Die deutschen Fußballweltmeister nach dem 3 : 2-Sieg am 4. Juli 1954 mit Trainer Herberger (M.): Das Ergebnis Wie ein kleiner König Die lange Karriere des (II): Aus dem Jammertal zur Weltmeisterschaft / Von Jürgen Leinemann

ie letzten Kriegsmonate erlebte Tätigkeit, zu Hause, duckte sich vor den „Den Endsieg“ Reichstrainer Sepp Herberger bei Tieffliegern, grübelte und sah in eine trü- D seinen Schwiegereltern in Wein- be Zukunft. Wie geht es Fritz? Hoffent- nannte Sepp Herberger sein Ziel bei heim an der Bergstraße, in der Karl- lich ist Hans Rohde nichts passiert – ein der Weltmeisterschaft 1954. Da straße 12. Seine eigene Wohnung in Brief war zurückgekommen. Graf war klingt noch die Diktion der Nazis , im Stadtteil Schöneberg, war seit verwundet. Klingler an der Ostfront ver- durch, unter denen der Fußballtrainer Januar 1944 „total ausgebombt“. Der mißt. Gellesch in ambulanter Behand- 1936 sein Amt antrat. Wie letzte Wo- Fußballsport lag darnieder, den Verei- lung. Er war, wie er eingestand, „einsa- che in der ersten Folge der SPIEGEL- nen gingen die Spieler aus, das letzte mer denn je“. Serie zu lesen, leistete er im Krieg Länderspiel hatte am 22. November Nach der Kapitulation der Deutschen Überlebenshilfe, indem er seine 1942 stattgefunden. Die Welt hatte sich am 8. Mai 1945 beschlagnahmten die Kicker von der Front loseiste. Nach gedreht und lag in Stücken. Amerikaner zahlreiche Häuser in Wein- 1945 knüpfte der Fußball-Besessene Im Frühjahr 1945 saß Herberger, 47 heim. 4000 US-Soldaten nahmen im er- dort wieder an, wo er als Reichstrai- Jahre alt, Nationaltrainer ohne Team und sten Nachkriegssommer hier Quartier. ner aufgehört hatte. Seine Biogra- Leute mit militärischen Funktionen und phie spiegelt die Widersprüche der © 1997 Rowohlt Berlin Verlag. – Der ungekürzte NS-Vergangenheit durften keine öffent- Text erscheint am 15. Januar 1997 unter dem Titel deutschen Nachkriegsgesellschaft. „Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende“; 494 lichen Aufgaben übernehmen. Denun- Seiten; 39,80 Mark. ziationen und persönliche Verfolgungen

120 DER SPIEGEL 1/1997 SERIE

Zeugnis geben von dem strahlenden tere Frau Italia begegnet, die als Dolmet- Frohsinn, der immer lebendig war, so oft scherin bei der französischen Militärre- wie wir zusammen waren, und von der gierung arbeitete. starken, unverbrüchlichen Freundschaft, die uns alle verband.“ epp Herberger sorgte sich zunehmend Viele seiner Männer waren unauffind- Sum seine Entnazifizierung – er fürch- bar. Seit der russischen Offensive im tete, daß er Berufsverbot erhalten könnte. Januar, die alle konspirativen Pläne Ein „gewisses Aufstoßen vergangener zur „Entführung“ seines malariakranken Zeiten“, wie sein Trainerkollege Bruno Lieblings in den Schwarzwald durch- Lehmann schrieb, blieb auch Herberger kreuzt hatte, fehlte dem Trainer von Fritz nicht erspart. So einschneidend das Jahr Walter jede Spur. War er in einem Laza- 1945 war – für die Gesellschaft, den rett „irgendwo in der Welt des Ostens?“ Staat, das politische System und die insti- Daß er so gar nichts tun konnte, machte tutionelle Ordnung –, so wenig empfan- Herberger schier verrückt. Er forschte den die meisten Menschen in Deutsch- noch nach Fritz Walter, als der – mit Glat- land dieses Jahr als eine Wende in ihrem ze und Untergewicht – am 28. Oktober persönlichen Leben. Stunde Null? Das 1945 schon wieder in Kaiserslautern ein- Leben ging weiter. Und wo es aufgehört getroffen war. hatte – über sieben Millionen Deutsche Sein ganzes „Sinnen und Trachten“ kamen im Krieg um –, da hatte es schon sei damals auf die Wiedergeburt der Na- längst vorher aufgehört. tionalmannschaft gerichtet gewesen, er- Nicht daß es an Augenblicken des Er- zählte Herberger später. Dabei kreisten schreckens, der Scham, ja des Entsetzens die Gedanken vor allem um seinen gefehlt hätte: „Groß ist das Elend, das Fritz. Um den bemühte sich auch der uns bedroht, unabsehbar die Katastrophe, 1. FC Nürnberg – auf dem Wege aus der in der wir stecken“, schrieb Herberger. Gefangenschaft hatten ihn schon die „Wir werden dafür büßen müssen.“ Doch Wiener dabehalten wollen, und daheim wie die überwältigende Mehrheit der lagen ihm Angebote von Racing Paris Deutschen wies er persönliche Schuld und anderen französischen Profiklubs weit von sich: „Alles perdu, das verdan- vor. ken wir unserem einmaligen Führer!“ Es dauerte bis zum Februar 1946, bis In einem Druckereiverlag, der die Her- der Neu-Weinheimer zum erstenmal die ausgabe einer Sportzeitung plante, hatte Walter-Elf des 1. FC Kaiserslautern spie- Herberger Arbeit gefunden. Im März len sah. Mit 12:3 gewann sie gegen den 1946 schrieb er an seinen Kollegen Meu- VfR Frankenthal, und Herberger schrieb sel: Nein, als Trainer arbeite er noch an seinen früheren Untermieter, den Ex- nicht, obwohl an Angeboten kein Mangel Nationaltorwart Helmut Jahn: „Fritz hat sei – „aber ich muß halt auch erst rehabi- nichts verlernt.“ Der Trainer war’s zufrie- litiert sein“. den. Dem Kaiserslauterer „Spielmacher“ „Reichstrainer“ – das war jetzt auf

BPK stand der Sinn nicht nach einem Vereins- einmal ein wunder Punkt. Der alliierte zielstrebiger und hartnäckiger Arbeit wechsel. Ihm war inzwischen seine spä- Kontrollrat verlangte von allen Parteige-

sorgten für Unruhe. Das Geld war wert- los, der Tauschhandel blühte. Daß sie in Weinheim noch Glück ge- habt hatten, das wußte Herberger sehr wohl. „Weinheim hat ja durch Kriegs- einwirkung nicht besonders gelitten“, schrieb er Freunden, „aber was sich drum herum tat, ist einfach furchtbar. Mannheim, Darmstadt, Frankfurt, Lud- wigshafen, Pforzheim und noch unend- lich mehr an einst so schönen und schmucken Städten sind alle ein Opfer unseres Wahnsinns. Ganz zu schweigen von dem, was sonst noch verbrochen und zerbrochen wurde.“ Und unmißverständ- lich hielt er fest: „Wir Deutschen sind selbst schuld.“ Seine Geburtsstadt Mannheim war von den alliierten Flugzeugen zu Schutt und Asche zerbombt worden. Nun saß Her- berger, knapp 20 Kilometer von den brandigen Ruinen entfernt, an seinem Schreibtisch und starrte auf ein Foto sei- ner Fußballnationalmannschaft, das vor dem Spiel gegen Kroatien 1942 in Stutt-

gart aufgenommen worden war. „Ich sehe AP nur lachende Gesichter, die ein beredtes Taktiker Herberger 1949: Prinzipien abgefedert durch Erkenntnis

DER SPIEGEL 1/1997 121 SERIE nossen, daß sie entnazifiziert werden Aber er unterlag so lange einem Beschäf- erberger wurde in seiner stetig sich sollten. tigungsverbot, bis jener „Meldebogen“ Hverfestigenden Selbstrechtfertigungs- Bei den Konferenzen von Jalta im mit 131 Fragen ausgewertet war, den er haltung von jenen Oberen in der Hier- Februar und Potsdam im Sommer 1945 und seine Frau Eva wie 13 Millionen an- archie des Sports und des Fußballs waren die Siegermächte übereingekom- dere Deutsche in der amerikanischen während der Nazi-Zeit gestützt, die in- men, nicht nur die leitenden Funktionäre Zone ausfüllen mußten. zwischen auch wiederaufgetaucht waren des Nationalsozialismus zu verhaften und Deutlich machte sich damals ein Soli- – die ganze alte Berliner Garde: von Ge- alle Kriegsverbrecher umgehend abzuur- darisierungseffekt zwischen den nun fast org Xandry, dem promovierten DFB-Ge- teilen, sondern darüber hinaus sollten alle unterschiedslos betroffenen kleinen und schäftsführer, bis Carl Diem, von Peco NSDAP-Mitglieder, sofern sie nicht nur großen Nazis bemerkbar, denen die übri- Bauwens, dem Regelspezialisten, bis nominell Parteiangehörige waren, „aus ge Bevölkerung in wachsendem Maße , DFB-Chef seit 1925. den öffentlichen und halböffentlichen Äm- mit Mitleid begegnete. Insgesamt, konsta- Nur Otto Nerz, Herbergers Vorgänger als tern sowie von den verant- tierte der Philosoph Karl Reichstrainer, fehlte, der saß im Lager, wortlichen Posten in wich- Jaspers nach dem Krieg, beim Russen. tigen Privatunternehmun- „Ich habe immer entstand eine Stimmung, Daß eine Bildungsgröße wie Carl gen“ entfernt und durch „als ob man nach so Diem, Organisationschef der Olympi- Personen ersetzt werden, meinen Sport furchtbarem Leid gleich- schen Spiele 1936 in Berlin und eine Art „welche nach ihren politi- sam belohnt, jedenfalls Sport-Botschafter Hitlers im Ausland, schen und moralischen Ei- gelebt, um getröstet werden müßte, den Kontakt zu Herberger aufnahm, das genschaften fähig erschei- Politik habe ich aber nicht noch mit schmeichelte ihm. „Über Ihre Karte habe nen, an der Entwicklung Schuld beladen werden ich mich soooo gefreut“, schrieb Herber- wahrhaft demokratischer mich nicht dürfte“. ger am 29. Januar 1946 an Carl Diem in Einrichtungen in Deutsch- gekümmert“ Von Schuldbewußtsein Berlin-Grunewald. Es folgte eine hymni- land mitzuwirken“. war bald nicht mehr viel sche Passage der Verehrung für Diem, Zwar gehörte der Par- zu spüren. In einer Ende dem er gewiß in der Vergangenheit viel teigenosse Josef Herber- 1945 in der amerikani- verdankte, von dem er sich offenbar aber ger, Mitgliedsnummer 2208548, einge- schen Zone durchgeführten Umfrage auch für die Zukunft viel erhoffte. tragen am 1. Mai 1933, auch der Deut- hielten 50 Prozent der Befragten den Na- In „all den zurückliegenden Jahren“, schen Arbeitsfront, der NS-Volkswohl- tionalsozialismus für eine gute Idee, die so schrieb er an Diem, „habe ich die Zeit fahrt, dem Reichsluftschutzbund und nur schlecht ausgeführt worden sei. Nur herbeigesehnt und mich darauf gefreut, dem NS-Reichsbund für Leibesübungen 20 Prozent akzeptierten die deutsche wenn die im Herzen so sportfremden an, dem letzteren in führender Tätigkeit, Schuld am Krieg, während 70 Prozent Scharlatane abzutreten haben und in Ihre doch galten diese Organisationen nun jede Verantwortung dafür ablehnten. Hand dann die Leitung der Deutschen wahrlich nicht als verbrecherische Auch Josef Herberger empörte sich Leibesübung gelegt würde. Und jetzt, lie- Kampforganisationen des Nazi-Regimes. jetzt in einem Brief an Fritz Walter dar- ber Herr Doktor, ich kann mir ein Auf- Deshalb zählte Herberger auch nicht zu über, daß in Augsburg an- blühen und Erstarken des Sportes und der den rund 180000 Gefolgsleuten des NS- gegriffen werde, weil er Nationalspieler Leibesübungen ohne Sie einfach nicht Regimes, die im Laufe des Jahres 1945 war. „Man wirft ihm vor, daß er für Nazi- vorstellen“. in den drei Westzonen verhaftet und in Deutschland Propaganda gemacht habe, Als Diem dem „lieben Freund Herber- Internierungslager eingeliefert wurden. weil er 65mal für Deutschland gespielt ger“ am 26. Februar 1947 auf einer Post- habe. Soweit gehen die Verirrungen de- karte mitteilte, daß eine Bizonale Hoch- rer, die nun vom Pendel der Vergeltungs- schule für Leibesübungen Anfang Mai in * Mit Baron Peter Le Fort, dem Generalsekretär der Olympischen Winterspiele, und dessen Ehefrau auf sucht nach der anderen Seite getragen Köln gegründet werde, und Herberger dem Olympia-Ball. wurden.“ fragte, ob er das Amt des Fußballehrers FOTOS: BPK Olympia-Organisationschef Diem (M.) 1936*, Reichstrainer Herberger 1938: „Ein Aufblühen der Leibesübungen“

122 DER SPIEGEL 1/1997 übernehmen wolle (Diem: „Ich würde überglücklich sein, wenn wir uns zu einer gemeinsamen Arbeit verbinden könn- ten“), war Herberger nur allzugern bereit, dort mitzumachen. Männer wie Diem und Xandry gaben Herberger Orientierung, sie imponierten ihm und waren ihm Vorbild, wie schon 1933, als sie zum Eintritt in die Partei ge- raten haben dürften. Zu anderen wie Felix Linnemann und Otto Nerz – die vermutlich für die direkte Beitrittsent- scheidung 1933 noch maßgebender wa- ren – hielt Herberger inzwischen Distanz. Neben persönlichen Animositäten hatten ihn wohl auch die Karriereambitionen beider bei SS und Partei gestört. Mit Bangen sah Herberger im Sommer 1946 seinem Verfahren in Weinheim ent- gegen – seit März war die „Entnazifizie- rung“ lokalen deutschen Spruchkam- mern überantwortet. Zumal er – drei Tage vor seinem Verfahren – in der Badischen Volksstimme als „eine der Größen des Nazi-Sports“ angegriffen wurde: „Der ehemalige Reichstrainer Herberger ist gegenwärtig wieder auf allen Spielen süddeutscher Fußballmannschaften als Reisebegleiter und Gast zu sehen. Er spielt zwar noch keine offizielle Rolle. Aber wir wollen hoffen, daß sich dahinter nicht der Versuch verbirgt, wieder in den Sportbetrieb maßgeblich einzusteigen.“ Josef Herberger sah seine Rolle gern anders. In einer schriftlichen Aussage – „betr. Meldebogen 8653“ – teilte er der Spruchkammer mit, er sei 1933 Mitglied der NSDAP geworden, „wie man zuwei- len Mitglied in einem Verein wird“. Her- berger: „Ich habe immer nur meinen Sport gelebt, hatte nur meine berufliche Ausbildung im Auge und hatte nie die Zeit, mich auch um Politik zu kümmern. Als Hitler 1933 an die Macht gekommen

war, redete man aus meiner Umgebung ULLSTEIN auf mich ein, mich doch nicht abseits zu Deutsche Länderspiel-Premiere nach dem Krieg*: Bedürfnis nach Vertrautem halten, machte man mich glauben, daß es sich um eine gute Sache handle, die von zum deutschen Widerstand, die er weder dem Stichwort „Persilscheine“ abgelegt. anständigen Männern geführt würde, und vorher irgendwo hatte anklingen lassen Aber neben den übereinstimmenden – in meiner politischen Unerfahrenheit – noch später in irgendeiner Form wieder Zeugnissen seiner Kriegsfeindlichkeit gab ich schließlich dem Drängen nach.“ aufgriff: „Ich habe aus meiner Einstel- und seiner Politikabstinenz, die ihm alle Weiter schrieb Herberger in dieser Er- lung keinen Hehl gemacht, und ich war Spieler bescheinigten, waren es vor allen klärung: „Ich bin im Sport groß gewor- bereit, mich jedem und allen anzu- Dingen drei glaubhaft bezeugte Vorfäl- den und habe meine Lebensgesetze in schließen, die entschlossen waren, gegen le, die vor der Spruchkammer für ihn ihm und durch ihn nach den Spielregeln Hitler vorzugehen. Ich habe es bedauert, sprachen: die Auseinandersetzung mit des Fair play gewonnen. Darum war mir daß ich keinen Anschluß an die Wider- den SA-Bonzen in Duisburg 1937; sein das laute, aufdringliche und herausfor- standsbewegung fand, weil ich mich, un- kämpferischer Einsatz für einen jüdi- dernde Auftreten der Parteimänner, ihre ter dem Deckmantel meiner beruflichen schen Mitbürger in Karlsruhe 1938; und Unduldsamkeit gegenüber der Kirche, Tätigkeit, als Verbindungsmann äußerst seine Loyalität zu dem wegen „Rassen- den Juden und den politisch Andersden- nützlich hätte machen können. Es fällt schande“ boykottierten früheren Arzt auf kenden zuerst fremd und unerklärlich mir schwer, das alles zu sagen, weil ich dem Berliner Reichssportfeld, Siegfried und dann zuwider. Ich begann das politi- weiß, wie viele heute gern von dieser ih- Matthes. sche Leben in Deutschland kritisch zu rer damaligen Bereitschaft sprechen und Eindrucksvoll sprachen auch die Aus- betrachten. Damit war der Anfang einer wie leicht das auch alles heute ist. Aber sagen der Spieler für Herberger. Alle wa- politischen Schulung gemacht, die jeden ich habe Freunde und Gleichgesinnte aus ren ihm dankbar, daß er Flaggenhissun- anständigen Deutschen zwangsläufig zur jener Zeit, die Auskunft über mich geben gen, Parteiansprachen und den „Deut- Abkehr von Hitler und seiner Lehre brin- können.“ gen mußte.“ Es folgen dann die Namen der Zeugen, * Am 22. November 1950 in Stuttgart gegen die Zuletzt überraschte Josef Herberger die Erklärungen zugunsten Herbergers Schweiz; links vorn: der deutsche Spielführer An- die Spruchkammer mit Bekenntnissen abgaben. Herberger hat sie selbst unter dreas Kupfer.

DER SPIEGEL 1/1997 123 SERIE schen Gruß“ aus den Lehrgängen heraus- nichts zu tun haben, und damit hatte er gehalten habe. , seit Anfang auch nichts zu tun. der Dreißiger mit Herberger bekannt und Dessenungeachtet gab es zwischen langjähriger Mannschaftsführer der Na- ihm und den überzeugten Nazis, die ihn tionalelf, bekundete, daß „irgendwelche stützten und förderten, eine Übereinstim- politischen Gespräche oder politischen mung in der Mentalität – eine lebensge- Einflüsse oder gar Propaganda von Herrn schichtlich vertiefte, emotionale Bin- Herberger niemals und in keiner Weise dung an Autoritäten, Traditionen und betrieben worden sind“. Werte. Diese ließ die Kluft vergleichs- weise gering erscheinen. So kam es zu ach diesen Einlassungen wurde Sepp Formen des Mitmachens, die dann in den NHerberger in die Gruppe der Mit- Nationalsozialismus führen konnten. läufer eingereiht. Am 21. September Sepp Herberger – individuell ja durch- 1946 erging an ihn ein Sühnebescheid aus in der Lage und, im Gegensatz zur von der Spruchkammer Weinheim über Mehrheit seiner Mitmenschen, auch mu- 500 Reichsmark. „Die Geldsühne ist bis tig genug, im konkreten Einzelfall Bar- zum 19. Okt. 46 an die Kasse des Finanz- barei und Brutalität zu widerstehen – amtes Weinheim einzubezahlen.“ Die blieb in seiner Mentalität völlig unge- Rechnung für die Kosten des Verfahrens brochen. betrugen 348,76 Mark. Auch diese Keine Frage also, Sepp Herberger Schuld beglich Herberger umgehend. hatte dazugelernt. Sein Prinzipienkodex Den Einlieferungsschein für das Finanz- wurde abgefedert durch Erkenntnis und – amt Weinheim legte er sorgfältig zu sei- oft zähneknirschende – Anpassung an die nen Akten. Kunst des Möglichen. Trotz der schwierigen Verkehrsver- Daß das Erreichte immer bedroht war, hältnisse war Herberger 1946 und 1947 daß man sich immer aufs neue gegen die bereits wieder in Sachen Fußball unter- Einbrüche des Schicksals wappnen muß- wegs. In Süddeutschland hatte schon am te – „nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ –, 4. November 1945 eine reguläre Ober- wußte er. Aber es wurde wirklich Zeit für ligarunde mit 16 Vereinen begonnen. einen neuen Anfang. Der kündigte sich Josef Herberger war jetzt 50 Jahre alt. am 16. April 1947 mit einem Telegramm In aller Stille beging er diesen Geburtstag an: „Erbitte schnellstens Besuch zwecks in Weinheim – was gab es am 28. März endgültiger Berufung. Drahtet Ankunft. Herberger-Plan 1953 1947 auch groß zu feiern? Weiß Gott, er Quartier vorhanden. Dr. Carl Diem.“ Am Führerprinzip in demokratischer Zeit war schon einmal weiter gewesen. 1. Juni trat Herberger seinen Dienst als Wie die überwiegende Mehrheit der Fußballdozent an der neuen Sporthoch- Deutschen, so lähmte auch Herberger schule in Köln an. Bis Sommer 1950 un- nach der bedingungslosen Kapitulation terrichtete er die Studenten und führte ein Gefühl der Bedrohung vor dem Feind, daneben Lehrgänge für Fußballtrainer der mitten im eigenen Land stand. Wußte durch – der erste begann im November man denn, ob er sich nicht rächen würde 1947 unter primitivsten Bedingungen. für all die Greuel, die jetzt bekannt wur- den? Also hieß es, die Köpfe einziehen eim ersten Länderspiel der deutschen und sehen, daß man sein Brot und seine BFußballnationalmannschaft am 22. Kohlen bekommt, und bloß keine Politik November 1950, auf den Tag genau acht mehr. Jahre nach dem letzten Spiel der deut- Was heißt überhaupt Politik? Be- schen Elf, war Herberger schon über ein stimmt nicht Sport, für Herberger blieb Jahr offiziell wieder im Amt. Gegen den Fußball Fußball, er beharrte darauf, daß Widerstand des DFB-Vorstands hatte er selber in seiner Funktion als Reichs- sich der Ex-Reichstrainer und neue Bun- trainer und auch die Nationalmannschaft destrainer uneingeschränkte Vollmachten in ihrem Wirken an der Nahtstelle zwi- gesichert. Er ganz allein, das war ihm schen öffentlichem und privatem Leben wichtig, stellte die Mannschaft auf. nicht politisch gewesen sei. Die Frage in Wenn er es natürlich auch nicht so se- dem Meldebogen der Amerikaner, wel- hen wollte, Herberger hatte das Führer- che Uniform er während seiner Dienst- prinzip des Nazi-Reichs uneingeschränkt zeit getragen habe, beantwortete er mit in die demokratische Zeit hinübergeret- „keine“. Dabei war er jahrelang im Trai- tet. Mit seiner Einstellung war er auf der ningsanzug mit dem Hakenkreuz rumge- Höhe der Zeit. Sein persönliches Bedürf- laufen. War das keine Uniform? nis nach Kontinuität, das ihn nie vom Herberger half sich, wie die meisten „Neu“-, sondern immer vom „Wieder“- seiner Zeitgenossen, indem er sich auf Aufbau der Nationalmannschaft reden der ideologischen Ebene von den politi- ließ, entsprach dem kollektiven Bedürf- schen Inhalten der Nazis distanzierte. nis der Deutschen nach Vertrautem. Tatsächlich wollte er mit den weltan- Die Deutschen gewannen dieses erste schaulichen Bekenntnissen des National- Nachkriegsländerspiel mit 1:0 gegen die sozialismus, mit der Rassenlehre und Schweiz. Gleich danach nahm Herberger ihrem Kernstück, dem Antisemitismus, die Weltmeisterschaft 1954 als Zielpunkt Soldat Herberger 1916 mit der Lehre von der Lebensraumerobe- seiner Mannschaft ins Auge. Dort in der „Stolzes Gefühl der Verpflichtung“ rung und den dazugehörigen Kriegen Schweiz führte der Bundestrainer dann

126 DER SPIEGEL 1/1997 Stürmer Rahn (M.) nach dem Torschuß zum 3 : 2-Sieg im WM-Finale 1954: Goldene Uhr verschenkt L. GAYER mit viel taktischer Raffinesse seine mancher Bundesliga-Coach, aufgeregt der gestellten Aufgabe“. Da heißt es: Mannschaft bis ins Endspiel gegen die wie Rumpelstilzchen an der Linie ent- „Der schönste Lohn fließt immer auf uns Ungarn, die damals als beste Fußball- langhüpften, verachtete Herberger: „Die selbst zurück.“ Der allerschönste Lohn mannschaft der Welt galten. haben ihre Hausaufgaben nicht ge- hieß bei Herberger noch immer „der Im Vorrundenspiel, als die Deutschen macht.“ Er war ein sehr einsamer Mann Endsieg“. das erstemal gegen die Ungarn antreten in seinem Schweizer Job, tiefernst und Der Ball ist rund? Hier hatte sich ein mußten, schonte Herberger einen Groß- machtbesessen. Leben gerundet. An diesem Sonntag, teil seiner ersten Garnitur und verlor mit Nichts, was er sah, war ihm neu. Zum dem 4. Juli 1954, um 18.36 Uhr im Ber- 3:8. Aber nach Siegen über die Türkei, drittenmal beteiligte er sich jetzt an ei- ner Wankdorf-Stadion. Jugoslawien und Österreich (6:1) stand ner Fußballweltmeisterschaft. Zweimal, die Elf überraschend im Finale – und ge- 1934 und 1938, waren für ihn nur persön- s war sein Sieg, jahrzehntelang vorbe- wann dieses auch nach einem Tor von liche Niederlagen herausgekommen. Ereitet. Aber wer, außer ein paar Weg- Rechtsaußen Helmut Rahn in der 84. Mi- 1934, als sein Vorgänger Otto Nerz ihm gefährten, wußte das schon? Wer wollte nute mit 3:2. die Mitreise nach Italien verweigert es denn auch wissen? Es ging schließlich Daß der Sieg der Deutschen über die hatte, und 1938, als sein Führer Adolf um mehr als um diesen zerfurchten klei- Ungarn als „Wunder von Bern“ gefeiert Hitler ihm eine politische nen Mann, der immer ein wurde und Sepp Herberger in die Rolle Mannschaft aufgezwun- Auge zukniff. Es ging einer säkularisierten Legendenfigur ge- gen hatte, in der zur Hälf- In Filmen und um Deutschland. riet, war nicht allzu erstaunlich, zumal te Österreicher stehen Denn darüber gab es die Zeitgenossen mit dem „Wunder“-Be- mußten. Dies war sein Romanen wird seit dem Schlußpfiff des griff – von der „Wunderwaffe“ bis zum dritter Versuch, und er britischen Schiedsrich- „Fräuleinwunder“ damals großzügig um- wollte sich ihn nicht ka- der WM-Erfolg ters Ling landauf, landab gingen. Vor allem aber schien Herberger puttmachen lassen. Die zur nationalen keinen Zweifel, daß Ge- eine zentrale Voraussetzung der Heili- Wut, die er in seinen waltiges, ja Historisches gen-Vita zu erfüllen: Offenbar hatte ihm Spielern entfesselte, das Katharsis geschehen war an die- niemand ein Wunder zugetraut. Der Sieg war die Lebenswut des sem 4. Juli mit dem Fuß- in Bern schien einen unerklärlichen Josef Herberger selber. hochstilisiert ballsieg über die seit Sprung in seiner Biographie darzustellen. Einsatzwille, Unter- 32 Länderspielen unge- Die Legende zumindest will es so. ordnung, Kameradschaft, schlagenen Ungarn um Herberger selbst indes beharrte darauf, Hingabe hießen Herbergers zentrale Be- den Major Ferenc Puskás. Die Deutschen daß er gewiß ein bißchen Dusel gehabt griffe. Die unredigierten Aufzeichnun- – in ihrem Selbstverständnis keineswegs habe, von einem Wunder aber wollte er gen, mit denen sich der Bundestrainer schon auferstanden aus den Ruinen des nichts wissen. Für ihn war der Titel in er- seine Weltmeisterschaftserlebnisse aus von ihnen angezettelten Zweiten Welt- ster Linie das Ergebnis zielstrebiger und Notizen und Erinnerungen auf Papier krieges – waren plötzlich wieder wer, wie hartnäckiger Arbeit. zurückzuholen suchte, lesen sich wie die die meistbenutzte Formel hieß. Wer auch „Strapaziöser als das Spiel selbst sind Selbstaufmunterungen eines kriegsfrei- immer und was auch immer – auf jeden die Tage vor dem Spiel“, erklärte er. „Ich willigen Fähnrichs vor Verdun. Lob und Fall mehr als nur Fußballweltmeister. pflege Länderspiele vor dem Anpfiff in Preis „der Gemeinsamkeit der Stuben- Seither wird in einer Reihe von histori- meiner Phantasie in allen Varianten kameradschaft“ wechselt mit dem „stol- schen Untersuchungen und Aufsätzen, in durchzuspielen.“ Trainer, die, wie später zen Gefühl der Verpflichtung gegenüber Filmen, Romanen und Gedichten der

DER SPIEGEL 1/1997 127 BPK Weltmeister Herberger im Mannschaftsbus: „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen“

WM-Erfolg von Bern zu einer Art emo- Aber er war nicht nur älter als seine wirten. In deren Sälen und Klubzimmern tionaler Selbstanerkennung der Republik Spieler und schon deswegen „Vater des drängten sich Männergesellschaften, die hochstilisiert. In immer neuen und ande- Erfolgs“. Josef Herberger wirkte auch Eintritt bezahlten, um dann aus großem ren Wendungen gerät das „Wunder von um entscheidende Qualitätsgrade ernster, Abstand durch dichte Rauchschwaden ei- Bern“ zu einer nationalen Katharsis – härter und einsamer als seine Männer. nen Blick auf das zittrige Bild aus Bern wird dramatischer „Einstieg in eine neue Als wüßte er mehr. Gab es ein Geheimnis zu erhaschen, wo es in Strömen regnete. Wirklichkeit“, fußballerische Selbstbe- hinter dem Trubel? Er freute sich so, als Es war vor allem die Atmosphäre, die freiung aus der Umklammerung von kenne er den Preis des Glücks. ganz ungewöhnlich war. Bizarre Situatio- zwölf deutschen Jahren des Unheils, nen bleiben im Gedächtnis. Der Schrift- Wiedereintritt in eine nationale Identität. s scheint das Kennzeichen einer histo- steller Friedrich Christian Delius hat in Zwar wurde der 17. Juni 1953, der Tag Erischen Stunde zu sein, daß noch Jahr- einer Erzählung den Sonntag beschrie- des Volksaufstandes in der DDR, jahr- zehnte später jeder genau erzählen kann, ben, an dem er Weltmeister wurde, ein zehntelang als Feiertag begangen, den- was er in diesem Augen- kleiner Junge, den die noch blieb der 4. Juli in den Augen vieler blick getan hat, wo er war Stimme des aufgeregten Autoren der berühmteste Tag der deut- und mit wem zusammen. Nach den Reporters Zimmermann schen Nachkriegsgeschichte. Neun Jahre Ob beim Fall der Mauer aus Bern in den Bann nach dem Tag der Kapitulation, dem oder bei der Ermordung Jagdfliegern zwang. Das Radio trug 8. Mai 1945, den die überwiegende John F. Kennedys – nahe- „ferne Zuschauerrufe, Mehrheit eher als Zusammenbruch denn zu jeder erinnert sich an wurden die Lautsprecherdurchsagen, als Befreiung erlebte, wagten die Deut- den Augenblick, als er Fußballer die Aufregungen“ in das schen wieder einen kollektiven Blick in davon erfuhr. Und so ein Wohn- und Eßzimmer ei- die Runde. Und sie fanden, daß sie sich Moment war auch der neuen Heroen nes dörflichen Pastoren- neben den anderen Nationen sehen lassen Sonntag nachmittag zwi- hauses in Hessen. Der könnten. schen 17 und 19 Uhr am der Deutschen Junge hatte Mühe auszu- 45 Jahre später, nach dem Fall der 4. Juli 1954, als der harren, er ertrug die Mauer, würde der Psychiater Hans-Joa- Spielbericht aus dem Spannung nicht mehr, chim Maaz davon sprechen, daß damit Wankdorf-Stadion von Bern Millionen das Ergebnis war ihm fast egal, die Stra- ein „Gefühlsstau“ gebrochen sei. So Deutsche im Fußballfieber vereinte. pazen des Spiels wurden ihm zuviel. empfanden die Deutschen den Sieg da- Nach Schätzungen haben etwa 60 Mil- Doch weiter ging die Reportage: „Schä- mals auch. Sie waren aus dem Häuschen. lionen Deutsche vor den Radios gesessen fer, nach innen geflankt, Kopfball, abge- Auch alle Spieler strahlten das aus, und der Reportage Herbert Zimmer- wehrt, aus dem Hintergrund müßte Rahn leuchteten von innen vor Freude und manns zugehört. Auch das Fernsehzeital- schießen, Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Stolz. Selbst Josef Herberger lachte, ter begann in Deutschland mit diesem Tor! Tor für Deutschland!“ wenn er den Menschen zuwinkte oder aus Spiel, am Tag der Entscheidung waren Was sie angerichtet hatten mit ihrem dem offenen Wagen in München auf sie aber noch nicht einmal 40000 Fernseh- Sieg, das erlebten die Spieler ungläubig herabblickte. geräte registriert, die meisten bei Gast- auf der Rückfahrt. Der Heimweg wurde

DER SPIEGEL 1/1997 131 BPK Fußballhelden Fritz Walter, Turek, Herberger; Empfang des Weltmeister-Teams in München: Die Deutschen waren nach dem zu einem „Finale Grande“. Als um 17.35 fußballmannschaft „Die Roten Jäger“ „mit der deutschen Fahne im Herzen auf Uhr am 5. Juli der girlandengeschmückte Vorgesetzter und Lebensretter des dama- den Gegner losgestürmt“? In einem Brief rote Diesel-Triebwagen VT 08, der – wie ligen Unteroffiziers und jetzigen Natio- an den Bundestrainer empörte sich ein mit Riesenlettern an den Waggons stand nalmannschaftskapitäns Fritz Walter, Fußballfreund aus Würzburg: „Dieses – den „Fußball-Weltmeister 1954“ heim- reckte sich vergebens vor dem Abteilfen- Lumpenpack von Ausländern gönnt uns transportierte, im Bahnhof Singen ein- ster. Rollentausch? Auch. Jetzt seien die Deutschen diesen Sieg nicht.“ lief, dem ersten deutschen Halt auf der Fußballspieler „die Heroen der Deut- Gewiß, solche Entgleisungen gab es. Rückreise von Bern, da war das Gelände schen“, jetzt wurden sie ähnlich gefeiert Aber sie nehmen sich heute reißerischer von Menschen überflutet. Der Jubel wie 10 und 15 Jahre zuvor die Jagdflie- aus als im Kontext der damaligen Zeit, nahm ekstatische Formen an. Nach dem ger-Asse und erfolgreichen U-Boot- und die Regel waren sie nicht. Verkauf von 6000 Bahnsteigkarten hatten Kommandanten, befand der Politologe Nein, für einen „kollektiven Rauschzu- die Verantwortlichen die Kontrolle aufge- Hans-Peter Schwarz in seinem Buch „Die stand“ nationalistischer Art gab es – findet geben. Jetzt drängten sich um die 30000 Ära Adenauer“. der Historiker Arthur Heinrich – denn doch Menschen an den Zug, mehr als in der Das Schönste an dieser Mannschaft zu viele Zwischentöne, zuviel Nachdenk- Stadt wohnten. war aber, daß sich die Spieler gerade lichkeit und besonnene Zurücknahme: Al- Jugendliche sprangen von den Bahn- nicht als große Leute fühlten, sondern als lenthalben sei die Haltung anzutreffen ge- steigdächern auf den stehenden Zug. Die „Volk aus dem Volke“, wie eine Zeitung wesen, daß man „ein Geschenk von unvor- Polizei hatte die Sturmriemen unter dem schrieb. Herbergers „Männer“ waren die stellbaren Ausmaßen“ erhalten hätte und Kinn, erinnert sich der Sportjournalist Jungs von nebenan. Ihre auf dem Fuß- sich dafür dankbar zeigte. Harald Landefeld. Fetzen flogen. Männer ballfeld gezeigten Tugenden stammten Tatsächlich liefen die turbulenten Emp- standen plötzlich ohne Jacken, Frauen unmittelbar von den Arbeitsplätzen und fänge für die Kicker von Singen über ohne Kinder da. Landefeld: „Ein Run, aus den Betrieben. Überall, wo die Men- Konstanz, Lindau, Landsberg, Fürsten- gegen den das Stürmen der Kohlenzüge schen am Wiederaufbau werkelten, wur- feldbruck bis München überall gleich ab. in der Not vor der Währungsreform ein den die Fertigkeiten verlangt, für die je- Das Protokoll bereitete ein würdiges Ze- harmloses Kaffeekränzchen war.“ der einzelne der Weltmeister sich als mu- remoniell vor, wie es schon ein halbes Deutlicher hätten die Zeichen der Zeit stergültiger Repräsentant vorgestellt hat- Jahrhundert früher dem Kaiser gerichtet nicht ausfallen können: Den schnuckelig te: Anständigkeit und Bescheidenheit, worden wäre, mit Nationalhymne, Ehren- mit blütenweißen Arbeitskleidern aufge- Fleiß und Disziplin. jungfrauen, Begrüßungsreden örtlicher putzten Mädchen der Maggi-Werke ge- Natürlich fehlte es nicht an Warnun- Honoratioren im Cut. lang es in Singen, zu den Spielern vorzu- gen, die Deutschen höben zu einem neu- Die Bevölkerung indes gebärdete sich, dringen, um ihre Suppenwürfel und Tü- en nationalen Höhenflug ab. Hatten sie als fiebere sie den Beatles entgegen. Die teneintöpfe anzupreisen. nicht im Siegesglück von Bern ihr Honoratioren traten an zum Heldenemp- Der Jagdflieger Hermann Graf aber, „Deutschland, Deutschland über alles“ fang. Die Fans wollten ihre Stars feiern. im Kriege hoch dekoriert mit allen angestimmt? Hatte nicht ihr lärmender Ritterkreuzen und Eichenblättern des Re- Fußballpräsident Peco Bauwens seinen ährend „der Boß“ Helmut Rahn, der gimes und vor nicht einmal zehn Jahren „wackeren Knaben“ nachgerühmt, sie Wgefeierte Schütze des Siegestors, die noch als Kommandeur der Luftwaffen- seien – wie einst er im Ersten Weltkrieg – Jubelfahrt durch Süddeutschland wie

132 DER SPIEGEL 1/1997 SERIE Oh, der Mann, den seine Freunde auch Nie hat Herberger später daran gezwei- mal „Muckel“ nannten, war kein Spiel- felt, daß das „Wunder von Bern“ der jun- verderber in diesen Tagen. Er verstand gen Bonner Republik, deren demokrati- sich darauf, seine Sprüche zu machen, sche Gehversuche dringend Unterstüt- den Duzbruder der Nation zu mimen. Die zung durch Erfolge brauchten, eine enor- Masken des Plauderers und Charmeurs me Hilfe war. Aber krampfhaft vermied er hatte er erprobt – sie paßten ihm. Gern es, diesen Schub „politisch“ zu nennen. gab er den Volkstümlichen. Doch hielten Politik – das war im ausblendenden seine schlauen Witzeleien immer die Denken dieser Jahre noch immer die Leute auf Abstand. Nazi-Zeit. Und die wurde – mit Rück- Er liebte die Begeisterung der Fußball- griff auf eine pathetische Vorkriegsspra- fans, aber er verachtete ihren Sachver- che – einfach weggeredet, so als wären stand. Hatten sie ihn nicht gerade noch die fünfziger Jahre die bruchlose Verlän- ausgepfiffen? Hatten sie nicht seinen gerung der frühen Dreißiger. Was glor- Rücktritt verlangt vor der Weltmeister- reich klang an der großdeutschen Zeit, schaft und noch nach dem ersten Ungarn- die klirrenden Blitzsiege der deutschen Spiel? Militärmacht etwa, kam zu Beginn der Es würde wieder passieren. In seinen fünfziger Jahre öffentlich immer noch Notizen war kein Mangel an Eintragun- gut weg. Der Dämon der unheilvollen gen wie: „Gestern noch auf hohen zwölf Jahre hieß , was die Rossen …“ Und: „Nichts ist schwerer Frage nach der Verantwortung aller an- zu ertragen als eine Reihe von guten Ta- deren erübrigte. gen …“ Speziell aus dem Fußball waren „Auschwitz war noch nicht die Meta- diese Erfahrungen nicht abgeleitet, eher pher für das Trauma unseres Jahrhun- allgemein aus dem Leben. Aber Herber- derts“, schreibt der Historiker Peter Rei- ger war nicht der Mann, der dazwischen chel. Die pflichttreuen deutschen Solda- große Unterschiede sah. ten wurden in Filmen und Büchern als Er hatte Gründe, dem Glück nicht zu gutgläubige Opfer einer verantwortungs- trauen. Also war er bereit, es mit Schwie- losen Führung entlastet. Der Rehabilitie- rigkeiten aufzunehmen. Immer. Verände- rung der Wehrmacht, deren Generäle nun

SÜDD. VERLAG rungen schreckten ihn nicht. Sie reizten von den westlichen Siegern als Verbün- Sieg aus dem Häuschen seine planerische Phantasie. dete gegen Moskau wieder gebraucht wurden, stand sowenig etwas im Wege „eine einzige Show“ genoß und der Ex- as den Bundestrainer von vielen sei- wie der Wiedereingliederung der ehema- Unteroffizier Fritz Walter übermütig Wner Mitmenschen unterschied, war ligen NS-Beamtenschaft in den staatli- den am Zugfenster vorbeigleitenden seine gewitzte und absolut pragmatische chen Apparat der Bonner Republik. Getreidestiegen „Stillgestanden! Augen Fähigkeit, sich den modernen Gegeben- Wer fragte da schon nach der Vergan- rechts!“ kommandierte, hielt sich Her- heiten anzupassen, auch wenn sie ihm genheit eines Fußballtrainers, der seit berger auffällig unauffällig im Hinter- nicht behagten. Konsumgesellschaft? 1936 als Angestellter des Reichssportfüh- grund. Stand er, bei Empfängen oder am Medienwelt? Profifußball? Starkult? Der rers von Tschammer und Osten den Nazis Zugfenster, doch einmal im Lichte der kühle Rechner Sepp Herberger wußte gedient hatte? Weder die unterlegenen Öffentlichkeit, dann entleerte er sein Ge- schneller und geschickter mit neuen Ge- Ungarn noch die Genossen Fußballer aus sicht und bewegte sich so beiläufig, daß gebenheiten umzugehen als viele seiner der DDR erinnerten die Welt 1954 an die- man ihn leicht übersah. jüngeren und besser ausgebildeten Kolle- sen Aspekt des Meisters aus Deutschland. In Lindau, der ersten Übernachtungs- gen. Er übertraf sie an Unwidersprochen, ja station auf deutschem Boden, stieg der Erfahrung, und das ließ nicht einmal wahrge- freundliche kleine Mann dann als letzter er sie spüren. „Ich habe Er liebte die nommen, konnte sich aus und nahm geduldig einen weiteren immer dafür gesorgt, daß Sepp Herberger wie na- Zinnkrug entgegen. In München seufzte ich mit allen gut zurecht- Begeisterung der hezu alle alten Kamera- er schon mal: „O Gott, wenn wir jetzt ge- kam“, gestand er einmal. den der „Kriegsgenerati- gen die Ungarn antreten müßten“, als sei- „Aber ich habe auch dar- Fußballfans, on“ – deren Antikommu- ne Männer im Löwenbräukeller die Bier- auf geachtet, daß nicht verachtete aber nismus so ungebrochen krüge ansetzten. jeder mit mir gut zurecht- war wie ihr autoritäres Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. kam.“ ihren Denken – als einen Idea- Herberger sah alles und schwieg. Daß Josef Herberger war Sachverstand listen betrachten, dessen der Torwart Toni Turek, der frisch er- mobil, modern, flexi- Glaube an die gute Sache nannte „Fußballgott“ der Deutschen – bel. Und zugleich war er übel mißbraucht worden den er als Bruder Leichtfuß ohnehin auf ein zutiefst altmodischer war. Es ist dieses Aus- dem Kieker hatte –, für Herbergers Be- Mensch, ein Fossil an Prinzipientreue blenden der Nazi-Zeit, diese beinahe griffe schamlos mit der Kellnerin im Zug und Disziplin, ein Ausbund aller preußi- selbstverständliche Übernahme der All- flirtete – der Chef notierte es mit drei schen Tugenden, die später Sekundärtu- tagsrituale und die unkritische Weiterver- Ausrufungszeichen in seinem berühm- genden heißen würden. Was immer sich wendung deutscher Sprech- und Denk- ten Notizbuch: „Was kann ich für Sie in diesen Jahren an Diskrepanzen zwi- und Verhaltensgewohnheiten seit Kaisers tun?“ Toni: „Alles“!!! Auch daß Helmut schen schwer zu vereinbarenden Lebens- Zeiten, die Adenauers Ära allen, die sie Rahn die goldene Uhr, die er in der formen öffentlich bemerkbar machte – nicht nostalgisch verklären, in alptraum- Schweiz als offizielles Weltmeisterprä- Sepp Herberger trug sie in sich. Nach haft unwirklicher Erinnerung bleiben sent erhalten hatte, seiner Tochter zur außen machten sie sich weniger als Wi- läßt. Auch dafür stehen Herbergers Welt- Konfirmation weiterschenkte, fand er dersprüche bemerkbar denn als irritieren- meister. nicht in Ordnung. Aber er kommentierte de Überlagerungen, die sich aneinander es nur für sich. rieben wie Eisschollen bei Tauwetter. ENDE

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