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DOSSIER 10 JAHRE ARABISCHER FRÜHLING DAS ARABISCHE JAHRZEHNT ÜBER EINE ZEITENWENDE ش�ك ً (Danke) را

Das Dossier zu 10 Jahren Arabischer Frühling (S. 40–121) wurde gefördert durch 2 3

Das arabische Jahrzehnt Was 2011 begann, ist noch längst nicht vorbei ILLUSTRATION: TAREK AYA 4 DOSSIER · 10 JAHRE ARABISCHER FRÜHLING 5

INHALT

DOSSIER 10 JAHRE ARABISCHER FRÜHLING

Erinnern 44 Unser Frühling, euer Scheitern Wir wollten ein Teil des Arabischen Frühlings sein 6 Ruhm, Exil und Depression Portrait von Wael Ghonim 46 Die Geister unter der Stadt In Mosul liegen noch immer Leichen in den Trümmern 7 Aus dem Hintergrund Portrait von Sima Abbedrabboh 52 Zeitsprung – Andauernde Proteste Z 8 Auf mich könnt ihr nicht bauen 53 Mittendrin Drei Jahrzehnte als Journalist in Syrien Portrait von Abdul Baset Al-Sarout Zeitsprung – Revolution und Bürgerkrieg 12 54 Ein Umsturz kommt selten allein ehn Jahre sind vergangen, seit Proteste und Aufstände die sturm der Massen trotzen und – wie während der aktuellen Die ägyptischen Revolutionen in den Schulbüchern 13 »Ben Alis Flucht war feige« Arabische Welt veränderten. Über die epochale Bedeutung Corona-Pandemie – immer wieder Vorwände suchen, um Interview mit Amel Karboul, Ministerin a.D. Weitermachen des Arabischen Frühlings lässt sich streiten, ebenso über Demonstrationen und freie Meinungsäußerung zu unter- dessen Bilanz. Vordergründing sieht sie so aus: Nur in einem drücken. Auch dies ist eine Folge: In Syrien ließ das Regime 16 Wir werden es wieder schaffen! 58 Wir sind Schmuggler Mit Reggae-Konzerten gegen das Regime Lina Attalah, über das, was sie antreibt einzigen Land hat sich seit 2011 eine fragile Demokratie ent- die Proteste brutal niederschlagen. Es folgte ein bewaff- wickelt. Deutlich mehr Länder der Region erlebten Krieg- neter Aufstand mit Unterstützung regionaler Mächte und 18 »Wir müssen wieder ganz von vorne beginnen« 61 Mutter Tahrir schaos oder die Restauration repressiver, autoritärer Re- schließlich ein weltpolitischer Konflikt, der mittlerweile Portrait von Faisal Swehli Portrait von Laila Soueif gime. Aber vielleicht ist das Entscheidende am Arabischen seit einem Jahrzehnt andauert. 19 Zeitsprung – Bürgerkrieg und Repression 62 Der Tod macht große Literatur Frühling eher, dass er Alternativen aufzeigte. Möglichkei- Viele der Hoffnungsträger von einst, aber auch viele Be- Schriftsteller verarbeiten die Krise ten, Politik, Staat und Gesellschaft anders zu gestalten. richterstatter sind seitdem verschwunden oder weiterge- Sprechen Sie Revolution? 20 So jedenfalls blickt die ägyptische Journalistin Lina At- zogen. Einer, der den Krieg und das internationale Ringen Das zenith-Glossar zur arabischen Straße 64 Plan B Wie das Beirut von morgen aussehen müsste talah im vorliegenden Dossier auf Ägypten, wo die Hoff- um Syrien von Anfang an beobachtet hat, ist der Journalist Aufarbeiten nungen auf Demokratie der Ernüchterung über eine auto- Ibrahim Hamidi, diplomatischer Korrespondent von As- 69 »Ich fühlte mich wie in einem Computerspiel« ritäre Regression gewichen sind: als eine Möglichkeit von harq al-Awsat und Syrer aus der Provinz Idlib. In diesem ze- 24 Zeugen der Anklage Aya Tarek zu ihren Illustrationen In Koblenz stehen die Schlächter vor Gericht vielen. Nur deshalb sieht sie noch einen Sinn in ihrer Ar- nith-Dossier erzählt der sonst um Objektivität und Distanz 70 Keine Partei, kein Problem beit – wissend, dass auch bessere Szenarien möglich sind bemühte Hamidi seine persönliche Geschichte. (Seite 8) 28 Öffnet den Markt! Der Präsident möchte ein Parlament ohne Parteien (Seite 58). Der Arabische Frühling – Beginn einer Zeitenwende? Diese Wenn der Schwarzmarkt boomt Vor zehn Jahren entfaltete sich dieser Möglichkeitsraum. Frage steck t i m Ker n d ieses Hef t s. Wi r geben da r i n den Men- 71 Zeitsprung – Übergang und Überleben 30 »Alles beginnt mit dem Tod junger Menschen« Dass die arabischen Staaten mal anders beherrscht wer- schen Raum, die 2011 oder 2019 dabei waren. Sie erinnern Interview mit der Künstlerin Lara Baladi 72 Frühling im Oktober den könnten als durch Autokraten wie Ben Ali in Tunesien, sich, reflektieren, wie die Ereignisse von damals aufgearbei- Die Menschen im Irak wollen sich endlich sicher fühlen Mubarak in Ägypten, Saleh im Jemen oder Gaddafi in Liby- tet werden können, und fragen, wie es weitergehen kann. 33 Zeitsprung – Restauration und Staatszerfall 74 Bilder, Bots und Bouteflika en, war bis zu diesem Zeitpunkt zwar theoretisch möglich, Nicht zuletzt prägten die Kernforderungen der Revolutio- 34 Neue Bässe braucht das Land Wenn junger Medienaktivisten das Regime entlarven gleichwohl jedoch kaum vorstellbar. nen – Freiheit und soziale Gerechtigkeit – im letzten Jahr- Die kreative Explosion der Musik in Libyen Das ist heute anders. Seit 2019 gibt es neue Massenproteste zehnt auch die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung im Na- 76 »Wir brauchen Frauenquoten« hen und Mittleren Osten und Nordafrika. Das Dossier zum 38 Das grüne Tuch Interview mit der Sudan-Expertin Kholood Khair in der Region, diesmal allerdings in Ländern, an denen die Portrait von Ibrahim Shebani »erste Welle« des Arabischen Frühlings vorbeirollte. So un- zehnjährigen Jubiläum der Umbrüche entstand in Koopera- 79 Agenda 2021 terschiedlich die Umstände in Algerien, im Sudan, im Irak tion mit und mit Unterstützung der FES und ihrer zahlrei- 39 Das Paradies ist immer anderswo Die junge Generation will jetzt mitgestalten und im Libanon auch sein mögen: Der Traum von einem chen regionalen Büros. Eine Reise von Dortmund in den Dschihad 80 Zähne zeigen, Europa möglichen Wandel wäre ohne 2011 wohl kaum so stark. Die inhaltliche und redaktionelle Gesamtverantwortung Die Reformer brauchen unsere Hilfe mehr als je zuvor Anders ist heute auch der Blick auf Despoten, die dem An - liegt wie immer bei zenith. 6 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 7

GENERATION 2011 GENERATION 2011 Ruhm, Exil und Depression Aus dem Hintergrund

Wael Ghonim war so etwas wie der Netzwerker des ägyptischen Aufstands 2011. Die Syrerin Sima Abbedrabboh scheint gleichzeitig für und gegen Was aus dem Aktivisten nun wurde, gibt seinen Mitstreitern Rätsel auf die Aufstände gearbeitet zu haben. Wie kann das gehen?

VON MAGDOLIN HARMINIA VON ANNIKA SCHARNAGL

s liegt nicht mehr als ein Jahr zwi- brüdern verbunden war, und Feldmarschall Abdel Fatah ie Syrerin Sima Abedrabboh schafft zu verwirklichen. Sie will der jungen Generation eine Zukunft schen diesen Bildern: 2018 präsen- Al-Sisi­ ließ sich 2014 zum Präsidenten wählen. Für viele es, auf zwei Stühlen gleichzeitig zu ermöglichen, in der Stimmen bei Wahlen Wirkung erzielen, tierte sich Wael Ghonim beim Oslo Ägypter bedeutete die Wahl die endgültige Rückehr des al- sitzen und sich von einem Interes- und mehr Frauen ermutigen, für ihre Rechte einzustehen. Freedom Forum als nachdenklicher ten Regimes und das Ende der revolutionären Träme. Gho- senskonflikt nicht zerreißen zu las- Aber mit Aktivismus allein kommt sie nicht über die Runden. Aktivist des Arabischen Frühlings, nim ging aus Kairo ins Exil nach Kalifornien, kein leichter sen. Im Jahr 2010 arbeitet sie als Re- 2015 kehrt Abedrabboh auf ihren Posten in den Emiraten seit dem Jahr 2019 zeigt er sich auf Schritt, wie er bei seiner Rede in Oslo bekannte: »Scham gierungsberaterin in den Vereinigten zurück. Der Standort Dubai und die feste Arbeitsstelle brin - barbrüstig und dauerbrab- und Schuldgefühle überwältigten mich, ich habe meine Sa- Arabischen Emiraten (VAE), als sie gen für sie als Aktivistin schließlich auch Vorteile: Einerseits E belnd mit Aussagen, die sich nie- che und meine Freunde im Stich gelassen. Das hat mich in D ihr Engagement als Aktivistin des ist sie Anlaufstelle für Demonstranten aus den Ländern der mandem so leicht erschließen. Wie eine tiefe Depression geworfen – ein Zusammenbruch, der Arabischen Frühlings beginnt. Da- Region, die ihr Informationen zuspielen, anderseits ist sie passt das zusammen? mir klar gemacht hat, dass meine Sele gebrochen wurde.« bei scheint es fast so, als würde sie durch ihre Arbeit finanziell unabhängig von Geldgebern und In Oslo bezeichnete sich Ghonim als Ghonims zuletzt verwirrende Auftritte in den sozialen Medi- gleichzeitig für und gegen die Auf- deren Einfluss. »Zufallsberühmtheit« – eingeladen war er als eine Ikone des en lösten bei ehemaligen Weggefährten Besorgnis aus: Eini- stände in der Region arbeiten. Denn die VAE entwickeln sich Doch um diese gegensätzlichen Rollen auszufüllen, muss die Aufstands in Ägypten. Seine Karriere als Aktivist war alles ge zweifelten seine psychische Gesundheit an, spekulierten, in dieser Zeit zu einer Kraft, die autoritäre Systeme wie etwa Syrerin einen hohen Preis bezahlen. Ihre Ehe endet nach 18 andere als typisch. Als Google-Angestellter er leide an enem Posttraumatischen Stress­- in Ägypten stärkt und versucht, den Umbrü- Jahren mit einer Scheidung, und sie steht rief Ghonim 2010 die Facebook- Seite­ »We -Syndrom. chen Einhalt zu gebieten. vor dem anhaltenden Problem, keine of- are all Khaled Said« ins Leben, in Erinnerung Abedrabboh wurde in Damaskus geboren, fiziell bekannte Stimme des Aufstands zu an den jungen Mann aus Alexandria, der in dort erhielt sie ihren Universitätsabschluss in Polizeigewahrsam zu Tode geprügelt wor- Archäologie. Es folgen weitere – in Frankreich den war. wird sie zur Fachübersetzerin ausgebildet, Nicht zuletzt dank dieser Seite gelang es, in London studiert sie Global Diplomacy. Ihr Tausende, letztlich sogar Millionen von Sprachtalent öffnet ihr viele Türen. Von Dubai Um ihre Arbeit in Dubai nicht zu Das Time Magazine bezeichnete Ägyptern auf die Straße zu bringen. Gho- aus vernetzt sie Aktivisten, die sich in Ländern beeinträchtigen, bleibt die heute ihn als einen der einflussreichsten 44-Jährige stets im Hintergrund nim wurde im Januar 2011 verhaftet und Menschen weltweit – da wie Tunesien und Syrien für mehr Demokratie verbrachte elf Tage mit verbundenen Augen war er gerade 31 und Freiheit einsetzen. Sie stellt Kontakte her im Gefängnis. »Sie haben mir alles genom- zwischen internationalen Medien und Geldge- men, sogar meinen Namen. Ich wurde 41 bern, auch für Kräfte der syrischen Opposi- genannt«, sagte Ghonim später. Infolge der tion. Dabei hilft sie, die Verbrechen von Dik- Proteste wurde Langzeitherrscher Hosni Mu- tatoren gegen Zivilisten und Demonstranten barak aus dem Amt gedrängt. Die Ägypter aufzudecken. sein. Wenn sie sich auf dem Parkett der eu- träumten von einer Zukunft, die »Brot, Frei- Ihr offizieller Arbeitsplatz ist allerdings im ropäischen Politik für Aktivisten einsetzt, heit und soziale Gerechtigkeit« versprach. Büro von Muhammad Bin Rashid Al Maktum, dann bezeichnet sie sich als Stimme der Ghonim landete ganz oben auf der Liste der des Premierministers der VAE. Um ihre Arbeit Stimmlosen. Da ihre eigene Rolle jedoch weltweit 100 einflussreichsten Personen des Andere brachten die Trennung von seiner in Dubai nicht zu beeinträchtigen, bleibt die nie öffentlich preisgegeben wurde, bleibt Time Magazine, da war er gerade 31 Jahre Ehefrau, der Mutter seiner beiden Kinder, heute 44-Jährige stets im Hintergrund. Eine sie selbst ohne Stimme und muss sich die alt. ins Spiel. Aber möglicherweise bergen auch bedeutende Strippenzieherin des Arabischen Kontakte zu Gesprächspartnern jedes Mal 2012 erschienen seine Memoiren über die die Worte von Edward Said eine Erklärung: Frühlings ist sie trotzdem. neu erarbeiten. Das ist mühsam. »Revolution 2.0«. Die Macht der Menschen »Literatur und Geschichte sind voll von he- Immer wieder, sagt Abedrabboh gegenüber Dennoch, sagt sie, habe das letzte Jahr- sei stärker als die Menschen an der Macht, roischen, romantischen, ehrenvollen und zenith, habe sie mit dieser ambivalenten Po- zehnt gezeigt, wie autoritäre Führungen in hieß es dort. Die Entwicklung in Ägypten sogar triumphalen Episoden im Leben eines sition gehadert. 2013 entscheidet sie dann, der Arabischen Welt gestürzt werden kön- deutete bald auf das Gegenteil hin. Exilanten – sie sind aber nicht mehr als das sich voll und ganz ihrem Aktivismus zu wid- nen. Das erlebt zu haben, sei ein Glück, so Die Armee stürzte den frei gewählten Präsi- Bemühen, mit dem lähmenden Schmerz der men. Im »Netzwerk der Demokraten der Ara- Abbedrabboh gegenüber zenith. Und ganz denten Muhammad Morsi, der den Muslim- Entfremdung umzugehen.« bischen Welt« versucht sie, ihre eigenen Ziele unbeteiligt daran war sie ja auch nicht. 8 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 9

JOURNALISMUS IN SYRIEN ls Journalist in einem Land wie Syrien ist es Das fiel mir nicht leicht. Ein Journalist sollte zuallererst der Spre - schwierig, am eigenen Beruf und dessen cher des Lesers sein. Er ist derjenige, der den Anliegen und Fragen Grundsätzen festzuhalten. Es gibt genau eine der Menschen eine Stimme gibt, indem er sie bei Konferenzen zur Erzählung: die Erzählung des Regimes. Egal, Sprache bringt und die Antworten für alle lesbar aufschreibt. Wie ob man selbst von dieser überzeugt ist oder kann sich ein solcher Journalist vor Kameralinsen verstecken, um nicht, man muss sich ihr unterordnen. Jour- möglichst nirgends aufzutauchen? Wie kann er bewusst Demonstra- AUF MICH KÖNNT nalisten stehen in der ersten Reihe, wenn es tionen aus dem Weg gehen? darum geht, die Erzählung der Herrschenden Alle wollten uns auf ihre Seite ziehen. Viele Kollegen wurden des - zu vermitteln. halb inhaftiert oder sogar getötet, während andere freiwillig ins Exil IHR NICHT BAUEN Während meiner mehr als zwanzigjährigen gingen oder vertrieben wurden. Es könnte so leicht sein, einfach auf A Tätigkeit als Reporter für die Zeitung Al-Hay- einer Seite zu stehen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, at in Damaskus bemühte ich mich stets, die auch verschiedene Meinungen und Positionen darzustellen. Mehr als Erzählung der Regierung in aller Genauigkeit einmal sagte Präsident Assad: »Es gibt keinen Platz für graue Men- wiederzugeben. Gleichzeitig versuchte ich, schen«. Entweder ihr seid für uns oder gegen uns. die Vielfältigkeit der syrischen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Anfang des Jahres 2014 reiste ich in die Schweiz, um von der zwei- Kultur darzustellen. Es war gefährlich, die Buntheit Syriens aufzuzei- ten Genfer Friedenskonferenz zu berichten. 45 Länder sowie regiona- gen – in diesem Land gibt es nur eine Farbe, nur eine Geschichte, nur le und internationale Organisationen waren vertreten. Sie alle kamen eine Partei, nur einen Herrscher. zusammen, um über die Zukunft Syriens zu entscheiden und die Kon- Meine Versuche kosteten mich viel: Ich saß sechs Monate in Gefäng- fliktparteien zu einer politischen Lösung zu drängen. nissen ein, stand weitere sechs Monate unter Hausarrest. Sieben Mal Das Hotel, in dem ich einkehrte, kannte ich. Bereits 14 Jahre zuvor, entzog mir die Regierung meine journalistische Lizenz. All dies, ob- im Jahr 2000, hatte ich dort übernachtet. Damals hatte ich über ein wohl ich nicht einmal zur Opposition gehörte. Im Laufe dieser zwan- Treffen des ehemaligen syrischen Präsidenten Hafez Al-Assad mit zig Jahre baute ich professionelle und persönliche Beziehungen zu US-Präsident Bill Clinton berichtet. Sie wollten über die Zukunft der den meisten syrischen Offiziellen auf, führte mehrere Interviews mit Region und einen israelisch-syrischen Friedensprozess entscheiden. Präsident Baschar Al-Assad und reiste mit ihm nach Europa sowie in Wäre damals ein Friedensabkommen unterzeichnet worden, würden die Nachbarländer – ich wollte diese Besuche möglichst farbenfroh wir heute auf ein anderes Syrien schauen – die ganze Region sähe erklären. anders aus. In diesen zwanzig Jahren lernte ich sowohl den Palast als auch das Gefängnis kennen. 2011 bekam meine Geschichte eine neue Dimen- sion. Erst dann wurde mir klar, wie komplex die Aufgabe eines ob- jektiven Journalisten ist, der täglich über die Geschehnisse im Land berichtet. Auch ein Journalist ist nichts anderes als ein verletzlicher Mensch voller Emotionen, ein Wesen, das im Wettlauf gegen die Zeit Objektiver Journalismus ist nicht möglich, wenn täglich eine Geschichte erzählt. Eines Tages im Jahr 2012 standen plötzlich Dutzende Demonst - die eigene Familie und die eigenen Freunde ranten vor dem Al-Hayat-Büro in Damaskus. Sie schwenkten Hizbul- betroffen sind lah-Flaggen und hielten Bilder von Präsident Assad hoch. Einige versuchten, die Eingangstür einzutreten, weshalb ich sofort zur Evakuierung des Gebäudes aufrief. Als ich Regierungsvertreter nach dem Grund der Proteste fragte, antworteten sie nur: »Wir kön- nen doch nicht einfach Pro-Regime-Demonstrationen verbieten.« Zu dieser Zeit wurden Anti-Regime-Demonstrationen nicht nur verbo- ten, sondern mit aller Härte durch Sicherheitskräfte und Armee nie- Damals war die Dolmetscherin Buthaina Shaaban dabei, sie über - dergeschlagen. Keiner der von mir kontaktierten Beamten verhinder- setzte die Gespräche zwischen Assad und Clinton. Nun, so viele Jah- te die gewaltsamen Proteste vor unserem Büro. Die Demonstranten re später und gefühlt in einer anderen Welt, traf ich sie wieder in stürmten das Haus. Wir bekamen schreckliche Angst, und der Staat Genf – diesmal verhandelte sie mit der syrischen Opposition als offi- beschützte uns nicht. zielle Vertreterin des Regimes. Diese Reisen in die Schweiz wurden An einem anderen Tag wohnte ich einer Pressekonferenz von Au - für mich zum Sinnbild der Verwandlung Syriens. Ein Land, das vom

Fotos: Marcel Mettelfsiefen ßenminister Walid Al-Muallim bei, die live im Staatsfernsehen über- Spieler zum Spielfeld wurde. Vom Mitgestalter regionaler Politik zum tragen wurden. Am nächsten Morgen rief mich meine Familie aus internationalen Spielfeld, dessen Zukunft von anderen ausgehandelt der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens an. Sie erzählten, in meiner wird. Ibrahim Hamidi berichtet seit 30 Jahren aus und über Syrien. Er reiste mit den Assads Heimatstadt würden Flugblätter verbreitet, in denen ich als »Agent Journalisten der New York Times oder des Wall Street Journals des Regimes« denunziert werde – weil ich an einer Pressekonferenz können versuchen, objektiv zu sein. Von einem syrischen Journa- durch Europa, saß in Damaskus im Gefängnis und gilt beiden Seiten als Verräter teilgenommen habe. Die Arbeit als Journalist wurde immer schwieri- listen kann man das nur schwerlich erwarten. Wer schreibt schon ger: Wenn ich zu Pressekonferenzen des Regimes ging, wich ich den objektiv, wenn die eigenen Familienmitglieder auf vielleicht sogar Kameras aus und stellte auch keine Fragen. Andererseits vermied ich unterschiedlichen Seiten kämpfen? Wer kann schon mit einem küh- VON IBRAHIM HAMIDI es immer wieder, über Oppositionsaktionen oder Angriffe des Regi- len, analytischen Kopf über die Mörder des Bruder oder Freundes Aus dem Arabischen von Michael Nuding mes auf friedliche Demonstrationen zu schreiben. sprechen? 10 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 11

men sogar – Anfang 2011 hoben die Behörden ein Facebook-Verbot Wie schafft es ein Journalist, in dieser Welt nicht unterzugehen? auf. In den 1990ern diktierte ich den Londoner Kollegen die Nachrichten Als aus den friedlichen Protesten ein militärischer Konflikt wurde, noch durch das Telefon. Welch große Errungenschaft die Faxgeräte spielten die Sozialen Medien keine große Rolle mehr. Soft Power ist waren, die wir irgendwann auf Erlaubnis des Informationsministeri- nett, aber Hard Power entscheidet den Krieg. Obwohl Kameras dabei ums installieren durften. Allerdings musste ich an meinem auch ein waren, als Raketen vom Himmel stürzten, als Fassbomben wie lauter Abfanggerät des Geheimdienstes anbringen, damit alle ein- und aus- Regen auf die Menschen niederprasselten. Obwohl die UN mehrere gehenden Nachrichten mitgelesen werden konnten. Berichte über den wiederholten Einsatz chemischer Waffen gegen Heutzutage liegen alle Information in Reichweite. Die Ära des tra- die syrische Bevölkerung veröffentlichte – nicht zuletzt über den ditionellen Journalismus ist vorbei. Früher mussten wir um jedes offi- C-Waffen-Einsatz in Ghouta im Sommer 2013. zielle Zitat kämpfen, das wir in Texten verwenden wollten. Wir nutz- Zweifellos waren die Sozialen Medien zu Beginn der Proteste rele - ten die volle Klaviatur der Sprache, um Zensurverbote geschickt zu vant, doch gleichzeitig schafften sie Illusionen. Menschen mit ähn- umgehen. Inzwischen sitzen »Bürgerjournalisten« nur wenige Meter lichen Meinungen befreundeten sich online. Alle umgaben sich mit entfernt und schreiben, was auch immer sie wollen. Schlagzeilen wie Usern, die vielleicht andere Dinge posteten oder andere Worte fan- »Die Menschen wollen die Hinrichtung des Präsidenten«. Eine neue den, aber im Kern die gleiche Sache verteidigten. So verwandelten Generation von Informationsaktivisten ist entstanden, die sich nicht sich Wünsche in den Köpfen der Menschen bereits zu vollendeten mehr an »rote Linien« halten muss. Eine Generation, die sich das Le- Tatsachen, während objektive Analysen ihre Stellung verloren und ben im alten Regime nicht einmal vorstellen kann. Eine Generation, von manchen sogar verteufelt wurden. Irgendwann traf das Wunsch- die sich nicht ständig auf einem Feld voller explosiver Minen bewegen denken auf die Wirklichkeit – dass das Regime sich hielt, hinterließ muss. Aktivisten, die ihre eigenen politischen Positionen propagie- bittere Enttäuschung und Frustration. Nicht nur die Menschen lebten in ihren Blase, sondern auch die großen Medien. Wichtige arabische Fernsehsender lebten im Glau- ben, das Regime würde »morgen« fallen. Während die Kanäle des Auf einer Demonstration im Umland von Homs im Jahr 2012 ruft ein Regimes so taten, als wäre in Syrien alles wie immer. Als ich 2012 In Homs verbrennen Demonstranten eine russische Flagge und ein syrscher Junge Parolen gegen Assads Regime. für einige Tage Beirut besuchte und dort den Fernseher einschaltete, Bild von Präsident Assad. bekam ich das Gefühl, in ganz Damaskus seien plötzlich Kämpfe aus- In den 1990ern fiel es mir leicht, über die palästinensischen, iraki - Syrien wurde vom Spieler zu Spielfeld gebrochen. Ich traute mich kaum, dorthin zurückzukehren. Natürlich Währenddessen versucht das Regime, die Mauern der Angst in den schen oder libanesischen Krisen zu berichten. Ich traf Verantwortliche stimmte das nicht. Wenn ich hingegen in meiner Wohnung in Da- von ihm kontrollierten Gebieten erneut hochzuziehen. Nachdem es und Beteiligte unterschiedlicher Seiten und schrieb schlicht Artikel, maskus saß und Staatsfernsehen schaute, fühlte ich mich, als sei ich die territoriale Kontrolle zurückerobern konnte, begehrt es vermutlich die verschiedene Positionen widerspiegelten und möglichst gut die wieder im Jahr 2010. Die Maschinengewehrsalven und dröhnenden nichts so sehr wie die absolute Hoheit über den medialen Diskurs. Fakten präsentierten. Seit 2011 schreibe ich über mich selbst, über Granatenexplosionen aus benachbarten Stadtteilen wirkten wie ein Deshalb zensiert Assad mit aller Strenge. Das jüngste Beispiel hierfür meine Familie, meine Freunde. Stets sah ich die Gesichter meiner Lie- Actionfilm im Wohnzimmer der Nachbarn. ist der Umgang mit der Corona-Pandemie: Berichte weisen auf die ben auf dem Notizblock oder dem Computerbildschirm – und fand Ausbreitung des Virus in Damaskus und allen Regimegebieten hin. einfach keinen Anfang. ren, unterscheiden sich jedoch ganz grundlegend von Journalisten, Laut Regierungsangaben hat das Virus weite Teile des Landes jedoch Ein ganzes Jahr lang konnte ich nicht schreiben, bis ich Anfang 2013 die ihre Pflicht tun, indem sie Bilder zeichnen, die der Realität mög- noch gar nicht erreicht. ins Exil nach London ging. In dieser Zeit widerstand ich der Versu- lichst nahe kommen. Für Journalisten wurde die Arbeit angesichts chung, selbst in die Politik zu gehen. Viele Syrer gaben ihren Job auf, des enormen Informationsflusses und der vielen politischen Agenden um sich dem bewaffneten Kampf oder politischem Aktivismus – für immer schwieriger – wie lassen sich in diesem Umfeld Informationen oder gegen das Regime – zu verschreiben. Nach reiflichen Überle- auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen? gungen kam ich zu dem Schluss, allen Gefahren und Versuchungen Auf jeden Fall hat sich die Diskurshoheit des Regimes aufgelöst zu trotzen, und weiterhin meinen Beruf auszuüben: Journalismus, ge- – heute ist Syrien in drei Einflussbereiche unterteilt. Den Nordosten tränkt in Qualen und Schmerzen. mit seiner De-Facto-Hauptstadt Qamischli, den die kurdisch-arabi- Anfang 2011 wehte der Wind des Arabischen Frühlings und er - schen »Syrischen Demokratischen Kräfte« mit amerikanischer Un- weckte viele Träume zum Leben. Viele verglichen diese Zeit mit den terstützung kontrollieren. Das türkisch dominierte Gebiet rund um Veränderungen in Osteuropa Ende der 1980er Jahre. Wie damals Idlib. Sowie die Gebiete, die das Regime mit iranischer und russischer träumten die Menschen auch 2011 vom demokratischen Übergang. Unterstützung hält. Diesmal hingegen spielten die Sozialen Medien eine großen Rolle, von Diese Spaltung spiegelt sich auch im medialen Diskurs wider. Die Tunesien über Ägypten bis nach Syrien. Kriegsparteien haben Mauern zwischen ihren jeweiligen Erzählungen Anfangs hieß es: Das Hama-Massaker kann sich nicht wiederholen, errichtet. Daher habe ich ein Projekt namens »Syrischer Salon« ins solange es Youtube, Facebook und Twitter gibt. Die internationale Leben gerufen. Ich möchte Journalisten aus Damaskus, Qamischli Gemeinschaft würde es in Zeiten der Sozialen Medien nicht erneut und Idlib zu gemeinsamen Schulungen und Workshops einladen. Im dulden, wenn das Regime Zehntausende im eigenen Land niedermet- August 2020 trafen sich so erstmals seit 2011 Journalisten aus allen zelt. Teilen des Landes per Videokonferenz, um sich über Berufsethik im Ibrahim Hamidi, geboren 1969 in Idlib, ist Außenpolitik-Redakteur der Die letzten zehn Jahre haben uns das Gegenteil gelehrt. Die Macht Kriegsjournalismus auszutauschen. Tageszeitung Asharq al-Awsat mit Sitz in London. Vorher arbeite er von Facebook und Co. entpuppte sich als Schimäre. Neue Wege der Syrien, wie wir es kennen, existiert nicht mehr, weder politisch 22 Jahre lang in Damaskus als Bürochef für die Zeitung Al-Hayat und medialen Kommunikation stehen nicht nur der Opposition und ihren noch medial. Eine neue Generation junger Medienmacher gedeiht im den Libanesischen Fernsehsender LBC. Er ist zudem Berater für das Anhängern, sondern auch dem Regime und all seinen Verbündeten Auf einer Pro-Regime-Demonstration im Zentrum von Damaskus Exil und betreibt neue Zeitungen und digitale Nachrichtenportale. Syrien-Programm des Thinktanks Middle East Institute in Washington. zur Verfügung. Anfänglich erlaubte das Regime diese neuen Plattfor- schwenken die Menschen große Assad-Poster. 12 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 13

ZEITSPRUNG TUNESIEN IN DER ÜBERGANGSZEIT REVOLUTION »Ben Alis Flucht war feige« UND BÜRGERKRIEG

Syrien Tunesien Zwei Stunden Zeit hatte die tunesische Unternehmerin Amel Karboul für die Entscheidung, als Ministerin der Regierung­­­­­­­ beizutreten. Ih rem­­ Land 16. Februar 2011 17. Dezember 2010 In der Stadt Deraa werden mehrere Kinder verhaftet – an ei - Der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi verbrennt sich selbst wünscht sie auch heute mehr Macher ner Schule waren regimekritische Graffiti an die Wände gemalt aus Protest gegen Polizeiwillkür in der Stadt Sidi Bouzid. in der Politik worden. Aus Protest demonstrieren zunächst in Deraa, später INTERVIEW: MORITZ BEHRENDT auch in anderen Städten Tausende für mehr Freiheiten.

22. April 2011 13. Januar 2011 Die Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Massenprotes- Präsident Zine el-Abidine Ben Ali flieht nach wochenlangen te vor, die in zahlreichen Städten nach den Freitagsgebeten Protesten nach Saudi-Arabien. losziehen. Viele Demonstranten werden getötet. Das Regime Das Militär hatte sich zuvor auf die Seite der Demonstranten riegelt Hochburgen des Protests ab. In der Folge organisiert gestellt. sich die syrische Opposition im Exil.

6. März 2013 26. Januar 2014 Dschihadisten erobern die Stadt Raqqa. Zunehmend über- Nach zwei Verhandlungsjahren nimmt die konstitutionelle Ver- nimmt der »Islamische Staat im Irak und Syrien«, später IS, die sammlung mit Zwei-Drittel-Mehrheit die neue Verfassung an Kontrolle. Ab Herbst 2014 kämpft eine internationale Militäral- – ein wesentlicher Streitpunkt war die Rolle des Islam in Staat lianz gegen den IS. und Gesellschaft.

7. Dezember 2016 18. Mai 2015 Regierungstruppen erobern mit russischer und iranischer Hil- Bei einem Terroranschlag auf das Nationalmuseum von Bar- fe die Stadt Aleppo zurück. Die Schlacht legt weite Teile der do werden 22 Menschen getötet, darunter viele Europäer. Gut zweitgrößten Stadt Syriens in Schutt und Asche. Militante Is- zwei Monate später tötet ein Attentäter 38 Menschen in einem lamisten und Regierungsgegner ziehen sich nach Idlib zurück. Hotel in Port el-Kantaoui bei Sousse.

19. Dezember 2019 13. Oktober 2019 Das Regime verstärkt seine Angriffe auf die Region Idlib, Die Tunesier wählen den parteilosen Kais Saied zum neu - das letzte von Rebellen gehaltene Gebiet. Dabei kommt es en Präsidenten. Der Sieg des konservativen Anti-Establish- zu Kämpfen gegen türkische Soldaten, die in Idlib stationiert ment-Kandidaten drückte die hohe Unzufriedenheit der Be- sind. Im Nordosten des Landes brechen immer wieder Kampf- völkerung mit den seit 2011 dominierenden Parteien aus. handlungen zwischen US-amerikanischen und russischen Truppen aus. Fotos: Amel Karboul 14 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 15

ann haben Sie in den Jahren Wie kam es eigentlich, dass Sie in die Politik gegangen sind? Besteht in Tunesien vielleicht, ähnlich wie in Deutschland, ein Kurz nach Ihrer Amtszeit folgten die Anschläge auf das Bar- 2010 und 2011 das erste Mal Ich wurde gefragt und ich habe »Ja« gesagt. Lustigerweise war ich großer Wunsch nach Konsens, anders als etwa in Großbritanni- do-Museum und das Hotel in Port el-Kantaoui bei Sousse. Wie gedacht, dass in Tunesien zu dem Zeitpunkt gerade wieder in Südafrika. Nach dem turbu­ en oder den USA, wo Politik viel stärker polarisiert? sehr leidet der tunesische Tourismus noch immer an den Folgen etwas Großes passiert, dass lenten Sommer 2013 – in Ägypten waren die Islamisten gestürzt Als Ministerin habe ich gemerkt, dass die Tunesier viel Wert auf der Anschläge von 2015, bei denen Dutzende Menschen, darun- wirklich Veränderung bevor- worden und auf den Sit-ins auf dem Bardo-Platz in Tunis wurde Konsens legen und Konfrontationen lieber aus dem Weg gehen. Ich ter auch Urlauber, ums Leben kamen? steht? der Rücktritt der Regierung gefordert – hatte die Ennahda Angst, war eine der wenigen, die mal auf den Tisch gehauen haben. Ich er- Es ist traurig, das zu sagen, aber ich glaube, dass sich die Menschen Amel Karboul: Ziemlich früh, dass ihr Ähnliches passieren könnte. Im Winter wurde dann Mehdi innere mich daran, dass es in meinem Team große Aufregung gab, weltweit an Terroranschläge gewöhnt haben. Der Tourismus hat ich weiß gar nicht warum. Der Jomaa beauftragt, eine Technokraten-Regierung anzuführen. Erst als die Reisebüros streikten. Da dachte ich mir: Die können mei- sich in den letzten Jahren recht schnell erholt, 2019 war für Tune- W 17. Dezember 2010, als Mu- fragte mich einer seiner Berater, ob ich bereit wäre, das Umwelt- netwegen sechs Monate streiken, das ist ihr demokratisches Recht, sien ein ziemlich gutes Jahr. Nun müssen wir uns mit den Folgen hammad Bouazizi sich selbst oder das Tourismusministerium zu übernehmen. Beim Tourismus aber ich lasse mich davon nicht unter Druck setzen. Natürlich blei- der Covid-19-Pandemie auseinandersetzen, aber natürlich müssen verbrannte, war ein seltsamer war meine Hoffnung, in kurzer Zeit mehr verändern zu können – be ich im Gespräch mit ihnen, aber ich habe meinen Posten, um wir auch schauen, was in Libyen geschieht, insbesondere seit der Tag. Ich sollte eigentlich von Deutschland aus nach Südafrika flie- wir wussten ja nicht, wie lange wir im Amt bleiben würden. Dann eine Strategie durchzusetzen. Vielleicht bin ich da doch angelsäch- Intervention der Türkei. Die Frage ist, wie wir es schaffen, Sicher- gen, aber wegen eines Schneesturms verpasste ich den Flieger. Als hörte ich eine Weile nichts, bis mich Mehdi Jomaa höchstpersön- sisch in meiner Haltung und finde es sinnvoll, offen mit Konflikten heit zu gewährleisten, wenn in der Nachbarschaft Kriege geführt ich sah, was in den Sozialen Medien geteilt wurde, hatte ich sehr lich anrief und fragte, ob ich dabei sein möchte, die erste Demokra- umzugehen, und dass es nicht immer Konsens braucht. werden. schnell das Gefühl, dass hier etwas Großes geschieht. tie der arabischen Welt aufzubauen. Er gab mir zwei Stunden für die Entscheidung. Sie waren nur ein gutes Jahr im Amt: Bei welchen Projekten sind Hatten Sie erwartet, dass Präsident Ben Ali gestürzt werden Sie traurig, dass Sie sie nicht zu Ende gebracht haben? könnte? Wie groß war Ihre Hoffnung, wirklich schnell und viel ändern Da gibt es viele. Schon als ich das Amt antrat, wurde mir oft gesagt: Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Klarer wurde es mir, als in Sfax im zu können? Warum fängst du denn mit dieser großen Reformstrategie an? Die Januar Polizisten auf Demonstranten schossen und die Menschen Die Stimmung in der Regierung war sehr positiv, wir waren ein ge- braucht bestimmt zehn Jahre, aber du bist vielleicht nur andert- einfach weitermarschierten. Da habe ich mir gedacht, Wow, wenn schlossenes Team. Unsere Hausaufgabe war klar: die Übergangs- halb Jahre im Amt. » DIE TUNESIER HABEN EIN SEHR KLARES man die Angst vor dem Tod verliert, dann ist man unbesiegbar. Als phase zu Ende zu bringen und freie Wahlen zu ermöglichen. BILD VON DER GESELLSCHAFT, IN DER SIE Ben Ali das Land verließ, haben viele Tunesier das auch als eine Gleichzeitig sollten und wollten wir Reformen starten, und ich Was haben Sie den Skeptikern entgegnet? Art Verrat an Tunesien empfunden. Sie hatten Angst vor einem denke, dass wir das geleistet haben. Der Übergang von unserer zur Wenn ich jetzt anfange, dann sind danach nur noch neun Jahre LEBEN WOLLEN « Vakuum. Anfangs hatten wir eher gehofft, dass er Verständnis für nächsten Regierung war ein berührender Moment – zum ersten ­übrig. Alle Minister, die vor mir im Amt waren, sagten mir, dass sie die Proteste zeigen und größere Reformen anstoßen würde oder Mal in der arabischen Welt hat eine frei gewählte Regierung die es bereut haben, die großen Reformen nicht angestoßen zu haben. zurücktritt und den Weg für eine Übergangsregierung freimacht. Macht friedlich übernommen. Viele hatten gegen uns gewettet, Ich glaube an den Staat, an die Institutionen und habe mir gesagt, Aber einfach so abzuhauen, das war schon ziemlich feige. Doch na- aber wir haben es geschafft: Die Wahlen waren transparent und ich fange einfach an. Es freut mich, wenn ich jetzt lese, dass be- türlich war das auch ein tolles Gefühl, und zwar überall im Land. demokratisch. stimmte Reformen aus meiner Amtszeit noch umgesetzt werden. Und es hat positiv überrascht, wie gut alle Institutionen auch wei- Sind Sie grundsätzlich hoffnungsvoll, dass sich Tunesien von ter funktionierten. Selbst die Wasser- und Stromversorgung. Hätten Sie damals gerne weitergemacht? Entwicklungen in Libyen oder auch Ägypten abgrenzen kann? Aus persönlicher Sicht nicht. Für mich, meine Kinder, meine Fami- Das ist die Frage, ob man auf das halbvolle oder das halbleere Glas Hatten Sie keine Angst, das Land würde im Chaos versinken? lie war schon ein großes Opfer. In letzter Zeit bin ich mehrfach ge- schaut. Menschen sind politikmüde, die Populisten sind im Auf- Das war ja immer Ben Alis Argument gegenüber westlichen Re- fragt worden, ob ich bei den nächsten Wahlen kandidieren möchte. schwung, die Wirtschaft verändert sich, und Technologiefirmen gierungen: Nur ich kann für Sicherheit sorgen. »AUCH IN SIEBEN JAHREN BIN ICH NOCH JUNG Im Moment will ich mich aber auf die Arbeit an der internationalen schaffen nicht so viele Jobs wie früher die Industrie. Von diesen Es gab schon Momente der Angst, Dörfer und Nachbarschaften ver- Bildungsinitiative konzentrieren, der ich vorstehe. Und ich möchte globalen Trends kann sich auch Tunesien nicht lösen. Dennoch GENUG, UM IN DIE POLITIK ZU GEHEN barrikadierten sich. Aber die Angst war möglicherweise größer als « für meine Kinder da sein, bis sie aus dem Haus sind. Aber in sieben überwiegt das Vertrauen in den demokratischen Prozess, und das die tatsächliche Gefahr. Wir erlebten eine unglaubliche Solidari- Jahren werde ich auch noch jung genug sein, um Politik zu machen bedeutet schon sehr viel. Die vielen Regierungswechsel hatten al- sierung – viele kamen zusammen und lernten zum ersten Mal ihre – wenn ich das dann will. lerdings zur Folge, dass wirtschaftliche und soziale Reformen ste- Nachbarn wirklich kennen – ein bisschen wie zurzeit in England cken geblieben sind. während der Covid-Pandemie, wenn donnerstags immer alle für die Krankenpflegerinnen und Ärzte klatschen. Im Ausland wird Tunesien als Musterbeispiel dafür gesehen, Wo sehen Sie da die größten Baustellen? parteipolitisch organisierte Islamisten in den politischen Pro- Auf jeden Fall beim Thema Jobs. Auch der Braindrain bleibt ein Aber dann kamen doch auch immer wieder Momente, in denen zess einzubeziehen und damit auch einzuhegen. Liegt das an Problem. Gerade im IT-Bereich zieht es junge Menschen mit guter nicht ganz klar war, wie es mit dem Land weitergeht, etwa nach der Ennahda oder an der Reife der tunesischen Gesellschaft? Ausbildung unverändert ins Ausland, meist nach Frankreich. der Ermordung des linken Oppositionspolitikers Chokri Belaid Ich denke, das liegt daran, dass die Tunesier bei allen politischen Zudem sind die Kosten des täglichen Lebens gestiegen. im Februar 2013 … Differenzen ein sehr klares Bild von der Gesellschaft haben, in der Ja, aber ich denke, da hat man sehr schnell gesehen, wie ungewöhn- sie leben wollen. 2011 hatten sogar noch Uni-Professoren für die Amel Karboul, 47, arbeitete für Können Reformen dennoch etwas bewirken? lich das für viele Tunesier war. Tunesien ist anders als manch an- Ennahda gestimmt – mit dem Argument, dass sie unter Ben Ali mehrere globale Konzerne und Es geht nicht nur um die Inhalte der Reformen, sondern auch um deres arabische Land, in denen politische Morde weit häufiger vor- und Bourguiba unterdrückt wurden, und dass die Islamisten gut gründete ihr eigenes Beratungs- deren Umsetzung. In Tunesien mangelt es häufig am Reform-Ma- kommen. Vor allem die Frauen haben sich erhoben, um zu zeigen, organisiert seien. Inzwischen ist Ennahda geschwächt – Umfragen unternehmen, bevor sie 2014 nagement – die geplanten Schritte tatsächlich bis zum Ende durch- zur Tourismusministerin in der dass sie nicht in eine andere Art von Gesellschaft rutschen wollten. sehen sie bei etwa 22 Prozent. Sie hatte ja auch die Chance, zu re- zuziehen. Dafür braucht es vermutlich noch mehr Stabilität. Und Übergangsregierung von Mehdi 2011, nach der anfänglichen Euphorie, war die Enttäuschung bei gieren, und die Tunesier haben gemerkt, dass sie auch nicht besser Jomaa wurde. Zurzeit ist sie Vor- viele Politiker gelangen nicht mit Erfahrung in der Umsetzung vielen groß, dass die Islamisten von Ennahda die Wahl zur verfas- regiert als andere. Stattdessen hat sie dazu beigetragen, dass die standsvorsitzende der Bildungs- ins Amt, sondern eher mit einem politischen Hintergrund, in dem sunggebenden Versammlung gewannen, aber die Zivilgesellschaft Korruption anstieg, während sich die Lage der Tunesier kaum ver- initiative »Education Outcomes ­Ideen entstehen und diskutiert werden. Da müssen wir in Tunesien hat immer für ausreichend demokratische Kontrolle gesorgt. besserte. Fund«. Karboul lebt in London. besser werden. 16 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 17

REVOLUTION UND KRIEG IM JEMEN Obwohl ich nebenher als Dolmetscher für Human Rights Watch arbei- tete, hatte ich, wie die meisten anderen, kaum Geld, um mir Musik- instrumente oder Lautsprecher zu leisten. Doch glücklicherweise be- kamen wir Spenden, mit denen wir unsere Musik finanzieren konnten. So brachten wir unsere Botschaft von Revolution und Veränderung Wir werden es wieder unter die Leute. Aber unser Kunstkollektiv beschränkte sich nicht auf unsere Band. Die Revolution vereint: Künstler, Ärzte und Neben Alben, Konzerten und Tourneen im ganzen Land organisierten schaffen! wir Debattencamps für Jugendliche, eine Musikinstrumenten-Aus- Aktivisten wohnten und arbeiteten zusammen stellung am »Tag der jemenitischen Musik« oder auch Videoprojekte. Der Musiker Ray Asery war dabei, als im Jemen 2011 plötzlich radikale Allem gemein war, dass wir die Revolution thematisierten wollten – dabei ging es uns nicht nur um Aufklärung, sondern auch um die Ein- Veränderung möglich war. Heute glaubt er, dass die Erfahrung von Repression beziehung der Menschen. Außerdem unterstützten wir das Zentrum und Krieg in der nächsten Phase der Revolution von Nutzen sein könnten für Gesundheit und Kultur in Sana’a, eine Klinik für Psychologie, die Musikunterricht für Klavier, Oud und Qanbus anbietet. Die anfängliche Revolutionsromantik traf aber schnell auf die harte Realität der Re- VON RAY ASERY pression. Viele Aktivisten wurden von den Sicherheitsbehörden oder hieß Ahmed Al-Asiri. Die offensichtliche Ähnlichkeit unserer Namen brachte mir viel Misstrauen und Ärger ein. Bürgerkrieg – Tausende verloren ihr Leben. Meine Freunde im Berliner Exil nennen mich »Ray«, der »Lichtstrahl« Danach versprach die Regierung mal wieder – jetzt ist mein Künstlername also »Ray Asery«. Denn wie viele ande- Frieden und Wohlstand. Aber die Realität sah re Aktivisten mussten auch meine Künstlerfreunde und ich das Land anders aus: Korruption, Selbstbereicherung und verlassen. Meine Flucht führte mich über Äthiopien, Dschibuti, Sudan Wahlmanipulation gehörten ebenso zur politi- und Großbritannien nach Deutschland. Heute arbeite ich in einem schen Normalität wie die Unterdrückung, Inhaf- Familienzentrum in Berlin, engagiere mich ehrenamtlich und mache tierung und Folter von Aktivisten, Journalisten weiterhin Musik. und politischen Gegnern. Und Gewalt war kein Zu den meisten Revolutionären vom »Platz des Wandels« habe ich Monopol der Regierung: In Moscheen wurden immer noch Kontakt, auch wenn wir mittlerweile in aller Welt ver- gewaltverherrlichende islamistische Ideologien streut leben. Der Tierarzt Rahman Taha floh über Libanon und Ägyp - gepredigt, die Erziehung in Schulen und Fami- ten nach Großbritannien. Omar Saad verschlug es nach Dschibuti, wo lien legte Wert auf militärischen Drill. Wer sich er seine Fotografie-Karriere weiterverfolgt. Veränderung wünschte, hatte es schwer – poli- Unser Freund Abdulrazzaq El Azazi war einer der ersten Journalisten, tisch und privat. 2008 wollte ich Gitarre spielen die in der lokalen und internationalen Presse von den Demonstratio- lernen. Meine Eltern, bei denen ich damals lebte, nen in Sana’a berichteten. Heute lebt er in Kuwait und leitet ein Pro- wollten nichts davon wissen – noch nicht einmal jekt, in dem er Menschen über ihre grundlegenden Rechte aufklärt. den Wunsch durfte ich aussprechen. Also kauf- Zehn Jahre nach der Revolution wünschen sich manche wieder Salehs te ich mir heimlich eine Gitarre und versteckte Beide Fotos: Ahmed Asery während einer Demonstration am 5. Juni 2011 auf dem »Platz Diktatur zurück – die sei immerhin besser gewesen als die heutige sie im Kleiderschrank. Natürlich fanden sie das des Wandels« vor der Universität von Sana’a. Situation. Aber ich bin mir sicher: Die Reise geht weiter. Die Men- heraus.­ Es dauerte nicht lange. Vor meinen Au - schen haben begonnen, sich ihre Rechte zu vergegenwärtigen – das gen schlugen sie das Instrument in Stücke. Aber ist schon die halbe Miete auf dem Weg zur Veränderung. 2011, als wir sahen, was in Tunesien und Ägyp- bewaffneten Milizen getötet, andere kamen ins Gefängnis. Einige von Natürlich ist noch viel zu tun: Mordende und rachsüchtige Milizen ten passierte, war der Wandel plötzlich greifbar. uns standen unter großem Druck. Der Stamm meines Freundes und kontrollieren das politische und gesellschaftliche Leben. Während die Zu Tausenden gingen wir auf die Straße, um für Kollegen, des Fotografen Omar Saad, entführte dessen Kinder und Kriegstreiber auf sogenannten Friedenskonferenzen debattieren, fi- ir sangen von Freiheit und Widerstand. Frieden und unsere Rechte zu demonstrieren. Auf dem »Platz des zwang seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen. Mit Waffenge- nanzieren sie weiterhin lieber Waffen als Krankenhäuser, Kitas, Schu- Wir waren Revolutionäre. Mit Musik Wandels« lernte ich unzählige Menschen kennen: Musiker, Akti- walt forderten die Milizionäre eine große Geldsumme von ihm – dann len oder Kinderspielplätze. und Kunst wollten wir den Jemen be- visten, Menschenrechtler. Mit einigen von ihnen gründete ich die würden sie ihn in Ruhe lassen, hieß es. Er zahlte, aber sie ließen ihn Aber trotzdem bin ich überzeugt: Zehn Jahre Revolution haben eine freien. Unsere Bühne war der »Platz Künstlergruppe 3 Meters Away. nicht in Ruhe. stärkere Generation geschaffen. Eine Generation, die in Konfliktlö- des Wandels«, wie wir den Bereich Unser Kollektiv bestand aus Menschen mit den unterschiedlichsten Den großen Erfolg unserer Revolution bejubelten wir im November sung und Friedensstiftung geschult ist. Eine Generation, die Krieg er- vor der Universität von Sana’a kurzer- Lebensgeschichten: Fotografen waren dabei, Musiker, Schriftstel- 2011: Präsidenten Ali Abdullah Saleh erklärte sich endlich bereit, ab - lebt hat und heute mehr denn je an Veränderung glaubt, an ein Leben W hand tauften. Zwischen all den Zelten, ler, aber auch ein Zahnarzt. Uns alle vereinte der Wunsch nach Ver- zutreten – nachdem er sich 33 Jahre mit allen Mitteln an der Macht in Harmonie zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründe politischen Debatten und kreativen änderung. Viele meiner ausländischen Freunde verließen damals gehalten hatte. Es folgte eine Übergangsregierung, die den »nati- und Überzeugungen. Workshops spielten wir kostenlose aus Sicherheitsgründen das Land. Einer von ihnen bat mich, auf onalen Dialog« einläutete, an dessen Ende eine friedliche Einigung All die Aktivisten, Künstler und einfachen Bürger kämpfen weiterhin Reggae-Konzerte. Von hier aus zogen wir los, um zu protestieren – sein Haus aufzupassen, bis sich die Situation wieder beruhigt. So für die Zukunft des Landes stehen sollte. Dieser Plan scheiterte spä- für die Revolution. Auch wenn wir Unterstützung aus dem Ausland zum Präsidentenpalast, zum Justizministerium und wieder zurück. verfügte ich plötzlich über ein Haus mit drei großen Zimmern, ho- testens, als die Huthis im Februar 2015 in zahlreiche Städte einmar- brauchen werden: Wir haben es einmal geschafft, wir werden es wie- Es war eine aufregende Zeit. Der Weg war weit, was danach folgte, hen Betten, ganz vielen Büchern und einem Garten – voll möbliert schierten, das jemenitische Parlament auflösten und die Macht mit der schaffen! schmerzhaft. und nur 500 Meter vom »Platz des Wandels« entfernt. Dort nahm Waffengewalt an sich rissen. Im März begannen dann die Luftangriffe Aber vielleicht erzähle ich von Anfang an: Im Jahr 1994, als ich neun ich einige meiner revolutionären Künstlerfreunde auf. Damals wa- der Saudis. Eigentlich heiße ich Ahmed Asery, aber als die saudische Ray Asery ist ein jemenitischer Aktivist und Musiker. In Sana’a Jahre alt war, mündete der Nord-Süd-Konflikt im Jemen in einen ren wir Studenten, ich befand mich gerade im zwölften Semester Armee anfing, Krieg im Jemen zu führen, wurde das zum Problem: gründete er 2011 mit Freunden das Künstlerkollektiv 3 Meters

meines Medizinstudiums. Asery Ahmed Fotos: Der damalige Sprecher der saudischen »Operation Decisive Storm« Away. Inzwischen lebt er im Exil in Berlin. 18 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 19

GENERATION 2011 ZEITSPRUNG »Wir müssen wieder ganz von vorne beginnen« BÜRGERKRIEG

Faisal Swehli wollte Libyer aus allen Landesteilen zusammenbringen. Das Experiment scheiterte UND

VON MIRCO KEILBERTH REPRESSION ls Tausende Libyer im September 2011 den viele meiner Freunde war mir während der Revolution sehr bewusst, Sieg über Langzeitherrscher Muammar dass in einem Nachkriegslibyen der Versöhnungsprozess nicht nur Al-Gaddafi auf dem Märtyrerplatz in Tripolis zwischen Aufständischen und Gaddafi-Gegnern, sondern zwischen feierten, schmiedete Faisal Swehli mit einigen Städten und Regionen organisiert werden muss.« Dieses Bewusstsein Jemen Bahrain Bekannten bereits ein neues Projekt: Libya bestimmte auch den Alltag bei Libya Jadida. Auf den Redaktionskon- ­Jadida (Das neue Libyen) hieß die Zeitung, die ferenzen krachte es regelmäßig. Weil die Zeitung auch in der täglich 27. Januar 14. Februar 2011 A ein Spiegelbild der blutig errungenen Freiheit landesweit verkauften Printausgabe alle Stimmen zu Wort kommen In der Hauptstadt Sana'a demonstrieren 16.000 Menschen Mehrere Tausend Menschen demonstrieren in der Haupt- werden sollte. Mit einigen aus der Gaddafi-­ ließ, nahm das Kartell der Hauptstadtmilizen die Journalisten bald – viele von ihnen Studierende – gegen Pläne des Präsiden - stadt Manama für Reformen und mehr Rechte für die Zeit bekannten Reportern sowie mit jungen ins Visier. »Wir mussten das Experiment trotz aller Gefahren weiter- ten Ali Abdullah Saleh, seine Amtszeit auszuweiten, sowie schiitische Bevölkerungsmehrheit. Sie errichten ein Pro- Aktivisten hatte Swehli ohne jegliche eigene machen, damit die Opfer des Aufstandes nicht umsonst gestorben für Reformen. Im März töten Scharfschützen mehr als 50 testcamp auf dem Perlenplatz – es wird drei Tage später Medienerfahrung eine Redaktion aufgebaut. Die politischen Meinun- waren«, so Swehli.­ »Und wir konnten keine neue Diktatur akzeptie - Teilnehmer einer Demonstration. Saleh ruft den Ausnah- gewaltsam geräumt. gen im Team waren diametral entgegengesetzt – das war durchaus ren.« Doch 2014 wurden aus alten Verbündeten gegen das Regime mezustand aus. beabsichtigt. Nach seinem BWL-Studium in endgültig Gegner, Städte wie und London war Swehli seiner Heimat, der Ha- Benghazi standen sich in verfeindeten La- 23. November 2011 15. März 2011 fenstadt Misrata, jahrelang ferngeblieben, gern gegenüber. Auch das Redaktionsteam Saleh stimmt nach mehrfacher Verzögerung einer Macht­ Auf Bitten der Regierung von König Hamad Al Khalifa wie viele Kinder aus wohlhabenden Familien. zerbrach unter den politischen Spannungen übergabe zu. Nach einem Vermittlungsplan des Golfko- entsenden SaudiArabien und die VAE 2.000 Soldaten und Aber zu Beginn des Aufstandes im Frühjahr im Land. Die meisten Blattmacher mussten operationsrates tritt er innerhalb von 30 Tagen zurück, Polizisten nach Bahrain. Zahlreiche Aktivisten und Oppo- 2011 hatte der damals 27-jährige Geschäfts- sein Amt übernimmt der bisherige Vizepräsident Abd sitionspolitiker werden festgenommen. Am 18. März wird mann aus seinem Exil in London Hilfsliefe- Rabbo­ Mansur Hadi. das Denkmal auf dem Perlenplatz abgerissen. rungen für Libyen über Tunesien organisiert. Libyer aus der ganzen Welt schickten Kran- 21. Januar 2014 23. November 2011 kenwagen, Lebensmittel und Medikamente Auf den Redaktionskonferenzen Die »Nationale Dialogkonferenz« endet mit zahlreichen Eine vom König ins Leben gerufene Untersuchungs- ins Grenzgebiet. Mehr als 250.000 Menschen von Libya Jadida krachte es Empfehlungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Die kommission wirft der Regierung Verbrechen gegen die regelmäßig – und das war waren nach der Niederschlagung der Stra- Huthis aus dem Norden des Landes hatten sich bereits aus Menschlichkeit vor, unter anderem sollen Häftlinge sys- beabsichtigt ßenproteste aus Libyen geflohen. Als die den Verhandlungen zurückgezogen. Im September tematisch gefoltert worden sein. Den Empfehlungen der Kämpfer aus Benghazi nur noch wenige Ki- nehmen sie die Hauptstadt Sana'a ein. Kommission kommt die Regierung in großen Teilen nicht lometer vor der Hauptstadt Tripolis standen, nach. machte sich Swehli selbst auf den Weg in die 26. März 2015 Flüchtlingslager. »Ich ahnte nicht, dass diese Eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition greift 22. November 2014 Reise ins Ungewisse bis heute mein Le- aufseiten der Regierung von Präsident Hadi in den Konflikt Schiitische und linksgerichtete Parteien boykottieren die ben auf den Kopf stellen würde«, sagt der ein. Die Luftangriffe richten sich gegen die Huthis, immer Parlamentswahl, da sie nicht mit einer freien und fairen 36-Jährige heute. Als im Sommer 2011 die Produktion von gedruckten Zeitungen wieder werden jedoch auch Zivilisten Opfer der Bombar- Abstimmung rechnen. in Tripolis immer mehr Menschen verhaf- inzwischen einstampfen. Faisal Swehli hat dierungen. tet wurden, organisierten die Exilanten auf den Glauben an ein neues Libyen aber nicht Djerba und in den mittlerweile befreiten aufgegeben: Ab 2021 will er eine Zeitung 20. Juni 2018 4. November 2018 Nafusa-Bergen südlich von Tripolis neben für Frauen und Sport herausgeben. »Viele Nach heftigen Kämpfen mit den Huthis nimmt die von Der Vorsitzende der inzwischen verbotenen schiitischen Verbandsmaterial auch Waffenlieferungen Libyer haben ob der Konflikte den Glauben ­Saudi-Arabien angeführte Militärallianz den Flughafen Oppositionspartei Al-Wefaq, Ali Salman, wird zu lebens- für die Kämpfer. Swehli selbst wollte keine an Politik und Demokratie verloren und sich der Hafenstadt Hodeida ein. Die Einfuhr von Lebensmit- langer Haft verurteilt. Waffe in die Hand nehmen. In London hat- ins Private zurückgezogen. Wir müssen als teln und Medikamenten wird im ganzen Land massiv be- te er Libyer aus allen Landesteilen und po- Land und Medienmacher wieder ganz von hindert. Die humanitäre Situation bedroht das Leben von litischen Lagern kennengelernt. »Anders als vorne beginnen – wie vor zehn Jahren.« Millionen Menschen. 20 DOSSIER · ERINNERN DOSSIER · ERINNERN 21

VON AZMA BIS ZENGA ZENGA -Stra« – (محلل | خبير الستراتيجي) Muhallil | Khabir al-Stratiji tegieexperten«. Die am schnellsten expandierende Branche im nachrevolutionären Medienbetrieb. Häufig unverfänglicher Name für Ex-Militärs, die ihre Vergangenheit nicht öffentlich Sprechen Sie Revolution? zur Schau tragen, aber dennoch mitreden wollen. Agent Provocateur«. Geheimagenten« – (مندسين) Mundassin fremder Mächte, die ganz im Sinne der Muʾamara die Strippen Das zenith-Glossar zur arabischen Straße ziehen und Unheil anrichten. -Regime«. Ein Wort (und Name) mit langer Ge« –مندسني (نظام) Nizam schichte, das so viel wie »Ordnung« oder »System« bedeutet. VON ROBERT CH ATTER JEE, HICHEM A BDESSA M A D, MICH A EL N U DING Inzwischen eher zum Schimpfwort und Inbegriff autoritärer Regime mutiert, deren Sturz gefordert wird.

.»Die Tuk-Tuk-Jungs« – (شباب التوك توك) Schabab al-Tuktuk Junge Tuk-Tuk-Fahrer in Bagdad galten vor allem als Verkehrs­ chaoten. Während der Proteste brachten sie Verletzte schnell مؤامرة in nahe gelegene Krankenhäuser – und wurden zu Helden des Aufstands.

,Geister«. Bewaffnete Schlägertruppen« – (شبيحة) Schabiha -Verachtung«. Geisteshaltung der gesell« – (ح ڨ رة) Hogra Krise«. Inflationär von Regimen benutzt, häufig auf Motorrädern und auf Krawall gebürstet. Der Name« – (أزم ة) Azma schaftlichen Eliten gegenüber niedriger stehenden sozialen um vom eigenen Versagen abzulenken: Krisen kommen geht womöglich auf die ursprünglich bevorzugten Boliden von Schichten, aber auch die Art und Weise der Misshandlung grundsätzlich von außen, oft genug durch. Assads Schergen in Syrien zurück, nämlich schwarze Merce- armer Schlucker seitens der Polizei. Gleichzeitig Ausdruck → siehe Muʾamara des-S-Klasse-Karossen. des »Misstrauens« von Jugendlichen gegenüber eben jenen Ein weit verbreiteter Spottname Eliten. Legitimität«. Wer in irgendeiner Form« – ( ش رع ي ة) Dattel«. Scharaiya« – (بلحة) Balaha (ähnlich der »Birne« Helmut Kohl) für den ägyptischen »demokratische Legitimität« suggerieren kann, fühlt sich di- -Sit-in«. In Mode gekommene Protest« – (إعتصام) I’tissam Präsidenten Abdel-Fattah Al-Sisi, popularisiert durch den rekt sicherer auf dem Herrschersitz. Dieses Konzept, das seine form: Die Besetzung eines Platzes oder symbolischen Ortes gleichnamigen Song des Musikers Ramy Essam. Der Frust sprachliche Wurzel mit der Scharia teilt, kommt vielen Regime für eine längere Zeit, um spezifischen Forderungen Gehör zu über die Stagnation unter dem neuen Regime schlägt um gerade gelegen. in Spott: Mit seinem dattelähnlichen »Schrumpelgesicht« verschaffen. macht Sisi auf viele Ägypter einen unbeholfenen Eindruck. Revolutionär« und« – (ثورجي) und Thawraji (ثوري) Thawri Hungerstreik«. Eine« – (إض راب عن الطع م) Idrab An Al-Taam »Revoluzzer«. Der erste Begriff beschreibt diejenigen, die für vor allem in Ägypten in den letzten zehn Jahren häufig ge- Der Zug ist abgefah- die »Thawra« (Revolution) kämpfen, der zweite Begriff wird mal« – (فاتكم القطار) Faatakum al-Qitar nutzte Protestform, oft seitens inhaftierter Aktivisten. ren«. 2011 schrie der jemenitische Machthaber Ali Abdul- spöttisch, mal vorwurfsvoll jenen medienaffinen Aktivisten an lah Saleh diesen Satz immer wieder seinen Gegnern entge- den Kopf geworfen, die sich vor allem selber profilieren wollen, Sieg«. Wenn es für Regime schon keine« – (إنتصار) Intisaar gen – in einem Land ohne Schienenverkehr. Mit dem Zitat vielleicht um in den Klub der Experten aufzusteigen. großen Siege zu verzeichnen gibt, wird jede noch so kleine veralbern Aktivisten auch heute noch autoritäre Herrscher, → siehe Muhallil | Khabir al-Stratiji die nur Bahnhof verstehen. Kleinigkeit zum Triumph – oder wie Trump sagen würde: »So much winning!« »Ultras«, Fußballfans, die früher vor allem als Hooligans Überreste«. Gemeint sind Politiker, Be- wahrgenommen wurden. Nach intensiver Protestbeteiligung« – (فلول) Fuloul -Terror«. Sobald Regime einen Grund brau« – (إ ره ا ب) Irhab amte und Militärs der alten Regime, die weiterhin an der und Organisation von Demonstrationen vor allem in Ägypten chen, unliebsamen Gegnern den Garaus zu machen, kommt Macht sind oder öffentliche Debatten mitbestimmen. und Tunesien hat sich dieses Bild grundlegend gewandelt – au- diese rhetorische Allzweckwaffe zum Einsatz. Wer kann ßer bei den Sicherheitsbehörden natürlich. مليونية ?Flucht«. Bedeutet eigentlich »verbren- schon etwas gegen Terrorbekämpfung haben« – (ح رڨ ة) Harga In diesem Fall sind jedoch die Papiere gemeint, die an Gasse für Gasse«. Am 22. Februar« – (زن ق ة زن ق ة) nen«. Zenga Zenga -Marsch der Millionen«. Wortneu« – (مليونية) Millioniya der Grenze verbrannt werden. Ein im gesamten Maghreb 2 011 h i e lt d er l i b y s c h e D i k t a t or Mu a m m a r A l - G a d d a fi ei n -e m ar schöpfung für Großdemonstrationen, denen Millionen von verbreiteter Begriff für illegale beziehungsweise heimliche tialische Rede, in der unter anderem ankündigte, im Kampf ge- Menschen beiwohnen – zumindest gefühlt. Migration. gen die Revolutionäre »Gasse für Gasse« zu durchkämmen. Die Rede hat seitdem ein virtuelles Eigenleben entwickelt, diente Verschwörung«. Je mehr Akteure im« – (م ؤا م رة) Muʾamara .Sofafraktion«. Die ver- als Vorlage für zig Songs und Parodien« – (حزب الكنبة) Hizb al-Kanabe meintlich schweigende Mehrheit, die nicht an den Protes- politischen Geschehen mitmischen, desto mehr Muʾamarat ten teilnimmt und stattdessen vor dem Fernseher hockt geistern durch die Cafés, Taxis und Friseursalons der Städte und altkluge Kommentare abgibt. Eben eine andere Form – irgendwer muss doch die Strippen ziehen. von »Sit-in«. 22 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 23 ILLUSTRATION: TAREK AYA 24 24 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 25

KRIEGSVERBRECHEN IN SYRIEN – PROZESS IN DEUTSCHLAND rgendetwas stimmt nicht mit der dehnten und systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung und Gruppe von Menschen, die vor somit die Voraussetzung für ein Verbrechen gegen die Menschlich- dem Gericht in Koblenz zusam- keit. Der Internationale Strafgerichtshof kann aber nicht tätig wer- menstehen. Locker haben sie sich den, weil Syrien kein Mitglied ist und Russland eine Entscheidung des auf der Grünfläche an der Karme- UN-Sicherheitsrates blockiert. literstraße zu einer Demonstration Doch die deutsche Justiz kann mithilfe des Weltrechtsprinzips völ- versammelt, doch ihre aufrechten kerrechtswidrige Straftaten auch ohne direkten Bezug zu Deutschland Körper wirken leblos. Starr ragen vor Gericht bringen. Während der Krieg in Syrien kein Ende findet, hat ihre Arme in die Höhe, eine junge sie internationale Haftbefehle gegen hochrangige Regimeangehörige Frau ist im Rennen eingefroren. ausgesprochen, in Koblenz das weltweit erste Gerichtsverfahren er- Beim Näherkommen fällt auf, dass öffnet und bereits weitere Verdächtige festgenommen. Viele Exil-Sy- I die Hände der Demonstrantinnen rer und -Syrerinnen, Opfer und ihre Angehörigen hoffen, dass die fehlen, ihre Gesichter klaffen wie Täter des Assad-Regimes nun endlich zur Rechenschaft gezogen Megafone auseinander. werden. Andere fürchten, dass ein Prozess weit weg von Syrien und »The Muted Demonstration« heißt ohne Beteiligung der Bevölkerung keine echte Chance auf Gerechtig- die Installation, die der syrische Künstler Khaled Barakeh an diesem keit bietet. Mittwoch im Juli vor dem Oberlandesgericht Koblenz aufgestellt hat. »Mit Kabeln auf den Rücken und in den Leistenbereich geschla - Die Demonstrierenden sind Schaufensterpuppen, sie tragen die gen«, »konnte anschließend nicht mehr laufen«, »mit Vergewaltigung Kleider von Aktivistinnen und Aktivisten aus Syrien. Stumm blicken gedroht«, »an zusammengebundenen Händen an der Decke aufge- sie auf die Fenster des Saales 128, in dem um halb zehn die beiden hängt«, das sind nur Ausschnitte dessen, was laut Anklageschrift in Angeklagten ihre Plätze einnehmen: Anwar R., ehemaliger Leiter der der Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus Ermittlungen in der Damaszener Geheimdienstabteilung 251, und passiert sein soll. Eyad A., ein niederrangigerer Be- Während Khaled Barakehs Fi - amter, der Demonstrierende im guren draußen stumm anklagen, Auftrag der Abteilung 251 festge- sagt drinnen an diesem Juli-Tag nommen haben soll (Namen von ein ehemaliger Häftling aus. Sein der Redaktion gekürzt). »Diese Name ist wie alle Informationen Typen hatten alle Macht der Welt aus dem Gerichtssaal öffentlich, 58 Tötungen, 4.000 Fälle von Folter über die Gefangenen, doch jetzt doch weil inzwischen mehrere sind sie selbst machtlos«, sagt Zeugen von Drohungen gegen ihre Barakeh, der schon um sechs Uhr Familien im Ausland berichtet ha- morgens mit dem Aufbau begon- ben, soll er hier nicht noch einmal nen hat, in der Hoffnung, dass die genannt werden. Der 30-Jährige Angeklagten auf dem Weg zum aus Damaskus verbrachte im Som- Gericht an den Figuren vorbeifahren. »Sie sollen sehen, dass sie im- mer 2012 etwa vierzig Tage im Gefängnis der Abteilung 251, auch mer noch hier sind. Der Prozess ist eine Fortsetzung dessen, was die Al-Khatib-Abteilung genannt. Menschen 2011 auf Syriens Straßen begonnen haben.« Er zittert, als er von den Zuständen in den brütend heißen, über - Barakeh hat seine Figuren vor dem Gericht aufgestellt, um all die füllten Zellen berichtet. »Wir waren bis zu 800 Menschen auf etwa 50 zu repräsentieren, die nicht vor Ort sein können: weil die Fahrt nach Quadratmetern. Menschen lagen übereinander, zwischen ihnen Lei- Koblenz zu weit ist oder sie gar nicht in Deutschland leben; weil sie chen«, erinnert sich der ehemalige Hotelbesitzer, der festgenommen wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen in Syrien getötet wurden wurde, nachdem er flüchtenden Familien aus Homs einen Schlafplatz ZEUGEN DER ANKLAGE oder in einem der vielen unterirdischen Gefängnisse verschwunden angeboten hatte. Die Zelle im Al-Khatib-Gefängnis sei komplett ver- sind. Eigentlich ist dieser Prozess für sie: Zum ersten Mal weltweit schlossen gewesen wie eine Flasche – ohne Luft, ohne Licht. »Es hat wird syrische Staatsfolter vor Gericht gestellt. Den zwei Angeklagten, keinen dort interessiert, ob man schuldig war. Sie wollten einfach das Anwar R. und Eyad A., werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit ganze Volk vernichten«, so der Zeuge. vorgeworfen. Während ihrer Zeit beim syrischen Geheimdienst sollen Im Laufe des Prozesses werden die Aussagen von ehemaligen In - sie in den Jahren 2011 und 2012 für 58 Tötungen, 4.000 Fälle von sassen oder Mitarbeitern ein immer klareres Bild der Abteilung zeich- Folter und zwei Fälle von Vergewaltigung oder sexualisierter Gewalt nen, die mitten in einem Wohngebiet im Zentrum von Damaskus Die Bundesanwaltschaft bringt erstmals die Verbrechen des Assad-Regimes mitverantwortlich gewesen sein. liegt: Nach Blut und Schimmel habe es in den Zellen gerochen und vor Gericht. Warum ist das in Deutschland möglich? Vor fast zehn Jahre wanderte die Protestbewegung, die »Arabi - die Schreie der Gefangenen habe man durch den Innenhof bis in die scher Frühling« genannt wird, von Nordafrika nach Westasien und Caféteria des Personals gehört. Auf dem Zellenboden habe zentime- erreichte im März 2011 Syrien. Das Regime reagierte auf die Massen- terhoch der Schweiß gestanden, viele Gefangene seien bis auf die demonstrationen im ganzen Land mit oft tödlicher Gewalt – auf den Unterhose nackt gewesen. Essen habe es kaum gegeben, und das ge - Straßen sowie in den Gefängnissen, wo Zehntausende Syrerinnen legentliche Stückchen Brot oder Kartoffel hätten die Gefangenen vor und Syrer im Laufe der Jahre willkürlich eingesperrt und gefoltert Durst nicht herunterbekommen. Regelmäßig seien sie unter Schlägen VON HANNAH EL-HITAMI wurden, wo viele starben oder für immer verschwanden. zu den Büros der Vernehmungsbeamten gebracht worden, vor denen

Foto: Adam Broomberg Die Bundesanwaltschaft sieht in diesem Vorgehen einen ausge - sie mit verbundenen Augen und Händen knien mussten. 26 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 27

Behält die Anklage recht, so verbrechen in Syrien sammelt. Links: Für die Journalistin Luna Der Künstler Khaled Barakeh will, könnte einer dieser Beamten An- Auch die Akte des zweiten Ange- Watfa ist der Prozess auch eine dass auch die dabei sind, die nicht war R. gewesen sein, der 2012 klagten, Eyad A., wurde an das persönliche Frage: Vor ihrer in Koblenz sein konnen: weil sie in desertierte und sich der syrischen BKA weitergeleitet. Er hatte bei Flucht nach Deutschland hatte Syrien getotet wurden oder in ei- Exil-Opposition in Jordanien an- seiner Asylanhörung zu offen über sie in Syrien uber die Giftgasan- nem unterirdischen Gefangnis ver- »Ich hätte mir gewünscht, dass das syrische Volk schloss. Zwei Jahre später lande- ihm den Prozess macht« seine Tätigkeit in Syrien gespro- griffe in Ost-Ghouta recherchiert schwunden sind. ten er und seine Familie mit dem chen. Das Bundesamt für Migrati- und saß dafur 2014 über ein Jahr Flieger in Berlin-Tegel. Die deut- on und Flüchtlinge ist verpflichtet, im Gefängnis. sche Botschaft in Amman hatte dem BKA zu melden, wenn Asylan- ihnen im Rahmen des humanitären wärter von völkerrechtlichen Ver- Aufnahmeprogramms Visa für die brechen in ihrer Heimat berichten. Centers und anderen Exil-Organi- lution triumphiert und ihre Ziele Einreise nach Deutschland ausge- Anwar R. und Eyad A. sind si - sationen sind gekommen, um die erreicht hätte«, gab ein anderer zu stellt – und das, obwohl der ehemalige Geheimdienstfunktionär nie cher nicht die wichtigsten Figuren des syrischen Sicherheitsapparats. Aussage des Mannes zu hören, Protokoll. einen Hehl aus seiner beruflichen Vergangenheit gemacht hatte. Sein Doch hochrangige Regime-Mitglieder wie der ehemalige Chef des der mehr als zwanzig Jahre lang In Koblenz sind bis Ende des Jah- Lebenslauf, den er der deutschen Botschaft im Zuge des Aufnahme- Luftwaffengeheimdienstes Dschamil Hassan, gegen den mehrere politische Gefangene verteidigte, res fast jede Woche Verhandlungs- prozesses übersandt hatte, begann mit den Worten: »Ich bin Oberst internationale Haftbefehle vorliegen, konnten bislang nicht festge- bis er 2006 selbst für fünf Jahre in- tage angesetzt – Prozessbeteiligte Anwar R.« nommen werden. Für den prominenten syrischen Menschenrechts- haftiert wurde. »Verhaftung, Ver- schätzen die Dauer des Verfahrens Dass der Angeklagte, seine Frau und fünf Kinder Plätze im be - anwalt Anwar Al-Bunni ist der Prozess dennoch ein Meilenstein auf schwindenlassen, Folter – darauf auf mehrere Jahre. Inzwischen ist grenzten Kontingent des Bundesaufnahmeprogramms erhielten, ver- dem Weg in Richtung einer Übergangsjustiz. »Unser Ziel ist es nicht, basiert das Regime der Assads«, eine gewisse Routine eingekehrt. danken sie Riad Seif, einem der zwei kleine Rädchen der Höllen- sagt Al-Bunni vor Gericht in Kob- Während die Angeklagten durch prominentesten syrischen Oppo- maschinerie zu verurteilen, die lenz. »Wenn diese drei Pfeiler nicht Kopfhörer den Dolmetschern lau- sitionellen. Der heute 73-jährige nach wie vor Menschen tötet«, wären, hätten sie sich nicht mal ein schen, Anwar R. mit enger Schrift Geschäftsmann war seit vielen erklärte der Anwalt im Vorfeld Jahr an der Macht halten können.« Din-A5-Blätter füllt und Eyad A. Jahren ein enger Vertrauter der des Prozesses, in dem er inzwi- Den Beginn der syrischen Revol- das Gesicht in die Hände stützt, deutschen Auslandsvertretung in schen als Zeuge ausgesagt hat. Foto: Adam Broomberg te im März 2011 erlebte Al-Bunni sitzt stets ganz hinten im Zuschau- Syrien gewesen und hatte diese »Wir wollen diese Rädchen viel- im Adra-Gefängnis durch den Te- erraum Luna Watfa. Die 39-Jährige Kontakte genutzt, um R. für die mehr nutzen, um die Existenz lefonhörer. Regelmäßig sprach er mit Freunden und Kollegen über aus Damaskus lebt seit 2015 mit ihrer Familie in Koblenz und berich- Aufnahme zu empfehlen. Auch der Maschinerie und das Ausmaß die Ereignisse, schickte Statements aus der Zelle nach draußen. Er tet als einzige Journalistin regelmäßig für arabische Medien über das Seif wusste, dass R. ein hochran- ihrer Höllenhaftigkeit zu nachzu- glaubt, dass Gerechtigkeit – oder vielmehr deren Abwesenheit – eine Verfahren. Es ist ihr ein persönliches Anliegen: Vor ihrer Flucht nach giger Mitarbeiter des Geheim- weisen.« Wurzel der Revolution war. »Die Kontrolle des Regimes basierte da- Deutschland hatte sie in Syrien über die Giftgasangriffe in Ost-Ghou- dienstes gewesen war – er habe Al-Bunni kennt diese Maschi - rauf, Gerechtigkeit vorzuenthalten«, erklärt er einige Wochen nach ta recherchiert und war dafür 2014 für mehr als ein Jahr inhaftiert R. auf Anraten seines Schwieger- nerie in- und auswendig. Als in seiner Zeugenaussage in seinem worden. Einen Monat verbrachte sohns geholfen, weil er sich von den 1970er Jahren drei seiner Büro in Prenzlauer Berg, wo es sie in der Al-Khatib-Abteilung, wo dem desertierten Oberst Infor- Geschwister und viele Freunde nach Holz und E-Zigarette riecht, sie körperlich und psychisch miss- mationen erhofft habe, so Seif nach und nach verhaftet wur- und immer irgendein Aktivist handelt wurde. bei seiner Zeugenaussage Ende den, entschied sich der damals oder eine Anwaltskollegin auf der Der Prozess findet nur auf Deutsch statt –­ Der Prozess in Koblenz ist ein August. Er wusste auch, was so 21-Jährige, zurück an die Uni Couch sitzen. Der Präsident kön- ohne Übersetzung ins Arabische wichtiger Schritt für die Opfer Foto: Hannah El-Hitami Hannah Foto: eine Position bedeuten musste: zu gehen, um Jura zu studieren. ne laut Verfassung rechtlich nicht und deren Angehörige – davon ist »Es gab keine Geheimdienstabteilung ohne Folter, und wer das Ge- »Sie waren alle politische Aktivisten – ich nicht, also entschied ich, belangt werden, und auch den Watfa überzeugt. Dass er einen genteil behauptet, der lügt«, sagte Seif per Video-Call, da sein Ge- Anwalt zu werden, um sie zu verteidigen«, erzählt der heute 61-Jähri- Sicherheitskräften habe Assad Im- Einfluss auf die Lage in Syrien ha- sundheitszustand die Anreise aus Berlin nicht zuließ. Dennoch zeig- ge, der sein Leben der Verteidigung politischer Gefangener in Syrien munität gewährt. »Das Gefühl der ben könnte, glaubt sie aber nicht. te er sich gegenüber den Richtern in Koblenz reumütig: »Hätte ich gewidmet hat. Ungerechtigkeit war bei den Sy- »Dieser Prozess hätte nach dem damals irgendetwas Negatives über ihn gewusst, hätte ich ihn nicht Nach der Flucht aus Syrien 2014 gründete er in Berlin das Syrische rern so groß, weil das Regime ohne Sturz des Regimes stattfinden und unterstützt.« Dann allerdings hätte der Prozess in Koblenz vielleicht Zentrum für juristische Studien und Forschung und bereitet seitdem Sorge töten und verhaften konnte.« Der Prozess in Koblenz habe also der Beginn einer Übergangsjustiz sein sollen«, sagt sie bei einer Zi- niemals stattgefunden. Klagen gegen die Schergen des Assad-Regimes vor. Al-Bunni ist in die Grundfesten des Assad-Regimes erschüttert: »Ein Verbrecher aus garette am Ende eines weiteren Prozesstages. Stattdessen gehe es Die Ermittlungen gegen ihn löste der Angeklagte jedoch selbst Deutschland nicht als Anwalt zugelassen, doch er verfügt über ein Baschars System wird vor Gericht gestellt, ohne Immunität und ohne nur um Einzelpersonen, während weiterhin Menschen in den Geheim- aus: weil er überzeugt war, vom syrischen Geheimdienst verfolgt riesiges Netzwerk innerhalb der syrischen Exil-Community, einige besonderen Schutz.« dienstabteilungen gefoltert würden. Dementsprechend gering sei zu werden, wendete er sich 2015 waren schon in Syrien seine Man- Für viele Opfer und ihre Angehörigen bedeutet der Prozess in Kob- das Interesse im arabischsprachigen Raum, auch unter Syrerinnen hilfesuchend an die Berliner Poli- danten. lenz endlich Anerkennung und Aufarbeitung dessen, was sie durch- und Syrern. Das liegt nicht nur daran, dass der Prozess auf Deutsch zei, der er auch von seiner beruf- Am Tag von Al-Bunnis Zeuge - lebt haben. Für andere trägt er einen bitteren Beigeschmack. »Dass ohne Übersetzung für die Öffentlichkeit stattfindet. »Es herrscht Ver- lichen Vergangenheit berichtete. naussage Anfang Juni ist der Zu- ein Fremder uns Gerechtigkeit bringt, fernab des Tatorts, der Opfer zweiflung, weil das Regime ja immer noch an der Macht ist«, sagt Aufgrund dieser Angaben landete schauerraum zum ersten Mal seit und ihrer Familien«, mache ihn traurig, so ein ehemaliger Gefangener Watfa. »Aber eines Tages, wenn das Regime stürzt, werden dieser seine Akte schließlich beim Bunde- Prozessauftakt voll. Prominente in einer Reihe von Statements, die das MENA Prison Forum aufge- und weitere Prozesse die Systematik der Folter beweisen können.« Es roch nach Blut und Schimmel skriminalamt und der Bundesan- Oppositionelle wie Mazen Darwish zeichnet hat. »Seit ich vom Prozess gegen Anwar R. weiß, habe ich Wann und wie es dazu kommen soll? Sie schüttelt ratlos den Kopf. waltschaft, die bereits seit 2011 in und Dschumana Seif sowie Vertre- wieder Hoffnung, dass die Verbrechen gegen das syrische Volk be- mehreren Strukturermittlungsver- ter von Adopt a Revolution, des straft werden. Ich hätte mir aber gewünscht, dass das syrische Volk HannahEl ­-Hitami ist freie Journalistin in Berlin. Sie verfolgt den fahren Beweise für Völkerrechts- Syria Justice and Accountability ihm den Prozess macht. Denn das hätte bedeutet, dass die Revo - Prozess in Koblenz aus nächster Nähe. 28 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 29

SOZIALE UNGLEICHHEIT Hinzu kam, dass Regierungen mit marktorientierten, neoliberalen Reformen in den 1990er Jahren Einstellungen im öffentlichen Sektor erst beschränkten, seit dem Jahr 2000 sogar fast auf Eis legten. Im Staatsapparat stehen immer weniger Jobs zur Verfügung. Die Privat- wirtschaft konnte diese Entwicklungen nicht abfedern – Entlassene und diejenigen, die neu auf den Arbeitsmarkt drängten, reihten sich gemeinsam in das Heer der Arbeitslosen oder informell Beschäftigten ein. Öffnet den Markt! Die Armen können sich die Arbeitslosigkeit nicht leisten und lan - % den daher in der Schattenwirtschaft. Informelle Arbeit ist in der 87,5 Regel unqualifiziert und schlecht bezahlt, sie findet sich vor allem in aller Beschäftigten in Nordafrika zwischen der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Straßenverkauf oder bei ein- 15 und 24 arbeiten informell. Jobs, Würde und soziale Gerechtigkeit. fachen Dienstleistungen, die in erster Linie von Menschen erbracht Was aus den zentralen Forderungen des Arabischen Frühlings werden, die vom Dorf in die Städte ziehen. Informelle Beschäftigung bringt also eine Lohnbenachteiligung mit sich, sie ist unsicher und Das Familieneinkommen, der Bildungsgrad der Eltern, der Wohn- geworden ist und warum nur ein Sektor seitdem blüht begrenzt die Entwicklungschancen der Arbeitnehmer sowie deren ort, das Geschlecht – alles Faktoren, die junge Leute kaum selbst be- Chance auf höhere Löhne. einflussen können – bestimmen in zunehmendem Maße den Zugang Dadurch entsteht eine Unbeweglichkeit, die als »Informalitätsfal- zu Bildung, fließendem Wasser oder Strom, zur Grundversorgung, die le» bezeichnet wird. Seit einigen Jahren wird die Situation durch nötig ist, um im Leben voranzukommen. Die Chancenungleichheit VON AMIRAH EL-HADDAD höhere Lebenshaltungskosten verschärft, die sich in der gestiege- steigt – die ökonomische Wende zum Besseren blieb aus. nen Inflation widerspiegeln. Seit Beginn der Aufstände im Jahr 2010 Au f politischer Ebene ent w ickelten sich d ie Gesel lscha f ts ver träge in Ägypten, Marokko und Tunesien unterschiedlich. In Ägypten wurde

die ohnehin schon unsoziale Übereinkunft noch unsozialer. Die Ar- or einem Jahrzehnt er- des Privatsektors, während privilegierte Unterstützer der Regime mee betreibt immer mehr Unternehmen und ist zum führenden wirt- klangen die Stimmen der exzessiv Profite anhäuften. Als Dank sicherten die Profiteure dieser schaftlichen Akteur aufgestiegen. Sie verfolgt eigene finanzielle Inte- jungen Generation in den Vetternwirtschaft den Mächtigen ihren Rückhalt zu. ressen und ist daher alles andere als unparteiisch. In Marokko behielt Straßen von Tunesien, In Marokko rekrutierte sich dieser Klüngel hauptsächlich aus Po- Die Armen können es sich nicht leisten, der König seine Vorrangstellung, zeigte jedoch auch Reformwillen: Ägypten, Libyen, Jemen, litikern und Personen, die über enge Kontakte zur Königsfamilie so- Die Industriepolitik im heimischen Markt gestaltet sich inzwischen Syrien und Bahrain: Sie wie deren weitverzweigten Holdings und Firmengruppen verfügten. arbeitslos zu sein etwas inklusiver, was die Grundlage für einen breiter gefassten Ge- forderten Freiheit, Würde In Tunesien profitierten vor allem Unternehmen, die Angehörigen sellschaftsvertrag schaffen könnte. und soziale Gerechtigkeit. von Präsident Zine El-Abidine Ben Ali und dessen Frau gehörten. In Tunesien sucht einen Weg, der noch mehr gesellschaftliche Schich- Sie sehnten sich nach an- Ägypten wiederum waren es Firmen mit direkten Kontakten zur Re- ten einschließt. Konsens über eine klare wirtschaftspolitische Aus- ständigen Jobs und waren gierung und Angehörigen der Mubarak-Partei NDP – diejenigen, die richtung herzustellen, ist jedoch nicht leicht, zumal immer wieder bereit, hart zu arbeiten. Sie Gesetze verabschiedeten, wurden mit Sitzen in Aufsichtsräten be- auch Extrempositionen im Raum stehen. Auch die Corona-Pandemie gingen auf die Straße, weil dacht. stieg der Verbraucherpreisindex, also das durchschnittliche Preisni- und der dadurch verursachte wirtschaftliche Schaden stellen eine sie den alten, unsozialen All dies begrenzte den Wettbewerb, abgeschottete Märkte führten veau lebenswichtiger Waren, in Tunesien um 55 Prozent, in Ägyp- weitere ernsthafte Bedrohung für den Wandel in Tunesien und Ma- Gesellschaftsvertrag ab- zu dem, was in der Wirtschaftswissenschaft als Phänomen der »feh- ten sogar um 62 Prozent. rokko dar. lehnten. Denn der vermochte es, anders als in vorherigen Jahrzehn- lenden Mitte« bezeichnet wird. Den alten und etablierten Großkon- Zahlen aus Ägypten zeigen, dass auch der unregulierte Schwarz - Die ernüchternde Bilanz lautet: Seit 2010 verzeichnet die Region ten, nicht mehr, Arbeitsplätze, Bildung und Gesundheitsversorgung zernen steht dabei eine große Anzahl informeller Kleinunternehmen markt starken Wettbewerbsdynamiken durch immer stärker ver- v kaum wirtschaftlichen Fortschritt, von dem das Gros der Bevölke- zu gewährleisten. gegenüber. Was fehlt, sind innovative, junge und wachsende Firmen, zweifelte Arbeitnehmer ausgesetzt ist: Die niedrigsten Löhne sinken rung hätte profitieren können. Für echten Wandel wären grund­ Immer weniger gesellschaftliche Schichten hatten Zugang zu Ab - die Arbeitsplätze schaffen. Dieses politisch motivierte System ist da- weiter – die Kluft zwischen Gutverdienern und Billiglöhnern wächst. sätzliche Veränderungen der Beziehungen zwischen den gesellschaft- sicherungen des Staates – dessen Legitimität durch mangelnde öko- für verantwortlich, dass die Region inzwischen die weltweit höchste Immer mehr Jobs für die Massen, die vom geregelten Arbeitsmarkt lichen Gruppen notwendig. Die Reformanstöße aus Tunesien und nomische Chancen, steigende Ungleichheit und dreiste Vetternwirt- Jugendarbeitslosigkeit verzeichnet und nur der informelle Sektor ausgeschlossen werden, trugen zudem zur Stabilität der politischen Marokko sind ein Anfang. Es ist zweifelhaft, ob sie wirklich tiefgrei- schaft ausgehöhlt war. nachhaltig wächst. Regime bei; denn informell Beschäftigte können keine Gewerkschaf- fenden sozialen Wandel möglich machen, aber die Lage ist nicht kom- Wie sieht es ein Jahrzehnt später aus? Brodeln die Kräfte, die den ten oder Berufsverbindungen gründen. Ihre ökonomischen und poli- plett hoffnungslos. Politische Entscheidungsträger müssen glauben, Arabischen Frühling zum Leben erweckten, noch immer? Wie steht tischen Sorgen bleiben meist ungehört – es sei denn, die aufgestaute dass der nächste Arabische Frühling vor der Tür steht, sie müssen das es um Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit? Wut findet Ausdruck in individuellem Protest, wie dem, der letztlich Gefühl haben, dass ihre eigenen Positionen ständig und glaubhaft in Der immense, stets wachsende informelle Sektor in vielen Ländern den Arabischen Frühling entfachte. Gefahr sind. Und darauf müssen sie reagieren – mit Reformen, nicht des Nahen Ostens und Nordafrikas beweist die anhaltende Brisanz Die Einkommens- und Vermögensungleichheit wird immer größer, mit Repression. sozioökonomischer Ungleichheit. In Ägypten und Marokko arbeiten auch wenn konventionelle Indikatoren für Ungleichheit teilweise mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten in der Schattenwirtschaft. In etwas Anderes behaupten. Vielen Messverfahren gelingt es nicht, Tunesien liegt die Quote mit 63 Prozent nur geringfügig niedriger. die Spitzeneinkommen richtig zu erfassen. Und während die sozia- Was trieb diese Entwicklung voran? le Absicherung für den Großteil der Bevölkerung weiter schrumpft, In vielen Ländern der Region gehörten Markteintrittsschranken zu wenden sich die Wohlhabenden privaten Gesundheitsversorgern und den bevorzugten Instrumenten, um verfilzte Wirtschaftszweige vom Bildungseinrichtungen zu. In Kairo reißt die Regierung buchstäblich Prof. Dr. Amirah El-Haddad ist Ökonomin und arbeitet für das Deut- Wettbewerb abzuschotten: Das verhinderte eine Entwicklung % die Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr ein, um mehr Platz für sche Institut für Entwicklungspolitik im Forschungsprogramm »Trans- die Mercedes- und BMW-Karossen der Reichen zu schaffen. formation der Wirtschafts- und Sozialsysteme«. aller Beschäftigen in Nordafrika arbeiten informell. 67,3 Zahlen stammen aus einem Bericht der »Internationalen Arbeitsorganisation« (ILO) von 2018. 30 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 31

ARCHIV DER REVOLUTION zenith: Wie haben Sie persönlich die ägyptische Revolution von 2011 erlebt? Lara Baladi: Ich hatte damals gerade eine Kunstserie zum Tod mei- nes Vaters abgeschlossen und war gedanklich schon auf dem Weg nach Mexiko für ein Kunststipendium – in Ägypten veränderte sich einfach nichts, und ich brauchte Veränderung. Doch dann kam der »Alles beginnt mit dem Tod 25. Januar – der »Polizeitag« mit reduziertem Polizeiaufgebot – und wie jedes Jahr protestierten die Menschen auf dem Tahrir. Doch 2011 kamen zum ersten Mal mehr Demonstranten als Polizisten. In dieser Nacht sah ich das Video eines jungen Mannes, der einen Was- junger Menschen« serwerfer der Polizei stoppte – genauso wie sich damals der »Tank Man« 1989 auf dem Tiananmen-Platz der chinesischen Armee ent- gegenstellte. Dieses Video hat mich tief berührt. Ich erinnerte mich, Lara Baladi, geboren 1969, ist wie ich mehr als 20 Jahre zuvor die Bilder aus China im Fernsehen eine ägyptisch-libanesische gesehen hatte, und spürte, dass eine neue, eine unsichere Ära in Künstlerin, Archivarin und Ägypten begann. Am 28. Januar, dem »Tag des Zorns«, schloss ich Kunsterzieherin. Sie ist Mitglied mich den Demonstranten an. der »Arab Image Foundation« und lehrt seit 2015 am »Massa- chusetts Institute of Technolo- gy« (MIT). »Ich erinnerte mich, wie ich mehr als 20 Jahre zuvor

die Bilder aus China im Fernsehen gesehen hatte« ne Bilder derselben Ereignisse. Ich wollte nicht mehr nur sammeln, ich wollte auch meine Geschichte erzählen, als eine von vielen Ge- schichten über den Tahrir.

In dieser Zeit begannen Sie, Bild- und Videomaterial vom Einige der Aufnahmen zeigten auch Menschen auf dem Tahrir Tahrir-Platz zu sammeln. während des zweiten großen Sit-ins im Juli 2011. Kannten nicht Das Video das »Watercanon Man« aus Kairo ging viral. Zur gleichen alle längst diese Bilder? Zeit sah ich auf Facebook eine 40 Jahre alte Rede von Jean-Paul Sar- Auf meine Initiative hin installierten einige Aktivisten und Künstler tre vor streikenden Arbeitern in Frankreich. Ich bekam das Gefühl, eine große Leinwand auf dem Platz – wir starteten das »Tahrir Cine- Geschichte würde sich wiederholen. Daher begann ich, den kreativen ma«. Jeden Abend zeigten wir Bilder der Revolution, auch libysche Tsunami der Bilder und Videos einzufangen, der das Internet über- Aktivisten aus Benghazi besuchten uns und brachten Videos mit. schwemmte und all die Geschehnisse dokumentierte. Es entstand So entstand ein Ort des Austausches, an dem Aktivisten und NGOs eine unendlich lange Linkliste voller Materialien, die sich vor allem weitere Schritte besprechen und sich gegenseitig Hilfe anbieten um die Ikonographie und Bildsprache der Revolution drehte – vieles konnten. Eine Ort für die Menschen. Einmal präsentierte ich eine aus Ägypten, aber auch Elemente aus anderen Ländern oder Zeiten. Auswahl aus meinem Archiv – Animationen, Vlogs, Filmausschnitte und Karikaturen. Zur Überraschung meiner Freunde sahen viele der Warum sammelten Sie all diese Dinge? Menschen auf dem Platz diese Bilder zum ersten Mal. Anders als die Archivierung gehört zum Handwerk der Künstlerin. Anfangs war meisten dachten, hatten viele Ägypter damals noch keinen Zugang das Sammeln schlicht reflexartig, es war mein Versuch, diese außer- zum Internet und standen vor allem unter dem Einfluss der Main- gewöhnlichen Entwicklungen festzuhalten. Alles geschah so schnell, stream-Medien. ich wa r über wä ltig t u nd brauchte einen Weg, d iesen h istor ischen Mo- ment zu begreifen. Irgendwann wurde meine Liste mit all den Fotos Wie hat sich Ihr Projekt seitdem weiterentwickelt?

Foto: Philipp Spalek und Videos so umfangreich, dass ich begriff: Es wird ein Archiv. Ab 2014 bekam ich ein Stipendium des Massachusetts Institute of Tech- diesem Moment begann ich, alles aktiv zu organisieren und metho- nology (MIT). Ich wollte mein Projekt mit einem größeren Publikum disch weiter zu sammeln. Später nannte ich mein Archiv »Vox Populi teilen und beschäftigte mich intensiv mit digitalem Storytelling und – Tahrir Archives«, es entstand eine Sammlung der Kreativität und Archivierungsmöglichkeiten. In diesem Kontext entstand auch die Ausdruckskraft des Volkes. schauspielerische Darstellung »Performing the Archive« an der Uni- versität Harvard. Am selben Tag begannen die Proteste gegen Poli - Wie sind Sie mit dem entstehenden Archiv umgegangen? Die Künstlerin Lara Baladi hat Fotos und Videos von Aufständen weltweit zeigewalt in Ferguson, die durch den Tod des Schwarzen Mike Brown Im April 2011 hielt ich einen Vortrag in New York, bei dem ich einige aufgelöst wurden. Tahrir fühlte sich so weit entfernt an und war den- gesammelt. Dabei stößt sie auf erstaunliche Parallelen der Eindrücke aus meinem Archiv teilte. Obwohl das Publikum vol- noch so nah: Zum Ende der Perfomance zeigte ich den brandaktuellen ler Menschen war, die Ägypten gut kannten, schien niemand diese Ausdruck einer Facebook-Seite, die den »Tag des Zorns« in New York Bilder zu kennen. Da habe ich verstanden, wie wichtig meine Arbeit ankündigte. Der gleiche Auslöser, die gleichen Protestformen, die INTERVIEW: MICHAEL NUDING eigentlich war. Der standortabhängige Google-Algorithmus sowie gleiche Wortwahl – ein weiterer Grund, mir die Parallelen zwischen ganz unterschiedliche Interessen gaben uns allen sehr verschiede- dem Tahrir und anderen globalen Bewegungen genauer anzusehen. 32 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 33

Könnten Sie ein Beispiel für diese Parallelen geben? in der Stadt Deir El-Medina dokumentiert. Konfuzius hat einmal ZEITSPRUNG Die offensichtlichste Gemeinsamkeit ist, dass viele Protestbewegun- gesagt: »Unser größter Ruhm liegt nicht darin, niemals zu fallen, gen durch den Tod junger Menschen ausgelöst oder charakterisiert sondern nach jedem Scheitern wieder aufzustehen.« Wir müssen aus werden: Der Tod von Neda A g ha S olt a n 20 09 i n Ir a n, der Tod von K- ha der Geschichte lernen, um bewusst in die Zukunft zu schreiten. Ich led Said 2011 in Ägypten, der Tod des Syrers Hamzah Al-Khatib 2011, möchte dafür eine künstlerische Perspektive eröffnen und nahele- der Tod von Mike Brown oder auch der Tod von George Floyd in den gen, dass sich der historische Zyklus, in dem wir gefangen sind, ver- USA im Mai 2020 – und noch viele mehr. ändern kann – von Revolutionen hoffentlich zur Evolution. RESTAURATION Auch in Ihrem neuen Projekt halten Sie nach diesen Ähnlichkei- ten Ausschau. In »Anatomy of a Revolution« möchte ich verstehen, wie Revolutionen funktionieren, ich möchte sie sezieren. Inspiriert hat mich dabei vor allem das gleichnamige Buch von Brighton Crane. Er zeigt darin, wie UND ähnlich die großen Revolutionen der Geschichte abliefen, und dass sie einem zyklischen Verlauf in immer gleichen Phasen folgten. Auch ich habe in meinem Archiv verschiedene Phasen der ägyptischen Revo- lution gefunden, beziehungsweise deren Symptome in Form visueller Materialien aus den jeweiligen Zeiten. STAATSZERFALL

»Viele Protestbewegungen wurden durch den Tod Ägypten Libyen junger Menschen ausgelöst«

11. Februar 2011 17. Februar 2011 Als Reaktion auf Massenproteste gibt Präsident Hosni Mu- In mehreren libyschen Städten brechen Proteste gegen das barak sein Amt auf – nach fast 30 Jahren an der Macht. Gaddafi-Regime aus. Aufständische erobern in den folgen- den Wochen die Stadt Benghazi und den Osten des Landes. Welche Phasen sind das? Der Oberste Militärrat übernimmt die Führung des Landes. Alles beginnt mit dem vorrevolutionären Status quo. Die Steigerung Bei Straßenkämpfen sterben Hunderte. der Proteste spätestens seit dem Tod von Khaled Said führten zum 23. Januar 2011 Aufstand, den 18 Tagen des Tahrir, die von einer riesigen Welle vi- Erste Sitzung des neu gewählten Parlaments. Aus den 22. Februar 2011 sueller Materialien begleitet wurden. Die Entfaltung der Revolution ersten freien Parlamentswahlen Ägyptens ging die Partei Muammar Al-Gaddafi kündigt in einer Rede an, die Aufstän - führte daraufhin erst zur Machtübernahme der Muslimbrüder und der Muslimbrüder als Sieger hervor – zusammen mit den dischen bis aufs Blut zu bekämpfen und sie »Zentimeter für später zur Herrschaft des »Obersten Rates der Streitkräfte«, bevor Salafisten erreichte sie mehr als 70 Prozent der Stimmen. Zentimeter, Haus für Haus, Straße für Straße« zu verfolgen. sich ein postrevolutionärer Status quo unter Präsident Al-Sisi ein- stellte. Diese letzte Phase war die Zeit für sozioökonomische und 14. August 2013 20. Oktober 2011 politische Analysen, die Zeit, Bilanz zu ziehen, für einige die Zeit, Die Polizei räumt gewaltsam das Protestlager der Muslim- Gaddafi wird beim Fluchtversuch gelyncht. Seit März un- das Land zu verlassen, für andere die Zeit zur Rückkehr zum Alltag. brüder am Rabia-Al-Adawiyya-Platz – mehrere Hundert terstützte eine internationale Militärkoalition die Aufständi- Für die allermeisten war es aber die Zeit, sich aus dem Politischen Menschen, die gegen den Militärputsch gegen Präsident schen. Deutschland hatte sich bei der Abstimmung im UN-Si- zurückzuziehen und sich auf das eigene ökonomische Überleben zu Muhammad Mursi demonstrierten, werden getötet. cherheitsrat über eine Intervention in Libyen enthalten. konzentrieren. 8. Juni 2014 25. Juni 2014 Das islamistische Bündnis »Morgenröte« erkennt die Parla- Wie viel Veränderung können Revolutionen dann erreichen? General Abdel-Fattah Al-Sisi wird als neuer Präsident ver- Je weiter wir uns von dieser Phase entfernen, wird deutlich, dass eidigt. Bei der Wahl gewann er nach offiziellen Angaben mentswahlen nicht an und erobert die Hauptstadt. Es entste - Transformationsprozesse, der Kern von Revolutionen, keinen Anfang fast 97 Prozent der Stimmen. hen zwei befeindete Regierungen, eine im Osten und eine im und kein Ende haben. Seit 2011 hat sich die ägyptische Gesellschaft Westen. Ein Krieg bricht aus. verändert – teils radikal, teils ganz subtil. Die ägyptische #MeToo-­ 23. November 2019 Bewegung ist ein Beispiel für diese, wenn schon nicht politische, dann Sicherheitskräfte nehmen mehrere Redakteure der unab- 4. April 2019 doch gesellschaftliche Revolution. hängigen Zeitung Mada Masr fest. Seit Sisis Machtantritt General , dessen Truppen große Teile Ostliby- werden kritische Stimmen aus Journalismus und Zivilge- ens kontrollieren, ruft zum Angriff auf die Hauptstadt. Daher greift die Türkei aufseiten der Regierung in Tripolis in den Glauben Sie, Ihr Archiv hilft bei der Planung künftiger Revolu- sellschaft zum Verstummen gebracht. Bürgerkrieg ein. Internationale Vermittlungsversuche blieben tionen? Emmett Till 1955, Neda Agha Sol- erfolglos. Falls es so funktionieren würde, würde die Menschheit nicht seit tan 2009, Khaled Said 2011, Ham- Tausenden von Jahren Aufstände und Revolutionen erleben – schon zeh Al-Khatib 2011, Mike Brown unter der Herrschaft von Ramses III. wurde ein Streik der Arbeiter 2014, George Floyd 2020 34 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 35

LIBYENS MUSIKLANDSCHAFT elten war Musik in Libyen so öffent- durften aber nicht lernen, sie zu lesen und zu schreiben. Für viele lich und politisch wie im Verlauf des war Musik Ausdruck einer Überlebensstrategie in solchen Phasen Jahres 2011. Professionelle Musiker der Repression. Dass nun ausgerechnet eine junge Frau aus der li- und Hobby-Künstler erlebten einen byschen Diaspora die Revolution mit ihren Liedern öffentlich auf Aufschwung. Besonders zwischen Tamazight unterstützte, glich einem lauten Knall, der sich gegen die 2011 und 2013 waren Live-Musik Unterdrückungskultur erhob. und virale Musikvideos ein wich- Bereits vor 2011 hatte die libysche Rockszene eine etablierte Kon- tiger Teil der Veränderungen und zertstruktur. Eine der vielen bekannten Gruppen war die Band Guys schafften Räume für eine neue Form Underg rou nd au s B eng ha zi. W ä h rend d ie St adt i m Verlau f der Revolu- von künstlerischem Ausdruck in Li- tion monatelang unter Beschuss geriet, unterstützten die Musiker die byen. Bevölkerung auf ihre Weise. Ihr Song »We Will Not Surrender« war an Unter Gaddafi war Kunst, wie auch der Front häufig zu hören. Der Titel ist eines der berühmtesten Zitate S alles andere, stark monopolisiert. von Omar Al-Mokhtar, dem Widerstandskämpfer im Krieg gegen die Wer Musik spielen oder gar professionell aufnehmen wollte, brauch- italienische Besatzung und Symbol der nationalen Einheit. te eine Erlaubnis, geknüpft an strenge Kontrollen der Liedtexte. Mit der Aufnahme war Dado damals nicht zufrieden: »Wir haben Bereits seit den 1970ern nahmen daher viele Musiker ihre Alben die Gitarre von Rami nur einmal aufgenommen, er war sehr gut, aber im Ausland auf. Größen wie die Rocklegende Ahmed Fakroun oder es war noch nicht perfekt. Ich habe ihm gesagt, dass er am nächsten der Vater des libyschen Reggaes, Ibrahim Al-Hasnawi, reisten nach Tag wiederkommen müsse. Aber dann war er zur falschen Zeit am England, Frankreich und Italien. Mit den US-Sanktionen im Jahr falschen Ort und kam nie wieder«. Seit Ramis Tod erklingt die erste 1986 schwanden diese Möglichkeiten. Aufnahme des Gitarrensolos im Lied. »Einige sind dennoch mit dem Boot nach Italien übergesetzt, um Dado öffnete sein privates Studio seither vielen motivierten jungen dort ihre Songs aufzunehmen«, erzählt Alaa Elawani. Der seit den Künstlern. Die anfängliche Euphorie klang jedoch schnell wieder ab. 1990ern aktive Blues- und Softrock-Musiker arbeitet als Produzent Radikale islamische Milizen wie Ansar Al-Scharia schüchterten wei- in Tripoli und erinnert sich noch gut an das, was 1986 als Reak- te Teile der Zivilbevölkerung erfolgreich ein. tion auf die Sanktionen folgte: »Das Regi- Für Musiker wie Judge änderte dies je - me zerstörte alle westlichen Instrumente, doch nichts. »Für mich hat die Revolution einfach alles, was man finden konnte, auch keinen Unterschied gemacht, ich mache öffentlich, auf dem Grünen Platz«. Alles, mein eigenes Ding«. In einem bekannten was nicht als libysche Musik identifiziert »Meine Revolution wird Café in Tripolis spielte seine Band Black wurde, wurde untersagt. Aber wie so oft noch kommen«, sagt die Schnack seit 2008 jeden Donnerstag zur fanden die Künstler Wege, sich freizuspie- Vorbereitung auf größere Gigs. Unbe- len. In den 1990ern lockerte das Regime Sängerin Fawz eindruckt von den Musiktrends der ver- die Musikverbote, doch die Verteufelung gangenen Jahre und enttäuscht über die sogenannter westlicher Musik wirkt bis Abwesenheit von professionellen Produk- heute nach. tionsmöglichkeiten, arbeitet der Musiker Umso unvorhersehbarer waren die zahlreichen Live-Auftritte und und IT-Fachmann heute an neuen Liedern – er möchte Beats aus Konzertaufnahmen während der Revolution. »Ich war geschockt. verschiedenen Teilen Libyens zusammenbringen. Auf einmal kamen so viele Menschen und wollten Lieder aufneh- Für andere Künstler wie Abdulhafeez Albosife eröffneten sich aber men«, erinnert sich der seit den 1990ern in Benghazi lebende bosni- ganz neue Möglichkeiten. 2015 kam er aus dem südlibyschen Sabha in sche Musiker und Produzent Dado. die Hauptstadt, um dort als Kameramann zu arbeiten. »Das Problem Auch die libysch-serbische Amazigh-Sängerin Dania Ben Sassi ist ist, dass wir hier in Libyen keine Struktur für Musikschulen haben, Teil dieser Bewegung. Mit dem Erklingen ihrer Stimme nahm eine die meisten Künstler haben sich die Instrumente selbst beigebracht Sprache und Identität Raum für sich in Anspruch, die zuvor Jahr- oder es durch ihre Freunde und Familien gelernt«. Auch Albosife kam zehnte lang verboten gewesen war. Ben Sassis Performance im Zuge so zur Musik, schließlich hatte bereits sein Vater die Oud gespielt. der ersten öffentlichen Feier des Amazigh-Neujahrs 2013 sowie die Die Entscheidung, in die Hauptstadt zu ziehen, scheint für viele Mu- NEUE BÄSSE BRAUCHT Herausgabe der ersten libyschen Tamazight-Schulbücher verdeutli- siker aus dem Süden Libyens der einzige Ausweg aus ihrer Misere. Die chen den Wunsch nach Anerkennung einer vehement unterdrückten Kämpfe der vergangenen Jahre haben ihre Spuren im hinter- Kultur. Lange haben Amazigh-Künstler ihre Musik heimlich aufneh- lassen, andauernde Stromausfälle und Versorgungsengpässe bestim- DAS LAND men oder in gefälschten Kassettenhüllen verkaufen müssen, da der men den Alltag. Professionell Musik zu produzieren ist unter diesen Gebrauch ihrer Sprache gesetzlich untersagt war. Umständen nahezu unmöglich. 2011 endete das Versteckspiel. Noch bevor das Gaddafi-Regime 2015 begann der damals 17-jährige MC Hamza dennoch seine stürzte, sang Dania Texte, die ihr Vater gedichtet hatte. Diese Lieder Rap-Karriere in Sabha. Von der Politik hält er sich fern, aber er the- Für die Musik in Libyen war die Revolution von 2011 eine kreative Explosion. fanden ihren Weg über CDs über die libyschen Flüchtlingsunterkünf- matisiert die sozialen und ökonomischen Missstände. Für einige Wie geht es den Musikerinnen und Musikern heute? te auf Djerba nach Tripolis, wo sie schnell so populär wurden, dass sie Zeit rappte er in einer größeren Gruppe, arbeitete mit Tuareg-Bands auch viele arabischsprachige Fans fanden. zusammen und gewann schließlich einen Rap-Battle gegen einen Viele junge Libyerinnen und Libyer hinterfragen seither ihre Künstler aus Tripolis. Daraufhin wurde der international be kannte

VON YASMIN SCHNEIDER SAAID Identität neu. Während immer mehr Millennials auf Tamazight Hip-Hop-Produzent Ahmed Kwifya auf ihn aufmerksam, produzier-

Foto: Dado schreiben können, konnten ihre Eltern die Sprache zwar sprechen, te den Song »16 bar« und nahm ihn in seine »Adrenalin­ Show«­ auf. 36 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 37

Titelbild: Dado bei einem spontanen Kon- Wenn sich allerdings keine Produktionsmöglichkeiten auftun, Musik nach Nordafrika mitgebracht hatten, entwickelten sich die zert in Benghazi im Sommer 2020. heißt es für Künstler im Fezzan, auf unbestimmte Zeit abzuwarten. Stile in unterschiedlichen Regionen Libyens weiter: Merskawi im Wie Hamza schreibt auch der Reggae-Musiker Walid immer weitere Osten, Malouf und Moushahat besonders im Westen des Landes. Songs, schreibt sich alles von der Seele und hofft auf seine Chan- Aber auch der traditionellen Musik musste sich schon des Vor - ce. »Ich wünschte, die Menschen würden das Talent der jungen wurfs der Verwestlichung erwehren. In den 1960ern waren bei den Künstler im Fezzan erkennen. Ich bekomme so viele Konzertanfra- Auftritten vermehrt auch Streichensembles dabei – was anfangs gen, aber niemand unterstützt Reg- eine kontroverse Debatte entfachte. gae-Musiker finanziell. Die Älteren Der Musikethnologe Philip Ciantar mögen unsere Musik nicht, wir soll- hat beschrieben, wie schon lange vor ten doch etwas Ordentliches spielen, der Revolution Elemente von Tradi- traditionelle Musik eben«. Musiker aus dem Süden tion und Moderne in Libyens Musik- Obwohl libyscher Reggae inzwi - landschaft ineinandergegriffen haben. schen seit über 40 Jahren eine sehr haben es besonders schwer Eine Essenzialisierung von Genres spezielle Nische besetzt, stehen und Künstlern auf »libysch versus Künstler wie Walid außerhalb der westlich« oder »traditionell versus Metropolen oft in der Kritik für ihre modern« greife daher zu kurz und sei »zu westliche Musik«. Alaa Elwani aus Tripoli schmunzelt liebe- auf politische Rhetorik zurückzuführen. Auch vor der Revolution voll: »Libyscher Reggae, das ist romantischer Reggae, über Politik war libysche Musik von Wandel und lokaler Transformation geprägt, durften wir ja nicht singen«. doch erst mit dem Ende der Diktatur brachen öffentliche Räume für Das Finanzierungsproblem betrifft nahezu die gesamte libysche etablierte und neue Künstler auf. Musiklandschaft, denn nur wer über ausreichend finanzielle Kapa- 2011 verschwand der alte Rahmen staatlicher Zensur über Nacht, zitäten verfügt, kann seine Lieder aufnehmen. Die Zahl der Pro- aber die Grenzen sozialer Restriktionen blieben bestehen. Während duktionen ist überschaubar, und die wenigsten kümmern sich um libysche Rapper in den Sozialen Medien Rekorde bei ihren Follower- Foto: Aisha Nafu Copyrights. Meist werden die Lieder einfach auf Youtube, Facebook zahlen verzeichneten, plante Fawz über Wochen hinweg, heimlich und Instagram geteilt. eine Gitarre zu kaufen. Die 31-jährige Innenarchitekturstudentin Einer der wenigen professionellen Musikproduzenten ist der aus Tripoli ist inzwischen nach mehreren Live-Auftritten eine lokale Von oben nach unten: Dada während ih- 24-jährige Ahmed Debani. Ursprünglich stammt er aus Derna. Größe in der Kulturszene der Hauptstadt. Im März 2020 kam ihre rer Radioshow »Music Fabric«, der Während seines Ingenieurstudiums in Malaysia ging er weiter sei- Debütsingle heraus. Merskawi-­Musiker Hassan Elbijou und ner Leidenschaft für Musik nach. Seine Debütsingle »Sky« mit zwei Sie erinnert sich an 2011: Nach kurzer Freude über den Sieg der Fawz. sudanesischen Rappern erschien im Sommer 2020. Das Video dreh- Revolution zog sie sich in ihr Zimmer zurück und spielte heimlich te er in zwei Tagen ab, bevor er wieder nach Libyen zog. Seither Musik. »Wir sind endlich frei, also können wir jetzt tun, was wir lebt er in Benghazi. Dort arbeitet er zusammen mit der 25-jährigen möchten? Nein! Das war ihre Revolution, meine wird noch kom- Dada für den Sender DO FM an der wöchentlichen Show »Music men«. Viele Musikerinnen wie Fawz halten ihre Instagram-Profile Fabric« und präsentiert noch unbekannte libysche Künstler. De- privat. Das verringert die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. bani produziert R&B, Trapsoul und Trotz ihrer starken Stimmen müssen Lofi Hip-Hop. Er teilt die Lieder über sie ihre Musikkarrieren heimlich auf- alle größeren Streamingportale und bauen, oft ohne das Wissen ihrer Fa- erreicht damit ein breites Publikum Das Gaddafi-Regime ließ milien. auch außerhalb Libyens. Nahezu alle Künstler können von Nicht weit von ihm entfernt, aber alle westlichen Instrumente ähnlichen Problemen erzählen. »Es

Foto: Hassan Elbijou dennoch in einer komplett ande- war eine Schande, ein Musiker zu sein, ren musikalischen Welt lebt Hassan zerstören inzwischen ist immerhin die Akzep- Elbijou, der vor allem traditionelle tanz gestiegen«, so der Merskawi-Sän- Merskawi-Musik spielt. 2010 lernte ger Hassan. Doch für Frauen fallen die Hassan Akkordeon zu spielen, 2011 Restriktionen oft noch schärfer aus. nahm er sein erstes Album auf – unterbrochen durch die militäri- Aus Angst vor Missgunst gegenüber ihren Familien fügen sich vie- schen Auseinandersetzungen. Um seine Stimme weiter zu schulen, le dem gesellschaftlichen Druck. Wer wirklich professionell Musik studierte er von 2012 bis 2016 am Ali-Shaliya-Institut in Benghazi, machen möchte, muss außerhalb Libyens eine Karriere aufbauen, so das nach einem der bekanntesten libyschen Sänger benannt ist. Die der Konsens der meisten Musikerinnen und Musiker. Sie arbeiten Institution existiert seit den 1960ern und bildet junge Menschen in trotzdem weiter – in Libyen –, schreiben neue Songs und machen verschiedenen Kunstbereichen aus. Hassan spielt mit seiner Band Gebrauch von neuen Möglichkeiten. So nutzten sie während der Co- Alzaman Aljamil (zu Deutsch: Die schöne Zeit) im ganzen Land auf rona-Pandemie freie Räume und teilten ihre Werke online mit der

­ Gadi privaten Feiern. »Wir haben schon sieben Alben produziert, aber Welt. Dado sieht in der Kunst viel Hoffnung für Libyen: »Musik bleibt dadurch generieren wir keine Einnahmen, wir verdienen unser Musik, hier teilen wir nicht in Regionen auf«. Geld über die Konzerte«. Neben Merskawi spielt die Band auch Moushahat, eine weitere Form traditioneller libyscher Musik. Die bekannteste traditionelle Musikform Libyens ist jedoch Ma- Yasmin Schneider Saaid ist deutsch-libysche Kulturjournalistin und derzeit

Foto: Mohamed El- louf. Nachdem andalusische Flüchtlinge nach der Reconquista ihre Masterstudentin an der Humboldt Universität zu Berlin. 38 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 39

GENERATION 2011 VON DER REVOLUTION IN DEN DSCHIHAD Das grüne Tuch

Der Sturz Gaddafis ermöglichte Ibrahim Shebani seinen größten Traum. Das Paradies ist Jetzt macht er selber Mode

VON MIRCO KEILBERTH immer anderswo

Mohammed el-Fahem warf Steine auf tunesische Polizisten. Als die Revolution gelang, s war, als hätte Ibrahim Shebani auf »Rund um Benghazi haben die Griechen und Ägypter, in hoffte er auf einen Gottesstaat. Erst in Tunis, dann in Raqqa diesen Moment sein ganzes Leben Westlibyen die Römer und viele andere die Kultur geprägt«, gewartet. An einem langen Febru- sagt Shebani. »Ich habe mich schon immer als Teil der medi- arabend hatte der 43-Jährige mit terranen Kultur gesehen und nicht nur als Araber oder Mus- VON HEDI YAHMED Freunden die Neuigkeiten aus Tu- lim.« Zehn Jahre später hat der Medienmacher seinem Land nesien und Ägypten in einem Café den Rücken gekehrt und lebt in Tunis. »Schon Ende 2011 in Hay Al-Andalus diskutiert. In den erhielten wir Morddrohungen von Islamisten, im Sommer Nachbarländern herrschte nach 2012 brachte Ansar Scharia in Tripolis und in Benghazi erst- E dem Sturz von Ben Ali und Muba- mals Journalisten und Aktivisten um«, erinnert sich Shebani. rak Euphorie. In dem gutbürgerli- »Ich weiß nicht, ob die radikalen Gruppen die Revolution be- chen Stadtteil von Tripolis rechnete wusst gekapert oder nur das Machtvakuum für sich genutzt hingegen kaum jemand mit einem haben. Die mit den Parlamentswahlen von 2014 verlorene Aufstand gegen den seit 42 Jahren regierenden Muammar Macht haben sie sich mit Waffengewalt zurückgeholt.« Liby- Al-Gaddafi. An dem Abend erreicht Shebani dann aber en sei nun zwischen zwei Regierungen gespalten, und in kei- die Nachricht, dass in seiner Heimatstadt ner säßen echte Repräsentanten des Volkes, Benghazi ein Marsch gegen die grassieren- beklagt er. »Es gibt keine gute und schlech- de Korruption geplant sei. Libyen litt zwar te Seite.« In Tunis arbeitet Shebani als Mo- nicht unter den wirtschaftlichen Problemen dedesigner. »Born in Exile« nennt er sein der Nachbarländer. Doch mit der Öffnung Label. Seine Entwürfe wurden auf Fashion der Wirtschaft für ausländische Firmen und Exil-Libyer war auch die Vetternwirtschaft aufgeblüht. Der Hobbyzeichner hoffte, die Liberalisierung nutzen zu können, um Liby- ens erstes Modemagazin heraus zu bringen. Seine Vision eines Magazins, dass Libyen als multikulturelles Land Das wäre mal was anderes als sein bisheriger zeigt, musste warten. Job in einer Werbeagentur. Die Idee fand die Stattdessen buchte Shebani ein Zustimmung der politischen Zensoren, schei- Flugticket nach Benghazi terte jedoch an der Engstirnigkeit der lokalen Behörden. Seine Vision eines Magazins, dass Libyen als multikulturelles Land zeigt, muss- te also warten. Stattdessen buchte Shebani ein Flugticket nach Benghazi, als dort am 15. Februar 2011 die nächste Demonstrati- Weeks in Tunis und in Paris gezeigt, sie ver- on anstand. Zwei Tage später ging dann al- binden Leder und klassische libysche Stoffe les ganz schnell. Nachdem Soldaten auf die mit Symbolen und Schnitten aus Benghazi unbewaffneten Demonstranten geschossen oder der Sahara. Seine nächste Kollektion hatten, flohen die meisten Gaddafi-Anhän- will er aus dem Stoff von Rettungswesten ger vor dem Volkszorn. Benghazi war frei. schneidern. Hoffnung auf eine Rückkehr Nun verwirklichte Shebani seinen Traum. Er nach Libyen hat er zurzeit nicht. »Mir geht es gründete das Libyan Magazine, ein Lifestyle-­ wie vielen, die 2011 für ein neues Libyen auf Blatt auf Englisch und Arabisch. Die junge die Straße gingen. Aber immerhin kann ich Redaktion bestand aus Freunden und Akti- mit meiner Mode zeigen, dass es in Libyen

visten aus dem ganzen Land. mehr gibt als Waffen und Gewalt.« Fotos: privat 40 40 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 41

ohammed el-Fahem, 29 Jahre begann, ernsthaft darüber nachzudenken, wieder nach Dortmund zu wollte nach Syrien, ins »Kalifat«. In der zweiten Hälfte des Jahres alt, deutsch-tunesischer Dop- gehen – in das »deutsche Paradies«, das ihm weggenommen wurde. Sein tunesischer Pass ermöglichte 2016 beschloss Mohammad, erneut pelstaatler, ist Sohn tunesi- Ein Ja hr nach seiner Verha f tung kehr te Mohammed auf die Polizei- ihm die Reise nach Istanbul, wo er zu fliehen. Dabei profitierte er von scher Eltern, die in den 1980er wache zurück – diesmal um sein Recht auf einen Reisepass einzufor- in einem Gästehaus des IS unter- seiner willkürlichen Versetzung Jahren Nabeul, eine kleine dern. Er wollte einfach weg und schwor sich, nie wieder nach Tunesi- kam. Von dort ging es weiter nach vom Bataillon »Saif Al-Dawla« nach Küstenstadt etwa 60 Kilometer en zurückzukehren, falls er diesen Pass bekommen sollte. Er wartete Urfa in die Südtürkei und schließ- Manbidsch an die türkische Gren- südwestlich von Tunis, verlie- ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre – ohne Erfolg. Ihm wurde klar, dass er lich über die Grenze Richtung Tel ze. Vor ihm waren bereits Dutzende ßen. Auf der Suche nach besse- den Pass wohl nie bekommen würde – weil er als »radikaler Salafist« Abyad, das damals unter der Kon- Einwanderer aus Tunesien und an- ren Lebensbedingungen bauten eingestuft wurde. Mohammeds Groll auf die Sicherheitsbehörden trolle des »Islamischen Staates« deren arabischen Ländern geflohen. M sie sich in Deutschland eine wuchs, er ging immer häufiger zum Gebet in die Moschee – wohl wis- stand. Mohammed erzählte mir, Dabei halfen syrische Schmuggler, neue Existenz auf. Irgendwann send, dass er und sein gesamtes Umfeld ständig überwacht wurden. wie er sich voller Dankbarkeit nie- die den ehemaligen IS-Kämpfern beschloss die Familie, nach Tu- Er klammerte sich an seine »neue Identität«, begann, Koranstunden derwarf und Gott lobte, sobald er die geheime Flucht über die türki- nesien zurückzukehren – sie fürchtete, ihr Sohn Mohammed kön- zu besuchen, lernte den gesamten Koran auswendig. Heimlich traf er syrischen Boden betrat. sche Grenze ermöglichten, solange ne zwischen Vergnügungsparks und all den Wonnen des Lebens in sich mit den sogenannten Brüdern des Glaubens. Die Sicherheitsbe- Nach seiner Ankunft in Raqqa sie für ihr riskantes Unterfangen Deutschland »verloren gehen«. Doch nach der Rückkehr nach Tune- hörden folgten ihm inzwischen auf Schritt und Tritt. Bis zum Dezem- schloss sich Mohammed dem Ba- gut bezahlt wurden. Um genug Geld sien verlor sich Mohammed stattdessen im Tunnel extremistischer ber 2011. Da brach die Revolution aus – Mohammed war da gerade 19 taillon »Saif Al-Dawla« (»Schwert Z zusammen zu bekommen, verkauf- Organisationen zwischen Tunis und Raqqa. Jahre alt. des Staates«) an, das hauptsäch- te Mohammed seine beiden Ka- Ende 2016 traf ich Mohammed in Istanbul und führte unzählige Voll grimmiger Entschlossenheit ging auch Mohammed auf die lich aus Einwanderern bestand. Er laschnikows. Dann setzte er sich Gespräche mit ihm in den Cafés der Stadt. Ich wollte verstehen, wie Straßen, um Ben Alis Regime zu stürzen. An vorderster Front stellte nahm an der Eroberung der antiken mit Hilfe eines Schleusers nach Id- sich ein verwöhntes Einzelkind er sich in Nabeul den Sicherheits- Wüstenstadt Palmyra teil und zog lib ab, das außerhalb des IS-Gebiets aus recht bequemen finanziel- kräften entgegen und warf einen in die Schlacht um den Luftstütz- lag. Von dort aus reiste Mohammed len Verhältnissen in ein wildes Stein nach dem anderen. Die Re- punkt von Kuweyres. Doch wäh- mit einem anderen Schmuggler auf Monster verwandelt und nach volution gelang, und am 14. Ja- rend der Kämpfe um Kobane, in verschlungenen Pfaden in die Tür- Raqqa reist, um sich einer der nuar 2011 floh Ben Ali nach Sau- denen lange weder der IS noch die kei. blutrünstigsten Organisationen di-Arabien. Mohammed atmete Truppen der »Demokratische Kräfte Syriens« die Oberhand errin- Als ich Mohammed in Istanbul traf, war er kurz zuvor aus der unserer Zeit anzuschließen. Und Er träumte von einem Staat, der nach erleichtert auf. Dies waren seine gen konnten, bemerkte Mohammed etwas, das ihm gar nicht gefiel: »IS-Hölle« zurückgekehrt. So bezeichnete er seine Erfahrung nun. Mohammed erzählte mir seine »Gottes Gesetz« regiert wird Tage des Sieges, der Befreiung – Der Befehl lautete, die Stadt um jeden Preis zu halten. Dafür schick- Er erzählte mir, wie er desillusioniert und gebrochen durch die Stra- Geschichte. es war der »Sieg Gottes«, so Mo- te der IS vor allem ausländische Kämpfer nach Kobane, Hunderte ßen Istanbuls irrte, eine Unterkunft hatte er nicht. Er erzählte von Die ersten fünf Jahre seiner hammed wörtlich. hatten bereits ihr Leben verloren. Mohammed fiel auf, wie wenig der seiner Angst vor den in Istanbul stationierten IS-Agenten und seiner Kindheit verbrachte er in Dort- An Tag zwei nach der Revolu - Organisation das Leben ihrer internationalen Kämpfer bedeutete. ständigen Flucht vor den türkischen Sicherheitsbehörden. Und er mund. Mohammed erinnert sich, tion machte er sich auf den Weg erzählt mir auch von seinen Rachegedanken und seiner Wut auf den wie er gegenüber der Gastarbei- zum Polizeirevier, um endlich »Scharlatan Al-Baghdadi«, wie er den »Kalifen« des IS bezeichnete, terwohnungen in seinem Viertel den Pass zu bekommen, dem man der in seinen Augen Tausende tunesischer, arabischer und generell spielte, an die Straßenbahn und ihm so lange vorenthalten hatte. muslimischer Jugendliche betrogen hatte. an Schneeballschlachten im deutschen Winter. All dies wurde zur Schon drei Tagen später hielt er ihn in den Händen – nun hätte er Und was nun? Eine Frage, auf die Mohammed keine Antwort hat. unschuldigen Vergangenheit, die längst Geschichte ist. ausreisen können, aber sein Wunsch, ins »deutsche Paradies« zu- Er selbst weiß nicht, wohin er gehen, wohin er fliehen soll, zumal er Mohammeds Eltern wollten nicht, dass ihr Sohn in Europa seine rückzukehren, war verflogen. Stattdessen träumte er nun davon, ei- Im Rückblick erschien Dortmund wegen einer gegen ihn verhängten Haftstrafe nicht nach Tunesien islamische Identität verliert, und brachten ihn deshalb zurück nach nen Staat in Tunesien zu errichten, der »nach Gottes Gesetz regiert als das Paradies der Kindheit zurückkehren will. Ist es möglich, nach der »IS-Hölle« wieder ins Tunesien. Seine Erziehung sollten dort die Großeltern auf dem Land wird«. Mohammed engagierte sich bei »Ansar Al-Scharia«, einer der eigene Leben zurückzukehren und die getroffenen Entscheidungen übernehmen. Als Kind entdeckte Mohammed dort eine ungerechtere nach der Revolution neu gegründeten radikalen Gruppen. Er hatte zu korrigieren? und weniger wohlhabende Welt, in der Kinder und Jugendliche kaum das Gefühl, im religiösen Aktivismus und Demonstrationen seine Mohammed erzählte mir von seiner Sehnsucht nach Nabeul, der Gehör finden. Eine Welt, in der Arbeitslosigkeit, Armut und politische Berufung gefunden zu haben. tunesischen Stadt seiner Jugend und nach Dortmund, der Stadt Unterdrückung an der Tagesordnung waren. Er, der deutsche Aus- Nach dem Mord am linken Aktivisten Chokri Belaid durch radikale seiner Kindheit, und dem Traum, der ihm »gestohlen« wurde. Ich wa nderer, stellte fest, da ss der Trau m v ieler t u nesischer Jugend licher Salafisten am 6. Februar 2013 begannen die Sicherheitskräfte, die Ak- fragte ihn: »Wer hat deinen Traum gestohlen?« Mohammed hatte ein Leben in Europa war – in seiner alten Heimat. tivitäten militanter salafistischer Organisationen einzuschränken. Seitdem, so erzählte er, fiel ihm die Diskriminierung in der Behand- keine Antwort darauf. Während unserer vielen Treffen wiederholte Als Teenager, gerade auf der Suche nach der eigenen Identität, dem Mohammed dachte erneut an die Emigration. Diesmal hatte er ein lung internationalerIS-Anhänger auch an vielen anderen Stellen auf. der junge Deutsch-Tunesier immer wieder: »Wir sind die Generation eigenen Lebensweg, bekam Mohammed eine ganz persönliche Kost- »neues Paradies« vor Augen – weit weg von Dortmund: Er wollte nach Der endgültige Wendepunkt in Mohammeds Wahrnehmung des der tunesischen Revolution, verloren durch leere Versprechen und probe der Ungerechtigkeiten im Land seiner Eltern zu spüren. Damals Raqqa, in eben jene syrische Stadt, die international bekannt wurde, IS war die Exekution Dutzender Einwanderer durch den IS-Sicher- Kriege!« ging er regelmäßig zum Beten in die Moschee und traf dort Freunde. als der IS sie einnahm und dort eine seiner Hochburgen errichtete. heitsapparat. Unter den Hinrichtungsopfern befand sich einer seiner Als er noch nicht einmal 15 war, spielte Mohammed mit anderen reli- Im Sommer 2014 machte sich Mohammed auf den Weg, von Nabeul alten Freunde aus Nabeul, der ebenfalls nach Raqqa gekommen und giösen Jugendlichen auf einem Platz in Nabeul Fußball. Plötzlich kam nach Süden in Richtung libyscher Grenze. Zu dieser Zeit fahndete schon seit einiger Zeit verschwunden war – man warf Rafiq Al-Ghoul die Polizei, umstellte das Spielfeld und nahm alle mit aufs Revier. die Polizei gerade im Kontext eines Terroranschlags in Tunis nach zu den anderen Toten in die Al-Houta-Grube, ein tiefes Massengrab Aus dem Arabischen von Michael Nuding Zu dieser Zeit kontrollierte die Polizei regelmäßig Gruppen salafisti- ihm. Er reiste heimlich, durchquerte die tunesisch-libysche Wüste in einem Vorort von Raqqa. Diese Grube wurde zum neuen Symbol scher Jugendlicher, die sich zum Fußballspielen oder anderen Aktivi- mithilfe eines Guides und erreichte so die Stadt Sabrata, wo er Auf- für die repressive Herrschaft des IS, nicht nur über die lokale Bevöl- Hedi Yahmed ist tunesischer Journalist und Schriftsteller und täten verabredeten. Obwohl Mohammed schnell wieder freigelassen nahme in einer dschihadistischen Zelle fand. Obwohl er versucht kerung, die sich den Dschiahdisten widersetzte, sondern auch gegen lebt in Paris. Im März 2017 veröffentlichte er das Buch »Ich war in wurde, er war schließlich minderjährig, führt ihm dieser Vorfall vor war, einfach in Libyen zu bleiben, wo zu dieser Zeit für extremisti- Anhänger aus den eigenen Reihen, die Entscheidungen des »Kalifen« Raqqa«, das die Geschichte von Mohammed el-Fahem erzählt und in Augen, wie eingeschränkt sein Freiheitshorizont in Tunesien war. Er sche Organisationen viel möglich war, blieb Mohammed dabei: Er zu kritisieren wagten. Tunesien zum Bestseller wurde. 42 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 43 ILLUSTRATION: TAREK AYA 44 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 45

dafür gab es die Häme. Aber vielleicht war es auch klug, mit ihre Folgen dagegen eher Ansporn – menschlich und beruf- Essay Blick auf unsere Geschichte, sich nicht an einer Militärakti- lich. Wir engagierten uns für die Flüchtlinge, die 2015 in gro- on zu beteiligen, deren Folgen ungewiss waren. Irgendwie ßer Zahl aus Syrien nach Deutschland kamen, oder wir be - passte die Enthaltung zu uns. richteten zumindest mit viel Empathie über ihre Schicksale. Nein, wir waren kein Teil der Umstürze, aber wir wollten Mit dem Aufstieg des selbst ernannten »Islamischen Staats« doch so gerne Partner sein: Wir, das heißt in diesem Fall in Syrien und im Irak machten wir den Dschihadismus zu die Bundesrepublik Deutschland, machten nach 2011 acht einem gründlichen beackerten Forschungsfeld, wollten wir arabische Staaten zu Transformationspartnern. Wir luden uns doch nicht wieder – wie 2011 – die blinden Flecken in die Akteurinnen und Akteure aus der arabischen Welt zu unserem Bild von der arabischen Welt eingestehen müssen. Unser Frühling, Dafür gerieten uns andere soziale und gesellschaftliche Fra- Konferenzen ein – nicht selten unsere alten Bekannten –, setzten gemeinsam Projekte um. Capacity Building wurde gen aus dem Blickfeld. Und so waren wir wieder ziemlich großgeschrieben, der Aufbau von Fähigkeiten, Wissen und baff, als 2019 eine neue Welle des Aufstands losbrach. Aller- euer Scheitern Kompetenzen – damit staatliche und zivilgesellschaftliche dings brach sie nicht einfach los, sie wurde losgetreten von Institutionen in den Ländern selbst Demokratie und Rechts- Menschen, die sich nach mehr Freiheit sehnten, die Willkür- staatlichkeit vorantreiben können. herrschaft, Misswirtschaft und miese Lebensbedingungen Sicher, da waren und sind viele gute Initiativen dabei, viel- satthatten. Warum wir die Ereignisse von 2011 enthusiastisch begrüßten – leicht auch manche, die – um im entwicklungspolitischen und doch nicht darauf gefasst waren, was sie mit uns machen Jargon zu bleiben – nachhaltig Wirkung zeigen können. Aber irgendwie fühlte sich das auch komisch an, dass wir, die wir zum größten Teil in eine funktionierende Demokratie hineingeboren wurden, die Prinzipien und Wirkungsweisen VON MORITZ BEHRENDT von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit denjenigen erklärten, die sich ihre Freiheiten selbst erkämpft hatten – Freiheiten, die längst nicht gesichert waren und von ver- ANDERS ALS DIE MENSCHEN IN SYRIEN UND schiedenen Seiten massivst bedroht wurden. Natürlich durf- ten bei diesen Partnerschaften nie der Zusatz »auf gleicher LIBYEN KONNTEN WIR UNS DEN LUXUS ERLAUBEN, Augenhöhe« fehlen, aber die Gelder kamen eben doch aus UNS AUS DEN KRIEGEN RAUSZUHALTEN s gehört zu den schlechten Eigenschaften mistischer Bewegungen hatten wir zwar gelesen, wir kann- Europa und mit ihnen ein gewisses Maß an Paternalismus von Journalisten, nachher immer vorher alles ten sie aber weniger aus eigener Anschauung. Ohne sie wä- und Besserwisser-Attitüde. besser gewusst zu haben. Beim Arabischen ren Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak Dabei ging es nun wirklich nicht um uns – unsere Freiheiten E Frühling war das nicht möglich. Die Aufstän- in Ägypten nicht gestürzt worden. waren nicht bedroht, wir mussten nicht damit rechnen, von de in Tunesien und in den Nachbarländern Wir blendeten dies weiter aus, berauschten uns lieber an Islamisten angegriffen zu werden, in Syrien von Fassbomben kamen zu unerwartet für uns, die wir uns in europäischen den Bildern vom Sturm auf die Zentrale des Polizeigeheim- getroffen zu werden oder in Ägypten für Kritik an der Regie- Medien, Thinktanks und Universitäten intensiv mit Nordafri- dienstes in Kairo. Erinnerungen wurden wach an die Beset- rung ins Gefängnis geworfen zu werden. Postrevolutionäre ka und dem Nahen Osten beschäftigt haben. zungen der Stasi-Dienststellen von Erfurt bis Berlin in den Depressionen, die Rolle von Sozialen Medien in autoritären Dabei kannten wir doch einige der Akteurinnen und Akteure Jahren 1989/90. Und überhaupt Aufarbeitung der eigenen Gesellschaften: Für uns waren das Forschungs- und Recher- In Algerien wurde der greise Präsident Abdelaziz Boutefli- gut, wir hatten sie getroffen auf Konferenzen in Kairo und dunklen Geschichte: Sind wir als Deutsche da nicht Welt- chethemen, nicht alltägliche Realität. ka ­­im April aus dem Amt gedrängt, nachdem wochenlang Europa, auf Partys in Beirut und Tunis. Wir kannten ihre Kla- meister, und war dies jetzt nicht quasi eine Aufforderung, Einige aus der Ich-habe-es-doch-schon-vorher-gewusst- Zehntausende Algerier friedlich auf die Straße gegangen gen über Willkür und Korruption bei der Polizei, über die unsere Expertise zu exportieren? Fraktion in unseren Reihen sahen es als Bestätigung ihres waren. Im gleichen Monat wurde im Sudan der Despot Omar Schwierigkeiten, Jobs zu finden, die ihren Fähigkeiten ent- Ideell mögen wir Teil einer Bewegung gewesen sein (oder realpolitisch grundierten Pessimismus, dass Libyen ins Cha- Al-Baschir vom Militär gestürzt – auch dies eine Folge von sprachen. Sie klagten über Überwachung und die verkruste- uns zumindest so gefühlt haben), real war das immer we- os fiel, Syrien und Jemen in Kriegen versanken und in Kairo Massenprotesten. Im Libanon und im Irak gingen ebenfalls ten und autoritären politischen Systeme, und wir nickten zu- niger der Fall. Denn von den Rückschlägen, den Kriegen in das Militär die Macht wieder an sich riss, um für Ordnung zu Zehntausende auf die Straßen und riefen die Revolution aus. stimmend und etwas mitleidig, weil wir diese Klagen schon Syrien und Jemen, dem Staatszerfall in Libyen, der Konter- sorgen. Die Parallelen zur Argumentation von Ben Ali und Auf dem Tahrir-Platz in Bagdad und auf dem Märtyrerplatz so oft gehört hatten, uns aber nicht vorstellen konnten, dass revolution in Ägypten waren wir nicht betroffen. Ja, es wur- Mubarak waren unübersehbar: Mit dem Credo »Wir oder das in Beirut forderten sie weniger Konfessionalismus, weniger sich hier jemals etwas ändert. de schwieriger, zu berichten und zu forschen. Der Mord am Chaos« hatten sie Jahrzehnte lang einigermaßen erfolgreich Korruption und eine verlässliche Versorgung mit Strom und Diese jungen Frauen und Männer waren liberal, sie sehnten italienischen Wissenschaftler Giulio Regeni 2016 in Ägyp- um die Zustimmung des Westens zu ihrer autoritären Herr- Wasser. sich nach mehr Freiheiten und gingen jetzt auf die Straße, ten war dafür der drastischste Beleg. Doch anders als die schaft geworben. Uns kamen diese Forderungen bekannt vor: Wir hatten sie auf die Avenue Habib Bourguiba in Tunis, auf den Tahrir-­ Menschen in Syrien und Libyen konnten wir uns den Luxus Zurück kehrte bei uns auch das abgeschmackte Narrativ, schließlich Jahre lang gehört, auf Konferenzen und Partys Platz in Kairo. Einige von uns atmeten Tränengas ein, als erlauben, uns aus den Kriegen rauszuhalten. dass die Menschen in der arabischen Welt mehr Objekt als von ebenjenen Akteurinnen und Akteuren, die jetzt de- wir über die Proteste berichteten, andere fieberten aus der Den damaligen Bundesaußenminister Guido Westerwelle Subjekt ihrer Geschichte seien. Hatten wir nicht 2011 noch monstrierten. Wir kannten sie gut…. Ferne mit – als seien wir Teil eines urbanen, transnationalen hatten wir Nahost- und Nordafrika-Experten gleichermaßen vehement dagegen angeschrieben? Überhaupt berichteten Happenings für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit. mit Häme und Applaus bedacht, als er im März 2011 erklär- wir in unseren großen Medien nun wieder seltener aus der Es fühlte sich ein wenig so an, als sei dies auch unser Früh- te, dass Deutschland nicht mitmachen würde bei der Flug- Region – wieso auch, es geschah ja nichts Unvorhergese- ling, als sei dies auch unsere Revolution. Aber natürlich war verbotszone über Libyen, um nicht auf eine schiefe Ebene zu henes. Und als Gesprächspartner suchten wir lieber unsere das keineswegs der Fall. Der Erfolg der Aufstände hatte sei- geraten, »an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines eigenen Experten – wir redeten wieder mehr über die Men- Moritz Behrendt ist einer der zenith-Herausgeber. Er arbeitet ne Gründe auch dort, wo wir unsere blinden Flecken hatten. Krieges in Libyen sind«. Wir waren für Wandel, aber wenn schen in der Region als mit ihnen. als Journalist außerdem für Zeitungen und das Deutschlandra- Über die Macht des Militärs und die Mobilisierungskraft isla- es um militärische Einmischung ging, zuckten wir zurück, Für andere von uns waren die Kriege, die Repressionen und dio. 46 47

DIE HINTERLASSENSCHAFTEN DES IS IM IRAK

Die Geister unter der Stadt

Unter den Trümmern von Mosul liegen noch immer Hunderte Tote. Freiwillige versuchen, die Körper zu bergen. Aber jemand hindert sie daran

VON MIZAR KEMAL Foto: Qasem Al-Zaidi Qasem Foto: 48 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 49

as zerstörte Gebäu- mit Leichen, die unter dem Schutt zerstörter und verminter Häuser Vorherige Seite: de fällt uns sofort auf. liegen. Geborgene Leichen sind hier keine Schlagzeile mehr wert, sie Die 64-jährige Das Dach und die Wän- sind Alltag. Umm Muhammad de – nicht mehr als ein Das Viertel Al-Schahwan gehört zu den Gebieten, das die größ - sitzt vor ihrem Gerippe. Die Zerstö- ten Schäden erlitt. Nach Angaben von Bürgermeister Zuhair Al-Araji Haus im Stadtteil rung ist sogar für die sind 80 Prozent der Altstadt zerstört: 15 der 54 Wohnbezirke seien Al-Schahwan in Verhältnisse hier in der dem Erdboden gleich gemacht worden, in 23 Vierteln sei die Hälfte Mosul. Altstadt von Mosul be- der Häuser zerstört, während in 16 Vierteln »nur« geringe Schäden merkenswert. Wir ver- zu verzeichnen wären. muten, dass mehr da- Überall verbrannte Autos, Berge von Schutt: In Al-Schahwan hintersteckt. Als uns die kommt man sich vor wie in einem Film über den Zweiten Weltkrieg. Bewohner aus der Nach- Zwangsläufig stößt man auch auf die Überreste menschlicher Kno- barschaft erzählen, was chen oder ganze Skelette von Menschen, die in den Gefechten ums hier geschehen war, ist Leben gekommen sind. uns klar: Wir haben uns Die 64-jährige Umm Muhammad gehört zu den wenigen, die nach D nicht getäuscht. der Befreiung Mosuls in das Viertel zurückgekehrt sind. Sie sitzt, wie Das Haus wurde im so häufig, im Eingang ihres Hauses, eine lange weiße Gebetskette in Rechts: Große Tei- Kampf um Mosul von der Hand – sie zählt die Zahl der Opfer, erinnert sich an bessere Zei- le von Mosul sind zwei Raketen getroffen, ten, an ihre Nachbarn von früher, von denen sie viele nie wiederse- zerstört. Unter den berichtet uns der 33-Jährige Muhammad. Er habe es selbst gese- hen wird. »Diese Gegend war früher ein Paradies für mich«, sagt sie, Trümmern finden hen. »Der Besitzer war ein hochrangiger IS-Anführer in der Stadt. während sie die Kette in ihrer Hand bewegt. »Als ich zurückkam, sich noch immer

Hier lag eine Annahmestelle für religiöse Steuern. Im Keller wur- war alles zerstört. Zum Glück haben mir wohltätige Menschen Geld Foto: Muhammad Salem Leichen. den Ölfässer gelagert. Als die Gefechte um die Befreiung der Stadt gespendet, um unser Haus wiederaufzubauen. Aber der Gestank begannen, wurden hier zahlreiche IS-Familien untergebracht. Eine bringt uns um. Der Gestank des Todes und die Insekten, Skorpione merberg. Kürzlich ist ein Kind dort in den Keller eines zerstörten Toten und die hohe Zahl der Leichen, die noch immer in der Alt- Woche später wurde das Haus bombardiert – die ganzen Kinder und und Schlangen, die von den verwesenden Leichen angezogen wer- Hauses gefallen.« Sie erzählt uns von ihrem Ehemann, der an Krebs stadt geborgen werden, lassen vermuten, dass die offiziellen Angaben Frauen waren noch drinnen.« den.« gestorben ist und von ihren Söhnen. IS-Kämpfer hatten sie mit dem nicht dem wahren Ausmaß entsprechen. Muhammad, der nur wenige Häuser weiter lebt, erinnert sich ge - Umm Muhammad nimmt uns mit auf eine Tour durch das Viertel. Tod bedroht, weil sie als Polizisten gearbeitet hatten. Sie sind aus In Mosul treffen wir Brigadegeneral Hussam Khalil, den Leiter des nau: »Die Bombardierung begann gegen drei Uhr am Nachmittag, In den Gassen steht an manchen baufälligen Wänden geschrieben: Mosul geflohen und nie zurückgekommen. Früher hat sie hier auf Zivilschutzes im Gouvernement von Niniweh. Er zeigt uns die Lis- zwei Stunden lang hörten wir ununterbrochen die Schreie der Frau- »Hier lebt eine Familie«. Daneben ist ein Pfeil gemalt, der in die der Straße Brot und Gemüse verkauft, erzählt Umm Muhammad, ten, auf denen die Zahl der geborgenen Leichen verzeichnet ist: »Wir en und Kinder. Dann war plötzlich Stille.« Er zeigt auf die Trüm- Richtung weist, wo die Familie zwischen Trümmern, Leichen und heute kann sie nur dank Spenden überleben: »Könnt ihr euch vor- haben 2.600 Leichen bergen und sie Menschen zuordnen können, die mer: »IS- Kämpfer haben die Verletzten aus dem Haus herausgeholt, Schlangen haust. In einem Haus sehen wir dann die Skelette – über- stellen, dass Menschen dieses Stück Land ihre Heimat nannten?«, während der Kämpfe getötet wurden. Von ihnen sind ungefähr 750 aber die Toten liegen hier noch immer. Dutzende Leichen wurden deckt mit Kleidungsresten, Schuhen und Laken, in einigen Ecken fragt sie und zeigt auf die Brache rund um ihr Haus, die den Blick Frauen und 850 Kinder. bis heute nicht geborgen.« liegen auch noch Sprengstoffgürtel herum. freigibt auf den Fluss Tigris, der die Stadt in Dazu kommen rund 2.200 unidentifizier - Ein weiterer Nachbar, Khaled Ezzat, wurde ebenfalls Zeuge der Diese Häuser zu betreten, ist mit Gefahren verbunden: Minen und zwei Hälften teilt. te Leichen von IS-Kämpfern. In der Summe Bombardierung. Während der 58-Jährige mit uns spricht, schmei- Blindgänger sind in der ganzen Altstadt verstreut. Die für die Suche, Sie läuft weiter, zählt die Namen ihrer Nach- sind das 4.800 Menschen.« Seine Zahlen sind ßen Kinder aus der Nachbarschaft Müllbeutel in die ausgebrannte Beseitigung und Entschärfung von Minen zuständige UN-Behörde barn auf und zeigt auf die Orte, an denen frü- deutlich höher als die, die die Kriegsmedie- Ruine. Khaled Ezzat berichtet von einer Frau, die den Raketenan- UNMAS schätzt, dass Tausende Tonnen Sprengstoff noch irgendwo her deren Häuser standen. »Hier hat Kenan Nach Angaben des Bürger- nabteilung herausgegeben hat. Khalil sagt, griff überlebte: »Sie erzählte uns, dass 64 Menschen hier wohnten. in Mosul liegen. Zehn Jahre könne es dauern, die Stadt von dieser gelebt – er wurde während der Kämpfe getö- dass seine Abteilung die Bergung der Leichen Dass ihr ganzes Geld noch in dem Haus sei. 14 Menschen seien Last der IS-Herrschaft und des Krieges zu befreien, schätzte die Or- tet. Das da vorn ist das Haus meiner Tante. meisters sind 80 Prozent fast abgeschlossen hat. »Zu 98 Prozent.« Er evakuiert worden, einige von ihnen verletzt, andere tot. 50 Leichen ganisation 2019. Sie liegt immer noch in den Trümmern. Da fügt hinzu, dass der Zivilschutz angewiesen müssten also noch in den Trümmern liegen.« »Viele Gebäude sind über den Menschen zusammengestürzt. An - drüben wohnte der Onkel meines Mannes mit der Altstadt zerstört ist auf Hinweise von Bürgern und den Be- Wie betreten das Haus und bewegen uns darin mit großer Vor - dere wurden mit Sprengfallen versehen, um zu verhindern, dass die seiner Familie. Seine beiden Söhne wurden hörden, die verantwortlich dafür sind, den sicht – überall könne noch Sprengstoff herumliegen, wurden wir ge- Bewohner wieder in ihrer Häuser zurückkehren. Dazu kommen die auch getötet. Einer von ihnen war Sanitäter, er Schutt abzuräumen. warnt. Aus dem Schutt ragen hier und da menschliche Knochen, an Blindgänger«, erklärt Paul Heslop der die Räumungsarbeiten von wurde von einer Kugel in die Brust getroffen, »Hier Leichen zu bergen, ist ziemlich an - einer Stelle finden wir die Überreste eines Sprengstoffgürtels. Alle UNMAS koordiniert. Zwei Jahre hätten die IS-Kämpfer Zeit gehabt, als er einem verletzten Freund helfen wollte.« spruchsvoll. Die Straßen und Gassen in der Nachbarn berichten uns, wie sehr es sie belastet, dass so viele Lei- Sprengfallen und Bomben zu platzieren. »Jedes Objekt könnte eine Umm Muhammad zählt weiter auf, »da hat Riad gewohnt, ein guter Altstadt sind eng und in weiten Teilen zerstört, da kommt man mit chen noch nicht geborgen sind, psychologisch und gesundheitlich: Gefahr darstellen – der Kühlschrank, der Lichtschalter. Ein Knopf- Freund von uns«, und kann ihre Tränen kaum noch zurückhalten. schwerem Gerät kaum hin. Und dann sind da noch die Sprengfal- Die Ruine ziehe Straßenhunde, Schlangen, Skorpione und andere druck und eine Bombe kann hochgehen. Wenn Suchteams unterwegs »Die anständigen jungen Leute sind alle weg. Tot. Das Viertel len des IS und Blindgänger unter den Trümmern.« Am Anfang hatte gefährliche Tiere an. sind, kann ein falscher Schritt ein ganzes Gebäude zusammenstür- ist tot. Wir haben hier früher harmonisch zusammengelebt. Jeder sich ein noch grundsätzlicheres Problem ergeben, berichtet er. Denn Am 10. Juli 2017 erklärte Iraks damaliger Premier Haider Al-Aba- zen lassen.« war für den anderen da«, erzählt sie unter Tränen. »Als mein Mann als Mosul befreit wurde, habe der Zivilschutz über keinerlei Gerät di den Sieg über den IS in Mosul. Wenig später ließ er die irakische Umm Muhammad seufzt beim Gang durch ihr zerstörtes Viertel gestorben ist, haben mir alle Nachbarn geholfen. Jetzt sind sie weg. und Ausrüstung verfügt. Flagge in der Stadt hissen, nach mehr als neun Monaten massiver und möchte dennoch hier bleiben, trotz allem, was sie in den letz- Wer nicht gestorben ist, wurde vertrieben und ist nicht zurückge- Damals wurde auch das »Komitee zur Bergung der Leichen« ge - Gefechte. Drei Jahre lang hatte die Terrorgruppe Mosul kontrol- ten Jahren erlebt hat: »Das ist das Land meines Vaters und meines kehrt.« gründet, angeführt von Duraid Hazem. Der Ingenieur berichtet uns liert, in der Al-Nuri-Moschee hatte ihr Anführer Abu Bakr al-Bagh- Großvaters. Wo sollte ich sonst hin? Wir möchten nur von der Regie- Im Juli 2017, nach dem Ende der Schlacht um Mosul, bezifferte bei einem Treffen von noch einmal ganz anderen Zahlen. Von 2017 dadi das »Kalifat« ausgerufen. rung entschädigt werden für die Zerstörung unseres Hauses, für den die irakische Regierung die Zahl der Toten auf 3.176. Nach Angaben bis zum Ende des Jahres 2019 seien 5.524 Leichen geborgen worden, Der Krieg ist vorbei – andere Schlachten werden noch geschlagen. Tod unserer Kinder.« Umm Muhammad blickt auf eine Erhebung der für die Statistiken und Daten zuständigen Kriegsmedienabtei- davon hätten 2.872 identifiziert werden können. Er rechnet damit, Wer in die Stadt zurückkehrt, lebt mit Armut und Krankheiten. Und in der Nähe. »Seht ihr den Hügel dort? Eigentlich ist es ein Trüm- lung waren 1.429 von ihnen Zivilisten. Die Listen der identifizierten dass die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen: »So lange in der 50 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 51

Die Altstadt von etwas unternehmen, damit die Leute in ihre Häuser zurückkehren willige, Zivilisten, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um den Schleier Mosul am rechten können.« Wir fragen ihn, was er von der Aussage des Zivilschutzes des Todes von der Stadt zu lüften. Ufer des Tigris hält, dass die Bergung fast abgeschlossen sei. »Quatsch, gleich hier »Wir waren geschockt, als wir im November 2017 die Leichenberge liegt in Trüm- um die Ecke war der Gestank eindeutig und kaum auszuhalten. Da in den Straßen sahen. Wir beantragten umgehend bei der Stadtver- mern. Hier der kommt einem alles hoch.« waltung, dem Gesundheitsministerium und dem Zivilschutz eine Er- Sarradsch-Kha- Weder von der Zentralregierung in Bagdad, noch von den Ver - laubnis, Leichen bergen zu dürfen. Es dauerte zwei Monate, bis wir ne-Markt. antwortlichen im Gouvernement Niniweh bekommen wir präzise die Genehmigung hatten.« Sorge um die Stadt und ihre Bewohner Todeszahlen der Schlacht um Mosul. Dabei hatte die Kriegsmedie- sei der Antrieb für ihr Team gewesen, erzählt uns Husseini. »Wir nabteilung sehr großspurig bekannt gegeben, dass bei den Kämpfen befürchteten, dass sich Krankheiten ausbreiten würden. Wer den IS innerhalb von neun Monaten 30.000 Kämpfer des IS getötet worden überlebt hat, würde wenig später von einer Epidemie dahingerafft waren. Wenn bislang knapp 6.000 Leichen geborgen wurden, dann werden. Außerdem mussten die Bewohner ja irgendwann zurück in könnten noch immer mehr als 24.000 Toten unter den Trümmern ihre Häuser.« von Mosul liegen. Mehr als 1.000 Leichen hätten sie und ihr Team geborgen, sagt Dazu kommt die hohe Zahl der Vermissten. Nach offiziellen Anga- Husseini. Sie zeigt uns Videos, wie sie die Toten aus den Trümmern ben galten 5.000 Menschen als vermisst, als die Stadt vom IS befreit holen – einigen fehlt eine Hand, ein Fuß oder auch der Kopf. »Wir wurde. Eine Datenbank liegt der Stadt- bargen die Leichen ohne jede Ausrüstung, verwaltung jedoch nicht vor. Es bleibt im von den Straßen, aus Kellern. Dann legten Unklaren, wer vom IS entführt wurde, wer wir sie in Leichensäcke und versiegelten möglicherweise von den Milizen der Volks- die dann. Die Säcke brachten wir in Gegen- mobilisierung (Al-Haschd Al-Schabi), oder »Hier lebt eine Familie« den, die weniger stark zerstört waren. Dort wer von den irakischen Sicherheitskräf- konnten sie von der Stadtverwaltung mit ten festgenommen wurde. Die Vermissten steht an baufälligen Fahrzeugen abgeholt werden. Die hat sich Foto: Muhammad Salem könnten auch unter den Trümmern der dann auch um die Beerdigungen geküm- Stadt liegen. Wänden geschrieben mert.« Als wir Umm Muhammad ein zweites Die Bewohner der Viertel und die Solda - Stadt noch Trümmer und zerstörte Häuser stehen, so lange werden im März 2019 aus dem Amt geworfen. Der Ex-Gouverneur ließ alle Mal besuchen, erzählt sie uns von ihrem ten hätten Hinweise gegeben, wo sich Lei- wir auch noch Leichen finden.« Etwa in der Gegend zwischen dem unsere Anfragen zum Thema Qlayaat unbeantwortet und war auch früheren Nachbarn Riad. Sie zeigt auf eine chen befinden könnten, außerdem orien- Scharin-Markt und der Fünften Brücke in der Altstadt. Sie war der nicht zu einem persönlichen Gespräch bereit. leere Fläche. »Hier stand früher sein Haus. tierten sich Husseini und ihr Team an dem Schauplatz der letzten Kämpfe zwischen der irakischen Armee und Ingenieur Hazem meint dagegen, dass die Entscheidung damals Er war ein anständiger Mann – ein Polizist. Deswegen wurde er vom üblen Geruch der Verwesung. »Wir wurden von Sicherheitskräften dem IS. »Das waren heftige Gefechte, inklusive Luftangriffe«, erin- von den lokalen Behörden getroffen wurde, in der Hoffnung, Stra- IS entführt. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.« Umm Mu- begleitet. Am schwierigsten war es, wenn Sprengfallen an Leichen nert sich Hazem. ßen wieder befahrbar zu machen, um die Gegend wieder mit Leben hammad hilft uns, Kontakt zu Riads Familie aufzunehmen. Aus Al- angebracht waren. Wir wollten nicht, dass den Jüngeren aus unse- Der Staat, sagt er, verfügt nicht über die notwendigen Mittel, um zu füllen. »Die Stadt ist so alt, mit ihren heruntergekommenen Schahwan wurden sie vertrieben, heute leben sie zur Miete im Osten rer Gruppe etwas passiert. Mit denen haben wir über Walkie-Talkies die Masse des Schutts zu bewältigen. »Unser Komitee hat mit der Häusern – manche Gassen sind nur zwei oder drei Meter breit. von Mosul. Die Hoffnung der Familie, Riad jemals wiederzusehen, kommuniziert, wenn wir eine Leiche fanden.« Stadtverwaltung, dem Zivilschutz und der Um da überhaupt hinzukommen, musste schwindet mit jedem Tag. Ihre Suche nach den Leichen von Mosul brachte Husseini einige Be- Abteilung für Gerichtsmedizin zusammen- vieles abgerissen und von Bulldozern pla- Obeida, der älteste Sohn, ist heute 25 Jahre alt. Er schaut sich rühmtheit ein und auch juristischen Ärger: In der Sendung »Shabab gearbeitet. Aber ohne das richtige Gerät niert werden.« häufig Fotos von früher an. »Mein Vater«, erzählt er, »wurde um Talk« der Deutschen Welle traf sie auf den damaligen Gouverneur kamen wir nicht an die Leichen heran, die Als wir Hazem auf die Beschwerden der acht Uhr Abends entführt – das war im April 2017. Eine Gruppe Nawfal Al-Aqub. »Er regte sich fürchterlich auf und beschimpfte tief unten in den Trümmern begraben wa- Bewohner hin auf die überall in Wohnge- Der Gouverneur ließ die von IS-Kämpfern stürmte das Haus und forderte ihn auf, Abbitte mich als Lügnerin. Er stritt rundweg ab, dass in Mosul noch Leichen ren.« bieten verstreuten Leichen und Körper- für seine Fehler zu leisten. Sie suchten im ganzen Haus nach seiner in den Straßen liegen würden.« Qlayaat ist eines der ältesten Stadtvier - archäologischen Stätten teile ansprechen, scheint er das Ausmaß SIM-Karte. Ohne Erfolg. Dann nahmen sie ihn mit. Er ist nicht wie- Kurz darauf wurde Husseini zum lokalen Befehlshaber der iraki - tel Mosuls. Hierhin zogen sich die Assyrer herunterspielen zu wollen: »Es gibt keine der aufgetaucht.« schen Armee im Gouvernement Ninive zitiert. »Als er herausfand, nach dem Untergang ihres Reiches im Jahr planieren, um Investoren Leichen im buchstäblichen Sinne mehr Wo ihr Vater ist, wissen Obeida, seine Geschwister und seine Mut- dass wir als Freiwillige mit der Stadtverwaltung und der Gerichts - 612 vor Christi Geburt zurück. 2017 fand – vielmehr Skelette und einzelne Körper- anzulocken ter nicht. Natürlich kennen sie die Gerüchte, dass die irakische Ar- medizin zusammenarbeiten, erklärte er alle Vorwürfe für nichtig.« hier die »letzte Schlacht« statt, wie die teile. Das Fleisch ist inzwischen verwest. mee viele Geiseln des IS in Gefängnisse verlegt hat oder, dass der Aber der Ärger war damit noch nicht vorüber. Zu ihrer Verwunde- Einwohner von Mosul sie nennen. Die ver- Ich glaube, die Bewohner übertreiben ein IS noch immer Gefangene in geheimen Verstecken festhalte. »Wenn rung erfuhr Husseini, dass Aqub ein Gerichtsverfahren gegen sie bliebenen IS-Kämpfer und ihre Familien bisschen. Die verbleibenden Toten zu ber- wir nur wüssten, was mit ihm passiert ist, wäre vieles einfacher«, angestrengt hatte. Das Verfahren zog sich über ein Jahr hin, bevor waren eingeschlossen und konnten nicht gen, ist außerdem ziemlich schwer, bei dem sagt Obeida. »Mein Vater war beliebt in Al-Schahwan. Wenn Sie Journalisten Wind davon bekamen und eine Kampagne starteten, mehr entkommen, als die irakische Armee mit Artillerie feuerte und Grad der Zerstörung. Es ist nicht so einfach, wie die Leute glau- nach Riad, dem Polizisten mit dem weißen Corolla, fragen, wird nie- sodass die Vorwürfe schließlich fallen gelassen wurden. Letztlich die internationale Militär-Koalition aus der Luft Bomben abwarf. ben.« mand ein böses Wort über ihn verlieren.« sprach das Gericht Husseini aus Mangel an Beweisen frei. In ihrem Zurückgeblieben sind Berge von Schutt. Der Zivilschutz konnte Wir verlassen Hazems Büro und treffen in den Straßen der Alt - Nach der Befreiung Mosuls wollte Riads Familie in die alte Nach - Team aus ursprünglich sechs Leuten arbeiten inzwischen 40 junge 500 Leichen bergen, hauptsächlich von Frauen und Kindern, bevor stadt eher zufällig auf Omar Muhammad. Der 35-Jährige beginnt barschaft zurückkehren, um nach ihm zu suchen. »Die Sicherheits- Frauen und Männer aus Mosul mit. die Bergungsarbeiten in der archäologischen Stätte gestoppt wur- gleich, sich aufzuregen. »Die Altstadt ist voller Leichen. Der Ge- kräfte haben es nicht erlaubt. Erst nach sechs Monaten durften wir den. Nawfal Al-Aqub, damals Gouverneur von Niniweh, hatte die stank ist fürchterlich. Und dann breiten sich ja auch Krankheiten in das Viertel. Überall lagen Leichen, viele zerstückelt. Da war es Anordnung gegeben, die Gegend zu planieren, so dass der Boden an aus. Der Zivilschutz steht in der Pflicht, die Toten zu bergen.« kaum möglich, irgendetwas zu finden, das zu meinem Vater gehört Investoren verkauft werden kann. Dampfwalzen und Bulldozer roll- Ein weiterer Passant stimmt ihm zu. »Früher habe ich hier ge - Aus dem Englischen von Moritz Behrendt hat.« Im Zuge ihrer Suche trafen und Obeida seine Brüder auf Sorur ten an und begruben ungezählte Leichen und die reiche Geschich- lebt. Ich würde gerne zurückkommen. Aber wie? Die Behörden ha- Al-Husseini. Die 26-Jährige leitet ein kleines Team, das es sich zur te der Stadt unter dem plattgewalzten Boden. Nach Vorwürfen der ben ein paar Dutzend Leichen geborgen, aber es sind noch so viele Mizar Kemal ist freier Journalist und lebt in Bagdad. Diese Repor- Aufgabe gemacht hat, Leichen aus dem Schutt zu bergen. Sechs Frei- Korruption und der Veruntreuung öffentlicher Gelder wurde Aqub da«, beschwert sich Samed Saleh. »Die Regierung muss schnell tage wurde durch den Candid Journalism Grant gefördert. 52 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 53

ZEITSPRUNG GENERATION 2011 Mittendrin

ANDAUERNDE Abdul Baset Al-Sarout war in allen Phasen des syrischen Aufstands dabei: von friedlichen Demos über den Dschihad bis zu seinem gewaltsamen Tod

PROTESTE VON SAM ALREFAIE

en Hüter der Revolution nannten sie einer Fahne des IS in der Hand. In einem Video-Statement ihn. Als Kind hatte der kleine Baset dementierte der ehemalige Fußballstar, dass er dem IS die aus Homs nur eine Leidenschaft: Treue geschworen habe: Aus Mangel an Unterstützung von Irak Algerien Fußball. Er spielte für Al-Karameh, anderen Gruppen sei er gezwungen gewesen, die um Es- den international erfolgreichsten sens- und Waffenlieferungen zu bitten. Auch die Medien- Vereindes Landes, und wurde als abteilung des IS stritt eine Mitgliedschaft von Sarout und 25. Februar 2011 14. Februar 2011 Torhüter regelmä- seinen Kämpfern ab. Zu spät. Die mit dem Sicherheitsbehörden reagieren mit Gewalt auf Massen- Präsident Abdelaziz Bouteflika kündigt an, den seit 19 Jah - D ßig in die syrische IS verfeindete Nusra-Front, der Al-Qai- proteste im ganzen Land – die größten Demonstrationen ren geltenden Ausnahmezustand aufzuheben. Er reagiert auf Jugendnational- da-Ableger in Syrien, hatte bereits eine finden in der kurdischen Autonomie-Region statt. Mindes- andauernde Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten und mannschaft beru- Belohnung für die Verhaftung von Sa- tens 29 Demonstranten werden getötet. In der Folge tre - Korruption, die von der Polizei zunächst niedergeschlagen fen. Geboren wurde Baset Al-Sarout 1992 rout und seinen Kämpfern ausgesetzt. Es ten drei Gouverneure und ein Bürgermeister zurück. wurden. in Homs als Kind einer vom Golan vertrie- war wohl vor allem Sarouts Popularität, benen Familie. Kurz vor seinem Debüt für die ihn in dieser Zeit schützte. 2019 half 10. Juni 2014 7. Februar 2016 das Herren-Team begann der Aufstand, ihm das auch nicht mehr – Sarout wurde Die Terrororganisation »Islamischer Staat im Irak und in Das Parlament verabschiedet mit großer Mehrheit Verfas- und Sarout schloss sich den friedlichen Syrien« (ISIS) bringt die Millionenstadt Mosul unter ihre sungsänderungen: Sie sehen eine Begrenzung der Amtszeit Protesten an. Dank seines Charismas und Kontrolle. Noch im selben Monat wird ISIS zum IS und ruft des Präsidenten vor und sichern die Presse- und Versamm - seiner melodischen Stimme wurde er mit sein Kalifat aus. Der einflussreiche schiitische Großayatol- lungsfreiheit zu. Außerdem wird die Berber-Sprache Tama- patriotischen Gesängen schnell zu einem lah Ali Al-Sistani ruft zum Widerstand gegen den IS auf. zight offiziell anerkannt. der prominentesten Anführer. Sarouts Ge-

sänge werden heute noch immer gespielt Seine Popularität machte 9. Dezember 2017 10. Februar 2019 – auf Demonstrationen in Syrien und in der Regierungschef Haider Al-Abadi erklärt den IS im Irak für Bouteflika kündigt an, trotz seiner angeschlagenen Gesund- ihn schnell zur Zielscheibe des Diaspora. Seine Popularität brachte ihn Regimes besiegt. An den Kämpfen hatten sich eine internationale heit für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu wollen. Das löst schon 2011 ins Visier des Assad-Regimes: Militärkoalition, das irakische Militär, kurdische Milizen und massive Proteste aus. Hunderttausende Demonstranten for- Die Behörden setzten ein Kopfgeld auf ihn die von Iran unterstützten Volksmobilisierungseinheiten dern den Rücktritt des 82-Jährigen. aus, das Haus seiner Familie wurde bom- beteiligt. bardiert, einer seiner Brüder kam dabei ums Leben. Als das Regime begann, mit 1. Oktober 2019 2. April 2019 scharfer Munition auf die Demonstranten In mehreren Städten starten Massenproteste gegen Kor- Präsident Bouteflika tritt zurück. Der Senatspräsident Abdel- zu schießen, wandten sich viele junger bei Kämpfen nördlich von Hama verletzt ruption, Arbeitslosigkeit und die schlechte Grundversor- kader Bensalah wird Interimspräsident. Im Zuge einer staatli- Syrer dem bewaffneten Widerstand zu, und starb kurz darauf in einem türkischen gung. Sicherheitskräfte und Scharfschützen töten über chen Anti-Korruptions-Kampagne werden mehrere Mitglieder auch Sarout. 2012 gründete er die »Bay- Krankenhaus. Das Assad-Regime feierte 400 Menschen. Ende November kündigt Premier Adil Ab- des alten Regimes verhaftet und vor Gericht gestellt. yada-Märtyrer«, eine Brigade zum Schutz seinen Tod, als ob es der größte Sieg in dul Mahdi seinen Rücktritt an. der von Regimetruppen belagerten diesem Krieg gewesen wäre. »Was willst Viertel von Homs. Mit seinen Kämpfern du tun, wenn all das hier vorbei ist?«, 7. Mai 2020 19. Dezember 2019 schloss sich Sarout zunächst der »Freien wurde er mal gefragt – niemand hätte Nach zwei gescheiterten Versuchen schafft es der dritte Der ehemalige Premierminister Abdelmajid Tebboune gewinnt Syrischen Armee« (FSA) an. Als die FSA sich gewundert, wenn jemand mit seinen Kandidat, Mustafa Al-Kadhimi, eine Regierung zu bilden. die Präsidentschaftswahlen. Weite Teile der Opposition hatten an Boden verlor, blieb Sarout mit seiner Fähigkeiten auch eine politische Füh- Der neue Premier verspricht, auf die Protestbewegung zu- die Wahlen boykottiert, da viele Kandidierende gar nicht erst Truppe nördlich von Homs, wo dschiha- rungsrolle angestrebt hätte. Aber Sarout zugehen. zugelassen worden waren. Die Proteste dauern an. distische Milizen an Einfluss gewannen. antwortete: »Wenn das Regime gestürzt 2014 sorgte ein Foto für Aufregung: Es ist, dann will ich nichts weiter als auf zeigte Sarout auf einem Pick-up-Truck mit dem Bau arbeiten und Fußball spielen.« 54 DOSSIER · AUFARBEITEN DOSSIER · AUFARBEITEN 55

ÄGYPTISCHE SCHULBÜCHER So wählt das Geschichtsbuch 2014/15 die politischen, wirtschaftli - Die Ereignisse vom Sommer 2013 könnten schließlich als Beispiel »für chen und kulturellen Umstände nach dem Krieg vom 6. Oktober 1973 eine der größten Revolutionen der Welt« gelten: »Nachdem Millionen als Einstieg und stellt dann drei Gründe für die Revolution vom 25. gegen die Herrschaft der Muslimbrüder auf die Straße gegangen sind, Januar 2011 vor: erstens, die Verfälschung der Wahlergebnisse im die daran gescheitert waren, den Staat zu regieren, erhörte das Militär November 2010 zugunsten der regierenden Nationaldemokratischen die Aufrufe der Ägypter und die Bitte des Volk um Unterstützung und Ein Umsturz kommt ­ Partei. Zweitens: Der ehemalige Präsident wollte seinem Sohn die übernahm patriotische Verantwortung.« Präsidentschaft Ägyptens vererben, und drittens: Der Ausnahmezu- stand wurde immer wieder verlängert. Und dann geht es um die Ereignisse der Revolution und die Rolle selten allein Eine Revolution soll Sicherheit für die Bürger der Muslimbrüder und anderer islamistischer Bewegungen dabei. Be- Revolutionen sind etwas Positives, lehren ägyptische Schulbücher. Wenn sie tont wird, wie sie die Revolution für ihre eigene Agenda ausgenutzt gewährleisten und die Jugend vor Fehlleitung hätten. Die Regierungszeit der Muslimbrüder sei durch Scheitern und schützen, heißt es im Nationalkundebuch denn Ordnung stiften und sich den »richtigen« Zielen verschreiben Autokratie gekennzeichnet gewesen, die »zweite Revolution« vom 30. Juni 2013 sei als Widerstand der Ägypter gegen die Muslimbrüder zu verstehen. Besonders hervorgehoben wird dabei die Rolle des spä- VON RIEM SPIELHAUS UND AHMAD SHEHATA teren Präsidenten Abdel-Fattah Al-Sisi und des Militärs, Ägypten vor Gründe für die Revolution 2013 sind laut Schulbuch das Scheitern der den Muslimbrüdern zu retten und das Land »auf den richtigen Weg Regierung, Sicherheit zu gewährleisten und das Chaos zu kontrollie- zur Demokratie und Wohlstand« zu führen. ren, sowie der Missbrauch staatlicher Ressourcen und eine Verfas- Das Schulbuch für Nationalkunde in der Version von 2015/16 erklärt sungsänderung, die dem Präsidenten mehr Macht verschafft. über drei Seiten die Werte von Revolutionen. Dabei wird immer wie- Seit dem Schuljahr 2017/18 fasst der erheblich gekürzte Abschnitt rst verschwand die Glorifizierung von tiert werden, lässt sich kaum nachvollziehen. Aber allein die Verän- der betont, was Revolution nicht bedeute: Chaos, Verantwortungs- im Nationalkundebuch auf zwei Seiten unterschiedliche politische Er- Mubarak, dann kamen die Revolutionen. derung der Darstellung der Geschehnisse und wie sie ihren Weg in losigkeit, Anarchie, sie bedeute »nicht, dass alles erlaubt ist oder eignisse unter der Überschrift »Ägyptische Revolutionen« zusammen: Auch wenn das ägyptische Bildungsmi- die staatlich autorisierten Bildungsmedien gefunden haben, ist be- der Einzelne ohne Respekt vor Religion oder Moral tut, was er will«. Volksaufstände gegen die britische Kolonialmacht von 1919, den Mi- nisterium die Schulbücher jährlich für merkenswert. Werteverfall, Korruption, Untätigkeit, Gleichgültigkeit und Teilnahms- litärputsch der Freien Offiziere 1952 gegen König Faruk, den Sturz das neue Schuljahr überarbeiten lässt, losigkeit – all dies könne nicht unter Revolution verstanden werden. von Hosni Mubarak im Nachgang der Massendemonstrationen auf dauerte es eine Weile, bis die Ereignisse In diesem Zusammenhang erklärt das Schulbuch, Kreativität müsse dem Tahrir-Platz 2011 sowie den Sturz von Muhammad Mursi nach des Jahres 2011 in die Schulbücher ge- durch eine Institution gesteuert werden, »die definiert, was Kreati- Demonstrationen am 30. Juni 2013. Die Ereignisse unterscheiden sich langten. vität ist, denn alles, was von Religion, Gesetz oder Traditionen ab- vor allem in Bezug auf die Rolle der ägyptischen Bevölkerung und Vor 2011 war in den Geschichtsbüchern weicht, wie unanständige Lieder oder unzüchtige Filme, die Lust we- die politischen Folgen. Die letzten drei sind durch einen politischen mindestens ein Teilkapitel dem Präsiden- E cken, könne nicht als Kreativität zählen«. Revolutionen hätten nicht Umsturz geprägt, ob sie alle Revolutionen darstellten, hängt wohl von ten Hosni Mubarak und seiner Führung das Ziel, einen radikalen Wandel zum Schlechten herbeizuführen, der Definition ab. der Luftwaffe im Oktoberkrieg 1973 ge- Chaos zu verbreiten, Bürger mit Waffen und Gewalt einzuschüchtern, widmet. Seit dem Schuljahr 2013/14 ist Drogen zu verbreiten und die Jugend fehlzuleiten. dieser Abschnitt nicht mehr zu finden. Ein Jahr später wurden die Ge- Der Text wertet Revolutionen also als grundsätzlich positive, die schichtsbücher der 12. Klasse um ein Kapitel zur »Revolution vom 25. Gesellschaft, ihre Moral, Wirtschaft und Produktivität stabilisierende, Die Umstürze auf drei Seiten – 2017 wurde im Januar 2011 und der Revolution des 30. Juni 2013« erweitert. Insge- notwendige Kraft und ordnet sie als legitime Form der politischen Geschichtsbuch der Rotstift angesetzt samt 15 Seiten stellten »beide Revolutionen« und ihren Kontext dar. Partizipation ein. Die friedlichen Proteste hätten dem Land Bewunde- Das Schulbuch für das Fach »Tarbiyya Wataniyya«, das sich am rung in der ganzen Welt verschafft. Gleichzeitig definiert das Schul- besten mit Nationalkunde übersetzen ließe, behandelt in der Ausga- buch jedoch viele Aspekte, mit denen der Aufstand 2011 in den ägyp- be für das Schuljahr 2015/16 ebenfalls »die beiden Revolutionen«. tischen Medien in Verbindung gebracht wurde, als nicht revolutionär Allen Versionen, den ausführlichen und den gekürzten, ist gemein, Der Einband zeigt Bilder mit dem Tahrir-Platz voller Demonstranten, und lehnt sie ab. dass sie den Begriff »Arabischer Frühling« nicht benutzen. Auch der Demonstrierende mit ägyptischen Fahnen und die Waage der Justitia »Vielmehr soll die Revolution einen radikalen Wandel zum Besse - arabische Kontext, also Volksaufstände, politische Umstürze oder De- in den Farben der ägyptischen Flagge. Neun Seiten widmet das Buch ren bewirken, Sicherheit für die Bürger gewährleisten, die Jugend vor monstrationen in anderen arabischen Ländern, werden nicht erwähnt. dem Kapitel »Revolution als politische Partizipation«, das zunächst Fehlleitung schützen und die Korruption in all ihren Bedeutungen und In den Schulbüchern ist durchgehend von den »zwei ägyptischen Re- den Begriff Revolution definiert und sich ausführlich mit »Werten der Formen beseitigen.« Gerade mit dem Verweis auf Drogenkonsum, volutionen« (2011 und 2013) die Rede. Auch die Gründe, die zu den Revolution« sowie Zielen, Ursachen und Folgen »der zwei Revolutio- Plünderungen oder den Einfluss einer »westlichen Agenda« greift das Demonstrationen führten, beschränken sich auf den nationalen Kon- nen« befasst. Schulbuch klischeehaft in den ägyptischen Nachrichten geäußerte text. Die bedeutende Rolle des Militärs für das Gelingen der Revoluti- Dass die Debatten um die politische Einordnung der Ereignisse Vorwürfe gegenüber den Demonstranten vom Tahrir auf. onen heben alle – auch die aktuellsten Schulbücher für 2020 – hervor. von 2011 und 2013 damit nicht abgeschlossen waren, zeigte sich zwei Zur Revolution vom 25. Januar 2011 führte laut Nationalkundebuch Jahre später. In den Schulbüchern für 2017/18 wurden die jeweiligen 2015/16 neben der im Geschichtsbuch erwähnten Fälschung der Par- Abschnitte in beiden Fächern signifikant gekürzt. Im Nationalkunde- lamentswahlen 2010 und dem dauerhaften Ausnahmezustand die buch umfasst das Kapitel »Revolution als politische Partizipation« nun Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie der wirtschaftliche und zwei anstelle von neun Seiten. Das Geschichtsbuch kürzt die Revoluti- gesellschaftliche Verfall: inklusive Niedergang des Bildungssystems, Prof. Dr. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an onen von 15 auf 3 Seiten. Preiserhöhungen, Zunahme von Armut und Jugendarbeitslosigkeit, der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung Schulbücher sind institutionalisierte und kanonisch verdichtete Polarisierung der Gesellschaft und Verbreitung von Korruption in »Wissen im Umbruch« am Georg-Eckert-Institut, dem Leibniz-Insti- Quellen, die als Massenmedien die nächste Generation erreichen und Verwaltung und Politik. Außerdem werden die technologische Ent- tut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. prägen sollen. Ob und wie die verbreiteten Narrative der Vergangen- wicklung und die »Informationsrevolution« als Kontext der Aufstände Ahmad Shehata promoviert an der Universität Leipzig zu ägypti- heit von Lehrenden und Lernenden aufgegriffen und als wahr akzep - Das Titelbild des ägyptischen Schulbuchs für Nationalkunde für das Jahr 2015/2016. betont. schen und deutschen Schulbüchern.

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ILLUSTRATION: AYA TAREK ILLUSTRATION: TAREK AYA 58 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 59

JOURNALISMUS IN ÄGYPTEN ährend ich versuche, mal wieder einen Artikel darüber zu schrei- ben, warum wir heute noch als Journalisten in Ägypten arbei- ten, erreicht mich die Nachricht vom Tod David Graebers. In sei- Wir sind nem Aktivismus träumte er von einer Arbeiterbewegung, die der Idee den Garaus macht, dass Ar- W beit selbst einen Wert habe und dass dieser Wert vom Leiden Schmuggler kommen müsse. Graeber kämpf- te gegen »sinnlose« Formen von Arbeit, die nur die kapitalistische Maschine antreiben, die nur den unternehmerischen Leistungen und den Wünschen der Konsumenten dienen. Sein poetisches An- liegen war Arbeit mit Muße, seine radikale Forderung eine Neudefi- nition der Arbeit als Form der Fürsorge für andere. Sein Tod ist ein großer Verlust. Er gehörte zu denen, die es wagten, sich Dinge vorzustellen und diese Vorstellungen in Worte zu formen – als Dozent, in der politischen Arbeit, beim Schreiben. Ihm gelang es, das Unpopuläre, das Unerwünschte und das Ungedachte hervor- zubringen. Man muss nur die geistigen Muskeln anspannen, das Herz weiten und sich dafür öffnen. Für so etwas in der Art arbeite ich seit 2002 als Journalistin. Mit dem notwendigen sozialen Kapital im Hintergrund gehöre ich zu den Pri- Lina Attalah, geboren 1983, ist Chefredakteu- vilegierten, die es sich zum Beruf machen konnten, Vorstellungen zu rin der ägyptischen Online-Zeitung Mada Masr. hegen und die Fantasie anderer anzuregen – mein Vehikel dafür wa- Mehrfach wurden Attalah und ihre Kollegen fest- ren der Journalismus und die Zeit. genommen. Seit 2017 blockiert die ägyptische Re- Damals, so um die Jahrtausendwende, hatten wir Aktivisten, wir gierung im Inland den Zugang zur Internetseite Techies, wir Menschenrechtler, wir Journalisten und so viele ande- von Mada Masr. re es mit einem Autoritarismus zu tun, dessen Risse größer wurden – durch transnationale Widerstandsbewegungen und eine verjüng- te lokale Opposition, die sich über ideologische Grenzen und soziale bei, sie zu vergrößern. Ich stelle mir eine Journalistin gerne als Dop- Herkünfte hinweg versammelte. pelagentin vor, ihre Übertragungsleistung als Form des Schmuggels. Zu dieser Zeit nahm die Idee eines unabhängigen Journalismus in Politik wird von einem Wirkungskreis in den anderen geschmuggelt, Ägypten Form an, genauso wie eine neu belebte Zivilgesellschaft. Als und damit Möglichkeiten sowie unpopuläre, unerwünschte und un- ob meine Generation durch ein Fingerschnipsen aus einem Jahrzehnt gedachte Ideen. Und das in einem Umfeld, das es erschwert, solche erweckt wurde, das wir im Schlaf verbracht zu scheinen haben oder Ideen zu verbreiten. vielleicht eher in der kapitalistischen Stabilität nach Ende des Kalten Dieser Akt des Schmuggelns beinhaltet auch eine Form der Fürsor- Krieges. ge – und daher hoffe ich, dass unsere Arbeit keine sinnlose war. Wir Anfang der 2000er Jahre: Der Campus meiner Universität füllt sich schrieben und schrieben und schrieben in diesen zwei Jahrzehnten. mit couragierten Studierenden, die protestieren. Heute gehen wir ge- Wir forderten die Machtstrukturen heraus, aber auch unabhängi- gen die Globalisierung auf die Straße, morgen, um unsere Solidarität ge Stimmen, auch unsere eigenen. Wir forderten die Öffentlichkeit mit der Zweiten Intifada in Palästina auszudrücken. Danach mar- heraus und wollten gerne glauben, dass wirklich jeder durch diesen schieren wir zum Tahrir-Platz, um gegen den Irak-Krieg zu demons- kommunikativen Prozess informiert wurde und dass wir die »Gegen- trieren. Mit einem Mal ist es 2005, und ich sehe gelbe Ballons am räume« erweiterten, diese Räume an den Rändern, in denen wir uns Himmel. Sie steigen auf von einem Protest vor der Journalisten-Ge- bewegten. werkschaft in der Kairoer Innenstadt: »Nieder mit Mubarak« steht Heute sind die Risse kleiner und die Ränder schmaler. Über sie und auf ihnen geschrieben. Der Augenblick hatte etwas Magisches: Nie aus ihnen zu berichten, ist kostspieliger geworden. Das ganze Ge- hatten wir uns vorstellen können, dass der heimliche Wunsch nach schäft mit dem Schmuggel gefährlicher Gedanken scheint seine exis- Kritische Journalisten landen in Ägypten im Gefängnis. dem Sturz des Herrschers so sichtbar sein könnte. Und die Magie ließ tenziellen Stützen verloren zu haben. Oder bei Mada Masr. Chefredakteurin Lina Attalah weiß, warum sich sogar reproduzieren: Wir druckten die Story in der Tageszeitung, Während ich das schreibe, sitzen Hunderte Aktivisten, Journalis- für die ich arbeitete. Wir dokumentierten die Wirklichkeit im Entste- ten, Autoren, Künstler, Professoren und Politiker im Gefängnis. Ei- VON LINA ATTALAH hen und ergründeten dabei die Vorstellung des Wandels, die sich in nige verbüßen Haftstrafen, andere sind noch in Untersuchungshaft. unseren Wünschen verbarg. Festgenommen unter den Vorwänden der »Zugehörigkeit zu einer Der unabhängige Journalismus machte damals der Allgemeinheit Terror-Gruppe« oder der »Verbreitung von Falschinformationen«, Aus dem Englischen von Moritz Behrendt

Foto: Tania/Contrasto/laif die Risse im Autoritarismus verständlich, gleichzeitig trug er dazu um nur einige zu nennen. 60 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 61

Sie haben Artikel geschrieben, vielleicht einen Facebook-Post, oder Wir wollten »unruhig bleiben«, um weiterhin antworten zu können, GENERATION 2011 am Telefon darüber gesprochen, sich offiziell als Oppositionelle an um uns, wie Donna Haraway es sagt, »entlang erfinderischer Ver- Wahlen zu beteilgen. Zehn Jahre nach der Revolution von 2011 und bindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu zwanzig Jahre nach dieser organischen Öffnung der politischen Sphä- entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und re, in der sich unabhängige Medien mit anderen zivilgesellschaftli- miteinander gut zu leben und zu sterben«. Oder, wie Brecht es halten Mutter Tahrir chen Organisationen einnisten konnten, ist die freie Meinungsäuße- würde: Wir entschieden uns, zu singen in düsteren Zeiten. rung aufs Heftigste unerwünscht. Mada Masr mag als Arbeit des Kummers erscheinen, als Leiden Dabei existiert doch dieses unsichtbare Publikum, das sich an die in der düsteren Zeit, aber für uns und unsere Umgebung ist es eine Seit Jahrzehnten kämpft Laila Soueif für ein besseres Ägypten – vielfältigen Narrative aus der Zeit der Öffnung gewöhnt hatte und nun jegliche bedeutsame Debatte entbehren muss – in Abwesenheit einer die Regime von Sadat bis Sisi rächten sich dafür an ihrer Familie öffentlichen, einer bürgerlichen Politik. Wir operieren in einem politischen Kontext, in dem alles, was nur ansatzweise nach Öffnung riecht, aktiv zurückgedreht wird – alles, VON MAGDOLIN HARMINA was im Aufstand von 2011 und dem Jahrzehnt davor erreicht wurde. In einem Kontext, in dem die Instrumente des Staates dafür eingesetzt werden: das Gesetz, die Sicherheitsbehörden, die Gesetzgeber und die Heute sind die Risse kleiner Bürokratie. Und doch ist dies kein Moment des politischen Schlafzu- und die Ränder schmaler m April 2020 wartet Laila Soueif, eine der Erfahrungen ihres Mannes gründete sie im Jahr 2003 standes, sondern ein Moment der Umkehr. Frau mit zerzausten grauen Haaren, den »Ägyptischen Verein gegen Folter«. Und in solchen Momenten bleiben Gegensätze dauerhaft präsent, auf einer Bordsteinkante vor dem »Nieder mit Hosni Mubarak«, einer der Slogans der ägypti- haben wir ständig die andere Option vor Augen – sei es als Objekt der Tora-Gefängnis in Kairo. Dort sitzt schen Revolution, wurde bereits 2004 bei Protesten vor der Erinnerung oder als Vorstellung für die Zukunft. Möglicherweise re- ihr ältester Sohn Alaa Abd Al-Fattah Staatsanwaltschaft skandiert, organisiert von der »Ägyp- habilitieren wir uns so von den Gefahren sinnloser Arbeit, nicht im ein. Auf ihrem Schoß eine Serviette tischen Bewegung für Wandel« – besser bekannt als »Ke- Sinn, der kapitalistischen Maschine zu dienen, sondern im Sinn, das kathartische­ Arbeit – wir mildern die Angst, zum Schweigen ge - mit den Worten: »Ich will eine Ant- faya«, Arabisch für »Genug«. Soueif war eine der 300 In- Verlangen zu verlieren, unfähig zur Fürsorge zu sein, während wir bracht zu werden. Ja, wir singen über die düsteren Zeiten, aber un- I wort« – seit Monaten hatte sie nichts tellektuellen, die sich dieser Bürgerinitiative anschlossen. Es dennoch irgendwie unserem Job nachgehen. ausweichlich beleben wir damit unser Verlangen, andere Möglich- von Alaa gehört. Obwohl sie zusam- war der Beginn des Endes von Mubarak. Als unabhängige Journalisten im Jahr 2020 sehen wir die Umkehr keiten zu erkunden. mengeschlagen wurde, blieb Soueif Der Aktivismus ergriff auch Soueifs Familie, ihre Kinder als Möglichkeit, gerade weil sie sich vom Gegensatz ernährt. Wir sit- Eingebettet in dieses Bewusstsein und den Wunsch, unruhig zu sitzen – bis sie einen Brief von ihrem wurden zu bekannten Streitern für soziale Gerechtigkeit. Ihr zen irgendwo zwischen der Vergangenheit als Referenzmöglichkeit bleiben, liegt das Verständnis von Fürsorge, um das es David Grae- Sohn erhielt, der bestätigte, dass er gesund und am Leben Ältester, Alaa Abd Al-Fattah, wurde 2011 zur Protestikone, (ohne dabei nostalgisch zu werden) und der Zukunft als Architektur ber ging: Fürsorge für uns selbst, Fürsorge für die Gemeinschaft, die war. Wenig später verhafteten die Sicherheitsbehörden ihre war aber als Pionier der Blogszene schon seit 2005 bekannt. einer weiteren, noch vorzustellenden Möglichkeit. eine kleine Zeitung um sich herum bilden kann, und Fürsorge für das Tochter Sanaa. Der Vorwurf: Terrorismus und Im September 2019 rief er zu Protesten ge- Seit 2013 arbeite ich für Mada Masr, ein Medium, das ich mit ei- Recht auf die Verbreitung gefährlicher Ideen. Unterhalb des Hautlei- Verbreitung von Fake News. gen das Sisi-Regime auf – und sitzt seitdem nigen anderen Journalisten aus einer Laune heraus gegründet habe. dens, das die Arbeit für ein kampfeslustiges Medium in Ägypten heute Seit über vier Jahrzehnten kämpft die ägyp- im Gefängnis. Mona Seif, die Zweitälteste, Diese Laune entstand in einem politischen Augenblick in diesem nach sich ziehen mag, finden sich sowohl Heilung als auch Fürsorge. tische Aktivistin Laila Soueif für Gerech- Und das Verlangen. tigkeit in Ägypten – und für die Freiheit di- Ein Freund hat mich kürzlich auf Rebecca Solnits Worte über Hoff- verser Mitglieder ihrer eigenen Familie, die nung stoßen lassen: Dass Hoffnung in der Ungewissheit liegt und dass jahrelang hinter Gittern verbrachten. Soueif Ungewissheit die Möglichkeit des Handelns schafft. Denn wenn wir wurde 1956 in London geboren und wuchs mit dem Ungewissen operieren, sind wir in der Lage zu beeinflussen, in einer Akademikerfamilie auf: Ihr Vater war was am Ende entsteht. Solnit unterscheidet Hoffnung von Optimis- Psychologe und übersetzte die Werke von Der Aktivismus ergriff auch mus (u nd Pessi m ismus), dessen Or t d ie G ew issheit ist, wa s u ns w iede- Sigmund Freud ins Arabische, während ihre Soueifs Familie, ihre Kinder wurden zu bekannten Streitern Um die Jahrhundertwende begann rum vom Handeln abhalten kann. Mutter als Professorin für Englische Literatur für soziale Gerechtigkeit der Autoritarismus, Risse zu bekommen Durch eine andere Freundin bin ich auf einen Online-Kurs des nige- Naguib Mahfouz ins Englische übertrug. Lai- rianischen Philosophen Bayo Akomolafe gestoßen: »Wir werden mit la studierte Mathematik und wurde 1990 als den Bergen tanzen«. Akomolafe spricht von einem Pfad, »der nichts Professorin an die Universität Kairo berufen. mit Sieg oder Niederlage zu tun hat«. Weiter sagt er: »Es gibt Dinge, Schon früh begann ihr Leben als Aktivistin: die wir tun müssen, Worte, die wir sagen müssen, Gedanken, die wir Als 1972 ein Protestmarsch gegen Sadats Is- denken müssen, die überhaupt nicht aussehen wie die Bilder von Er- rael-Politik an ihrer Schule vorbeizog, stürm- Jahr, der sich wie der Beginn des Untergangs anfühlte und der die folg, die so nachhaltig Besitz ergriffen haben von unserer Vorstellung te die 16-Jährige aus dem Klassenraum und ist Mitgründerin der Initiative »Kein Militär- Angst mit sich brachte, nichts tun zu können, nicht in der Lage zu von Gerechtigkeit.« schloss sich den Demonstrationen an. Sechs gericht für Zivilisten«. Ihre Schwester Sanaa sein, ihm irgendetwas entgegenzusetzen, ihm zu widerstehen oder Genau dafür mache ich heute meinen Job: für die Dinge, Worte, Ge- Jahre später heiratete sie den Anwalt und Seif gründete die Zeitung Gornal, die über ihm zu entfliehen. d a n ken , d ie w i r t u n , s a gen u nd den ken mü s s en , oh ne d a s s ic h m ic h- d a Kommunisten Ahmed Seif Al-Islam. den Arabischen Frühling und seine Folgen Es war ein Moment, in dem Fürsorge für andere nicht wirklich ziel- mit quäle, was aus uns wird. Ich mache meinen Job für die Leute und Während des Notstands, den Präsident Mu- berichtet. Laila Soueif ließ sich nicht ein- führend war – weder auf diskursiver noch auf praktischer Ebene. Es Gemeinschaften, die sich gegenseitig hegen mit Schlüsseln, Signalen, barak 1983 nach Sadats Ermordung ausge- schüchtern, trotz allem, was mehrere ägyp- war ein Moment der Desorientierung. Wir standen mitten im Sturm Referenzen, durch die wir unsere geistigen Muskeln anspannen und rufen hatte, wurde Seif Al-Islam verhaftet tische Regierungen ihr und ihrer Familie und wussten nicht, wohin. Wir entschieden uns stattdessen, über ihn unsere Herzen weiten können. In den extremen Momenten der Un- und gefoltert. Später wurde er wegen ille- angetan haben. Gemeinsam mit ihrer Toch- zu berichten. Wir wollten nicht beschäftigungslos sein. Wir wollten gewissheit und im Glauben an Revolutionen, Überraschungen und galen Waffenbesitzes zu fünf Jahren Haft ter Mona schloss sie sich der #MeToo-Be- nicht einsam auf unserer politischen Depression sitzen bleiben. Wir Transformationen, die aus der Unvorhersehbarkeit entstehen, sind verurteilt. In dieser Zeit musste Soueif ihre wegung im Land an und unterstützt Opfer wollten uns nicht zurückziehen. wir unausweichlich bereit für das Unmögliche. Bild: Laila Soueif mit ihrer Tochter Mona beiden Kinder alleine großziehen. Im Licht sexueller Gewalt. 62 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 63

DER ARABISCHE FRÜHLING IN DER LITERATUR entziehen, weder tagsüber noch nachts. Sie reagieren verzwei- 2013 erschien der dystopische Roman »Das Tor« von Basma felt: Der junge Arzt Nassim hat sich sogar seinen Namen und Abdelaziz, in dem alle Menschen durch das »Tor« müssen, um die seine Anschrift auf den Rücken tätowieren lassen, damit seine nötigen Genehmigungen zu erhalten. Das Leben spielt sich in der Leiche identifiziert werden kann, sollte er Opfer eines Bomben- Warteschlange ab. Yahya, die Hauptperson, steht 114 Tage an und angriffs werden. trifft eine Vielzahl von Leuten, durch deren Geschichten die Auto- Zur Angst gesellen sich psychische Störungen: In ihrem noch rin die politische Realität Ägyptens erzählt, ohne das Land beim nicht ins Deutsche übersetzten Roman »Al-Masha« schreibt Sa - Namen zu nennen. mar Yazbek über ein gleichnamiges kleines Mädchen mit geis- Wenn wir über arabische Literatur seit 2011 sprechen, können Der Tod macht tiger Behinderung und einer Sprachstörung, das in Ost-Ghouta wir auch jene Schriftsteller nicht außer Acht lassen, die inzwischen im Ausland leben. Ich selbst schreibe diesen Artikel wohl genau aufgrund meines Lebens im Exil – wäre ich heute noch in Syrien, wäre ich möglicherweise nicht darum gebeten worden. Eine Science-Fiction-Dystopie als Die Anzahl arabischer Autorinnen und Autoren im Exil ist Annäherung an das heutige Ägypten groß – allein in Deutschland sind es mehr als 150. Viele von ih- große Literatur nen fanden einen Weg, auch hier weiterzuschreiben. Projekte wie »Weiterschreiben.jetzt« ermöglicht es insbesondere jenen jungen Männern und Frauen, die als Kinder der arabischen Revolutionen bezeichnet werden können, mit Poesie und Prosa auf Deutsch zu nahe Damaskus den Einsatz von chemischen Waffen gegen die experimentieren. Angst, psychische Störungen und der Krieg. Die syrische und ägyptische Literatur Bevölkerung erlebt. Der Roman »Ain Al-Sharq« (»Das Auge des arbeiten die Ereignisse seit dem Arabischen Frühling auf Ostens«) des Schriftstellers Ibrahim Al-Jabeen basiert hingegen auf einer seltenen Krankheit namens »hyperthymestisches Syn- drom«. Betroffene verfügen über ein übermäßig ausgeprägtes VON RAMY AL- ASHEQ­ Gedächtnis, mit dem sie ganze Episoden ihrer Vergangenheit äußerst detailreich nacherleben können und müssen – Erinne- rungen, die einfach nicht aufhören. Die am häufigsten wiederkehrende Vokabel in den syrischen Büchern der letzten zehn Jahre ist – da bin ich mir fast sicher, ie Revolutionen, die gemeinhin »Arabischer dass die Revolutionen auch in vielen Jahren noch Gegenstand der Tod. Der Tod, den die Syrer auf surreale Weise kennen lern- Frühling« genannt werden, waren der kol- literarischer Werke sein werden – auf Arabisch und in anderen ten, als sie durch Kugelhagel, Luftschläge und Landminen star- lektive Versuch, eine Stimme zu finden, Sprachen. So erschien im Frühjahr 2019 der Roman »Die Näch- ben, als sie unter Folter, durch Hunger, Erfrieren in Zelten oder Grundrechte zu erlangen, die andernorts te auf ihrer Seite« (2015) der deutschen Autorin Annika Reich Ertrinken im Meer ums Leben kamen. Im Roman »Der Tod ist als selbstverständlich und von Geburt an in arabischer Übersetzung. Die Geschichte beschäftigt sich ein mühseliges Geschäft« von Khalid Khalifa begeben sich drei gegeben betrachtet werden. mit der ägyptischen Revolution und den Ereignissen auf dem Söhne auf eine Reise durch das Land, um ihren Vater in seinem Dies spiegelt sich auch in der Kultur wider: Tahrir-Platz­ in Kairo. Heimatdorf zu begraben. Die Reise wird zu einer Irrfahrt durch D Betonen möchte ich dabei vor allem den Die gesamte arabischsprachige Literatur seit 2011 in Kürze die Checkpoints des geplagten Syriens und die Seele der drei Aufstieg vieler junger Autorinnen und Au- angemessen zu würdigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, aber Brüder. toren, die sich als Kinder der Revolutionen der Blick auf einige Bücher syrischer und ägyptischer Schrift- betrachten. Literatur ermöglichte ihnen, die Welt um sie herum zu steller ermöglicht es, ein Schlaglicht auf einige Entwicklungen lesen. Nicht allen war Erfolg escheinigt, aber die schiere Menge zu werfen. junger Literaten ist bemerkenswert. Eines der wichtigsten Merkmale der arabischsprachigen Li - Die Angst war Mitglied Zumal ein Konflikt zwischen literarischen Generationen ent - teratur in der Zeit vor 2011 war die Angst. Sie war Mitglied ei- In gewisser Weise sind wir besiegte Gesellschaften – und von stand: Auf der einen Seite die Alten, die Etablierten, auf der an- ner jeden Familie, die unter autokratischer Herrschaft lebte. Die einer jeden Familie Menschen, die irrationale Zustände durchleben, kann kein rationa- deren jene neue Generation, die versucht, mit jeglichen Normen Ängste waren komplex und miteinander verflochten: die Angst les Handeln erwartet werden. Dieses Gefühl der Niederlage, der zu brechen. Oft ausgezeichnet und zunehmend auch übersetzt in des Volkes vor der Staatsgewalt; die Angst des Volkes vor den Ohnmacht, dominiert nach wie vor, und viele Schriftsteller sind andere Sprachen: Vor zehn Jahren hatte noch kaum jemand von allgegenwärtigen Spitzeln des Regimes; die Angst der Frau vor sich schlicht selbst die nächsten auf der Suche nach dem eige- uns gehört, und das internationale Interesse beschränkte sich auf dem Mann; die Angst der Kinder vor den Vätern; die Angst der Khalifas Erzählung basiert auf der Idee, dass der liebgewonne- nen Erfolg. Darüber hinaus leidet die Exilliteratur auch unter den die etablierte Orientalistik, die auf ein teils explizites, teils stum- Menschen vor Gott. ne Körper, die Leiche des Vaters, in Kriegszeiten zur Last wird, Erwartungen der Europäer, die von Tragödie, Schmerz und per- mes Verständnis zwischen »westlichen« Denkweisen und religiö- Ein beliebtes arabisches Sprichwort, das verwendet wird, irgendwann wollen alle sie nur noch loswerden. Der Autor lebt sönlichen Erfahrungen lesen wollen. Wer diese Erwartungen nicht sen oder despotischen Regimen basierte. Diese wiederum waren wenn Menschen lachen, besagt: »Gott beschützt uns vor dem immer noch in Damaskus, und das, obwohl Khalifa bereits vom erfüllt, fällt durch das Raster. sich einig darin, ein eindimensionales Bild vielfältiger und wider- Bösen des Gelächters«. Selbst wenn sie lachen, heißt dies, haben Regime und seinen Agenten angegriffen wurde. Wenn wir vom spruchsvoller Gesellschaften zu zeichnen. die Menschen Angst. Ganze Generationen wuchsen flüsternd auf Tod sprechen, dürfen wir auch all die vielen Literaten nicht ver- Der »Arabische Frühling« war Ausgangspunkt für neue Ge - und wiederholten stets: »Senk die Stimme, die Wände haben gessen, die von diktatorischen Regimen wie dem syrischen ver- schichten und Erzählungen, er brachte aber auch ein neues Be - Ohren.« Später, als die Häuser und Städte zerstört waren, wur- haftet oder getötet wurden, und auch nicht jene, die das Regime Aus dem Arabischen von Michael Nuding wusstsein mit sich – voller Träume und Erwartungen, ebenso voller den die Räume knapper. Die Wände hatten keine Ohren mehr unterstützen oder bewusst seine Verbrechen verschwiegen. In Frustrationen. Kritiker werden später sagen, dass die Ereignisse – es gab überhaupt keine Wände mehr! Ägypten, wo die Menschen erst den Fall des Despoten Mubarak Ramy al-Asheq ist ein syrisch-palästinensischer Dichter. Er ist von 2011 in einigen Werken voreilig verarbeitet und in andere Im Roman »Die Verängstigten« der syrischen Schriftstellerin und dann die Rückkehr eines noch brutaleren Diktators namens Chefredakteur des arabisch-deutschen Kulturjournals Fann hineingedrängt wurden, doch das ist normal. Ich bin überzeugt, Dima Wannous kann sich keiner der Protagonisten der Angst Sisi erlebten, wurde nie aufgehört, zu publizieren. Magazin. 64 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 65

STADTPLANUNG IM LIBANON anche Erinnerungen sind den.« Mohammed Ghotmeh spricht über Statik, darüber, so fantastisch, dass sie fast wie man gerissenen Sandsteinwänden durch Injektionen, wie Science­-Fiction klin- Nähte oder Ummantelungen mit hochmodernen Baustof- gen. So ist es mit dem, was fen wieder Stabilität geben kann: »Dabei sind alle diese Leon Telvesian in seiner Materialien importiert.« Im Libanon, dessen Währung Beiruter Kindheit erlebte: seit Jahresbeginn kollabiert ist, verteuert das den Wie- »Ich bin in Mar Mikha- deraufbau massiv. el aufgewachsen. Damals Die Detonation hat nach Schätzungen der Weltbank konnten wir ganz einfach physische Schäden von bis zu 4,6 Milliarden Dollar verur- M durch die kleine Straßen sacht, 300.000 Menschen obdachlos gemacht und 8.000 zum Meer laufen und in ei- Gebäude beschädigt. Die alten Häuser – aus der osmani- ner der Buchten von Karan- schen Zeit, der Epoche des französischen Mandats und tina schwimmen gehen.« Telvesian ist heute 70 Jahre alt der Moderne bis in die 1970er­ Jahre – waren besonders und trägt einen schlohweißen Bart. betroffen, weil sie oft nicht über Betonstruktur oder tie- Wenn der Architekt und Stadtplaner von der Möglich- fer reichende Fundamente verfügen. Plan B keit spricht, Beiruts Wohnviertel und das Meer wieder »Die große Frage lautet jetzt, wie die Regierung reagieren Wie das Beirut von morgen aussehen müsste miteinander zu verbinden, wird«, sagt Fadlo Dagher. Der klingt das nach Utopie. Denn Architekt ist einer der Initiato- die Hauptstadt des Libanons ren der »Beirut Heritage Initi- SALBEI UND WEISSDORN, STEINEICHE, ist durch und durch zubeto- ative«. Mit der städtischen Bau ­ VON THORE SCHRÖDER AHORN UND KIEFER SOLLEN IM BEIRUTER niert, eingemauert und der Os- und vor allem Abrisspolitik, die STADTWALD BLÜHEN ten der Metropole durch eine prinzipiell dem Kapital Vortritt Schnellstraße vom Mittelmeer gewährt, kennt er sich aus. »Wir abgeschnitten. Um Achsen für arbeiten seit 25 Jahren für die Fußgänger oder Radfahrer neu oder wieder entstehen zu Bewahrung unseres kulturellen Erbes«, sagt sein Part- lassen, müsste man erst mal die Abrissbirne schwingen. ner Abdul Halim Jaber. Seit dem Ende des Bürgerkriegs Doch vielleicht ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt da- kämpfen die beiden für einen neuen Masterplan für Bei- für. Am 4. August hat eine gewaltige Explosion im Hafen rut. Und für die Aufnahme von noch mehr Objekten in die weite Teile der Stadt schwer verwüstet. Die Katastrophe, Liste denkmalgeschützter Gebäude. »Zumindest das Be- die wie so viele Tragödien im Zedernland auf kriminelle wusstsein der Leute ist in der Zwischenzeit gewachsen«, Nachlässigkeit und Korruption zurückzuführen ist, hatte sagt Dagher. zumindest einen positiven Nebeneffekt: In den besonders Nun müsse verhindert werden, dass weitere seelenlose stark betroffenen Stadtvierteln – neben Mar Mikhael und Türme den Blick auf das Mittelmeer versperren und die Karantina auch Gemmayze, Aschrafiye und Geitawi – ka- Durchlüftung von dort verhindern. In den vergangenen men Freiwillige zusammen. Jahren erlebte Beirut einen Wildwuchs in die Höhe, er- Organisationen vernetzten sich, darunter viele NGOs, klärt Jaber: »Man konnte sich das Recht für immer höhe- die erst im Herbst 2019, bei der Thawra, dem libanesi- re Gebäude legal erkaufen. Ein Handel mit Geschossflä- schen Massenaufstand gegen chen. Da gab es kein Limit.« Als die politische Kaste, entstan- Nebeneffekt wurden viele der den waren. Nicht nur die Liba- DIE STADT DES DURCHEINANDERS, DES nach dem Bürgerkrieg verblie- nesen schauen nun mitfühlend WILDWUCHSES UND DES VERFALLS IST ZU- benen Altbauten umstellt oder und mit wachsendem Interesse GLEICH EINE STADT DER SEHR STRUKTU- zerstört. auf den Wiederaufbau. RIERT DENKENDEN INTERVENTIONISTEN Einiges wäre schon gewon- »Dabei zu helfen, ist eine Ver- nen, wenn die Beirutis wieder pflichtung für uns«, sagt Mo- einen Gemeinsinn für ihre hammed Ghotmeh. Der 31-­Jährige ist Ingenieur, Bruder Stadt und ihre Viertel entwickelten, weiß Tarek Ammar. der berühmten Architektin Lina Ghotmeh und führt seit Wie auch Leon Telvesian engagiert er sich bei »Beirut Ma- einigen Jahren den väterlichen Baubetrieb mit 70 Ange- dinati«, einer NGO­cum­Partei, für den gesellschaftlichen stellten. Der Traum eines Beiruts von morgen handelt und baulichen Wandel. »Das größte Problem bisher war, auch davon, die reiche Vergangenheit zu bewahren – wo es dass die Menschen nicht mit ihren Rechten vertraut sind. noch geht. Ghotmeh ist Teil einer Nachbarschaftsinitiati- Sie haben sich daran gewöhnt, dass sich die Stadtverwal- ve der »American University of Beirut« (AUB), die mit der tung nicht um sie kümmert.« Mithilfe einer Nachbar- NGO Nusaned kooperiert. schaftsinitiative, bei der in jedem Haus ein Repräsentant Seine Firma bringt sich pro bono als Dienstleister mit für die Belange der Bewohner gesucht wird, soll sich das viel Expertise beim Wiederaufbau ein: »Am Anfang steht ändern. Erste Erfolge sind bereits zu verzeichnen. »In die Bewertung der Schäden, dann die strukturelle Analy- Mar Mikhael ist es durch das Nachtleben in den letzten Fotos: Thore Schröder se, dann wird über die möglichen Maßnahmen entschie- Jahren sehr laut geworden. Nach unserer Intervention 66 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 67

haben diese Pflanzen gut zehn Kilometer außerhalb der Stadt gefunden, wo das Flussbett noch nicht aus Beton be- steht.« Es gehe darum, das alte Ökosystem wiederherzu- stellen. »Damit man hier eines Tages keine Häuser mehr sieht vor lauter Bäumen.« Auch Selim Al­-Kadi möchte die Fülle der Möglichkei- ten begreifen und aufzeigen. Der Architekturprofessor von der AUB hat am 1. Januar 2020 die dreidimensionale Karte »Beirut 001« online gestellt. Dazu liefen er und sein Team die Stadt ab und werteten Daten von Google Earth aus. »Eine Karte ist ein Denkwerkzeug«, sagt Al-­Kadi. Er wolle damit vor allem den Progressiven, den Revolutionären auf die Sprünge helfen, erzählt der Architekt. Sein Studio ist in einem fensterlosen ehemaligen Lager in West-­Beiruts Der Baubetrieb von Mohammed Ghotmeh hilft pro bono beim Hamra-­Distrikt untergebracht. An den Wänden hängen Wiederaufbau der zerstörten Stadtviertel.

haben sich die Anwohner erfolgreich dagegen gewehrt«, berichtet Ammar. Einen Sinn für das Gemeinsame entwickelt der Mensch vor allem dort, wo Räume des Zusammenkommens ge- schaffen werden, weiß Adib Dada. Diesen sozialen Aspekt der Stadtgestaltung greift er mit seiner Initiative »Beirut RiverLESS« auf: Er möchte natürliche Areale schaffen, die

sowohl ein Gemeinschaftsgefühl als auch ein gesteigertes Foto: Sina Schweikle Umweltbewusstsein schaffen. Mit seinem nachhaltigen Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 zerstörte viele Häuser und Straßenzüge in der Stadt. Die Aufräumarbeiten sind mühsam. Architekturbüro initiierte er im Stadtteil Sin El-Fil 2019 die Pflanzung eines Stadtwalds: 2.000 Setzlinge – darun- ter Salbei und Weißdorn, Steineiche, Ahorn und Kiefer – sollen nach drei Jahren Bewässerung so weit sein, dass sie autark weiterwachsen. »VON HIER AUS SOLL MAN EINES TAGES Der Hain im Knick zwischen Schnellstraßenzubringern VOR LAUTER BÄUMEN KEINE HÄUSER MEHR und dem stinkenden Beirut­-Fluss (der inzwischen ein Ka- SEHEN« nal ist) soll den Menschen aus der Nachbarschaft ein biss- Adib Dada möchte, dass man an dieser Stelle die Häuser vor lau - chen Heimat sein und aufzeigen, was Schönes möglich ist, ter Bäumen nicht mehr sieht. wenn die Bewohner nur wollen. Tatsächlich stammen alle Arten im Stadtwald ganz aus der Nähe, erklärt Dada: »Wir mehrere überdimensionierte Stadtkarten. »Beirut 001« eine Initiative zur Rückerlangung des Areals, das für den ist als Open-­Source-Tool sowohl auf Al­-Kadis Website als Highway vorgesehen war, der von Aschrafiye aus quer auf auch bei »Daleel ­Al-­Thawra«, dem »Wegweiser der Revo- die Hafenschnellstraße zulaufen sollte. Der AUB­-Plan lution«, veröffentlicht. sieht einen Park an gleicher Stelle vor. Nun liegt es an den Aktivisten, den virtuellen Stadtraum »Hier können enteignete Flächen wieder in den Besitz weiter zu füllen. Werden Aktivisten die 2.000 illegal in der Bürger übergehen«, führt Professorin Mona Harb vom der Stadt installierten Überwachungskameras einzeich- Urban Lab aus. »Wir ermutigen junge Aktivisten bereits, nen, um bessere Orte für ihren Protest zu finden? Wer- das Gelände zu besetzen. Die Gelegenheit ist gerade güns- den Umweltschützer all die Generatoren lokalisieren und tig.« Urbanisten und Architekten, sagt Mona Harb, seien vielleicht ein System entwickeln, in dem sie unter Ein- besonders dann aktiv, »wenn Katastrophen zuschlagen, rechnung der vorherrschenden Windrichtung neue, für in Krisen, im Krieg oder in deren Nachgang«. Das Wieder- »Beirut 001« ist eine dreidimensionale Karte der Stadt. Der AUB-Professor die Bevölkerung schonendere Betriebszeiten bestimmen? zusammenfügen künstlich voneinander getrennter Nach- Al-Kadi stellt sie als Open-Source-Tool zur Verfügung. Beirut, die Stadt des Durcheinanders, des Wildwuchses barschaften – konkret die Überwindung der Teilung zwi- und des Verfalls, ist zugleich eine Stadt der sehr struktu- schen Ost-Beiruter Wohnvierteln und Meer – ist nur eine riert denkenden Interventionisten. Eine führende Rolle von vielen Herausforderungen, für die in der Stadt längst nehmen dabei die Mitarbeiter des Beirut Urban Labs an ausreichend Pläne kursieren. Letztlich können alle Räu- Thore Schröder kommt aus Hamburg, war lange in Berlin der AUB ein. Gerade arbeiten sie an Aufbaustrategien für me wiedergewonnen und neuinterpretiert werden. »Aber und lebt nun als freier Journalist im Nahen Osten. Nach vier Fadlo Dagher (rechts) und Abdul Halim Jaber kämpfen seit Jahrzehnten zerstörte Viertel, die über das Bauliche hinaus die Sozi- am Ende«, sagt Mona Harb, »stoßen wir immer gegen eine Jahren in Jerusalem, Tel Aviv und Amman lebt er derzeit im für einen Masterplan für Beirut. alstrukturen bewahren sollen. Parallel verfolgen sie auch Mauer, denn es braucht für alles ja auch einen Staat«. Libanon. 68 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 69

KÜNSTLERIN AYA TAREK »Ich fühlte mich wie in einem Computerspiel«

Exklusiv für dieses Dossier hat Aya Tarek eine Serie von Illustrationen ent- worfen. Hier zeigt die ägyptische Street-Art-Künstlerin, wie sich ihr Blick auf den Arabischen Frühling verändert hat

INTERVIEW: MICHAEL NUDING

zenith: Eine Ihrer Spezialitäten sind riesi- lerinnen und Künstler holten ihre Werke aus den ge Bilder an Hauswänden. Was bewegt Sie Galerien und brachten sie auf die Straßen. Auch ich dazu, Kunst auf die Straße zu bringen? nutze die neuen Freiheiten. Aya Tarek: Während meines Studiums verfolgte Welche Gedanken haben Sie bei den Illustrati- ich fasziniert, wie eine immer größere Szene in onen für dieses Heft geleitet? Europa und den USA mit Straßenkunst experi- Ich habe versucht, die letzten zehn Jahre so darzu- mentierte – Banksy zum Beispiel wurde damals stellen, wie ich sie mit meinen Augen gesehen habe richtig groß. Auch ich wollte mich an Kunstfor- – mit meinem eigenen expressiven Blick. 2011 war men probieren, die nicht im Lehrplan standen. ich Anfang 20 und noch voller Idealismus, deshalb Ich spielte mit allem Möglichen, aber was die prägten mich diese Demonstrationen und all die Menschen wirklich erreichte und bewegte, war damit verbundenen Versprechen. Ich erlebte die- Street-Art. Die positiven Rückmeldungen waren se Zeit wie ein Computerspiel, irgendwie surreal. überwältigend. Ich fühlte mich, als wenn ich durchs Internet sur- Die Menschen waren hungrig nach Kunst fen würde – durch das »alte Internet«, bevor alles im öffentlichen Raum. Wie erklären Sie sich in den Sozialen Medien stattfand. Vor allem meine das? bewusst gewählten Farbkonzepte möchte ich be- Die meisten Menschen kennen nur ein Unter- tonen, aber sonst lass ich meine Illustrationen am haltungsmedium: das Fernsehen. Kaum jemand liebsten selbst sprechen. geht ins Theater oder besucht Museen. Obwohl vieles kostenlos ist, haben die Menschen das Ge- Aya Tarek, geboren 1989 in Alexandria, ge- hört zu den bekanntesten Straßenkünstle- fühl, keinen Zugang zu solchen formellen Orten rinnen Ägyptens. Sie hat an der Universität zu haben. Die Kunst in den Straßen durchbrach von Alexandria Kunst und Malerei studiert. die alltägliche Routine vieler Menschen und gab Bereits mit 18 Jahren begann sie, als Grafik- ihnen die Möglichkeit, die Gedanken schweifen designerin, Straßenkünstlerin und Malerin zu lassen. zu arbeiten. Inzwischen experimentiert sie Im Jahr 2011 wurde Straßenkunst zum gro- auch mit Virtueller Realität, Soundinstalla- tionen und Videokunst. ßen Medium der Revolution. Wie haben Sie dieses Jahr erlebt? Am 25. Januar wollten wir eigentlich erstmals Aya Tareks Illustrationen ziehen sich einen Film über die ägyptische Straßenkunst durch das gesamte Dossier. Den Auftakt macht »BOO!« (S. 2) mit einer geköpften und Untergrundszene zeigen – doch die Vorstel- Gaddafi-Statue.­ »NOoooo« (S. 22) beschäf - lung fiel aus, stattdessen kam die Szene in den tigt sich mit sexueller Belästigung, während nächsten Monaten selbst aus dem Untergrund. »PLOP!« (S. 42) auf die Flucht über das Mit- telmeer aufmerksam macht. Darauf folgen Die Revolution erweckte die Menschen zum Le- »POW!« (S. 56) und »BAM!« (S. 68), die sich ben, alle wussten: »Wenn du etwas zu sagen hast, auf die Proteste im Irak seit 2019 und die dann jetzt!« Alle begannen, sich mitzuteilen und Explosion im Hafen von Beirut beziehen. Den Abschluss des Dossiers bildet »NOW!« sich auf ihre eigene Art auszudrücken. Künst- (S. 82) über die Proteste im Sudan. ILLUSTRATION: TAREK AYA 70 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 71

PARLAMENTARISMUS IN TUNESIEN ZEITSPRUNG Keine Partei, ÜBERGANG kein Problem UND Tunesien als politisches Labor. Der neue Präsident Kais Saied könnte mit sei- nen radikalen Ideen das politische System auf den Kopf stellen ÜBERLEBEN

VON HENRIK MEYER Sudan Libanon st Zuneigung eine Frage der Gewohnheit? Zumin - In unterschiedlicher Tiefenschärfe spricht Saied seit Jahren davon, dest für die tunesische Demokratie scheint das nicht dass Parteien ein Relikt der Vergangenheit und längst »dem Tode ge- 30. Januar 2011 29. August 2015 zuzutreffen. Seit Zine El-Abidine Ben Ali 2011 vom weiht« seien. Ihm schwebt ein Modell direkter Volksdemokratie vor, In der Hauptstadt Khartum finden Demonstrationen für Mehr als 100.000 Libanesen protestieren gegen die Unfähig- Hof gejagt wurde, hatten die Tunesier reichlich Ge- das gerade unter Jugendlichen auf große Zustimmung stößt. Nicht einen politischen Wandel statt. Die Polizei schlägt die Pro- keit der politischen Führung, die Probleme der Abfallwirt- legenheit, sich an die parlamentarische Demokratie mehr Parteien, sondern Einzelpersonen sollten auf allen Ebenen direkt I teste nieder, zahlreiche Teilnehmer werden verhaftet. Im schaft zu lösen. Wochenlang stapelt sich der Müll in den Stra- zu gewöhnen. Sechs faire und freie Wahlen auf na- gewählt werden und persönlich und unmittelbar ihre Wähler vertre- Sommer verkündet der Südsudan seine Unabhängigkeit. ßen Beiruts. tionaler und lokaler Ebene – Tunesien gilt heute zurecht als konsoli- ten. Basisdemokratie, Volksentscheide und an der Spitze des Staates dierte, funktionierende Demokratie. Echte Zuneigung für die hart er- der Präsident. Gänzlich neu sind solche Gedanken in der Region nicht 1. Februar 2014 17. Oktober 2019 kämpfte Parteiendemokratie mag sich aber noch nicht einstellen. Im – sie erinnern stark an die libysche Volksdschamahiriya von Muammar Die Regierung lässt die Oppositionszeitung Stimme des Um die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen, kündigt die Gegenteil: Die Zustimmung zu Parteien und Parlamentarismus sinkt. Al-Gaddafi, wenngleich Saied der religiös-mystische Impetus fehlt. Volkes unter Zensurauflagen zu. Sie reagiert mit Zuge- Regierung neue Steuern an – auch auf Telefonate über Whats - In Umfragen geben nur noch neun Prozent der Befragten an, Par- Nun wäre es ein Leichtes, dieses Modell mit einem müden Lächeln als ständnissen, nachdem die Proteste wegen gestiegener app. Es folgen massive Proteste, die sich auch gegen das kon - teien zu vertrauen – beim Parlament sind es 15 Prozent. Besonders unpraktikabel abzutun und auf die zweifellos vorhandene Gefahr des Benzinpreise seit Monaten nicht nachgelassen hatten. fessionalistische System, Korruption und steigende Lebens- junge Menschen tragen ihre Ablehnung offen zur Schau. Dabei waren Populismus zu verweisen. Zu unterschätzen ist die Tragweite von Sai- haltungskosten richten. nicht wenige von ihnen 2010 auf den Straßen, um für Demokratie zu eds Ideen aber nicht. Zum einen verweist Saieds Erfolg auf eine tiefe, 6. April 2019 demonstrieren. Wie konnte es so schnell zur Entfremdung kommen? weltweite Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie. Zum Hunderttausende Menschen demonstrieren nach einem 19. Oktober 2019 Einerseits ist es offensichtlich, dass die tunesische Demokratie wich- anderen sollte niemand die Augen vor der erstaunlichen Tatsache Aufruf des Gewerkschaftsverbandes in Khartum gegen Premierminister Saad Hariri kündigt seinen Rücktritt an – als tige Kernforderungen der Revolution bis heute nicht erfüllt hat. Ob verschließen, dass ein emeritierter Juraprofessor heute mehr junge das Regime – seit Ende 2018 hatten die Proteste an Schärfe Folge der Proteste und der anhaltenden Staatsfinanzkrise. Es Arbeits- und Perspektivlosigkeit oder soziale und regionale Dispari- Leute mobilisieren kann als alle 226 in Tunesien registrierte Parteien zugenommen. Am 11. April 2019 putscht das Militär gegen dauert drei Monate, bevor es den Vertretern der politischen tät: Viele bewerten ihre sozioökonomische Lage heute schlechter als zusammen. Die Diskussion über ein Referendum zur Verfassungsre- Präsident Omar Al-Baschir und setzt ihn unter Hausarrest. Blöcke gelingt, eine neue Regierung zu bilden. vor der Revolution. Jedes politische System, das solche Ergebnisse form wird kommen, zumal Saied für dieses Vorhaben den mächtigen produziert, hätte mit Legitimitätsproblemen zu kämpfen. Gewerkschaftsverband UGTT an seiner Seite weiß. Ein solches Plebis- 3. Juni 2019 7. März 2020 Hinzu kommt aber noch etwas, das sich am ehesten als generelles Un - zit würde für Saied sicher positiv ausfallen. Tunesiens Parteien haben Sicherheitskräfte und dem Militär nahestehende Milizen Premierminister Hassan Diab kündigt an, dass sein Land fällige wohlsein mit dem politischen Prozess bezeichnen lässt. Nach Jahren noch immer nicht begriffen, dass sie in existentieller Gefahr schwe- verüben ein Massaker in einem Protestcamp in Khartum. Anleihen von mehr als 1 Milliarde Euro nicht bedienen kann. des politischen Stillstands ist der demokratische Entscheidungsfin- ben. Gelingt es ihnen nicht bald, spürbare Erfolge zu verzeichnen, Mehr als 120 Menschen werden getötet, viele Frauen ver- Das Land befindet sich in einer tiefen Wirtschafts- und Finanz- dungsprozess weitgehend entzaubert. Statt als Vertreter des Volks- wird ihr Ansehen weiter sinken. Um den radikalen Ideen Saieds den gewaltigt. Die zivile Protestbewegung reagiert mit einem krise. Der Verfalls des libanesischen Pfundes treibt viele Men- willens werden Parteien als selbstreferentielle Machtapparate wahrge- Wind aus den Segeln zu nehmen, bedarf es ebenso radikaler Maßnah - Generalstreik. schen in die Armut. nommen, für viele ein Inbegriff von Korruption und Vetternwirtschaft. men. Der regelmäßige Gang zur Wahlurne reicht offensichtlich nicht, Auf diesem Boden gedeihen Ideen, deren Umsetzung nicht weniger um ein angemessenes Niveau an Teilhabe zu gewährleisten. Insbe- 17. Juli 2019 4. August 2020 revolutionäre Folgen hätte als der Umsturz von 2011. Verkörpert wer- sondere sozioökonomische Partizipation durch Umverteilung und das Das Militär und die zivile Protestbewegung einigen sich auf Im Hafen von Beirut explodieren mehr als 2.700 Tonnen Am - den sie vor allem von Kais Saied, seit Oktober 2019 Präsident Tunesi- Aufbrechen von Kartellstrukturen sind notwendig, um der parlamen- eine Machtteilung in einer dreijährigen Übergangszeit. Da- moniumnitrat. Mindestens 220 Menschen werden getötet, ens. Der Verfassungsrechtler gewann als unabhängiger Kandidat für tarischen Demokratie eine Zukunftschance zu bieten. nach soll es freie, demokratische Wahlen geben. rund 300.000 verlieren ihre Wohnungen. Viele Libanesen viele Beobachter unerwartet deutlich die Wahlen und ist heute der sehen die Explosion als Beleg für die Dysfunktionalität ihres mit großem Abstand populärste Politiker des Landes. Saied verdankt Staates. seinen Wahlerfolg zwei ineinandergreifenden Botschaften. Erstens: bedingungsloser und durch persönlichen Habitus vorgelebter Kampf gegen Korruption; zweitens: radikale Reform des politischen Systems Henrik Meyer ist Politik- und Islamwissenschaftler. Seit 2015 und Abschaffung der Parteiendemokratie. leitet er das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Tunis. 72 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 73

DER IRAKISCHE FRÜHLING hievten nicht gewählte Politiker an die Macht und bevorzugten einige grundlegende Bedürfnisse bleiben aufgrund fehlender Gesundheits-, religiöse und ethnische Gemeinschaften, während andere ganz aus- Elektrizitäts- oder Wasserversorgung unbefriedigt. Die hohe Ar- geschlossen blieben – besonders den Minderheiten der Jesiden, As- beitslosigkeit sowie eine aufgeblasene Bürokratie, in der nur durch syrer, Mandäer und Ahl-El-Haqq wurden die Teilhabe am politischen Schmiergelder etwas zu erreichen ist, heizen den öffentlichen Zorn Prozess verwehrt. weiter an. Iraks Regierungen seit 2003 betrieben Geschichtsrevisionismus und Zwar hat das Land in den letzten Jahren regelmäßig Proteste erlebt, veränderten Lehrbücher, um die frühere Ba’ath-Regierung aus der aber die Aufstände im Oktober 2019 waren von einem anderen Ka - Frühling im Oktober öffentlichen Erinnerung zu tilgen. Letztlich trat das Gegenteil des ge- liber. Die Proteste in den sunnitisch dominierten Provinzen im Wes- wünschten Effekts ein: Viele Jugendliche wissen so gut wie nichts ten und Norden wurden zwar recht schnell durch die Verhaftung von über die Verbrechen des alten Staates. Zudem dominieren parteina- Aktivisten eingedämmt. Doch im primär schiitischen Zentralirak und he Medienhäuser den öffentlichen Diskurs und leisten dem Narrativ Süden des Landes waren die Menschen besser organisiert und hatten eines ewigen konfessionellen Krieges Vorschub. mehr Protesterfahrung. Tausende füllten die Plätze und blockierten Der Krieg gegen den IS schweißte die irakische Gesellschaft über die Straßen. In den folgenden Monaten töteten die Sicherheitskräfte Konfessionen hinweg für eine Weile zusammen. Politiker beraumten sowie paramilitärische Scharfschützen mehr als 700 Demonstranten, zwar Untersuchungen zum Fall Mosuls an, Ergebnisse wurden aber über 20.000 wurden verletzt, und bis heute sind viele Aktivisten spur- nie öffentlich gemacht, und ein transparenter Prozess zur Rechen- los verschwunden. schaftspflicht blieb aus. Da realisierten viele, dass ihr eigentlicher Hinter diesen Zahlen stecken die Geschichten von Menschen, die in Feind nicht der IS ist – es sind jene Politiker, die die Gesellschaft be- einer Mischung aus Hilflosigkeit und Entschlossenheit auf die Straße wusst spalten. Bis heute wird der Öffentlichkeit die ganze Story zum gegangen sind. »Ich hole mir meine Rechte zurück« und »Wir wollen Krieg gegen den IS vorenthalten. eine Heimat«, riefen sie auf den Demonstrationen. Die Parolen um- schreiben die kollektive Empfindung und spiegeln die tiefe soziale und politische Entfremdung der Gesellschaft – die Iraker wollen sich endlich zugehörig und sicher fühlen können. Die Proteste brachten Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammen und kreierten so eine neues Gefühl von Einheit. Auch Frauen zeigten sich das erste DIE SAMEN DER OKTOBERREVOLUTION Mal seit Jahrzehnten wieder als Anführerinnen, mobilisierten sogar in ­WURDEN SCHON LANGE VOR 2019 GEPFLANZT den konservativsten Städten des Landes. Dafür erfuhren sie auch von männlichen Demonstranten Unterstützung: »Ihr seid Revolution!«. Sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure gingen mit gan- zer Härte gegen die Demonstrationen vor – sie setzten nicht nur auf Alarm- und Leuchtbomben, sondern auch auf Rufmordkampagnen in 2019 gingen die Iraker zu Hunderttausenden auf die Straßen. Über ein Volk, den Sozialen Medien. Die Regierung stellte zeitweise das Internet ab, Versöhnung kann nicht ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit um den Kontakt unter den Aktivisten und mit der Außenwelt zu kap- das sich endlich sicher und zugehörig fühlen will und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch eine Übergangs- pen. Daraufhin verwendeten die Protestierenden Radios zur Kom- justiz erreicht werden. Doch genau das wird den Irakern verwehrt. munikation. Aktivisten in den nicht betroffenen kurdischen Gebieten Die höchsten Ebenen des Justizsystems sind politisiert, während sprangen ein, um die Informationslücken zu schließen und über Men- VON RUBA ALI AL-HASSANI niedrige Instanzen eingeschüchtert werden, wodurch der »Rechts- schenrechtsverletzungen zu berichten. Diese Bewegung hat gezeigt, staat« zum Repressionsinstrument verkommt. Jene tribalen Struktu- wie sehr die Iraker gesehen und gehört werden wollen. ren, die das Sicherheitsvakuum im Nachgang der US-Invasion füllten, Daraufhin versuchten die politischen Parteien und Milizen, die Pro- implementieren dabei schlicht ihre eigenen Regelwerke. teste zu kapern und einen Keil zwischen die Menschen auf den Stra- Während der Regierungszeit von Premierminister Nuri Al-Maliki ßen zu treiben. Bewaffnete mischten sich unauffällig in die Proteste, m Irak bringt der Frühling keine Hoffnung. Die US-Besatzung im Irak legte keinen Fokus auf Friedenssicherung (2006–2014) wurde die Staatsgewalt eingesetzt, um konfessionelle um Gewalt anzuzetteln. Die Menschen auf den Straßen waren sich Frühjahr und Sommermonate bedeuten oder den Aufbau institutioneller Kapazitäten, sondern ließ sich beim Spaltungen in der Gesellschaft weiter zu vertiefen. Die Diskriminie- der repressiven Taktiken jedoch bewusst und ließen sich auch nicht sengende Hitze. Erst der Herbst bringt Wiederaufbau des Landes von ökonomischen Imperativen leiten. Das rung der Sunniten, die durch das Dogma der Entba’athifizierung legi- von Politikern beeindrucken, die sich opportunistisch auf ihre Seite Erleichterung, indem er nicht nur die Luft, State-Building ohne Verständnis für die Komplexitäten des Landes timiert wurde, spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung des IS. schlagen wollten. Jede Ermordung eines Aktivisten wurde als Mord­ I sondern auch den Zorn der Menschen führte zu einer radikalen Neuordnung der Gesellschaft. Der anschließende Krieg militarisierte die Gesellschaft weiter. Einige anschlag auf alle gesehen, der Geburtstag eines gefallenen Aktivis- über mangelnden Strom für Klimaanlagen Insbesondere die Auflösung der Armee und des Gesundheitssys- der in dieser Zeit entstandenen Milizen kämpfen heute als erweiterter ten als Geburtsstunde der Revolution gefeiert. abkühlt. Im Oktober 2019 erlebte der Irak tems unter dem Mantel der Entba’athifizierung führte schon früh zur Arm der irakischen Armee und gedeihen als Hybrid-Akteure in den Obwohl die Pandemie eine Protestpause erzwang, gehen weiterhin jedoch genau das Gegenteil: ein Anschwellen öffentlicher Wut, das Desintegration von Staat und Gesellschaft. Alle Bürger mit einer no- Grauzonen zwischen Staat und Gesellschaft. Manchen gelang nach viele Menschen auf die Straßen – auch wenn Aktivisten von paramili- zur Oktoberrevolution und einem Frühling des kollektiven Bewusst- minellen Zugehörigkeit zur Ba’ath-Partei, zuvor eine Notwendigkeit den Wahlen von 2016 sogar der Einzug ins Parlament. Doch gleich- tärischen Gruppen mit dem Tode bedroht und ermordet wurden. Die seins führte. Irakerinnen und Iraker gingen auf die Straße, um für jene auf dem Arbeitsmarkt, wurden plötzlich ökonomisch, rechtlich und zeitig agieren sie entgegen staatlicher Interessen, indem sie politi- Kultur der Angst kehrt zurück, doch für die Demonstranten gilt: »Wir Rechte und Repräsentationsmöglichkeiten zu kämpfen, die ihnen seit gesellschaftlich marginalisiert und mit den eigenen Unterdrückern sche Gegner erpressen, einschüchtern, oder ermorden. haben nichts mehr zu verlieren.« Die Proteste beweisen, dass die Ira- der Invasion von 2003 verweigert werden. gleichgesetzt. Unterdessen sind alle Ebenen des Staatsapparates von Korruption ker dem Tod nicht das letzte Wort überlassen wollen. Saddam Hussein säte Angst und Misstrauen in die irakische Gesell - Die Aussicht auf Geld und Macht brachte auch Nachbarn wie Iran durchsetzt. Von faulen Verträgen mit inexistenten Firmen über die schaft, indem er Menschen dazu zwang, sich gegenseitig auszuspi- auf den Plan, die ebenfalls eine Rolle in der Bildung des undemo- Veruntreuung öffentlicher Gelder bis hin zu Geldwäsche und Erpres- Ruba Ali Al-Hassani ist Rechtssoziologin am Tahrir Institute for Middle onieren. Er führte einen psychologischen Krieg gegen seine eigene kratischen, konfessionellen Systems spielten, das sich seither durch sung – die politische Elite im Irak hat es inzwischen auf Platz 162 East Policy und promoviert an der Osgoode Hall Law School im kana - Bevölkerung, der zur Entfremdung zwischen Menschen und Staat Korruption und ausländische Kredite über Wasser hält. Dadurch wur- des Korruptionsindexes von Transparency International geschafft. dischen Toronto. Sie beschäftigt sich mit sozialer Gerechtigkeit, dem führte. de die ethnokonfessionelle Diskriminierung institutionalisiert. Quoten Währenddessen verarmt ein immer größerer Teil der Bevölkerung, Irak, sozialen Bewegungen und sozialer Kontrolle.

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MEDIENLANDSCHAFT IN ALGERIEN »Die Algorithmen der sozialen Netzwerke funktionieren wie ein Vergrößerungsglas. Wer eine bestimmte Art von Inhalten anschaut, bekommt Ähnliches angeboten. Das kann zur einer Art Abkopplung von der Realität führen«, meint Riad Ait Aoudia, Chef der Kommuni- kationsagentur MediAlgeriA. »Das führt bei manchen zu Überreak- tionen, sie lassen sich von der Blogosphäre blenden und tragen oft Bilder, Bots und unwissentlich dazu bei, dass sich Inhalte viral verbreiten.« Die Wirkungen dieser in den Sozialen Medien kursierenden »Infor - mationen« muss also stets mitgedacht werden. Wie viele Personen werden erreicht? Wie hoch wird ihre Glaubwürdigkeit von den Rezi- pienten eingeschätzt? Verändert sich deren Wahrnehmung oder auch Bouteflika ihr Entscheidungsverhalten? Wie viele Menschen schauen sich die In- halte einfach aus Freude an rhetorischen Gefechten oder aus Neugier auf Anzüglichkeiten an? Algeriens etablierte Medien haben den Aufstand gegen Bouteflikas Dauer- Aoudia hält es für wichtig, auf die Werkzeuge zu schauen, mit denen herrschaft nicht kommen sehen. Wie ein merkwürdiger Mix aus Aktivisten die Reichweite digitaler Informationen gemessen wird. »In dieser Hin-

Foto: Daniel Gerlach sicht ist der algerische Markt unterentwickelt. Meiner Kenntnis nach und Influencern die Propagandamaschine des Regimes entlarvte verfügen nur die Sicherheitsbehörden und einige Marketingfirmen Die Aufrufe zu den Demonstrationen wurden fast ausschließlich über über die entsprechende Technologie, also die Möglichkeit, zu mes- die sozialen Medien verbreitet. Zeitungen und Fernsehsender duckten sen, welche Rendite ihnen ihre Aktionen bringen.« sich weg. Auch wenn die Wirkmacht digitaler Information nur schwer ein - VON LYAS HALLAS zuschätzen ist, hatten manche Inhalte zweifellos massiven Einfluss: Schließlich wurden die Demonstrationsaufrufe primär über die Sozia- len Medien verbreitet. Hat die staatliche Propaganda schlicht ihren Einfluss verloren, weil die Verantwortlichen die Mechanismen der Sozialen Medien nicht m 10. August 2020 verurteilte ein Der Niedergang der algerischen Presse hat handfeste Gründe: Sin - verstehen? »Die Jungen glauben nicht mehr an politische Dogmatik. Gericht in Sidi M’Hamed in der kende Werbeeinnahmen und die gezielte Steuerung staatlicher Sub- Anders als viele Ältere haben sie organisierte Parteiarbeit im Unter- Hauptstadt Algier den Journalisten ventionen ließen die klassischen Medien seit gut einem Jahrzehnt Mit dem Strafrecht gegen grund nie kennengelernt«, analysiert Nacer Djabi und beobachtet die Entstehung einer neuen politischen Kultur. »Sie legen mehr Wert auf Khaled Drarni zu drei Jahren Haft – verarmen. Einige Zeitungen mit Meinungsmacht wie Le Soir d’Algérie, Memes, GIFs und dem 40-Jährigen Leiter der Website El Watan, Liberté oder auch El Khabar verpassten daher den digitalen Pluralität, auf den Dialog. Sie haben weniger Angst, schon gar nicht Casbah Tribune wurden »Anstiftung Turn. Facebook-Kommentare vor der Repression des Regimes«, meint der Soziologe von der Uni- zu einer unbewaffneten Versamm- Dadurch entstand ein Freiraum, den neue Akteure nutzten: »Nach - versität Algier. lung« und »Angriff auf die nationale richten, die von staatlichen Sendern und etablierten privaten Zeitun- Es bleibt ein Paradox: Zum einen tut das Regime so, als hätten die Einheit« vorgeworfen. Es war die gen verheimlicht werden, kursieren im Internet. Das diskreditiert die sozialen Netzwerke keinerlei Relevanz, zum anderen zögert es nicht, höchste Strafe, die jemals gegen klassischen Medien«, sagt Said Djaffar, der bereits seit 40 Jahren für Der Verlust des Informationsmonopols der klassischen Medien setz- die sozialen Netzwerke selbst zu nutzen, um Oppositionelle zu dis- einen Journalisten in Algerien aus- algerische und ausländische Medien arbeitet. »Die Zahl derjenigen, te jedoch früher ein. Gerüchte gab es schon immer. Weil es schwierig kreditieren und interne Konflikte zu regeln. Ganze Armeen von In- A ternettrollen verpesten das Netz und bedrängen Dissidenten und all gesprochen wurde – auch wenn die die sich heute über gedruckte Zeitungen informieren, ist nicht beson- war, bestimmte Themen anzusprechen, haben die Algerier die Pro- Haftzeit in der Berufung im Septem- ders groß. Das ist nicht zu vergleichen mit den 1990er Jahren, als die paganda mit Graffiti an Hauswänden oder schlüpfrigen Witzen um- diejenigen, die der offiziellen Linie widersprechen. ber auf zwei Jahre gemindert wur- Zeitungen den politischen Diskurs belebten.« gangen. Vor allem die Fußballstadien waren immer ein Ort der freien »Das Internet hat den Selbsterhaltungstrieb des Regimes noch ge - de. Das Urteil löste Aufruhr und Bestürzung aus. Drarni hatte gerade Das Regime versucht, gegen die digitale Gegenöffentlichkeit vor - Meinungsäußerung, gepaart mit ein paar zünftigen Schimpfwörtern. stärkt«, sagt Djaffar. So würden etwa immer häufiger zwielichtige über eine Demonstration gegen die Regierung berichtet, als er im zugehen – unter anderem mit dem Strafrecht: Zahlreiche Aktivisten Als 1990 der damalige Präsident Chadli Benjedid dem algerischen Influencer auftauchen, die Regierungspositionen verteidigen. »Auch März 2020 festgenommen wurde. Eigentlich rechtfertigte nichts seine landeten wegen Facebook-Kommentaren im Gefängnis. Aber wie Nationalteam den Pokal für den Sieg des Afrika-Cups überreichte, wenn das nicht seine Absicht ist, diskreditiert sich das Regime da- Verurteilung. Warum also wurde er so hart bestraft? funktioniert diese Gegenöffentlichkeit? Wie konnte es ihr gelingen, wurde er mit Slogans der islamistischen Heilsfront (FIS) empfangen. durch selber und untergräbt die Propaganda. Denn mit dem Versuch, Drarni hat mehr als 100.000 Follower auf Twitter und gibt viel auf eine Propagandamaschine herauszufordern, hinter der mehrere Fern- Und ab 2017 besangen die Ultras von USM Algier höhnisch die Ver- zu spalten, begibt es sich auf dünnes Eis.« seine Unabhängigkeit. Dissidenten wie ihn juristisch zu verfolgen, sehsender und fast alle Zeitungen stehen? schwendungssucht des Regimes von Präsident Bouteflika. Der Fan- Für Djaffar spiegeln die Auseinandersetzungen im Internet eine steht sinnbildlich für die Strategie des Regimes, die Berichterstattung Algeriens Gegenöffentlichkeit besteht aus einem bunten, unter- gesang »La casa de Mouradia« nahm Bezug auf die populäre spani- breite Unzufriedenheit wider. Das angstgetriebene Narrativ des Re- über die zweiwöchentlichen Großdemonstrationen einzuhegen. einander nicht unbedingt vernetzten Haufen: Online-Zeitungen, die sche Bankräuber-Serie »La Casa de Papel« (»Haus des Geldes«) und gimes von einer inneren und einer äußeren Bedrohung werde zuneh- Seit April sind die Proteste wegen der Corona-Pandemie ausge - mit rudimentären Mitteln erstellt werden. Journalisten, Akademiker, wurde zu einer der Hymnen des Aufstands 2019. mend abgelehnt. Auch wenn die meinungsstarken Multiplikatoren im setzt. Die meisten algerischen Medien ignorierten sie aber schon viel Blogger, Aktivsten und sogar einfache Volksmusiker konkurrieren auf Das mobile Internet beschleunigte den Bedeutungsverlust der alten Netz eine äußere Bedrohung nicht unbedingt infrage stellen, so zeigt länger – weit bevor Abdelmadjid Tebboune aus den umstrittenen einem Markt, der informell, aber nichtsdestotrotz real ist – die Wäh- Medien noch weiter, auch wenn 3G und 4G in Algerien eher spät Fuß ihr Aktivismus doch, was sie als das größere Problem ansehen: den Wahlen vom 12. Dezembers 2019 als neuer Präsident hervorging. rung sind Klicks und Likes. gefasst haben. Fortbestand des überholten Regimes. Mit Hilfe staatlicher Subventionen (und ihrem möglichen Entzug) Viele produzieren im Ausland, manche werden von lokalen Quellen Was können Printmedien und Fernsehsender, die den offiziellen nahm der Staat die Medien an die kurze Leine. Den Aufstand im Feb- mit falschen oder richtigen Informationen versorgt, zum Teil sogar aus Diskurs in abgedroschenen Phrasen wiedergeben, gegen eine sich Aus dem Französischen von Moritz Behrendt ruar 2019, der das Ende der Herrschaft von Langzeitpräsident Abde - Kreisen der Sicherheitsbehörden. Informationen der anderen werden ständig erneuernde Technologie ausrichten, durch die im Dialekt, mit laziz Bouteflika einläutete, sahen sie daher nicht kommen. Sie waren übernommen, manchmal verkürzt, teils seltsame Allianzen gebildet Memes, Codes, Bildern, Videos, GIFs und Emojis kommuniziert wird? Lyas Hallas arbeitet als Investigativjournalist in Algier. Er ist Mitglied zu beschäftigt, die offiziellen Sprachregelungen wiederzugeben – undwieder gekappt. Dennoch hat diese merkwürdige Guerillatruppe­ Eine Szene, die Inhalte als Häppchen anbietet, mit bissigen Botschaf- des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten (ICIJ). Er fast einstimmig feierten sie den einschläfernden Diskurs, mit dem die es vermocht, die Propagandamaschine des Regimes zum Entgleisen ten in immer kürzeren Abständen, manchmal in der Absicht, mit einer schreibt für die algerische Zeitung Le Soir sowie verschiedene inter- staatlichen Stellen Bouteflikas fünfte Amtszeit vorbereiteten. zu bringen. einzigen Pointe einen ausführlichen Diskurs zu zerstören? nationale Medien.

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FRAUEN IN DER SUDANESISCHEN REVOLUTION Junge, gebildete Frauen konnten daher Welche persönliche Erinnerung ver- ebenbürtig neben den Männern de- binden Sie mit der Revolution von monstrieren. Zudem entstanden in den »Viele Menschen in Konflikt­ 2018/2019? letzten 15 Jahren viele weiblich geführ- regionen kennen die Macht des Bis kurz nach Baschirs Sturz war ich te Initiativen zur Verbesserung der Situ- in Khartum. Meine Gefühle lassen sich ation von Frauen. Diese NGOs leisteten Staates nur in Form von kaum in Worte fassen. Ich war eupho- »Wir brauchen wichtige Bildungsarbeit und erinnerten risch, triumphierend und geschockt: Das Maschinengewehren« die Menschen daran, wie wichtig Ge- war ein einmaliger Moment. Menschen schlechtergerechtigkeit und Gleichstel- aus allen gesellschaftlichen Schichten lung sind – was viele seit der Machter- gingen auf die Straßen, um das Regime greifung der Islamisten vergessen hatten. Außerdem begriffen viele zu stürzen – reiche Männer aus Zentralsudan Seit an Seit mit hei - Frauenquoten« Frauen, wie viel sie durch den Fall dieser Partei und ihres Systems matvertriebenen Frauen aus Darfur, alle skandierten die gleichen zu gewinnen hatten. Frauen litten stärker unter dem Status quo als Slogans. 30 Jahre lang hatte das Regime jegliches Gefühl von Einheit Männer. oder Nationalbewusstsein systematisch demontiert, durch die Pro- teste fanden die Menschen ihre kollektive Identität wieder. Und als Wie sah die Lage der Frauen im Sudan vor der Revolution aus? Baschir dann fiel, wurde alles möglich: Als sein Vize als Übergangs- Die politische Vorarbeit für die Unterdrückung der Frau wurde be- präsident ernannt wurde, jagten ihn die Menschen innerhalb von 24 reits vor Omar Al-Baschirs Regierungszeit gelegt: Bis in die 1970er Stunden aus dem Amt. Jahre war die sudanesische Gesellschaft relativ liberal, zumindest in den Städten. Doch 1977 ging der damalige Präsident Dschaafar Nu- Es ist nicht die erste Revolution in der sudanesischen Geschich- meiri einen Deal mit den Islamisten ein, der den politischen Islam te. Was war diesmal anders? ins Zentrum der Politik rückte und 1983 zu den »Scharia-Gesetzen« Die Bewegungen von 1964 und 1985 entstanden an der Universität von führte. 1989 kam dann Baschir, auch mit Hilfe der Islamisten, an die Khartum, während die Revolution von 2018/2019 von Schulkindern in Macht und verabschiedete 1992 die »Gesetze zur Öffentlichen Ord- Damazin, der Hauptstadt der konfliktreichen Region Blauer Nil, aus- nung« (GÖO). Sie ermöglichten die Kontrolle über das gesellschaftli- gingen und anschließend als Anhäufung kleiner, dezentraler Protes- che Leben und dienten dem Regime als rechtlicher Rahmen zur staat- te wuchs. Diesmal kamen die unterschiedlichsten gesellschaftlichen lichen Terrorisierung von Frauen. Gruppen zusammen – eine Massenbewegung im ganzen Land, nicht nur Proteste in großen Städten. Wie haben diese Gesetze das Leben von Frauen beeinflusst? Die Verordnungen betrafen offiziell jeden, aber in der Praxis wurde 2019 verabschiedete die Übergangsregierung einige Reformen. zum Beispiel der Artikel zu »angemessener Bekleidung« in den GÖO Hat die Revolution das Leben für Frauen tatsächlich verbessert? vor allem gegen Frauen angewendet – ich kenne keinen Fall, in dem Wie schon gesagt, Frau-Sein ist eine intersektionale Erfahrung. Die ein Mann deswegen belangt wurde. Die Formulierungen im Gesetz GÖO wurden im November 2019 abgeschafft, was Frauen scheinbar waren dabei so schwammig, dass die Behörden sie vollkommen will- viele Freiheiten ermöglicht, zum Beispiel in der Wahl ihrer Kleidung kürlich missbrauchen konnten und primär gegen Frauen, vor allem – aber nur wenn sie aus einer Familie und Region kommen, in der Aktivistinnen, einsetzten. Andere Regeln verboten Frauen, ohne die sie tragen können, was sie wollen. Das Problem ist, dass die meis- Zustimmung eines männlichen Vormunds zu reisen oder mit den ten Änderungen innerhalb des Rahmens der Scharia vorgenommen

Menschen in Khartoum warten auf den Bus. Foto: Alessio Mamo eigenen Kindern ohne Einwilligung des Va- wurden. Solange die Scharia, zumindest ters das Land zu verlassen. Solche Gesetze in ihrer bisher praktizierten Form, weiter führten dazu, dass Frauen zu Bürgerinnen als Rückgrat der Gesetze fungiert, bleibt Analystin Kholood Khair erklärt im Interview, was für Sudans Frauen im Zuge der zweiter Klasse wurden. Baschir nutzte is- der Diskriminierung von Frauen Tür und Revolution auf dem Spiel steht – und wie sie die politische Kultur verändern könnten lamische Prinzipien, um die Gesellschaft Tor geöffnet. Und obwohl die Todesstra- durch die Unterdrückung der Frau zu kon - fe für Apostasie und Homosexualität ab- INTERVIEW: MICHAEL NUDING trollieren. Wie auch in vielen anderen Staa- geschafft wurde, wird beides immer noch ten der Region hängt die Ehre eines Man- kriminalisiert. nes im Sudan oft direkt daran, wie mit ihm zenith: Wäre Omar Al-Baschir immer noch an der Macht, wenn gemischter Gesellschaft verbrachten. Sie widersetzten sich den ge- verwandte Frauen wahrgenommen werden. Im September unterzeichneten die Re- sich nicht so viele Frauen gegen ihn gewandt hätten? sellschaftlichen Normen, wenn sie demonstrieren gingen. Dass sie bellengruppe »Sudanesische Volksbe- Kholood Khair: Früher hielten sich Proteste im Sudan immer nur we- es dennoch taten, gab der Bewegung große Glaubwürdigkeit es kann Waren dabei alle Frauen gleichermaßen freiungsbewegung« (SPLM-Nord) und nige Wochen, doch diesmal konnte die Bewegung über fünf Monate keine Gerechtigkeit geben, die Frauen ausschließt. betroffen? die Regierung eine Grundsatzverein- aufrechterhalten werden und nahm auch mit dem Sturz Baschirs kein Diesen Gesetzen waren zwar alle Frauen barung, die eine Trennung von Religion Ende. Das gesamte Leben als Frau im Sudan besteht daraus, unfrei- Bisher waren Demonstrationen im Sudan vor allem männlich. akut ausgesetzt, doch Frau-Sein ist eine in- und Staat verspricht. willig Geduld zu üben. Und erst diese Geduld ermöglichte das Durch- Wie kommt es, dass diesmal so viele Frauen protestierten und tersektionale Erfahrung, die sich mit ande- Das hat riesige Symbolwirkung. Erstmals haltevermögen der Protestbewegung. Außerdem waren es Frauen, die auch die Führung übernahmen? ren Identitätsaspekten wie Klasse oder Eth- Kholood Khair ist Managing Partner bei In- stehen die Regierung und die SPLM-Nord die Demonstranten mit Tee und Essen versorgten. So kreierten sie Ironischerweise spielte dabei Baschirs neoliberales Projekt zur Pri- nie überschneidet. Besonders heftig traf es sight Strategy Partners (ISP), einem Think- auf der gleichen Seite. Noch steht ein Plan and-do-Tank in Khartum, und veröffentlicht als die Atmosphäre, in der lange Sit-ins und Proteste auch im Ramadan vatisierung öffentlicher Dienste eine zentrale Rolle: Während des -Öl Frauen aus ethnischen Minderheiten, häufig Kommentatorin des politischen Geschehens im zur Umsetzung dieses Prinzips aus. Aber erst möglich wurden. Darüber hinaus nahmen Frauen ein viel grö- booms der 2000er entstanden viele private Schulen und Universitä- aus Konflikt regionen­ – eben jene, die sowie - Sudan unter anderem bei Al-Jazeera. sollte es Gesetzeskraft erlangen, könnte es ßeres Risiko auf sich, wenn sie die Nächte auf öffentlichen Plätzen in ten, was den Zugang zu Bildung enorm erleichterte. so schon kaum gesellschaftlichen Schutz ge- den Grundstein für eine wirkliche Gleich- nossen. heit von Frau und Mann bilden. 78 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 79

Wie groß ist der Reformeifer? männlicher Politik. Für mich ist das die größte Enttäuschung dieser TUNESIEN ZEHN JAHRE NACH DER REVOLUTION Der öffentliche Druck auf die Regierung ist nach wie vor hoch: Bei Revolution. Einige Ministerinnen gehören der Regierung an, doch Demonstrationen im Juni 2020 forderten die Menschen schnellere wir brauchen mehr als bloße Repräsentation in sonst unveränderten Reformen, woraufhin die Regierung weitreichende Gesetze verab- Strukturen. schiedete, die Folter, Genitalverstümmelung und öffentliche Auspeit- schungen abschafften. Aber selbst wenn Reformen sofort im ganzen Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden? AGENDA 2021 Land durchgesetzt würden: Es gibt keine Garantie, dass mehr Freihei- Wir brauchen Frauenquoten. Aber wir sollten uns auch mit der ten zu mehr Gerechtigkeit führen. Viele weitere Missstände müssen Rolle der Bildung auseinandersetzen und uns mit den sozialen Sie haben die Revolution als Teenager erlebt. Jetzt wollen diese jungen angegangen werden, nicht zuletzt die Aufarbeitung des Massakers Geschlechterrollen­ beschäftigen, die wir jeden Tag reproduzieren. Tunesier ihr Land mitgestalten. Ihre Blicke auf damals und heute vom 3. Juni 2019. Dafür müssen wir die Gesetze anpassen, die politischen Strukturen reformieren und auch über unsere Sprache nachdenken. Männer Vertrauen Sie der Übergangsregierung, weitere notwendige Schritte einzuleiten? Hend Mgaieth, 27 Jahre alt, arbeitet als Projektkoordinatorin im Büro des tunesi- Diese Übergangsregierung ist momentan unsere beste Chance, und schen Ministerpräsidenten Elyes Fakhfakh in Tunis. was wir bisher von ihr gesehen haben, entspricht auch größtenteils den Forderungen der Revolution. Aber die Regierung sollte nicht nur »2011, das waren nicht einfach Demonstrationen mit Slogans wie Arbeit, Freiheit, da nn reag ieren, wenn die Menschen w ieder protestieren. Sie muss be- Würde. Das war eine Revolution, die international viel Bewunderung hervorgerufen weisen, dass sie wirklich weiter den Weg des Wandels gehen will. Eine 2011 hat und viele Bürger der Nachbarstaaten motiviert hat, ihre Regierungen infrage zu baldige Dekriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen wäre »Frauen kreierten die Atmosphäre, in der stellen – der Arabische Frühling wurde zu einer regionalen Widerstandsbewegung beispielsweise ein klares Zeichen für echten Veränderungswillen. Ein und brach mit den alten Regimes« weiterer w ichtiger Fa k tor dabei ist die Reichweite staatlichen Ein flus- lange Sit-ins und Proteste auch im ses. Viele Menschen in Konfliktregionen kennen die Macht des Staates Ramadan erst möglich wurden« »Zehn Jahre sind nichts in der Geschichte eines Landes. Und mit dem Blick auf Liby- nur in Form von Maschinengewehren. Der Wandel muss schon bald im en und Ägypten wird umso deutlicher, dass wir bei uns die großen Reformen in Gang ganzen Land spürbar werden, nur so wird ein Wandel für alle möglich. bringen müssen – für einen erfolgreichen politischen Übergang und um endlich die

Heute Vision von sozialer Gerechtigkeit zu erreichen« Der Frauenanteil in der sudanesischen Politik ist nach wie vor gering. Werden Frauen jetzt wieder beiseitegeschoben, sobald politische Entscheidungen anstehen? Ja. Als nach dem Sturz Baschirs die Verhandlungen starteten, wurde die Beteiligung der Frauen nicht mehr als notwendig erachtet. Auch Mahdi Elleuch, 29 Jahre alt, arbeitet als Jurist für die NGO Legal Agenda in Tunis, innerhalb der revolutionären Kräfte finden sich patriarchale Ten- »heiraten«, während Frauen »verheiratet werden«. Solche Kleinig- die die Arbeit des Parlaments und der Regierung kritisch überprüft. denzen. Sudanesische Politik ist außerdem stark militärisch geprägt, keiten sind alltägliche Erinnerungen an die weibliche Rolle in der Gesellschaft. Mir ist bewusst, wie riesig diese Herausforderung ist, »Für mich war die Revolution nicht nur die Befreiung eines Volkes, sondern kam auch aber momentan haben wir eine Chance, die wir nicht vergeuden dür- der Befreiung des Individuums gleich, das den Sinn des Lebens wiedergefunden hat« 2011 fen. Zur Veranschaulichung: Kürzlich traf ich ein paar junge Männer aus den Widerstandkomitees. Diese Jungs sind der Motor des Wan- »Die Revolution eröffnete ein riesiges Feld der Möglichkeiten – das kann zu Verbes- dels und setzen sich für völlige Gleichstellung ein. Als ich sie fragte, serung führen, aber auch zu Verschlechterung. Da wir nun endlich unser Schicksal in »Als ich fragte, wo denn die wo denn die weiblichen Mitglieder seien, sagten sie, dass sie zu Hau- den eigenen Händen halten – dank der teuer erkauften Freiheiten –, dürfen wir nicht se Eid Al-Adha vorbereiten müssten. Wie frustrierend das für diese weibliche Mitglieder seien, sagten sie, Heute nachlassen, uns für Freiheit, Gleichheit und Demokratie in Tunesien einzusetzen« Frauen sein muss, selbst in ihrem politischen Engagement ständig dass sie­ zu Hause Eid Al-Adha von gesellschaftlichen Normen beschränkt zu werden. vorbereiten müssten« Glauben Sie, dass sich der Sudan auf einem guten Weg befindet? Bisher verlief die sudanesische Geschichte zyklisch: Seit der Unab- hängigkeit 1956 wurden Phasen der Militärherrschaft stets von Re- Mustapha Kammoun, 24 Jahre alt, arbeitet als IT-Fachmann in Kairouan. volutionen beendet, auf die einige Jahre des demokratischen Wan- dels folgten, bevor das Land wieder ans Militär fiel. Wenn es jetzt so »Als die Revolution ausbrach, war ich gerade 15. Dieser Moment, als die Angstkultur und das Militär ist eine inhärent männliche Institution. Wenn wir weitergeht, kehrt bald die alte Parteipolitik zurück, die keine mehr- der Diktatur in sich zusammenfiel und sich die Macht des Staates als Illusion ent- wirklich die Tendenz hin zur Militärherrschaft bekämpfen wollen, heitsfähigen Ideen entwickeln kann, scheitert und dann wieder von 2011 puppte, gehört zu den größten kollektiven Errungenschaften der Geschichte Tune- brauchen wir mehr Frauen in Machtpositionen. Schon während der der Armee abgelöst wird. Was diesmal anders ist und mir Hoffnung siens. Ich bin unendlich dankbar, dass ich die erste Brise der Freiheit an diesem 14. Proteste waren es oft Frauen, die wussten, was sie wollen. Frauen- gibt, ist die Fokussierung auf Inhalte. Während die Menschen früher rechtsgruppen gehören zu den wenigen Akteuren im Sudan, die ge- stets mit der Absetzung des Diktators zufrieden waren, nehmen sich Januar 2011 schnuppern durfte« sellschaftlichen Konsens schaffen können, ohne sich dabei auf kon- die Demonstranten diesmal selbst des Übergangs an und pochen auf fessionelle oder ideologische Identitäten zu konzentrieren. Mit ihren ihre Forderungen. Die in der Zivilgesellschaft aktiven Widerstands- »Auch heute, zehn Jahre später, bin ich überzeugt, dass die Sehnsucht nach Freiheit themenbezogenen Forderungen zeigen sie den Sudanesen eine neue komitees haben verstanden, dass die Revolution weitergeht, solange ein menschliches Grundbedürfnis ist. Dennoch folgte auf viele Demonstrationen die Form der politischen Auseinandersetzung auf. Doch leider beobach- noch Teile des alten Regimes an der Macht sind – besonders Frauen Enttäuschung, als die autoritären Regime zur Konterrevolution ansetzten und Volks-

ten wir aktuell eine Rückkehr zu ideologischer, parteipolitischer und wissen, wie viel sie gewinnen, wenn die Militärherrschaft endgültig Heute aufstände im Tumult versanken« vorbei ist. 80 DOSSIER · WEITERMACHEN DOSSIER · WEITERMACHEN 81

sie nicht an. Auch die libanesische Volksbewegung, die sich genem Interesse – unsere Untätigkeit hat Bürgerkriege wie in Essay 2019 und 2020 formierte, fand bisher kein Mittel gegen die Syrien erst möglich gemacht, mit ihnen einher gehen die Ver- alten Kriegsherren, die das Land gemäß ihrer Konfessionen treibung von Millionen Menschen, von denen Hunderttausende unter sich aufgeteilt haben. Nur beim Hoffnungsträger Tune- nach Europa flüchten, sowie dschihadistischer Terror, der uns sien, auf den ich noch zurückkommen werde, teilen sich alte heimsucht. und neue Eliten die Macht. Selbst in Tunesien, dem Staat, in dem es am meisten Grund zur Die zweite Parallele zu Algerien: Kein Staat unternahm wirk- Hoffnung gibt, sind die Ursachen der Revolte nicht beseitigt. Es lich etwas – außer zumeist kosmetischen Reformen –, um wird frei gewählt, geredet und geschrieben – die soziale Misere die legitimen Forderungen der Jugend nach mehr Mitbe- der Jugend hat sich jedoch nicht verbessert. Mehr als ein Drit- Zähne zeigen, Europa stimmung und sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen. Vor allem tel ist arbeitslos. Hier muss europäische Hilfe weiter fließen und wirtschaftlich geht es der vor zehn Jahren so hoffnungsvol- gut gesteuert werden. Erst dann kann das Land zum Leucht- len Jugend der arabischen Welt nicht besser. Von den unter turm für eine andere arabische Welt werden. 30-Jährigen, die fast zwei Drittel der Menschen in der Re- gion ausmachen, hat jeder dritte keinen Job – fast doppelt so viele wie im Weltdurchschnitt. Frauen trifft es besonders Arabische Despoten lachen über die EU. Wir sind es hart: Die Hälfte von ihnen ist arbeitslos. Die dritte Paralle- le lässt sich zur Haltung Europas ziehen. Die EU hat trotz den Reformern schuldig, dass auf Worte auch Taten folgen wachsendem amerikanischen Desinteresse an der Region GESCHICHTE WIEDERHOLT SICH NICHT – Reformbewegungen nie wirklich dauerhaft unterstützt. Muammar Al-Gaddafi wurde 2011 federführend von den KANN ABER EINE MAHNUNG SEIN Franzosen weggebombt, Libyen danach jedoch dem Chaos EIN KOMMENTAR VON ASIEM EL DIFRAOUI überlassen. Die Europäer machten verbal Front gegen As- sad, aber selbst, als das syrische Regime wiederholt Giftgas einsetzte, unternahmen sie trotz vorheriger Bekundungen nichts. Lediglich als der aus Damaskus zunächst geförder- te Dschihadismus Europa ernsthaft bedrohte, wurde militä- lgier 1988: Gemeinsam mit einem jungen nisse wurden nie bekannt gegeben. Es folgte eine Gewalt­ risch eingegriffen – aber nicht zugunsten der Demokratie. 2019, knapp 30 Jahre nach der Revolte der Jugend in Algeri- Journalistenkollegen bin ich auf dem Rück- spirale, die in einem Bürgerkrieg kulminierte. Extremistische 500.000 Menschen starben im Krieg, und wir schauen zu. en, erhebt sich die algerische Jugend erneut. Dem Hirak, auf weg vom Fußballstadion. In Kürze sollen Islamisten ermordeten alle, die sie als Feinde betrachteten In Ägypten wurde die Demokratiebewegung zwar mit Deutsch »Bewegung«, gelang es, durch friedliche Proteste, die ersten freien Parlamentswahlen des – Militärs und Polizisten, aber auch Vertreter der demokra- Worten und Workshops unterstützt. Dennoch ist Diktator den seit zwanzig Jahren regierenden Marionettenpräsidenten A Landes stattfinden. »Wir haben die Wahl tischen Mitte: Uniprofessoren, Künstler und Journalisten. Abdel-Fattah Al-Sisi in Deutschland salonfähig, während Abdulaziz Bouteflika zum Rücktritt zu zwingen, beziehungs- zwischen Pest und Cholera«, kommentiert mein Begleiter. Die Militärs ihrerseits antworteten mit schonungsloser Re- Zehntausende politische Häftlinge – Islamisten ebenso wie weise die wirklichen Machthaber – die Militärs – zu überzeugen, Mit den Krankheiten meint er – in beliebiger Zuordnung – die pression. Geschichte wiederholt sich nicht, kann aber eine säkulare Oppositionelle – in seinen Kerkern schmachten. ihn fallen zu lassen. Die Covid-19-Pandemie setzte dem Pro- oppositionellen Islamisten und die mit dem Militär regieren- Mahnung sein. Damals forderten die jungen Algerier bereits, Deutschland macht zudem weiterhin gute Geschäfte mit test Grenzen, aber er geht weiter. Die Algerier wollen weitere de nationalistische Einheitspartei FLN. Die demokratischen was ab 2010 unter dem Slogan »Brot, Freiheit und Gerech- dem Königreich Saudi-Arabien, dessen Kronprinz meinen Reformen und mehr Freiheit. Doch die Regierung nutzte die und säkularen Parteien in der Mitte seien desorganisiert und tigkeit« und dem Ruf nach Würde in vielen arabischen Län- Bekannten Jamal Khashoggi umbringen ließ und schlimmer Krise, um Oppositionelle zu verhaften. hätten bereits im ersten Wahlgang keine wirkliche Chance. dern widerhallte. Dabei fallen mindestens drei Parallelen noch, einen Krieg imJemen führt, in dem Zehntausende un- Die algerische Bewegung macht deutlich: Der Wille der Men- Wir waren gerade von der Wahlkampfveranstaltung einer auf, die uns nachdenklich stimmen sollten. schuldige Zivilisten sterben. schen nach mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer islamistischen Partei zurückgekehrt, die den Muslimbrüdern Erstens, in den meisten Ländern gelang den regierenden Ja, unsere zivilgesellschaftlichen Soft-Power-Instrumente, Gerechtigkeit lässt sich auch durch jahrzehntelange blutige nahestand – Zehntausende hatten sich in dem Stadion ver- Eliten und Herrscherhäusern der Machterhalt. So etwa in vom Goethe-Institut bis zu den parteinahen Stiftungen, ver- Unterdrückung nicht zerstören. Auch inmitten von »Pest und sammelt. Sie wollten die Wahlen nutzen, um an die Macht zu Marokko, Ägypten, Jordanien, dem Libanon, Syrien, den suchen progressive Aktivisten zu stützen. Tagungen über Cholera« – und nun noch Corona – besteht noch Hoffnung auf kommen. Demokratie verurteilten sie jedoch – auf Pamphle- Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Oman, Sau- Rechtsstaatlichkeit, Partizipation und Emanzipation helfen, Heilung. ten stand, sie sei das »Gift der Orientalisten«. Der Wahl war di-Arabien – ohne wirkliche Reformen und viel zu oft ohne können aber harte Politik nicht ersetzen. Eine wirkliche ge- Die Aktivisten der arabischen Welt haben einen langen Atem. eine Protestwelle der verzweifelten Jugend vorausgegan- Rücksicht auf Menschenleben. Die Despoten Ägyptens, meinsame europäische Außenpolitik ist notwendig, die alles, Den brauchen wir ebenfalls, wenn wir sie unterstützen – an- gen, die staatliche Einrichtungen sowie Polizeiwachen zer- Bahrains und vor allem Syriens scheuten nicht vor der »al- was wir an sinnvoller Entwicklungshilfe leisten, koordiniert sonsten wird unsere südliche Nachbarschaft zur Zeitbombe. stört und in Brand gesetzt hatte. Die Gründe: Arbeitslosig- gerischen Lösung« zurück: massive Repression und Bürger- und echte Fortschritte in Sachen Mitbestimmung und sozi- Was, wenn sie nicht mehr demonstrieren? Was, wenn sich die keit, Mangel an Wohnraum, Perspektivlosigkeit, Korruption. krieg. Das Schreckgespenst des extremistischen Islamismus aler Gerechtigkeit fordert. Hard Power beinhaltet auch – so fast hundert Millionen Ägypter aus schierer Hoffnungslosigkeit Die seit der Unabhängigkeit regierende FLN und die Mili- kam ihnen mehr als entgegen, wie damals in Algerien. In widerstrebend ich dies auch schreibe – militärische Macht, erneut gegen einen Diktator erheben, das Land im bewaffne- tärs bekamen die Revolte nicht unter Kontrolle. Sie muss- den Bürgerkriegen in Libyen und im Jemen bekämpfen sich eine europäische Armee, die jenseits unserer Grenzen inter- ten Konflikt versinkt und wir nichts unternommen haben? Kön- ten Zugeständnisse machen: Daher die Wahlen und dieser vor allem bestehende Eliten gegenseitig. Im Sudan, wo der venieren kann – vor allem auch humanitär. Frankreichs Präsi- nen wir uns dann wieder freisprechen und behaupten, Flücht- kurze Moment der Meinungsfreiheit, in dem mein Kollege Arabische Frühling erst 2019 wirklich begann, ist ungewiss, dent Emmanuel Macron brachte diese Forderung immer wie- lingsströme und Tote seien nicht unser Mitverschulden? schreiben und kritisieren konnte, wen er wollte. Mit seiner ob die in der Übergangsregierung vertretenen Militärs tat- der vor – es ist Zeit, dass Deutschland sich dem anschließt. Einschätzung der Lage hatte er jedoch unrecht – es kam sächlich eine Demokratisierung zulassen. Nur weil Europa bisher ein zahnloser Tiger ist, konnte Putin schlimmer: Pest und Cholera fielen zusammen. Im Irak brachen 2019 ebenfalls Massenproteste einer Ju- in Syrien Baschar Al-Assad zu Siegen verhelfen, konnten die Als sich am Wahlabend ein haushoher Sieg der Islamisten gend aus, die genug hatte von der Vetternwirtschaft der Türkei und Ägypten den libyschen Bürgerkrieg weiter anhei- Asiem El Difraoui ist Politikwissenschaftler und Dschihadi- abzeichnete, setzten die Militärs den Wahlprozess aus. Sie Politiker, die das Land seit Saddam Husseins Sturz 2003 zen. Wir dürfen Diktaturen und ihren zumeist diktatorischen mus-Forscher. Als Mitgründer der Candid Foundation ist er übernahmen mit Strohmännern die Macht, die Wahlergeb- kontrollierten. Aber gegen die Macht der Milizen kamen Unterstützern keinesfalls das Feld überlassen. Schon aus ei- seit 2015 einer der Herausgeber von zenith. 82 83 84 85 IMPRESSUM JETZT ZENITH ABONNIEREN!

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ATLAS DES ARABISCHEN FRÜHLINGS

Bald auch auf Arabisch

»Atlas des Arabischen Frühlings« – in zehn Episoden begibt sich Moderator Younes Al-Amayra, Mitglied des Satire-Kollektivs Die Datteltäter, auf Spurensuche. Wir nehmen die Umbrüche in Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und ihren Nachbarländern unter die Lupe, sprechen mit Expertinnen und Experten sowie Akteu- rinnen und Akteuren, um die Entwicklungen in der Region besser zu verstehen. Dabei beschäftigt sich die Dokumentation auch mit den überregionalen Folgen – von Demokratisierung Fast zehn Jahre nach Beginn der Proteste und und Machtwechsel über Bürgerkriege bis hin zu Umstürze in vielen arabischen Ländern ist es an der Fluchtbewegungen. Die Veränderungen, die mit dem Zeit, eine Bilanz zu ziehen: Was ist in den Jahren des Arabischen Frühling ihren Anfang nahmen, haben Arabischen Frühlings passiert, wie sieht es in Nordaf- tiefe Spuren hinterlassen. So werden nicht nur his- rika und in Nahost in der Folge aus? torische Umbrüche erfahrbar, so wird auch deutlich, In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische wie stark Europa mit der arabischen Welt in Verbin- Bildung präsentieren wir die Videodokumentation dung steht.

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