, Zitat: 441. 14 Hans­Werner Goetz: Die Wahrnehmung von 'Staat' und 'Herrschaft' im frühen Mittelalter, in: Stuart Airlie u.a. (Hg.): Staat im frühen Mittelalter, Wien 2006, 39­58, hier: 40. 15 Hans­Werner Goetz: Regnum: Zum politischen Denken der Karolingerzeit, in: Zeitschrift der Savigny­Stiftung für Rechtgeschichte. Germanistische Abteilung 104 (1987), 110­189, hier: 180, 182. 16 Goetz: Die Wahrnehmung (wie Anm. 11), 56.

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Was bedeuten diese Diskussionen für die Frage nach dem Charakter des frühpiastischen regnum? Vielleicht ist es in Wirklichkeit gar nicht entscheidend, ob wir dieses Gebilde mit dem Begriff "Staat" oder doch eher mit der Bezeichnung "Herrschaftsbildung" benennen. Ob man von einem mittelalterlichen "Staat" sprechen kann, hängt schließlich immer davon ab, wie "Staat" definiert wird. Begnügt man sich mit dem "Minimalangebot eines universalen Staatsbegriffs",19 wie ihn das Stichwort "Staat" im Lexikon des Mittelalters bietet, so wird man mit der Verwendung des Begriffs "Staat" letztlich kaum ernsthafte Probleme haben. Denn dass auch das frühpiastische regnum "ein überfamiliärer größerer Herrschaftsverband, […] eine politische Ordnung und Organisation [war], die menschliches Zusammenleben im Innern ermöglichen und Schutz nach außen bieten sollte",20 wird man nicht in Abrede stellen. Doch führt dieser "ganz allgemeine und inhaltsarme Staatsbegriff", der nicht mehr und nicht weniger besagt, als dass es "zu allen Zeiten und in allen Kulturen menschliche Zusammenschlüsse und Verbandsbildungen gegeben hat",21 wirklich zu einem tieferen Verständnis frühmittelalterlicher regna? Oder sind nicht doch weitere Konkretisierungen und Spezifikationen des Begriffes erforderlich, um ihn erklärungsmächtig zu machen?

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Dem Mediävisten Walter Pohl erscheint es nicht abwegig, "bei aller Vorsicht vor modernen Projektionen und Obertönen des Begriffs [Staat] das politische System der regna als 'Staat' zu

17 Johannes Fried: Gens und regnum. Wahrnehmungs­ und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Jürgen Miethke / Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 73­104, hier: 93­94, 98­99. 18 Johannes Fried: Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jahrhundert zwischen 'Kirche und Königshaus', in: Historische Zeitschrift 235 (1982), 1­43, hier: 43. 19 Reinhard Schneider: Tractare de statu regni. Bloßer Gedankenaustausch oder formalisierte Verfassungsdiskussion, in: Jürgen Petersohn (Hg.): Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 2001, 59­78, hier: 59. 20 Eberhard Isenmann: "Staat", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München / Zürich 1994, Sp. 1251­2156, hier: Sp. 2152. 21 Isenmann: "Staat" (wie Anm. 20), Sp. 2152

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Als weitere, spezifische Kriterien für einen frühmittelalterlichen Staat benennt Pohl darüber hinaus: ● die Dauerhaftigkeit (die regna erreichten auch über Herrscherwechsel und Teilungen hinweg ein beträchtliches Maß an Kontinuität); ● die Stabilität (die regna konnten durch das Handeln aller Machtträger, nicht nur des Königtums, in beträchtlichem Ausmaß "die Erwartungssicherheit" in ihrer Bevölkerung herstellen); ● ein regnum war ein "durchaus selbstreferentielles System, das von den Zeitgenossen als handlungsfähige Einheit betrachtet wurde, an das sich Vorstellungen von Identität und Differenz knüpften; der politische Raum eines regnum war nicht überall eindeutig territorial fixiert und linear abgegrenzt, aber in seiner Konfiguration weitgehend bekannt"; ● regna beruhten in beträchtlichem Maße auf einem Wir­Gefühl, das sich an die gens knüpfte, auch wenn letztere keineswegs deckungsgleich mit dem regnum war; ● auch wenn ecclesia den umfassendsten Inbegriff aller Angehörigen eines regnum dargestellt habe (und darüber hinaus zugleich auf die gesamte Christenheit verwies), trug auch die Kirche als bewusst erlebte und stilisierte Gemeinschaft zur Identität eines regnum bei; ● in einem regnum gab es einen Diskurs der Macht (in Gestalt christlicher Literatur und/oder der römischen Staatssprache); ● regna stellten ein politisches System dar, das einen Rahmen bot, in dem der relative Status der Mächtigen (in Ritualen, Gaben, symbolischer Kommunikation) ausgehandelt werden konnte, was aber nur durch die Existenz eines übergreifenden Sinnzusammenhangs des Gesamtreiches möglich war; ● innerhalb eines regnum stellten Konflikte die Machtverhältnisse beständig auf die Probe, wodurch sie dieselben aber nur bestätigten; ● in einem regnum konnte die Zentralgewalt trotz Fehlens eines Steuersystems, einer Bürokratie und

22 Walter Pohl: Staat und Herrschaft im Frühmittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand, in: Arlie: Staat im frühen Mittelalter (wie Anm. 14), 9­38, hier:31.

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Lassen sich mit diesem Kriterienbündel die spezifische Ordnung und der Zusammenhalt der frühmittelalterlichen regna konzeptionell erfassen? Begreifen wir mit seiner Hilfe besser die Prozesse und Mechanismen, die sie zu handlungsfähigen Einheiten werden ließen? Verstehen wir mit seiner Hilfe eher, wie diese regna über längere Zeiträume hinweg großräumige Herrschaft bewahren und die Kontinuität ihrer Einrichtungen garantieren konnten? Stoßen wir damit also zu ihrem Systemcharakter vor? Oder trübt jenes Kriterienbündel bzw. die Applizierung eines so definierten Staatsbegriffs auf die frühmittelalterlichen regna nicht doch eher den Blick auf deren eigentliches Wesen? Und wie verhält es sich konkret damit, wenn wir auf das frühpiastische regnum Mieszkos I. (?­992) und Bolesławs I. (967­1025) blicken?

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