Themenheft 25

Oskar Sakrausky/Karl-Reinhart Trauner (Hg.) Aus der Vergangenheit in die Zukunft ... Julius Hanak zum 75. Geburtstag Themenheft 25

Oskar Sakrausky/Karl-Reinhart Trauner (Hg.) Aus der Vergangenheit in die Zukunft ... Julius Hanak zum 75. Geburtstag

Wien 2008 Vorwort

Wir schreiben das Jahr 1971 im Oktober. Es war 14 Uhr und der Lehrsaal in der Kaserne Glasenbach bei Salzburg war überheizt. Wir Grundwehrdiener warteten auf den Lebenskundeunterricht. Ein Blick in die Runde zeigte, dass einige meiner Kameraden die Zeit bis zum Eintreffen des Militärpfarrers zu einem kleinen Schläfchen nützten, was bei der fordernden Grundausbildung auch nicht verwunderlich war. Das Kommando „Alles auf!“ weckte die Schlä- fer und wir begrüßten unseren Militärpfarrer Julius Hanak. Braun gebrannt, schlank und mit wachen Augen machte er auf mich den Eindruck eines Mannes, der die Bewegung im Freien liebte. Seine Art zu sprechen war ruhig, kompetent und gewinnend. Es war eines der wenigen Zusammentreffen mit Julius Hanak während meiner Zeit als Grundwehrdiener, denn sein Seelsorgebereich umfasste mehrere Bundesländer. Trotz der Fülle seiner Arbeit war er in seinem Auftreten bescheiden und in Inhalt seinem Reden ruhig und überlegt. M. Wallgram, Julius Hanak - Stationen sei- Die Berge, der Sport, die Geschichte und das gelebte Wort Gottes sind bis nes Lebens 4 heute die Hauptinhalte seines Lebens geblieben. P. Fiala, Traditionspflege im Bundesheer Bis zum heutigen Tag ist er kein bequemer Mensch und angepasster Zeitge- 5 nosse, der mit dem Strom der Massenmeinung mitschwimmt, sondern er hält mit H. M. Mader, Militärischer Heldenmy- seiner Anschauung nicht hinter dem Berg und ist gerne bereit, seine guten Ar- thos 19 gumente darzulegen ohne den anderen zu seiner Meinung zu vergewaltigen. In memoriam Werner Peyerl 29 Mag. Oskar Sakrausky, G. Spath, Unser kulturelles Erbe - und Militärsuperintendent sein Schutz 18 U. Rumerskirch, Befehl und Gehorsam 25 H. Sahlender, Die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Soldaten 31 P. Klocko, Die Entwicklung des Rund- funks in Österreich 55 O.-E. Westphal, Martin Luther und der Bauernkrieg 75 K. W. Schwarz, Joh. M. Szeberiny 87 A. Stipanits, Dank 95 G. Spath, Laudatio 99

I m p r e s s u m : Medieninhaber, Herausgeber und Re dak ti on: DDr. Karl-Rein hart Trauner, Evangelische Mi li tär su per in ten den tur - Der Evangelische Mili- tärsenior; AG Stift gas se, A-1070 Wien, Stift gas se 2a; e-Mail: [email protected] - Druck: Hee res druc kerei, Kaserne Arsenal, A-1030 Wien. Richtung der Zeit schrift: In for ma ti on über mi li tär ethi sche Fra ge stel lun gen so wie über das kirch lich-theo lo gi sche Le ben. Na ment lich ge kenn zeich ne te Beiträ ge müs sen nicht un be dingt der Mei nung der Re dak ti on ent spre chen.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 2 - M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 3 - Julius Hanak - Stationen seines Lebens

Manfred Wallgram

• 40 Jahre haupt- und Korpskommando II amtliche Arbeit in der (MilKdo S, T, V, OÖ, K) evangelischen Militär- (1959–1980) seelsorge des österreichi- • Gründung und schen Bundesheeres Aufbau der Arbeitsge- (07.08.1958 – 31.12.98) meinschaft Evangelischer • Mitaufbau (seit Soldaten im Bundesheer 1959) sowie Ausbau (seit (AGES) ab 1979 1980) der evangelischen • Theologische Pro- Militärseelsorge in Öster- filierung einer spezifisch reich evangelischen Militärseel- • Theologische sorge im österreichischen Grundlegung der evan- Bundesheer der 2. Repu- gelischen Militärseelsor- blik unter gleichzeitiger ge in Österreich durch Bedachtnahme auf die Erforschung ihrer Geschichte (ab 1526 bis zur ökumenische Verfochten- Gegenwart), teilweise als Dissertation vorgelegt heit mit der römisch-katholischen Militärseelsorge (1971) im militärischen Umfeld. • Erarbeitung und Praxis einer „Seelsorge am • Mitaufbau einer internationalen ökumeni- leistungsgeforderten Menschen/Soldaten in Extrem- schen Vernetzung der Militärseelsorgen der „Großen situationen“ (seit 1960) Absolvierung der Heeres- Ökumene“ (jüdisch – christlich – muslimisch) im bergführerausbildung (1960–1962); Teilnahme an Rahme der „Chiefs of Chaplains Conference“ so- Spitzbergenexpediton 1964, langjährige Begleitung wie der „Association Military Christian Fellowship“ von Heeresbergführern und Militärakademikern (AMCF). Aufbauhilfe der christlich/evangelischen und von Truppen bei der Alpinausbildung, Seel- Militärseelsorgen in den Reform-/Transitionsländern sorge- und Truppenbesuche bei den UN-Truppen in nach 1989, insbesondere in Ungarn, Tschechien, Po- Cypern (12x), Ägypten (2x), Syrien (13x), Bosnien len, Estland, Lettland, Litauen usf. durch Besuche (2x), jeweils bis zu einem Monat. und Einladungen. • Aufbau und Durchführung der evange- • Aufbau einer evangelisch/ökumenischen lischen Militärseelsorge im Bereich Gruppe III Spitzensportseelsorge in Österreich besonders von

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 4 - 1964 bis 1984, Begleiter als Seelsorger von acht österreichischen Olympiateams (Innsbruck 1964, München 1972, Montreal 1976, Innsbruck 1976, Lake Placid 1980, Moskau 1980, Sarajewo 1984, Los Angeles 1984) • kirchliche, zeitweise, jahrelange Vertretung des Arbeitszweiges „Evangelische Militärseelsorge“ in der Generalsynode der Evangelischen Kirche in Österreich • langjähriger Vorsitzender des Österreichi- schen Missionsrates • langjähriger Referent für Kirchenmusik im Evangelischen Oberkirchenra

ADir Manfred Wallgram, Olt ist Referent der Militärsuperintedentur und verantwortlich für deren Öffent- lichkeitsarbeit.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 5 - M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 6 - M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 7 - M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 8 - Traditionspflege im Bundesheer

Peter Fiala

Zu aller erst fühle heutigen hektischen und auf reine Zweckmäßigkeit ich mich gedrängt, ausgerichteten Zeit, die zudem noch weitgehend den der Evangelischen Mi- Sinn für äußere Formen verloren hat, jedoch letztlich litärsuperintendentur nur dann erfolgen, wenn der Inhalt der Überlieferung meinen Dank dafür dazu geeignet erscheint, über die Ausschmückung auszusprechen, sich von Feierlichkeiten mit traditionellen Zeremonien der österreichischen und Gebräuchen hinaus einen konkreten Beitrag Soldatentradition auch zur Motivation des Soldaten im Frieden und zur im Lebenskundeun- Auftragserfüllung im Kriege zu leisten. terricht anzunehmen, Hier soll gleich erwähnt werden, dass diese weil das natürlich für Möglichkeit in unserer heutigen Gesellschaft, die mich als Referent für zunehmend der transzendenzbezogenen Sinngebung die Traditionspflege entbehrt, daher z.B. die soziale Sicherheit oft schon bei der Verwirklichung mehr schätzt als etwa die Freiheit und deswegen ge- meiner dienstlichen Anliegen eine wesentliche Hilfe neigt scheint, alle heroischen Tugenden abzuwerten, darstellt. Das Herstellen einer Beziehung zwischen immer öfter bestritten wird. Es besteht in diesem Zu- der Überlieferungspflege im Bundesheer und dem sammenhang etwa die Tendenz, das tapfere Verhalten Lebenskundeunterricht liegt jedoch andererseits des einzelnen Soldaten im Gefecht ausschließlich auf wieder nahe, denn eine echte Traditionspflege, die den ohne Zweifel außergewöhnlich wichtigen Ein- im geistigen Bereich angesiedelt sein muss und sich fluss der militärischen Primärgruppe zurückzufüh- nicht in der bloßen Erhaltung des militärischen ren. Dass die moralische Stärke, die Tauglichkeit der Brauchtums erschöpfen darf, kann durchaus einen Psyche zur Befolgung der militärischen Pflicht an- Beitrag bei der Auseinandersetzung mit der existen- gesichts des möglichen oder sogar wahrscheinlichen ziellen Grundfrage leisten, deren Behandlung ja die eigenen gewaltsamen Todes aber schon vorher durch wesentlichste Aufgabe des Lebenskundeunterrichts einen langwierigen Erziehungsprozess systematisch ist, wenn ich das so richtig verstanden habe. gefördert und herangebildet werden muss, um dann Abgesehen davon, dass die Traditionspflege im Ernstfall des Krieges in ausreichendem Maß zur vielleicht zu einem geringen Teil auch auf die Frage Verfügung zu stehen, wird dabei vergessen. nach dem „Woher kommen wir und wohin gehen Die Effizienz der Traditionspflege bei der wir?“ Antwort gibt, muss sie jedoch in der Wirklich- Motivierung der Soldaten des Österreichischen keit unseres heutigen Bundesheeres ganz konkrete Bundesheeres hängt selbstverständlich abgesehen Aufgaben erfüllen, da wir bei der sehr kurzen zur von den angewandten didaktischen Methoden der Verfügung stehenden Ausbildungszeit nur unbe- Vermittlung des Traditionsgutes in erster Linie von dingt notwendige Ausbildungsinhalte vermitteln diesem selbst ab. Die Traditionspflege umfasst im können. Österreichischen Bundesheer daher alle jene Maß- Die Annahme der Militärtradition wird in der nahmen und Dienstverrichtungen, die geeignet sind,

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 9 - den Soldaten das wertvolle, spezifisch österreichische Gesellschaft gegenüber ihren Ausdruck findet. militärische Traditionsgut, d.h. die im Laufe der Die durch die militärische Tradition ausgebildeten Geschichte innerhalb der österreichischen Armee Wertungsschemen in Bezug auf das Heer und des- herausgebildete Gesamtheit aus sittlicher innerer sen Verhältnis zur Umwelt bestimmen demgemäß Haltung, insbesondere das erzieherische Beispiel weitgehend die seelische Konstitution des Soldaten der Ausübung soldatischer Tugenden wie Tapfer- und seine gefestigte innere Haltung. keit, Gehorsam, Pflichterfüllung, usw., sowie aus Religion, Ethos und Recht sind die traditions- den militärischen Erfahrungen, Erlebnissen und bedingten Lebensformen. Unsere spezifisch mili- Gebräuchen nahe zu bringen. tärische Tradition ist daher durch die christliche Erlauben Sie mir nun, zum Wesen der Tradition Religion bestimmt, auch dann, wenn der einzelne ganz allgemein einige Erläuterungen, um davon nicht mehr religiös im christlichen Sinne ist, und ausgehend zum spezifisch militärischen und in der die Überlieferung allgemein humanistisch-ethi- Folge österreichisch-militärischen Traditionsbegriff scher sowie soldatisch-ethischer Werte muss der zu gelangen: hauptsächliche Inhalt und das zentrale Anliegen Neben der Sprache sowie dem Geschichtsbe- der militärischen Traditionspflege sein. Über- wusstsein, der Möglichkeit, über die eigene Ver- nommene Formen wie militärisches Zeremoniell, gangenheit zu reflektieren, die Gegenwart also als Symbole wie z.B. Feldzeichen und Persönlichkei- Ergebnis historischer Prozesse zu begreifen, dem- ten, denen Symbolcharakter zukommt, Traditions- gemäß Entscheidungen zu treffen, zu handeln und gegenstände wie alte Uniformen, Waffen etc. sind sich so eine andere und zum Teil selbst bestimmte zwar wesentliche Hilfsmittel der Traditionspflege Zukunft zu geben, ist es die Tradition, worin sich zur grob gegenständlichen Veranschaulichung der der Mensch als Kulturwesen vom Tier unterscheidet. religiös-ethischen Traditionswerte, mit ihnen allein Der Mensch begreift sich als vorläufig letztes Glied kann jedoch nicht der wirklichen Aufgabe der Tra- in einer Kette von Generationen, in der Ergebnisse ditionspflege entsprochen werden. Im Gegenteil, von Erfahrungen und Arbeit sowie Erkenntnisse mit durch bloßes Zurschaustellen der äußeren Formen Hilfe der Tradition weitergegeben werden. Traditi- der Traditionspflege ist der geistige Inhalt in Gefahr, on bedeutet sowohl die Tätigkeit des Überlieferns, abzusterben, die lebendigen Kräfte der Überliefe- Übermittelns von Erfahrungen und Einsichten von rung werden gehemmt. einer Generation zur anderen, ihre Verwertung in Tradition ist also kein Selbstzweck, sie soll über gesellschaftlichen Einrichtungen, als auch das Tra- das Vermitteln ethisch-moralischer Werte hinaus un- ditionsgut, das Überlieferte selbst. Die überlieferten ter Auswertung historischer Bezüge auch mithelfen, Denk- und Wertungsweisen kommen in Mentali- unseren Soldaten die demokratischen Lebensformen tät, Sitten und Gebräuchen einer Gesellschaft zum unseres Volkes sowie den Auftrag des Bundesheeres Ausdruck, die Tradition schlägt sich in der gesamten zur Friedenssicherung zu erschließen. Kultur eines Volkes nieder. Der Mensch wird schon Es gibt eine Fülle von Beweisen für die konkre- vor seiner geistigen Mündigkeit durch die Überliefe- te Geschichtswirksamkeit dieser begrifflich kurz rung geprägt und die Formung durch die Tradition vorgestellten spezifischen Tradition verschiedener vollzieht sich auch später unbewusst. Die so heraus- Völker und Kulturen und für den Beitrag, den die gebildeten Vorstellungs-, Denk- und Wertprinzipien jeweilige Tradition zur Bewahrung nationaler Inte- des Menschen finden in seinem äußeren Verhalten grität und kultureller Identität zu leisten imstande der Gesellschaft gegenüber ihren Ausdruck. war. Eines der für mich eindrucksvollsten Beispiele Demgemäß ergibt sich auch eine Prägung und ist die Bewahrung der konfuzianischen Traditionen Formung des jungen Soldaten vom Augenblick sei- durch die Chinesen über nunmehr bereits zweiein- nes Eintritts in die bewaffnete Macht eines Staates halb Jahrtausende hinweg nicht nur im heutigen an durch die spezifisch militärische Tradition seines nationalchinesischen Taiwan und in der weltweiten Landes, die ebenso unbewusst vor sich geht und im Diaspora der Chinesen von San Francisco bis nach äußeren Verhalten des Soldaten der Armee gegen- Indonesien, sondern auch in der kommunistischen über und seiner Einstellung als Soldat der zivilen Volksrepublik China, wo durch „kritische Sichtung

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 10 - und Übernahme des Alten“ konfuzianische Gedan- zu dienen haben und daher viel unproblematischer kengänge, modifiziert durch Mao Tse Tung, nach an die herrschenden Erfordernisse angepasst werden wie vor Gültigkeit besitzen. können, während der so genannte Westen über keine Ganz zum Unterschied von den Chinesen sind eindeutige und allgemein gültige Ideologie verfügt. die mosaischen Juden international gesehen ein au- In Österreich z. B. spielen drei ziemlich konträre ßerordentlich kleines Volk, das sich nur durch zähes weltanschauliche Grundeinstellungen eine Rolle, die Festhalten an seinen Traditionen in der Diaspora vor die österreichischen Traditionen selbstverständlich Assimilation und Untergang bewahren konnte. Auch auch durchaus verschieden beurteilen. die negativen Beispiele der jüngsten Vergangenheit, Selbst der Marxismus und seine Fortentwicklun- wo große Völker oder Völkergruppen versuchten, gen blieben hinsichtlich des Humanismus von der sich von ihren Traditionen zu lösen, nur um unter abendländischen Tradition geprägt, nur dass eben dem Zwang der historischen Entwicklung wieder dieser Humanismus von einem anderen Menschen- darauf zurückzukommen, belegen die bewahrende bild ausging. Die Katastrophe trat immer nur dann Rolle der Tradition. Die bolschewistische Oktober- ein, wenn ein radikaler Traditionsbruch in Bezug revolution lehnte bekanntlich aus marxistisch-ide- auf das ethische Wertesystem erfolgte, wie etwa das ologischen Gründen die altrussischen Traditionen nationalsozialistische Regime mit seinen Gräuelta- radikal ab, um sie dann im Zweiten Weltkrieg zur ten und seinem Scheitern vor der Weltgeschichte Rettung des Vaterlandes wieder aufzunehmen. beweist. Innovation muss sich somit immer aus der Wenn von Traditionspflege in den sozialistischen Tradition heraus vollziehen und auch der militä- Staaten des Ostblocks die Rede ist, so muss auch rische Führer muss in der Tradition stehen, sonst gleich hinzugefügt werden, dass die jeweiligen folgen ihm die Soldaten letztlich nicht nach. Traditionen ja dort immer konkreten Ideologien Um nunmehr von der Theorie in die bisherige

Jäger und Traintruppe - von 1798 bis in die Zwischenkriegszeit. Aus: Herbert V. Patera, Unter Österreichs Fahnen, Wien-Köln-Graz 1960, S. 121

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 11 - Praxis der Traditionspflege im zeitgenössischen chen sowie Bundesheerehrenzeichen usw. großteils Österreichischen Bundesheer einzugehen, sehe auf unösterreichische Vorbilder zurückgegriffen, ich mich gezwungen, die durchaus persönliche, die von den amerikanischen Streitkräften bzw. der jedoch deprimierende Feststellung zu treffen, dass Deutschen Bundeswehr herstammten. die Traditionspflege im Bundesheer der Zweiten Obwohl gerade in letzter Zeit das Interesse für Republik Österreich bisher niemals einen Beitrag Tradition und Traditionspflege bei der Truppe im- zum Selbstverständnis dieser Armee zu leisten im- mer stärker wird, findet sich in gewissen Kreisen der stande war. Der Grund hierfür ist meiner Meinung Armee jedoch auch deswegen eine Ablehnung der nach darin zu suchen, dass anders als etwa in der Tradition, weil man sich im vermeintlichen Interesse Bundesrepublik Deutschland kurz nach der Auf- einer besseren Öffentlichkeitsarbeit des Bundeshee- stellung der Bundeswehr in Österreich niemals eine res ein jugendliches Erscheinungsbild geben möchte Grundsatzdebatte darüber geführt wurde, welche und die Tradition, die ja zwangsläufig an Altherge- Art von Traditionspflege und welches Traditions- brachtes und an die älteren Generationen erinnert, gut für das Österreichische Bundesheer zeitgemäß als diesem Image abträglich ansieht. und verbindlich sein sollten. Es dauerte bis 1967, bis die erste umfassende erlassmäßige Regelung Ebenso hat die gegenwärtige Regierungspartei der Traditonspflege im Bundesheer zustande kam anscheinend Schwierigkeiten mit der Annahme und die war von allem Anfang an auf Grund der bestimmter Traditionen der Österreichischen Ar- fehlenden vorherigen Standortbestimmung äußerst mee, insbesondere jener Überlieferung, die aus der mangelhaft und entsprach in vieler Hinsicht nicht Zeit der Donaumonarchie und der Ersten Republik den Erfordernissen der Zeit. Österreich stammt, da ja die damaligen politischen Systeme mit ihrer prägenden Wirkung auf die je- Insbesonders ergaben sich Probleme bei der weilige bewaffnete Macht weitgehend abgelehnt Annahme der verfügten Tradition durch das Offi- werden. Um nicht übereilt irreparable Eingriffe zu zierskorps des Bundesheeres, dem das damals eta- begehen, wurde des bestehende System der Traditi- blierte System der Traditionspflege nicht genügend onspflege zwar bisher nicht verändert, andererseits interpretiert worden war und das auf Grund seiner aber die notwendige Grundsatzdebatte nicht einmal heterogenen Zusammensetzung Schwierigkeiten noch in Angriff genommen. bei der Identifikation mit dem Traditionsgut hat- te. Man muss sich in diesem Zusammenhang vor Man wünscht sich seitens der Regierungspartei Augen halten, dass das Offizierskorps des jungen eine Art „Aktuelle Traditionspflege“, d.h. den Auf- Bundesheeres der Zweiten Republik Österreich aus bau einer ganz neuen Tradition, beginnend mit der Offizieren bestand, die entweder noch im Geiste Aufstellung des jetzigen Bundesheeres. Abgesehen der alten k.u.k. Armee erzogen worden waren, oder von der Unmöglichkeit, sich von der eigenen Ge- ihre Ausbildung im Bundesheer der Ersten Republik schichte loszusagen und der Notwendigkeit der his- genossen hatten, dem linken, rechten, nationalen torischen Kontinuität bei der Traditionspflege sind oder legitimistischen Lager angehörten, dass weiters die Nachteile einer solchen „Aktuellen Tradition“ in die Mehrzahl der Offiziere ausschließlich durch die der praktischen Durchführung nicht zu verkennen. Deutsche Wehrmacht geprägt worden war und noch Wenn z.B. der Aufstellungstag eines Truppenkörpers einzelne Offiziere dazu kamen, die als Emigranten des Bundesheeres gleichzeitig auch zum Traditions- in den Armeen der Alliierten des Zweiten Weltkrie- gedenktag gewählt wird, so ergibt das wohl kaum ges gekämpft hatten. Die im jungen Bundesheer ein spektakuläres Substrat für die Festansprache des herangebildeten Offiziere zeichneten sich meistens jeweiligen Kommandanten am Traditionsgedenktag. überhaupt durch eine traditionslose Einstellung aus. Das Geschehen der ungezählten Schlachten und das Die Folgen dieser Situation waren Identitätsproble- Schicksal der zahlreichen Helden der alten kaiserli- me und ein Bruch in der Tradition, was sich bis in chen Armee bietet in diesem Zusammenhang wohl die äußeren Erscheinungsformen des Bundesheeres unbestritten weit bessere Möglichkeiten, wenn man auswirkte. So wurde z.B. bei der Einführung der vielleicht von den Einsätzen der Österreichischen Verbands- und Truppenkörperabzeichen, der Tätig- Kontingente bei der Friedenssicherung im Dienste keitsabzeichen, Verwendungs- und Leistungsabzei- der Vereinten Nationen absieht.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 12 - Letzten Endes führt die propagierte „Aktuelle der sich zwar durch seine 27-jährige Tätigkeit als Traditionspflege“ mit ziemlicher Sicherheit in die Generaladjutant und Vorstand der Militärkanzlei Traditionslosigkeit, vor der nachdrücklich gewarnt seiner Majestät des Kaisers sehr große Verdienste werden muss. Tradition ist wie die gesamte Kultur, um Staat und Dynastie erworben hatte, jedoch für wenn einmal verloren, nicht ohne weiteres neu zu die österreichisch-ungarische bewaffnete Macht schaffen. Andererseits sind kulturelle Strukturen und verglichen mit anderen Persönlichkeiten aus dem so auch Traditionen unerhört zäh und über-leben militärischen Bereich nur relativ bescheidene Be- selbst tiefgreifende gesellschaftspolitische Änderun- deutung besaß. Andere Kasernen wurden wiederum gen, wie derzeit in sämtlichen Nachfolgestaaten der auf Druck lokaler Politiker nach Persönlichkeiten ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie sehr geringer örtlicher Bedeutung benannt, wie z.B. zu sehen ist, wo altösterreichisches Gedankengut die Kaserne in Leobendorf nach einem im Übrigen eine kräftige Renaissance erlebt. völlig unbekannten Rittmeister Josef Dabsch, der Die wichtigste Grundlage der praktischen Tradi- im Kriege gegen Preußen 1866 aus eigener Initia- tionspflege im Österreichischen Bundesheer bildet tive heraus eine feindliche Patrouille angriff und in die schon erwähnte erlassmäßige Regelung aus dem die Flucht schlug, was nunmehr euphemistisch als Jahre 1967, die, was ihren geistigen Inhalt anlangt, „verwegener Handstreich bei Korneuburg“ ausgege- nach wie vor Gültigkeit besitzt.1 Deswegen sei mir ben wird. Weiters gibt es eine Reihe von Kasernen, hier auch eine kurze Kritik dieser „Anordnungen die nach Persönlichkeiten benannt sind, die in über die Traditionspflege im Bundesheer“ gestat- keinerlei Zusammenhang mit der Geschichte der tet: Österreichischen Armee stehen. Wenn es sich bei den Babenbergern und Kuenringern immerhin noch Die Initiative zu dieser Reglementierung ging um ein geschichtlich bedeutsames Herrscher- bzw. vom damaligen Bundesminister Dr. Georg Prader Adelsgeschlecht lange vor Existenz einer österreichi- aus und ist natürlich grundsätzlich zu begrüßen. Es schen Armee handelt, weiß man vom römischen wurde mit diesen Bestimmungen viel zu spät eine Kaiser Marcus Aurelius, der in den Erlässen zur Lücke geschlossen und die Grundidee des Erlasses, Traditionspflege beharrlich immer wieder falsch als den Truppenkörpern, Akademien, Schulen und Mi- „Marcus Aurelius Antonius“ anstatt „Antoninus“ litärkommanden des Bundesheeres Traditionstrup- aufscheint, lediglich, dass er sich während seiner penkörper aus der ehemaligen österreichisch-unga- Kriegszüge unter anderem auch auf dem Boden rischen Bewaffneten Macht und dem Bundesheer des heutigen Österreich aufgehalten hat. der Ersten Republik Österreich sowie Gedenktage und Traditionsmärsche zuzuweisen und weiters die Die Zuweisung der Traditionstruppenkörper Kasernen des jetzigen Bundesheeres nach für die wiederum erfolgte oft etwas willkürlich und ist Geschichte der Österreichischen Armee bedeutsa- insgesamt geradezu hypertroph geraten. So erhielt men Persönlichkeiten zu benennen, muss als gut die heutige Luftschutztruppenschule beispielsweise und richtig angesehen werden. die Luftschutztruppen des Bundesheeres der Ersten Republik Österreich als Traditionstruppenkörper Die Auswahl des Traditionsgutes erfolgte jedoch zugewiesen, obwohl es sich dabei eigentlich um nicht im Zuge einer sorgfältigen Meinungsbildung Fliegerabwehrtruppen handelte und nicht um den auf breiter Basis, sondern es wurde der Fehler be- passiven Luftschutz und die ABC-Abwehr, also die gangen, die Vorstellungen der erlassmäßigen Rege- heutigen Aufgaben der Luftschutztruppenschule. lung zur Traditionspflege des Ersten Bundesheeres Bestimmten Kleinen Verbänden des Bundesheeres weitgehend unkritisch zu übernehmen, ohne z.B. wurden nicht weniger als sieben Traditionstrup- zu bedenken, daß die damalige Traditionspflege auf penkörper aus allen Epochen der österreichischen Grund der politischen Entwicklung stark legitimis- Heeresgeschichte überantwortet. Willkürliche und tisch orientiert gewesen war. hypertrophe Traditionszuweisung hatten zur Folge, Dies wirkte sich z.B. bei der Benennung be- daß die Truppe oft der spezifisch zugewiesenen stimmter Kasernen besonders störend aus, wenn Tradition gleichgültig gegenüberstand und keine etwa die Kaserne in Mistelbach nach Generalo- Verbindung zu den noch lebenden ehemaligen An- berst Arthur Freiherrn von Bolfras benannt wurde, gehörigen ihrer Traditionstruppenkörper suchte.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 13 - Es gibt allerdings auch einige sehr positive Mit den erlassmäßig angeordneten Gedenktagen Gegenbeispiele, wo ein sehr enger Kontakt des wurden im großen und ganzen gute Erfahrungen jeweiligen Traditionsverbandes mit dem Traditi- gemacht, weil die in diesem Zusammenhang onsträger im Bundesheer zustande kam und nicht stattfindenden Feierlichkeiten eine sehr gute Ge- nur beim Kaderpersonal des betreffenden Truppen- legenheit bieten, nicht nur mit den jeweiligen körpers sondern auch bei den Grundwehrdienern Kameradschaftsverbänden sondern vor allem auch ein echtes Traditionsbewusst entstehen ließ. Die mit der Zivilbevölkerung Kontakte herzustellen Nachkommen der ehemaligen Angehörigen dieser und auszubauen. Die Traditionsmärsche hingegen Traditionstruppenkörper dienten und dienen in gro- wurden ebenfalls ziemlich unüberlegt zugewiesen ßer Anzahl wieder in jenem Truppenkörper, der die und sind in den vorliegenden Partituren oft nicht alte Tradition jetzt weiterführt. Am positivsten und spielbar, bzw. sind überhaupt keine Noten für diese fruchtbarsten gestaltete sich dieses Verhältnis beim Märsche vorhanden. Panzergrenadierbataillon 9, wo der Traditionsraum Die erste erlaßmäßige Regelung des Traditions- weitgehend mit Hilfe und auf Kosten der Kame- erlasses aus dem Jahre 1967 enthielt im übrigen radschaft des Traditionsverbandes, des ehemaligen Dutzende sachliche Fehler, die in einem Berichti- k.u.k. Infanterieregiments Nr. 99, ausgestaltet wurde gungserlass im Jahre 1970 bereinigt wurden. Die und die alten Herren ihre Erinnerungsstücke aus Einnahme der Landwehrgliederung im Zuge der dem Ersten Weltkrieg und dem Ersten Bundesheer Durchführung der Heeresgliederung 1972 beraubte kostenlos für diesen Zweck zur Verfügung stellten. im Grunde genommen die bis zu diesem Zeitpunkt Die in dieser Tradition stehenden Grundwehrdiener gültige Zuweisung von Traditionstruppenkörpern bemühen sich, ihren Großvätern keine Schande zu deswegen jeglicher Grundlage, weil nunmehr in machen und sich während des Präsenzdienstes ta- den Landwehrstammregimentern und den von dellos zu führen. ihnen im Mobilmachungsfall ins Feld gestellten

Landwehr und Landesschützen - von 1805 bis in die Zwischenkriegszeit. Aus: Herbert V. Patera, Unter Österreichs Fahnen, Wien-Köln- Graz 1960, S. 241

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 14 - Kleinen Verbänden fast immer mehrere Waffen- bejaht werden können, stattfinden. Insbesondere und Truppengattungen vertreten waren, während müsste das Traditionsgut ausdrücklich in Beziehung die bisherige Tradition mit wenigen Ausnahmen zu den Werten unserer Demokratie sowie unserer auf reinrassige Verbände zugeschnitten war. Zur republikanischen und rechtsstaatlichen politischen Verhinderung einer Orientierungslosigkeit bei der Ordnung gesetzt werden, was bisher nur ansatzweise Truppe war die Notwendigkeit gegeben, zu einer der Fall war. Das Herausstellen der Traditionen einer Behelfslösung zu greifen. Es erfolgte daher im Jahre demokratischen und freien Gesellschaftsordnung an 1979 zunächst die lineare Übertragung der Traditi- und für sich wäre jedoch eher eine Aufgabe der Po- on der aufgelösten Kleinen Verbände an diejenigen litischen Bildung. Landwehrstammregimenter, die als Nachfolgetrup- Was die Pflege der Überlieferung ethischer penkörper angesprochen werden konnten. Werte anlangt, bietet der Paragraph 45 Absatz 2 Es wird somit immer notwendiger, an eine grund- des Wehrgesetzes 1973 eine wichtige Grundlage, wo sätzliche Neuregelung der Traditionspflege im Ös- die Überlieferungspflege allerdings nur indirekt im terreichischen Bundesheer zu schreiten, wobei man Gebot der Pflege des österreichischen Vaterlands- sich dann auch mit der durch die Heeresgliederung und Staatsgedankens verankert erscheint. Die gültige 1972 überholten Zuweisung von Traditionstruppen- Fassung der Allgemeinen Dienstvorschriften ist in körpern auseinander zu setzen haben wird. diesem Zusammenhang ergiebiger und bezieht Die erwähnte Neugestaltung der Traditionspflege sich in mehreren Paragraphen auf traditionelle müsste dieses Mal unter allen Umständen auf der soldatische Tugenden: Paragraph 3 zählt im Absatz Basis einer vorher abgewickelten Grundsatzde- 2 Disziplin, Kameradschaft, Gehorsam, Wachsam- batte über zeitgemäße Traditionsinhalte, die von keit, Tapferkeit und Verschwiegenheit ausdrücklich den staatstragenden Kräften Österreichs und den zu den Pflichten des Soldaten. Paragraph 7 spricht Angehörigen des Bundesheeres auch voll und ganz von der sinngemäßen Befolgung von Befehlen, die

Infanterie von 1914 bis zur Gegenwart (1960). Aus: Herbert V. Patera, Unter Österreichs Fahnen, Wien-Köln-Graz 1960, S. 97

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 15 - über den bloßen buchstäblichen Gehorsam hinausgeht. Die Pa- ragraphen 8 „Militärischer Gruß und dienstliche Anrede“ und 30 „Tagwache, Nachtruhe und Zap- fenstreich“ berühren Fragen des militärischen Brauchtums. Die Grundlage für den Un- terricht in Traditionspflege bei der Truppe ist der Erlaß vom 6. Oktober 1972, Zahl 309.718- AusbB/72 „Staatsbürgerliche Erziehung; Durchführung des Unterrichts gemäß Paragraph 45 des Wehrgesetzes und Unterrichts- plan“. Die fünfte Unterrichtsstun- Der Ehrensaal der Katholischen Militärpfarre beim Militärkommando Wien verbindet de mit dem Thema „Angelobung mit seiner Nutzung als Tagungssaal: Traditionsbewusstsein mit gegenwärtiger Aufgabenbewältigung – das Treuegelöbnis“ berührt Fragen der Traditionspflege und darf sich jedoch nicht auf den erlassmäßig ange- des militärischen Brauchtums, während die 14. ordneten Unterricht beschränken. Die Vermittlung Unterrichtsstunde unter anderem der Geschichte von Traditionsgut im ungezwungenen persönlichen des Bundesheeres, im besonderen des eigenen Ge-spräch mit den Soldaten, oft nur durch wenige Truppenteiles sowie der allgemeinen Einführung in eingestreute zweckdienliche Bemerkungen, kann die Überlieferungspflege mit Schwerpunkt auf dem wirksamer als jeder Unterricht sein und ist unbe- eigenen Traditionstruppenkörper gewidmet ist. dingt anzustreben. Die Durchführung des zitierten Unterrichts bei Die Truppenkörper, Akademien, Schulen und der Truppe erfolgt im Rahmen der militärischen Militärkommanden des Österreichischen Bundes- Einheit durch den Offizier. Die enge Beziehung von heeres sind gemäß der geltenden erlassmäßigen Geschichte und Tradition, die sich aus der Tatsache Regelung die Träger der gesamten Besonderen ergibt, dass das historische Bewusstsein auch durch Überlieferungspflege. Daher kommen ihren Kom- die Tradition geweckt und wach gehalten wird und mandanten bei der Traditionspflege wichtige Aufga- der Tradition somit geschichtsbildender Charakter ben zu. Sie sind die Bewahrer der Feldzeichen ihres zukommt, bedingt ein näheres Eingehen auf die Ge- Verbandes und verfügen über die Verwendung und schichte der österreichischen Armee. Ideologische, Aufbewahrung derselben hinsichtlich traditionellem parteipolitische, aber auch religiöse und konfessio- Wert und traditioneller Bedeutung dieser Truppen- nelle Gesichtspunkte sind streng von der Darstellung symbole. Die genannten Kommandanten sind auch der Entwicklungsgeschichte der Österreichischen für die Schaffung und Ausgestaltung der am Sitze Armee zu trennen. Auf die Geschichte und Tradition ihres Kommandos einzurichtenden Traditionsge- der österreichischen Heere vor dem Werden einer denkstätten verantwortlich. stehenden österreichischen Armee im Dreißigjäh- rigen Krieg bzw. auf militärisch und sozialpolitisch Vielfach kam es durch Platzmangel in den Kaser- interessante Entwicklungen abseits der bewaffneten nen nicht zur Einrichtung der vorgesehenen Geden- Macht Österreichs, wie z.B. die Bauernkriege, kann kräume, oder mussten diese wieder aufgelassen wer- bei der geringen zur Verfügung stehenden Zeit nur den. Die gestellte Aufgabe konnte in einer Anzahl im Ausnahmefall eingegangen werden. von Fällen durch die Einrichtung von Vitrinen in allgemein zugänglichen, einigermaßen repräsentab- Die Funktion des Einheitskommandanten bzw. len Räumlichkeiten wie z.B. geschützte Gangecken, des Offiziers überhaupt bei der Weitergabe der öster- Vorhallen, Aufenthaltsräume u.s.w. sowie durch die reichischen militärischen Tradition an die Soldaten Anbringung von Bilderserien zur österreichischen

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 16 - Heerestradition fast besser gelöst werden, da die re- fördern, die Wertvorstellungen der demokratischen gulären Traditionsräume oft versperrt und das ganze Republik Österreich zu verteidigen. Insbesondere Jahr über nicht geöffnet wurden und solcherart ihre sind die Traditionen der freien, demokratischen, Funktion nicht erfüllten. republikanischen und rechtsstaatlichen Gesell- Den Kommandanten der Truppenkörper und schaftsordnung zu pflegen. übrigen Traditionsträger obliegt die Gestaltung Die Traditionspflege muß unter allen Umständen der Feierlichkeiten an den Traditionsgedenktagen. dem konkret angegebenen Zweck dienen. Ohne die- Wichtigster Programmpunkt ist da wohl die An- se Zweckbestimmung ist die Traditionspflege eine sprache des Kommandanten selbst, welche die Er- nutzlose Ausschmückung, auf die man bei der Kürze eignisse am historischen Gedenktag, die Geschichte der Ausbildung verzichten soll. Der Grad der Wirk- der Traditionstruppenkörper und den Werdegang samkeit der Traditionspflege als Hilfsmittel zur Errei- der jeweiligen eigenen Truppe im Bundesheer der chung des angegebenen Zweckes ist in der nächsten Zweiten Republik Österreich zum Gegenstand zu Zeit unbedingt noch zu untersuchen. nehmen hat. 3. Bei der Pflege der Überlieferung der öster- Höhere Kommandanten nehmen genau wie reichischen Armee stehen – bezogen auf den heu- Kommandanten auf der organisatorischen Ebene tigen Auftrag – die zeitlosen ethischen Werte des des Kleinen Verbandes im Rahmen der praktischen Soldatentums in seiner spezifisch österreichischen Traditionspflege die Durchführung von Angelo- Ausprägung gegenüber dem in zeitgemäßer Form zu bungen, kleinen und großen Flaggenparaden, des vermittelnden traditionell gebundenen österreichi- großen Zapfenstreiches, von Heldengedenkfeiern, schen militärischen Brauchtum im Vordergrund. Feiern zum Österreichischen Nationalfeiertag und Das Schwergewicht bei den praktischen Maß- zum Jahrestag der Unterzeichnung des Österreichi- nahmen in Durchführung der Traditionspflege im schen Staatsvertrages usw. dies wahr. Bundesheer muss unbedingt bei der Vermittlung Lassen Sie mich, sehr geehrte Herren, zum Ab- des Traditionsgutes liegen. Mit der Pflege des mi- schluss sowie zu einer Zusammenfassung gelangen litärischen Brauchtums wäre äußerst sparsam um- und gleichzeitig damit einige weitere Anregungen zugehen, da in der Praxis stets die Tendenz besteht, für die Zukunft formulieren: dass das Brauchtum die geistig-ethischen Inhalte 1. Im Sinne der Pflege des österreichischen überwuchert. Vaterlands- und Staatsgedankens gemäß Para- 4. Die Traditionspflege bezieht sich, ausgehend graph 45 Ziffer 2 des Wehrgesetzes 1978 ist im von der Überlieferung der kaiserlich-österreichischen Rahmen der Ausbildung auch die Tradition der Armee und dem Bundesheer der Ersten Republik österreichischen Armee zu pflegen. Gegenstand Österreich, in besonderem Maße auf die Tradition der Traditionspflege im Bundesheer kann stets nur des jetzigen Österreichischen Bundesheeres ein- die österreichische Armee in allen ihren historischen schließlich der B-Gendarmerie. Erscheinungsformen sein. Dabei sind alle anderen Ein wesentliches Kriterium der Tradition ist ihre historischen Gesichtspunkte wie zum Beispiel das Kontinuität. Aus diesem Grunde muss die Traditi- Nahverhältnis der Dynastie zur kaiserliche Armee onspflege bei der kaiserlich-österreichischen Armee und ähnliches weitgehend außer Acht zu lassen. Die beginnen. Über die Einbeziehung der österreichi- Überlieferungspflege beginnt daher mit der Auf- schen Volkswehr als Vorläuferin des Bundesheeres stellung einer stehenden österreichischen Armee zu der Ersten Republik Österreich 1918 bis 1920 in Beginn bzw. zu Ende des Dreißigjährigen Krieges. die Traditionspflege wäre noch zu entscheiden. Der Die österreichischen Heere, die vorher jeweils in bisher gültige Traditionserlaß Zl. 384.100-Zentr/67 Kriegszeiten aufgeboten wurden, müssen weitge- (VB 1. Jg. 1967, Kr. 199, S 373 ff.) nimmt die Volks- hend unberücksichtigt bleiben. wehr aus guten Gründen von der Traditionspflege 2. Der Zweck der Traditionspflege im Bundes- aus. Ebenso müssen die Leistungen der Soldaten ös- heer als Mittel der Geistigen Landesverteidigung terreichischer Herkunft im Rahmen der Deutschen ist es, zur Stärkung der Motivation und Moral Wehrmacht von 1938 bis 1945 unberücksichtigt der Soldaten beizutragen und die Bereitschaft zu bleiben, da diese Leistungen ja nicht im Rahmen

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 17 - einer österreichischen Armee und im Interesse eines freien und selbständigen Österreich zu einer Österreichs erbracht wurden. Eine solche Haltung Zeit, in der es keine österreichische Armee gab. entspricht auch durchaus der Staatsräson (Okkupa- tionstheorie im Gegensatz zur Annexionstheorie). Dr. Peter Fiala, Hofrat und Oberst, war zuletzt stv. Leiter der Militärbibliothek. Beim vorliegenden Text handelt es sich 5. Darüber hinaus ist das Andenken all derer um ein Referat auf der AGES-Herbstkonferenz am 16. Septem- zu pflegen, die im Widerstand gegen den Nati- ber 1982. onalsozialismus für ein freies und selbständiges Österreich eingetreten sind. Die einzige Ausnahme vom Prinzip der Traditionspflege ausschließlich der österreichischen Armee ist die Berücksichtigung des Anmerkungen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Zum 1 Der zur Zeit gültige Erlass stammt aus dem Jahr 2001, bringt aber einen wird dadurch die Kontinuität der Tradition für die von P. Fiala angesprochenen Punkte keine Änderungen. von 1938 bis zur Aufstellung der B-Gendarmerie Anordnung für die Traditionspflege im Bundesheer – Neufassung, BMLV Erl. v. 8. Okt. 2001, GZ 35 100/8-3.7/00. In: VBl. I hergestellt und zum anderen war der Widerstand 117/2001. gegen das nationalsozialistische Deutschland die einzige zum Teil bewaffnete Aktivität im Interesse

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 18 - Militärischer Heldenmythos

Hubert Michael Mader

Ursprünglich wa- an, wer zum militärischen Held aufsteigt oder wer ren der Held und der ein Verräter ist. kriegerische (oder Was verstehen wir eigentlich unter einem militärische) Held ein „Mythos“? Im folgenden eine Definition aus dem und dieselbe Person. Großen Brockhaus (2004): Der Mythos ist eine Erst in jüngerer Zeit „Erzählung (Sage) über Götter oder Ereignisse aus fand der Begriff „Held“ vorgeschichtlicher Zeit; sucht meist einen Ursprung auch seine Anwendung (der Welt, der Menschen) zu erklären.“ Eine etwas in anderen, nicht-krie- detaillierte Definition gibt uns der Duden, Fremd- gerischen Bereichen. wörterlexikon (9. Aufl., 2007): Der Mythos ist eine Wir wollen bei der „1. überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o. Ä. aus Betrachtung des Hel- der Vorzeit eines Volkes (die sich bes. mit Göttern, denmythos uns auf den Dämonen, der Entstehung der Welt, der Erschaffung ursprünglichen Begriff beschränken und alle weiter- des Menschen befasst). 2. Person, Sache, Begeben- führenden Bedeutungen beiseite lassen. Was freilich heit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen in keiner Weise auch nur irgendeine Rangordnung Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären bedeutet. Charakter hat. 3. falsche Vorstellung“. Die Frage nach Heldenmythos führt uns zu- Ein Mythos ist eine Erzählung von Ereignissen, nächst auf die Frage nach der Objektivität bzw. die selbst wiederum aus Erzählungen stammen. Subjektivität von Geschichtsschreibung an sich. Mythen bieten oft Erklärungen für die Existenz, Um gleich den Versuch einer Antwort zu geben: die Entwicklungen oder Zusammenhänge von Er- die Beschäftigung mit den verschiedenen Ansichten eignissen der verschiedensten Art an. In den meisten über das Heldentum zeigt uns, wie subjektiv die Mythen können bildhafte Weltauslegungen und Le- Geschichtsschreibung im Grunde ist. Gerade bei bensdeutungen in Erzählform gefunden werden, die der Erforschung der Frage, wer ein Held sei und was durchaus allgemeine Wahrheiten enthalten. Anders er geleistet habe, gehen die Ansichten auseinander. ausgedrückt: Ein Mythos führt zum Wissen in Form Dem militärischen Held stehen etwa die Helden der Erzählung und steht somit im Gegensatz zur des Glaubens, des Gewissens oder die so genannten wissenschaftlichen Erklärung. Geistesheroen gegenüber. Oftmals verschwimmen diese Begriffe in ein- und derselben Person. Und es Im Weiteren stellt sich für uns in diesem Zu- kommt auf den jeweiligen (nationalen) Standpunkt sammenhang die Frage nach dem Begriff des „Po- litischen Mythos“ und seiner Anwendung. – Der

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 19 - Begriff „Politischer Mythos“ kann, so sehen wir, Der „Heros” wiederum beschreibt einen „Halb- in politischer Hinsicht zum Einsatz kommen und gott” oder „götterähnlichen Held” (Großer Brock- versteht eine mythische Erzählung, die gemein- haus). Der Duden bezeichnet „Heros” als „1. (in der schaftliche, vor allem nationale Identität stiftet. griech. Mythologie) zwischen Göttern u. Menschen Der Politische Mythos stützt sich als Propaganda stehender Held, Halbgott, der im Leben große Taten auf den Geschichts- bzw. den Gründungsmythos vollbracht u. nach seinem Tod die Fähigkeit erlangt ab. Die jeweils aktuelle Politik wird durch ein Ge- hat, den Menschen aus eigener Macht Hilfe zu leis- schichtsbild mit legitimiert, das sie zu rechtfertigen ten. 2. heldenhafter Mann, Held”. Somit hat das sucht bzw. soll es einer gesellschaftlichen, politischen Wort eine doppelte Bedeutung, die sich allerdings oder religiösen Gruppe ein Gefühl der Einheit und beide auf eine außergewöhnliche kämpferische (mi- der Gemeinsamkeit vermittelt werden. Der natio- litärische) Leistung zurückführen lassen. nalsozialistische „arische Mythos“ beweist, so wie Wenden wir uns nun, sozusagen als Beispiel, die Mythen anderer totalitärer Regime auch, ein einem frühen militärischen Helden zu, dessen enormes zerstörerisches Potential beinhalten kann. Existenz geschichtlich begründet ist. Der griechi- Wenden wir uns nun dem Begriff des „Helden“ sche Lyriker Simonides rühmte mit knappen, doch oder „Heros“ zu. Was ist ein Held, und was genau glühenden Worten die mit ihrem König Leonidas ein „militärischer Held“? – Ein Held, so wird uns im Abwehrkampf gegen die Perser 480 v. Chr. bei deutlich, ist eine Person mit besonders herausra- den Thermopylen gefallenen Spartiaten. Die Worte genden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die ihn zu spiegeln jenen Geist wider, der in der Antike und besonders hervorragenden Leistungen (Heldentaten) dann wieder in der Neuzeit die Errichtung zahlrei- treibt. Dabei kann es sich um reale oder fiktive Per- cher Gedenkstätten für die Gefallenen bestimmte. sonen handeln, also um Gestalten der Geschichte, König Leonidas dürfte einer der frühen geschicht- aber auch der Legende oder Sage. Dazu noch eine lichen militärischen Helden Griechenlands gewesen Definition von „Held“ aus dem Jahre 1735, Zed- sein. lers Universal-Lexicon: „Held, Lat. Heros, ist einer, Nach dem Ende der Perserkriege im Jahre 479 der von der Natur mit einer ansehnlichen Gestalt v. Chr. stellte die nordgriechische Amphiktyonie2 und ausnehmender Leibes-Stärcke begabet, durch eine Tafel zur Erinnerung an den letzten Kampf des tapffere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den Leonidas und seiner 300 Hopliten auf. gemeinen Stand derer Menschen erhoben… Es soll besagtes Wort seinen Ursprung von einer Königin Weitere Taten von König Leonidas während sei- haben, Hilte oder Ehilte genannt, welche von dem ner Amtszeit sind bisher nicht bekannt. Am Engpass Hercules, oder wie andere wollen, von dem Poly- der Thermophylen befindet sich ein oft als „Grab phemus, einen Sohn empfangen, den sie Cheld des Leonidas” bezeichnetes Denkmal, wobei Leoni- oder Chilt genennet. Aus angeführtem Wort sind das allerdings in Sparta begraben wurde. Es handelt hernach verschiedene eigene Namen gemacht wor- sich hier vielmehr um eine Siegesstele. Es trug der den, als Hiltebrand, Hildebold, Hiltegard, Hiltrut Überlieferung nach als Inschrift ein Epigramm des und andere mehr …“1 Der Heros zeigt sich hier Simonides, wörtlich übersetzt: Fremder, melde den als athletischer, starker Mann, der besonders mu- Lakedämoniern (den Spartanern), dass wir hier tige Taten begeht und sich dadurch von der Masse liegen, den Regeln/Gesetzen/Befehlen jener (der deutlich abhebt. Lakedämonier) gehorchend.) In Latein (Cicero), wörtlich übersetzt: In Sparta, Fremder, verkünde, Der „militärische Held” beweist in Kämpfen du sahst uns hier liegen; wie wir die heiligen Gesetze und Schlachten seine außergewöhnliche Tapferkeit. des Vaterlandes befolgten. Deutsch von Friedrich Gleichzeitig gibt er durch sein energisches und sieg- Schiller: Wanderer, kommst du nach Sparta, verkün- reiches Handeln ein Vorbild für die nachfolgenden dige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie Generationen. Die besonderen Fähigkeiten des mi- das Gesetz es befahl. (Der Spaziergang, 1795) litärischen Helden können sowohl von körperlicher Art (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer) wie auch von Was machte eine Person zu einem „Helden”? geistiger Natur (Tapferkeit, Opferungsbereitschaft) – Man wurde zum Helden, indem man eine be- sein. stimmte gesellschaftliche Rolle annahm. Es sind

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 20 - also immer die anderen, die einen aufs Podest der Ausbreitung des Christentums ein. Helden erheben. Daraus folgt: der militärische Muss ein Held in der Antike unfehlbar sein? Held ist immer abhängig von der entsprechenden – Mythologische Helden treten uns mit all ihren öffentlichen Beachtung. Der Ruhm, der Menschen Schattenseiten entgegen. Sie werden kurzfristig zu Helden erhebt, beruht wiederum auf zwei zen- wahnsinnig, begehen Morde und lassen sich zur tralen Mechanismen, nämlich auf den Erzählungen Erniedrigung herabwürdigen. Wichtig scheint in- und auf den Medien. Und dieser Ruhm ist – gerade dessen nur, dass sie sich ihrer Berufung, „Held“ zu bei militärischen Helden – gepaart mit deren stän- sein, immer wieder bewusst werden, sich aufraffen diger Todesbereitschaft. und den Weg des Ruhmes wieder einschlagen. Dass ein Heldenleben ständig von dessen „Glück“ Mit anderen Worten: Sie halten sich immer wie- gesegnet war, zeigte sich eher unwahrscheinlich. der ihre anfängliche Entscheidung, auf der Straße Außerdem zeigen sich mythologische Helden, trotz der Tugend zu wandeln, vor Augen und erfüllen am scheinbarer Unbezwingbarkeit am Ende verletzlich Ende ihre Bestimmung. und fallen, noch kraftstrotzend und im blühenden Alter, dem Tod zum Opfer. Bei geschichtlichen Per- Mit den geschichtlichen Helden verhält es sich sönlichkeiten, die als „Helden“ gefeiert werden, kann aber etwas anders. Es handelt sich hier um Persön- die Sachlage freilich anders aussehen und manche lichkeiten, die auf das Podest des Heroen emporge- erreichten ein hohes Alter. Dennoch: ein „Heldenle- hoben werden und im Nachhinein von jedem Makel ben“, um es auf den Punkt zu bringen, ist gefährlich „freigemacht“ werden. Auf den Punkt gebracht: bei und birgt den gewaltsamen Tod in sich. Dies gilt im ihnen darf nicht zu sehr am „Lack“ des Heldentums Besonderen für den militärischen Bereich. gekratzt werden, will man nicht einen Menschen ans Tageslicht bringen, der – trotz seiner Bewährung auf Was bewirkt nun ein früher Tod des (mytholo- dem Schlachtfeld – sich mit sehr durchschnittlichen gischen) Helden? – Der frühe Tod des Helden zu- Fehlern und Mängel herumplagen musste. gleich ein Garant dafür, dass dieser ewig jugendlich und stark in der Erinnerung späterer Generationen Wenden wir uns nun dem Phänomen der bleibt. Tote, die durch Erzählungen und Medien „Heldinnen“ zu. Was verbirgt sich nun hier dem ewig jung bleiben, werden zugleich von den Leben- Ausdruck „Virago“? – Virago, lateinisch, heißt den abgehoben und mit einer Glorie des Entrückten übersetzt: „kraftvolles Mädchen, Amazone“, im geziert. übertragenen Sinn „Mannweib“, poetisch auch „Heldenjungfrau“.3 Zu dessen verwandten Worten Der Kampf des mythologisch-klassischen Helden zählen „vir” („Mann”), „virtus” („Tugend” oder kann in der Antike kaum als Kampf des „Guten“ „Mannhaftigkeit”) oder „virgo” („Jungfrau”). Die gegen das „Böse“ bezeichnet werden. Die Helden Göttin Minerva4 bezeichnete man als „belli virago”5, kämpfen keineswegs naturgemäß für ein Ideal als Kriegsgöttin. Der Namen „Virago” allein konnte jenseits ihrer idealisierten männlichen Tugenden. auch den Begriff „Göttin” bezeichnen. Jedes Ideal, das über ihr Leben hinausragte, war ihnen fremd und Kampf reiner Selbstzweck. Das Traditionell waren Männer „Helden”. Nur Mann aber heißt: sie schonten sich selbst nicht und waren schien sich für ein Dasein voll Kampf, Krieg und Tod auch nicht bereit, andere zu schonen. In der Realität zu eignen. Hier werden also durchaus traditionelle mag dies bedeuten, dass schon eine Beleidigung, ein Geschlechtsmuster angesprochen. Die „männlichen” Wortbruch, das Brechen der Gastfreundschaft u.s.w. Tugenden (Mut, Stärke im Kampf, Ausdauer u.s.w.) der Grund dazu war, ganze Völker in den Krieg zu – machten einen Helden aus, und Frauen, die zu ziehen. Mit anderen Worten: Es gab nur eine äußerst Heldinnen aufstiegen, verließen gleichzeitig ihre geringe Hemmschwelle, um eine Entscheidung mit „weibliche Rolle“ in der Gesellschaft. Sie strebten für Waffengewalt zu verhindern. Beim Kampf trat die sich die Charakteristika des männlichen Geschlechts Frage nach dem „Wozu“ in den Hintergrund. Mit an und wollten diese quasi perfektionieren. Die der Schwerpunkt setzte die Auseinandersetzung um die Frau in der Antike traditionell zugeschriebene Rolle Verantwortbarkeit eines militärischen Eeinsatzes innerhalb des Hauses befähigten sie jedenfalls kaum („bellum iustum, Gerechter Krieg“) erst mit der zum Auftreten als Heldin.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 21 - Aus der Antike ist lediglich ein Beispiel von Frau- bis in die frühe Neuzeit hinein die mythologischen en bekannt, die diese „männlichen“ Tugenden an Sagen.8 sich bis der Perfektionierung entwickelt haben. Es Die neuen Heiligen erfuhren oftmals eine Wand- handelt sich um die Amazonen, die am Rande der lung vom christlichen Märtyrer zum ritterlichen damals bekannten Zivilisation angesiedelt wurden. Helden. In diesen Fällen machten Züge mytho- Die Amazonen verfügten über Kraft, Entschlossen- logischer Helden deutlich, die zweifellos mit dem heit, Mut, Durchhaltevermögen und entschlosse- Aufkommen des Rittertums als neuem, führenden nem Willen. Herodot schildert sie „stark und klug“. Stand zusammenhängen. Das Feudalsystem wies Jedenfalls waren sie als Militärmacht gefürchtet dem Ritterstand seinen Platz in der mittelalterli- – vorausgesetzt, es hat die Amazonen tatsächlich chen Gesellschaft zu, und von der Kirche wurde er gegeben6 und sie sind nicht vollends im Reich der Fiktionen anzusiedeln. Bis ins 20. Jahrhundert hinein begegnen uns immer wieder vereinzelt Frauen, die auch auf dem Schlachtfeld als Soldatin sich bewährt haben.7 Seit dem späten 20. Jahrhun- dert haben sich die meisten Armeen auch für das weibli- che Geschlecht geöffnet. Wenden wir uns nun dem Mittelalter zu. Was verstehen wir unter einem christlich-ritterlichen Held? Durch zudem zu höheren, transzendenten Zielen berufen. das Umsichgreifen des Christentums entstand ein All das war mit einer gewissen Einschränkung seiner gewisser Wandel im Bild vom „Helden” und führte Handlungsfähigkeit verbunden, die ein Kämpfer zu uns nun zu einem neuen Heldentypus, den wir den Homers Zeiten wohl nicht akzeptiert hätte. christlich-ritterlichen Helden nennen wollen. Seinen Eine Sonderform bestand in Form der Mönchsrit- Höhepunkt erreichte er im Hochmittelalter. ter oder Kriegermönche, die zur Zeit der Kreuzzüge Jesus Christus als (auf seine Weise) sieghafter eine Vereinigung der mönchischen und ritterlichen Messias, erwies sich angesichts seines Todes am Ideale anstrebten. Junge (meist) adelige Männer Kreuz als schwach und unterlegen, was wiederum traten einem Ritterorden9 bei und legten nach ei- als eine ungeheure Umkehrung aller Erwartungen ner Probezeit die ewigen Gelübde ab. Zu den alten gesehen wurde, die wohl seine Anhänger in ihn ge- Mönchstugenden (Armut, Keuschheit, Gehorsam) setzt haben. Mit dieser, damals neuen, Lehre wurde legten sie das Gelübde des bewaffneten Kampfes zugleich ein radikaler Bruch mit dem mythisch- gegen die „Ungläubigen” ab. Hier wurde die Ver- klassischen Heldenbild vollzogen. Die Radikalität schmelzung zweier scheinbar entgegen gesetzter erscheint äußerst bemerkenswert, wurde sie auch Ethiken (Heiligkeit und Rittertum) angestrebt.10 von Teilen der Kirche immer wieder zu unterlaufen Das Bild des mythischen Helden, der im Kampf versucht. einen Selbstzweck sah, erfuhr also im Mittelalter eine Mit anderen Wort: Der „Wahn des Sieges” wur- Wandlung. Schritt für Schritt fanden neue Tugenden de regelrecht auf den Kopf gestellt und ließ den ihren Einzug in die Defini tion des idealen Kriegers. „Helden” in einem neuen Licht erscheinen. Der Im Weiteren entstand, angelehnt an das Rittertum, Verzicht auf irdische Güter um eines transzenden- im 18./19. Jahrhundert die Idee eines neuzeitlichen ten Zieles willen bekam neue Bedeutung und wurde Soldatenethos. für Jahrhunderte zum Maßstab allen Handels. Die Schon während des Spätmittelalters gab es für Legenden um große Heilige, die zugleich auch ei- die Adelsschicht bestimmte Männer (und Frauen), nen militärischen Anstrich annahmen, verdrängten die durch ihre besondere Tapferkeit von sich reden

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 22 - machten und unter denen sich neben christliche motivierten (d.h. sie als „Helden“ darzustellen), auch mythische bzw. geschichtliche Helden der zeichneten sie die meisten europäischen Regenten Antike befanden. Mit der Renaissance-Zeit traten ab dem Ende des 17./18. Jahrhundert mit militäri- also wieder die antiken Helden, die nie vollends schen Orden und Ehrenzeichen aus. Sicherlich: die in Vergessenheit geraten waren, verstärkt in den Geschichte besonderer „Ehrenzeichen“ für verdiente Vordergrund. Soldaten reicht zurück bis zur Antike. Doch davon Bis ins 18. Jahrhundert hinein dominierten abgesehen: die erste Generation der neuzeitlichen, antike Motive die künstlerischen Programme. Sie speziellen Orden für geleistete Verdienste Militärver- dienten zur Verherrlichung weltlicher Fürsten oder dienstorden, die sich in Großkreuze, Komture (oder der Symbolisierung von Tugenden. Die mythischen Kommandeure) und Ritter unterteilten (gemäß der Erzählungen der klassischen Antike gehörten zum militärischen Einteilung nach Generälen, Stabsof- selbstverständlichen Bildungsgut der jungen Genera- fizieren und Subalternoffizieren). Im Jahre 1740 tion des Adels. Sie prägten den adeligen Wertekodex wurde der berühmte preußische Pour le Mérite von jener Zeit. Das Werk des griechischen Philosophen Friedrich II. gestiftet. Im Jahre 1757 (Schlacht von und Historiker Plutarch (ca. 50–125 n. Chr.), „De Kolin) rief Maria Theresia den nach ihr benannten viris illustribus“ („Über berühmte Männer“) gehörte Militär-Maria Theresien-Ordens (MMThO) als die zum selbstverständlichen Bestand der Bibliotheken höchste Auszeichnung für militärische Bravur ins elitärer Kreise. Leben. Es handelte sich um einen Berufsorden für Offiziere, die – unabhängig von ihrer Religion oder Die heldenhaften Gestalten der Antike sollten ihrem Stand – durch ausgesprochene Tapferkeit und also nun moralischen Zwecken dienen und ein Eigeninitiative in der Schlacht von sich reden mach- ten. Der Orden wurde 1243-mal an 1138 Personen verliehen, nur neun Offiziere erlangten im Laufe ihrer Karriere alle drei Stufen des MMThO, der letzte von ihnen war Feldmarschall Graf Radetzky. Später wurden auch an aus- gesuchten Nicht-Offizieren ent- sprechende Tapferkeitsmedaillen vergeben. Tapferkeitsmedaillen waren (und sind) also Ehrenzei- chen, die an Mannschaften und Unteroffiziere verliehen wurden, um sie für ihre Tapferkeit vor dem Feind auszuzeichnen. Die öster- reichische Tapferkeitsmedaille (TM) wurde am 19. Juli 1789 von Kaiser Joseph II. gestiftet. Verliehen Orientierungsmuster für das Leben bieten. Dabei wurde sie in Silber und Gold. Am 19. August 1848 sollten sie nicht nur den Verstand, sondern vor allem wurde die TM in Silber in zwei Klassen aufgeteilt. auch das Gemüt erfassen. Mit anderen Worten: Der Am 14. Februar 1915 kam es zur Einführung der historische Informationswert stand deutlich im Hin- TM in Bronze. Ab dem 26. September 1917 wurde tergrund. Wesentlich war, dass die antiken Helden die goldene und silberne TM erster Klasse auch an als Vorbilder fungierten, Symbolkraft ausstrahlten Offiziere verliehen. Diese systematische Ausweitung und der Glorifizierung dienten. der Orden an Soldaten jedes Ranges zeigte einerseits Um speziell junge Männer des Adels wie des eine systematische Aufwertung dieser Soldaten, an- gehobenen Bürgertum für den Dienst Offiziere dererseits aber auch eine gewisse Inflation des Hel- zu gewinnen und für ihren besonderen Einsatz zu denbegriffs. Ähnliches lässt sich beim Totenkult für

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 23 - die Gefallenen feststellen. Gründung des Panthéon Was verstehen wir nun in Paris mit sich. Eine unter einem „National- Kirche wurde im Sinne helden“? Wie erwähnt, der Französischen Revo- kann es sich bei Helden lution dem weltlichen um reale Personen aus Kult der grands hommes der Geschichte oder um gewidmet. Dass hier nicht fiktive Personen aus dem den Heiligen, sondern den Bereich der Legenden grands hommes ein groß- und Sagen handeln. Wir artiges Denkmal gesetzt kommen nun auf jene Art wurde, bedeutet damals von Helden zu sprechen, ein Novum in Europa, bei denen es sich um his- das schon bald in den torische Personen handelt: einzelnen Ländern seinen den National- und/oder Niederschlag fand. Als Volkshelden. Lange Zeit so genannter „Erzieher war der Heros der Antike des Volkes” sollen die des prägende Idealbild, bis Nationalhelden und ihre er von den Volks- und Na- historischen Leistungen tionalhelden allmählich in zugleich den Mitgliedern den Hintergrund gedrückt der Nation ein Vorbild wurde. „Als Nationalheld sein, dem es nachzueifern bezeichnet man Personen, gelte. die Teil des politischen Der Nationalismus, Mythos einer Nation der seit Napoleon seinen sind.“11 Siegeszug in Europa antrat, produzierte also einen Anders ausgedrückt: als Nationalhelden kann ganz spezifischen Typus von Erzählungen, die von man Personen bezeichnen, die aufgrund ihrer Taten der Nation, ihren langen mythisch-historischen von einer Nation gefeiert werden. Der Mythos um Ursprung und vor allem ihren „überlebensgroßen” eine zum Nationalheld verklärten Person dient einer Figuren handelten. Napoleon Bonaparte wurde einer auf die Einzelperson ausgerichtete Geschichtsauffas- der frühen Typen der militärischen Nationalhelden sung. Es wird verzichtet, auf die Vielschichtigkeit neuer Prägung. Er hatte als Feldherr und politischer geschichtlicher und politischer Abläufe einzugehen, Reformator die Phantasie vieler Menschen (nicht und den Geschichtsablauf auf wenige Gesichts- nur der Franzosen) nachhaltig geweckt. Der Weg punkte zu verringern. Die Berufung auf einen Na- vom korsischen Offizier zum Kaiser Frankreichs tionalheld erzeugt den Eindruck einer historischen entspricht dem „Märchen” vom nationalen Helden Stetigkeit. Die Gegenwart wird als das Ergebnis der des 19. Jahrhunderts, das später viele Nachahmer Leistung jener verklärten Personen gesehen. fand. Hass und Bewunderung schlugen Napoleon in Österreich und Preußen, um nur zwei Beispiele Im späten 18. Jahrhundert trat im Zuge der zu nennen, entgegen, waren also zwei Seiten ein und Französischen Revolution eine rasche Veränderung derselben Medaille. T. Carlyle nannte Napoleon „der ein. Es kündigte sich ein grundlegender Perspekti- letzten Helden”, was in gewisser Weise auch den venwandel bezüglich der Herkunft des Helden sowie Tatsachen entsprach. Vor allem im 19. Jahrhundert Methoden seiner Popularisierung an. Nicht mehr war er allgegenwärtig auf Gemälden, Skulpturen, in antike Heroen standen im Blickpunkt des Interesses, der Literatur, aber auch in Karikaturen. sondern heimische, vaterländische Heldenfiguren aus Vergangenheit und Gegenwart. Zugleich begann die Mit der Idee des Nationalismus wuchs zu dieser Zeit deren bewussten medialen Vermarktung. Eine Zeit auch ein wachsender „Bedarf” an geschichtlich Neuerung brachte zweifelsohne im Jahre 1791 die lange zurückliegender „Helden”, die so groß und mächtig wären, um die vermeintlich alten europä-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 24 - ischen Nationen wieder entweder um Regenten aufzurichten. Die Größe des Hauses Österreichs einer Nation wurde in Ab- oder ihnen nahe stehende hängigkeit von der Größe Personen im Offiziersrang, ihren heroischen Gründern durch deren (Kriegs-)Taten wie auch ihrer gegenwärti- der Bestand der Dynastie gen Helden gesehen. nachdrücklich gesichert Was macht eigentlich wurde. den Unterschied zwischen Der österreichische National- und Volkshel- Staatspatriotismus war den? Entsprechend der in diesem Sinne auch folgenden Definition wird noch im 19. Jahrhundert letzterer folgendermaßen dynastisch. Die Völker beschrieben: „Ein Volks- sollten unter dem Dach held ist eine wegen seiner der Dynastie die ihnen heroischen Taten vom Volk gemäße nationale Ent- verehrte Person. Als histo- wicklung nehmen. Die rische Person unterscheidet kaisertreuen (und „unpo- er sich von einem Helden litischen”) Offiziere waren der Mythologie… Er ist – erst recht nach dem ein Held des Volkes, da Revolutionsjahr 1848/49 er gegen die jeweilig herr- – jene „Eiserne Klammer“ schende Macht kämpft, die der Donaumonarchie, die als unterdrückerisch emp- ein fortdauerndes Element funden wird. Er lebt als Geächteter und stirbt häufig bis zum Ersten Weltkrieg bildete. Aus ihren Reihen eines gewaltsamen Todes, was ihm den Ruf eines wurden militärischen Helden im Sinne des Natio- Märtyrers einträgt und oft zu einer blühenden Le- nalitätenstaates hervorgehoben und gefeiert. gendenbildung beiträgt” (Enzyklopädie: Volksheld. In der österreichischen Monarchie setzte der DB Sonderband: Wikipedia 2005/2006). Ein Volks- Prozess patriotischen Erwachens inmitten der held ist ein Held der Masse des Volkes (meistens der napoleonischen Kriege ein. Im Jahr 1804 wurde Unterschicht) und kann dadurch Züge gewinnen, das Kaisertum Österreich proklamiert und im Jahr die über die des Nationalhelden hinausreichen. Sein 1806 erfolgte endgültig die Auflösung des Heiligen Wirken und sein Ruf richten sich auf einen spe- Römischen Reiches Deutscher Nation. Die von ziellen Teilbereich einer bestimmten Volksgruppe. außen bedrohte Monarchie benötigte den Patrio- Dies alles kann zu seiner Popularität maßgeblich tismus ihrer Bürger, doch nicht, um eine Nation zu beitragen und es kann seine Ausstrahlung über die schaffen, sondern um den Gesamtstaat von vielen jeweiligen Staatsgrenzen hinaus strahlen. Nationen zu bewahren. Jeder Nationalismus konnte Eine eigene Stellung nahmen die militärischen einen Gesamtstaat, in dem viele Nationen lebten, Helden des Römisch-deutschen Reiches bzw. des auf die Zerreißprobe stellen. Kaisertums Österreich ein. Die Habsburgermonar- Der multinationale Staat betrieb somit angesichts chie nahm als Vielvölkerstaat im 19. Jahrhundert des heraufziehenden Nationalismus eine Politik des eine Ausnahmestellung (gemeinsam mit Russland) strikten A-Nationalismus, um seinen Weiterbestand ein. Ihr entsprach ein eigener Heldentypus, wenn zu gewährleisten. Damit stand die Habsburgermo- wir wollen der „militärisch-dynastische Held”. Dar- narchie in Widerspruch zu den meisten anderen unter wollen wir sowohl die Regenten des Hauses Staaten Europas. In diesem Sinne fanden nationale Habsburg, als auch führende Kommandanten jener Helden kaum eine entsprechende Aufnahme in die Armee verstehen, der die Dynastie ihren Fortbestand offizielle Geschichts- und Mythenbildung Alt-Ös- bis zum Ersten Weltkrieg verdankte. Mit anderen terreichs. Worten: es handelte sich bei den diesen Helden

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 25 - Hier stellt sich im Weiteren grundsätzlich die wiederum erfuhr der Begriff „Held“ seine Ausdeh- Frage nach den Helden im Widerstreit der öffentli- nung auf die Arbeitswelt. Jene Werktätigen, welche chen Meinung. So geschehen beispielsweise im Jahr die betrieblichen Normen und Richtwerte deutlich 1848, in einer Zeit der politischen Hochspannung übererfüllten, wurden zu „Helden“ der Arbeit er- und kurz vor Ausbruch der folgenschweren Okto- klärt. Im Westen überlebte in der Comicliteratur berrevolution in Wien. Franz Grillparzer schrieb an die übersteigerte Figur des Superhelden und brach- Radetzky die bekannten Worte: „Glück auf mein te durch diese gleichzeitig zum Ausdruck, dass die Feldherr, führe den Streich, in Deinem Lager ist Sehnsucht nach dem „unbezwingbaren“ Helden Österreich“. Gleich am Anfang geht aus diesem Lied nach wie vor noch aktuell ist. hervor: „Aus Torheit und aus Eitelkeit sind wir in Die Stellung zum „Helden“ scheint eine zwiespäl- uns zerfallen, in denen, die Du führst zum Streit, tige zu sein. So ist in der zeitgenössischen Literatur, 12 lebt noch ein Geist in allen.“ im Film wie auch in der Alltagssprache eine sehr Feldmarschall Graf Radetzky hatte durch seine kritische Stellung zu den herkömmlichen Helden Siege über das Piemont-Sardinien und das revolu- zu bemerken. Das heutige Zeitalter gilt häufig als tionäre Italien den Gesamtstaat noch einmal geret- Postmoderne, oder auch postheroische Zeit. Das tet. In den Augen der kaisertreuen Patrioten eines Letztere will sagen, dass nach den traditionellen Nationalitätenstaates Österreichs waren Radetzky Held nicht mehr gefragt wird. Oder verhält es sich und seine „italienische” Armee die Garanten für doch anders? die althergebrachte Ordnung. Für die Nationa- Die USA befindet sich spätestens seit dem 11. listen hingegen bedeutete der Feldmarschall ein September 2001 wieder auf der Suche militärischen Symbol verhasster Tradition und Unterdrückung. Helden, die als Vorbilder für ihre und die nach- Auch die bürgerlichen Vertreter eines Verfassungs- folgenden Generationen dienen können. Über die staates sahen in Radetzkys Siegen eine Gefährdung Massenmedien, die Werbung und den Film werden ihrer angestrebten Ziele. Andere hielten einen der amerikanischen Öffentlichkeit laufend neue Dank an die Armee für „undemokratisch”. Aus Helden – teils real, teils fiktiv – präsentiert. Es bedarf den verschiedensten Gründen lehnten weite Teile keiner weiteren Erwähnung, dass amerikanische Vor- der Bevölkerung eine Danksagung ab, während sie stellung vom „Helden“, wie sie über TV-Serien und wieder andere stürmisch einforderten. Entsprechend Filme die heimischen Fernsehanstalten und Kinos unterschiedlich sahen sie die Person Radetzkys – für überfluten, das heimische (jugendliche) Publikum die einen ein Held, für die anderen ein Verräter oder zwangsläufig beeinflussen. ein „Handlanger der Reaktion“. Weiters sehen Soziologen in Zeiten sozialer Auch aus der Zeitgeschichte sind uns immer Umwälzungen wie auch nationaler Krisen ein wieder Persönlichkeiten bekannt, die zwischen den starkes Bedürfnis nach militärischen Helden, um Begriffen „Helden“ und „Verräter“ stehen. Engelbert (vermeintliche) Abhilfe zu schaffen. „Helden“ bilden Dollfuß, um nur ein Beispiel zu nennen, zählt zu dann ein bestimmtes Vorbild (teilweise ein Klischee), jenen umstrittenen „Helden“ in der Geschichte. das besonders auf die junge Generation anziehend Von ÖVP-nahen Kreisen als Märtyrer und Patriot wirkt. Durch den Einfluss der Massenmedien sind angesehen, gilt er im sozialistischen Lager als „Ar- die Möglichkeiten entsprechend groß, was wieder- beitermörder“. um unter bestimmten Umständen von Regierungen Zum Abschluss drängt sich die Frage nach einer (wie auch Militärs) gezielt gefördert wird. Wiederkehr neuer Heldenmythen auf. In (West- Mit anderen Worten: Die Frage nach einem )Deutschland und Österreich war der Begriff des neuen Heldenmythos ist nur in Zusammenhang Helden seit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg lange mit wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen Zeit aus der Mode gekommen. Zu sehr war er von zu sehen. Es erscheint heute fast unmöglich, einem den Nationalsozialisten missbraucht worden. Aus Menschen „Heroismus“ mit begrifflich gestützter Kindern, die einst für das Heldentum begeisterten, Begründung zuzuschreiben. Eine aktuelle Definition war die „Skeptische Generation“ der Nachkriegszeit vom „Helden“ konnte lauteten: „Ein Held setzt sich geworden. Im Machtbereich des Kommunismus uneigennützig für eine Sache ein und ist dabei bereit,

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 26 - seine Existenz aufzuopfern, wobei er eine Vorbild- Kollektive Erinnerungskultur und nationale Identität in der ös- 13 terreichischen Monarchie. funktion erfüllt, mutig und willensstark ist.“ Kugler, Georg: Der Heldenberg. Zugleich wird aber eingeräumt, dass Heldentum Müller-Funk, Wolfgang: Anatomie des Helden. Neuwirth, Barbara: Auch ein fragwürdiger Begriff: die Heldin. eine Frage der Anschauung und nicht der Idee ist. Telesko, Werner: Das Haus Habsburg und seine dynastischen „Hel- Der Mythos des Helden scheint nicht untergegangen den“ im 19. Jahrhundert. zu sein. Wenn auch die Vorstellung dessen, wer in Raffay, Anita von: Abschied vom Helden: Das Ende einer Faszination, der Gesellschaft als Held auf das Podest gehoben Olten: Walter, 1989. wird, sicher sehr viel mit dem Zeitgeist zu tun hat. Rank, Otto: Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer Es entscheidet letzten Endes die öffentliche Mei- psychologischen Mythendeutung, Leipzig/Wien: Franz Deuticke, 1922. nung, was als vorbildlich und nachahmenswert gilt. Mit anderen Worten: Jede Generation legt sich ihre Schriftenreihe der Heeresunteroffiziersakademie, Ausgabe 10: Hel- Helden fast nach Belieben zurecht. dentum gestern – heute – morgen. Berufsethisches Fortbildungs- seminar 2006, April 2007. Darin die Beiträge: Dr. Hubert Michael Mader, Hofrat ist seit 1991 Forscher Holzbauer, Siegfried: Das Bild des mittelalterlichen Helden am Bei- und Hauptlehroffizier an der Landesverteidigungsakademie spiel des Nibelungenlieds: Das Labyrinth des Hürnen Seyfried. und Mitarbeiter bei der Militärseelsorge, u.a. durch seine Rub- Kastberger, Andreas: „Heldentum gestern – heute – morgen“: Ein- rik „Wir klagen an!“ im Evangelischen Rundbrief. führung zum Berufsethischen Fortbildungsseminar 2006 an der Heeresunteroffiziersakademie. Trauner, Karl-Reinhart: Odysseus – Held auf Irrwegen. Wagnsonner, Christian, War David ein Held?

Literaturhinweise Zedlers Universal Lexicon, Bd. 12, („Held“), Halle-Leipzig 1735.

Duden – Das Fremdwörterbuch, Mannheim 20079 [CD-ROM].

Großer Brockhaus, Mannheim 2004 [CD-ROM]. Anmerkungen Berger, Kurt: Menschenbild und Heldenmythos in der Dichtung des 1 deutschen Idealismus, Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1940. Zedlers Universal Lexicon, Bd. 12, Halle-Leipzig 1735, S. 1214f. 2 Eine Amphiktyonie (auch Amphyktionie, griech. für Umwohner- Giller, Joachim/ Mader, Hubert/ Seidl, Christina: Wo sind sie ge- schaft) ist ein loser Verband umwohnender Städte im antiken Grie- blieben..? Kriegerdenkmäler und Gefallenehrung in Österreich, chenland, Kleinasien und Etrurien auf religiös-kultureller Basis. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1992 (= Schriften des Diese Städtebünde bildeten sich zunächst um ein Heiligtum, um Heeresgeschichtlichen Museums, Bd. 12). es zu schützen und zu verwalten. Später kam die Veranstaltung von Festspielen zu Ehren der Gottheit hinzu. Wann und wo Amphik- Gratzer, Robert: Heimat bist du großer Söhne. Eine Dokumentation tyonie begann, lässt sich im Dunkel der Vorzeit nicht ergründen. über Heldenmythus und Soldatenschicksal, Klagenfurt: Verlag Es gibt aber Anzeichen dafür, dass es sie bereits vor den auf städ- Johannes Heyn, 1979. tischem Areal errichteten Heiligtümern gab. Die bedeutendste Amphiktyonie war aber die von Anthela bei den Thermopylen.. Grois, Boris (Hg.): Traumfabrik Kommunismus. Die visuelle Kultur Zweck des Bundes war zunächst Schutz der Heiligtümer der De- der Stalinzeit, Ostfildern-Ruit: Cantz, 2003. meter in Anthela und des Apollon zu Delphi, gemeinschaftliche Darin der Beitrag: Feier gewisser Feste, namentlich der pythischen in Delphi, dann Günther, Hans: Der Heldenmythos im sozialistischen Realismus. aber die Aufrechthaltung völkerrechtlicher Grundsätze, wie: Dass keine der amphiktyonischen Städte von Grund aus zerstört, keiner Hagenbüchl, Daniela: Der Heldenberg. Führer durch die Gedenkstät- das Wasser abgeschnitten und keine von dem gemeinschaftlichen te in Kleinwetzdorf, Niederösterreich, Großwetzdorf: Gemeinde Opfer und vom Bundesheiligtum ausgeschlossen werden dürfe. Heldenberg, o. J. 3 Laut Duden bezeichnet „virago” eine Frau, die zur Viraginität neigt. Klundt, Michael (Hg.): Heldenmythos und Opfertaumel, Köln: Diese beschreibt deren männliches sexuelles Empfinden. PapyRossa-Verlag, 2004. 4 Minerva war neben der Göttin der Weisheit und der Künste auch Mader, Hubert Michael/Mader, Susanne: Die Helden vom Helden- jene des gerechten Krieges. Starke Parallelen zur griechischen Pallas berg, Wien: Verein der Freunde des Landsverteidigungsakadmie, Athene sind vorhanden. 2004 (zweite, verbesserte und erweiterte Auflage erscheint dem- 5 nächst). Minerva = „altitalische Göttin des Handwerks, später der griech. Göttin Athene gleichgesetzt” (Brockhaus). Müller-Funk, Wolfgang/Kugler, Georg (Hg.): Zeitreise Heldenberg. 6 Quellen über die Existenz des Frauenvolkes reichen bis ins Mit- Lauter Helden. Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstel- telalter hinein. lung 2005, Horn-Wien: Verlag Berger, 2005. Im Besonderen die Beiträge: 7 Eine Frau trat am Ausgang des Mittelalters als geschichtliche und Heindl, Waltraud: Die „Geburt“ von Heldengestalten und Idolen.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 27 - einzige Heldin dieser Epoche mit bis heute wirkender Ausstrahlung ist gleichsam Patron der Ritter und der Soldaten.

hervor: Jeanne d’Arc griff zu Beginn des 15. Jahrhunderts nach 9 den Waffen im Kampf um die rechte Ordnung im männlichen Johanniter, Templer, Deutscher Orden u.s.w. System“. Jeanne d‘Arc kämpfte um die rechte Ordnung im männ- 10 Voraussetzung für diese Entwicklung war in der christlichen The- lichen System. Sie trat für den Dauphin gegen die Engländer ein, ologie die Klärung des Begriffes des „gerechten Krieges” (bellum fühlte sich dazu von Gott legitimiert („Stimmen“, Erscheinungen) iustum). Ein Krieg zum Gewinn von Ruhm und Reichtum war und erlitt das Schicksal all jener, die als Ketzerinnen bezeichnet für Christen unstatthaft, aber zur Wiedererlangung von Land und wurden: den Tod auf dem Scheiterhaufen. Bis heute gilt sie als zum Zurückdrängen des (Glaubens-)Feindes wurde als gerecht eine französische Nationalheldin. angesehen. Vgl. Wolf, Dieter H.: Internationales Templerlexikon, 8 So gilt den Christen vor allem der Erzengel Michael als Bezwinger Salzburg: A&M/Weltbild, 2006. Satans und Seelenwäger am Tag des Jüngsten Gerichts. Er ist 11 Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Nationalheld, unter: http: seit der siegreichen Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August //de.wikipedia.org/wiki/Nationalheld (22.2.2008). 955 Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches und später Deutschlands. Zugleich gilt Michael als Schutzpatron des Ritter- 12 Zitiert in: Kugler 2005, S. 45. tums und der Soldaten. Dieser Gestalt des reinen Glaubens an 13 seine Existenz steht, um nur ein Beispiel zu nennen, der heilige Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Held, unter: http:// Georg gegenüber, der eine reale Grundlage besitzt. Er war ein de.wikipedia.org/wiki/Held (22.2.2008). Märtyrer, der zu Beginn der Christenverfolgung unter Kaiser Di- okletian (284–305) gestorben sein soll. Im Laufe der Jahrhunderte wurde er zum beliebtesten Heiligen des Christentums. Besondere Verbreitung hat die Drachentöter-Legende Georgs gefunden. Er

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 28 - In memoriam Werner Peyerl

zusammengestellt von Karl-Reinhart Trauner

Gedenken Zwischen März 1944 und März 1945 war Wer- ner Peyerl Luftwaffenhelfer in Elbing an der Ostsee, wurde jedoch auf eigenen Wunsch im Dezember nach Wien-Leopoldau versetzt. Vor jetzt schon mehr 1947 konnte er schließlich in Villach die Matura als zehn Jahren, am ablegen. 30. Dezember 1996, Ab 1948 studierte Werner Peyerl Evangelische starb der langjährige Theologie in Wien, wobei er bereits 1952 – noch Armeepfarrer, Militär- ohne abgeschlossenes Studium – Religionsunterricht dekan Dr. Werner Pey- am Realgymnasium in Gänserndorf, an Hauptschu- erl, völlig unerwartet. len und Volksschulen im Marchfeld erteilte. Zum Gedenken an den 1953 schloss er sein Theologiestudium schließlich zehnjährigen Todestag ab; nach Universitätsreformen wurde ihm schließlich wurde am 4. Dezember 1982 dafür der Titel „Mag. theol.“ gegeben. Prägend 2006 am Evangelischen für seine Studien wurde sein durch ein Stipendium Friedhof Simmering des Ökumenischen Rates der Kirchen (Genf) er- (Zentralfriedhof, Evan- möglichter Besuch des Edenseminars bei St. Louis gelischer Friedhof) unter Leitung von Militärsenior (USA), und der daraus resultierenden Betreuung von Karl-Reinhart Trauner eine Gedenkfeier im kleinen zweisprachigen Gemeinden in Kanada und einer Rahmen abgehalten, darunter die Witwe Werner Übersetzertätigkeit bei der Weltkirchenkonferenz Peyerls, Heidi Peyerl, und der Präsident der AGES, in Evanstone bei Chicago. Brigadier Peter Klocko, MSc. Am 1. November 1954 trat Werner Peyerl schließlich als geistlicher Amtsträger in den Dienst Werner Peyerl (1928–1996) der evangelischen Kirche in Österreich ein; zunächst in Wien-Leopoldau und Bad Goisern (Oberöster- Werner Peyerl wurde am 10. Dezember 1928 in reich), dann in Wien-Landstraße, wo er den Bau Wien geboren und wuchs auch hier auf. Ab April eines neuen Gemeindezentrums am Sebastianplatz 1942 übersiedelte die Familie jedoch nach Brom- mitverantwortete. berg, Westpreußen; eine vormilitärische Ausbildung erfolgte in den Beskiden (bei Krakau). 1960 promovierte Werner Peyerl schließlich mit

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 29 - einer Arbeit über Martin Buber zum „Dr. phil.“ an Soldatentreffen am Iselsberg, in Frankreich und zu der Universität Wien (reine Philosophie, Pädagogik, den jeweiligen Vorbereitungskonferenzen. Germanistik). 1967 ehelichte er die Religionslehre- Die Teilnahme an bundesdeutschen Militärpfarr- rin Heide, geb. Rupp. konventen, an der Einschulung für Schweizer Miliz- 1972 trat Werner Peyerl in das Bundesheer als Mi- pfarrer an der Feldpredigerschule und für dänische litäroberkurat ein, zunächst Pastoren und vieles andere – bis Ende 1973 – als Evan- mehr gehörten ebenfalls zu gelischer Gruppenpfarrer mit seinen Aufgaben. Sitz im Kommandogebäude 1988 ging Werner Peyerl General Körner. 1973 wurde in Pension. Sein Wirken hier das Armeekommando fand damit aber keinen Ab- aufgestellt, dessen Pfarrer schluss. Er war weiterhin in Werner Peyerl wurde. zahlreichen wehrpolitischen Zu seinem Aufgabenbe- Vereinen – wie dem Kame- reich gehörte neben Wien radschaftsbund, der IÖRG zunächst auch der Seelsorge- oder der Kameradschaft bereich Niederösterreich. Als Feldmarschall Radetzky 1976 ein eigener Militärpfar- – seelsorglich tätig. In der rer beim Militärkommando Zeit, als die Militärpfarrstel- Niederösterreich eingerichtet le im Seelsorgebereich Wien wurde, verblieben zunächst nicht besetzt war, versuchte „nur“ mehr die Garnisonen er, diese Lücke soweit als Wiener Neustadt, Baden, möglich zu füllen. Felixdorf und Zwölfaxing in seinem Aufgabenbereich. Persönliche Ab September 1980 war Erinnerung Werner Peyerl ständiger Vertreter des Militärsu- perintendenten bei dessen häufiger Abwesenheit Als ich 1995 die Militäpfarrstelle des Seelsorge- von Wien (da dieser die Korpspfarre 2 bis 1984 zu bereiches Wien antrat, wurde die Mentorenschaft administrieren hatte). einerseits durch Militärsuperintendent Dr. Julius Eine neuerliche Änderung der Seelsorgegrenz- Hanak wahrgenommen, wesentlich aber auch en bewirkte, dass zum Aufgabenbereich des Ar- durch Militärdekan i.R. Dr. Werner Peyerl, der mir meepfarrers neben Wien und Wiener Neustadt die zum väterlichen Freund wurde. Ich hatte ihn schon niederösterreichischen Garnisonen Götzendorf, während meines EF-Jahres kennengelernt, ihn aber Klosterneuburg, Mistelbach und Zwölfaxing gehör- später aus den Augen verloren. Nun bemühte er ten, wobei ab 1984 auch diese niederösterreichischen sich, mich in die Geheimnisse des differenzierten Garnisonen durch den Militärpfarrer beim Militär- Bereiches Wien einzuführen, erklärte mir Zusam- kommando Wien übernommen wurden. Lediglich menhänge, stellte mich Leuten vor, … die Theresianische Militärakademie verblieb beim Dass ich in doch relativ kurzer Zeit die schwie- Armeepfarrer. rige Aufgabe eines Wiener Militärpfarrers meistern Jetzt mussten allerdings vermehrt Arbeit im Seel- konnte, verdanke ich nicht unwesentlich Werner sorgebereich Kärnten übernommen werden, weil Peyerl. hier die Militärpfarrstelle vakant geworden war. Immer wieder betonte er gerade die Wichtigkeit Zwischen 1978 bis 1988 fuhr Werner Peyerl von Auslandseinsätzen, und eines der prägendsten des öfteren auf Nahosteinsätze zur seelsorglichen Bilder von Werner Peyerl (das sich auch auf dem Betreuung evangelischer Soldaten von meist 14- Deckblatt der Publikation „Es gibt nie ein Zuviel tägiger Dauer, daneben erfolgten Reisen zu den an Seelsorge …“, herausgegeben anlässlich der 50-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 30 - Jahr-Feier der Evangelischen Militärseelsorge) ist geworden bin.“ jenes, wo er auf den Golan-Höhen bei einem Kreuz Heidi Peyerl hat diese Verse auf die Parte Werners stehend betet. Es ist vielleicht deshalb bezeichnend, geschrieben. Unser Mitgefühl wendet sich in dieser dass Werner Peyerl gerade während meines ersten Stunde besonders Dir, Heidi, zu. Auch ich habe diese UN-Seelsorgeeinsatzes von uns ging … Worte der kirchlichen Würdigung meines Freundes und langjährigen Mitarbeiters Werner Peyerl, die Abschied ich Ihnen ausgeteilt habe, vorangestellt. Werner hat oft mit diesem Wort des Paulus aus dem ersten Ko- Am 14. Jänner 1997 wurde Militärdekan i.R. rintherbrief, dem neutestamentlichen Hohelied der Mag. theol. Dr. phil. Werner Peyerl auf dem Evange- Liebe, Menschen am Grabe getröstet. So soll es auch lischen Friedhof Simmering unter großer Anteilnah- jetzt sein, dass wir in dieser Stunde des Abschieds uns me begraben. Am Begräbnis nahmen u.a. der Wiener trösten lassen mit diesem schönen Bibelwort, in dem Superintendent Mag. Werner Horn, der katholische uns unsere Traurigkeit und Verarmung angesichts Generalvikar Rudolf Schütz sowie Militärsuperin- des Todes deutlich wird, aber ebenso auch die Lie- tendent Dr. Julius Hanak, der die Begräbnisfeier be Gottes in Leben, Sterben, Tod und Auferstehen leitete, sowie zahlreiche Abordnungen des Militärs seines Sohnes Jesus Christus, durch den auch unser und von Traditionsverbänden teil. nichtiger Leib einst verklärt werden wird. Und dafür Am 24. Jänner 1997 fand in der Pauluskirche der wollen wir Gott loben. Dieses Lob Gottes kann auch Pfarrgemeinde Wien-Landstraße (Sebastianplatz) aufklingen, wenn wir uns eines Menschen dankbar ein Gedenkgottesdienst statt. erinnern, den Gott uns eine zeitlang gegeben hat. In unserem erwähnten Wort verwendet Paulus Karl-Reinhart Trauner, Militärsenior einen uns heute nicht mehr so geläufigen und ein- sichtigen Vergleich, um den Vorrang und den Be- stand der Liebe vor allen anderen Gaben deutlich zu machen. Der Spiegel, in dem der antike Mensch sein Beerdigungspredigt Gesicht betrachten konnte, bestand nicht aus einer Glasscheibe mit einem Quecksilberuntergrund, wie wir ihn heute verwenden. Dieser Spiegel war viel- mehr ein Stück getriebenes, poliertes Kupferblech, „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, in dem nur sehr vage die dunklen Umrisse des Be- dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne trachters zu sehen waren. Und dieser Spiegel ist Sym- ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich bol für die Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis, erkannt bin.“ (1.Kor 13,12) menschlichen Wissens, menschlicher Lebenseinheit. Friedrich Hölder- Paulus, Plato und Sokrates sind sich hierin eins: Alles lin schrieb zu diesem Erkennen ist schemenhaft. Aber Paulus fährt fort: Paulustext folgende Alles Erkennen ist ein Torso im Vergleich zu der Worte: „Glaube und Person gewordenen Liebe, wie Paulus sie beschreibt: Liebe und Hoffnung Liebe, göttliche Liebe, menschliche Liebe, eins und sollten nie aus meinem erkennbar geworden in der Person Jesu von Nazareth Herzen weichen, dann und im Auferstandenen Jesus Christus. gehe ich, wohin es soll, Werner Peyerl war nicht als Kind, sondern als und werde gewiss am junger Mensch zur evangelischen Kirche und zum Ende sagen: Ich habe Glauben an Jesus Christus gekommen, so wie er gelebt! Und wenn es ihn später in seinem Beruf und in seiner Existenz kein falscher Stolz und verantwortet und gelebt hat. Er hat darüber nie aus- keine Täuschung ist, führlich gesprochen, und ich habe auch nie länger so darf ich wohl sagen, nachgefragt. Es war wohl eine ihn beeindruckende, dass ich in jenen Stunden nach und nach, durch vorbildliche, menschliche Begegnung, auch der frü- die Prüfungen meines Lebens, fester und sicherer

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 31 - he Tod seiner Mutter, die zur Entscheidung führte. Erkennen und Geist andererseits nahe und damit Vermutlich war der Weg zur Theologie sein Weg, um zu einer Versöhnung von beiden Werten. Werner mit seiner Geschichte und dem Erlebnis des Krieges Peyerl war ein hochgebildeter Theologe und Philo- und der Nachkriegszeit ins Reine zu kommen. Noch soph. Er hat von Jugend an fleißig ein ganzes Leben die letzten Monate haben wir darüber gesprochen. lang studiert und sammelte Wissen – und so weit es Der Fünfzehnjährige, der unter den Idealen eines ging auch die Unterlagen, aus denen er sein Wissen humanistisch, technisch, freiheitlich ausgerichteten schöpfte! Noch vor einem Jahr war er sehr hilfreich Elternhauses aufgewachsen war, wurde eineinhalb tätig bei der Rekonstruktion der Geschichte der Jahre als Luftwaffenhelfer fast bis zum Kriegsende Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität auf einen Flakturm mit anderen Halbwüchsigen Wien, die 175 Jahre alt geworden war. Er konnte gesteckt. Existenziell ausgesetzt, im letzten unver- zurückgreifen auf ein reiches Archiv an Mitschriften standen, ungefragt, in einem Lebensabschnitt, wo von den Vorlesungen der Professoren, die er gehört andere noch die Zuwendung des Elternhauses haben hatte, er hatte sie meist wörtlich mitstenographiert. und brauchen. Er blieb zeitlebens ein leidenschaftlicher Denker, Werner Peyerl hat ein Leben lang aus Fragmen- Forscher, Leser, Schreiber und Redner. Er war aber ten, aus Teilen, aus Stückwerk, so weit uns das vor allem ein gesegneter Seelsorger, der in späteren möglich ist, ein Ganzes gemacht. Und er strebte Jahren wohl gelernt hatte, seine Mitmenschen mit immer unbeirrbar nach dem Ziel, auch wenn ihm seinem Wissen nicht zu belasten, sondern sie damit bisweilen dessen Erreichen unmittelbar versagt zu erfrischen und genießend teilhaben zu lassen. war. Sein Vater war ein ausgezeichneter Turner, Werner war von seiner Prägung und Erziehung der 1936 als Staffelläufer das olympische Feuer am her eher zurückhaltend, bisweilen wirkte er fast Weg von Athen über ein österreichisches Teilstück schüchtern und verlegen. Aber nie ließ er sich da- nach Berlin brachte. Dieser war als Techniker einer durch von seinem eigentlichen Aufgabenbereich, der ersten Schischanzenkonstrukteure und -erbauer der Seelsorge, abhalten. Ich habe wenige Kollegen in Europa. Werner selbst blieb dem turnerischen gekannt, die so oft, so regelmäßig, so treu und so Gedanken ein Leben lang treu und förderte darin liebevoll die ihm anvertrauten Menschen am Ar- andere junge Menschen. Ein Leben lang rang er mit beitsplatz oder zuhause besuchte und aufrichtete wie sich und anderen um einen ausgeglichenen Konsens er. Werner Peyerl lebte seinen Glauben und seinen zwischen der Wertschätzung der eigenen Nation, des Beruf als Geistlicher und Seelsorger authentisch, eigenen Volkes, der eigenen Sprache, und der Liebe überzeugend, bewundert. und Wertschätzung von anderen Nationen und Völ- Werner Peyerl blieb Menschen treu verbunden, kern und den dortigen Menschen, insbesondere in dienend als Seelsorger in sehr verschiedenen Grup- seiner Arbeit in der Liga der Vereinten Nationen und pen - ohne sich von diesen letztlich und total ver- seinem Seelsorgedienst im Heer und besonders da einnahmen zu lassen, immer als einer, der anderen wieder in der Begegnung mit Menschen bei seinem Menschen in seiner menschlichen Mission begegnete Dienst in den Verbänden der Vereinten Nationen und das Seine, Unverwechselbare beitrug - in den in Zypern, Syrien und Israel. Er bemühte sich um vielen Vereinen, Vereinigungen, Hilfswerken, in den eine versöhnte Vielfalt auch im nationalen und in- Kameradschaften, insbesondere seit er nicht mehr ternationalen Bereich, wie er dies in der kirchlichen hauptamtlich im Heer als Seelsorger tätig war. Ökumene gelernt hatte. Er hatte in seinen Studien früh das Dilemma des deutschen Idealismus ken- Vor einer seiner chirurgischen Operationen, nen gelernt und war all die Jahrzehnte ein Verehrer, die er in letzter Zeit in bewundernswerter Geduld Freund und Gesprächspartner des Hegelkenners hatte über sich ergehen lassen müssen, bevor also unserer Kirche, Erich Heintel gewesen. Werner in die Narkose ging, gab er dem Arzt einen Spruch des Tages mit. Bei der nächsten Visite frag- In seiner Dissertation über den jüdischen Reli- te ihn dieser prompt nach der neuen Tageslosung. gionsphilosophen Martin Buber kam Peyerl über Diesen tiefen Glauben, wie ihn Kinder heute schon dessen personales Ich-Du-Beziehungsdenken, selten haben, haben Menschen, die ihn nicht nur das dieser mit Ferdinand Ebner teilte, selbst den äußerlich und oberflächlich beurteilten, an ihm gemeinsamen Wurzeln von Liebe einerseits und

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 32 - geschätzt und geliebt. Seine Kommandanten, seine Diesen Glauben, von dem er bestimmt war, woll- Chefs, die Personalreferenten, seine katholischen te er anderen vermitteln, nicht erst in der Militär- und evangelischen Kollegen im Seelsorgedienst, sie seelsorge, sondern schon vorher als Vikar in Wien- alle wussten, was sie und ihre Soldaten an seiner Leopoldstadt und als Pfarrer in Wien-Landstraße, lauteren und aufrechten Lebensart und Hilfe hatten. wo er von 1966 bis 1972 maßgeblich am äußeren Bis und gerade in die Tage der Krankheit hinein und inneren Aufbau der Gemeinde beteiligt war. hielten sie Freundschaft und Verbindung mit ihm Diesen Glauben wollte er aber auch vermitteln den und standen ihm und seiner Frau bei. Es ist ein vielen jungen Menschen im Religionsunterricht, den schönes Zeichen für sein Verbunden-gewesen-sein er schon in seiner Studienzeit begonnen und später mit den Menschen, dass er nicht einsam, sondern mit einer vollen Lehrverpflichtung fortgesetzt hat. als umsichtiger Gastgeber starb. Werner Peyerl war auch bestimmt von einer Werner hat viel für uns, seine Kirche, und be- lebendigen Hoffnung. Einer Hoffnung, die aus sonders für die Kirche unter den Soldaten getan. dem Glauben wächst und Mut gibt für die Tage Dafür danke ich ihm. Er wird mir sehr fehlen, aber des Lebens hier auf Erden und darüber hinaus. Ein er wird, in neuer Weise ein Teil von mir, ein Teil Glaubender ist auch ein Hoffender. Und diese Hoff- von uns bleiben; bis wir erkennen und schauen von nung lässt nicht zuschanden werden. Darum kann Angesicht zu Angesicht. Amen. Paulus sagen: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, Julius Hanak, Militärsuperintendent weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Beerdigungspredigt Jesus ist, unserm Herrn.“ (Röm. 8,38f.) Diese Hoffnung dürfen wir haben in dieser Stun- de, in der wir um Werner Peyerl trauern, und dies doch nicht tun wie Menschen, die keine Hoffnung haben. Wir hoffen darauf, dass Gottes Wege mit „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese ihm im Augenblick des Todes nicht zu Ende sind, drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor. 13,13) sondern er umschlossen bleibt von seiner Liebe. Mit diesem Satz Liebe ist das dritte Stichwort in dem Abschluss- endet das „Hohelied vers des „Hohenliedes der Liebe“. Sie wird als „die der Liebe“ im 1. Ko- größte unter ihnen“ bezeichnet. Christus hat sie rintherbrief. verkörpert in seinem Leben und Sterben. In seiner Auferstehung hat er den Tod besiegt und dadurch Werner Peyerl hat haben auch wir die Gewissheit der Auferstehung. geglaubt. Dieser Glaube hat sein Leben geprägt Weil Werner Peyerl sich als Geliebter verstan- und diesen Glauben den hat, konnte er zu anderen freundlich und hat man ihm abge- liebenswürdig sein und an ihrem Ergehen Anteil spürt. In vielen seiner nehmen. Gespräche ging es um So dankt die Evangelische Diözese A.B. Wien diesen Glauben. Er war ihm für viele gute Dienste der Gemeindearbeit ein Theologe durch und durch. Seine immer neue und der Seelsorge. Auch in seinem Ruhestand hat Lust, über Glaubensfragen zu diskutieren, hing da- er am Leben seiner Kirche Anteil genommen und mit zusammen. Dabei verstand er Theologie nie in sie mitgetragen. einer engen, isolierten, abgehobenen Weise, sondern Eine treue Begleiterin in seinem Leben und in immer im Zusammenhang und Dialog mit anderen seinem Dienst war ihm stets seine liebe Gattin, der Geisteswissenschaften. Mit einer Arbeit über Mar- sich unser besonderes Mitgefühl zuwendet. tin Buber hat er 1960 promoviert und er blieb sein Vorbild. Möge Gott Werner Peyerl nun schauen lassen,

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 33 - was er geglaubt hat. Sein unerwarteter und plötz- heute Modellflugzeuge bauen und an erste Parties licher Tod hat uns alle betroffen gemacht, aber wir denken, als Luftwaffenhelfer in Elbing die Bekannt- wissen ihn und Dich, liebe Heidi, in Gottes guten schaft mit Militär und Krieg machte. Trotz dieser Händen. einschneidenden Erfahrungen gelang es ihm, die Matura programmgemäß abzulegen und in Wien Werner Horn, Superintendent das Studium aufzunehmen. Zuerst hatte er ein Stu- dium an der Hochschule für Welthandel begonnen. Er zeigte sich schon hier als der, der er von sehr vie- len immer wieder geschildert wird, wenn man über Grabrede ihn spricht: Ein Suchender sei er gewesen. Und er war auch in diesen Fragen seines Lebensweges ein Suchender. Der Tod seiner Mutter gab ihm einen äußeren Anstoß, sich einer anderen Studienrichtung Ich spreche für den Wiener Akademischen zuzuwenden, der evangelischen Theologie; nicht nur Turnverein (WATV), die Studentenverbindung einer Studienrichtung, sondern auch einem Beruf unseres lieben Werner Peyerl, der er seit Studen- und - wie könnte es anders sein - einer Berufung. tentagen treu gewesen ist. Bei uns ist es Brauch, In diesen Jahren (wir schreiben 1950) wurde der von einem Bundesbruder am offenen Grab Abschied zu nehmen und ihm das Band in Schwarz-Rot-Gold, das er sein Leben lang getragen hat, als Symbol ins Grab zu geben – das Band, das den Lebens- bund zwischen Jung und Alt symbolisiert. Lassen Sie mich, geschätzte Trauergäste, einen kurzen Blick auf das Leben des verstorbenen Werner werfen. Ich stelle dem ein Zitat von Martin Buber voran, es lautet: „Wenn wir eines Wegs gehen und einem Menschen begegnen, der uns entgegen- kam und auch eines Wegs ging, kennen wir nur unser Stück, nicht das seine, das seine nämlich erleben wir nur in der Begegnung.“ (Martin Buber: Ich und Du, Gerlingen 121994, Seite 92) Von solchen Wegstücken, von solchen Begegnungen möchte ich nun erzählen. Wir haben schon gehört, dass Werner Peyerl bereits in einem Alter, in dem die Buben

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 34 - Wiener Akademische Turnverein nach den Kriegs- dem Weg begleitet, auf dem wir Dich nun begleiten. jahren wiedererrichtet. 1950 war auch Werner Peyerl Du hast viele Bundesbrüder auch als Glaubensbru- bereits dabei und hat den Wiener Akademischen der in ihre Ehe geführt oder ihre Kinder in die Turnverein, seine Studentenverbindung, gemeinsam christliche Gemeinschaft aufgenommen. mit seinem Leibbursch Krupitz, genannt Jod, und Heute stehen wir – kurz, nachdem wir Dich um anderen wieder aus der Taufe gehoben. die Weihnachtszeit am Stephanitag zum letzten Mal Lassen Sie mich von einer weiteren Begegnung gesehen haben – an Deinem Grab. Wir danken Dir in Werners Leben erzählen. Das Bekenntnis Mar- (und das Wort danken begreift im Deutschen das tin Luthers zum Wort hat Werner nicht nur im Wort denken in sich) und wir denken an Dich. Las- theologischen Sinn ernst genommen, sondern viel- sen sie mich, liebe Trauergemeinde, zum Abschluss mehr auch in dem Sinn, dass er sich des Wortes als noch einen Ausflug in die Etymologie machen, und evangelischer Pfarrer und des Wortes als Deutsch zwar mit dem Führer Martin Buber in die hebräische Sprechender bediente. So kam er bereits 1954 mit Etymologie: deutschen Sprachinseln in Kontakt, und zwar in „Da bedeutet (zum Wort danken) die Verbalform Kanada, wo er im Rahmen eines Stipendienauf- hodoth zunächst sich (zu jemand) bekennen, sodann enthaltes deutschkanadische evangelische Gemein- danken. Wer dankt (schreibt Martin Buber) bekennt den betreute. Diese Kontakte mit den deutschen sich zum Bedankten, er will sich jetzt und fortan zu Sprachinseln überall auf der Welt sollten ihn bis ins ihm bekennen. Das schließt natürlich das Gedenken Alter begleiten und bis in späte Jahre unternahm er ein, aber es ist mehr als das. Es ereignet sich nicht Reisen zu diesen Sprachinseln der Deutschen. Spra- bloß drin in der Seele, es geht aus der Seele in die che bedeutete für Werner übrigens auch noch etwas Welt und wird zur Handlung, zum Ereignis in ihr. anderes: nämlich das begeisterte Sich-Aneignen von Sich so zu jemand bekennen heißt aber: ihn in seiner Fremdsprachen. Existenz bestätigen.“ (Martin Buber, Danksagung Eine weitere Begegnung: Bereits 1957 lernt er 1963 in: Nachlese, Gerlingen 31993, Seite 232) seine spätere Ehefrau Heidi kennen. Sie verlieren Und so bedanken wir uns am offenen Grab: sich wieder aus den Augen; bis zu einem Tag, als Wir danken Werner, denken an ihn, bekennen uns Werner als junger Vikar in einer Kirche in Wien zum Verstorbenen. Genauso wie Du, lieber Werner, predigt und Heidi in der Gemeinde sieht. Die Pre- Dich zu Deinem Wiener Akademischen Turnverein digt wird schnell abgewandelt und nimmt das Wort bekannt hast; genauso wie Du diesem Wiener Aka- vom verlorenen Sohn als Wort von der verlorenen demischen Turnverein und seinen Farben zeitlebens Tochter auf. Diese Wiederbegegnung, liebe Heidi die Treue gehalten hast – jenen Farben des Bandes, Peyerl, führt zur Eheschließung 1967. das ich Dir nun auf den Sarg lege: Wie haben wir Bundesbrüder des Wiener Akade- Rot-Weiß für Deine Heimatstadt und Studien- mischen Turnvereins Werner kennen gelernt? Einer- stadt Wien … – und Schwarz-Rot-Gold - die Far- seits bei Ansprachen; andererseits in der letzten Zeit ben des Lützower Freikorps im Kampf gegen den vermehrt als Teilnehmer an unseren Veranstaltun- Tyrannen Napoleon … – Schwarz-Rot-Gold: die gen. Da konnten wir erleben, welch feinen Humor Farben der deutschen Freiheit 1848 … – Schwarz- Werner hatte. Es war ein stiller Humor, der sich auch Rot-Gold: die Farben des Staatswappens der Repu- in dem verschmitzten Lächeln ausdrückte, das heute blik Deutschösterreich und auch unserer zweiten schon angesprochen wurde. Republik. Im Jahre 1972 kam Werner gerade von einem Lieber Werner! Du warst diesen Farben treu, Philosophenkongress in Vilna und hielt im Kreis wir danken Dir dafür. Möge Dir die Erde Deiner seiner Bundesbrüder darüber einen Vortrag. Ich Heimat leicht werden. Fiducit! hörte ihm als junger Student zu – und muss geste- hen: ich verstand damals nichts. Späterhin war es Peter Krüger, Vertreter des WATV uns gegeben, viele verständnisträchtige Gespräche zu führen. Lieber Werner! Du hast viele Bundesbrüder auf

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 35 - Grabrede Er war ein hochgebildeter Akademiker, Lehrer und Offizier, er beherrschte viele Fremdsprachen, jedoch, wenn er in unserer gemeinsamen deutschen Muttersprache das Wort ergriff, dann hörten alle aufmerksam und interessiert zu und erfreuten sich Eine Blume für das Leben an seinen Reden, Vorträgen und Ausführungen. eine Blume für das Grab. In unserer gemeinsamen Arbeit zeigte er uns den Wird mit Schmerz zurückgegeben, was der Herr mit Freuden gab! Weg, seinen Weg, indem er ihn vorausging, ja vo- rauseilte. Ein langer und ganz den Mitmenschen gewidme- ter Lebensweg hat nun sein Ziel erreicht. Ein gutes Seine Auffassung von Pflichterfüllung und Ka- Herz hat aufgehört zu schlagen. meradschaft war vorbildhaft! Sein Einsatz für die Gemeinschaft, für uns Alle, war grenzenlos. Gott, der Herr hat seinen getreuen Diener, den evangelischen Armeepfarrer i.R. Militärdekan Mag. Bis hin zu jenem Tage, wo der Herrgott befand, Dr. Werner Peyerl am 30. Dezember 1996 zu sich dass es nun genug sei. Heute stehen wir hier an sei- in sein Reich berufen. Und wir müssen Abschied nem Grabe um ihm zu danken für alles Gute, das nehmen – Abschied von unserem Ehrenmitglied, er für uns getan hat. Bundes- und Zentralschriftführer der Bundesver- Unser Mitgefühl in dieser Stunde gehört Dir, einigung Kameradschaft „Feldmarschall Radetzky“ tieftrauernde Witwe und den Familienangehörigen; nehmen mit uns all die anwesenden Soldaten-, Worte des Trostes zu finden, fällt uns schwer, die wir Militär-Traditions- und Kameradschaftsverbände doch selbst so tief getroffen sind. sowie Freunde und Kameraden. Wie sagte uns schon der letzte Landsknecht Fürst Abschied von einer Persönlichkeit, deren Beliebt- Schwarzenberg: heit, Anerkennung und Ansehen als Gottesmann, Des Krieges Glocken sind Kanonen, Offizier, Lehrer und Kamerad weit über die Grenzen sie künden Freude, Sturm und Schmerz unseres Vaterlandes hinaus ihres Gleichen suchte. und mit dem letzten Donner lohnen Abschied vor allem von einem wahren, lieben sie das gebrochene Kriegerherz! Freund und Kamerad. Militärdekan Werner Peyerl Nun müssen wir Abschied nehmen von unse- war ein Mann der ersten Stunde in der Kamerad- rem Kameraden Dr. Peyerl. Wenn das schönste aller schaft „Feldmarschall Radetzky“ und eines seiner deutschen Soldatenlieder „Ich hatt’ einen Kamera- vorbildlichen Mitglieder. den“ erklingen wird und der Seine Verdienste, seine österreichische Zapfenstreich Leistungen in den vergange- ertönt, senken wir die Fah- nen dreißig Jahren waren so nen und unsere Häupter als zahlreich, so vielfältig, dass letzten Abschiedsgruss und deren Aufzählung an dieser müssen zur Kenntnis neh- Stelle schier unmöglich er- men, dass ein vorbildlicher scheint. Die vielen und ho- und aufrechter Kamerad zur hen Auszeichnungen, die ihm grossen Armee eingerückt verliehen wurden, legen dafür ist. eindrucksvoll Zeugnis ab. Ruhe sanft ! Die Erde sei Für uns, die er stets mit Dir leicht ! seiner Freundschaft und Alexander W. Ritter, Oberst Kameradschaft auszeichnete, Amtsdirektor Regierungsrat und war er der Inbegriff dessen, Bundes- und Zentralobmann der was man Vorbild nennt. Wir Kameradschaft „Feldmarschall durften zu ihm aufschauen, Radetzky“ wir durften von ihm lernen.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 36 - Ein Kamerad aller gesetzt. Ganz besonders als Mitglied und in seiner Funktion als Bundesschriftführer der Kameradschaft „Feldmarschall Radetzky“; weitere Mitgliedschaften Soldaten z.B. bei der Internationalen Österreichischen Re- servisten-Gemeinschaft (I.Ö.R.G.), der Offiziersge- sellschaft (OG) und der Unteroffiziersgesellschaft (UOG) sowie anderen hat er sehr ernst genommen. Mit Militärdekan Dr. Peyerl haben viele Soldaten Dies ist dokumentiert durch seine vielen tiefgreifen- einen besonderen Kameraden verloren – sowohl den den Beiträge für Zeitschriften und ganz besonders Angehörigen des Präsenz- als auch des Milizstandes bei den feierlichen Ansprachen in der Advent- und war er immer ein vorbildhafter Mensch. Weihnachtszeit. Dr. Peyerl hat durch sein intensives Engagement Die letzte Ansprache hat Militärdekan Dr. Pey- und seine grosse Menschenkenntnis überall schnell erl in der Maria Theresien-Kaserne im Festsaal des Eingang gefunden und war in allen Belangen stets Garnisonskasino gehalten am 21. Dezember 1996 bemüht ein Kamerad unter Kameraden zu sein. bei der Internationalen Österreichischen Reservis- Die reiche Lebenserfahrung des Dr. Peyerl hat ten-Gemeinschaft (I.Ö.R.G.). einen speziellen „Draht“ zu den Miliz-Soldaten Als besonderes Beispiel und Vermächtnis sei hier ermöglicht, die ja durch die „Doppelbelastung“ eine seine letzte Ansprache wiedergegeben. oft eine besondere Motivation benötigen. Hier hat Dr. Peyerl vorbildhafte Wege gezeigt und vor allem Dr. Peter Fiala, Oberst Hofrat durch seine allgemein verständliche „Sprache“ viele Probleme lösen geholfen. Keine an ihn herangetra- Die Auferstehung und gene „Schwierigkeit“ war ihm zu gross oder zu klein, kein Soldat zu „niedrig“ oder zu „gross“ - und dies das ewige Leben … war besonders wichtig für die aussergewöhnlichen Advent 1996 „nur keine Hektik! In der Ruhe liegt Probleme der Milizsoldaten im Auslandseinsatz. die Kraft“. So las ich kürzlich in der gesundheitsbe- Auch die Pensionierung und die Krankheit konnte wussten Zeitschrift „Fit for fun“. Dr. Peyerl nicht bremsen, er setzte seine Aktivitäten mit fast jugendlichem Elan fort. Advent 1996: in diesem Jahr ist viel gefeiert wor- den, nicht zuletzt „1000 Jahre Ostarrichi“. 1500 Wir trauern um einen Pfarrer und Freund, der Jahre Frankreich hingegen ist am Rande auch an den ihm anvertrauten Menschen in vorbildlicher unser Ohr gedrungen. Aber solche Ereignisse, die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit begegnet ist sich hierzulande abspielen, werden via Fernsehen und stets offen war für ihre Anliegen. lautstark verkündet, den Menschen eingehämmert Ernst Rudeltisch, Vizeleutnant (†) und von Freunden oder Nachbarn wird einem nahe gelegt, diese oder jene Ausstellung musst Du gesehen haben, z.B. die über den Historismus. Oft wird Nebensächliches in den Vordergrund ... unermüdlicher Prediger gestellt (nicht gerade bei dieser, aber bei anderen Ausstellungen), entscheidende Wahrheiten aber für den Frieden werden beiseite gerückt oder überhaupt schamhaft verschwiegen. Sicher aber wäre es nicht zu 1000 Jahre Österreich gekommen, ohne den treuen und stets bereiten Einsatz tapferer Soldaten. Darauf Militärdekan Dr. Peyerl hat nicht nur in seiner hat Oberstapotheker Mag. Hengster bei der Sie- Berufszeit sondern ganz besonders während seiner gerehrung nach dem grossen Schiesswettbewerb wohlverdienten Ruhestandszeit enorme Aktivitäten vor den Teilnehmern aus vielen Statten Europas in den verschiedenen Organisationen und Vereinen hingewiesen.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 37 - Wieder stehen wir vor einem Fest. Und wieder der nördlichen Hemisphäre. Welche Gefahren signa- hören wir seit Wochen weihnachtlicher Lieder, denn lisieren alle: schon die Warnzeichen in der Biosphäre die Geschäftsleute bemühen sich in dieser wirtschaft- mit der Vergrösserung des Ozonloches! lich angespannten Zeit, ihre Ware anzupreisen und In dieser vorweihnachtlichen Besinnung gilt die zu verkaufen. Mahnung zur Entsagung und Selbstüberwindung: Was ist aber die eigentliche Botschaft des Advents? „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Ein- und Verkaufen, festliche Menüs bei Besuchen Dieser Satzteil entstammt einem der sieben Send- von Betriebsfeiern? Empfänge, Zweckoptimismus schreiben Christi an die Vorsteher und Gemeinden bei Politikerreden … in Kleinasien. Zum einen richtet der Advent unseren Blick „Wer Ohren hat der höre, was der Geist den Ge- auf die nahende Ankunft des Gottessohnes, der in meinden sagt; wer überwindet, dem will ich geben aller Armut und Niedrigkeit unter den elendsten zu essen von dem Baum des Lebens, das im Paradiese Umständen das Licht der Welt erblickte, um uns- Gottes ist“ (Apk. 2,7): retwillen Mensch geworden ist und bald danach ein Flüchtlingsschicksal mit seinen Eltern erleiden „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit musste. der Mensch sich, der sich überwindet.“ Zum zweiten aber wird unser Blick hinaufgerich- Vielleicht denken Sie sich, jetzt fängt er auch tet auf den kommenden Advent Jesu Christi - seine noch mit dem Paradies an! Aber werden nicht mit Wiederkunft -, wenn dieser in aller Niedrigkeit und Weihnacht Kinderträume wach, Erinnerungen an Armseligkeit geborene Gottessohn in Macht und das Elternhaus, an die Schulzeit, an eine trotz aller Herrlichkeit erscheinen wird als Richter der Leben- Not mehr oder weniger unbeschwerte Kindheit? digen und der Toten, begleitet von der Heerschar Und werden nicht mit Weihnachten Erinnerun- aller heiligen Engel. Die ersten Christen erwarteten gen an die Militärzeit lebendig, an die Grundausbil- die Wiederkehr Jesu Christi noch zu Lebzeiten der dung oder bei mehr oder weniger freiwilligen Waf- Apostel. Paulus hingegen sagt, dass das Ende des fenübungen oder gar Kampfeinsätzen der Legion irdischen Lebens für den gläubigen und im Lebens- - Erinnerungen an ein vielfach verlorenes Paradies, kampf bewährten Christen die Wende bringt. verbunden mit der Erkenntnis, dass diese Welt nicht Er äussert sich in einem seiner Briefe: Ich habe heil ist, sondern ihrer Erlösung harrt. Lust abzuscheiden, um beim Herrn zu sein alle- Mit Weihnachten heute mögen jedoch Kinder- zeit. träume wahr werden und das kann ein wiedergewon- Zum dritten richtet sich der Advent konkret auf nenes Paradies bedeuten, wenn Menschen sich unter unsere Weltsituation. Die sogenannte Globalisie- dem Lichterbaum versöhnend die Hände reichen, rung enthält die Aufforderung zur Selbstbeschrän- Kinder die Liebe beider Eltern erfahren und Alte kung schon angesichts der bedrohlichen Zunahme nicht ausgeschlossen sind. der Weltbevölkerung gerade in ärmeren Regionen und die Verschärfung des Wettbewerbsdenkens in

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 38 - Unser kulturelles Erbe - und sein Schutz

Gunther Spath

In mir erwachen bei Militärkommando ohne lange zu überlegen, seinem diesem Thema - Militär Ersuchen um Unterstützung dieses Symposiums zu- und Kulturgüterschutz gestimmt hat. - eine Art nostalgischer Lassen Sie mich ein bisschen philosophieren über Gefühle, war ich doch die Bedeutung des Kulturgüterschutzes in Zeiten des von 1997 bis 1999 in heftigen Wandels. Unsere Ausgangsbasis waren im- unserem Bundesminis- mer die einschlägigen Haager Abkommen, die aber terium für Landesver- verständlicherweise unter dem Gesichtspunkt des teidigung als selbstän- zwischenstaatlichen, sozusagen „herkömmlichen“ diger Referent in der Krieges entstanden sind. Den halten ja politisch/ Abteilung für Militär- strategische Vordenker für die nächsten Jahrzehnte strategie nicht nur für zumindest in Europa für ausgeschlossen. das weite Feld der Umfassenden Landesverteidigung und damit der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit, Sie gestatten mir an dieser Stelle einen kleinen, sondern auch für den Kulturgüterschutz in den politisch unkorrekten, Seitenhieb: Die Vordenker Anlassfällen der Landesverteidigung zuständig. Es rechneten auch noch in den 80er-Jahren des 20. war mir dabei vergönnt, an einem internationalen Jahrhunderts mit einer Fortdauer der Ost-West- Symposium über den „Schutz von Kulturgütern im Blockkonfrontation über das Jahr 2000 hinaus. Kriegsfalle“ mitzuwirken und ein zweites persönlich Um diese Zeit hörte ich in Radio Kärnten ein zu leiten, wobei einige der heute hier Anwesenden, Interview mit Otto Habsburg: Vom Moderator glaube ich, die Inspiration, die damals von diesen über seine Einschätzung der Situation in Europa Veranstaltungen ausging, gespürt haben. befragt, erklärte der weise alte Herr sinngemäß, unser Kontinent werde keinesfalls in der gegebe- Diese Arbeit wurde wesentlich mit begleitet und nen Situation erstarren. Manche Grenzen seien zu gestaltet durch die österreichische Gesellschaft für hinterfragen, Minderheiten, Volksgruppen, ganze Kulturgüterschutz. Dass gerade in meiner Zeit in Nationen würden Rechte vorenthalten, vor allem dieser Funktion im Bundesministerium der in un- auch die Selbstbestimmung. Der Moderator, ganz serer Abteilung für Militärstrategie als Milizoffizier Kind der modernen Zeit und der irrigen Meinung, beorderte DDr. Sladek zum Brigadier befördert so wie die Welt zum Zeitpunkt wäre, so würde sie worden ist, war ein besonderer Höhepunkt. Er hat ewig bleiben, war fassungslos und stammelte etwas sich, neben einem ja wahrlich auslastenden Beruf von Verträgen und garantierten Grenzen. Darauf- an der Spitze des Bankgewerbes, im zivilen wie mi- hin sagte Otto Habsburg einen sehr einprägsamen litärischen Bereich in einem Ausmaß für den Kul- Satz: „Junger Mann, in der Geschichte gibt es zwei turgüterschutz engagiert, das seinesgleichen suchen Begriffe nicht: ewig und immerwährend!“ muss. Es war daher auch gar keine Frage, dass das

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 39 - Nicht zuletzt dadurch inspiriert erklärte ich vor mitzuspielen. Eine Ursache ist Fanatismus ideologi- einem vollen Konzerthaussaal im Jahr 1986, zu scher, nationalistischer oder religiöser Art, der vor einem Europa-Referat eingeladen, Europa werde Kulturdenkmälern, die der jeweiligen Gegenseite so geteilt nicht liegen bleiben, denn so wäre es das zugerechnet werden, nicht Halt macht, ganz im Ge- Produkt seiner Feinde. Mit dieser Ansicht wurde genteil: Wie uns die Balkankriege der 90er, wie uns man damals, wenn nicht gleich als Neonazi, dann die Ereignisse in Afghanistan und Irak und diverse zumindest als reaktionärer Revanchist gebrand- Entwicklungen in Afrika beweisen, ist gerade auch markt. Drei Jahre später wussten es alle besser, nur der Anschlag auf das kulturelle Erbe der jeweiligen der Rufmord an mir blieb aufrecht! Gegenseite ein ganz bewusster Akt: Kultur zerstören, Zurück zu den Bedrohungen und ihren Auswir- ob in Form von Heiligtümern, besonderen Bauten, kungen auf das weite Feld „Kulturgut“: Werken der bildenden Kunst oder auch ganz ein- fach die Lebensweise, die Sprache, die Sitten und Also kein „klassischer“ Krieg in Europa, in Gebräuche, ist Identitätszerstörung und genau das anderen Weltgegenden sieht es anders aus. Aber ist das Ziel. in aller Munde ist der „asymmetrische“ Krieg als Bedrohung, Terrorismus, Guerilla, ja in Teilberei- Und wir brauchen nicht zu glauben, so genannte chen scheint auch die organisierte Kriminalität hier Kulturgüterschutz anno 1905. Das Bild zeigt als Fotomontage die Verbringung von Kulturgütern aus dem Pariser Louvre.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 40 - „Kulturnationen“ hätten mehr Respekt vor diesen GOs bzw. NGOs. Werten und Gütern als die weniger weit entwickel- Was ist dafür die Grundvoraussetzung? Neben ten Völker. Die Zerstörungen in den Kriegen des Mitarbeitern, die grundsätzlich Interesse und 20. Jahrhunderts, vom bewussten Beschießen von Engagement in der Sache mitbringen, sind unab- Kirchtürmen bis hin zu Vernichtung tausend Jahre dingbar alter Innenstädte mittels Flächenbombardement, Niederreißen und Abfackeln von Kultstätten, sind • entsprechende Unterlagen über Kulturgü- aktenkundig. Und gerade die USA und wir Europäer ter sollten uns hier, jede Nation für sich, kräftig an der • hochwertiges Kartenmaterial Nase nehmen, keiner blieb hier schuldlos! • praxisbezogene Anleitungen über mögliche Man findet wenig Literatur über eine der jüngsten konkrete Maßnahmen. Katastrophen in diesem Zusammenhang, aber eini- ges doch: Wissen Sie, was im Zweist- romland, manchmal auch „Wiege der Menschheit“ genannt, im Zuge des Irakkrieges zerstört wurde oder auch, soweit beweglich, in undurchsichtigen Kanälen versickerte? Möglich wird so etwas wegen der Unwissenheit und Ignoranz gegenüber einer tausende Jahre alten Hochkultur durch Solda- ten, die Kaugummi und Coca Cola für kulturelle Leistungen halten einerseits und skrupellose Geschäftemacherei andererseits. Neben menschenverursachten gewaltsamen Bedrohungen von Kul- Der Kulturgüterschutzoffizier des Militärkommandos Wien, der jetzige Oberstleutnant turgütern dürfen wir aber eine zweite, dhmfD Mag. Peter Steiner, mit dem jetzigen Militärsenior DDr. Karl-Reinhart wesentliche Gefahr, nicht aus den Trauner bei einer gemeinsamen Veranstaltung im Jahr 1998. Die breite Basis einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Arbeitsbereichen wird immer wieder Augen verlieren: Naturkatastrophen deutlich! verschiedenster Art, wobei genau besehen, für das Ansteigen dieser hin- Im militärischen Führungsverfahren bemühen sichtlich Anzahl und Heftigkeit auch der Mensch als wir uns mit unterschiedlichem Erfolg seit Jahren, Verursacher demaskiert ist, Stichwort Klimawandel. bei Einsatzvorbereitungen, Beurteilung und Be- Wasser, Sturm, Lawine, Erdrutsch - auch sie können fehlsgebung die Belange des Kulturgüterschutzes Kulturgut begraben, schwer beschädigen oder zer- als fixe Größe einfließen zu lassen. Kärnten ist hier stören. Und daher wären auch hier Vorkehrungen natürlich in der glücklichen Lage, mit Oberst Mag. zu treffen, um zumindest mögliche Schäden zu Dr. Wastl einen MilGeo-Offizier zu besitzen, der ins- minimieren. besondere in der Grundlagenarbeit (Basismaterial, Grundvoraussetzung, damit dieser Schutz ei- insbesondere auch Spezialkarten!) eine Vorreiterrolle nerseits vorbeugend, andererseits im Anlassfall für das Bundesheer spielt. 2 Beispiele für effiziente durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen für kartographische Unterlagen seien hier vorgeführt: unbewegliche und gegebenenfalls Verbringung von Damit dergleichen möglich ist, muss das Referat beweglichen Kulturgütern funktioniert, ist Wissen Militärgeographie im jeweiligen Militärkommando und Schulung, vor allem bei den besonders betrof- über ein geographisches Informationssystem mit fenen Kräften, das können Soldaten ebenso wie entsprechenden Vernetzungen verfügen. Angehörige staatlicher und privater Einsatz- und Hilfsorganisationen sein, im modernen Jargon Leider wird nicht im gesamten Bundesgebiet die

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 41 - Bedeutung eines solchen Fachmannes, nicht nur für passung, institutionalisiert wird. den Kulturgüterschutz, sondern vor allem auch für Bei den Zielsetzungen steht die Fähigkeit zum alle Belange der Raumordnung und Raumplanung, Auslandseinsatz, vom gewohnten „friedenserhal- erkannt und gewürdigt. Ihm zur Seite standen stets tenden“ bis zum „friedenserzwingenden“ im Vor- besonders engagierte Milizoffiziere, zuletzt Obst dergrund. Dabei wird, und das beobachten wir von Dr. Fischer-Wellenbom. Und eine ganz wesentliche den Militärkommanden aus mit Sorge, so manches, Rolle spielte die hervorragende Verbindung zu den was nicht „Militär pur“ ist, in den Hintergrund ge- Landesdienststellen und vor allem zur Außenstelle drängt. Allerdings gibt es auch erfreuliche Ansätze des Bundesdenkmalamtes. Herrn Dr. Fuchs sei hier zu einer stärkeren Berücksichtigung der zivil-mi- für die Bereitstellung der aktualisierten Verzeichnisse litärischen Zusammenarbeit, im Auslandseinsatz über Kulturgüter im Sinne der Denkmalschutzver- eben „CIMIC/civil-military cooperation“. Und in ordnung besonders gedankt. diesem Rahmen wird hoffentlich auch in Hinkunft Zum Schluss noch ein Blick auf die laufende der Kulturgüterschutz, vor allem seine praktische Bundesheerreform im Zusammenhang mit unse- Anwendung in den verschiedenen Anlassfällen, rem Thema. entsprechend ernst und wahrgenommen werden.

Wir befinden uns mitten in der Transformation Mag. Gunther Spath, Brigadier ist Militärkommandant zum „Bundesheer 2010“. Bei keiner Reform in den von Kärnten und stellvertretender Präsident der Arbeitsgemein- 51 Jahren Bundesheer wurde so wie bei dieser die schaft Evangelischer Soldaten (AGES). Beim vorliegenden Text gesamte Aufbau- und Ablauforganisation des Bun- handelt es sich um die Eröffnungsansprache am Internationalen desheeres, vom Bundesministerium bis hinunter zur Symposium „Kulturelles Erbe“, Khevenhüllerkaserne, 26. 9. 2007 letzten Kompanie, verändert. Der Begriff Transfor- mation bedeutet, dass hier nicht eine etliche Jahre gleich bleibende Struktur geschaffen wird, sondern der permanente Wandel, die ständig laufende An-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 42 - Befehl und Gehorsam Ein Widerspruch zur Pädagogik?

Udo Rumerskirch

„Befehl und Gehorsam – ein Widerspruch zur Pä- dagogik?“ Ich antworte auf diese Frage einleitend mit der Behauptung, • dass erstens nicht nur kein Wider- spruch besteht, sondern dass gerade das den Streit- kräften zugrunde liegende notwendige Prinzip von Befehl und Gehorsam nicht ohne Pädagogik und ohne pädagogischen Bezug umgesetzt werden kann und Wehrgesetz § 47: Pflichten und Rechte der Soldaten • dass zweitens wahrscheinlich alle hier Anwesen- Gehorsam: den – auf jeden Fall die am Podium vertretenen Herren ADV § 7 – offensichtlich auch diese Auffassung vertreten. Sonst würde nämlich dieses Symposion nicht stattfinden. Nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Untersuchun bestätigen meine Behauptung, sondern auch alle in der Befehlsgebung: ADV § 6 Vergangenheit von der Pädagogischen Akademie und dem Militärkommando Steiermark gemeinsam durch- geführten Lehrveranstaltungen. Viel eher kann ein Widerspruch zwischen Befehl Gem. den Erläuterungen Abschnitt I zum § 2 StGB sind alle Rechtsnormen Verbots- oder Gebotsnormen (§ 2, und Gehorsam entstehen, als bei Gegenüberstellung des I StGB) Prinzips von „Befehl und Gehorsam“ zur Pädagogik. Jede Strafe ist ein Tadel, ein sozialethisches Unwerturteil (§ 4, I StGB) Zum Gehorsam

Ganz allgemein versteht man unter dem Begriff „Gehorsam“ beim Menschen die Ausführung oder Ein grundsätzliches Problem besteht generell darin, dass Unterlassung einer Handlung aufgrund eines Gebotes Gesetze – und seien sie noch so sorgfältig zustande gekommen – Wahrheit und Gerechtigkeit verfehlen

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 43 - können. Kommt es in diesem Bereich zu einem Konf- oder Verbotes. Das verweist über unser heutiges Thema likt, ist die Entscheidungsinstanz für ein entsprechen- des Handeln im jeweils konkreten Fall das Gewissen hinausgehend darauf, dass grundsätzlich alle Bürger der der davon betroffenen Person. Dabei geht es um ein Gehorsamspflicht gegenüber den Gesetzen unterliegen „mündiges Gewissen“ und um das Bewusstsein, dass (z.B: Steuerpflicht, Meldepflicht u.s.f.). Für Beamte es nicht nur gilt, für sich selbst zu sorgen, sondern auch für andere Verantwortung zu tragen. „Mündiges und Soldaten besteht jedoch darüber hinaus auch eine Gewissen“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Gehorsam. Für uns betroffene Person die nötige Einsicht besitzen muss, um Soldaten kommt hinzu, dass dieser Gehorsamspflicht die Situation richtig beurteilen zu können; sie bedarf eines ausreichenden Maßes an politischer Bildung. auch unter Einsatz des eigenen Lebens nachzukommen ist. Allgem. Pflichten des Soldaten ADV, §3(1): „Der Soldat hat aufgrund seiner Verantwortung für eine erfolgreiche Landesverteidigung jederzeit bereit zu sein, Zu Befehl und Gehorsam mit allen seinen Kräften den Dienst zu erfüllen. Er hat alles zu unterlassen, was das Ansehen des BH und das Vertrauen der Bevölkerung in die LV beeinträchtigen Wie Sie wissen, darf der Vorgesetzte nur solche Be- könnte. fehle erteilen, die im Zusammenhang mit dem Dienst (2) Der S. steht aufgrund der ihm übertragenen Aufgabe, stehen und wenn es der Dienst erfordert, ist er zur sein Vaterland und sein Volk zu schützen und mit der Waffe zu verteidigen, in einem besonderen Treueverhält- Befehlsgebung verpflichtet. Hingegen dürfen Befehle, nis zur Republik Österreich. Er ist im Rahmen dieses die die Menschenwürde verletzen oder deren Befolgung Treueverhältnisses insbesondere zur Verteidigung der gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würden, Demokratie und der demokratischen Einrichtungen sowie zur Disziplin, Kameradschaft, Gehorsam, nicht erteilt werden. Wachsamkeit, Tapferkeit und Verschwiegenheit ver- Jeder Unterstellte ist seinen Vorgesetzten gegenüber pflichtet.“ zu Gehorsam verpflichtet. Nicht jedoch bei Befehlen, die von einer unzuständigen Person oder Stelle erteilt worden sind oder deren Befolgung gegen strafgesetz- liche Vorschriften verstoßen würde. Derartige Befehle Angelobung für Beamte: Ich gelobe, dass ich die Gesetze dürfen nicht befolgt werden. der Republik Österreich befolgen und alle mit meinem Befehle bzw. Weisungen, das gilt ebenso für die Or- Amte verbundenen Pflichten treu und gewissenhaft er- füllen werde. gane der öffentlichen Verwaltung, haben den Kriterien der Rechtmäßigkeit und Zuständigkeit zu entsprechen. Unter Widerstandsrecht versteht man ein Abwehrrecht Entsprechen sie diesen Kriterien nicht und erfolgen des Bürgers gegenüber einer rechtswidrig ausgeübten Staatsgewalt mit dem Ziel der Wiederherstellung des trotzdem, liegt es an dem Befehlsempfänger ,,Zivilcou- (alten) Rechts. Grundsätzlich darf ein Widerstand im rage“ zu beweisen und die Befolgung des Befehles oder Rechtsstaat, wenn überhaupt, nur passiv in der Form der der Weisung zu verweigern. In einem Rechtsstaat liegt schlichten Gehorsamsverweigerung und nur gewaltlos ausgeübt werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Verantwortung für einen Befehl nämlich nicht nur der Begriff „Zivilcourage“ verwendet. beim Befehlenden, sondern auch beim ,,Befehlsemp- fänger“. Dabei gilt es insbesondere zu beachten, dass zwischen kollektivem und individuellem Verhalten bzw. Handeln zu unterscheiden ist. So beruht die Entschei- dung einen Befehl nicht zu befolgen jeweils auf der Widerstandspflicht lässt sich nur moralisch und nicht ju- Gewissensentscheidung eines einzelnen Individuums. ristisch rechtfertigen. ,,Der zweifellose Grundsatz, dass der gottgewollte Endzweck des Staates die Ordnung und Denken wir eine derartige Situation, bei welcher Wohlfahrt der Gesellschaft ist, hat in der älteren katho- der Befehlsempfänger in den Konflikt zwischen Gehor- lischen Moral und Rechtsphilosophie zu der fast allge- samspflicht und Befehlsverweigerung gerät, im Sinne meinen Folgerung geführt, dass in der höchsten Not, bei heilloser Zerrüttung des öffentlichen Wohles, das eines „Worst Case-Szenarios“ noch etwas weiter, geraten Volk als Ganzes oder in seiner ermächtigten Vertretung, wir bereits in den komplexen Bereich des Widerstan- wenn alle legalen Mittel erschöpft sind, zum Widerstand des – mit dem Recht aber möglicherweise auch mit und nötigenfalls zur Absetzung des Herrschers und Än- derung der Verfassung schreiten darf.“ / Mausbach. Wer der Pflicht zum Widerstand. Diese Problematik wird in solcher Situation über genügend Einsicht und Macht jedoch erst gegenüber einem Unrechtsregime aktuell verfügt, ist zum Widerstand verpflichtet. und konfrontiert die Betroffenen in besonderem Maße

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 44 - mit den bereits erwähnten zentralen Begriffen Gewissen und Verantwortung. Doch auch unter den Bedingungen des Rechtsstaates kann der österreichische Soldat im Rahmen von inter- nationalen Einsätzen zur Erhaltung oder Wiederherstel- lung des Friedens in ähnliche Gewissenskonflikte bei der Befolgung von Befehlen kommen. Wenn nämlich bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht die „rules of engagement“ ein militärisches Einschreiten nicht zulassen, und zwar nicht einmal im Rahmen der Nothilfe. So hat im April dieses Jahres (2000) der ehemalige A. Paul Weber UNO-Kommandant in Ruanda, der 53-jährige kana- dische General Romeo Dallaire, seinen Rücktritt ein- gereicht, weil er von seinen Erinnerungen an diesen Einsatz nicht mehr los gekommen ist. Er stand 1994 in Ruanda an der Spitze der UNO-Friedenstruppe, die dem Völkermord an mehr als einer halben Million Menschen des Tutsi-Volkes tatenlos zusehen musste. Der General hat nach diesem Einsatz den Gewis- senskonflikt zwischen dem Wunsch, Menschenleben zu retten, und dem Befehl des UN-Hauptquartiers in New York, nicht einzugreifen, als den schlimmsten Albtraum seines Lebens bezeichnet. In einem Interview sagte er, er werde die Hilfeschreie und den Anblick Tausender hingemetzelter Menschen nie mehr loswerden können. Unter der Last von Erinnerungen und Selbstvorwürfen habe er mehr als einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Er wolle sich künftig als Privatmann dafür einsetzen, dass Soldaten psychologisch nachbetreut wer- den, die bei Missionen im Ausland Szenen des Grauens erleben.

Sich dieser Fragen, Probleme und möglichen Aufgabe der Pädagogik Handlungsdimensionen bewusst zu werden sowie die Pädagogik Fähigkeit zu erlangen, sich rechtzeitig aus eigenem Das Wörterbuch der Pädagogik (Winfried Böhm 13. damit auseinander zu setzen, um nicht unvorbereitet überarb. Auflage, Würzburg 1988) sagt dazu: ,,Der im von problemhaften Situationen überrascht zu werden, Deutschen mehrdeutige Begriff Pädagogik, meint das erzieherische Handeln (einschließlich der darin wirksa- ist meiner Auffassung nach eine fundamentale Aufgabe men Wertvorstellungen Ziele, Techniken, handelnden der Pädagogik. Insbesondere im Hinblick auf die Her- Personen, ihrer geschichtlichen Grundlagen und ihres anbildung von Führungskräften, welche mit der Pflicht institutionell-organisatorischen Rahmens) und die Theorie der Erziehung (die Erziehungswissenschaft zur Auftragserfüllung auch die Verantwortung für das einschließlich ihrer Metatheorie). Hieran wird deut- Wohl und Wehe ihrer Unterstellten tragen. Hier ist die lich, Dass in der Pädagogik als praktischer Wissenschaft Pädagogik gefordert bereits in der Auswahl, Ausbildung Theorie und Praxis unlösbar verbunden sind.“ und Bildung militärischer Führungskräfte jene Akzente zu setzen, welche die unterstützenden Grundlagen für eine erfolgreiche psychologische Betreuung vor, wäh- rend und nach einem konkreten Einsatz bilden. Gemeint ist in diesem Zusammenhang eine Päda-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 45 - gogik, die sich in traditioneller, philosophisch ausge- richteter pädagogischen Reflexion mit Fragen nach dem Sinn und Maß verantwortungsbewussten Handelns, Begründung, Rechtfertigung, Möglichkeiten, Zielen und Grenzen von Bildung und Erziehung auseinan- der setzt. Eine Erziehungswissenschaft, die pädagogi- sche Probleme in Gegenstände einer rein empirischen Forschungsdisziplin zu erfassen trachtet, kann diesen Herausforderungen nicht gerecht werden. Im Bewusstsein der zahlreichen und oft kontro- versiellen pädagogischen Ansätze und der damit ver- bundenen, Bibliotheken füllenden, Literatur teile ich daher die Auffassung, dass die grundsätzlichen Ziele der Pädagogik darin bestehen, zur Wahrnehmung von Werten und zur Bewältigung der immer wieder neuen Verhältnisse zu erziehen. Erst wenn ihr das gelingt, hat sie ihre Aufgabe erfüllt: Den jungen Menschen geholfen, nicht nur zu überleben, sondern sinnvoll und würdig zu leben. Eine Ausbildung im Umgang mit neuen Medien und die Nutzung des Internet mag die Berufschancen eines Menschen erhöhen – aber wenn er nicht weiß, wozu er seinen Beruf ausübt, wird er mit Ihm nicht glücklich und nicht wirksam sein. Oberst Mag. Meu- rers, Kommandant des Stabsbataillons 7 in Klagenfurt, hat sein Pägagogikstudium 1998 abgeschlossen. Das Thema seiner Diplomarbeit lautet: ,,Der Umgang mit Befehl und Gehorsam im österreichischen Bundesheer als Problem der Wehrpädagogik“. Er weist darauf hin, dass der allgemeine, gesellschaft- liche Trend, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen, mit einer weitgehenden Ablehnung geschlossener, dog- matischer Wert- und Normensysteme verbunden ist. An Stelle einer allgemein akzeptierten Werthierarchie konkurrieren in zunehmenden Maße unterschiedliche Wertsysteme, die mit Fragen nach Sinn und Zweck verbunden werden. Klassische Grundeinstellungen, wie Disziplin, Gehorsam und Befehl, besitzen nicht mehr ihren ursprünglichen Stellenwert und werden ohne Ein- bettung in einen entsprechenden Sinnhorizont in aller Regel nur widerstrebend hingenommen. Der Mensch will in seiner gesamten Persönlichkeit angenommen werden und mit gestalten. Um sinnvoll geordnetes Mit- einander zu gewährleisten, kann auch unter dem Aspekt der Verlagerung von Werthaltungen auf Führung nicht verzichtet werden. Insbesondere unter dem Aspekt, das mit diesem so genannten Wertewandel Orientierungs- hilfen für den Einzelnen immer notwendiger werden. In seiner Arbeit setzt sich der Autor mit unterschied-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 46 - lichen Auffassungen von ,,Führen“ und ,,Erziehen“ Führungs- u. Erziehungsaufgaben: Anbieten von Orien- auseinander. Nach eingehender Analyse stellt er bei tierungshilfen beiden Begriffen so viele Übereinstimmungen fest, dass er von einem pädagogischen Ansatz ausgehend zu dem Ergebnis kommt, dass Führen von pädagogi- schem Handeln nicht zu trennen ist. Zitat: ,,Führen ist Erziehen und militärisches Führen ist es im Beson- deren, weil unter anderem die Bereitschaft abverlangt werden muss, das eigene Leben einzusetzen, was ohne entsprechende (Wert- )Haltung unmöglich ist. Der militärische Führungsvorgang kann daher nicht die bloße Abwicklung eines Entscheidungsprozesses und ausschließlich die Umsetzung seines Ergebnisses in die Tat sein. Vielmehr bedarf es daneben vor allem der Übertragung des Bewusstseins von der Notwendigkeit des entsprechenden militärischen Handelns auf jedes Mitglied der Mannschaft mittels Befehl, Lagebespre- chung oder persönliches Beispiel.“ Im Rahmen einer militärischen Führungsphilo- sophie, in welcher der Begriff ,,Führen“ zu einem Großteil analog definiert werden kann wie der Begriff ,,Erziehen“, kommt der Pädagogik im interdisziplinären Zusammenwirken zahlreicher anderer Fachdisziplinen, die sich mit Verhaltensdimensionen des Menschen auseinander setzen, eine zentrale Aufgabe zu. Eine Pä- dagogik, welche die von mir kursorisch aufgezeigten Gesichtspunkte berücksichtigt, ist daher ein integrie- rendes notwendiges Element im Beziehungsgeflecht von Befehl und Gehorsam und kein Widerspruch!

Zusammenfassung

Ich fasse das Gesagte in neun Punkten zusammen: 1. Zwischen Gehorsam und der mit der Aus- führung von Befehlen verbundenen Konsequenzen kann es eher zum Konflikt kommen als zwischen dem Werte, Normen Prinzip von Befehl und Gehorsam und der Pädagogik. Das Bundesverfassungsgesetz, das Wehrgesetz und die Allgemeinen Dienstvorschriften beinhalten auch die Verpflichtung zur Nichtbefolgung eines Befehles. Der Gehorsamspflicht nachzukommen kann daher auch bedeuten, ungehorsam handeln zu müssen. Diese Dimension der Legalität einsichtig zu machen und die Fähigkeit an Werten orientiertes Handeln und Verhalten zu vermitteln ist eine – wenn nicht die – Herausforderung der Pädagogik! 2. Eine militärische Organisation muss aufgrund ihrer Aufgabenstellung und der damit verbundenen Werte + Rechtsstaat = Legalität

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 47 - Verantwortung jedes einzelnen Soldaten für die Ge- meinschaft auf Befehl und Gehorsam aufgebaut sein. Insbesondere Soldaten müssen sich bewusst sein, dass in einem Rechtsstaat die Verantwortung für einen Befehl nicht nur beim Befehlenden liegt, sondern auch beim Befehlsempfänger. 3. Aus dem spezifischen Zweck des Soldatenbe- rufes in Österreich ergeben sich grundsätzliche Frage- Legitimität stellungen im Zusammenhang mit der Staatsverfassung, Voraussetzung: Politische Bildung internationalen Rechtsfragen, der Wehrverfassung und des Wehrsystems, der Staatsgewalt und im Besonde- ren der Legitimität von Gewaltanwendung. Diese Legitimität von Gewalt beruht darauf, dass an Stelle des „Gleichgewichts des Schreckens“, wie es während der Zeit des Kalten Krieges die Konfrontationspolitik zwischen Ost und West bestimmte, gegenwärtig ein friedenssicherndes „Gleichgewicht der Interessen aller“ angestrebt wird, das wesentlich von westlichen Wer- ten und Vorstellungen wie Humanität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft geprägt ist. 4. Die sicherheitspolitische Entwicklung der ver- gangenen 10 Jahre zeigt, dass diese „Strategie der Stabi- lität“ letztlich nur durch den Einsatz militärischer Ge- walt verwirklicht werden kann. Für das österreichische Bundesheer bedeutet dies, dass die über vier Jahrzehnte geforderte territoriale „nationale Landesverteidigung“ um internationale Einsatzaufgaben – mit einer anderen Qualität als die UNO-Missionen vor 1990 – erweitert wurde. 5. Aus dieser neuen Einsatzsituation resultiert je- doch auch, dass einerseits Gefährdungen wie Verwun- dung, Geiselnahme und Tod für den österreichischen Soldaten gegenwärtig viel wahrscheinlicher sind als vor 1990 und andererseits Erlebnisse, wie im Beispiel Ruanda erwähnt, bewältigt und verkraftet werden müssen. Um diesen neuen Einsatzaufgaben und Si- tuationen gewachsen zu sein, ist es erforderlich, dass die traditionelle Kampfaufgabe sowohl fachlich und physisch als auch psychisch besser beherrscht werden muss als zuvor. Diese Aspekte bewusst zu machen und insbesondere die Kommandanten vorbereitend hierzu zu befähigen, ist eine pädagogische Herausforderung! 6. Die Auseinandersetzung mit Fragen des po- litischen Systems und dem unserer pluralistischen Politische Bildung Demokratie entsprechenden Menschenbild bildet die Grundlage der Identität des österreichischen Soldaten und ist eine wesentliche Voraussetzung für die soziale und fachliche Kompetenz insbesondere höherer mili-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 48 - tärischer Führungskräfte. Die Vermittlung der nötigen Einsicht in die gesellschaftliche und politische Lage sowie in die Erhaltungwürdigkeit unserer rechtsstaat- lichen Rahmenbedingungen im Sinne eines „mündigen Gewissens“ ist eine pädagogische Aufgabe! 7. Die neuen Formen des Einsatzes von Streitkräf- ten bringen für den österreichischen Soldaten sowohl Menschenrechtsbeirat (04 06 2000) auf nationaler als auch auf internationaler Ebene jenen Aspekt mit sich, den die Schweizer als ,,Konstabulisie- rung“ der Streitkräfte bezeichnen. Gemeint ist damit der internationale Trend, Streitkräfte immer mehr mit Polizeiaufgaben zu betrauen. Abgesehen davon, dass die internationalen Einsätze zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens keine Kriege im Sinne des Völkerrechts sind sondern den Charakter von Po- lizeieinsätzen haben, übernehmen die im Assistenzein- satz an unserer Ostgrenze gegen illegale Grenzgänger eingesetzten österreichischen Soldaten reine Aufgaben der Gendarmerie. Somit wird auch für Soldaten die Per- spektive des humanitären Völkerrechts hinsichtlich der Gewährleistung der Menschenrechte um eine Facette erweitert. 8. Die allgemein fortschreitende Arbeitsteilung und damit Spezialisierung bringt es mit sich, dass Sachgerechte und sachbezogene Autorität Selbständigkeit, eigenes Urteil und Entschlusskraft immer mehr zur Voraussetzung einer erfolgreichen Berufsausübung werden. Die Einrückenden bringen daher diese Eigenschaften in zunehmendem Maße in den militärischen Dienstbetrieb mit. Das hat zur Folge, dass der Soldat die Autorität des Vorgesetzten innerlich in erster Linie immer mehr aufgrund der sachgerechten Ausübung seiner Funktion anerkennt. Die nur auf den Dienstgrad abgestützte Autorität dagegen besitzt kaum mehr Glaubwürdigkeit und verliert an Wirkung, weil sie nicht mehr sinnvoll begründet werden kann. 9. Für die Funktion von Streitkräften ist das Prin- zip von Befehl und Gehorsam erforderlich. Daher ist es besonders wichtig, dass die Autorität der Vorgesetzten nicht nur kraft Stellung und Dienstgrad, sondern we- sentlich auch kraft der Bewährung als Führungsper- sönlichkeit gegeben ist. Auch in der zivilen Arbeitswelt, vollzieht sich ein genereller Wandel in der Akzeptanz von Autorität; und zwar weg von einer ausschließlich in der hierarchischen Stellung des Funktionsinhabers begründeten Autorität zur sachbezogenen Autorität der jeweiligen Führungspersönlichkeit. Dies innerhalb des militärischen Berufsfeldes bewusst zu machen, ist eine wichtige Aufgabe der Pädagogik. Der Sonderlehrgang

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 49 - „Wehrpädagogisches Management“ ist hierfür ein auf die pädagogische Praxis bezogenes anschauliches Bei- spiel.

Mag. Udo Rumerskirch, Brigadier war lange Zeit Leiter der Wehrpädagogischen Abteilung der Landesverteidigungsakademie. Mit seinen Forschungen gab er auch der Militärseelsorge wesentli- che Impulse. Beim vorliegenden Text handelt es sich um ein Referat an der Pädagogische Akademie Graz am 8. Juni 2000.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 50 - Die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Soldaten (AGES): Ihr Auftrag und ihr Ziel

Heimo Sahlender

Als ich es über- ten sich damals schon der Diakonie verpflichtet. nahm, über die AGES, Außerdem waren wir uns ziemlich einig, dass wir ihren Auftrag und ihre unsere Ehepartner einbeziehen wollen. Wenigstens Ziele, zu sprechen, sah ein Ziel, dass wir eindeutig erreicht haben. ich einmal nur ein Unser Gründungsvorsitzender, der verstorbene schwarzes Loch. Erst Oberst Rudolf Wolfram, wollte die Pensionisten in nach einer längeren die AGES einbinden. Es ist ihm nicht gelungen. Phase des Überlegens Heute kämpfen wir damit , überspitzt ausgedrückt, und bewusster Hin- die Aktiven einzubinden. zuziehung des Lang- zeitgedächtnisses, das Geprägt waren diese Anfangsjahre durch unse- ja bei alten Menschen ren theologischen Berater, Militärdekan Dr. Werner besonders ausgeprägt Peyerl. Er war es, sein soll, sah ich Licht am Ende des Tunnels. der unser Glau- bensbewusstsein Die Ziele waren uns bei der Gründung ja bereits durch Andach- vorgegeben, aber die Verwirklichung erfolgt dann ten und kurze doch über verschiedene Wege. Diese waren, wenn Vorträge stärkte, ich so nachdenke durch die jeweiligen Vorsitzenden auch wenn sie vorgegeben. manchmal un- Grundsätzlich waren wir uns einig über bewuss- seren geistigen tes Evangelischsein. Wie modern im Zeichen von Horizont fast „Sichtbar evangelisch“. Ebenso wichtig war uns überstiegen, die Ökumene, nicht nur unseren katholischen wenn er uns z.B. Geschwistern gegenüber, und unsere Damen fühl- von „Gog und

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 51 - Gemeinschaft. Der Kreis, der sich davon an- gesprochen fühlte, war nicht der gleiche, der sich in späterer Folge ergab. Außerdem gab es Mitglieder, die sich davon überhaupt nicht berührt fühlten und die lieber diakonisch tätig sein und Flohmärkte oder Kleidersammlungen veranstalten wollten. Die Ära Oberst Ing. Johann Kaltenbacher schloss sich nahtlos an die eher kurze mit Obst Wolfram an. Geprägt war sie theologisch ei- nerseits weiterhin von Militärdekan Dr. Peyerl und andererseits durch die Spannungen mit Militärsuperintendent Dr. Julius Hanak, der sich nach unserer Meinung zu sehr für Zivil- diener einsetzte und zu häufig abwesend war. Zivildienst waren für uns damals immer noch Wehrdienstverweigerer. Unter Oberst Ing Kaltenbacher wurde eine bis heute bestehende Tradition ins Leben geru- fen, dass wir unsere Sitzungen immer wieder auch in zivilen Pfarrgemeinden abhalten, um einander kennen zu lernen. Grundsätzlich verstanden wir uns damals aber als „Presbyterium“ des Militärpfarrers, dessen Mitglieder in den einzelnen Kasernen, Neben zahlreichen anderen Aktivitäten äußerte sich die AGES von jeher auch zu militärethischen Fragen, hier z.B. das Strategiepapier zum Hilfestellung bei den ethischen Unterrichten Soldatenbild der Zukunft. und die Betreuung der Schaukästen überneh- men sollten/wollten. Andererseits erwarteten wir Magog“ – einem berühmten Buch Martin Bubers, aber auch die Hilfe unseres Pfarrers in AGES- über den Peyerl seine Doktorarbeit schrieb – erzähl- te. Aber er öff- nete uns damit neue Welten des Glaubens und der Glaubens- geschichte. Von ihm lernten wir Buber mit seiner Bibeleindeut- schung und die Geschichten der Chassidim kennen. Damit sto- ßen wir aber auch bereits an ein Grundpro- Das neue Präsidium der AGES 1994: Präsident Oberst Ing. Fritz Tschuden (1. Reihe, 2. v. l.) mit seinem blem unserer Generalsekretär ADir Heimo Sahlender (2. Reihe, 1. v. l.)

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 52 - Der Förderung des spirituellen Zugangs zum Christentum war immer auch ein wesentliches Anliegen der AGES. Dies geschah und geschieht in ökumenischer Form und verbindet Jung und Alt. Im Seelsorgebereich Wien werden auf Initiative der AGES seit einigen Jahren monatliche Andachten - sog. Heimwegandachten - angeboten.

Angelegenheiten. die Mitgliedschaft bei der Association of Military Nach dem frühen Tod von Oberst Ing. Kalten- Christian Fellowship (AMCF), die schließlich in bacher folgte unter Ministerialrat Dipl.Ing. Ewald der Europakonferenz dieser Vereinigung in Gosau Boresch eine besonders intensive ökumenische Pha- gipfelte. Verbunden damit war in der Ära Tschuden se. Wir besuchten das israelitische Zentrum in der sehr viel organisatorische Arbeit in unserem Seelsor- Innenstadt, das islamische Zentrum in Floridsdorf, gebereichsausschuss (SBA). Denn es ist in diesem das Bahai-Zentrum und die griechisch-katholische Zusammenhang festzustellen, dass der Vorsitzende Kirche St. Barbara. von Wien, mit Ausnahme von mir, immer auch der Präsident der Gesamt-AGES war. Unser theologischer Berater war jetzt Militärde- kan Mag. Herwig Immendörfer, der uns wirklich Das führte allerdings letztendlich zu einer ver- intensiv durch Bibelarbeiten betreute und uns ver- stärkten organisatorischen Ausrichtung auf Kosten ließ, als es gerade interessant mit ihm wurde. Ihm unserer bisherigen theologischen Arbeit und das folgte Militärkurat Mag. Julian Sartorius nach, der vergrämte, so weit ich das beurteilen kann, einige jedoch ebenfalls nur ein relativ kurzes Gastspiel bei unserer bisherigen Mitarbeiter. Es ist uns damals uns gab. auch nicht gelungen einen jungen Milizoffizier namens Karl-Reinhart Trauner, den wir gerne in Es folgte Oberst bzw. Brigadier Ing. Mag. Fritz unseren Reihen gesehen hätten, zur Mitarbeit zu Tschuden, unter dessen Führung sehr viel für inter- gewinnen. nationale Verbindungen getan wurde. Es wurden intensive Kontakte zur deutschen Corneliusverei- Die durch nichts hervorstechende Funktionszeit nigung (CoV) geknüpft und bei gegenseitigen Be- meinerseits, ich habe das Bestehende, wie ich hoffe, suchen lernten wir voneinander. Dazu gehört auch bestmöglich verwaltet, wurde durch die Übernahme der Funktion durch Oberst Reinhard Wassertheurer

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 53 - beendet. Diese Zeit ist Gegenwart und ich brauche ist Wien für mich ein Beispiel für nach innen gerich- dazu nichts weiter auszuführen. tet seelsorgerliche Arbeit und nach außen gerichtete Unsere Damen sind bei dem bisher Gesagten organisatorische Arbeit. zu kurz gekommen. Sie haben sich immer wieder Abschließend würde ich mich auf intensive De- bemüht ihre diakonischen Anliegen einzubringen batten – heute und in Zukunft – freuen. und waren damit, wenn auch nicht so erfolgreich wie gewünscht, aber doch vertreten. Heimo Sahlender, RgR ADir Hptm war bis zu seiner Ruhe- standsversetzung im Heeresmaterialamt (HMatA) beschäftigt. Aus gesamtösterreichischer Sicht zeigt sich, dass Bei der Militärseelsorge ist er als Lektor und als langjähriges es Seelsorgebereichsausschüsse gibt, die ihr Haupt- führendes Mitglied der AGES tätig. Er hielt das vorliegende augenmerk auf die diakonische Seite geworfen ha- Referat auf der Sitzung des Seelsorbegebreichs Wien der AGES am 8. November 2007.. ben und das sind in erster Linie jene Bundesländer, in denen sich große diakonische Anstalten wie in Kärnten und Oberösterreich befinden. Aber auch Niederösterreich ist dabei vertreten. Demgegenüber

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 54 - Die Entwicklung des Rundfunks in Österreich

Peter Klocko

Gabriel (zu deutsch „Held Gottes“, wörtliche Überset- zung von Gavri-El (hebr.) = „Mein Mann ist Gott“) ist der zweite der vier Erzengel und wird in der Bibel im Buch Daniel und im Lukasevangelium erwähnt. Er gilt als Ausleger von Visionen und als Bote Gottes. Er nimmt auch im Islam eine wichtige Rolle ein. Gabriels Name wird auch wie folgt interpretiert: arab. Djebrail, ; hebr. „Gott ist stark“, . Der Erzengel Gabriel ist unter anderem Schutzpatron rische und technologische Entwicklung dargestellt der Briefträger und Postboten, Müllmänner, Diploma- werden kann, so sollen doch jene Meilensteine ten, Radiosprecher und der Fernmeldetruppe. aufgezeigt werden, welche letztlich als von wesent- licher Bedeutung für den Aufbau des Rundfunks in Österreich angesehen werden können. Nachstehend wird daher in Kurzform die Geschichte der Funk- 1. Die geschichtliche technik, welche stets eng mit den militärischen Er- fordernissen verbunden war und ist, sowie der damit Entwicklung des Funks in bestehende Einfluss auf die spätere Entstehung des Radios1 in Österreich dargestellt.2 Österreich – 1912–1980 1.1. Radiotelegrafiestation am Laaerberg

Die Entwicklung des 1912 begann man mit dem Bau der zentralen Ra- Mediums „Rundfunk“ diotelegrafiestation am Laaerberg an der südlichen in Österreich kann Stadtgrenze Wiens. Diese Anlage sollte die Verbin- nicht von der techni- dung der Ministerien mit militärischen Kommanden schen und geschichtli- bzw. mit den Armee- und Marineeinheiten herstel- chen Entwicklung des len und erhielt einen 20 kW-Poulsen-Sender, der „Funks“ losgelöst be- 1916 durch einen 40 kW-Poulsen-Sender ergänzt trachtet und verstanden wurde. Da hier viele Geräte erstmals zum Einsatz werden. Wenngleich in kamen, hatte der Betrieb oft Experimentiercharakter den nachfolgenden Ab- und war stets unbefriedigend. Bis Ende 1918 wurde sätzen aus Platzgründen die Station zweimal umgebaut. nicht die gesamte histo-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 55 - Am 1. Februar 1919 nahm die Station nach der laversuche” von Josef Tuma (einem Assistenten am Betriebseinstellung durch das Kriegsende mit dem Physikalischen Institut der Universität) scheiterten, 20 kW-Poulsen-Sender den Betrieb wieder für 6 nahm die Marinesektion daher im Jahre 1898 erneut Wochen auf. Die Anlage hatte Mängel baulicher Kontakt mit Marconi auf, doch die Geschäftsbedin- Art und war daher nur als Ersatz für die Anlage in gungen der Marconi-Gesellschaft sahen weiterhin Deutsch-Altenburg vorgesehen. Die heute noch in strenge Konkurrenzklauseln vor, welche die Marine- weiten Teilen baulich unveränderte Anlage dient sektion nicht bereit war einzugehen. Es kam daher zu seitdem als Empfangsstation. einer neuerlichen Einladung an Tuma, um diesmal die Radiotelegrafie auf See zu erproben. Zwischen 19. und 22. Dezember 1898 wurden von einem 1.2. Telefunken-Sender Sender bei Fort Musil bei Pula Signale zu einem Wien-Kriegsministerium Empfänger auf einem Schiff gesendet, das vor der Küste kreuzte. Das Ziel, mindestens 15 km zu über- Am Dach des Kriegsministeriums im Zentrum brücken, verfehlte man – es waren nur 10 km. Wiens wurde 1913 ein 1,5 kW-Telefunken-Sender installiert. Ein zweiter, 4 kW starker Poulsen-Sender Im Sommer 1899 fanden Versuche mit einem in war kurz nach Kriegsbeginn 1914 installiert worden, einem Freiballon untergebrachten Empfänger statt, diente aber nur als „Besichtigungsobjekt”. während der Sender auf dem Exerzierplatz des Arse- nals in Wien aufgestellt war. Das Signal konnte bis zu Vom 25. November 1918 bis 1. Februar 1919 war einer Entfernung von 20 km aufgenommen werden. der 1,5 kW-Telefunken-Sender im Heeresministe- Mit der Marconi-Gesellschaft konnte man sich auch rium der einzige betriebsbereite Telegrafiesender in weiterhin nicht einigen, weshalb in weiterer Folge Österreich. Er wurde 1923 für Sprachübertragun- Möglichkeiten diverser Firmen ausgeschöpft und gen umgebaut und diente bis zum Sommer 1924 entsprechende Versuche unterstützt wurden.3 als Rundfunksender, ehe er wegen unzureichender Übertragungsqualität durch einen moderneren Sen- Als nach dem Kriegseintritt Italiens die Untersee- der ausgetauscht wurde. kabel unterbrochen waren, galt es Ersatz zu schaf- fen. Vor allem der Kontakt zum neutralen Spanien sollte wieder hergestellt werden. Zuerst wurde die 1.3. Großstation Deutsch-Altenburg 7,5 kW starke Marinestation in Pola (= Pula) für die Übermittlung amtlicher telegrafischer Mitteilungen 1.3.1. Die Entwicklung der Sendestation verwendet. Kommerzielle Telegramme wurden über Schon Ende 1910 legte der Leiter der Marconi- die Station des „Funken-Telegraphen-Inspektorates” Zentrale in Rom, Luigi Solari, dem k.k. Han- (FTI) in Triest übermittelt. delsministerium in Wien ein Angebot für eine Da beide Stationen für die radiotelegrafische Station vor, um Österreich Marine notwendig waren, in ein weltumspannendes Netz des öffentli- verursachte dies eine Ein- chen radiotelegrafischen Dienstes einzubinden. schränkung ihres ursprüng- Ein entsprechendes Angebot ging auch an das lichen Zwecks. Handelsministerium in Budapest. Eine Entschei- Trotz erheblicher Zwei- dung konnte aber nur in Abstimmung mit dem fel an der Wirtschaftlichkeit Kriegsministerium getroffen werden, was aber, in begann man 1915 mit den Anbetracht diverser Probleme mit der Marconi- Planungen einer „ultrapo- Gesellschaft, einer Ablehnung gleichkam. Diese tenten” Radio-Großstation, Probleme lagen vor allem in den bereits seit dem die den radiotelegrafischen Jahre 1898 geführten Verhandlungen betreffend Abb. 1: Gedenkstein Radiostation Verkehr bis nach Norda- in Wien durchzuführender praktischer Versuche, Deutsch-Altenburg (Heute merika ermöglichen und wobei die Verhandlungen als äußerst schwierig noch erhaltener Gedenkstein am Beginn der von russischen dafür 200 kW Leistung beschrieben werden und auch scheiterten. Kriegsgefangenen errichteten haben sollte. Am 2. Au- Zufahrtsstraße zur Radiostation Auf Grund des Umstandes, dass die sog. „Tes- Deutsch-Altenburg) gust 1915 fand dazu eine

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 56 - Vorbesprechung statt, in der die wirtschaftlichen fenverwaltung gestaltet. Am 18. September 1922 Aspekte hinter die strategische Bedeutung traten. erhielt eine private Gesellschaft die Konzession zum Überdies wurde die Absicht erklärt, nach Kriegsende Betrieb des kommerziellen Funkdienstes. Am 12. den Betrieb durch die „Herstellung billiger Emp- August 1923 erfolgte die offizielle Gründung der fangsstationen in größeren Städten der Monarchie „Österreichischen Marconi A.G.“, die aber schon zur Aufnahme gewisser Presse- und kommerzieller am 18. Dezember 1923 in „Radio A.G.“ Zirkularmitteilungen” rentabel zu machen. umbenannt wurde und unter diesem Namen bis vor Mitte November 1915 begannen die Bauarbeiten wenigen Jahren bestand. Die Zentrale befand sich bei Deutsch-Altenburg, etwa 40 km südöstlich von in der Wipplingerstraße, 1100 Wien. 55% dieser Wien. Um in kürzestmöglicher Zeit eine arbeitsfähi- Gesellschaft befanden sich in englischem Besitz, ge Station zur Verfügung zu haben, wurde zunächst weitere 30% hielt die österreichische Post- und die Errichtung eines provisorischen Senders mit 20 Telegrafenverwaltung. Am 14. Jänner 1924 nahm kW Leistung vereinbart. Der erste 150 m hohe Mast man den direkten radiotelegrafischen Verkehr mit wurde am 17. Jänner 1917 aufgestellt und der Sen- Berlin und London auf. Die teilweise unfertigen und der konnte bereits am 17. Mai 1916 provisorisch in veralteten Anlagen wurden um 1925 erneuert. Betrieb genommen werden. Auch in der NS-Zeit 1938 bis 1945 änderte sich Die provisorische Betriebsaufnahme in Deutsch- am Telegrafiebetrieb nichts Grundsätzliches, außer Altenburg gestaltete sich außergewöhnlich schwie- dass die Gesellschaftsanteile der „Marconi Wireless rig. Neben technischen Problemen brachte die Telegraph Comp.“ vom „Verwalter für das Feind- Frequenz von 30 kHz Probleme bei der spanischen vermögen“ betreut wurden. Der Telegrafieverkehr Gegenstation. Erst am 7. Oktober 1916 wurde der sank aber im Volumen bis Kriegsende stark ab. Das reguläre Funkverkehr mit Spanien aufgenommen. Reichspostministerium beauftragte die „Radio Aus- Kurze Zeit später ergaben sich neue Probleme, sodass tria A.G.“, den gesamten Telegrafieverkehr mit dem der Großteil des kommerziellen Telegrammverkehrs Balkan abzuwickeln. Im April 1945 wurden große über die Station des Handelsministeriums bei Bu- Teile der Anlagen in Deutsch-Altenburg von den dapest und später auch wieder über die Station der zurückweichenden deutschen Truppen gesprengt. Marine in Pola abgewickelt werden mussten. Über Innerhalb weniger Monate konnten zwar einige Deutsch-Altenburg wurde dennoch ab Anfang 1918 Anlagen wieder betriebsbereit gemacht werden, der Verkehr zu Stationen in Den Haag/Niederlande, doch es sollte bis zum 1. Februar 1946 dauern, ehe Karlskrona/Schweden und Zarskoje Selo/Russland die russischen Besatzer erlaubten, dass der Telegra- aufgenommen. fiebetrieb mit London, Paris, Moskau und New York wieder aufgenommen werden konnte. Während das Finanzministerium beim Neubau der Marinestation in Pola 1916 sehr großzügig Die wegen der Beschädigungen schlechten Be- war, war sie in Deutsch-Altenburg sehr geizig und triebsumstände konnten bis 1948 durch den Bau verlangte ständig bauliche Abstriche. Im Winter moderner Rhombusantennen verbessert werden. 1917/18 konnte mit dem Bau der festen Gebäu- Man baute in den Betriebswerkstätten in Deutsch- de begonnen werden. Bis August 1918 standen Altenburg auch eigene Kurzwellensender. Man sen- die Türme der endgültigen Antennenanlage. Der dete 1948 mit sieben Kurzwellensendern, die mit 10 Sender und die maschinentechnischen Aggregate Gegenstationen in Kontakt standen. 1953 begann konnten November/Dezember 1918 – also genau der Bau einer neuen Langwellenstation in Deutsch- zu Kriegsende – montiert werden. Altenburg. Die Inbetriebnahme des Senders erfolgte am 6. Mai 1954. Bis 1. Dezember 1958 wurde der 1.3.2. Die Radiostation Deutsch-Altenburg nach Betrieb mit sieben Gegenstationen aufgenommen. 1918 Im Herbst 1960 erfolgte schließlich der Baubeginn Nach dem 1. Weltkrieg diente die Sendestation für eine neue Sendehalle. dem kommerziellen Funkdienst mit dem Ausland. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde ein Die zugehörige Empfangsstation befand sich am 30 kW-Kurzwellensender an den Österreichischen Laaerberg in Wien. Der Betrieb wurde anfänglich Rundfunk für ihre weltweiten Kurzwellenausstrah- in stark eingeschränktem Maße von der Telegra-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 57 - lungen vermietet, wobei vorwiegend nach Nordame- das Internet-Radio. rika und in den Vorderen Orient gesendet wurde. An der technischen Entwicklung des Radios In Folge des Durchbruchs der Satellitenkommu- waren unter anderen die Österreicher E. Lechner nikation verlor der Lang- und Kurzwellendienst im (Frequenzmessung), R. von Lieben (Verstärkerröh- Laufe der 80er Jahre seine Bedeutung, sodass letzt- re), S. Strauß (Rückkopplung) und A. Meissner lich die Auflassung der Anlage in Deutsch-Alten- (Kurzwellentechnik) beteiligt. burg erfolgte. Die Antennenanlagen wurden völlig Die Bezeichnung Rundfunk bedeutet nicht, dass abgebaut und das Gelände rekultiviert. Die Gebäude Rundfunksender stets über Antennen mit Rund- dienen gegenwärtig großteils gewerblichen Zwecken strahlcharakteristik verfügen. In allen Wellenberei- (Werkstätten, Lagerräume). chen – von der Langwelle bis zur Ultrakurzwelle – werden zur besseren Versorgung bestimmter Ge- biete auch Richtstrahlantennen verwendet.10 2. Die geschichtliche 2.2. Radio in Österreich Entwicklung des von 1921–1924 Rundfunks in Österreich Nach dem 1. Weltkrieg gab es neben den Statio- nen in Wien (Laaerberg, Kriegs- bzw. Heeresministe- rium und in Deutsch-Altenburg) im heutigen Staats- seit 1921 gebiet Österreichs noch einige weitere Radiotelegrafie- anlagen. In Graz bestand seit Mitte 2.1. Der Begriff Rundfunk Mai 1915 eine stati- onäre Radiostation, Für das Verständnis zum Begriff Rundfunk die nach dem Krieg gibt es verschiedenste Erläuterungen und Defi- auf den Ruckerlberg nitionen. Als sehr gut erklärend und zutreffend (im östlichen Stadt- erscheint jedoch die folgende Erklärung: „Rund- gebiet von Graz) funk bezeichnet die Übertragung von Informa- verlegt wurde. In tionen jeglicher Art (beispielsweise Bilder, Ton, Klagenfurt, Linz, Text) über elektromagnetische Wellen, wobei die Sollenau (nördlich Informationen für die Öffentlichkeit gedacht sind von Wiener Neu- und von jedermann empfangen werden können. stadt) und St. Pölten Dies schließt auch kodierte Informationen ein, waren transportable die gegen Bezahlung entschlüsselt werden kön- Anlagen stationiert, nen. Der Begriff „Rundfunk“ wurde von dem die jedoch mangels Radiopionier Hans Bredow im November 1919 Verwendungszweck geprägt. Die Wortschöpfung geht auf das ur- großteils zerlegt sprüngliche Verfahren der drahtlosen Telegraphie Abb. 2: Sendeanlage am Dach des Heeresministeriums in Wien blieben. zurück. Zum Rundfunk gehören insbesondere der Hörfunk (Empfangsgerät: Radio) und das Für ein geplantes Fernsehen. Umgangssprachlich ist mit Rundfunk nationales Radiote- meist der Hörfunk gemeint, was jedoch technisch legrafiesystem sollten in allen Landeshauptstädten betrachtet falsch ist. Rundfunk umfasst Hörfunk Sender gebaut werden. 1920/21 war die Übernahme genauso wie Fernsehen, DAB4, DRM5 oder DVB- der militärischen Stationen und der Ersatz durch T6, sowie Fernsehen und Radio über Satellit (analog, moderne Röhrensender geplant, was aber mangels DVB-S7, ADR8, Worldspace9). Eine Sonderform ist Geld scheiterte.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 58 - Abb. 3: Senderstation des BFN in Wien

Der staatliche Telegrafendienst war technisch wie dass ein „interner Radiobetrieb“ nur mit einem kom- organisatorisch mangelhaft. Man suchte daher in merziell ausgerichteten Rundfunk möglich war. der Privatisierung eine effiziente und kommerziell Schon im August 1922 versuchte die bei der Kon- erfolgreiche Betriebsführung. Im Sommer 1921 zessionsvergabe des Auslandsnachrichtendienst gegen gab es drei Bewerber (Telefunken, Marconi und Marconi unterlegenen „Österreichische Drahtlose die französische CGTSF) für die Konzession zur Verkehrsgesellschaft m.b.H.“ (dahinterstehend Te- Durchführung des Auslandsfunkverkehrs. lefunken), „als Entschädigung“ für die entgangenen Am 13. September 1921 erfolgte auch ein An- Geschäfte den Inlands-Rundfunkdienst übertragen suchen einer Interessensgemeinschaft um die Firma zu bekommen. Für Februar 1923 war eine Betriebs- Schrack, an der auch der Jurist Oskar Czeija aus Graz aufnahme beabsichtigt. Man dachte dabei an eine beteiligt war. Die Vergabe erfolgte im Juni 1922 an Ausstrahlung von „Zirkulartelegrammen“ an einen die „Marconi Wireless Telegraph Co. Ltd.“, welche begrenzten Teilnehmerkreis, nicht aber an ein zusätz- als österreichische Niederlassung die „Österreichi- liches Unterhaltungsprogramm nach dem Muster sche Marconi AG“ gründet worden war. des amerikanischen „Broadcasting-Betriebes“. Gleichzeitig gab es erste Überlegungen für einen 2.2.1. Juli 1922 – April 1923 – Wettlauf der „Inlandsradioverkehr“ bzw. „Radio-Länderverkehr“, Konzessionäre dessen Zweck aber vorerst noch nicht klar war. Zu- Zwischen Juli 1922 und April 1923 bewarben erst dachte man an einen „Wirtschaftsfunkdienst“ sich insgesamt 12 Gesellschaften für eine Rund- nach deutschem Vorbild. Dieser wäre aber in funkkonzession in Österreich, wobei Ende Juli 1922 Österreich nicht rentabel zu betreiben gewesen jedoch zwei Konzessionswerber auftraten, die bereits und hätte überdies rechtliche Probleme mit der von Anfang an einen kommerziell ausgerichteten Marconi-Gesellschaft ergeben, die alle Rechte für Unterhaltungsrundfunk anstrebten. den Nachrichtendienst mit dem Ausland besaß. Zunächst beschloss man im Oktober 1922, auch Oskar Czeija wird gerne als der „Vater“ des Rund- den internen Radiobetrieb zu verpachten und alle funks in Österreich bezeichnet – eine Rolle, deren nichtmilitärischen staatlichen Aktivitäten im Bereich Zustandekommen er in seiner späteren Stellung als der Funktechnik einzustellen. Damit war aber klar, Geschäftsführer der ersten Rundfunkgesellschaft Ös-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 59 - terreichs (RAVAG) kräftig förderte. Die nach dem 1. gute Beziehungen zum steirischen Landeshaupt- Weltkrieg nutzlos gewordene Radiotelegrafiestation mann Rintelen und steirischen Banken zugute, auf den Ruckerlberg bei Graz wurde der steirischen womit er einen Gesinnungswandel zugunsten der Landesregierung zur Nutzung übergeben. Damit Schrack-Gruppe bewirken konnte und letztlich bekam Czeija Einblick in die Grundlagen der draht- sogar einen Wechsel der Firma Kapsch von „Ra- losen Telegrafie. Meldungen aus den USA ließen die diovox” zu Schrack erreichte. Überdies gelang es, neuen Möglichkeiten der sich rasch entwickelnden mit Hilfe der halbstaatlichen OCI-Bank ein Finan- Nachrichtentechnik erahnen und bewogen Czeija zierungskonzept zu erstellen, das neben 10% aus dazu, 1920 den Staatsdienst zu quittieren und sich dem Verkauf der Empfangsgeräte eine monatliche ganz seinem Plan zu widmen, ein kommerzielles Teilnehmergebühr vorsah. Wegen der Höhe der Unternehmen für eine öffentliche radiotelegrafische Gebühr rechnete man für das erste Betriebsjahr Nachrichtenübermittlung aufzubauen. mit nur 500 Teilnehmern. Bereits am 21. September 1921 suchte er im Am 14. April 1923 wandte man sich mit der Rahmen einer Interessengemeinschaft um eine dringenden Bitte an das Verkehrsministerium, eine Konzession für die reine Nachrichtenübermittlung provisorische Bewilligung zur Abhaltung von Ver- mit dem Ausland an, die aber im Juni 1922 an die suchssendungen zu bekommen. Für den Fall einer „Marconi Wireless Telegraph Co. Ltd.“ (später „Ra- Bewilligung versprach die Schrack-Gruppe mit der dio Austria AG“) ging. sofortigen Aufnahme des Sendebetriebs über die Durch die Verzögerungen der Behörde steigerte einzige dafür geeignete staatliche Sendestelle am die Marconi-Gesellschaft den Druck auf die heimi- Dach des ehemaligen Heeresministeriums. sche Radiounternehmen und Telefunken (vertreten 2.2.2. Bewerber für eine Rundfunkkonzession durch die „Österreichische Drahtlose Verkehrsge- 1923 sellschaft m.b.H.“). Im Frühjahr 1923 gab es die folgenden Bewerber Zwei Tage nach der Bewerbung von Janistyn, um eine Rundfunkkonzession in Österreich: reichte diese Firmengruppe unter dem Namen „Ra- l Radiovox“ (Unternehmen der österreichi- diovox“ ihr Konzessionsgesuch ein, wobei man auf schen Radioindustrie) Vorbilder in den USA und der Schweiz (Radiophon AG) verwies. Man strebte eine 30-jährige Monopol- l Drahtlose Verkehrsgesellschaft (Telefun- konzession an. Die Empfangsgeräte sollten entweder ken) selbst betrieben, vermietet oder an „Abonnenten“ l Schrack-Gruppe (Firmen Schrack und verkauft werden. Die Finanzierung sollte über Kapsch, Dozent Ettenreich, ÖCI (Bank) Lizenzgebühren aus den veräußerten Geräten und l „Atlantis“ „Abonnementsgebühren“ erfolgen. Der Staat sollte neben einer Lizenzgebühr einen 5%-igen Anteil am l Vereinigte Telephonfabriken AG Czeija, Reingewinn des Unternehmens erhalten. Nissl & Co. und Johann Kremenetzky Am 15. November 1922 ging schließlich noch l Siederer & Co. Industrie- und Handels AG ein drittes Gesuch um eine Rundfunkkonzession (aus Berlin mit Niederlassung in Wien) ein. Sie kam von einer Gruppe um den Elektroin- l Gruppe „Broadcasting“ Österreichische 11 dustriellen Eduard Schrack . Im Gegensatz zu den Radio GmbH und Leopolder & Sohn beiden anderen Konzessionswerbern strebte Schrack eine Genossenschaft als Unternehmensform an, um l Emanuel Buchinger (Redakteur mit radio- damit allen im Rundfunkbereich tätigen Firmen in technischem Hintergrund) Österreich eine gemeinsame Plattform zu bieten. l Der Industrielle Guidenus und der Natio- Wie schon ein Jahr zuvor war auch Oskar Czeija nalratsabgeordnete Heindl an der Schrack-Gruppe beteiligt, welcher nun seine l Buchverlag Wiener Literarische Anstalt guten Beziehungen zu Politikern und Geldgebern in der Steiermark auszubauen begann. l Österreichische Telefongesellschaft m.b.H. Der Schrack-Gruppe kamen Oskar Czeijas l Österreichische Marconi AG

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 60 - 2.2.3. Die Entwicklung vom April 1923 bis Sendungen von „Radio Hekaphon“ entstanden im Februar 1924 und „Piratensender“ Herbst 1923 die ersten Radiovereine und -zeitschrif- Neben den erwähnten Bewerbern ist die der Ver- ten. Es gab zu jener Zeit nämlich keinen freien Ver- einigte Telephonfabriken AG Czeija, Nissl & Co. kauf von Radioempfängern. In Österreich bestanden und Johann Kremenetzky interessant. Die beiden zwei Hersteller von Empfangsgeräten: Czeija & Nissl Unternehmen Czeija & Nissl und Kremenetzky und E. Schrack und in Wien ein einziges Geschäft hatten ein Übereinkommen mit dem Technolo- (Paul Planer), in dem, trotz strenger Rechtsvorschrif- gisches Gewerbemuseum (TGM; ein technisches ten, offen Radioempfänger zum Verkauf angeboten Gymnasium in Wien) über die Benützung der wurden. Noch immer gab es weit verbreitete Zweifel Anlagen der radiotechnischen Versuchsabteilung am Gebrauchwert des Rundfunks. geschlossen. Hier stand nämlich ein von Czeija Um die Jahreswende 1923/24 dürfte es in Wien & Nissl hergestellter 100-Watt-Sender, über den schon über 2.000 Empfangsgeräte gegeben haben, man ein Programm auszustrahlen beabsichtigte. wovon nur ein Teil Neugeräte waren. Viele ehema- Doch schon vom 1. April 1923 sendete man spo- lige Radiotelegrafisten waren in der Lage, selbst radisch vom Firmengeländen von Czeija & Nissl Geräte zum Empfang der Rundfunksendungen in der Dresdnerstraße in Wien unter dem Namen herzustellen. Es gab auch noch eine große Anzahl „Radio Hekaphon“ auf „Welle 600“ (= 500 kHz). an Feldapparaten, die nun umgebaut wurden. Am Die Station war ein Einmannbetrieb des engagierten 4. Januar 1924 gab es auch in Graz Sendevorfüh- Technikers von Czeija & Nissl, Oskar Koton. rungen des Steirischen Radioclubs mit einem Czeija Die beiden Unternehmen waren mit amerika- & Nissl-Sender, die auf Grund der staatlichen Re- nischen Elektrokonzernen liiert: An Czeija & Nissl glementierung allerdings illegal waren. war die Western Electric Company beteiligt, Kre- 2.2.4. Februar 1924 – Oktober 1924 – „Ordnung menetzky hatte wiederum ein Patent- und Lieferü- muss sein“ bereinkommen mit General Electric. Es lag daher in Die Gründung einer Betreibergesellschaft für den der Natur der Sache, dass die beiden Unternehmen Rundfunk wurde – wie in Österreich nicht gerade ein Konzept nach US-Vorbild verfolgten. Dank der unüblich – zu einem Politikum. Da es vornehmlich Patentrechte konnte man sofort mit der Produktion um die Finanzierung des neuen Mediums ging, spiel- von Empfangsgeräten beginnen. Durch die Anmie- ten bei den Verhandlungen Banken die Hauptrolle. tung der Anlagen im TGM hatte man die Möglich- Man „vergaß“ daher, den Sozialdemokraten – der keit, sofort mit Versuchssendungen zu beginnen, da bestimmenden politischen Kraft in Wien – ein das TGM seit dem 30. Mai 1921 die Erlaubnis zum entsprechendes Mitspracherecht einzuräumen. Die Betrieb eines Versuchssenders besaß, der allerdings mühsam erstrittene Organisationsstruktur des künf- nur für Mess- und Demonstrationszwecke im Schul- tigen Rundfunks war wieder in Frage gestellt. Auch betrieb verwendet werden sollte. die kommerzielle Ausrichtung des Rundfunks wurde Die Telegrafenverwaltung lehnte daher diese angezweifelt und eine Beteiligung öffentlicher Kör- forsche Vorgangsweise ab und bezeichnete – nicht perschaften gefordert bzw. sogar der Betrieb durch zuletzt auf Grund der in Österreich bestehenden eine staatliche Firma. Technikfeindlichkeit – die Versuchssendungen als Durch die Testsendungen von „Radio Heka- „groben Unfug“. Erst nach 9 Monaten konnte phon“ ab Dezember 1923 entstand eine verwor- man sich zur Rechtsauffassung durchringen, dass rene Situation in welcher die Generalpostdirektion der Sender stillzulegen sei. Damit wurde der ameri- zu vermitteln versuchte, z.B. mit dem Vorschlag, kanische Einfluss auf einen vom Staat unabhängigen die künftige RAVAG solle den Sender von „Radio zukünftigen österreichischen Rundfunk abgeblockt, Hekaphon“ übernehmen. Unmittelbar nach Ertei- während im Ausland amerikanische Investitionen lung der Konzession am 19. Februar 1924 an die willkommen waren. künftige RAVAG stellte aber Czeija & Nissl ihre Die quasi erste offizielle Rundfunksendung Ös- Versuchssendungen vorübergehend ein und for- terreichs fand am 2. September 1923 anlässlich der derte die Konzessionsinhaber zur Übernahme des Eröffnung der Wiener Herbstmesse statt. Infolge der Senders auf, verlangte dafür aber eine sehr hohe

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 61 - Geldsumme. Die Konzessionsinhaber lehnten dies Oskar Czeija auf eigene Rechnung bei Telefunken in ab. In der Folge wollte auch die Firma Kapsch ihren Berlin um den Betrag einer halben Milliarde Kronen Sender vorübergehend der künftigen RAVAG zur (Inflation!) einen neuen Sender, der Ende Juli 1924 Verfügung stellen. Da auch Kapsch nicht Teilha- in Wien eintraf. ber des künftigen Rundfunkbetreiberkonsortiums Am 21. Juli 1924 wurde der Generalpostdirekti- war, lehnte man auch diesen Vorschlag ab und on das definitive Konzept zur Aufnahme des regu- die Konzessionsinhaber versuchten so rasch wie lären Programmbetriebes vorgelegt und genehmigt. möglich, eine Sendemöglichkeit über staatliche Vorerst waren umfangreiche technische Umbauten Einrichtungen zu schaffen. Insbesondere war dabei notwendig, wozu auch der Austausch des Senders an den 1 kW-Telefunken-Sender im Dachgeschoss gehörte. Dafür wurde der alte Sender am 5. August des ehemaligen Kriegsministeriums gedacht, der 1924 abgeschaltet. einfach für die Ausstrahlung von Sprachsendungen zu adaptieren war. Am 27. August 1924 ging der neue Sender im Heeresministerium in Betrieb und damit rechtzeitig Die erste Versuchssendung fand am 27. März vor Eröffnung der Wiener Herbstmesse, konnte der 1924 statt. Allerdings war dieser Sender auch für den neue Sender damit erstmals mit Versuchssendungen Funkverkehr des Flugplatzes Aspern in Benützung. beginnen, während der „Hekaphon“-Sender nach Daher war die Generalpostdirektion nicht bereit, über einem Jahr Tätigkeit am 1. September 1924 diesen Sender an die künftige RAVAG, welche schon endgültig seinen Betrieb einstellte. für den 1. Juli 1924 die Aufnahme des regulären Programmbetriebes anstrebte, zu übergeben. Erst Am 7. September 1924, am Tag an dem die auf politischen Druck hin, konnte die Generalpost- Wiener Herbstmesse eröffnet wurde, begann die direktion dazu bewogen werden, die Benützung des RAVAG mit einem mehrstündigen täglichen Mu- Senders für tagsüber 1 Stunde und abends ab 18 sik- und Vortragsprogramm. Am 30.September Uhr zu gestatten. Am 10. März 1924 strahlte Radio 1924 fand die konstituierende Generalversamm- „Hekaphon“ das erste Rundfunkkonzert aus. lung der RAVAG statt, bei der Oskar Czeija zum Generaldirektor bestellt wurde. Da der Probebetrieb In Österreich gab es 1924 bereits etwa 30.000 in den Monaten August und September erfolgreich Empfangsgeräte, was zu einem überwältigenden verlief, konnte am 1. Oktober 1924 der reguläre Erfolg des neuen Mediums führte. Sendebetrieb aufgenommen werden. Bis Mai 1924 konnten die – vorerst proviso- rischen – technischen Umbauten zur Aufnahme eines Programmbetriebes im Dachgeschoss des 2.3. Die RAVAG bis 1938 ehemaligen Kriegsministeriums durchgeführt wer- Die Radio Verkehrs AG (RAVAG) wurde als ers- den. Es war der Boxkampf zwischen Dempsey und te österreichische Rundfunkgesellschaft gegründet, Carpentier am 14. Mai 1924, der die Gelegenheit womit Wien den 18. Rundfunksender in Europa für eine erste große Sendung bot. Die Resultate die- hatte. Studio und erster Sender waren im Gebäude ser Versuchssendung waren ernüchternd, vor allem des Heeresministeriums am Wiener Stubenring war die Übertragungsqualität sehr mangelhaft. Ab- untergebracht. wechselnd mit dem Versuchssender im TGM (Radio „Hekaphon“) wurden über mehrere Stunden täglich Mit 1. Oktober 1924 nahm die RAVAG den Versuchssendungen ausgestrahlt. Sendebetrieb auf „Welle 530“ (= 566 kHz) auf. Trotz der geringen Sendeleistung von 350 Watt Am 14. Juli 1924 wurde die RAVAG (Radio-Ver- stieg die angemeldete Radio-Hörerzahl innerhalb kehrs-AG) offiziell gegründet und Oskar Czeija zum von 4 Monaten von 11.000 auf über 100.000 an. ihrem Geschäftsführer bestellt. Etwa zur selben Zeit Wien gehörte damals allerdings mit beinahe 2 Mil- konnte bezüglich der Sender eine Einigung erzielt lionen Einwohnern zu den 10 größten Städten der werden und die RAVAG erhielt die alleinigen Rechte Welt. Im Weihnachtsgeschäft 1924 waren Kopfhörer zur Nutzung des Senders im Kriegsministeriums. der große Renner und wurden zur Mangelware. Die Da schon bei den ersten Sendeversuchen im Mai Sendeleistung wurde auf 700 Watt verdoppelt und in erkannt wurde, dass der Sender veraltet war, bestellte Graz, der Heimatstadt Oskar Czeija, wurden die Ar-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 62 - beiten zur Errichtung eines Senders aufgenommen, Rundfunkversorgung des Landes auf Mittelwelle der am 30. März 1925 in Betrieb ging. Auch für zu einem permanenten Problem. Meist waren die Klagenfurt und Innsbruck wurden Sender bestellt. zugeteilten Frequenzen zu hoch (dadurch geringere 1926 übersiedelte die RAVAG aus dem behelfs- Reichweite der Bodenwelle) und die Sendeleistun- mäßigen Studio im Heeresministerium in die Johan- gen zu gering. nesgasse in Wien, wo das erste Funkhaus entstand. Zur politischen Neutralität verpflichtet, musste 1935 wurde mit dem Bau des heutigen Funkhauses die Österreichische Radio-Verkehrs-Aktienge- in der Argentinier Straße begonnen. sellschaft ihre Nachrichten von der Amtlichen Nachrichtenstelle übernehmen. Am 25. Juli 1934 wurden die Sendeanlagen in der Johannesgasse 2.4. Der Aufbau des Sendernetzes von nationalsozialistischen Putschisten, die als in Österreich Bundesheersoldaten verkleidet waren, besetzt. Eine Erklärung, dass Bundeskanzler Engelbert Dollfuß Am Rosenhügel, einer Erhebung unweit des zurückgetreten sei, wurde verlesen. In den nachfol- Schlosses Schönbrunn und des heutigen ORF-Zen- genden Kämpfen wurden Teile der Sendeanlagen trums, wurde 1925 mit dem Bau eines Großsenders zerstört und mehrere Personen getötet. begonnen, der am 30. Jänner 1926 den Betrieb auf 590 kHz aufnahm. Bereits im Sommer 1927 wurde Im Dezember 1936 wurde der 1935 begonnene mit dem Umbau zur Verdoppelung der Sendeleis- Bau des Funkhauses in der Argentinierstraße abge- tung begonnen und am 8. Mai 1928 nahm die schlossen. erweiterte Anlage den Betrieb auf. Im Juni 1926 entschied der Oberste Gerichts- 2.5. Österreich unter Fremdkontrolle hof, dass jeder Rundfunkteilnehmer das Recht auf Errichtung einer Empfangsantenne hätte. Zwischen 2.5.1. „Sendepause“ für Österreich – 1939– 1926 und Sommer 1930 wurde auch versuchsweise 1945 ein Bildfunk gesendet. Dieser musste aber mangels Nach dem „Anschluss“ im März 1938, wurde die Zuspruch eingestellt werden. 1929 wurde auch (mit RAVAG liquidiert und an den „Reichsrundfunk“ 40 Watt vom Rosenhügel) mit der versuchsweisen angegliedert. Die Österreichische Radio-Verkehrs- Ausstrahlung von Kurzwellensendungen begon- Aktiengesellschaft wurde der deutschen Reichsrund- nen. funkgesellschaft unterstellt, die in der Folgezeit das Im Frühjahr 1928 wurde das Fernkabel Wien- gesamte Aktienpaket der RAVAG um 666.667 RM Linz-Salzburg-Innsbruck fertig gestellt, womit die aufkaufte. Alle technischen Einrichtungen wurden qualitativ einwandfreie Programmversorgung der von der Deutschen Reichspost erworben, sodass die neuen Sender in den Landeshauptstädten gewähr- Österreichische Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft leistet war. Schon mit Beginn 1927 konnten in Kla- im August 1939 im Handelsregister gelöscht wurde. genfurt und Innsbruck Sender in Betrieb genommen Die Reichspost wiederum bezahlte für Sendeanlagen werden, Linz folgte im Juni 1928 und Salzburg im und Liegenschaften 2,8 Mill. RM als Ablöse. Das Dezember 1930. Nur Vorarlberg musste noch bis Rundfunkwesen erfuhr eine völlige Neuorganisation: 1934 auf einen eigenen Sender warten. Der Haupt- Der Sendebetrieb wurde vom Reichssender Wien der grund war, neben dem Umstand, dass das Fernkabel deutschen Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (seit 1939 aus Wien erst bis zum Bodensee verlängert werden „Großdeutscher Rundfunk“) übernommen. musste, dass erst ab diesem Zeitpunkt eine höhere Die Sender Innsbruck und Salzburg kamen zum Sendeleistung verfügbar war, was für das Rheintal Reichssender München, der Sender Dornbirn zum in Vorarlberg unabdingbar war. Reichssender Stuttgart, Linz und Graz blieben dem Am 28. Mai 1933 nahm der 100-kW-Großsen- Wiener Reichssender zugeordnet. der Wien-Bisamberg den Betrieb auf. Der „Reichsrundfunk“ errichtete in Dobl bei Die Topografie von Österreich (2/3 Gebirge) und Graz einen starken Sender einer Serie, die zur Ver- die meist schlechte Bodenleitfähigkeit machten die breitung von Fremdsprachenprogrammen für das

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 63 - Ausland dienten. Zudem wurden in der Steiermark Dach des intakt gebliebenen Funkhauses mit ei- und Kärnten insgesamt zehn Kleinsender mit 100 nem provisorischen Sender von 30 Watt Leistung Watt Leistung gebaut, die gemeinsam mit den mit Sendungen und darüberhinaus kam auch ein stärkeren Sendern in Graz und Klagenfurt auf der 200-Watt-Sender am Dach des Lagerhauses der „Ostmärkischen Gleichwelle“ 1285 kHz sendeten. Österreichischen Tabakregie in der Thaliastraße, Zu Kriegsende wurden alle Sendeanlagen in Wien 16.Wiener Gemeindebezirk, zum Einsatz. Ende zerstört. Der Sender am Bisamberg war zwar von den Mai konnte der Sender am Funkhaus auf 1,2 kW Bombenangriffen verschont geblieben, wurde aber verstärkt werden. Es wurde täglich 10 Stunden, am am 13. April 1945 von der SS gesprengt. Sonntag 13,5 Stunden gesendet. Ab 11. Juni 1945 wurde das Programm auch über zwei Kurzwellen- 2.5.2. Die Entwicklung nach 1945: Der Weg sender am Dach des Funkhauses ausgestrahlt, da die zum ORF schwachen Mittelwellensender kaum das Stadtge- Nach dem 2. Weltkrieg wurden sämtliche Rund- biet von Wien versorgen konnten. Bis Anfang 1946 funkeinrichtungen als deutsches Eigentum unter konnte die Leistung des Senders am Funkhaus sogar öffentliche Verwaltung gestellt. Am 24. April 1945 auf 10 kW gesteigert werden, womit das Signal zu- nahm die RAVAG ihren Betrieb wieder auf. 1958 mindest in Wien und dessen Umland ausreichend ging aus ihr der ORF hervor. stark war. 1945 bis 1954 sendeten in Österreich Radio Nach Aufteilung Wiens in vier Besatzungszonen Wien (sowjetische Zone), die Sendergruppe Al- etablierten die Russen, Amerikaner und Briten eige- penland (britische Zone), Rot-Weiß-Rot (amerika- ne Sender für die österreichische Zivilbevölkerung. nische Zone) und West (französische Zone). 1955 Zusätzlich errichteten die Amerikaner und Briten wurden die Sendergruppen im „Österreichischen Sender für ihre Truppen. Rundspruchwesen“ wieder vereinigt, das jedoch 2.5.4. Betriebsbereite Rundfunksender in Öster- erst 1958 in der Österreichischen Rundfunk Ges. reich bei Kriegsende m. b. H. eine neue Organisationsform fand. Diese wurde 1967 vom ORF abgelöst, der 1998 13 Radi- Für einen Rundfunkbetrieb standen nach Kriegs- oprogramme (Ö1, Ö3, , FM4 ende in Österreich, insgesamt 17 betriebsbereite und die neun Regionalprogramme) sowie einen Rundfunksender mit teilweise sehr unterschiedli- Kurzwellendienst betreibt. chen, meist aber eher geringen Sendeleistungen zur Verfügung: 1993 wurde das Radiosendemonopol des ORF durch das Regionalradiogesetz aufgehoben. Auf 2.5.5. Russische Zone Basis dieses Gesetzes (Regionalradio) hat die beim In der russischen Zone (= Niederösterreich, Teil Bundeskanzleramt eingerichtete Regionalradiobe- von Wien, Oberösterreich nördlich der Donau, Bur- hörde bis 1998 53 Lizenzen (zehn regionale und 43 genland, bis Juli 1945 auch Steiermark und Kärnten) lokale) für kommerzielles Radio vergeben. Für den wurden die beiden Sender am Funkhaus und in der Betrieb von Radiogeräten ist eine Genehmigung er- Thaliastraße übernommen. Ab 23. Dezember 1945 forderlich, für welche auch Genehmigungsgebühren, wurde ein 2. Programm über den Sender in der Tha- Teilnehmerentgelte und andere Abgaben eingehoben liastraße ausgestrahlt. werden. Die Zahl der angemeldeten Radiogeräte Erst am 15. März 1950 konnte am Bisamberg ein stieg bis 1998 auf 2,8 Millionen (1998). Provisorium mit ungefähr 35 kW wieder den Sende- Ausgestrahlt wurde das Programm anfänglich betrieb auf 584 kHz aufnehmen. Zudem wurde ein über Mittel- und Langwelle, seit 1953 auch und Sender, der schon 1945 vom Reichsrundfunk für ein seit 1995 fast ausschließlich über Ultrakurzwelle. 2. Programm beschafft worden war, am Standort in Der Mittelwellensender Bisamberg ist seit 1997 der Thaliastraße aufgestellt und bis 1950 von den wieder in Betrieb („Radio 1476“). Technikern von „“ auf eine Leistung 2.5.3. Ein Land – acht Sender – 1945–1955 von 10 kW gebracht, wobei ein 2. Programm auf 1312 kHz ausgestrahlt wurde. Später musste aber Schon am 29. April 1945 begann man vom offenbar aus technischen Gründen die Leistung ver-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 64 - ringert werden, sodass bis zur Betriebseinstellung am unter dem Namen „Armed Forces Radio Service“ 28. Juli 1955 mit 2 kW gesendet wurde. bekannt. Später im Jahre 1942 wurde es zum Pro- 2.5.6. Amerikanische Zone gramm „American Forces Network“ (AFN) mit seinem ersten Sitz in Los Angeles (derzeit March In der amerikanischen Zone (= Salzburg, Obe- AFB, CA). Im Jahre 1943 begann die Sendetätigkeit rösterreich südlich der Donau, Teil von Wien, bis in Europa von London aus. Im Jahre 1945 standen Sommer 1945 auch Tirol) begann die Sendergruppe bereits mehr als 306 Rundfunksender in der ganzen „Rot-Weiß-Rot“ mit Sendungen. Nachdem „Rot- Welt unter der Kontrolle von AFN.12 Die Sender Weiß-Rot“ schon seit dem 6. Juni 1945 aus Salzburg AFN/BDN wurden im 3. Quartal 1955 abgeschaltet und Linz sendete, wurde am 17. November 1945 in (Linz 14.8., Wien 28.8., Salzburg 14.10.) und die Wien ein eigenes Studio errichtet. Anfänglich wurde Anlagen demontiert. ein 1 kW starker Sender des Militärs benützt, der auf der Sulzwiese am Kahlenberg aufgestellt war. 2.5.8. Britische Zone – British Forces Net- Dieser Standort lag aber unmittelbar an der Grenze work (BFN) zur russischen Zone, sodass kurze Zeit später der Die Briten errichteten für ihre stationierten Standort des Armeesenders WOFA in Grinzing Truppen in Klagenfurt (= Hauptstudio), Graz, mitbenützt wurde. Wien sowie 1954 in Zeltweg (Flughafen) eige- Das Programm von „Rot-Weiß-Rot“ war für da- ne Sender. Diese Stationen sendeten aber auch malige Verhältnisse geradezu revolutionär, da viele deutschsprachige Programme. In der britischen Elemente der Programmgestaltung aus den USA Zone (= ab Juli 1945 Steiermark, Kärnten, Teil zur Anwendung kamen. 1949 kamen z.B. erstmals von Wien) wurde ab mit 31. August 1948 die „Disc-Jockeys“ zum Einsatz. Die Amerikaner errich- „Sendergruppe Alpenland“ mit Stationen in teten schließlich auf dem Wilhelminenberg einen Graz und Klagenfurt gebildet. Erst am 1. März 100 kW-Sender zur Versorgung der umliegenden russischen Zone, der im August 1951 in Betrieb 1948 nahm in Wien ein 0,25 kW-Sender bei ging. Immerhin hatte „Rot-Weiß-Rot“ in Wien eine Schönbrunn den Betrieb auf, der später auf 1,5 Einschaltquote von rund 75%. kW verstärkt wurde und bis zum 27. Juli 1955 eigene Sendungen ausstrahlte, ehe er für Sen- 2.5.7. Blue Danube Network (BDN) dungen des 1. Programms des Österreichischen In ihrer Zone errichteten die amerikanischen Rundfunks verwendet wurde. Streitkräfte bald eigene Sender zur Versorgung ih- rer Soldaten. Die ausschließlich englischsprachigen Die Sender in Graz und Zeltweg wurden am Programme brachten zu jeder vollen Stunde Nach- 10. September 1955, die Stationen Klagenfurt richten (u.a. vom AFN Newsroom in Frankfurt). und Wien am 25. September 1955 abgeschal- Studios wurden in Salzburg (KZCA), Linz (KOFA) tet. und Wien (WOFA) eingerichtet, wobei allerdings 2.5.9. Französische Zone sämtliche Sender gleichgeschaltet waren und nur morgens und frühabends regionale Eigenprogramme In der französischen Zone (= Tirol, Vorarlberg, gesendet wurden. Teil von Wien) wurde im Sommer 1945 die „Sen- dergruppe West“ mit den Stationen Innsbruck und Das Radio bzw. der Rundfunk war auch für die Dornbirn gebildet, nachdem die Franzosen erst im USA ein wichtiges Werkzeug zur Propaganda im Juli die Amerikaner als Besatzungsmacht in Tirol Ausland geworden. Zu Beginn mehr über Kurz- und Vorarlberg ablösten. Die „Sendergruppe West“ welle und mit hohen Sendeleistungen ins Ausland (Innsbruck, Dornbirn) in der französischen Besat- übertragen wurden. Aber bereits im Jahre 1942 zungszone wurde 1955 in den Österreichischen wurde auch ein Rundfunksystem für die eigenen Rundfunk eingegliedert, nachdem die Stationen in Streitkräfte geschaffen. Die Idee hiezu stammte den anderen drei Besatzungszonen diesen Schritt von Thomas H.A. Lewis. Diese Programme wur- schon am 15. März 1954 vollzogen hatten. den unabhängig voneinander sowohl für das Heer wie auch die Marine geschaffen und war zunächst

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 65 - 2.6. Neubeginn – 1955 Orte, die durch die Hauptsender ungenügend versorgt waren, ein Mit dem Abzug der Alliierten besseres Signal zu bescheren. wandelte sich die Rundfunkstruk- Insgesamt war die Rundfunk- tur. Der österreichische Rundfunk versorgung Österreichs nach 1945 verbreitete ein nationales und ein äußerst schlecht. Bemühungen, be- regionales Rundfunkprogramm auf stehende Sender zu verstärken bzw. Mittelwelle und ein 3. Programm neue Sender höherer Leistung zu („Versuchsprogramm“) auf UKW. errichten, blieben über viel Jahre Schon am 15. März 1954 wurde weitgehend erfolglos, da nicht Radio Wien mit den Sendergrup- nur internationale Übereinkom- pen Alpenland und „Rot-Weiß- men beachtet werden mussten, Rot“ zum Österreichischen Rund- sondern auch eine Genehmigung funk vereint. Die „Sendergruppe der 4 Besatzungsmächte notwendig West“ mit den Landessendern war. Diese benötigten aber selbst Innsbruck und Dornbirn in der Abb. 4 und 5: Sender Aldrans 1957 (o.) und MW-Sender Bisamberg (u.) viele Frequenzen und hatten für französischen Zone wurde erst die Interessen Österreichs zum 1955 eingegliedert. Lediglich der Zweck einer besseren Rundfunk- „Rot-Weiß-Rot“-Sender am Wilhelminenberg auf versorgung wenig Verständnis. 755 kHz strahlte noch bis zum Ende der Besat- zungszeit am 28. Juli 1955 ein eigenes Programm 1950 begann man daher mit der Errichtung einer aus. Es wurde auch versucht, „Rot-Weiß-Rot“ als großen Anzahl von Mittelwellen-Kleinsendern, für Privatsender weiter zu führen, was aber auf Grund die eine Genehmigung einfacher zu erhalten war, um der damaligen Rechtslage scheiterte. wenigstens die größeren Orte ausreichend versorgen zu können. Zunächst kamen umgebaute Kurzwellen- Ab 18. Juli 1954 wurde das regionale (1.) Funkgeräte der Deutschen Wehrmacht, welche nach Programm vom Sender Bisamberg zunächst auf Kriegsende zahlreich vorhanden waren, zum Einsatz. 566 kHz gesendet. Für das nationale (2.) Programm Eine vom Österreichischen Rundfunk und der hei- standen anfänglich nur ein von den Briten übernom- mischen Industrie veranlassten Entwicklung eines mener 1,5 kW-Sender in Schönbrunn auf 520 kHz 50 Watt-Kleinsenders ermöglichte es etwas später, (bis zum 11. Dezember 1955 in Betrieb) und der eine sehr wirtschaftliche Sendertype zu entwickeln, 2 kW-Sender in der Thaliastraße auf 1475 kHz zur die vollautomatisch arbeitete und nur alle 2 Monate Verfügung (bis zum 28. Juli 1955 in Betrieb). Vom gewartet werden musste. Diese Kleinsender wurden 29. Juli 1955 bis zum 17. August 1959 wurde für zumeist in öffentlichen Gebäuden aufgestellt und das 2. Programm der ehemalige „Rot-Weiß-Rot“- verfügten über eine einfache Drahtantennenkons- Sender am Wilhelminenberg benützt, wobei mit truktion. einer Leistung von 25 kW gesendet wurde. Diese Sender wurden teilweise von der Post- 2.6.1. Mittelwellen (MW)-Kleinsender verwaltung betrieben und hatten unter günstigen Die Rundfunkversorgung Österreichs auf Mittel- Bedingungen eine Reichweite von 10 bis 15 Ki- welle war wegen der gebirgigen Topografie ein gro- lometern. Schon Ende 1954 waren für das (1.) ßes Problem. Standorte in den Tälern hatten zwar oft Regionalprogramm 49, für das (2.) Nationalpro- eine günstige Bodenleitfähigkeit, die Wellenausbrei- gramm 5 Kleinsender in Betrieb. Ende 1957 gab tung wurde aber durch die hohen Berge erschwert. es 60 Kleinsender (alle für das Regionalprogramm Auf den Bergen wiederum war die Bodenleitfähig- eingesetzt), von denen 30 von der Postverwaltung keit sehr schlecht. Große Teil Österreichs führten betrieben wurden. daher funktechnisch im wahrsten Sinne des Wortes Zwischen 1965 und 1966 gab es einen wahren ein Schattendasein. Schon der „Reichsrundfunk“ er- Bauboom mit über 50 neuen MW-Kleinsendern. richtete in der Steiermark und Kärnten insgesamt Bis Ende 1968 stieg die Anzahl der MW-Sender 10 Kleinsender von 100 W Leistung, um größere schließlich auf den Höchststand von 170, wovon

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 66 - 152 Kleinsender waren. Aufbau von zunächst provisori- Dennoch konnte 1957 etwa schen UKW-Sendeanlagen. Am ein Viertel der Bevölkerung Öster- 26. Juni 1953 um 13 Uhr wurde reichs die Rundfunkprogramme des z.B. am Standort Linz-Freinberg eigenen Landes nicht oder nur in die erste Versuchssendung ausge- sehr schlechter Qualität empfan- strahlt. gen. Nachts und im Winter, wo Der erste UKW-Sender Öster- die Raumwellenausbreitung do- reichs entstand 1953 auf der Aus- miniert und damit Störungen weit sichtsplattform der Stephaniewarte entfernter Stationen deutlicher auf- am Kahlenberg nördlich von Wien. treten, war gar nur etwas mehr als Gesendet wurde ab 6.September die Hälfte der Bevölkerung in der 1953 zunächst das 3. Programm Lage, die österreichischen Program- auf 99,9 MHz mit 10 kW. 1954 me gut zu empfangen. Dieser Um- kam ein Sender mit 3 kW Leistung stand war der Hauptgrund dafür, für das 1. Programm auf 95,8 MHz sich künftig verstärkt dem Ausbau dazu. des UKW-Sendernetzes zu wid- Es folgte Klagenfurt-St. Peter men. Damit begann der Rückbau (93,0 MHz 1 kW). Eigentlich der MW-Kleinsender. Ende 1971 sollte das Programm schon am gab es 158 MW-Sender, davon 140 26.Juni 1953 auch über die Sender Kleinsender, bis 1976, ein Jahr vor Linz-Freinberg (99,3 MHz 1 kW) Abschaltung der MW-Sender von und Salzburg-Gaisberg (94,8 MHz Österreich-Regional, ging die Zahl 1 kW) ausgestrahlt werden, doch auf 139 Anlagen (121 Kleinsender) ein Einwand der US-Besatzungs- zurück. behörden verhinderten dies. Das 2.6.2. Der Aufbau des UKW- UKW-Programm wurde nämlich Sendernetzes in Wien zentral zusammen gestellt Beim „Europäischen Rund- und dann wegen des Fehlens einer funkabkommen Stockholm 1952“ qualitativ geeigneten Übertra- wurde die Frequenzzuteilung im gungsmöglichkeit (Richtfunk gab UKW-Bereich festgelegt. Mit 1. es noch nicht, Ballempfang war Juli 1953 bekamen diese Regelun- wegen der Entfernung nicht mög- gen Gültigkeit und damit konnten lich, Telefonkabel boten zu geringe auch in Österreich UKW-Sender Tonqualität) als Tonbänder zu den errichtet werden. In den Gebirgs- Senderstandorten verschickt und gegenden war UKW in allen Be- dort zeitgleich abgespielt. Die langen der Mittelwelle überlegen. Stationen in den Bundesländern Man konnte unabhängig von der gestalteten die Programmbeiträge, Bodenleitfähigkeit Sender auf Ber- welche aufgezeichnet und nach Wien gesandt wurden. ge und Anhöhen stellen, wobei die Abb. 6, 7 und 8: UKW-Sender Stephanie- Standorte auch für Fernsehsender warte 1953, Sendeanlage Kahlenberg In Folge des Kalten Krieges benutzt werden konnten. Das 1957, Sendeanlage Kahlenberg 2006 fürchteten nun die Amerikaner, Hauptproblem war allerdings, dass dass auf diese Weise kommunisti- es noch wenige Radioapparate mit sche Propaganda in der US-Zone UKW-Empfangsteil gab. Ende 1957 besaßen aber zur Ausstrahlung gelangen könne. Erst nach einer bereits etwa 40% der in den Haushalten vorhande- mehrwöchigen Beobachtung des UKW-Programms nen Radios eine UKW-Empfangsmöglichkeit. kamen die US-Besatzungsbehörden zur Überzeu- Schon Anfang 1953 begannen die Arbeiten zum gung, dass Österreich die Programmgestaltung

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 67 - fest im Griff hätten und keinerlei jene am 1287 m hohen Gaisberg kommunistische Unterwanderung bei Salzburg fertig. Sie ging am festzustellen wäre. Am 27. Septem- 22.August 1956 in Betrieb, nach- ber 1953 begannen daher auch in dem auch von diesem Standort Linz und Salzburg die UKW-Sen- ab 1953 über eine provisorische dungen. Am 15. Dezember 1953 Anlage ein UKW-Programm aus- erfolgte die Inbetriebnahme der gestrahlt wurde. UKW-Sender Graz-Schöckl (91,2 Im Hochgebirge gestaltete sich MHz 1 kW) und Innsbruck-Land- der Bau von Großsendeanlagen haus (88,5 MHz 0,3 kW). sehr aufwendig. Am 2246 m ho- Dieses UKW-Programm hen Patscherkofel bei Innsbruck, hatte vor allem eine politische dauerte es daher länger bis die Bedeutung, da es das erste rein Anlagen betriebsfertig waren. Das österreichische Radioprogramm Sendegebäude wurde zwar schon nach dem 2. Weltkrieg war. Die am 21. Dezember 1956 fertig und Abb. 9: Sendeanlage Dobratsch 1971 übrige Rundfunklandschaft Ös- (v.o.n.u.) über zwei schwache UKW-Sender terreichs war zum Zeitpunkt der provisorisch der Sendebetrieb auf- Betriebsaufnahme noch von den genommen, die Inbetriebnahme vier Besatzungsmächten geprägt. des Senders erfolgte erst am 15.September 1958. Nach dem Abzug der Besatzungsmächte und Am 1063 m hohen Pfänder bei Bregenz lief es Zusammenführung der Rundfunkanstalten der ähnlich wie am Patscherkofel: Am 29. November vier Besatzungszonen erfolgte die Neuordnung des 1957 erfolgte die Fertigstellung des Sendegebäudes, Rundfunks. Die dargestellte unbefriedigende Situ- der Sendebetrieb begann erst am 19. Juni 1958. ation des Mittelwellenempfangs ließ es naheliegend Die 1957 errichtete Sendeanlage auf dem Stub- erscheinen, parallel zum Ausbau des MW-Sender- nerkogel bei Badgastein in 2246 m Seehöhe war netzes, eine landesweite Ausstrahlung aller Program- die erste einer ganzen Reihe von Anlagen, die in me über UKW anzustreben. Die Richtigkeit dieser schwierigem topografischem Terrain ein kleines Ge- Entscheidung bestätigte sich schon bald. biet mit sämtlichen Radio- und Fernsehprogrammen Am 10. Oktober 1956 nahm die neue Anlage versorgen sollte. am Kahlenberg den Betrieb auf, und die Aussichts- Aus finanziellen Gründen musste der Sender warte konnte wieder ihrem ursprünglichen Zwecke Lichtenberg bei Linz zurückgestellt werden. Damit zugeführt werden. waren weite Teile von Oberösterreich vorläufig nur Am 1. Juli 1964 wurde vom Kahlenberg die ers- unzureichend mit UKW und Fernsehen versorgt, da te Stereosendung in Österreich ausgestrahlt. Der die provisorische Sendeanlage am zu niederen Frei- Sender Kahlenberg ist die Hauptsendeanlage für nberg in Linz keine große Reichweite besaß. Nach Fernsehen und Radio in Wien. mehreren Ankündigungen erfolgte im Herbst 1957 Am Schöckl begann man am 15. Dezember 1953 den Baubeginn des Senders im Frühjahr 1958. Die auf 91,2 MHz mit 1 kW zu senden. Sendeanlage am Lichtenberg nahm am 17. Novem- ber 1960 den regulären Betrieb auf und ersetzte die Auf dem Jauerling, einer 960 m hohen Erhebung Anlage auf dem Freinberg. westlich von Krems entstand 1954 eine provisorische UKW-Sendeanlage auf dem Dach der Aussichts- Die leistungsstärkste und mit 167 m zweithöchste warte. Die moderne Großsendeanlage mit ihrem UKW- und TV-Sendeanlage in Österreich steht in 111 m hohen abgespannten Antennenmast wurde 2115 m Seehöhe am Dobratsch bei Villach in Kärn- 1958 errichtet und am 31. Oktober 1958 in Betrieb ten. Diese Anlage wurde am 15. Oktober 1971 in genommen. Betrieb genommen. Als erste moderne Großsendeanlage mit einem Zuvor war für Kärnten am 1. Dezember 1957 73 m hohen frei stehenden Fachwerkmast wurde eine provisorische Grossendeanlage auf dem Pyra-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 68 - midenkogel bei Klagenfurt errichtet worden. Wegen Durch die zunehmende Überbelegung der der zerklüfteten Topografie Kärntens erwies sich die- Mittelwelle war der Einsatz von Sendern geringer ser mit nur 850 m Seehöhe sehr niedrige Standort Leistung besonders nachts höchst unbefriedigend. schon von Anfang an als nicht besonders geeignet 1968 erfolgte daher ein Baustopp für weitere Klein- und wurde daher durch den hohen Standort am senderanlagen. Es erschien außerdem widersinnig, Dobratsch ersetzt. Regionalprogramme über Mittelwelle auszustrahlen, 2.6.3. Entwicklung und Krisen des UKW-Rund- die über UKW mittlerweile in ihrem Zielgebiet we- funks ab 1957 sentlich zuverlässiger und flächendeckender verbrei- tet werden konnten. Für diese Programme gab es Der UKW-Rundfunk konnte rasch seine Vorzüge weder einen überregionalen Bedarf, noch konnten beweisen. In der vom Österreichischen Rundfunk sie nachts störungsfrei außerhalb ihres eigentlichen 1958 heraus gegebenen Broschüre „Bilanz eines Verbreitungsgebietes gehört werden. Die Ausstrah- Jahrzehnts“ wurde vermerkt, dass zum Berichts- lung von „Österreich-Regional“ auf Mittelwelle soll- zeitpunkt während der Nacht bereits mehr Leute te daher mittelfristig eingestellt werden. Dies erfolgte über UKW befriedigend mit den österreichischen dann auch am 5. September 1977. Menschen, die Rundfunkprogrammen versorgt werden könnten noch über kein UKW-Radio verfügten, konnten ein als über Mittelwelle. Dabei gab es 1957 nur 10 besonders günstiges Modell erwerben, das eigens zu UKW-Sendeanlagen mit 18 Sendern und einer diesem Anlass aufgelegt wurde. Vom ORF wurde Gesamtstrahlungsleistung von rund 350 kW. in Zusammenarbeit mit Elektrohändlern auch ein Der Rundfunk in Österreich stürzte bald in eine Service angeboten, Radios auf die geeignete UKW- tiefe Finanzkrise. Im Februar 1957 musste zuerst das Frequenz umzustellen. 3. Programm, im März 1957 auch das 1. Programm Um dennoch den Vorteil der Mittelwelle als über- wesentliche Kürzungen erfahren. Am 1. Jänner 1958 regionales Verbreitungsmedium weiter zu nutzen, entstand aus dem Österreichischen Rundfunk eine plante man eine Erneuerung und Verstärkung der GmbH, ohne dass sich die Situation wesentlich größeren Mittelwellensender in Österreich. Speziell besserte. in Osteuropa gab es viele Hörer der österreichischen Am 1. Jänner 1962 wurde das 3. Programm Radioprogramme. Da in Osteuropa früher aber ein gänzlich eingestellt und erst am 1. Juli 1963 wieder anderer UKW-Bereich benützt wurde (66-73 MHz), begonnen – allerdings nur in den Abendstunden. konnte man die dortigen Hörer nur über die Mit- Am 1. Oktober 1967 wurde schließlich jene Pro- telwelle versorgen. Von den geplanten Maßnahmen grammstruktur geschaffen, die im Wesentlichen bis gelangte aber nur eine zur Umsetzung: Am 1. Mai heute gültig ist: 1975 nahm ein 600 kW-Sender vom Hersteller „Brown Boveri & Cie.“ (BBC) am Bisamberg bei l Ö 1: Standort des geistigen und musischen Wien den Betrieb auf, welcher tagsüber auf 584 kHz Österreich und nachts auf 1475 kHz zum Einsatz kam. l Ö R: Vermittlung der Umwelt in der über- Nach der Einstellung der MW-Ausstrahlung von schaubaren Region (Länderprogramm) „Österreich-Regional“ am 5. September 1977 wur- l Ö 3: Unterhaltungsprogramm mit Informa- de ein Mischprogramm tagsüber auf 585 kHz mit tionsakzenten. 600 kW und nachts mit 240 kW, so wie nachts auf 2.6.4. Von der Mittelwelle zu UKW – 1970– 1476 kHz mit 600 kW gesendet. Diese Ausstrah- 1980 lungen wurden am 1.Jänner 1995 eingestellt. Schon 1968 konnte man fast landesweit alle 2.6.5. Mittelwelle wieder aktuell Rundfunkprogramme auf UKW empfangen. Die Am 18. März 1997 nahm der ORF den MW- technische Reichweite übertraf erstmals die der Sender auf 1476 kHz mit 60 kW wieder in Betrieb MW-Sender. Zudem war der Betrieb der UKW- und strahlt seither ein spezielles Programm unter Sender gegenüber MW-Sendern wesentlich kosten- dem Titel „Radio 1476“ aus. Im Sommer 1999 günstiger. Es wurde daher die Strategie im Ausbau wurde für Sondersendungen in das Kriegsgebiet des MW-Sendernetzes geändert. Ex-Jugoslawiens („Radio Nachbar in Not“) sogar

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 69 - wieder der 600 kW-Sender eingeschaltet. senders am Rosenhügel eine Senderbaracke und eine Ende 2000 wurde ein neuer voll transistorisier- Vertikalantenne für Kurzwellensendungen. Zweck ter MW-Sender des Typs „TMW2100-M2W“ der der Anlage war, die Möglichkeiten der Kurzwelle für Firma „Thales“ mit 100 kW Ausgangsleistung in den Auslandsrundfunk bzw. die Ausstrahlung eines Betrieb genommen, dessen Endstufe aus 80 Mo- zweiten Programms auszuloten. Am 29. April 1929 dulen besteht. Dieser Sender ist auch für mögliche begannen versuchsweise Ausstrahlungen unter dem künftige digitale Ausstrahlungen (DRM) gerüstet. Rufzeichen UOR 2 auf 6072 kHz über einen trans- Seit der Betriebsaufnahme kommt er in herkömm- portablen 40 Watt-Sender. Zunächst wurde viermal licher Amplitudenmodulation auf 1476 kHz zum wöchentlich im Anschluss an die Mittags- und Einsatz, wobei jedoch mit nur 60 kW Leistung Abendnachrichten „Grammophonmusik“ gespielt. gesendet wird. Mit der Inbetriebnahme des neuen Die Resonanz war trotz der geringen Sendeleistung Senders wurden auch die letzten beiden BBC-Sende- beachtlich. Im ersten Monat trafen 46 Empfangsbe- anlagen von 1959 endgültig außer Dienst gestellt. richte ein. Man setzte fort mit Übertragungen vom Weltflug des Luftschiffes „Graf Zeppelin“ und über die Empfangsstationen in Laxenburg und Linz wur- de ein Konzert mit javanischer Musik des Senders Bandung übernommen. Ab Dezember 1929 kam 3. Die geschichtliche eine 2. Frequenz im 25m-Band dazu. Entwicklung des Mitte 1930 wurden die Sendungen trotz heftiger Proteste wieder eingestellt, weil man die Kurzwel- Kurzwellen-Rundfunks in lensender für die Ausstattung eines Fahrzeuges für Außenübertragungen notwendiger brauchte. Als am Österreich 12.Februar 1931 der Vatikan-Sender eröffnet wur- de, sorgte die mobile Wiener Kurzwelle dafür, dass die Ansprache des Papstes auch nach Deutschland übermittelt werden konnte. Erst im Februar 1932 wurden wieder regelmäßige 3.1. Kurzwellenrundfunk 1926–1938 Kurzwellensendungen über einen 120 Watt-Sender auf 6072 kHz aufgenommen. Die Sendezeiten waren Ab 1926 nutzte man versuchsweise Kurzwellen- zweimal wöchentlich von jeweils 14.30 bis 19.00 sender geringer Leistung für Außenübertragungen. Uhr und von 20.00 bis 22.00 Uhr. Es wurde zwar Ab dem 7. Oktober 1928 stand der RAVAG ein das Programm von „Radio Wien“ übernommen, Übertragungswagen mit einem kleinen tragbaren doch erfolgten eigene Ansagen in Französisch und Sender zur Verfügung, der speziell für Sportre- Englisch. Nach Unterbrechungen wegen Versuchen portagen zum Einsatz kam. Die feste Gegenstelle mit modernen Antennenformen wurde ab Herbst entstand auf dem Gelände des Großsenders Wien 1932 zweimal wöchentlich durchgehend von 14.00 am Rosenhügel. bis 22.30 Uhr auf Kurzwelle gesendet. Im März 1934 erfolgte eine Steigerung der Sendeleistung Die nächste Kurzwellensendung von österreichi- auf 250 Watt und am 9. Juli 1934 wurde die Sen- schem Boden aus fand anlässlich der Wiener Früh- dezeit auf alle Wochentage, jeweils von 15.00 bis jahrsmesse 1938 statt. Während der zweiten Mes- 23.00 Uhr, ausgedehnt. Das Rufzeichen der Station sehälfte wurde das Mittelwellenprogramm auf 42,2 war OER 2. m mit einem 40 Watt-Sender ausgestrahlt. Dieser Sender war aber nur für Außenübertragungen vor- Im November 1937 erteilte man den Bauauftrag gesehen, womit regelmäßige Kurzwellensendungen für einen 50 kW-Sender, der aber, wegen des An- vorerst nicht zustande kamen. schlusses Österreichs an Deutschland, nicht mehr zur Ausführung gelangte. 1929 entstand mit Unterstützung durch die öster- reichische Wirtschaft am Gelände des Mittelwellen-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 70 - 3.2. Kurzwellenrundfunk l Ab 1954 ein 4 kW starker Sender am Ge- in Österreich 1945–1955 lände der MW-Sendeanlage in Kronstorf in Obe- rösterreich Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges bot l Ab 1956 ein 20 kW-Sender der Post- und die Kurzwelle eine Möglichkeit, trotz der weitgehend Telegraphenverwaltung auf deren Anlage in Flecken- zerstörten Rundfunksender, einen großen Teil der dorf bei Linz Bevölkerung zumindest notdürftig mit Radiopro- grammen zu versorgen. Schon ab dem 11. Juni 1945 l Ab ca. 1963 ein Kurzwellensender (Sende- wurde das Programm von „Radio Wien“ auch über leistung 10 bzw. 30 kW) der Radio Austria AG auf zwei Kurzwellensender im 49m- und 31m-Band deren Anlage in Bad Deutsch-Altenburg östlich von (Sendeleistung 150 bzw. 300 Watt) am Dach des Wien. Funkhauses ausgestrahlt. Ein dritter Sender mit 400 3.3.1. Moosbrunn, Niederösterreich – 1960 Watt für das 48m-Band folgte am 30. Juli 1945, und am 10. September 1945 kam ein weiterer Sender im Ende der 1950er Jahre wurde in Moosbrunn, 25m-Band dazu. Etwas später folgte noch ein fünfter rund 25 km südlich von Wien, ein ca. 80 Hektar Sender mit 30 Watt Leistung für das 16m-Band. Bei großes Gelände zum Bau einer Kurzwellensende- allen fünf Sendern handelte es sich um ehemalige anlage angekauft, die heute insgesamt elf Antennen U-Boot-Kurzwellensender. Nach dem jahrelangen und sieben Sender umfasst. Zunächst kamen die fünf Betrieb vom Dach des Funkhauses übersiedelten die alten Kleinsender vom Bisamberg nach Moosbrunn, Kurzwellensender schließlich auf den Bisamberg. welche in einer provisorischen Baracke aufgestellt Das weitläufige Gelände des Mittelwellen-Groß- wurden. Kurz vor Weihnachten 1959 begann der senders dort bot genügend Platz zur Aufstellung der Programmbetrieb. Ein neu bestellter 50 kW-Sender Antennen, welche wegen der geringen Sendeleistung ging am 4. September 1960 in Betrieb, wobei auch nicht sehr aufwendig sein mussten. eine neue Rundstrahl-Reusenantenne zum Einsatz kam. Ab 1961 standen auch Rhombus-Richtanten- Auch die Sendeanstalten der drei westlichen Be- nen mit fünf Abstrahlrichtungen nach Übersee zur satzungsmächte setzten Kurzwellensender ein, die Verfügung. Im Herbst 1964 begannen die Bauar- ebenfalls meist sehr geringe Leistungen aufweisen. beiten für ein dauerhaftes Sendergebäude, welches Lediglich der Sender der US-Zone „Rot-Weiß-Rot“ für einen späteren Ausbau für bis zu zehn Sender verfügte in Salzburg über einen 10 kW-Sender, der konzipiert war. im 31m-Band arbeitete. Die Betriebsaufnahme der ersten beiden Sender 3.3. Kurzwellenrundfunk in Österreich ab von je 100 kW Leistung war am 1. Mai 1966. Der 1955 50 kW-Sender aus dem Provisorium übersiedelte Nach dem Abzug der Alliierten 1955 begnügte ebenfalls in das neue Haus, wurde auf 100 Kilowatt man sich zunächst mit der Ausstrahlung der beiden aufgerüstet und am 5. März 1967 in Betrieb gesetzt. landesweiten Radioprogramme über die 5 Sender am Zu Jahresbeginn 1969 nahm ein vierter Sender mit Bisamberg. Es handelte sich dabei um 2 Sender mit 100 kW Leistung den Betrieb auf. Dieser war damals je 200 Watt, 2 Sender mit je 300 Watt und einen der erste halbautomatische Sender (Preset-Sender) Sender mit 30 Watt Leistung. Dazu kam noch ein der Welt. Im Mai 1970 wurde die weltweit erste 400 Watt-Sender in Aldrans bei Innsbruck, der das elektronische Programmsteuerung, die alle Sender Regionalprogramm aus Innsbruck auf 6000 kHz und den gesamten Betriebsablauf steuert, installiert. ausstrahlte. Die KW-Sender am Bisamberg kamen Alle vier 100 kW-Sender sind vom Typ Telefunken auf verschiedenen Frequenzen zum Einsatz, wobei SV2375. schon damals 6155 kHz die „Hausfrequenz“ des Obwohl die technische Ausrüstung in Moos- österreichischen Kurzwellenrundfunks war. brunn modernstem Standard entsprach, führte die Bis zum Bau einer leistungsfähigen Kurzwel- enorme Erhöhung der Anzahl bzw. der Leistung lensendeanlage behalf man sich mit Provisorien, ausländischer Sender in den siebziger Jahren zu wobei Sender an folgenden weiteren Standorten einer steten Verschlechterung der Empfangsqua- zum Einsatz kamen: lität. Der ORF begann daher ein umfangreiches

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 71 - Ausbauprogramm. 1984 wurde überdies der in Jahren großer Beliebtheit. Viele für das Ausland Aldrans bei Innsbruck demontierte 10 kW-Sender bestimmten Nachrichtenmagazine waren oft viel nach Moosbrunn verfrachtet. informativer als jene des Inlandsrundfunks, da sie 3.3.1.1. Radio Österreich 1 International das – für Ausländer of unverständliche kleinkarierte – RÖI Gezänk der heimischen Politik aussparten bzw. wenn schon darüber zu berichten war, dieses mit etwas Im Jahre 2004 wurden die Programme von „Ra- Ironie dem Hörer zur Kenntnis brachten. dio Österreich 1 International“ mit zwei 100-Kilo- watt-Sendern und zwei 300-/500-Kilowatt-Sendern Legendär sind auch die speziellen Sendungen für über mehrere Rund- und Richtstrahlantennen nach jene, die Rundfunkfernempfang als Hobby betrei- Europa und Übersee ausgestrahlt. Diese vier Sender ben, nämlich das „Kurzwellenpanorama“ und in der sind rund um die Uhr in Betrieb. Die restlichen Folge „Intermedia“. In deutscher Sprache gab und Sendekapazitäten wurden vermietet. gibt es nichts Gleichwertiges. Seit dem 2. Mai 2005 werden Sendungen in Der unverkennbare Bedeutungsverlust des Kurz- DRM (Digital Radio Mondiale) ausgestrahlt, wobei wellenrundfunks in den 1990er Jahren war auch eine ein Sender im 31m-Band in Richtung UK (295°) Folge des Rückganges von Propagandasendungen mit Programmen von Fremdanbietern zum Einsatz wie etwa von Radio Moskau, Radio Hanoi, die kommt. Überdies wird das ORF-Programm abends Einschränkungen bei Radio Liberty, Radio Free auf 6155 kHz in Rundstrahlung digital ausgestrahlt Europe (RFE), bei der Voice of America (VOA), (Sendeleistung jeweils 50 kW etc., aber auch eine Folge der Konkurrenz von Onlinediensten und der auf Satelliten gestützten 3.3.2. Persönliche Sichtweise zur Radiogeschichte Medien. 1998 begannen viele Betreiber von soge- Österreichs nannten Auslandsdiensten eine Grundsatzdiskussi- Nachstehend sollen auch die persönlichen Sichtweisen zur Fre- quenznutzung, zur Sendetechnik, und zum Kurzwellendienst kurz dargelegt werden. Die längste Zeit nannte man diesen Dienst „Kurzwellendienst des Österreichischen Rundfunks“. Mit dem Vollbetrieb der Sendeanlage in Moosbrunn Anfang der 1970er Jahre, erfolgte die Aufnahme von Sendungen in Englisch, Französisch und Spanisch. Der Stationsname än- derte sich auf „Österreich auf Kurz- welle“, während man in Englischen beim „Austrian Short Wave Service“ blieb. 1985 erfolgte dann die Na- mensänderung in „Radio Österreich on über die künftige Rolle ihres Mediums. Ständig International“. sinkende Hörerzahlen und hohe Produktionskosten Ab 1977 wurden am Wochenende zusätzlich standen einer offensiven Vorgangsweise im Wege. Nachrichten in Esperanto ausgestrahlt und ab 1998 forderte der Bund als bisheriger Finanzier des 1989 kamen an Sonntagen noch Nachrichten in Auslandsdienstes drastische Einsparungen, was eine Arabisch dazu. erhebliche Einschränkung bei der Eigenproduktion von Programmen zur Folge hatte. Das Programm des österreichischen Auslands- rundfunks erfreute sich besonders in den 1980er Durch die noch immer starke politische Ein- flussnahme im ORF und die in Österreich stark

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 72 - ausgeprägt parteipolitische Polarisierung war es nicht Programm hinausgeht. Darüber hinaus bietet Ö1 möglich, eine konstruktive Lösung für die Zukunft International weiters auch ausgewählte Nachrichten des österreichischen Auslandsrundfunks zu finden. in englischer, spanischer und französischer Sprache Es lief wie so oft auf ein „Alles oder Nichts“ hinaus. als kostenloses Radio-Abo an. Die Lobbyarbeit für RÖI fand nur in der „roten Reichshälfte“ statt – ein taktisch schwerer Fehler, Peter Klocko, MSc, Brigadier ist Abteilungsleiter im Bereich Führungsunterstützung und Präsident der AGES. Der vorlie- denn die Entscheidung über RÖI wurde in der gende Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus seiner Diplom- „schwarzen Reichshälfte“ des ORF getroffen. arbeit. Mit der von der ÖVP/FPÖ-Regierung betrie- benen Reorganisation des österreichischen Rund- funks wurde damit „Radio Österreich International“ grundsätzlich in Frage gestellt. Das mit 1. August Anmerkungen 2001 in Kraft getretene neue ORF-Gesetz sieht auch 1 Radio, fachsprachlich Hörfunk, amtlicher Rundfunk, neben dem weiterhin kein verbindlich vom Bund finanziertes Fernsehen eines der beiden Funkmassenmedien. Rundfunkprogramm für das Ausland vor, sondern 2 Die nachfolgenden Zahlen und technischen Angaben wurden mir bietet dem ORF nur die Möglichkeit, nach „Maß- vom ORF bzw. vom Institut für Publizistik und Kommunikati- gabe der wirtschaftlichen Tragbarkeit“ ein solches onswissenschaften der Universität Wien zur Verfügung gestellt. Der bibliographische Nachweis jeder in dieser Arbeit angeführter Programm auszustrahlen. Zahlen würde rund 280 Fußnoten ergeben, ohne dass damit ein zusätzlicher Informmationsgewinn verbunden wäre. Siehe des Ab 2002 musste daher der ORF den Auslands- weiteren: Brummer, Walter, Geschichten über das „Dampfra- dienst aus seinem eigenen Budget finanzieren, wofür dio”, unter URL: http://members.aon.at/wabweb [21.03.2007] zunächst etwa ein Viertel des Betrages von vor 1998 Bildquellen: Schwarzweiß-Bilder und Schwarzweiß-Grafiken aus: Österr. Rundfunk, Bilanz des Jahrzehnts, Wien 1957; Farbbilder vorgesehen war. Dies war aber dem Vorstand noch aus dem eigenen Archiv und von http://members.aon.at/wabweb/ immer zu viel. frames/radioaf.htm [21.03.2007]. Letztlich hat der Stiftungsrat am 26. März 2003 3 Vgl. Brummer, Walter, Funkgeschichte Österreichs, Kurzgeschichte mit Mehrheit beschlossen, auf Grund der hohen der Funktechnik und der Entstehung des Radios in Österreich, 1898 - (auch) Österreich telegrafiert, http://members.aon.at/ Kosten künftig keinen Kurzwellen-Auslandsdienst wabweb/frames/telegraf.htm [29.04.2007]. mit eigenen Programmen mehr auszustrahlen. Am 4 1. Juli 2003 wurde „Radio Österreich International“ DAB - Digital Audio Broadcast(ing System) – EUREKA-Projekt. durch „Radio Österreich 1 International“ ersetzt. 5 DRM - Digital Radio Mondiale. Das Programm besteht seitdem fast ausschließlich 6 DVB-T - Digital Video Broadcasting via Terrestrial line. aus Programmteilen von Ö1, welche zeitversetzt in 7 DVB-S - Digital Video Broadcasting via Satellite. die verschiedenen Weltgegenden gesendet werden. 8 Die Fremdsprachenprogramme beschränken sich auf ADR - Astra Digital Radio ist die Bezeichnung für ein digitales Hörfunk-Übertragungssystem. ein viertelstündiges Nachrichtenmagazin in Englisch und fünfminütige Nachrichten in Spanisch. 9 Worldspace - WorldSpace ist ein digitales Satellitenradionetzwerk. Es versorgt per Satellit ganzflächig Afrika und zusätzlich Teile Heute im Jahre 2008 wird das Programm von von Asien und Europa. Zur Zeit besteht es aus zwei Satelliten Radio Österreich 1 – dem erfolgreichsten Kultursen- AfriStar und AsiaStar. Geplant ist zudem eine Ausweitung des Angebots auf Lateinamerika (AmeriStar). Die Firma WorldSpace der Europas – mit einigen Modifikationen weltweit wurde 1990 von dem äthiopisch-amerikanischen Geschäftsmann auch auf Kurzwelle als Radio Ö1 International aus- Noah A. Samara gegründet und arbeitet mit vielen Industrie- gestrahlt. Der vom österreichischen Publikum in ei- partnern zusammen: u.a. Alcatel Space, Fraunhofer Institut für angewandte Elektronik, Micronas, Rohde & Schwarz; URL: http: nem hohen Ausmaß angenommene Programm-Mix //de.wikipedia.org/wiki/Worldspace, [15.04.2007]. aus Information, Kultur, Musik, Literatur, Bildung, 10 Rundfunk – URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Rundfunk, Wissenschaft und Religion erreicht damit über die [15.04.2007]. Grenzen hinaus die Auslandsösterreicher sowie ein 11 Schrack, Eduard, * 6. 10. 1889 Wien, † 30. 9. 1979, Industriel- an Österreich interessiertes globales Publikum. Au- ler, Begründer der österreichischen Rundfunkindustrie; Vater von ßerdem bietet Ö1 International mittlerweile wieder Eduard Harald Schrack. Gründete 1919 in Wien eine Fabrik für ein erweitertes Informationsangebot in englischer Radioröhren und konnte sein Unternehmen bald erweitern. 1939 erwarb er Anteile an der Ericsson Österreichische Elektrizitäts und spanischer Sprache, das über das derzeitige Ö1 AG, die 1948 in Schrack Elektrizitäts AG umbenannt wurde.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 73 - Erzeugt wurden Telefonapparate, Vermittlungsanlagen, Verteiler- Issues, Procedures, Military Considerations, 5.2.2. The Voice of systeme, Schutzschalter und Sicherungsautomaten. Aus seinem America and AFN, S.94-95, Santa Barbara, CA, 93109, 2007, Unternehmen ist die Ericsson Austria AG hervorgegangen, unter (Forthcoming). URRL: http://aeiou.iicm.tugraz.at/ aeiou.encyclop.s/s359108.htm [28.04.2007].

12 Vgl. Korkisch, Friedrich W: The Political Decision-making Process in the USA – Intervention Policy – Theory, Legal and Political

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 74 - Martin Luther und der Bauernkrieg (1524–1526)

Otto-Erich Westphal

Einleitung che Ordnungsdenken, eine Überlegung, dass alles seine Ordnung haben müsse um Frieden, Ruhe Luthers Haltung und Glück zu erhalten, verfiel und wurde durch zu den Bauernkriegen ein Machtdenken ersetzt, das in der Renaissance aus- hat oft Widerspruch, geprägt worden war und eine religiöse und ethische Erregung und Interesse Basis ersetzte. Die Situation wurde von den Fürsten erweckt. Es haben sich weidlich ausgenützt und durch Luthers Schriften verschiedene historische religiös untermauert und damit die Position der Denkschulen mit sei- Bauern geschwächt.4 nem Verhalten befasst Nach der Zerschlagung der alten Kirchenord- und je nach Sichtweise nung arbeitete Luther am Aufbau einer seinen interpretiert und kriti- Intentionen entsprechenden Kirchenordnung und siert. Man kann eine war auf die Unterstützung der Landesfürsten ange- katholische, eine demokratisch-liberale und eine wiesen, im besonderen sind die Kurfürsten Friedrich marxistische Geschichtsinterpretation der Refor- von der Pfalz und Friedrich der Weise von Sachsen mation und der Bauernkriege feststellen. zu nennen. Sowohl das NS-Regime1 als auch die DDR2 ver- suchten, die Geschichte der Bauernkriege für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die DDR betrieb Entstehen neuer gesellschaftlicher im Jahre 1983, anlässlich des 500. Geburtstages Strömungen durch Luthers Schriften von Martin Luther, seine Vereinnahmung in ihre Geschichte,3 obzwar traditioneller Weise an seiner Eine bedeutende Schrift Luthers richtete sich „An Haltung gegenüber den Fürsten und den Bauern den christlichen Adel deutscher Nation“. Die Not Kritik geübt worden war. und der Druck, der auf den Ständen in den deut- schen Ländern lastete, hat Luther veranlasst, sich an den christlichen Adel mit der Bitte um Abhilfe Reformation und Bauernkriege zu wenden. Der bedeutendste Bauernkrieg fand im Jahre Reformen hatte man schon auf Konzilien zu 1525 statt, er war ein Glied in einer Reihe von diskutieren und durchzusetzen versucht, jedoch Aufständen, die in den deutschsprachigen Gebieten ohne Erfolg. Die Päpste hatten Kaiser und Fürsten 5 stattgefunden haben. Die Gründe für den Ausbruch beeinflusst, obzwar im 33. Psalm steht: sind im Wandel der Frömmigkeit, im politischen „Es wird kein König bestehen durch seine Macht und sozialen Bereich zu finden. Das mittelalterli- und kein Herr durch die Größe seiner Stärke.“ Es

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 75 - haben sich die Herrscher mehr auf ihre Macht als in Deutschland verbleiben. auf Gott verlassen, sie mussten daher stürzen. So In weltlichen Angelegenheiten sollte nicht der 6 konnte Papst Julius II. große Macht gewinnen, weil Papst entscheiden. Die Ableistung von Eiden durch Frankreich, Deutschland und Venedig nur auf sich die Bischöfe müsse aufgehoben werden, Kaiser und selbst gebaut hatten. Die Päpste haben ihre Macht Adel sollten Tyrannei verhindern. Jede Stadt oder geschaffen, indem sie feststellten, weltliche Macht Gemeinde möge einen braven Bürger zum Pfarrer könne auf sie nicht angewendet werden, weil die wählen, zu seiner Hilfe seien Priester und Diakone geistliche Macht einen höheren Stellenwert habe. beizustellen und den Priestern könne eine Eheschlie- Weiters wurde vom Papst behauptet, nur er habe das ßung freigestellt werden. Recht, die Heilige Schrift zu interpretieren und ein Konzil einzuberufen, das Reformen durchsetzen sollte. Luther griff den geistlichen Stand und den Glauben an seine Auserwähltheit an. Daraus konnte gefolgert werden, alle Christen seien berechtigt, Gottes Wort zu verbrei- ten und gehören einem geistlichen Stande an. Es erinnerte an das frü- he Christentum, als Bischöfe und Priester gewählt wurden. Durch die Möglichkeit der Tau- fe durch jedermann, sei jeder ein Priester, das widersprach der Mei- nung der Kirche, die im geistlichen Stand eine Besonderheit sah. Da die Vertreter der weltlichen Gewalt ebenso Viele Aspekte der Volksfrömmigkeit, Heiligen-7 wie der Klerus getauft sind, denselben Glauben und und Reliquienverehrung, Wallfahrten, Wunderglau- das Evangelium haben, muss man sie auch Priester ben, Ablass, Stiftung von Messen seien unnötig. und Bischöfe sein lassen, denn ihr Amt gehöre den Gute Werke führen nicht zur ewigen Gnade im christlichen Gemeinden und sei ihr nützlich. Hier Himmel. Der Ackerbau wäre zu vermehren, das propagierte Luther das allgemeine Priestertum, zu Kaufmannsgewerbe solle eingeschränkt werden. dem jeder Christ berufen war. In der christlichen Eine weitere Schrift, die die Reformation beein- Gemeinde sollte jeder Priester die Stellung eines flusste, war: „Von der Freiheit eines Christenmen- Beamten einnehmen. Zwischen Laien, Fürsten schen“. Luther verwendete die Definition des Apos- und Bischöfen gäbe es keinen Unterschied, da sie tels Paulus, die lautete: „Ein Christenmensch ist ein ihre Tätigkeit gemäß ihres Amtes ausüben und nicht freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. infolge eines besonderen Standes. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Die Funktion der weltlichen Gewalt sei von Dinge und jedermann untertan“.8 Jeder Christ hätte Gott gegeben, um die Bösen zu bestrafen und die zwei Naturen, eine geistliche und eine leibliche. Lu- Frommen zu schützen. Die allgemeine Interpreta- ther unterscheidet also zwischen Freiheit der Seele tion der Bibel durch den Papst und das allgemeine und des Leibes. Die Seele benötigt nur das Wort Recht des Papstes zur Einberufung eines Konzils, und der Christ lebt von seinem Glauben. Durch verhindere dringend nötig gewordene Reformen den Glauben erweist man Gott die Ehre, beim Un- in der Kirche. Luther forderte, der christliche Adel glauben nur eine Schmach. Jedermann darf Gottes sollte sich gegen den Papst stellen, keine Almosen Wort verkünden. Gute Werke können den Glauben nach Rom abführen und gebieten, dass kein Lehen nicht ersetzten, um rechtschaffen zu werden. mehr nach Rom vergeben wird, diese müssten nur In einer weiteren Entwicklung in Richtung

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 76 - einer Radikalisierung der Bauernschaft weicht Luther vom allgemeinen Priester- tum ab und entwickelt ein radikales Obrigkeitsdenken; dies förderte den Zerfall der mittelalterlichen Ordnung, es traten unterschiedliche gesellschaftliche Strömun- gen auf. Auf der einen Seite vermehrt sich ein fürst- liches Machtstreben, auf der Gegenseite sieht man Ansätze einer demokrati- schen Entwicklung beim andererseits entstanden volkstümlich-demokratische niederen Adel, bei städtischen Handwerkern und Strömungen. bei Bauern. Im Verhältnis von Untertanen und Obrigkeit entwickelten sich zwei Strömungen, eine passive, Auswirkungen des die jede Obrigkeit respektiert,9 und eine aktive, die lutherischen Handelns gegen eine unbedingte Gehorsamspflicht eingestellt Die protestantische Wirtschafts- und Arbeit- war. Luther interpretierte anlässlich des Bauernkrie- sethik ist von Calvin und Luther beeinflusst. ges 1525 eine Gehorsamspflicht der Untertanen nach Unterordnung und Wirtschaftsdenken erhielten der passiven Form, indem er den Bauern und ande- einen großen Stellenwert. Um 1520 entstand eine ren Bevölkerungsgruppen strikte Gehorsamspflicht revolutionäre Stimmung, Luther wurde gefeiert, er auferlegte und damit trotz Kritik an den Fürsten de- hatte eine Empörung gegen den Papst gewagt. Er ren Machtstreben unterstützte. Dies führte zu einem ist ein Vorbild der Bauern geworden, sein Handeln Bruch des Lehensgedankens, das Wechselverhältnis motivierte sie zum Aufstand. Luthers Idee von der von Treueanspruch und Treuepflicht wurde durch „Freiheit des Christenmenschen“ fassten revoluti- Gehorsamspflicht ersetzt, ein Widerstandsrecht der onäre Volksschichten als Signal auf, um bisherige Untertanen gegen die Fürstengewalt und der Schutz- Bindungen, wie z.B. die Leibeigenschaft aufzulösen gedanken der Herrschaft gegenüber den Untertanen und soziale Forderungen zu stellen. wurde nicht mehr anerkannt. Wo der Staat, wie z.B. Bayern, die Schutzfunktion übernahm, kam es zu keinem Bauernkrieg. Das göttliche Recht der Bauern und In der Schrift Luthers „Von weltlicher Obrigkeit“ die göttliche Gerechtigkeit aus dem Jahre 1523 drohte Luther den Fürsten mit der Reformation dem Aufstand des „gedrückten“ Volkes und sah im Aufstand ein Zornesgericht Gottes. Die Entwicklung der Bauern im Jahre 1525 unterschied sich von anderen bäuerlichen Aufstän- Revolutionäre Strömungen richteten sich gegen den durch die Berufung auf das „göttliche Recht“. die Grundherren und deren Territorialgewalt. Das Der Begriff „göttliches Recht“ ist noch nicht ganz „göttliche Recht“ forderte man ein, das führte zum erforscht.10 Ein Unterschied der städtischen zur Konflikt zwischen landesfürstlichem Machstreben ländlichen Gesellschaft bestand darin, die Letztere und reformatorischen Freiheitsideen. Luthers ra- kannte neben dem Evangelium auch das göttliche dikales Auftreten gegen geistliche und weltliche Recht, das als gleichwertig betrachtet wurde. In der Autoritäten führte zur Erschütterung des Autori- Stadt spielte das „göttliche Recht“ eine geringe Rolle. tätsgefühls des Volkes, als Reaktion darauf kann Vor Beginn der Kämpfe des Jahres 1525 gab es den man die Entstehung des Fürstenstaates betrachten, Versuch, den Streit beim Reichskammergericht11

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 77 - auszutragen. Die Bauern forderten ein Urteil nach und die Verteilung von Flugblättern bei; Luthers göttlichem Recht, das im Evangelium enthalten ist. Wirken wurde in dieser Zeit allgemein anerkannt, Eine scharfe Trennung zwischen Evangelium und auch Thomas Müntzer schloss sich der Akzeptanz göttlichem Recht gab es zwar nicht, trotzdem spiel- Luthers an. Die Predigt des Evangeliums und die te der Begriff bei den Bauern eine große Rolle zur Forderung nach dem „göttlichen Recht“ entzünde- Regelung der Verhältnisse der Pflichten und Rechte ten die Bauernunruhen. Luthers Lehre entwickelte zwischen Obrigkeit und den Bauern. Als Gegenbe- in den Städten eine größere Kontinuität als auf dem griff galt das „alte Recht“, das bei den Bauern das Lande. Vertrauen verloren hatte. Bei den Reformatoren wurde Gesetz und Evangelium unterschiedlich beurteilt.12 Daraus entwickelte Luther eine Theorie Verständnis der Deutschen zu den über die Gehorsamspflicht gegen Gott, die über dem Begriffen Freiheit und Gerechtigkeit Gehorsam gegenüber der Obrigkeit steht.13 Nach während der Reformation Luther ist Gottes Gerechtigkeit seine Barmherzig- keit, während nach Zwingli in Gerechtigkeit eine Konfliktstoffe waren die Einschränkungen, die von Gott gesetzte Norm zu sehen ist. durch die Leibeigenschaft entstanden waren, diese schränkte die Erbfähigkeit und Heiratsmöglichkeit17 14 Luthers Ansicht über die Gerechtigkeit Gottes, ein. Ein anderer Zwang entstand durch ein Begriff der die Erlösung des Menschen und ein soziales Handeln trennt, hat keine Ähnlichkeit mit eine Rechtssprechung, die sich nach Gewohnhei- 18 dem göttlichen Recht der Bauern.15 In den Predigten ten oder dem Landrecht richtete. Der Grundherr von Thomas Müntzer findet man weder die göttliche schrieb dem Gericht vor, nach welchem Recht es Gerechtigkeit, noch das göttliche Recht. Die größte urteilen musste. Ähnlichkeit zu den Vorstellungen der Bauern zum Um 1500 wurden durch Leibeigenschaft ent- göttlichen Recht findet man bei Zwingli, der ein standene Verpflichtungen als unangemessen und göttliches Gesetz zur Regelung der Rechtssachen übertrieben gesehen, jedoch das Rechtsinstitut kannte. nicht in Frage gestellt. Um 1520 argumentierte man anders, die Freiheit der Menschen ist gottgewollt, Recht ist, was sich als göttlich legitimieren lässt. Die Bedeutung des Evangeliums Weltliche Ordnungen müssen sich dem göttlichen für die Bauern Recht anpassen. Bei den Bauern des Allgäu, Hochrhein und im mittleren Oberschwaben kann man ein verpflich- Zwischen Freiheit und tendes Handeln in Beziehung zum Evangelium Leibeigenschaft dem göttlichen Recht erkennen. Auf diese Weise konnte der Ursprung des „göttlichen Rechtes“ der Frei wurde man nur dann in der Stadt, wenn dort Bauern auf die Reformation zurückgeführt werden. die Stadtherrschaft aufgehört hatte. Das Sprichwort Bestimmte Handlungsweisen zum gemeinsamen „Stadtluft macht frei“ entstand erst im 19. Jahr- Nutzen und der Nächstenliebe lieferten einen Bei- hundert und war auf reichsunmittelbare Städte trag zur Reformation. beschränkt. Die Bauern zogen in die Reichsstädte, nahmen das Bürgerrecht an und bearbeiteten ihre Güter auf dem Lande. Sie wurden „bäuerliche Die Rezeption Luthers Bürger“, ständisch blieben sie Bauern, als Bürger in der frühen Reformation unterstanden sie dem Stadtrecht.19 Dieser Fall trat vor allem in Schweizer und einigen deutschen Städ- Man kann annehmen, dass die reformatorische ten auf. In der „Goldenen Bulle“20 im Jahre 1356 Bewegung erst 1522/23 unter Luthers Einfluss wurde diese Möglichkeit abgeschafft. In manchen entstanden ist. Viele Publikationen gelangten in Territorien kannte man die Leibeigenschaft nicht, den Städten der Öffentlichkeit zur Kenntnis, zur wie z.B. in Sachsen; in Bayern war sie vorherrschend. Verbreitung trug die Erfindung des Buchdruckes16 Parlamentarische Institutionen dieser Zeit waren in

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 78 - Deutschland der Reichstag und in der Schweizer die Möglichkeit bestehen, ihn abzusetzen, wenn er Eidgenossenschaft die Tagsatzung.21 Im Reichstag sich ungebührlich verhalte. Die Bauern fühlten sich gab es Strömungen, die einen Abkauf der Leib- in eine reformatorische Lebensgemeinschaft einbe- eigenschaft forderten. Adel und Kirche waren an zogen. Sie wollten das Wort Gottes durch den Pfarrer der Unfreiheit interessiert, so sicherten sie sich ihre hören, dieser sollte ohne Zusatz predigen, um durch Satzungsgewalt. Nur wo Freiheit herrschte musste den wahren Glauben und Gottes Barmherzigkeit die Recht gesprochen werden. Das Stadtrecht wurde das Seligkeit zu erlangen. Vorbild der Bauern und sie strebten es gegenüber Im 2. Artikel akzeptierte man den Großen ihren Herren an. Zehnt, der dem Unterhalt des gewählten Pfarrers,24 der Hilfe für die Gemeindearmen und für allgemei- Freiheit und Gerechtigkeit ne Ausgaben bestimmt war. Den Kleinen Zehnt25 als göttliche Rechtsordnung lehnte man ab, dieser bezog sich auf Gemüse, Obst und Vieh, man glaubte, es sei für den Menschen Die Spannungen zwischen Leibeigenschaft und frei erschaffen. Freiheit, Gerechtigkeit und Gesetz waren groß, Im 3. Artikel verlangten die Bauern die Anerken- eine Lösung erhoffte man durch das Evangelium. nung einer Gleichwertigkeit und die Abschaffung Die Forderungen nach Freiheit wurden religiös be- der Leibeigenschaft. Dabei berief man sich auf gründet. Die Bauern wünschten ihr Verhältnis zum die Erlösung durch Christus, die sowohl für hohe Grundherren nach „göttlichem Recht“ zu regeln. Herren als auch für einfache Hirten gegolten hatte. Das Bauernparlament von Memmingen beschloss Die Bauern hatten nicht die Absicht, die Obrigkeit ein Manifest, in dem festgestellt wurde, die soziale abzuschaffen. Gottes Gebote weisen die Menschen Ordnung sollte sich nach dem Evangelium richten. an, der Obrigkeit gehorsam zu sein. Ihre Forderungen mussten von der Heiligen Schrift ableitbar sein. Die Auslegung der Bibel sollte durch Die Artikel 4 – 12 verlangten eine christliche, die Reformatoren erfolgen. Das Manifest wurde brüderliche Verhaltensweise der Partner untereinan- auch die „Zwölf Artikel“ der Bauern genannt. In der, die von Nächstenliebe geleitet sein sollte. Gott einer „Richterliste“22 wurden alle Reformatoren hat den Menschen Gewalt über alle Tiere gegeben, aufgezählt, die das Vertrauen der Bauern bezüglich daraus leitete man Jagd und Fischerei als freies Ei- der Auslegung der Heiligen Schrift besaßen; unter gentum ab. Die Holznutzung sollte wieder durch die den Genannten war auch Luther. Gemeinde geregelt und die Wälder an die Gemeinde zurückgegeben werden. Die Artikel 6 – 9 verlangten die Einschränkung Die „Zwölf Artikel“ der Dienste für den Grundherren, die unerträg- Zu Beginn der Erhebung der Bauern formierte lich geworden sind, sowie keine Vermehrung von der Memminger Kürschnergeselle Sebastian Lotzer Lasten. Geleistete Dienste sollten bezahlt werden die „Zwölf Artikel“, die erst als Programm des „Bal- und zu einer Zeit stattfinden, die den Bauern nicht tringer Haufens“ gedacht waren. Man findet in den zum Nachteil gereiche. Eine Vereinheitlichung der Anliegen der Bauern eine religiöse Motivation. In Rechtssprechung sei erforderlich und habe schrift- den Jahren 1524/25 breitete sich die Reformation lich zu erfolgen. aus und wurde in einer vereinfachten Form den Artikel 10 verlangte die Rückgabe der Wiesen Bauern bekannt. Die Gedanken der Bauern wiesen und Äcker an die Gemeinde; außer der Gutsherr schwärmerische Züge auf, das „Wort Gottes“ findet habe sie rechtmäßig gekauft. eine Identifikation mit dem bäuerlichen Anliegen,23 Artikel 11 forderte die Abschaffung der Tod- die führenden Männer der Reformation fühlten sich fallabgabe, einer Abgabe für die Übertragung der abgestoßen und distanzieren sich von den Bauern- Besitzrechte auf die Angehörigen beim Tode eines aufständen. Bauern. Dabei wurden besonders Witwen und Im 1. Artikel wurde die Wahl des Pfarrers durch Waisen geschädigt. die bäuerliche Gemeinschaft gefordert, weiters sollte Artikel 12 beschloss die Forderungen der revo-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 79 - lutionären Bauernschaft und forderte die Überein- die Landessteuer für die besitzlose Bevölkerung stimmung mit Gottes Wort in der Bibel. entgolten werden. Der Kleine Zehnt, die Abgabe 30 In allen Artikeln riefen die Bauern Gott und sein von Vieh u.a., wurde eingestellt. Wort als Entscheidungsinstanz an und unterstellten Eine Erfüllung der Wünsche der Bauern hätte sich ihm persönlich. Zur genaueren Illustration be- eine Absetzung der Obrigkeit bedeutet, was Luther rief man sich auf Bibelstellen, die für das Verständ- ablehnte. Weiters folgerte Luther durch die Erlösung nis der sittlichen Forderungen und den Verzicht auf der Menschen durch Christi Blutvergießen jegliche Gewalt bedeutend waren. Zweifellos war sei der Mensch frei, was jedoch nicht heißen im Inhalt der „Zwölf Artikel“ eine revolutionäre könne, dass jede Obrigkeit abzulehnen sei. Im Ge- Sprengkraft, die gesellschaftsverändernd wirkte. genteil, Luther verlangte Gehorsam, gebührend oder Luther sah im Bauernkrieg einen politischen freiwillig gegenüber der Obrigkeit. Konflikt, sein Obrigkeitsdenken stimmte dem Luther ging sogar soweit hinzuweisen, dass brutalen Vorgehen der herrschenden Fürsten zu. Abraham, Patriarchen und Propheten, Leibeigene Trotzdem setzten ihn die Bauern auf eine „Richter- gehalten hätten. Forderungen nach Freiheit des liste“, deren Entscheidungen sie befolgen wollten. Wildprets, der Vögel, Fische, des Holzes und Wal- Luther und Melanchthon26 setzten sich mit ei- des, sowie der Dienste und Zinsen u.a. sollten durch nigen der „Zwölf Artikel“ auseinander. Luther ant- Rechtsverständige beurteilt werden. Luther sah sich wortete mit einer „Ermahnung zum Frieden“ an die nur als Kündiger der Evangelien, er trennte genau Bauernschaft. Er vertrat darin keine „Theologie der die Kompetenzen eines „Evangelisten“ von den Revolution“, sondern eine Theologie des Leidens, „Rechtsverständigen“.31 27 die seiner Zwei-Reiche-Lehre entsprach. Das Ver- Im Mai 1525, als gegen die Bauern Thomas halten Luthers war nicht eindeutig und konsequent, Müntzer in Sachsen und Thüringen gerüstet wur- sondern schwankend und es bestand wahrscheinlich de, erschien Luthers Schrift „Wider die räuberischen seine Absicht, zum richtigen Zeitpunkt im Lager des und mörderischen Rotten der Bauern, die unter dem Siegers zu stehen. Die schwankende Haltung scha- Schein des heiligen Evangeliums sich fälschlich wi- dete der Reformation und sie verlor den Charakter der alle Obrigkeit setzen und empören“. Eine weitere einer Volksbewegung. Schrift lautete: „Wider die stürmenden Bauern“.32 Gegen die Kriegsbereitschaft der Bauern zitierte Die revolutionären Bauern wurden am 15. Mai 28 Luther Mt. 26/52, wo es heißt: „Wer zum Schwert 1525 vernichtend in der Schlacht bei Frankenhau- greift, soll durch das Schwert umkommen“. Er zi- sen geschlagen. Der katholische Hofprediger des tierte auch Paulus im Röm. 13.1, wo gefordert wird, Herzogs Georg, Johannes Cochleus,33 benutzte dass jeder sich der staatlichen Gewalt unterordnen 1525 die Gelegenheit, um gegen Luthers Schrift 29 müsse. eine Erwiderung vorzulegen. Als Ursache der Bau- ernaufstände schob er die Schuld an dem Aufruhr Luthers Kommentare Luther zu und bezeichnete ihn als Ursache der zu den „Zwölf Artikeln“ Entwicklung. Es entstanden endlose Polemiken in dem Luther Falschheit, Prediger der falschen Freiheit Er begrüßte die Pfarrerwahl, verlangte jedoch, und des falschen Evangeliums vorgeworfen wurde. man solle die Obrigkeit bitten, einen Pfarrer zur Luther benützte in seiner Argumentation die Vor- Verfügung zu stellen, wird diese Bitte abgelehnt, würfe, Bauern, die rauben und toben, seien nicht hat eine Wahl durch die Pfarrgemeinde zu erfolgen; mehr untertänig. Außerdem hatten die Bauern in der Gewählte ist aber von der Pfarrgemeinde zu ver- den „Zwölf Artikeln“ in Namen des Evangeliums sorgen. Wird dieser von der Obrigkeit abgelehnt, Lügen verbreitet. Die Bauern verlangten für ihre so lasse man ihn mit seinen Anhängern fliehen. Gräuel die Deckung durch das Evangelium, dafür Die Verwendung des Zehnt für den Unterhalt des verdienten sie den Tod.34 Pfarrers und für den Unterhalt der Armen wurde von den Bauern gefordert; außerdem sollte damit

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 80 - Luthers Stellung im Bauernkrieg den geistlichen Pflichten der Fürsten im Mittelalter. Diese Einteilung der Macht in eine weltliche39 und Die Haltung Luthers wird teils theologisch geistliche wurde später als „Zwei-Reiche-Lehre“ be- begründet, bzw. wird seine apokalyptische Grund- zeichnet. Allerdings konnte Luther noch nicht an haltung berücksichtigt. Seine Haltung hatte eine eine Trennung von Staat und Kirche denken. Die vielschichtige Motivation, die rechtlich, religiös und Obrigkeit brauchte nicht christlich zu sein, es wurde sozial beurteilt werden kann. Es gibt einen großen nur verlangt, dass sie „vernünftig“ regiert. Zusammenhang mit seiner Rechtfertigungslehre.35 Seiner pessimistischen Grundhaltung40 entspre- Außerdem hing seine ablehnende Haltung zum Auf- chend, hat er von Fürsten keine hohe Meinung, stand von der feindlichen Haltung zum Erzgegner doch werden sie im göttlichen Zorn gebraucht, Thomas Müntzer ab. Der „gemeine“ Mann konnte um die Bösen zu strafen und um den Frieden zu nicht verstehen, dass trotz Reform es noch immer erhalten. Der Ausgang der Bauernkriege zeigte die ein „Oben“ und „Unten“ gab. Erst forderte Luther Schwäche von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, sie galt bei Verweigerung eines Konzils, dass der „Haufe der Erhaltung der vorhandenen Ordnung und nicht und das weltliche Schwert dazutun“ müsse. Eine zur Erneuerung oder Besserung. Er kennt nur eine Forderung nach Gewaltlosigkeit tritt erst 1521/22 schroffe Unterscheidung in ein Schema von „Ob- nach den Wittenberger Unruhen ein.36 Seine Hal- rigkeit“ und „Untertan“. tung gegenüber der Obrigkeit ist schwankend, er meint 1523, der Christ könne in einer Notsituation aufgrund des göttliches Rechtes falsche, geistliche Die Beziehungen zwischen Martin Obrigkeit abtun oder streichen. In seinen Schriften Luther und Thomas Müntzer wider die Bauern fordert er das Gegenteil. Luthers nationales Programm basierte auf Buße, Umkehr Da sich die Aversionen Luthers gegenüber und Reformation. Die Zeitgenossen, wie Erasmus Müntzer auf revolutionäre Bauern übertrug, ist die von Rotterdam37 geben die „Wortmilitanz“ als Beziehung zwischen den beiden Reformatoren zu Grund für die „Schwertmilitanz“ an. Luthers The- erläutern. Die ersten Kontakte zwischen Luther und ologie entsprach dem Widerwillen eine Revolution Müntzer waren schon im Frühsommer 1519, wäh- zu unterstützen. rend der Disputation um die lutherischen Thesen zwischen Karlstadt,41 Johann Eck42 und Martin Lu- ther, an der Müntzer als Zuhörer anwesend gewesen Entstehen der „Zwei-Reiche-Lehre“ war. Luther studierte von 1501 bis 1505 in Erfurt, Die Idee einer Änderung und Vervollkommnung wollte zuerst Jus studieren. Aufgrund eines Gelübdes der irdischen Zustände waren ihm fremd. Sein Be- studierte er Theologie und hielt ab dem Jahre 1512 mühen galt der Verkündigung des Wortes Gottes, Vorlesungen an der Universität Wittenberg, die der das Evangelium sollte rein verkündet werden. Er ver- Kurfürst von Sachsen als Alternative zur herzogli- urteilte die Wünsche der „Schwärmer“38 und Bauern chen „Landesuniversität“ Leipzig gegründet hatte. als eine Mischung von weltlichen und geistlichen Zwischen Wittenberg und Leipzig gab es Rivali- Dingen, er warf ihnen ein fehlendes Vertrauen zur täten. Leipzig galt als die konservative Universität, Wirkung des Wortes Gottes vor. Luther war gegen genauso wie ihr Landesherr Herzog Georg von die Bauern, weil sie nicht seinem Ordnungsbild ent- Sachsen,43 der ein Gegner Luthers war, weil er sprachen. Seine Stellungnahme zum Problem des Neuerungen, wie z.B. der Reformation feindlich Gehorsams gegenüber der Obrigkeit wurde nicht gegenüberstand. Kurfürst Friedrich der Weise, der durch den Aufruhr veranlasst, sondern beruhte auf Luther unterstützte, war ein anderer Typ, eher be- der Frage nach den Grenzen weltlicher Gewalt. dächtig bis raffiniert und in der von ihm gegründe- Luther war erbost, weil im Herzogtum Sachsen ten Universität Wittenberg herrschte ein Geist des und Bayern die Auslieferung der lutherischen Schrif- Humanismus. ten verboten war. In seinen Schriften erfolgte eine Thomas Müntzer studierte in Leipzig, also auf ei- Trennung der weltlichen und geistlichen Gewalt ner konservativen Universität. Ob er sein Studium in gegenüber der Landesherrschaft der Bischöfe und Leipzig abgebrochen hat, ist nicht genau bekannt, ist

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 81 - aber unwahrscheinlich, da er dann sein Theologies- nach Allstedt, wo er sich von März 1523 bis zum tudium in Frankfurt/Oder im Jahre 1512 begann.44 August 1524 aufhielt. Gemeinsam ist beiden, die Kritik am Ablasswesen In dieser Zeit versuchte Müntzer Luther für seine der römischen Kirche, sowie das Durchsetzen von Ansichten zu gewinnen; es wurden einige Schriften Reformen. Anfangs galten Müntzer und Karlstadt Müntzers erstellt. Als 1521 das Wormser Edikt als Anhänger Luthers. publik wurde, befürchtet Luther einen Schaden für Luther empfahl Müntzer nach Zwickau, der die Reformation. Als die Kunde vom Aufruhr in dort für einige Zeit eine Vertretung eines Pfarrers manchen Orten, wie z.B. in Stolberg bekannt wurde, übernahm. Dort solidarisierte er sich mit den durch verschärften sich bei Luther die Befürchtungen und soziale Konflikte zu kurz Gekommenen. In Bru- auch Müntzer äußerte sich dagegen. derschaften entstand ein spirituelles Christentum, Der Druck einer neuen von Müntzer konzipierten das sich von der gottlosen Welt durch Erwählung abgehoben hatte. Die Führung in diesen Organisatio- nen haben die Zwickauer Propheten.45 Als es zu Kontakten mit den Reforma- toren Luther und Melanchthon mit den Propheten aus Zwickau gekommen war, entstanden die ersten Differenzen. Lu- ther sah in Müntzers „Schwärmerturn“, einem revolutionärem Sozialprogramm, eine Abkehr vom Evangelium. 1521 musste Müntzer Zwickau ver- lassen und am selben Tag verteidigte sich Luther in Worms vor dem Reichstag. Müntzer verließ Zwickau und begab sich nach Böhmen, wo er Gegenden be- suchte, die unter hussitischem Einfluss standen, schließlich ließ er sich in Prag „Einmarsch des schwäbischen Bundes in Würzburg“. Colorierter Holzschnitt, ca. nieder. Er fühlte sich noch als Anhänger 1525. Staatsbibliothek Bamberg [http://www.michael-giesecke.de/geschichte/ typo_buchkultur/bilder/gattungen/erstuermung_fraenk.jpg] Luthers und setzte sich der Verfolgung durch kaiserliche Behörden aus. Durch Einfluss von hussitischen Gedanken, erwartete er Gottesdienstordnung verstieß gegen das Wormser das Ende der Welt. Edikt, Graf Ernst von Mansfeld verbot seinen Unter- tanen den Besuch des Gottesdienstes in Allstedt, dies Im „Prager Manifest“ setzte er der Gelehrsamkeit fasste Müntzer als Kompetenzüberschreitung auf. Es Luthers die Glaubenserfahrung von Auserwählten kam darauf zu schweren Auseinandersetzungen, ob entgegen, dabei flossen mystische Gedanken ein. eine weltliche Obrigkeit das Predigen des Evangeli- Er hatte in Prag kein Glück, die Resonanz auf sein ums verbieten könne. Müntzer erreichte einen Sieg, Manifest blieb aus. So wandte er sich wieder der doch wurde die Rechtmäßigkeit seiner Tätigkeit in Lehre, die in Wittenberg verbreitet war, zu. Er erhielt Allstedt in Frage gestellt. Der Allstedter Bund wurde 1522 als Vertreter der reformatorischen Bewegung zum Schutz Müntzers gegründet, es kam dabei zu eine Stelle als Pfarrer in Nordhausen. Müntzer Ausschreitungen, die Kapelle von Mallersbach wurde entwickelte Vorstellungen über das Ende der Welt, zerstört. Der Konflikt verschärfte sich dadurch, dass die nicht von der Umgebung geteilt wurden, er sich die Allstedter zum Kampf gegen die katholische musste Nordhausen verlassen. In der Reformation Obrigkeit vorbereiteten. entstanden Konflikte zwischen Luther46 und Karl- stadt. Um die Reformation durchsetzen zu können, Inzwischen hatte Luther die Fürsten von dem lehnte sich Luther an die Fürsten an. Müntzer zog „Allstedter Geist“ gewarnt. Herzog Johann von Sach-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 82 - sen und sein Neffe, der Kurprinz Johann Friedrich nung mit Hilfe des Evangeliums ändern wollte, war nahmen als Patronatsherren an einem Gottesdienst für ihn unchristlich, für soziale Forderungen hatte teil, der von Müntzer gehalten wurde. In seiner er kein Gefühl. Die Bauern verstanden ihn falsch, Predigt zitierte Müntzer den Propheten Daniel,47 sie gebrauchten die Begriffe, Gesetz, Evangelium, der sagte, nicht die Weisen und Gelehrten, sondern Christentum und Freiheit49 in einem anderen Sinne. Gott selbst offenbart seine Geheimnisse, indem er Luther fürchtete bei einer Vermengung von Evange- über die Propheten seinen Willen kundtut. lium und sozialen Forderungen die Entstehung eines Damit kritisierte Müntzer das lutherische, an Chaos. Für Luther bedeutete Freiheit das Ende der der Schrift orientierte Offenbarungsverständnis. weltlichen Gewalt in der Kirche. Ein Aufruhr rich- Die Situation nahm an Spannung zu, da ja Münt- tete sich gegen eine von Gott eingesetzte Obrigkeit. zer auch die Haltung der Fürsten kritisiert hatte, Die Bauern verstanden Freiheit als Befreiung von musste er sich in Weimar einem Verhör stellen. Unterdrückung, Geboten, Abgaben und Auflagen. Es wurden Müntzer Beschränkungen auferlegt, er glaubte, Luther stehe hinter der Haltung der Fürs- Vermahnung zum Frieden ten. Schließlich floh Müntzer aus Allstedt und zog auf die „Zwölf Artikel“ nach Mühlhausen. Luther warnte den Rat von Mühlhausen vor dem Luther vermahnte sowohl die Fürsten als auch die „falschen Propheten und Wolf im Schafskleide“. Er Bauern. Die Fürsten waren die Ursache des Übels, glaubte nicht an die Verwirklichung eines „Gottes- die Ausbeutung war die Ursache des Aufstandes. reiches“ auf Erden, hingegen war Müntzers Konzept Der Aufruhr der Bauern wird aber dadurch nicht eines auf Gesellschaftsveränderung gerichtet, dieses entschuldigt. Die Ermahnung erfolgte zu spät, die sollte auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Bauern nahmen sie nicht mehr ernst. Luther wollte die sozialen Anliegen der Bauern nicht verstehen, Luther bezeichnete Müntzer als „Schwärmer, seine Kritik richtete sich gegen die „falschen Mord- Aufrührer und Rottengeist“, der die Strafe der propheten“,50 die das Evangelium für ihre Zwecke weltlichen Gewalt zu erleiden hätte. Er forderte im benutzten. Luthers ablehnende Haltung gegenüber „Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrüh- Müntzer erstreckte sich auch auf die Zeit nach des- 48 rerischen Geist“ ein radikales Einschreiten gegen sen Tod, was nicht zu seiner Ansicht über Gottes die „Schwärmer“, ohne sich mit Müntzer noch auf Barmherzigkeit passte. Als die Obrigkeit abwartend einen theologischen Disput einzulassen. Er beklagte gegen die Bauern reagierte, forderte Luther ein dra- nach einer Zerstörung einer Marienkapelle durch konisches Eintreten der Fürsten gegen die Bauern. Anhänger Müntzers den Aufruhr. Müntzer musste Die Schuld an der revolutionären Entwicklung gab Allstedt verlassen und zog nach Mühlhausen, doch er natürlich Thomas Müntzer.51 Luther gab keine Ruhe, er schrieb an den Rat der Gemeinde und warnte sie vor dem „falschen Geist und Propheten“. Müntzer revanchierte sich mit Folgen der Bauernkriege einer „Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wit- Ein Drittel des Aufstandsgebietes konnte Re- tenberg“. Es folgte ein gegenseitiges Kritisieren formen aufweisen. Das rechtfertigte aber nicht die und Beschimpfen. große Zahl der Toten. Einige der „Zwölf Artikel“ konnten verwirklicht werden. In Tirol, Graubünden und Salzburg erhielten die Bauern Landstände. Luthers Auseinandersetzung mit den Bauern Folgen für die Reformation Seine Kritik richtete sich in erster Linie gegen Über das Ende der Reformation als „Volksbe- Müntzer. Nach seiner Ansicht war die Welt der wegung“52 durch den blutigen Bauernkrieg gibt es Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und dem verschiedene Meinungen. In einigen Ländern, wie Teufel, dieses Weltbild wurde auf die Bauernkriege Sachsen, Hessen, Franken, Preußen und Schleswig- transponiert. Wer die Rechts- und Wirtschaftsord-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 83 - Holstein wurde die Reformation durchgeführt. In der DDR (Berlin 1976). Süd- und Oberdeutschland unterdrückte der Bau- 8) Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, 4. Auflage (Darmstadt ernkrieg die Reformation. Es folgte die Zeit der 1956). Verfassung der Kirchenordnungen, die Landesher- 9) Richard Friedenthal, Luther, Sein Leben und seine Zeit, (München/ Zürich 1982). ren ergriffen die Initiative bei der Einführung der 10.) Friedrich Lütge, Luthers Eingreifen in den Bauernkrieg, in: Reformation, eine Konfessionalisierung trat ein. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik Band 158, Hg. Friedrich Lütge und Erich Preiser (Jena 1943). 11) Martin Luther, Hausbuch, Der Mensch, Reformator und Fami- Schlussbetrachtung lienvater, in seinen Liedern, Sprüchen, Tischreden, Schriften und Briefen, Hg. Marianne Bernhard (Bindlach 1996). Man kann nicht nur behaupten, dass Luther ein 12) Bernd Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, ausschließlich religiöses Interesse hatte, er dachte in: Lutherjahrbuch, 57. Jahrgang 1990, Hg. Helmar Junghans auch in politischen Dimensionen. In seiner „Zwei- (Göttingen 1990). Reiche-Lehre“ vernachlässigte er vollkommen das Recht auf Widerstand.53 Seine Behauptung, das Evangelium kümmere sich nicht um weltliche Anmerkungen Sachen, nützte nur den Machthabern. Er fühlte 1 Z.B.: Benennung von SS-Einheiten nach Bauernführern, wie Mi- sich nur als Reformator einer Kirche und nahm chael Gaismair, Florian Geyer. Friedrich Winterhager (Inaugural- Dissertation, Berlin 1979) S. 192 ff. radikal gegen den Bauernaufstand Stellung, weil 2 er annahm, es werde dadurch die Reformation Gemäß der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie wurden Reformation und Bauernkriege als frühbürgerliche Revolution gefährdet. Dies war eine politische Annahme. Als interpretiert. Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Ausfluss des Obrigkeitsdenkens von Martin Luther Geschichtsbild der DDR, Band 10 (Berlin 1976) S. 33–45. entstand, wie es in wissenschaftlichen Disputen der 3 Anlässlich der Konstituierung des Martin-Luther-Komitees der letzten Jahrzehnte erläutert wurde, in einigen von DDR, betonte Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates der ihm beeinflussten Gebieten, eine unkritische Un- DDR, dass dies ein Anlass sei, „historische Ereignisse und das Wesen großer Persönlichkeiten tiefer zu verstehen und für die tertanenmentalität. Während der wilhelminischen Gegenwart zu nutzen“. Luther-Dialoge, Ausstellung zur Martin- Kaiser-, der NS-Zeit und während des Bestehens der Luther-Ehrung 1983 der Deutschen Demokratischen Republik DDR kam diese Haltung gegenüber der Diktatur (Erfurt 1983) S. 5. zum Tragen. 4 Luther benötigte zum Kirchenaufbau die Mitarbeit der Landes- fürsten und nahm daher für sie Partei. Friedrich Lütge, Luthers Mag. Otto-Erich Westphal, ADir RgR i.R. war Mitarbeiter Eingreifen in den Bauernkrieg in seinen sozialge schichtlichen im HBVA und ist Historiker. Der vorliegende Beitrag Voraussetzungen und Auswirkungen, in: Jahrbücher für Natio- entstand 1997/98. nalökonomie und Statistik, Hg. Friedrich Lütge und Erich Preiser, Band 158 (Jena 1943) S. 381 f.

5 Martin Luther, Hausbuch, Der Mensch, Reformator und Famili- envater in seinen Liedern, Sprüchen, Tischreden, Schriften und Briefen, Hg. Marianne Bernhard (Bindlach 1996) S. 289. Literaturverzeichnis 6 Papst Julius II., geb. 1443, gest. 1513, Papst von 1503–1513, war 1) Peter Blickle, Freiheit und Gerechtigkeit, in: Lutherjahrbuch, 62. mehr Staatsmann und Feldherr als Priester. Sein Bestreben war Jahrgang (Göttingen 1995). die Rückgewinnung des zersplitterten Kirchenstaates. Um das 2) Peter Blickle, Das göttliche Recht der Bauern und die göttliche Schisma zu verhindern, berief er 1512 das 5. Allgemeine Konzil Gerechtigkeit der Reformatoren, in: Archiv für Kulturgeschichte, zu Lateran ein. Er beauftragte Künstler, wie Michelangelo, Raffael 68. Band, Hg. Egon Boshof (Köln/Wien 1986). und Bramante Kunstwerke für die Kirche zu schaffen. Christian Fichtinger, Lexikon der Heiligen und Päpste, 2. Auflage (Salzburg 3) Horst Buszello, Peter Blickle, Rudolf Endres, Der deutsche Bauern- 1984) S. 213–217. krieg, 3. bibliographisch ergänzte Auflage (Paderborn/München/ Wien/Zürich 1995). 7 Man soll nicht auf der Heiligen Tat, Beispiel und Wort, sondern 4) Luther Deutsch, die Werke Martin Luthers, Hg. Kurt Aland, Band allein auf Gottes Wort bauen, welches allein nicht lügen noch irren 7, Martin Luther, Der Christ in der Welt, 2. erweiterte und neu kann. Lutherlexikon, Hg. Kurt Aland, 4. durchgesehene Auflage bearbeitete Auflage (Stuttgart/Göttingen 1967). 1983 (Göttingen 1983) S. 172. 5) Luther Deutsch, Lutherlexikon, 3. Auflage, Ergänzungsband, Hg. 8 Martin Luther Hausbuch, S. 156. Kurt Aland (Göttingen 1974). 9 Röm. 13/1, Die Gute Nachricht, Das Neue Testament in heu- 6) Klaus Ebert, Thomas Müntzer, Von Eigensinn und Widerspruch tigem Deutsch, Hg. Bibelgesellschaften und Bibelwerke im (Frankfurt/M. 1987). deutschsprachigen Raum, 3. neu übersetzte Auflage (Stuttgart 7) Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild 1967) S. 363.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 84 - 10 Die Bauern forderten die Regelung ihrer Anliegen nach „göttli- Metz 1356 durch Kaiser Karl IV. ein Paragraph in die Goldene chem Recht“ manchmal auch „altes Recht“ bezeichnet. Für die Bulle aufgenommen, die dem „bäuerlichen Bürger“ ein Ende Bewertung des Bauernkrieges von 1525 ist die Forderung charak- bereitete. Blickle, Lutherjahrbuch, S. 88. teristisch. Die Forschung stellte die Frage nach der Herkunft dieses 21 In der Schweiz verstand man unter Tagsatzung die Versammlung „göttlichen Rechtes“. Der Begriff erhält durch die Reformation der Gesandten der Kantone. Der Neue Brockhaus, 5. Band, eine Verstärkung. Eine andere Denkart bezeichnet es als von der S.193. reformatorischen Theologie abgeleitet. Ein enger Zusammenhang von göttlichem Recht und Reformation weist auf eine Verbin- 22 Es wurden Martin Luther, Huldrich Zwingli, Matheus Zell u.a. dung von Reformation und Bauernkrieg als soziales Ereignis hin. genannt. Blickle, Lutherjahrbuch, S. 102. Zwischen Evangelium und göttlichem Recht gibt es keine scharfe Trennung. Auf dem Lande wird dieser Zusammenhang enger als in 23 In der Beurteilung der biblischen Kenntnisse der Bauern sind un- der Stadt aufgefasst. Peter Blickle, Das göttliche Recht der Bauern terschiedliche Aussagen festzustellen. Einerseits wurde den Bauern und die göttliche Gerechtigkeit der Reformatoren In: Archiv für eine naive Identifikation mit der Heiligen Schrift und „Schwär- Kulturgeschichte, 68. Band, Hg. Egon Boshof (Köln/Wien 1986) mertum“ vorgeworfen, andererseits stellte man die Kompetenz S. 351–354. der Auslegung der Bibel der Obrigkeit und der Bauern auf eine

11 gleiche Stufe. Eine heftige Ablehnung wie bei Luther findet man Im Jahre 1495 beschloss der Reichstag zu Worms die Verkündigung bei anderen Reformatoren nicht. Brunhilde Schweinzer, Luther des Ewigen Landfriedens; zur Beseitigung des Fehderechtes wurde und der Bauernkrieg, Hausarbeit, Neuere Geschichte (Wien 1983) das ständig tagende Reichskammergericht in Frankfurt/Main (seit S. 25 und S. 73. 1527 in Speyer) als oberste Reichsinstanz geschaffen. Dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 1 (München 1964) S. 219. 24 Schon in der Reformation des Kaisers Sigismund (Reformatio

12 Sigismundi) aus dem Jahre 1439 wurde die Säkularisation der Bei Luther wurden Gesetz und Evangelium scharf getrennt, bei geistlichen Herrschaften und die Besoldung der Pfarrer vorge- Zwingli erfolgte keine scharfe Trennung. Blickle, Archiv für Kul- schlagen. Wilhelm Baum, Kaiser Sigismund (Graz/Wien/Köln turgeschichte, S. 359. 1993) S. 284 f. 13 Luther kann sich nur einen passiven Widerstand in Sachen des 25 Großer Zehnt bezog sich auf Erträge aus Korn (Roggen),Weizen, Glaubens vorstellen. Ebenda, S. 359 f. Gerste, Hafer und Wein. Der Kleine Zehnt bezog sich auf Ge müse, Obst und Heu, sowie auf Nutztiere. Die Feudalherren bestanden 14 Luthers Begriff der Gerechtigkeit des Glaubens besteht in der auf der Abgabe der beiden Zehnt, weil sie sonst schwere materielle Gnade, nicht in den Werken. Lutherlexikon, S. 133. Einbußen hinnehmen mussten. In manchen Fällen wurde der 15 Die Bauern verstehen unter Gerechtigkeit eine unparteiische Zehnt in Geldabgaben umgewandelt. Rudolf Endres, Ursachen, Rechtssprechung, Wahrung des herkömmlichen Rechtes, An- in: Der deutsche Bauernkrieg, 3. bibliographisch ergänzte Auflage, passung des Rechtes an Normen der Billigkeit, die sich nach Hg. Buszello/Blickle/Endres (Paderborn/München/Wien/Zürich wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen 1995) S. 228 f. durchaus ändern können. Peter Blickle, Freiheit und Gerechtigkeit, 26 Melanchthon Phillip, geb. 1497, gest. 1560, deutscher Reformator in: Lutherjahrbuch, 62. Jahrgang (Göttingen 1995) S. 92. und Humanist, wichtigster Mitarbeiter Luthers. Seit dem Marbur- 16 Vor dem Entstehen einer reformatorischen Bewegung konnte man ger Religionsgespräch im Jahre 1529 war er bei allen Religions- schon Ende 1519 mit einer Anzahl von 200.000 Exemplaren verhandlungen beteiligt. Er verfasste die Augsburger Konfession von Lutherschriften rechnen. Die Erfindung des Buchdruckes 1530. Der Neue Brockhaus, Band 3, S. 472. beschleunigte die Ausbreitung der Reformation. Bernd Moeller, 27 Nach Luthers Meinung konnte die Welt nicht durch das Evan- Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation. In: Luther- gelium regiert werden. Das Wort ist gering geachtet, daher muss jahrbuch, 57. Jahrgang (Göttingen 1990) S. 61. die weltliche Gewalt durch das Schwert erreicht werden. Damit 17 Die Untertanen des Klosters Ochsenhausen verlangten für ihre erfolgt eine Trennung zwischen der weltlichen und der geistlichen Kinder sowohl an den Höfen als auch an Immobilien und der Gewalt, einem Reich der Welt und einem Reich Gottes. Gott mobilen Verlassenschaft das Erbrecht. Außerdem sollte das Verbot regiert über beide Welten. Die Obrigkeit braucht nicht christlich der Ehe mit Untertanen anderer Herrschaften aufgehoben werden. zu sein, sondern sie muss vernünftig regieren. Lutherlexikon, S. Blickle, Lutherjahrbuch, S. 83 f. 244–250. 28 18 Ab dem 16. Jahrhundert wurde die Zusammenfassung des Land- Die Gute Nachricht, S. 77. rechtes in Landesordnungen von den Ständen veranlasst. Es war 29 Ebenda, S. 363. als Gewohnheitsrecht gültig. Österreichlexikon in zwei Bänden, Band I, Hg. Richard und Maria Bamberger, Ernst Bruckmüller, 30 Während die Bauern der Ansicht waren, dass ihre Forderungen Karl Gutkas (Wien 1995) S. 673. durch die Bibel gedeckt waren und der Zehnt für den Unterhalt des Pfarrers, der das Wort Gottes verkündet, zu verwenden ist, 19 Das Stadtrecht ist im Mittelalter entstanden. Das Landrecht wur- erkannte Luther in seiner Stellungnahme zu den Zwölf Artikeln de den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen der Städte „Ermahnung zum Frieden“ die unerträglichen Lasten, die von angepasst. Anfangs beruhte es auf Privilegien des Königs oder der Fürsten den Bauern auferlegt wurden und sie dafür vor Gott vom Stadtherren. Später traten städtische Ratssatzungen in den Vorder- Stuhl gestürzt werden sollten. Er wendet sich aber gegen die Ab- grund. Weitere Quellen waren private Rechtsbücher, Sammlungen sicht der Bauern, ihre weltlichen Forderungen im Namen Gottes von Schöffensprüchen und Stadtbücher. Ende des Mittelalters durch Gewalt durchsetzen zu wollen und nennt ihre Absicht als wurde es dem römischen Recht angepasst. Der Neue Brockhaus, eitel Raub und öffentliche Strauchdieberei. Nach seiner Ansicht Lexikon und Wörterbuch in fünf Bänden und einem Atlas, 5. gebührte der Zehnt der Obrigkeit. Die Bibel, Altes und Neues Band, 4. neu bearbeitete Auflage (Wiesbaden 1968) S. 99. Testament in neuer Einheitsübersetzung, Band 7, Hg. Günther 20 Auf Bitten des Straßburger Bischofs wurde auf dem Reichstag von Stemberger und Miriam Prager OSB (Salzburg 1977) S. 3244 f.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 85 - 31 Luther fühlte sich nur als Evangelist kompetent. Die sozialen Ver- 44 Ebert Klaus, Thomas Müntzer (Frankfurt/M. 1987) S. 69 f. hältnisse sollten durch die Rechtsverständigen geregelt werden. 45 Ebenda, S. 3247. Neben Thomas Müntzer gehörte Nikolaus Storch, ein Anführer der innerstädtischen Widerstandsbewegungen der Tuchmacher und 32 In diesen Schriften wendet sich Luther scharf gegen die auf- Bergknappen, zu den Zwickauer Propheten. Ebenda, S. 83 f. rührerischen Bauern und fordert ihre Vernichtung. (Anm. d. 46 Verfassers). Während sich Luther auf der Wartburg aufhielt, bildete sich an der Universität Wittenberg eine radikale, reformatorische Gruppe, 33 Um die Unglaubwürdigkeit Luthers zu dokumentieren nannte ihn der sich auch Karlstadt anschloss, die im Jahre 1522 einen Bilder- Cochleus den „siebenköpfigen Luther“, der mit sieben verschie- sturm entfachte. Diese Unruhen beunruhigten Luther, er kehrte denen Stimmen spreche, Mönch, Doktor, Teufel, Bischof oder nach Wittenberg zurück und predigte gegen die Aufständischen. bäurischer Aufrührer. Richard Friedenthal, Luther (München/ Friedenthai, S. 394 f. Zürich 1982) S. 461. 47 Diese Predigt wurde die „Fürstenpredigt“ genannt. 34 Martin Luther, Hausbuch, S. 385–390. Ebert,S.132 f.

35 Gerecht machen ist allein Gottes Sache, wie auch die Schöpfung 48 In diesem Brief forderte Luther die Fürsten nochmals zu einem allein Gottes Werk ist. Der Glaube macht gerecht, weil er die strengeren Vorgehen gegen die Bauern auf. Ab diesem Zeitpunkt Barmherzigkeit ergreift. Lutherlexikon, S. 269. verschärfte sich die Situation. Martin Luther, Der Christ in der Welt, Band 7, 2. erweiterte und neu bearbeitete Auflage, Hg. Kurt 36 Martin Luther ermahnte alle Christen, sich vor Aufruhr und Aland (Stuttgart/Göttingen 1967) S. 385 ff. Empörung zu hüten. Der Aufruhr ist durch Gott verboten. Schweinzer, S. 39. 49 Unter Freiheit verstanden die Bauern das Erlangen sozialer Besser- stellungen, die in den 12 Artikeln formuliert wurden. Buszello/ 37 Erasmus von Rotterdam, geb. 1465, gest. 1536, hieß eigentlich Blickle/Endres, S. 226–245. Gerhard Gerhards, bedeutender Humanist; in der religiösen Bewe- gung nahm er eine vermittelnde Stellung zu den reformatorischen 50 Thomas Müntzer erwiderte in einer Rede und bezeichnete Luther Bestrebungen ein, verblieb jedoch in der katholischen Kirche. Er als „geistloses sanft lebendes Fleisch zu Wittenberg, welches mit lehnte Luthers Reformation ab, als sie zum Bruch mit der Kirche verkährter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die führte. Der Neue Brockhaus, Band 2, S. 86. erbermdliche Christenheit also ganz jämmerlich besudelt hat“. Schweinzer, S. 54. 38 Luther nannte die Anhänger von Thomas Müntzer in Thüringen Schwärmer oder Schwarmgeister. Friedenthal, S. 511. 51 Die Fürsten machten Ernst und die Bauern wurden am 15. 5. 1525 in der Schlacht bei Frankenhausen vernichtend geschlagen. Tho- 39 Die weltliche Herrschaft, die für Ordnung sorgt, gehört auch zu mas Müntzer und andere Bauernführer wurden enthauptet. Es trat Gottes Regiment. Lutherlexikon, S. 246. eine politische Entmündigung und soziale SchlechtersteIlung der Bauern ein. Friedenthal, S. 518 f. 40 Sie äußerte sich in Depressionen, Anfechtungen, Schrecken, die man als pathologische Symptome werten kann. Albert Mock, Ab- 52 Städtische Schichten haben die Reformation von Anfang an schied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen mitgetragen und hielten auch 1525 Luther die Treue. Von nun zum Lutherjahr (Köln 1985) S. 49. an war die Lehre geteilt in die „rechte Lehre“ und die Lehre von „falschen Propheten“. Darunter verstand man den revolutionären 41 Karlstadt, eigentlich Andreas Bodenstein, geb. 1480, gest. 1541, Flügel der Reformation. Schweinzer, S. 76. Geistlicher am Wittenberger Allerheiligenstift, trat 1519 als Anhänger Luthers in Leipzig gegen Johann Eck auf. Im Streit 53 Karl Barth war überzeugt, dass ein roter Faden durch die deutsche über das Abendmahl war er später ein Gegner Luthers. Der Neue Geschichte ginge, der von Martin Luther über Friedrich den Gro- Brockhaus, Band 3, S. 75. ßen und über Otto von Bismarck bis zu Adolf Hitler führte. J. H. Brinks, Einige Überlegungen zur politischen Instrumentalisierung 42 Eck Johann, eigentlich Maier, katholischer Theologe, geb. 1486, Martin Luthers durch die deutsche Historiographie im 19. und 20. gest. 1543, schrieb gegen Luthers Thesen, die „Obelisci“. Nahm Jahrhundert, in: Zeitgeschichte 7–8/22. Jahrgang/1995. 1519 am Leipziger Streitgespräch mit Luther und Karlstadt teil. 1520 brachte er die Bannandrohungsbulle von Rom. Ebenda, Band 2, S. 4.

43 Friedenthal, S. 85.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 86 - Johann Michael Seberiny und die evangelische Militärseelsorge im alten Österreich

Karl W. Schwarz

I. bestattet wurde er auf dem evangelischen Friedhof in Wien-Simmering. Die Gründe, wa- Er war der Sohn des evangelischen Pfarrers und rum ich um dieses nachmaligen Superintendenten Johann/Ján Seberiny Einleitungsreferat ge- (1780–1857)4 und der Pfarrerstochter Esther geb. beten wurde, liegen in Podhraczky de Nemes Podhradj5, er entstammte also meinem besonderen einer im Karpatenbogen beheimateten slowakisch- Interesse für den slo- magyarischen Familie, die viele Theologen hervorge- wakisch-magyarischen bracht hat6: Der Bruder des Vaters: Andreas Seberiny Kirchenkonflikt im 19. (1794–1832) war Pfarrer in Máglod und ebenso Jahrhundert1, denn da- Stammvater eines Theologengeschlechts. Schon der ran war Johann Michael ältere Bruder unseres Johann Michael war Pfarrer ge- Seberiny beteiligt. Weiters war er ein lang dienender worden: Gustav Adolf Seberiny (1816–1890)7, Pfar- Professor (1863–1895) an der Wiener Evangelisch- rer und Superintendent in Békés-Csaba (Dr.theol. theologischen Fakultät - und zwar für Praktische Wien 1871), dessen Sohn Ludwig Sigmund Seberiny Theologie und Kirchenrecht2. Zwei Jubiläen des (1859–1941)8 war ebenfalls Pfarrer in Békés-Csaba Militärsuperintendenten im Jahr 2005 (180. Ge- und Senior (Dr.theol. Wien 1911). burtstag, 90. Todestag) kommen noch hinzu. An der unterschiedlichen Schreibweise des Na- Ich werde einen knappen Lebensabriss bieten, mens (Seberiny, Severini, Szeberinyi, Szeberényi) seine pastorale Tätigkeit und kirchenpolitische kann man schon erkennen, dass sie sich sowohl als Wirksamkeit erörtern, schließlich seine Werke magyarisch als auch slowakisch gefühlt hat. Beim benennen (er hat nicht sehr viel geschrieben), und Vater dominierte der ungarische Patriotismus, beim zuletzt seine Bedeutung für die Militärseelsorge im Sohn hingegen das erwachende slowakische Natio- alten Österreich wenigstens kurz streifen. nalbewusstsein. Der erwähnte slowakisch-magyari- II. sche Kirchenkonflikt zieht seine Spur mitten durch Die diversen Biographischen Lexika3 würdigen die Familie. So war der Cousin Lájos Szeberényi Seberiny als evangelischen Pfarrer, als Militär- (1820–1875)9 ein Freund Petöfis und engagierter pfarrer und Theologieprofessor. Geboren ist er in Mitarbeiter Kossuths. Er redigierte die Zeitung Schemnitz (Banská Štiavnica/Selmecbánya) am „Evanjelik“, die ganz massiv gegen die nationalslo- 16. Februar 1825; gestorben ist er in Wien am 21. wakische Bewegung gearbeitet hat. Als Mitarbeiter Jänner 1915, also kurz vor seinem 90. Geburtstag, Kossuths wurde er verhaftet, konnte aber als Lehrer

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 87 - in Békés-Csaba wirken, wurde wieder verhaftet und slovakischer Sprache. Schließlich wurde er 1857 erst aufgrund eines Gnadengesuchs seiner Mutter zum Nachfolger seines verstorbenen (zweifellos aus der Haft entlassen. Ab 1864 wirkte er als mag- magyarophilen15) Vaters in Schemnitz gewählt, yarisch-slowakischer Prediger in Pressburg/Pozsony/ er setzte sich für das Gymnasium ein, als es nach Bratislava; dort wurde ihm auch das Lehramt für Neusohl/Besterczebánya/Banská Bystrica verlegt Praktische Theologie übertragen10, das er also zeit- werden sollte (1857)16. gleich wie sein Cousin in Wien bekleidete. Über In Schemnitz arbeitete er vehement für die Ko- Forschungskontakte ist nichts bekannt geworden. ordinierung der Gemeinde im Sinne des Protestan- Wenden wir uns nun aber dessen Lebenslauf zu11: tenpatents von 1859 und für deren Angliederung Johann Michael Szeberiny absolvierte das Distrik- an die neugegründete Patentalsuperintendenz des tualgymnasium seiner Heimat- Superintendenten Karol Kuz- stadt Schemnitz, er studierte mány (1806-1866)17. anschließend am evangelischen Seine Dankbarkeit für das Kollegium in Eperies/Eperjes/ Patent drückte er in einem Prešov Rechtswissenschaft und Schreiben an Kaiser Franz Theologie (1842–45), um nach Joseph aus (8.2.1860)18: Er abgelegten Examina (1845) dankte ihm für das Patent, weil sein Theologiestudium an den 12 es die Kirche befreit habe „von Universitäten in Jena und einer … Bevormundung“ durch Berlin fortzusetzen (1845–47). die weltlichen Amtsträger. Das In Jena, wo schon sein Vater Patent ist „ein so großer Segen, studiert hatte (Dr.theol. h.c. 13 daß die evangelische Geistlich- 1839) errang er einen Preis keit A.B. nur laut aufjauchzen für eine ekklesiologisch-kon- konnte“. Mit dieser begeisterten fessionskundliche Arbeit. Zustimmung zum Patent stand Im Herbst 1847 kehrte er er allerdings im diametralen nach Ungarn zurück, er leistete Gegensatz zu seiner Gemein- zunächst Sekretärsdienste beim de. Denn Schemnitz stand in Vater, Sup. Johann Seberiny, dem Konflikt zwischen Pa- dann folgte eine kurze Tätig- tentanhängern und –gegnern, keit als Hauslehrer in Pest bei zwischen Patentisten und Au- der Familie von Gosztonyi. In tonomisten auf der Seite der der Folge wurde er von seinem Autonomisten. Der Gegensatz Vater am 22.5.1849 ordiniert. verschärfte sich, weil Seberiny Danach wirkte er als deutscher Ein evangelischer Militärgeistlicher in Parade- von den Patentgemeinden bei Prediger in der ev. Gemeinde adjustierung am Ende des 19. Jahrhunderts der Konstituierung der er- (Brüch, 1895) Deutsch-Pilsen/Nagy-Börzsö- wähnten Pressburger Patental- ny und widmet sich dort dem superintendenz (Bries/Brezno Kirchbau, denn bei einer Feuersbrunst war 1843 27./28.6.1860) zum Konsistorialrat gewählt wurde19 die Kirche abgebrannt. Der Neubau der Kirche und es ablehnte, die Ziele des Patents preiszugeben. („unfern vom Donaustrom, dort, wo sich die Kup- Vielmehr resignierte er und wechselte als „Märtyrer pel des neuen Domes von Gran spiegelt“) erfolgte des Patents“20 in die österreichische Reichshälfte. Aus mit Mitteln des Gustav-Adolf-Vereines, wofür er dem Konflikt in Schemnitz befreite ihn die Berufung mit pathosgeschwängerter Stimme (bei der GA- zum Garnisonsprediger nach Wien, am 15. Oktober Hauptversammlung in Bremen [4.9.1855]) den 1860 erfolgte seine Ernennung auf eine Planstelle, herzlichsten Dank überbrachte14. Das tat er bereits die eben erst eingerichtet worden war21. Seine streng als „gewesener“ Seelsorger, denn ab 1853 war er in österreichische Gesinnung mochte ihn empfohlen der Artikulargemeinde in Egyház-Mároth tätig, und haben, sein Einsatz zugunsten des Patents öffnete zwar als Prediger in deutscher, magyarischer und ihm in Wien so manche Türen. So wird es seinem

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 88 - persönlichen Auftreten zugeschrieben22, dass er den stand er äußerst kritisch. Er wurde deshalb von den Kaiser zu überzeugen vermochte, die ehemalige, un- Mitgliedern der Studentenverbindung „Wartburg“ ter Joseph II. säkularisierte Schwarzspanierkirche, abgelehnt26. Als er dem Verein zur Abwehr des An- die der Erzbischof für die römisch-katholische Kir- tisemitismus beitrat und dessen Ziele propagierte, che haben wollte, dem Dienst der Evangelischen handelte er sich sogar deren Feindschaft ein27. Nach Kirche als Garnisonskirche23 zu widmen. dem frühen Tod seines Sohnes Johannes Seberiny 28 Die nächste Stufe seiner Karriere beschritt er (1857–1894) , der ebenfalls Pfarrer gewesen ist (zu- als supplierender Lehrer für die praktisch-theologi- letzt in Innsbruck), zog er sich zurück, die Nachricht von seinem Tod erreichte die Fakultät überhaupt erst schen Lehrveranstaltungen an der Wiener Fakultät. 29 Denn der Professor für Praktische Theologie Karl nach dem Begräbnis . Kuzmány war, wie schon oben erwähnt, zum Super- intendenten der „Patentalsuperintendenz“ gewählt III. worden. Kuzmány hatte beachtlichen Einfluss im Seine Ernennung zum Kultusministerium. Er Professor in Wien mar- konnte es gegen den Wi- kiert eine theologische derstand des Professoren- Zeitenwende: sie wird als kollegiums durchsetzen, Sieg des Neuluthertums dass Seberiny 38jährig über die liberale Theo- als Nachfolger auf den logie bezeichnet30. Der Lehrstuhl für Praktische 1864 von der konservativ Theologie und Kirchen- lutherischen Fakultät in recht berufen wurde (ah. Rostock mit dem Eh- Entschl. 23.11.1863) 24. rendoktorat ausgezeich- nete Seberiny zog sich Er verband also zwei durch sein polemisches Ämter miteinander: Hauptwerk31 über den (1.) Garnisonsprediger, Pseudoprotestantismus Militärpfarrer (als Beirat im die erbitterte Feindschaft Reichskriegsministerium der Liberalen zu: er wider- wurde ihm mit Entschlie- setzte sich in zwei Punkten ßung vom 23.4.1869 der dem Lehrdogma seiner li- Titel Militärsuperinten- Johann Michael Seberiny beralen Gegner: dent verliehen) und (2.) er propagierte die Not- Professor für Praktische wendigkeit einer engen Verbindung von Staat und Theologie und Kirchenrecht. Kirche, Er hat damit das enge Zusammenwirken von er räumte dem Landesherrn trotz dessen katho- Kirche und Staat personifiziert. Mit allerhöchster lischer Konfession ein landesfürstliches Episkopal- Entschließung vom 31. Jänner 1877 wurde ihm recht (im Sinne des konservativen lutherischen Kir- das Ritterkreuz des Franz-Josef-Ordens verliehen. chenrechtlers Friedrich Julius Stahl [1802–1861]) Mehr als drei Jahrzehnte, durch 64 Semester hat ein. Die Liberalen beschränkten hingegen die er Praktische Theologie und Kirchenrecht doziert landesfürstlichen Befugnisse auf eine allgemeine und ein Stück weit den theologischen Nachwuchs Kirchenhoheit. geprägt. Sein erstes kirchenpolitisches Werk hatte er noch Er war bei den Studenten äußerst beliebt, er zeigte als Pfarrer in Egyházas-Maroth 1857 in ungarischer einen freundlich- „leutseligen“ Umgang, fühlte sich Sprache verfasst32. Schon darin klingt der Konflikt als Pfarrer seiner Studenten25. Zum Deutschnationa- an, der sich durch die ungarische Kirchengeschich- lismus, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an te zieht (Kyriarchie/Hierarchie), der Gegensatz der Wiener Fakultät zur Vorherrschaft gelangt war,

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 89 - zwischen der Kirchenleitung durch die weltlichen Er setzte sich darin für die Gleichberechtigung der Amtsträger (Adel) und die Träger des geistlichen Nationalitäten in der Kirche (These 30) und für Amtes (Superintendenten). Er votierte gegen ein eine „zweckmäßige Eintheilung der Kirchenspren- (weltlich/geistliches) Doppelpräsidium der Kon- gel“ (These 36) ein. Diese beiden Thesen weisen vente und plädierte für die freie Wahl durch die darauf hin, dass die Slowaken eine Neugliederung jeweilige Versammlung. Dabei ließ er durchblicken, der vier lutherischen Kirchendistrikte anstrebten, dass die Geistlichen ihr Vertrauen zum Adel verlo- um die Bildung einer slowakischen Superintendenz ren hätten. Viele weltliche Funktionsträger hätten in Oberungarn, im Gebiet der heutigen Slowakei, zu ihren ursprünglich kirchlichen Sinn verloren, in- erreichen. Das ist bekanntlich mit der sogenannten dem sie die Nationalität über die Religion gestellt „Patental“-Superintendenz aufgrund der Bestim- haben. Daher wurden die politischen Maßnahmen mungen des Protestantenpatents von 1859 gelun- (Verordnung vom 10.2.1850) des Feldzeugmeisters gen39. Diese Superintendenz des Superintendenten Julius Freiherrn von Haynau (1786–1853), eines Kuzmány (er feierte 2006 seinen 200. Geburtstag Reformierten, der sich als jener Mann verstand, „der und wurde durch die Ausgabe einer Briefmarke mit Ordnung schaffen würde“ durchaus begrüßt, weil seinem Portrait geehrt40) rief aber einen enormen sie eine Aufwertung des geistlichen Standes bein- Kirchenkampf hervor. Denn sie war in den Augen halteten. Dass jener „ruhigen Gewissens Hunderte der „Autonomisten“ nicht das Ergebnis kirchlicher erschießen [lasse]“, um „jeder künftigen Revolution Entschließungen, sondern wurde der Kirche durch ein mahnendes Exempel zu statuieren“, hat seine den Staat „aufgenötigt“. Für die Kirchenrechtler einjährige Herrschaft im besiegten Ungarn mit Kuzmány und Seberiny hingegen war diese Lösung Blut gesättigt33 und Ungarns Einordnung in den durch den Landesherrn durchaus rechtskonform, Österreichischen Gesamtstaat belastet. Seberiny weil nach ihrer Meinung absoluter Regelungsbedarf plädierte jedoch wie die meisten Slowaken für eine bestand und dem Landesherrn nach dem „protestan- „protestantische Reichskirche“ unter einer zentralen tischen Axiom“ dieses Recht zustand. Kirchenleitungsbehörde in Wien, einen k.k. Ober- In seiner im Druck erschienenen Antrittsvorle- kirchenrat mit kirchenhoheitlichen Inspektionsbe- 41 34 sung und in seinem kirchenrechtlichen Hauptwerk fugnissen . über den „Pseudo-Protestantismus auf kirchenrecht- Das zweite kirchenpolitische Werk stammt aus lichem Gebiete“42 hat Seberiny das im Einzelnen dem Jahre 1860 und befasst sich mit dem ungari- entfaltet und für den engsten Anschluss der Kirche schen Protestantenpatent von 185935. Er nahm darin an den Staat gearbeitet – das kann hier nicht dar- jene positive Einstellung zum Protestantenpatent gestellt werden43. ein, von der schon gesagt wurde, dass sie im dia- metralen Gegensatz zur Haltung seiner Gemeinde stand. Gemeinsam mit dem Pester Pfarrer Joseph IV. 36 Podhrádsky (1823–1915) gab er zwischen 1860 A két protestáns hitfelekezet föderátiója a cs. és kir. und 1862 eine Zeitung heraus (Evangelické Cirkevní hadseregben [Die Föderation der beiden protestanti- Noviny/Evangelische Kirchenzeitung), deren erklär- schen Confessionen in der k.k. Armee] (Bécs 1869) tes Ziel die Propaganda für das Protestantenpatent – so lautet ein weiterer Buchtitel von Seberiny, mit 37 gewesen ist , während der oben schon erwähnte dem ich zum letzten Teil meines Referates überlei- Cousin Ludwig/Lájos Szeberényi mit seiner Zeitung te. Er ist der Militärseelsorge im alten Österreich „Evanjelik“ genau das Gegenteil erreichen wollte, gewidmet. nämlich die slowakischen Gemeinden im Sinne des magyarischen Staatsgedankens und Patriotismus zu Bei diesem Thema kann ich mich auf die beeinflussen und gegen das Protestantenpatent zu hervorragende Monographie des Jubilars Julius 44 agitieren. Hanak beziehen . Diese Arbeit, eine theologische Dissertation, gibt einen guten Überblick über die Seberiny war ein ultrakonservativer Lutheraner, Vorgeschichte der Militärseelsorge in der Zeit der 38 seine Thesen „gegen das Unkirchliche in der Kirche“ Reformation und Gegenreformation, er zeigt die weisen ihn als Anhänger des scharf antirationalisti- Auswirkungen des Toleranzpatents von 1781, näm- schen und unionsfeindlichen Neuluthertums aus.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 90 - lich den Aufbau einer Militärgemeinde in Prag und Taubner entwarf die Pläne für die Neuorgani- die nebenamtliche Tätigkeit einzelner Geistlicher. sation der Militärseelsorge, zu der es 1860, also Die Initiative zur Errichtung der ersten haupt- im Gefolge des ungarischen Protestantenpatents, amtlichen Militärseelsorgerstelle ging nachweislich gekommen ist. Ohne Rücksprache mit dem Evan- von Ungarn aus. Im Wege über die königlich-unga- gelischen Oberkirchenrat in Wien ordnete der Kaiser rische Hofkanzlei erreichte den Hofkriegsrat Anfang (mit allerhöchstem Befehlsschreiben vom 26. April 1833 der Antrag, „dass so wie bei jenen Regimentern, 1860) die Einrichtung von Stellen für Garnisons- deren Mannschaft in größerer Anzahl der griechisch- Feldprediger A.B. und H.B. an folgenden Orten nichtunierten Religion zugethan ist, eigene Feldkapläne an: ihres Glaubens bestehen, ebenso bei solchen Regimen- ● Wien (für Nieder- und Oberösterreich, tern, welche viele Evangelische in ihren Reihen zählen, Salzburg, Steiermark, Kroatien und Slavonien) evangelische Feldprediger bestellt werden möchten“. ● Verona (für das lombardisch-venetianische Angesichts der überlieferten Zahl von mehr als Königreich, Kärnten, Krain, Tirol, das Küstenland 18.000 Protestanten in der Armee war auch nach und Dalmatien) Meinung des Hofkriegsrates Regelungsbedarf ge- ● Ofen/Buda – später Pest (für Ungarn) geben. Der Kaiser stimmte dem zu und bestellte schon 1834 für die ungarischen Regimenter in ● Lemberg (für Galizien und die Bukowina) Oberitalien (wo es keine evangelischen Gemeinden ● Prag (für Böhmen, Mähren und Schlesien) gab) zwei Militärseelsorger, den Lutheraner Ludwig ● Hermannstadt/Sibiu (für Siebenbürgen, Bukwa und den Reformierten Samuel Harsányi Banat und die Serbische Woiwodschaft). (1808–1885)45. Ersterer wurde 1843 durch den Direktor des Protestantischen Gymnasiums in Pest Alle zwölf Stellen wurden nie gemeinsam besetzt, Dr. Carl Taubner abgelöst, welcher aus disziplinären höchstens zehn, von denen vier in Italien, Triest und Gründen nach Oberitalien „verbannt“ wurde46. Als Tirol stationiert waren, zwei in Wien, zwei in Pest, Harsány 1848 entlassen wurde, wurden seinem lu- je einer in Prag und Lemberg. Einer dieser Garni- therischen Amtsbruder auch die reformierten Solda- sonsprediger war seit Herbst 1860 Johann Michael ten anvertraut. Er leistete diesen Dienst nicht ohne Seberiny. Er war offensichtlich unter Umgehung eine Mehrdienstvergütung dafür zu beantragen und des Wiener Oberkirchenrates durch das Armee- auch zu erhalten. Die Nachbesetzung durch einen kommando ernannt worden. Dies warf und wirft reformierten Magyaren scheiterte am Widerstand ein Kernproblem der Militärseelsorge auf, nämlich des Feldherrn Radetzky. So oblag es Taubner kreuz die doppelte Loyalität – zum Heereskommando und quer durch die Habsburgermonarchie zu reisen, einerseits und zur Kirche andererseits. Von allem von Oberitalien nach Böhmen und Mähren, nach Anfang seiner Tätigkeit war also diese Frage nach Galizien u.s.w. (das bereitete ihm außerordentliches dem Verhältnis seines militärseelsorgerlichen Wir- Vergnügen – noch dazu auf Kosten des Ministeri- kens zum kirchlichen Auftrag gestellt. Man könnte ums, das seine exorbitant hohen Reisespesen wie- die Frage zuspitzen: Wie kann die Militärseelsorge derholt tadelte). Er widmete seine Dienste sowohl in den kirchlichen Verband integriert werden? lutherischen als auch reformierten Soldaten und so Nun stellt sich ein interessanter Sachverhalt her- mag in der Tat der Eindruck einer „Union“ in der aus: Seberiny entwickelte merkwürdigerweise kein Militärseelsorge entstanden sein. Angesichts der ihm Interesse für die Integration der Militärseelsorge in abverlangten Distanzen verstehen sich seine Bemü- den kirchenregimentlichen Organismus. Im Ge- hungen um eine Verlegung seiner Dienststelle nach genteil, der Jubilar Julius Hanak zeigte, dass Sebe- Wien von selbst. Da er sich mancher Übertretungen riny mit Nachdruck und mit Erfolg die organische des Dienstweges schuldig machte, wurden ihm (von Einfügung der Militärseelsorge in den kirchlichen seinem katholischen Vorgesetzten) Schwierigkeiten Verband zu unterlaufen verstand47. Sie gelang auch bereitet. Der Krieg in Italien 1859 beendete seine erst am Beginn des 20. Jahrhunderts (1906). Amtszeit als alleiniger Militärseelsorger, denn Carl Miskolczy wurde als reformierter Soldatenseelsorger Zur Zeit des österreichisch-ungarischen Aus- angelobt. gleichs (1867) bestand die protestantische Militär-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 91 - seelsorge aus je vier Garnisonspredigern, wobei inte- enorme Spannweite auf – in sprachlicher, geographi- ressanterweise sämtliche aus Ungarn stammten48: scher und biographischer Hinsicht. Die Entfernung zwischen Schemnitz und Wien ist verhältnismäßig ● Wien: Johann Michael Seberiny (A.B.), La- dislaus Markus (Wien H.B.) – zeitweise 1861/62 gering gegenüber dem ihm auferlegten Aktionsra- hatte ein Cousin Seberinys in Wien gewirkt: Joseph dius als Militärpfarrer – und sie vermag auch nicht von Podhradsky49. die Spannweite zu illustrieren, die seine theologische Entwicklung bestimmte, die ihn von der überkom- ● Pest: Adam Bolvánsky (A.B.) [immatriku- menen liberalen Theologie Jenaer Prägung in das liert Theol. Fakultät Wien 5.11.1857], Lájos von Lager einer neolutherischen Orthodoxie („Neulu- Gonda (H.B.) . thertum”) führte, die ein Zentrum an der Universität ● Graz: Johann Lukacs (A.B.) [imm. Wien in Rostock hatte. An ihr wurde er promoviert. Ein 5.1.1849] prominenter slowakischer Theologe Jozef Miloslav Hurban (1817–1888) behauptete von sich, dass er ● Prag: Daniel Sebök (H.B.) [imm. Wien Seberinys „Erwecker aus dem Jenenser Todesschlaf” 8.10.1855] gewesen sei, dass er ihn also für das Anliegen der ● Lemberg: Carl Martinek (A.B.) [imm. Wien Erweckungsbewegung gewonnen habe. So ordnete 15.9.1836] sich dessen theologische Konversion ein in die große theologische Kontroverse des 19. Jahrhunderts, für ● Triest: Carl von Miskolczy (H.B.) die „Jena” und „Erlangen” nicht bloß als topogra- Aufgrund der kaiserlichen Entschließung vom phische Kürzel stehen mögen, sondern einen theo- 23. April 1869 wurde Seberiny zum Beirat im logiegeschichtlichen Wandel kennzeichnen, der sich Reichskriegsministerium ernannt und ihm Rang an der Wiener Evangelisch-theologischen Fakultät und Titel eines Militärsuperintendenten verlie- zugetragen hat53. Die Berufung Seberinys mochte 50 hen . Gegen diese Ernennung wurde von Seiten ein erster Schritt gewesen sein. der ungarisch-reformierten Kirche massiv protes- tiert (27.5.1869)51, weil auch dieser Schritt nicht In dessen Leben stand nicht der Ruhm der durch eine kirchliche Meinungsbildung begleitet Wissenschaften im Mittelpunkt, sondern unter war, sondern staatlicherseits vorgegeben wurde. auferlegtem Verzicht darauf: sein Dienst als Pfarrer Da der in Wien residierende Militärsuperinten- auf der Kanzel seiner Gemeinden, am Katheder der 54 dent dazu neigte, sich als Vorgesetzter der übrigen verschiedenen Schulen , einschließlich der Evan- Garnisonsprediger in Szene zu setzen, verletzte er gelisch-theologischen Fakultät in Wien, und in der auch konfessionelle Grenzen. Das war dann auch Militärseelsorge. Immer aber geschah sein Einsatz der Grund, warum er jene erwähnte Flugschrift als „miles Christi”. über die konfessionelle Kooperation von A.B. und Dr. Karl W. Schwarz ist Ministerialrat im Bundesminis- H.B. im Rahmen der Armee verfasste (1869)52. Sie terium für Unterricht, Kunst und Kultur und Universitäts- stand ja ganz einzigartig da, wenn man den schroff professor. Als Militärkaplan der Miliz ist er der Militärseel- konfessionalistischen, gegen die Union gerichteten sorge seit Jahrzehnten verbunden. Beim vorliegenden Aufsatz Standpunkt Seberinys damit vergleicht. handelt es sich um eine überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung eines auf der Konferenz der evangelischen Militärseelsorge Mitteleuropas in Göd/Ged am 21. März 2006 V. gehaltenen Vortrags.

Johann Michael Seberiny verstarb, als der Schlachtlärm des Ersten Weltkriegs längst begonnen hatte. Sein Leben war dem Dienst in der Nachfolge Anmerkungen Christi gewidmet. Es vollzog sich in einem Reich, 1 Friedrich Gottas, Die Frage der Protestanten in Ungarn in der das deutlich von der Vorherrschaft der römisch-ka- Ära des Neoabsolutismus. Das ungarische Protestantenpatent vom 1. September 1859, München 1965; ders./Karl Schwarz, tholischen Kirche geprägt war, in dem erst allmäh- „Patentisten” contra „Autonomisten”: Das Protestantenpatent lich konfessionelle Parität gewährleistet wurde und von 1859 im Widerstreit der Meinungen, in: Karl Schwarz/Peter das nach dem Krieg zerfiel. Sein Leben wies eine Švorc (Hg.), Die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte in der Slowakei, Wien 1996, S. 159 ff.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 92 - 2 Karl Schwarz, Theologische Kirchenrechtslehre in Wien, in: Andrea 23 Karl-Reinhart Trauner, Die Garnisonskirche in Wien. Ein ver- Boluminski (Hg.), Kirche, Recht und Wissenschaft. Festschrift für gessenes evangelisches Gotteshaus, in: JGPrÖ 121 (2005) S. Albert Stein zum 70. Geburtstag, Neuwied 1995, S. 231–259, 373–396. 245 ff. 24 Karl Schwarz, „Für die evangelischen (…) Kultusangelegenhei- 3 Österreichisches Biographisches Lexikon [ÖBL] 55. Lieferung (Wien ten eine eigene (…) Abteilung”, in: Hans Paarhammer/Alfred 2001) S. 74 , Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Rinnerthaler (Hg.), Österreich und der Heilige Stuhl im 19. und [BBKL] IX, Sp. 1272–1274; Jen Zoványi/Sándor Ladányi, Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon [MPEL], 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 2001, S. 545–572, 551 ff. Budapest ³1977, S. 582. 25 Das Seberiny-Jubiläum in Wien, in: Protestantische Kirchen-Zei- 4 ÖBL ebd. S. 73 f.; MPEL 581 f. tung 1888, S. 1202–1204. 5 Auch der Vater mütterlicherseits war Pfarrer und Senior in Szenitz/ 26 Senica: Johann Podhraczky. Das Familienwappen ist abgebildet Arthur Berg, Kurzfassung der Geschichte der Wartburg von 1885 in: udevít Šenšel, Album toleranných a artikulárnych chrámov bis 1938, in: Dieter Langer (Red.), 100 Jahre Akademische Ver- [Album der Toleranz- und Artikularkirchen], Lipt. Sv. Mikúlaš bindung Wartburg. Festschrift zum 200semestrigen Stiftungsfest, 1931, S. 91. Wien 1985, S. 11 ff.; Karl-Reinhart Trauner, Vom Antikatholizis- mus zur Sorge um den evangelischen Gemeindeaufbau, in: Schrif- 6 Milan Kubica, Rod Seberiniovcou [Das Geschlecht der Seberinys], tenreihe „Ev. Bund in Österreich” H. 132/1993, S. 3–84, 81. 1993². 27 7 ÖBL ebd. S. 72 f.; MPEL 581. Karl-Reinhart Trauner, Die Los-von-Rom-Bewegung. Gesell-

8 schaftspolitische und kirchliche Strömung in der ausgehenden ÖBL ebd. S. 73. Habsburgermonarchie, Szentendre 1999, S. 239 mit dem Hinweis, 9 ÖBL ebd. S. 74 f.; MPEL 582 f. dass Szeberiny sogar im Parlament namentlich zitiert wurde - von 10 Carl Eugen Schmidt, Lebensläufe der Pfarrer, in: Geschichte der Georg Ritter von Schönerer und Karl Hermann Wolf (25. Sitzung evangelischen Kirchengemeinde A.B. zu Pozsony/Pressburg Tl. der XIV. Session des Abgeordnetenhauses am 7.6.1898) in aus- II, Pozsony 1906, S. 100–102. gesprochen aggressiver Weise: Ostdeutsche Rundschau Nr. 161/ 12.6.1898, S. 9; vgl. auch schon Der österreichische Protestant 11 K. Schwarz, Johann Michael Seberiny – ein Absolvent des Kolle- Nr. 11/10.6.1898: „Solche Herren”, so hieß es in einem Leitartikel giums als Theologieprofessor in Wien, in: P. Kónya/R. Matlovi der Ostdeutschen Rundschau (3.6.1898) über den „Generalsu- (Hgg.), Prešovské Evanjelické kolégium jeho miesto a význam v perintendenten”, mögen es vor ihrem Gewissen verantworten, kultúrnych dejinách strednej Európy [Das Evangelische Kollegium „wenn die deutschnationalen Katholiken vor die Wahl zwischen in Eperies und seine Stellung und Bedeutung in der Kulturge- tschechischen Cooperatoren und juden-freundlichen Pastoren schichte Mitteleuropas], Prešov 1997, S. 197 ff. gestellt, sich für beide Möglichkeiten schönstens bedanken”. 12 Ludovicus Haan, Jena Hungarica sive memoria Hungarorum (…), 28 J.M. Seberiny, Familiengeschick, in: Ev. Kirchen-Zeitung für Ös- Gyulae 1858, S. 172 f. terreich Nr. 4/15.2.1894, S. 54 f.; ders., Die letzte Ausfahrt eines 13 Herbert Peukert, Die Slawen der Donaumonarchie und die Uni- Sterbenden, ebd. Nr. 16/15.8.1894, S. 245 f. versität Jena 1700-1848, Berlin 1958, S. 83-85. 29 Die evangelische Kirche Österreichs im Jahre 1915, in: Ev. Kir- 14 „Aus den Berathungen der zu Bremen abgehaltenen Hauptver- chen-Zeitung Nr. 2/15.1.1916, S. 14. Ein slowakischer Nachruf sammlung des Gustav-Adolph-Vereins am 3./4.9.1856”, in: erschien in Cirkevné Listy 29 (1915) 60. Protestantische Jahrbücher für Österreich 3 (1856) S. 549–561, 554-556. 30 Karl W. Schwarz, Ein Sieg des „Neuluthertums”: Die Berufung 15 Ludwig von Gogolák, Beiträge zur Geschichte des slowakischen des Theologieprofessors Johann Michael Seberiny, in: Wiener Volkes II: Die slowakische nationale Frage in der Reformepoche Jahrbuch für Theologie 7 (2008) – im Druck. Ungarns (1790–1848), München 1969, S. 38 f., 248 f. 31 Johann Michael Szeberiny, Der Pseudo-Protestantismus auf kir- 16 J.M. Szeberinyi, Schemnitz oder Neusohl? In: Protestantische chenrechtlichem Gebiete mit besonderer Berücksichtigung der Jahrbücher für Österreich 4 (1857) 65-68. protestantischen Kirchenverhältnisse Österreichs, Wien 1865. 17 János Breznyik, A Selmecbányai ágost. Hitv. Evang. Egyház és 32 lyceum története II, Selmecbányan 1889, S. 252–255 (von mag- Eszmetöredékek a magyarhoni protestantismus jelen stadiumán yarischem Standpunkt). [Ideenfragmente im gegenwärtigen Stadium des Protestantismus in Ungarn], Pest 1857 ²1860 – dazu Protestantische Jahrbücher 18 zit. bei Gottas, Die Frage der Protestanten, S. 113 f. für Österreich 4 (1857) S. 499-501. 19 Gottas, Die Frage der Protestanten, S. 138. 33 István György Tóth (Hg.), Geschichte Ungarns, Budapest 2005, 20 Kubica, S. 21. S. 507 f. 34 21 Circularverordnung des Armeekommandos vom 29. April 1860, Karl W. Schwarz, Eine „protestantische Gesamtkirche Österreichs RGBl. Nr. 112/1860 zitiert bei Julius Hanak, Die evangelische (…) ist rathsam!” Ján Kollár als kirchenpolitischer Vordenker Militärseelsorge im alten Österreich unter besonderer Berücksich- (1849), in: David P. Daniel (Hg.), Evanjelici a evanjelická teoló- tigung ihrer Eingliederung in den kirchlichen Verband, in: JGPrÖ gia na Slovensku [Evangelische und evangelische Theologie in der 87 (1971) S. 3–140, 88 (1972) S. 3–74, 4–6. Slowakei], Bratislava 1999, S. 133-151. 35 22 Schreiben Jozef Miloslav Hurban an den Rostocker Theologiepro- A császár-király és a reformata vallás, vagyis: Boldogházy István R... fessor August Wilhelm Dieckhoff, Wien 16.12.1863 – Universi- falusi jegyz és fia közti Levelezés az 1859-ki sept. 1-én kelt cs.kir. tätsarchiv Rostock, Promotionsakt Seberiny Nyiltparancsra vonatkozólag” [Der kaiserlich-königliche und der reformierte Glauben – Briefwechsel mit dem Dorfnotar István

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 93 - R. und seinem Sohn über das k.k. ungarische Protestantenpatent 47 Hanak, Die evangelische Militärseelsorge, 1972, S. 23 vom 1.9.1859], Pest 1860. 48 Die ev. Militärseelsorge, in: Halte, was du hast 1 (1868) Nr. 8, S. 36 ÖBL VIII, 133 f. 126 f.; Hanak, Die evangelische Militärseelsorge, ebd. S. 41 f. 37 Gottas, Die Frage der Protestanten, S. 85. 49 ÖBL VIII, 134 (Ivan Chalupecký) datiert sein Wirken als 38 (Johann Michael Szeberiny) „Thesen, geschrieben unter dem Ein- „Feldkurat” irrtümlich „ab 1863”. drucke der jüngsten Ereignisse, gerichtet gegen das Unkirchliche 50 Hanak, Die evangelische Militärseelsorge, ebd. S. 22. in der Kirche” – StA Wien, Nachlass Thun D 490; auszugsweise und ohne Verfasserangabe veröffentlicht bei Johannes Borbis, Die 51 Ein Protest gegen Szeberinyi, in: Neue Protestantische Blätter ev.-lutherische Kirche Ungarns in ihrer geschichtlichen Entwick- 1869, S. 271 – mit Hinweis auf das Egyházi lap Nr. 26/1869: lung, Nördlingen 1861, S. 319-321 und bei Gottas, Die Frage „Die evangelische Militärseelsorge und Szeberinyi”. Dieser der Protestanten, S. 94 f. Artikel polemisiert gegen die „ultramontanen Bestrebungen” des Dr. Szeberinyi und gegen dessen antireformierte Einstellung, die 39 Gottas, Die Frage der Protestanten, S. 155 ff.; ders., Die Geschich- es nicht erlaube, dass er zum Superintendenten und somit zum te des Protestantismus in der Habsburgermonarchie, in: Adam Vorgesetzten reformierter Militärgeistlicher ernannt würde. Vgl. Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie auch Pressemeldungen in den Neuen Protestantischen Blättern 1848–1918, IV: Die Konfessionen, Wien 1985, S. 489–595, 1869, S. 364 und in: Halte, was du hast 1870, S.24 f.; ebd. 505. 143. 40 Karl W. Schwarz, „Meine Popularität (…) dürfte auch der Anstalt 52 A két protestáns hitfelekezet föderátiója a cs. és kir. hadseregben zu Gute kommen”. Zum 200. Geburtstag des lutherischen Kir- [Die Föderation der beiden protestantischen Confessionen in chenrechtslehrers Karl Kuzmány, in: WJTh 6 (2006) 337–352. der k.k. Armee] Bécs 1869. – Vgl. auch Hanak, Die evangeli- sche Militärseelsorge, ebd. S. 50 mit einer äußerst freundlichen 41 J.M. Szeberiny, „Antrittsrede” Wien 1863. Einschätzung des interkonfessionellen Klimas zwischen A.B. und 42 J.M. Szeberiny, Der Pseudo-Protestantismus auf kirchenrechtlichem H.B., wie sie wohl der liberalen Theologie entsprochen haben Gebiete mit besonderer Berücksichtigung der protestantischen mag, keinesfalls aber dem wachsenden Konfessionalismus in der Kirchenverhältnisse Österreichs, Wien 1865. zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

43 Karl W. Schwarz, Ius circa sacra und ius in sacra im Spiegel der 53 Karl-Reinhart Trauner, Von Jena nach Erlangen. Ein Beitrag zum Protestantenpolitik der Habsburger im 19. Jahrhundert, in: Zeit- Wechsel theologischer Schulen an der Evangelisch-theologischen schrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 122, Kanonisti- Fakultät zu Wien, in: JGPrÖ 117/118 (2002), S. 48–83, 58. sche Abteilung 91 (2005) S. 578–624, 610 ff. 54 44 Es sei hier noch vermerkt, dass ihm auch der Religionsunterricht an Hanak, Die evangelische Militärseelsorge im alten Österreich (…), den Militär-Realschulen und Militärakademien oblag, für den er – als Monographie Wien 1974. eigene Lehrbücher verfasste: J.M. Seberinyi, Evangelische Vorträge 45 über Glauben und Geschichte des Christenthums. Zum Gebrauche Karl-Reinhart Trauner, Sámuel von Harsányi. Der erste reformierte für die k.k. Militär-Oberrealschulen und Militärakademien, Wien Militärpfarrer Österreichs und 1848er wider Willen, in: JGPrÖ 1886; ders., Evangelisch-christliche Religionslehre. Zum Gebrauch 122 (2006) S. 87–115; vgl. auch ders., Die Militärseelsorge bis für die Zöglinge der k.k. Militärunterrealschulen, Wien 1886. zum Zweiten Weltkrieg im Überblick, in: ders. u.a., Es gibt nie ein Zuviel an Seelsorge. 50 Jahre Evangelische Militärseelsorge im österreichischen Bundesheer, Wien 2007, S. 22–31, 26 ff..

46 K. Eberhard Oehler, Maria Dorothea von Württemberg. Ein Leben für Ungarn, Metzingen 2003, S. 79 f.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 94 - Dank an Julius Hanak

Alfred Stipanits

Julius Hanak feiert und konsultierte die dort aufgestellten Kataloge. seinen 75. Geburtstag. Neugierig betrachtete ich – damals Korporal der Für mich, seinen Nach- Reserve (ROA) – den jungen Militärpfarrer, hatte folger im Amt des Mi- ich doch während meiner Dienstzeit keinen anderen litärsuperintendenten, als einen katholischen Kuraten zu Gesicht bekom- ist das ein guter Grund, men. Später kamen wir im Gang zum Eingang der Rückschau zu halten Bibliothek ins Gespräch, das lange währte. Es muss auf eine lange Zeit des also eine angeregte Unterhaltung gewesen sein, ihre Miteinanders. Dabei Inhalte sind mir freilich entfallen. Aber ich erinnere möchte ich der Versu- mich gut daran, dass ich spät abends im Zug vom chung widerstehen, so alten Wiener Südbahnhof nach Mödling erstmals etwas wie eine „Würdi- überlegte, nach dem Theologiestudium in ein Mi- gung“ der Person und litärpfarramt zu gehen. Für diese erste Anregung des Wirkens meines Amtsvorgängers zu verfassen. bin ich Julius Hanak – er war der Militärkaplan Zu derartigem fühle ich mich weder geeignet noch – dankbar. berufen. Und überdies: Mangel an Würdigungen Ein Studienjahr später wollte ich die Arbeits- wird es gewiss nicht geben. Mein Rückblick auf bedingungen eines Militärpfarrers genauer kennen die Zeit seit dem Wintersemester 1959/1960 wird lernen. Von Erlangen aus meldete ich mich zu einer sich darauf beschränken, Julius für treues Weggeleit freiwilligen Waffenübung beim Leiter des damaligen während vieler Jahre Hanak zu danken, in denen Evangelischen Militärseelsorgeamtes, Militärdekan sein und mein Leben in unterschiedlicher Nähe Hellmut May. Diese erste meiner zahlreichen wei- zueinander verlaufen sind. teren Waffenübungen zeitigte nicht den von mir Erstmals begegnet sind wir einander in der Bi- gewünschten, wenn nicht erwarteten, Erfolg. Mein bliothek der Wiener Evangelisch-Theologischen Fa- Vorgesetzter gab mir beim Abrüsten bekannt, dass kultät. Nach dem ordentlichen Präsenzdienst und er mich nicht befähigt für den Dienst als Militär- einem Jahr des Studiums der Altphilologie und der pfarrer ansehe. Diese Beurteilung – Dekan May Anglistik hatte ich mich der evangelischen Theolo- hat sie Jahrzehnte später mit dem Ausdruck des gie zugewandt und setzte meine ersten Schritte auf Bedauerns mir gegenüber zurückgenommen – hat dieses für mich neue akademische Terrain. Dabei bot mich damals im Sommer 1961 sehr getroffen und nicht nur mir die Fakultätsbibliothek ruhigen Raum wesentlich dazu beigetragen, den Gedanken an eine zum Lesen und zum Schreiben erster Seminararbei- Zukunft als Pfarrer in den Streitkräften für viele Jah- ten. Eines Spätnachmittags im Winter (?) betrat ein re zu verwerfen. Die Laufbahn des Reserveoffiziers Offizier mit den Distinktionen eines Militärkaplans des Truppendienstes habe ich freilich kontinuierlich die bibelwissenschaftliche Abteilung der Bibliothek weiterverfolgt, als Student, Lehrvikar und schließlich

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 95 - als Bibliothekar. viele theologische wie soldatische Gemeinsamkeiten Ich mache einen großen Zeitsprung! Im Jahr 1970 entdeckt. Damals ist Freundschaft zwischen uns hatte ich Gelegenheit, als Bibliothekar des Höheren entstanden und stetig gewachsen. Dafür sei Julius Dienstes in den Öffentlichen Dienst einzutreten. Hanak herzlich Dank gesagt. Mein erster Dienstort war die Bibliothek der Wiener Der Anstoß, doch noch eine Verwendung als Evangelisch-Theologischen Fakultät, und hier trafen Militärpfarrer anzustreben, kam für mich im Som- sich Julius Hanaks und meine Wege wieder. Der mer 1990 allerdings nicht vom damaligen schon inzwischen arrivierte Militärpfarrer Julius Hanak Militärsuperintendenten Julius Hanak, sondern „aus arbeitete an seiner militärkirchengeschichtlichen einer ganz anderen Ecke“: Heimo Hofmeister, or- Doktorarbeit und besuchte immer wieder seinen dentlicher Professor an der Ruprechts-Karl-Univer- Doktorvater, Professor Wilhelm Kühnert, der bei sität zu Heidelberg und beorderter Österreichischer Guderian im Zweiten Weltkrieg Militärpfarrer Milizoffizier wie ich, holte mich mittels Telefon eines gewesen war. Dabei kam er immer wieder in die Nachts unsanft aus dem Schlaf. Ohne Umschweife Bibliothek. Unter den damaligen Studenten fand forderte der Freund mich auf, mich um die freie sich auch Oberleutnant Christian Woinovich, und Stelle des Evangelischen Militärpfarrers beim Mili- die zwei Aktiven und der eine Reserveoffizier hatten tärkommando Niederösterreich zu bewerben. Meine miteinander so manches gute Gespräch. Ablehnung seines Ansinnens mit dem Hinweis auf Als ich im Herbst 1976 zum österreichischen meine eigene besondere eheliche Situation wollte UN-Bataillon nach Syrien einrückte, ist es Julius er auch zwei weitere nächtliche Telefongespräche Hanak gewesen, der mir Mut gemacht hat, meine lang nicht zur Kenntnis nehmen und wir fanden seit Jahren bestehende landeskirchliche Berechti- in dieser Sache keinen gemeinsamen Weg. Aber er gung zu freier Predigt und Sakramentenverwaltung hatte in mir eine alte Wunde geöffnet oder anders auf den Einsatz bei UNDOF/AUSBATT ausdehnen gesagt: Er hatte mir einen Stachel ins Fleisch getrie- zu lassen. Eine solche Erweiterung wurde durch den ben. Nach einem Vierteljahr des Nachdenkens habe damaligen Chef der Evangelischen Militärseelsorge ich das Gespräch mit Hellmut Santer gesucht, dem auch genehmigt. Den entscheidenden Anstoß zu Superintendenten von Niederösterreich. Dieser hielt diesem Schritt verdanke und danke ich wiederum meine konfessionsverschiedene Ehe für kein unüber- Julius Hanak. windbares Hindernis auf dem Weg in ein Pfarramt unserer Kirche. Er machte mir Mut, Einvernehmen Während meiner drei Einsätze in Syrien in der mit dem Militärsuperintendenten herzustellen und Gesamtdauer von dreißig Monaten bin ich Julius gemeinsam mit diesem die Kirchenleitung anzu- Hanak trotz seiner wiederholten Seelsorgebesuche sprechen. Das ist so geschehen, und dass Julius dort nur einmal flüchtig begegnet. Flüchtig deshalb, Hanak mich „auf dem langen, langen Weg durch weil der Stützpunkt 16, zur ersten Kompanie des die kirchlichen Instanzen“ unverdrossen begleitet AUSBATT gehörend und Zugsstützpunkt des von hat, auch dafür danke ich ihm aufrichtig. Er hat mir geführten „Hadar-Zuges“, während eines dieser selbst dann die Hoffnung auf einen guten Ausgang Besuche Julius Hanaks wegen des Verdachts einer meiner Sache nicht aufgegeben, als ein Mitglied der Infektion mit Cholera unter Quarantäne gestellt Kirchenleitung mir eine „goldene Brücke“ zu bauen war. Dass ein intensiver Gedankenaustausch unter glaubte: „Warum konvertiert deine katholische Frau uns wegen der besonderen Umstände nicht möglich nicht zur evangelischen Kirche? Das würde deine gewesen ist, habe ich damals sehr bedauert. Wiederaufnahme in die kirchlichen Listen und die In den Jahren nach 1982, als ich an weitere Ermächtigung zur Ausübung der Militärseelsorge Auslandseinsätze nicht mehr dachte und nur mehr ohne weiteres ermöglichen.“ Aber Julius Hanak hat regelmäßig meinen Verpflichtungen im Rahmen der auch verstanden, dass ich auf diesen Vorschlag weder Einsatzorganisation des Bundesheeres nachkam, hat eingehen konnte noch wollte. Dennoch hat er seinen mich mein Amtsvorgänger immer wieder zu Ver- langen Atem sogar in dieser für mich so schmerzli- anstaltungen der Evangelischen Militärseelsorge chen Situation behalten und mir Mut gemacht, am eingeladen. Am Iselsberg und in Les Gagnieres ha- gewählten Ziel festzuhalten. Dafür habe ich Julius ben wir uns intensiv ausgetauscht und beieinander Hanak noch lange zu danken.

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 96 - Noch einen nächtlichen Anruf möchte ich er- Wenn ich an die von Süden der im Pinzgau wähnen, diesmal einen von Julius Hanak. Ziemlich und im Pongau der Salzach zustrebenden Achen lange nach den erfolglosen Gesprächen mit der Kir- denke, so fällt mir ein, dass sich in den Steilstu- chenleitung erreichte er mich in Bad Kreuzen kurz fen unmittelbar vor ihrem Zusammenfließen die nach Mitternacht auf meinem Mobiltelefon mit der Fließgeschwindigkeit überaus stark erhöht. Damit Nachricht, die Synode in Linz habe zu nachtschla- durchaus vergleichbar ist es mir während der letzten fender Zeit einen auf meine eheliche Situation zu- Periode meines Arbeitslebens ergangen. Amtsprü- geschnittenen positiven Beschluss gefasst. Gespräche fung, Ordination und Einführung in das Amt eines mit dem Oberkirchenrat stünden für mich offen und Militärpfarrers folgten rasch aufeinander. hätten Sinn. Für mich war für den Rest der Nacht Immer wieder war es der Vorgesetzte und Freund an Schlaf nicht mehr zu denken. Niemals war ich Julius Hanak, der in vielen Gesprächen und bei ganz für ein Aufwecken aus dem tiefen Schlaf dankbarer unterschiedlichen Anlässen sich meiner kamerad- als für diesen Anruf. schaftlich-brüderlich Die Dinge haben letzt- angenommen hat. Im the- lich also doch einen für ologischen Gespräch waren mich guten Lauf genom- wir zumeist gleicher oder men. Seitens der Kirchen- wenigstens sehr ähnlicher leitung ist man auf meine Meinung. Mich hat Julius dienstrechtliche Stellung Hanaks Mut beeindruckt, mit ihren Besonderheiten mit dem er nicht nur für eingegangen und der Mi- schlecht behandelte Ka- litärsuperintendent Julius meraden, sondern auch Hanak hat bei den militä- und gerade für politisch risch Verantwortlichen die und gesellschaftlich be- Wege für mich geebnet. Als nachteiligte Menschen ein vom Wissenschaftsres- eingetreten ist und noch sort dem Verteidigungs- eintritt. Es gehörte – und ministerium dienstzuge- gehört (?) – schon ein ge- teilter Oberrat habe ich in rütteltes Maß an Tapferkeit meinem Milizdienstgrad dazu, sich als Militärpfarrer „Hauptmann“ mit Be- zum Pazifismus zu beken- ginn September 1992 den nen oder auf der Ent- Dienst als Pfarrer beim fernung „martialischen“ Alfred Stipanits und Julius Hanak in Les Gagnieres 2001 Kommando des III. Korps Altarschmucks anlässlich in Baden angetreten. Mit eines Soldatengottesdiens- der kirchlichen Ermächtigung zunächst leider nur tes zu bestehen. Julius Hanak hat laut über die befristet ausgestattet, aber unterstützt durch Julius Grenzen des den Soldaten berechtigterweise abver- Hanak, der mich auf dem Weg in einen neuen Beruf langten Gehorsams und den Vorrang des Gewissens behutsam und umsichtig begleitet hat, musste ich unter bestimmten Bedingungen nachgedacht, als der recht rasch Boden unter den Füßen kriegen oder, wie 20. Juli 1944 und Namen wie Robert Bernardis im die Soldaten sagen, „Tritt fassen“. Dabei durfte ich Bundesheer noch tabuisiert und der Erörterung ent- unbeschwert wie nie zuvor, schon gar nicht während zogen waren. Dass das heute anders ist, haben wohl der Zeit meines Lehrvikariats in Bad Aussee lernen, viele Heeresangehörige so wie ich der Beharrlichkeit so unbeschwert, dass ich auf meine fristgerechte An- Julius Hanaks zu danken. meldung zur kirchlichen Amtsprüfung vergessen Ich selbst danke Julius Hanak auch ganz beson- hätte, wenn mich nicht Julius Hanak gerade noch ders dafür, dass er mich von Anfang meiner Ver- rechtzeitig über die Folgen des Versäumens dieser wendung als Militärpfarrer an in die internationale Frist benachrichtigt hätte. Nicht zuletzt dafür habe Gemeinschaft der Pfarrer bei den Streitkräften und ich ihm zu danken. in die Welt der evangelischen Soldaten auch frem-

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 97 - der Armeen mitgenommen und eingeführt hat. gern übernommen habe. Noch einmal Dank an Dadurch sind mir gleich wie durch meinen Dienst Julius Hanak. im friedenserhaltenden Einsatz im Rahmen der Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich auch Vereinten Nationen viele tragfähige Freundschaf- darüber nachgedacht, warum die gute Beziehung ten erwachsen. Wenn die Kardinäle der Römischen zwischen Julius Hanak und mir zwar niederfrequent, Kirche als Geschöpfe – creaturae – des Papstes ver- aber sehr stabil über den Zeitraum eines halben standen werden, so darf ich in der „Ökumene“ der Jahrhunderts Bestand hat und hoffentlich auch in Militärpfarrer und der evangelischen Militärs als eine Zukunft Bestand haben wird. Die Antwort habe „Creation“ Julius Hanaks gelten. Das ist, mit allem ich in Shakespeares „Hamlet“ gefunden, der seinen nötigen Respekt gesprochen, keine ganz schlechte Vater charakterisiert mit Worten, die ich leicht abge- „Trademark“ und ein Grund mehr für mich zur wandelt auf Julius Hanak anwenden möchte: Julius Dankbarkeit gegenüber Julius Hanak. Hanak „war – und ist und bleibt hoffentlich noch Ich komme zum Schluss! Meine Berufung in die lange! – ein Pfarrer, nehmt alles nur in allem“. Mehr Nachfolge Julius Hanaks als Militärsuperintendent und anderes weiß ich nicht zu sagen. möchte ich nicht kommentieren. Sie ist unter Be- Deshalb: Julius Hanak „ad multos annos!“ gleitumständen erfolgt, die für mich nicht unbedingt erfreulich gewesen sind. Das zu verantworten haben andere als Julius Hanak. Julius Hanak hat ganz im Gegenteil durch das Beispiel seiner Amtsführung mir Einsichten und Ausblicke vermittelt, die ich

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 98 - Laudatio anlässlich des 75. Geburtstages von Militärsuperintendent i.R. Dr. Julius Hanak

Gunther Spath

Es war vor 35 Jahren fälligste Fach auf der Militärakademie, dafür war der an einem späten Nach- römisch-katholische Burgpfarrer omnipräsent und mittag im Offizierska- für die Teilnahme an seiner Sonntagsmesse gab es sino der Khevenhüller- Gutpunkte – man stelle sich das heute vor! kaserne. Dort standen So lernte ich 1973 meinen zuständigen Seelsorger zwei Männer: Der eine kennen – beim Militärkommando selbst gab es da- ein wenig älter, schlank, mals noch keinen – im Offizierskasino in Lendorf, fast asketisch zu nen- mit einem angenehmen, unkomplizierten, zwanglo- nen, soeben von einem sen Gespräch. Was mir dabei als beeindruckend und langen Lauf gekom- unverwechselbar auffiel und in meinem Gedächtnis men, Wasser trinkend. haften blieb war die Ruhe, die Festigkeit und die Daneben der etwas Überzeugung, die aus den stets mit leiser Stimme Jüngere, auch schlank, vorgebrachten Argumenten meines Gesprächspart- aber mit einem Bier und einer Zigarette in der Hand. ners strahlte. Und ich kann heute im Nachhinein Der eine war der evangelische Pfarrer des damaligen und natürlich mit viel mehr Kenntnissen über Gruppenkommandos III in Salzburg, wenig später Woher und Wohin ermessen, wie schwierig damals Korpskommando II, der zweite war ein frisch aus- die Amtsausübung eines engagierten evangelischen gemusterter evangelischer Leutnant – zwanzig Jahre Militärseelsorgers gewesen sein muss. später, als Oberst, wäre er auch gerade von einem langen Lauf gekommen und hätte ganz sicher nicht Dreieinhalb Jahre später wird übrigens im Rah- geraucht. Wie wir sehen, Vorbildwirkung braucht men einer ökumenischen Feier der Ältere maßgeb- manchmal Zeit, bis sie wirkt! lich mitwirken, den Jüngeren in den Hafen einer bis heute wundervollen Ehe zu führen. Evangelischer Soldat sein war damals und ist heute eine Minderheitensituation, früher allerdings Sein Name wird niemanden überraschen: Es war deutlich schwieriger als heute. Das erlebte ich vom Dr. Julius Hanak, damals Militäroberpfarrer, heute ersten Tag beim Bundesheer an, als es Sonntags hieß: Militärsuperintendent im Ruhestand. „Die Katholiken in die Soldatenkirche, die Anderen Je höher die Zahl der Jahre bei einem runden oder zum Reinigungsdienst!“ Evangelische Militärseelsor- halbrunden Geburtstag wird, desto unvermeidbarer ge war Anfang der 70er Jahre nicht gerade das auf- wird es, dass der mit ehrenden Worten Beauftragte

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 99 - dem Jubilar eine Auflistung von Daten entgegen- in Zypern, Ägypten, Syrien und zuletzt in Bosnien- schleudert. Die kennt der, in unserem Fall soeben 75 Herzegowina besucht. Lebensjahre absolviert habende, Betroffene zumeist Eine besondere Leidenschaft unseres Jubilars selbst besser als die zu seiner Feier Versammelten, aber gehörte den Bergen. Nicht nur, dass er in kür- aber eine kleine Auswahl darf es doch sein. zester Zeit die Ausbildung zum Heeresbergführer Beginnen wir mit den klaren privaten Eckda- absolvierte, an der österreichischen Spitzbergenex- ten: Geboren 1933 im sehr evangelisch geprägten pedition 1964 teilnahm und zahlreiche Alpinkurse Gegendtal, in Treffen in Kärnten, Schule, Matura, begleitete. Mir fallen im Zusammenhang mit Dr. Theologiestudium, 1957 evangelischer Vikar in Hanak immer wieder Liedzeilen wie „die Berge, sie verschiedenen Gemeinden, 1959 Heirat mit Dr. rufen“ oder „ganz nahe dem Schöpfer, der Sonne Ilse Hanak (der etwas abgedroschene Spruch von entgegen“ ein. der starken Frau hin- Er setzte sich auch ter dem starken Mann wissenschaftlich mit drängt sich angesichts der Entwicklung und ihres jahrzehntelangen, praktischen Umset- aus christlicher Einstel- zung einer „Seelsorge lung erfließenden sozi- am leistungsgeforderten alen Engagements auf, Menschen/Soldaten in im selben Jahr Eintritt Extremsituationen“ ins Bundesheer, zwei auseinander. Da war Töchter und zwei Söh- sein Engagement in der ne werden dem Ehepaar Seelsorge für den öster- geschenkt. reichischen Spitzensport Weiter zum Dienst- fast logisch, von 1964 lichen: Gruppenpfarrer bis 1984 begleitete er und Korpspfarrer war alle österreichischen Dr. Hanak, das wissen Teams zu den Olympi- wir schon. 1980 wird schen Spielen. er für 18 Jahre Militär- Sein zweiter wissen- superintendent, somit schaftlicher Ansatz, der höchster Repräsentant sich auch in seiner Dis- der evangelischen Mi- sertation niederschlug, litärseelsorge in Öster- galt der Erforschung reich in der Zeit des der Grundlagen der größten Wandels in evangelischen Seelsorge Europa in den letzten in Österreich von 1526 70 Jahren, als die Blöcke bis in die Gegenwart. zerbrachen, neuer Frie- den, aber genauso neue Konflikte entstanden und Ab 1979 förderte er den Aufbau der Arbeitsge- sich daher gravierende Änderungen in Organisation meinschaft evangelischer Soldaten in Österreich. Er und Aufgabenstellung des Bundesheeres ergaben. vertrat die Militärseelsorge in der Generalsynode der Es ist ein erheblicher Unterschied, ob die geistliche Evangelischen Kirche in Österreich, war Vorsitzen- Betreuung sich an Soldaten mit der Hauptaufgabe der des Österreichischen Missionsrates und Referent territorial aufgebauter Raumverteidigung wendet für Kirchenmusik im Oberkirchenrat. oder an Soldaten, die im Rahmen von EU oder Und um noch einmal auf den wichtigen interna- NATO-Partnerschaft für den Frieden weit jenseits tionalen Aspekt zurückzukommen: Dr. Julius Hanak der österreichischen Grenzen eingesetzt werden. Da war am Aufbau einer ökumenischen Vernetzung der kam Dr. Julius Hanak seine immense Erfahrung zu- Militärseelsorgen der drei großen „Buchreligionen“ gute: 29 mal hatte er die österreichischen Truppen im Rahmen der „Chiefs of Chaplains Conference“

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 100 - und der „Association Military Christian Fellowship“ mals die Auskunft erhielt, dass sein Verhältnis beteiligt und leistete Aufbauhilfe für die Seelsorge gegenüber dem irdischen Arbeitgeber nicht durch- in den Reformländern nach 1989, insbesondere gehend konfliktfrei und emotionsneutral verlaufen Ungarn, Tschechien, Polen und den baltischen wäre. Die Debatte um den Zivildienst, bei seiner Ländern. Einführung nicht immer nur sachlich geführt, mag Aber hinter diesen vielen wichtigen Dingen als Beispiel dienen. in seinem Leben, das ein Dreiviertel Jahrhundert Er konnte auch, und hier spreche ich persönli- währt, steckt ja etwas, was nüchterne Auflistungen ches Erleben mit an, eine gewisse kritische Distanz von beruflichen wie privaten Marksteinen alleine zu seinem Bundesheer entwickeln, wenn es ihm nicht erfassen können: der Mensch Julius Hanak. notwendig erschien. Das führt fallweise zu Ausein- Wie war er, wie ist er, wie haben ihn Mitarbeiter, andersetzungen – wer wüsste das besser als ich selbst, Kollegen, Kameraden, der fallweise ähnlichen Neigungen nachgibt? vor allem auch die vie- Wir haben uns jetzt len Soldaten erlebt und sehr mit der Vergan- gesehen? Ich habe ein genheit, mit den hinter paar, Ältere wie Jüngere, Dr. Hanak liegenden in Uniform wie in Zivil 75 Jahren beschäftigt gefragt und hier sind und daher ist es zum ein paar Schlaglichter Schluss wichtig, noch aus den Antworten: etwas Anderes beson- Fast alle haben die ders darzulegen: Denn großartige Leistung es gibt im Leben unse- beim Aufbau der res Jubilars einiges sehr evangelischen Militär- Zukunftsorientiertes. seelsorge unter, ich er- Wer sich ein wenig wähnte es oben schon, im Internet und in durchaus schwierigen einschlägigen Publi- Bedingungen, ange- kationen umsieht, der sprochen. Die Früchte stellt, vielleicht auch seines Bemühens um überrascht, fest: Auch bessere Integration der nach fast zehn Jahren Militärseelsorge in die sogenannten „Ruhe- kirchlichen Strukturen standes“ ist Dr. Julius konnte er selbst nicht mehr so richtig ernten. Ver- Hanak alles andere als ruhig. Gemeinsam mit seiner ständnis für militärische Fragen in der Kirche und Frau engagiert er sich sehr stark für eine sozial und kirchlicher im Bundesheer, um das hat er seine ganze wirtschaftlich gerechtere Welt, in verschiedensten Dienstzeit gerungen. Arbeitskreisen, bei Konferenzen, bei persönlichen Auch meine Eingangsschilderung, dieses eher Aufenthalten vor Ort in Ländern und bei Menschen, leise, unaufgeregte persönliche Auftreten und die die besonders unter den Auswirkungen von globali- meinungsfeste Prinzipientreue, fand ich mehrfach sierter Wirtschaft und Klimawandel leiden. Das ist bestätigt, aber auch, dass er durchaus streitbar war, bewundernswürdig und vor allem ist es ein Dienst wenn es ihm erforderlich schien, dass er Stand- an unser aller Zukunft. punkten, von denen er überzeugt war, auch gegen Denn eines steht fest: Den wirklich großen Be- Widerstände treu blieb. Dabei strebte er beharr- drohungen für die weitere Existenz der Menschheit lich nach Konsenslösungen, ohne allerdings seine auf Erden, für die zukünftigen Generationen, wird Zielsetzungen aus den Augen zu verlieren – ein oft mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ schwieriger Spagat. alleine nicht wirklich begegnet. Die Dinge, die un- So ist es auch nicht erstaunlich, dass ich mehr- ser Militärsuperintendent in Ruhe zu bewegen, zu

M&S 25: Aus der Vergangenheit in die Zukunft - Seite 101 - ändern versucht, sind da von weit größerer Bedeu- Mag. Gunther Spath, Brigadier ist Militärkommandant tung. Er und seine Frau tun es aus zutiefst christlich- von Kärnten und stellvertretender Präsident der Arbeitsgemein- evangelischem Verständnis unserer Verantwortung schaft Evangelischer Soldaten (AGES). Beim vorliegenden Text handelt es sich um seine Laudatio für Julius Hanak anlässlich für diese Erde und alles, was auf ihr lebt, heraus. seines 75. Geburtstages in der Rainerkaserne in Salzburg Und das verdient nicht einfach Anerkennung oder am15. Mai 2008. Bewunderung, sondern stellt in Wahrheit Forderun- gen an uns alle. In diesem Sinne: Ad multos annos und noch viel Kraft für die vor Dir liegenden Aufgaben, sehr geehrter Herr Militärsuperintendent, lieber Julius!

Lobpreis des Herrn

Du höchster, mächtiger, guter Herr, dein ist der Lobpreis, Ruhm und Ehre und jeglicher Dank zumal: Erhabener, dir nur gebührt es, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen. Gelobt seist du, Herr, mit allen deinen Kreaturen, der edlen Herrin vor allem, Schwester Son- ne, die uns den Tag macht und uns freundlich Licht durch ihn spendet. Schön ist sie in den Höhen und prächtig in mächtigem Glanze: Dein Gleichnis birgt sie, Erhabener. Gelobet seist du, Herr, durch Bruder Mond und die Sterne. Du schufest sie, dass sie funkeln am Himmel köstlich und schön. Gelobet seist du, Herr, durch Bruder Wind und Luft und Wolke und jegliches Wetter, mildes und anderes auch, wodurch du belebst, was du erschufest. Gelobet seist du, Herr, durch Bruder Feuer, durch den du uns leuchtest in der Nacht. Es glü- het mild und sprühet gewaltig und kühn. Gelobet seist du, Herr, durch unsere Schwester, die Mutter Erde, die stark und gütig uns trägt und zeitigt mancherlei Frucht mit farbigen Blu- men und Gras. Gelobet seist du, Herr, durch die, so vergeben um deiner Liebe willen und Pein und Betrübnis geduldig tragen: Selig, die’s überwinden in deinem Frieden! Sie werden gekrönt von dir, dem Höchsten. Gelobet seist du, Herr, durch unseren Bruder, den leiblichen Tod, dem kein lebendiger Mensch entrinnet. Ach wehe, die sterben in ihren Sünden. Und selig, die er findet in deinem heiligs- ten Willen, denn sie berührt nicht der zweite Tod. Lobet und preiset den Herrn und danket und dienet ihm in großer Demut. Amen.

Franz von Assisi, 1182–1226

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Oskar Sakrausky/Karl-Reinhart Trauner (Hg.),

Von der Vergangenheit in die Zukunft ....