«Gerechtigkeit Erhöht Ein Volk» 40 Jahre Frauenstimm- Und -Wahlrecht Themenheft Für Die Sekundarstufe II

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«Gerechtigkeit Erhöht Ein Volk» 40 Jahre Frauenstimm- Und -Wahlrecht Themenheft Für Die Sekundarstufe II KAPITEL 1 «Gerechtigkeit erhöht ein Volk» 40 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht Themenheft für die Sekundarstufe II Die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung und des Kampfs für soziale und politische Gleichberechtigung – mit den wichtigsten Originalquellen – in 40 Lerneinheiten Herausgeberin Gosteli-Stiftung 1 Impressum Herausgeberin: Gosteli-Stiftung, Altikofenstrasse 186, CH-3048 Worblaufen, Tel. +41 31 921 02 22, [email protected], www.gosteli-foundation.ch, Konto 30-16789-2. Projektleitung: Brigitte Deubelbeiss, lic. phil. I, Geschichtslehrerin, Neue Kantonsschule Aarau. Dokumentation, Redaktion: Monika Bill, administrative Geschäftsführerin und Regula Schär, lic. phil. I, wissenschaftliche Mitarbeiterin Gosteli-Stiftung. Textberatung, Lektorat, redaktionelle Bearbeitung: Michael Walther, Journalist BR, Autor, Textcoach, Flawil SG. Druck und Layout: Ast & Fischer, Wabern BE, Nick Gergely, Polygraf. Erste Ausgabe 2011, 1000 Exemplare. © Gosteli-Stiftung, Worblaufen. «Gerechtigkeit erhöht ein Volk» 40 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht Themenheft für die Sekundarstufe II Die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung und des Kampfs für soziale und politische Gleich berechtigung – mit den wichtigsten Originalquellen – in 40 Lerneinheiten Editorial – was will dieses Heft? Grösste unblutige Freiheitsbewegung des 20. Jahrhunderts Liebe Leserinnen und Leser – Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler! « Der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen leistete eine enorme Informationspolitik und jahrzehntelange 2011 feiern wir 40 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht. Es staatsbürgerliche Bildungs- und Schulungsarbeit », sagt ist eine «Selbstverständlichkeit» geworden (heisst es heu- auch Marthe Gosteli, die Gründerin des Archivs zur Ge- te immer). Dieses Heft zeigt den langen Weg dahin. Es schichte der schweizerischen Frauenbewegung – und ver- wurde herausgegeben von der Gosteli-Stiftung – dem weist darauf, dass zwischen 1918 und 1971 in der Schweiz wichtigsten Frauenarchiv in der Schweiz (mehr dazu siehe auf Forderung der Frauenbewegung bereits mehr als 50 Seite 7). Abstimmungen auf kantonaler und kommunaler Ebene über das Frauenstimmrecht durchgeführt und auch ent- Dass der Weg bis zum Stimm- und Wahlrecht für die sprechend propagiert wurden. Schweizer Frauen so lang war und dass es eben nicht auf «selbstverständliche» Weise zustande kam, soll nicht ver- « Dass es mit dem Frauenstimmrecht vorwärtsging, lag an gessen gehen. Dazu will dieses Heft beitragen. Bis die dieser Aufklärungsarbeit », betont Gosteli. « Wir hatten Schweiz 1971 als letzter europäischer Staat das Frauen- nicht nur den Kampf um das Frauenstimmrecht, sondern stimm- und -wahlrecht einführte, brauchte es immer wie- die Bewegung war eingebettet in den gesamten, interna- der den Mut von Frauen – und nicht selten auch von gut- tionalen Emanzipationsprozess. Die Frauenbewegung gilt gesinnten Männern. Es war entscheidend, dass die Frauen, denn auch mit Recht als eine der grössten unblutigen Frei- die fürs Stimm- und Wahlrecht kämpften, nicht aufgaben heitsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts. » und sich von Rückschlägen nicht unterkriegen liessen. Die Gründerin der Gosteli-Stiftung war auch eine der trei- benden Kräfte innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der Die Schweizerinnen gehörten zu den schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rech- am besten organisierten Frauen Europas te der Frau. Diese koordinierte beide eidgenössischen Ab- stimmungskämpfe für das Frauenstimmrecht – 1959 und «Die Schweizerinnen gehörten bereits zu Beginn des 20. 1971. Ihre Vertreterinnen agierten auf höchster politischer Jahrhunderts zu den am besten organisierten Frauen Eu- Stufe, nämlich als Unterhändlerinnen mit Bundesrat und ropas», stellt die Historikerin Beatrix Mesmer in ihrem Parlament. Buch «Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht» fest. Insbe- sondere der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF) bot engagierten Frauen eine Plattform, sich in die Wandel in den Köpfen gesellschaftspolitische Diskussion einzubringen. Bei Ver- nehmlassungsverfahren wurden die Fachfrauen des BSF So war der Ausschluss der Frauen von der politischen Be- regelmässig um eine Stellungnahme angefragt. Mit ihren teiligung schliesslich einfach nicht mehr kohärent : Es war qualifizierten Eingaben lassen sich Bundesordner füllen. nicht mehr schlüssig mit der Gesamtsituation. Die Diskri- minierung der Frauen stand ausserdem im Widerspruch Trotz fehlendem Stimm- und Wahlrecht auf kantonaler mit dem universellen Katalog der Menschenrechte. Sie und eidgenössischer Ebene waren die Frauen also nicht stimmte aber auch nicht mehr überein mit der Verfassung zum Nichtstun verdammt. «Nebenher» engagierten sie unseres Landes. Kurz, die Schweiz hatte sich in einen Rie- sich immer auch für das Frauenstimm- und -wahlrecht. senwiderspruch verheddert. Sie waren Realistinnen und sahen, dass sie damit mehr politisches Gewicht erhalten würden. Für sie war es Und so passierte schliesslich – wegen des langen, Jahr- selbstverständlich, die anstehenden politischen Probleme zehnte dauernden, mutigen Kampfs der Einzelpersonen mit den Männern zusammen als gleichberechtigte Part- und der Bewegung; wegen der internationalen Öffnung, nerinnen anzugehen. aber auch, weil der Widerspruch zu den allgemein aner- kannten, universellen Grundwerten einfach nicht mehr zu 5 übersehen war – auch ein Wandel in den Köpfen. Der Wie Sie aus der oben gestellten Frage (Wem gebührt das Wandel ereignete sich insbesondere in genug Männerköp- Verdienst der Einführung des Frauenstimm- und -wahl- fen, so dass 1971 eine Mehrzahl Männer in der Schweiz rechts ?) erkennen können, bietet das Thema Frauenstimm- bereit waren, der Teilung der politischen Macht mit den recht immer noch viel Diskussionsstoff. Wo Menschen Frauen zuzustimmen – oder doch wenigstens die Zeichen miteinander leben, gibt es immer unterschiedliche Positi- der Zeit zu akzeptieren. onen, mit denen Sie sich auseinandersetzen und sich selber einen Standpunkt erarbeiten können. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Arbeit mit diesem Heft – und den Mut, Wem gebührt das Verdienst der Einführung sich für gesellschaftliche Veränderungen einzusetzen, wo des Frauenstimm- und -wahlrechts? es diese braucht. In den gängigen Lehrmitteln an den Gymnasien wird bei Brigitte Deubelbeiss der Beantwortung dieser Frage zumeist der 1968er Bewe- gung eine herausragende Bedeutung zugestanden. Wir Brigitte Deubelbeiss, lic. phil. I, ist Geschichtslehrerin an vertreten in diesem Quellenheft die These, dass die Zeit der Neuen Kantonsschule Aarau und Vizepräsidentin des auch ohne diese Bewegung reif war für das Frauenstimm- Stiftungsrats der Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte und -wahlrecht. Die «neue» Frauenbewegung trug wenig der schweizerischen Frauenbewegung. Sie war Projektlei- zur Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts bei. In terin dieses Themenhefts. der breiten Bevölkerung wirkten sich die ungewohnten Protestmittel damals sogar eher kontraproduktiv aus. Konkret gelangte die Abstimmung von 1971 deshalb auf die politische Agenda, weil der Bundesrat die europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen wollte. Das war mit der politischen Rechtlosigkeit der Frauen in der Schweiz schlicht unverträglich – und gegen diese Unterzeichnung « trotz Vorbehalten » lehnte sich die Frauenbewegung in der Schweiz vehement auf. 6 Gosteli-Stiftung – was ist das und was tut sie? Die Gosteli-Stiftung betreut Archivalien der meisten Frauenverbände sowie die Nachlässe wichtiger Frauen der Zeitgeschichte. Das Archiv ist eine einmalige Institution in der Schweiz und kann als historisches Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung bezeichnet werden. Die Gosteli-Stiftung ist wichtig, weil die Geschichtsschreibung auf der ganzen Welt lange Zeit von männlichen Werturteilen dominiert wurde. Diesen Umstand umschrieb die Lehrerin und Frauenrechtlerin Helene Stucki 1958 mit folgenden Worten: «Dass in unseren Geschichtsbüchern weder von Frauen- und Familienleben in einzelnen Epochen noch von hervorragenden Frauengestalten – so es sich nicht um die wenigen gekrönten Häupter handelt – die Rede ist, zeigt die unerhörte Einseitigkeit einer pa- triarchalischen Geschichtsauffassung.» Dabei, so kann man hinzufügen, gab es zu allen Zeiten in Politik und Kultur auch viele Frauen, die die gesellschaftlichen Entwicklungen prägten. Um diesen Frauen eine Geschichte zu geben und ihr Wirken in der Geschichtsschreibung zu verankern, gründe- te Marthe Gosteli 1982 das Archiv und die Stiftung. Nur weil es dieses Archiv gibt, in dem die x Laufmeter Ar- chivalien aufbewahrt werden, können Interessierte und Forschende in den Papieren, Büchern und Bildern stöbern, um die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung zu schreiben. Aufbewahrungsort der vielen umfang- reichen Dokumentationen der bedeutendsten Frauenorganisationen ist das Bauerngut in Worblaufen, wo Mar- the Gosteli 1917 geboren wurde. Marthe Gosteli engagierte sich seit den 1940er Jahre in der schweizerischen Frauenbewegung. Sie erhielt für ihr Wirken mehrere Auszeichnungen, unter anderem 1995 das Ehrendoktorat der Universität Bern. Mehr über Marthe Gosteli: Einheiten 30, 40. Wie funktioniert das Themenheft? Wir haben die lange Geschichte des Kampfs um das Frauenstimm- und -wahlrecht in vier Kapitel gegliedert. Jedes Kapitel besteht aus einer Reihe « Einheiten », die nacheinander oder exemplarisch behandelt werden können. Wir wollten vor allem die historischen Quellen – in der Regel Texte aus der Feder der Frauen, die für die Bewegung verantwortlich waren – für sich sprechen
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