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Titel Erinnerung kann man nicht befehlen Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit

AUGSTEIN: Martin, wir haben ja ein Jahr- AUGSTEIN: Du hast ihn beruhigt. hundertthema, das Hitler-Reich, selbst er- WALSER: Ich habe gelacht und gab mich lebt. Inzwischen ist das über 50 Jahre her. unheimlich viel lockerer, als ich war, und Sind wir Deutschen wieder ein ganz nor- habe gesagt: Mein Gott, Sie wissen offen- males Volk – ich habe das ja auch schon ge- bar zu wenig über die Leute in Deutsch- schrieben. Oder wünschen wir uns das nur land. Nach meiner Kenntnis ist von diesen – als ältere Zeitgenossen? Menschen, die ich durch all diese Jahr- WALSER: Ich war gerade in Amsterdam und zehnte kenne, nichts mehr zu befürchten. habe die Frage eines holländischen Intel- Abgesehen davon, daß einer Bevölkerung, lektuellen beantworten müssen: „Was kön- die das einmal hinter sich gebracht hat wie nen Sie den europäischen Nachbarn sa- die Deutschen, so etwas nie wieder pas- gen zur Beruhigung über die wiederer- sieren kann. Das ist so. Das ist eine Immu- starkte Großmacht Bundesrepublik, sprich nisierung. Deutschland?“ Da habe ich gesagt: „Sie AUGSTEIN: Das ist ja klar. Aber was heißt sprechen wie aus dem 19. Jahrhundert, wie das schon? Daß die Menschen aus der Ge- zu Bismarcks Zeiten, als es noch hegemo- schichte nichts lernen, ist ein Satz, der Gesprächspartner Augstein, Walser*: „Wir niale Probleme gab, mit denen dieser Bis- ebenfalls ziemlich sicher gilt. Sie werden marck wunderbar jonglierte. Seine Nach- dasselbe wieder machen, aber an einer an- die nehmen uns – wie ich hinzufügen folger haben es dann verpfuscht. Und Sie deren Stelle und unbewußt. Sie werden möchte – den ersten übler als den zweiten. reden jetzt wieder so, als hätten wir noch dasselbe nicht an derselben Stelle machen. WALSER: Und danach kommt Versailles. einmal das Ende des 19. Jahrhunderts.“ Allerdings haben wir aus dem Ersten Welt- Und erst dann ’33 und so weiter. 1918 war AUGSTEIN: Du hättest ihm auch mit dem krieg auch nichts gelernt. kein Frieden, sondern war wirklich Dik- früheren amerikanischen Außenminister WALSER: Von dem – wie ich tat. Und die wirtschaftliche Misere danach James Baker antworten können: Deutsch- finde, zu Recht – gesagt hat: Es ist die Mut- ermöglichte Hitlers Aufstieg. land ist an der Leine. terkatastrophe des Jahrhunderts. AUGSTEIN: Hitler hat schon 1920 in einer WALSER: Nein, auch das wäre gefährlich. AUGSTEIN: Ja, das ist wohl richtig. Aber es seiner frühesten Reden gesagt, die Juden Etwas, was an der Leine ist, das kann plötz- ist Quatsch zu sagen, niemand habe ihn müßten weg. lich losbrechen und beißen. Auch das ist gewollt. Das stimmt nicht. Der Erste Welt- WALSER: Das hat 1885 auch schon dieser nicht der Fall. Aber gerade das wollte der krieg war natürlich … Philosoph Paul de Lagarde gesagt. Holländer ja von mir wissen. WALSER: … die Mutterkatastrophe … AUGSTEIN: Der wollte sie nach Madagaskar AUGSTEIN: … eine Bankrotterklärung. Und schicken. Ja, ja. Aber er hat doch nicht ge- die Engländer, wohl auch die Franzosen, sagt, die müssen ausgelöscht werden. Hit- reden bis heute vom „Großen Krieg“ und ler selbst hat ja nicht gewußt, wie er das meinen damit nicht den Hitler-Krieg, die machen würde. Das hat er seinen Kumpa- meinen den Ersten. Der Zweite Weltkrieg ist eben dann der zweite Weltkrieg. Und * An der Küste Südfrankreichs.

1933 Reichstags- eröffnung in Potsdam: Händedruck zwischen Reichspräsident von Hindenburg und Hitler

1936 Francos Militär- SIPA putsch gegen die Volks- 1936 Charlie Chaplin frontregierung löst in in seinem Film „Moder- DPA Spanien Bürgerkrieg aus FOCUS / AGENTUR / MAGNUM R. CAPA ne Zeiten“

48 45/1998 Gleichzeitig mußte man am Leben bleiben und nicht vom Regime zermalmt werden. WALSER: Du bist ja nur vier Jahre älter. Ich bin Jahrgang 1927. Daß meine Mutter, de- ren Eintritt in die NSDAP ich in meinem letzten Roman erzählt habe, in der Partei war, habe ich erst nach 1945 erfahren. Mit- gekriegt, nicht erfahren. AUGSTEIN: Wie mitgekriegt? WALSER: Das war nicht so, daß man darüber gesprochen hat: „Ach, arme Mutter. Du warst in der Partei.“ Das war eine Mittei- lung, die ist durchgesickert, ohne daß man sagen könnte, von wem zu wem und ohne Bewertung. AUGSTEIN: Für mich waren die Familien- erzählungen sehr wichtig. Mein Großvater muß ein ziemlich unausstehlicher Mensch gewesen sein. Mein Vater durfte bei ihm nicht in seiner Militäruniform als einjährig freiwilliger Offiziersanwärter erscheinen. Er mußte sich bei einem Freund Zivilklei- dung anziehen. Geld für ein privat gehal- tenes Artilleriepferd war freilich da. Wenn meinem Vater vom Finanzprüfer vorge- halten wurde: Sie machen ja Spesen wie ein preußischer General, dann sagte er, ich bin auch soviel wie ein preußischer Gene- ral. Er wählte die katholische Zentrums- partei und haßte die Nazis. WALSER: Es gibt Familien, die sind nicht auf

M. ZUCHT / DER SPIEGEL Tradierung angelegt, verstehst du, daß der können uns nicht wegstehlen aus der Geschichte“ eine dem anderen was erzählt. Diese Fa- milie, aus der ich komme, konnte sich nen überlassen. Er wollte damit auch nicht WALSER: Hast du denn das alles damals abendliche Plaudereien über Vorfahren behelligt werden. Aber es war ganz klar schon gewußt? nicht leisten. Die war immer viel zu sehr von Anfang an seine Absicht, zwei Ziele zu AUGSTEIN: Nein, wissen konnte ich das nicht, mit dem Überlebenskampf beschäftigt. verwirklichen: den Ostraum zu beherr- aber die Atmosphäre in meiner Familie war AUGSTEIN: Na ja, bei uns reichten die gol- schen, direkt von Archangelsk bis zum Per- danach. Ich habe erst, als mein Vater tot denen Jahre der Weimarer Republik auch sischen Golf und indirekt das übrige Ruß- war, bemerkt, wie politisch gebildet der war. nur bis 1928/29. Bis dahin war mein Vater land dazu. Das war das eine. Das zweite Ich hatte ihn immer unterschätzt. Aber er noch in Besitz von Produktionsmitteln. war die Vertreibung und Vernichtung der wußte genau Bescheid. In dem Sinne hatte WALSER: Er hatte eine Fabrik? europäischen Juden. Und daran hat er sich ich natürlich großes Glück. Für uns stand AUGSTEIN: Ja, die produzierte Kameras und gehalten. Hätte er das Gegenteil befohlen, von Anfang an fest: „finis Germaniae“. fotografisches Gerät. Aber mein Vater – der hätten alle das Gegenteil getan. Allerdings WALSER: Ihr wußtet von Anfang an das war nicht sehr tüchtig, glaube ich, als Kauf- konnte er sich wohl auf einen gewissen Ende? mann – mußte die Fabrik, bevor sie in Kon- Antisemitismus stützen, den es immerzu AUGSTEIN: Finis Germaniae war für alle Anti- kurs ging, für 35000 Mark verkaufen. Das überall gegeben hat. Das Wort Antisemit Preußen – und das war mein Vater ja – ein war 1930. Und er ist das Schlimmste gewor- setzte übrigens als erster der Schriftsteller geflügeltes Wort. Ab 1933 schon. Man wuß- den, was man auf der Welt werden kann. Wilhelm Marr in Umlauf, er war, soweit te, daß Krieg kommen würde. Man wußte, WALSER: Handelsvertreter. ich weiß, Hamburger. Um 1880 herum gab daß man ihn verlieren würde. Und das war AUGSTEIN: Das ist entsetzlich. So was Er- er die „Deutsche Wacht“ heraus, ein ju- der Punkt. Und insofern hat man einfach niedrigendes, eine ständige Demütigung. Da denfeindliches Blatt. seine Rolle in der Gegnerschaft gesehen. haben wir im Familienrat gesagt, das muß

1936 Olympische Spie- le in Berlin: US-Leicht- athlet Jesse Owens ge- winnt vier Goldmedaillen

1937 Desaster von / DER SPIEGEL MAX EHLERT Lakehurst (USA): Der 1937 Massenaufmarsch und Zeppelin „Hindenburg“ Lichtdome auf dem Nürnber- BPK geht in Flammen auf AP ger NSDAP-Reichsparteitag

der spiegel 45/1998 49 Titel

Augstein (2. v. l., 1926) im Familienkreis, Walser (ca. 1937): „Wir sind in den Kindheitserinnerungen zutiefst unähnlich“ ein Ende haben. Also haben wir ihn de fac- AUGSTEIN: Das dachte ich auch schon. Nur, sondern ich hatte die Gnade der Vor-Kohl- to gezwungen, sich ein kleines Fotogeschäft mein Urgroßvater war bloß Bäckermeister, Geburt. Als ich zehn war, da war das Jahr zu kaufen. Viel war das nicht für den Sohn der dann erst später mit dem Weinhandel 1933. Mein Vater brachte mich zur Ein- eines der reichsten Männer von Bingen. anfing. Ich stamme aus keiner vornehmen schulung in ein Gymnasium, das am wei- WALSER: Also doch. Das hätte ich gleich Familie. Reich war sie, darum habe ich testen weg war von all den anderen Gym- sagen können, dein Großvater war reich. auch eine Kinderfrau gehabt, was ja nicht nasien in Hannover, weil er dachte, da sind AUGSTEIN: Der Mann war aber ein Em- alle hatten. So war das eben. mehr Katholiken.Waren aber nicht. Da ka- porkömmling. Er hat sich aus Amerika WALSER: Ich rechne mich zu den Kleinbür- men auch schon SA-Männer in Uniform, eine Hausorgel besorgen lassen. Und er hat gern. die ihre Kinder hinbrachten. in Bingen den ersten Tennisplatz angelegt. AUGSTEIN: Ich würde niemanden einen WALSER: Bist du sicher? Das gibt es doch WALSER: Für sich oder öffentlich? Kleinbürger nennen. Das ist ein sehr schil- gar nicht, daß jemand, um sein Kind in die AUGSTEIN: Für sich. Er hat nicht gespielt, lernder Begriff, man weiß ungefähr, was Schule zu bringen, die SA-Uniform anzog. aber angelegt hat er ihn, um zu zeigen, daß gemeint ist.Aber oft ist sehr Verschiedenes Das halte ich für die nachträgliche Insze- er sich das erlauben kann. Er war der Prä- damit gemeint. nierung eines Films. sident des Binger Weinhändlerverbands, WALSER: Nach meiner Definition ist Klein- AUGSTEIN: Ich weiß es noch. Sonst hätte es ein Weingutsbesitzer.Als er starb, war mein bürger der, der sich selber ausbeutet. sich mir ja nicht eingeprägt. So was kann Vater 18 Jahre alt und mußte insgesamt AUGSTEIN: Mithin wären Schiller, Robes- man nicht erfinden. Und da hat mein Vater eine Million Goldmark nachzahlen, die pierre und Kant Kleinbürger. zu mir gesagt: „Guck die Büste da vorne mein Großvater hinterzogen hatte. Buße WALSER: Der Großbürger ist der, der ande- an.“ Es war die Büste des Reichspräsiden- eingeschlossen. Mit 18 Jahren. re ausbeutet. Der Proletarier ist der, der ten Ebert. „Du wirst sie nie wieder sehen.“ WALSER: Dagegen ist ja Pro- ausgebeutet wird. WALSER: Und das hast du dir gemerkt? Da letariat. AUGSTEIN: Man kann das so sehen, aber ich warst du erst zehn. hielt mich nie für einen Kleinbürger. Ich AUGSTEIN: Ja, sonst wüßte ich es ja heute hatte nicht die Gnade der Kohl-Geburt, nicht mehr. Und dann sah ich ja, daß mein

1939 Am 1. September überfällt die deutsche 1940 Im me- Wehrmacht Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt xikanischen Exil wird Leo Trotzki, Stalins Widersacher,

YAD WASCHEM YAD von einem So- 1938 Pogromnacht am wjetagenten 9. November: NS-Horden zer- mit einem stören jüdische Geschäfte Eispickel er- AMW und mehr als 1300 Synagogen BPK mordet

52 Titel

Vater zu Hause – obwohl er Antisemit war – der Mutter ihre naiven Antisemiten- sprüche verbot. Er tat das auf seine durch- dringend gelinde Weise, aber er hat es ihr verboten. Ich wuchs in politische Ge- spräche hinein; und als Hitler die SA-Ra- bauken um Ernst Röhm erschießen ließ, da dachten wir, es wird nun besser, dabei wurde es schlimmer. WALSER: Du warst wirklich ein frühreifer Junge. AUGSTEIN: Ja, eine gare Furie, wie es im Ruhrgebiet heißt. Aber bei uns war ja auch alles klar. Es gab doch zum Beispiel keine Diskussion darüber, wer den Reichstag an- gezündelt hatte. Das waren die Nazis. WALSER: Darüber wurde in eurer Familie geredet oder auch noch mit anderen? AUGSTEIN: Es waren vor allem mein Vater, der mir gegenüber der beste Vater war, den man sich wünschen konnte, und ich. Wir hatten nie Krach. Wir verstanden uns her- vorragend, kriegten auch den Übergang hin zu tolerieren, daß ich mich allmählich zum Intellektuellen mauserte. WALSER: Wir sind in unseren Kindheitser- Schüler Augstein (ca. 1937): „Wir fühlten uns überhaupt nicht toll“ fahrungen zutiefst unähnlich. Mein Vater war auch der richtigste Vater, den man doch Bilder von Lovis Corinth.Verkauft sie auf dem Land irgendwo auslagerten. Und haben kann. Aber er war krank und ist und haut ab hier.“ wenn sie den Krieg überlebt haben wür- 1938 gestorben. Doch einer wie dein Vater, WALSER: Das hast du nicht gesagt, jetzt ver- den, dann sollten wir ihnen die Hälfte Rudolf, war er sowieso nicht. Einer, der klärst du irgend etwas. zurückgeben. aus höherer Begabtheit gemerkt hätte, wo- AUGSTEIN: Das ist falsch. Da hat mein Vater gesagt: „Ich denke doch hin der Schwindel läuft. Daß Hitler Krieg WALSER: Du wußtest doch nicht, wer Lovis nicht daran, solch schweinische Bilder bedeutet, hat er auch gesagt.Aber, daß sei- Corinth ist und daß man die Bilder ver- überhaupt in Besitz zu nehmen.“ Und ich ne Frau 1932 in die Partei eingetreten ist, kaufen muß. Gib zu, das hat dein Vater ge- habe hinterher zu ihm gesagt: „Sie nicht zu hat er nicht verhindert, konnte er wohl sagt, Rudolf! nehmen war richtig. Der Grund war falsch. nicht, weil er zur Abwendung von Kon- AUGSTEIN: Wer was gesagt hat, weiß ich Wir wollen nach dem verlorenen Krieg … kurs und Zwangsversteigerung nichts bei- nicht mehr. Es war eben unsere Meinung. WALSER: (lacht) Das ist doch nicht wahr. tragen konnte. Die Mutter aber, eben durch Und objektiv war sie ja auch richtig. Das AUGSTEIN: … nicht im Besitz jüdischen Ei- den Eintritt in die Partei, sehr viel. Sie hat muß vor den Olympischen Spielen 1936 gentums angetroffen werden.“ uns gerettet, er hat mit leiser Stimme kom- gewesen sein oder kurz danach. Ich weiß WALSER: Aber eins, Rudolf, weißt du auch: mentiert. Und viel gelesen. nur noch, daß die Leute gesagt haben: Die Auswahl von Bildern und Erlebnissen, AUGSTEIN: Wir wußten, daß der Krieg ver- „Das wird ja wieder besser. Früher ist es ja die du so unglaublich farbig und hinrei- loren geht, und nur danach haben wir ge- auch immer besser geworden.“ Wir glaub- ßend produzierst, ist eine ganz bestimmte handelt. Deshalb haben mein Vater und ich ten das ganz und gar nicht. Auswahl aus einer Gesamtgeschichte, die auch die Juden in unserer Bekanntschaft – Auch daß die Juden dann schlechter da- du jetzt mit der höchsten Legitimation aus- im ganzen sind es vier gewesen – gedrängt, stünden als wir, darüber waren wir uns ei- stattest. Alles, was du getan hast, war rich- sie sollten das Land verlassen. Ich habe ih- nig. Also schlugen sie uns vor, daß wir ihre tig. Alles, was dein Vater getan hat, war nen Butter hingetragen, weil sie die nicht Corinths nähmen, vielleicht zehn, und sie richtig und toll. kaufen durften. AUGSTEIN: Wir fühlten uns über- WALSER: Die konnten doch nicht weg. haupt nicht toll. Ich hatte nur das AUGSTEIN: Doch, sie hätten es gekonnt. Der Glück, einen Vater zu haben, der einen Familie haben wir geraten: „Ihr habt von einem Tag auf den anderen K. WOYCIK / FORUM K. WOYCIK 1942 Das KZ Auschwitz: planmäßige Vernichtung der europäischen Juden SIPA CAMERA PRESS CAMERA 1941 Nach dem Angriff Japans auf die amerikanische Flotte in Pearl Har- 1945 Auf der Konferenz von Jalta handeln Churchill, bor erklären die USA Japan den Krieg Roosevelt und Stalin die Nachkriegsordnung aus

der spiegel 45/1998 55 Titel

WALSER: Wolltest du nicht an die Front? AUGSTEIN: Um Gottes willen, wie sollte ich das. WALSER: Komm, sei jetzt nicht so klug.War- um nicht? Das interessiert mich. AUGSTEIN: Ich verstehe dich nicht. Nun fragst du mich so etwas Selbstverständli- ches. Ein Anti-Nazi, der den Hitler wirklich für die Verkörperung alles Bösen hielt … WALSER: Mein Vater war auch gegen Hitler und gegen den Krieg. Aber ich habe mich trotzdem freiwillig gemeldet. AUGSTEIN: Davon gab’s ja viele. Da kann man nix machen. WALSER: Jetzt paß auf, Rudolf: Wenn ich mir das heute zu erklären versuche, warum ich mich freiwillig gemeldet habe – ich war 16 Jahre alt –, dann komme ich nur darauf, daß ich die Leute damals, die sich gedrückt haben, verachtet habe. AUGSTEIN: Der Gedanke war mir fremd. WALSER: Du bist gleich auf der SPIEGEL-

SUHRKAMP VERLAG Seite der Welt geboren worden. Martin Walser (l.), Mutter, Brüder (ca. 1942): „Die Mutter hat uns gerettet“ AUGSTEIN: Ja, das scheint so. Jedenfalls … WALSER: Halt, ich muß dich noch unter- nichts an Antisemitismus mehr zuließ und WALSER: Genau, genau. Und doch hätte brechen. Wenn du glaubst, daß die Leute, nach dem Krieg sofort wieder Antisemit es meine Familie an Katholizität mit dei- die sich freiwillig gemeldet haben, auto- war. So war die Sache. ner spielend aufgenommen, da könnt ihr matisch Nazis waren, dann bist du in einer WALSER: Das kann man fast nicht glauben. abdanken. Denn meine Mutter ist sozu- Verblendung. AUGSTEIN: Aber so war es eben. sagen Thomas von Aquin im 20. Jahr- AUGSTEIN: Nein. Ich bin nicht in Verblen- WALSER: Ich kann wirklich sagen, daß ich hundert, ohne daß sie je von ihm gehört dung. Nützliche Idioten muß jedes Regime in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen hat, verstehst du. Die hat einen vollkom- haben. bin, erst nach 1945 erfahren habe, wer men katholisch geschlossenen Horizont ge- WALSER: Aber es geht dabei nicht um Na- ein Jude oder eine Jüdin war. Wir hatten habt, der sie durch und durch durchdrun- zis, und „nützliche Idioten“ ist ein Termi- ja unseren Kohlenhandel, und eine un- gen hat. nus, der ist für diese Zeit nicht anwendbar. serer Kundinnen war Frau Hensel, eine AUGSTEIN: Und meine Mutter war eine nai- Wer sich freiwillig meldete in diesem Krieg, Pianistin aus München. Daß sie Jüdin war, ve Antisemitin, die sich aber dennoch ge- der hatte doch noch nichts mit Politik zu hat mir mein Vater nicht gesagt und weigert hat, das von den Nazis gestiftete tun. Gerade dadurch, daß Hitler den Krieg meine Mutter auch nicht. Ich glaube, sie Mutterkreuz anzunehmen. angezettelt hat, hat er dafür gesorgt, daß haben es auch nicht gewußt. Und die WALSER: Hat sie sich geweigert? Oder habt seine billige und miese Ideologie im Ge- Frau Hensel war 1945 genauso da wie ihr ihr gesagt, das darf sie nicht nehmen? wölk des Patriotismus verschwand. vorher. AUGSTEIN: Nein. Sie wollte es nicht. „Ich AUGSTEIN: Mag wohl so sein, aber das kann AUGSTEIN: Ich klage doch niemanden an. habe meine sieben Kinder doch nicht für ich post festum nur hinnehmen. WALSER: Na ja, meine Mutter ist ja in der die Nazis gekriegt“, hat sie gesagt. WALSER: Gut.Aber du redest nicht von dei- Partei gewesen, nicht erst Weihnachten WALSER: Wenn du jetzt zurückschaust, nen sonstigen Landsleuten. Ich bin aufge- 1932/33 eingetreten, wie in meinem Buch – kommen dir die anderen nicht einfach ein wachsen in einer Atmosphäre, nicht fami- wo dieser Zeitpunkt kompositionell paßte bißchen unterbemittelt vor, weil sie darauf liär, sondern in der Schule, im Dorf und –, sondern noch früher. Ihr war klarge- reingefallen sind? dann in der Kleinstadt Lindau, da hat man macht worden, daß Hitler die Vorsehung AUGSTEIN: Nein, das war ja nicht unser Pro- schon jeden komisch angeschaut, der sich ernst nimmt, den Herrgott. blem. Unser Problem war, uns über dieses nur zur Flak meldete, Rudolf. Da hat man AUGSTEIN: Mit Hitlers Vorsehung hät- Regime des Bösen hinwegzuretten. gedacht: „Alle anderen gehen jetzt an die test du in meiner Familie nichts werden WALSER: Wolltest du dich retten? Front und sterben, und der will sich können. AUGSTEIN: Natürlich. drücken.“ Du hättest kein Selbstwertge-

1945 Sieges- parade der amerikanischen Truppen am 14. August am New Yorker

AFP / DPA Times Square 1945 Rotarmisten hissen am 1945 Mit zwei Atombomben auf 2. Mai die sowjetische Fahne auf Hiroschima und Nagasaki zwingen die

dem Berliner Reichstag / LIFE INTER-TOPICS A. EISENSTAEDT USA Japan zur Kapitulation

58 Titel

ne Stellung eines Kriegsoffiziersbewerbers offiziell und schriftlich abgelehnt, nach- dem mein engster Freund bei einer Kaser- nenhof-Schinderei gestorben war. Sie sag- ten mir, der war doch nur herzkrank, das stimmte sogar. Eigentlich war ich immer Deserteur, wenn auch nicht richtig. Mein einziges Prinzip im Kriege war, mich nicht auf Kosten eines Kameraden zu drücken. Ich war immer auf der Suche nach meiner Einheit, und die suchte ich möglichst weit vorn, und dann konnte ich den Stab nie fin- den, weil der Stab erfahrungsgemäß nicht vorne ist. So ging es bis zum Ende des Krie- ges einschließlich eines Schrapnelldurch- schusses. Die alten Splitter hätten mich vor einem Jahr beinahe den rechten Arm, wenn nicht das Leben gekostet. WALSER: Rudolf, du bist wirklich der beste, schönste, liebenswürdigste, ungefährdetste Roman, der zu Herzen gehendste, den ich je gelesen habe. Das muß ich einfach sagen. Dagegen sind alle, die es bis jetzt probiert haben, Stümper. Nur eines ist sicher: Es ist ein Roman. Mit der Wirklichkeit kann es nichts zu tun haben. Einverstanden? AUGSTEIN: Nein. WALSER: Hältst du es für Wirklichkeit? AUGSTEIN: Es ist erlebte Wirklichkeit, nicht geschönt. Soldat Augstein (vorn), Kameraden (ca. 1943): „Finis Germaniae“ WALSER: Aber jetzt paß mal auf, Rudolf: Mich macht das irre. Nietzsche, dem ich fühl mehr gehabt. Da kannst du mir heute AUGSTEIN: Davonkommen und dann sehen. sehr glaube und den ich für einen wirkli- erzählen, was du willst – das hatte mit Po- WALSER: Da muß eine solche Gewißheit in chen Gefühlsimpressionisten halte, meint litik nichts zu tun. Du warst einfach in ei- der Familie gewesen sein … ja, daß Geschichte eine Fiktion sei. Und ner privilegierten Ausgangslage. In deiner AUGSTEIN: Es war ja eine Gewißheit.Abso- du erzählst das so, daß man glaubt, so muß gloriosen hannoverschen Edelisolation lut. Ich wollte da durch. Marionettenspie- es gewesen sein. Deswegen muß es ein Ro- konnte dir offenbar nichts passieren. ler bei der Hitlerjugend, Kantinenwirt im man sein. Es ist ja versuchungslos. Du warst AUGSTEIN: Also gut. Ich habe das große Arbeitsdienst, Schütze Arsch an der Ost- nie in Versuchung. Du bist im Grunde ge- Glück gehabt, daß mein Vater kein Preuße front. Am Ende Leutnant. nommen die Krönung der Wehrmachts- und kein Nazi war, sondern ein normaler WALSER: Ich nicht! Ich wäre nicht Leutnant Wanderausstellung für alle Zeiten. Katholik in der Diaspora, ohne festen geworden, und wenn der Krieg tausend AUGSTEIN: Dann erzähl du doch mal was. Glauben, der mit seiner Familie zusammen Jahre gedauert hätte. Zu mir hat der Kom- Wie hast du denn dieses Jahrhundert er- diese Zeit überleben wollte.Wir hatten kei- panie-Chef nach der Grundausbildung ge- lebt? ne anderen Interessen, als dieses Reich zu sagt: Wer nicht gehorchen kann, kann auch WALSER: Da schweige ich. Ich habe keiner- überleben. nicht befehlen. Ich hatte, ohne es zu wissen lei chronologische Speicherung. WALSER: Ich kann mir nicht vorstellen, daß und zu wollen, bewiesen, daß ich nicht ge- AUGSTEIN: Hast du mir nicht erzählt, daß du ein Jugendlicher kein anderes Interesse hat, horchen kann. Das hieß: Sie können kein die Jahre bis 1932 voll in Erinnerung hast als zu überleben. Es muß irgendeine Hoff- Offizier werden. Du, Rudolf, so wie du bist, durch deine Eltern? nung, es muß irgendeinen Horizont geben, wärst in den tausend Jahren General ge- WALSER: Da habe ich mich mißverständ- auf den zu man überleben möchte. worden. Bitte, vergiß das nicht. lich ausgedrückt. Ich mache nämlich einen AUGSTEIN: Nein. AUGSTEIN: Was das Gehorchen angeht, so Unterschied zwischen Erinnerung und Ge- WALSER: Nicht? Nur davonkommen? habe ich die mir automatisch zugestande- dächtnis. Ich arbeite nicht mit Gedächtnis.

1947 Mahatma Gandhis gewalt- loser Widerstand

und ziviler Un- DPA FOTOS: gehorsam tragen 1948 Ben-Gurion verliest die dazu bei, daß Unabhängigkeitserklärung Israels Großbritannien seine Kronkolonie Indien in die Unab- 1948 Amerikanisch-britische Luft-

GAMMA / STUDIO X hängigkeit entläßt brücke während der Berlin-Blockade

60 der spiegel 45/1998 Titel

Was ich von dir, Rudolf, höre, das versetzt nicht gewußt habe. Man kann mich von einem Staunen ins andere, ob- auch sagen, ich habe nicht ge- wohl ich ein bißchen ein Spezialist bin in wußt, daß ich es gewußt habe. Gedächtnisbeobachtungen bei anderen, Und das ist der Unterschied. auch in der Literatur. Etwas ist in einen Über ein Gedächtnis kann man hineingefallen, wie es einem passiert ist, verfügen, über Erinnerungen und man kann es dann später gerade so nicht. Von einem Gedächtnis herausholen. Und dann klingt es, als hätte kannst du verlangen, was du es sich nicht verändert, obwohl es lange willst. Von der Erinnerung her ist. Das ist Gedächtnis. Damit habe ich kannst du nichts verlangen. Da überhaupt nichts zu tun. kann man nicht sagen: Bitte AUGSTEIN: Also fragt man dich, wie du die- schön, wie war das damals. In- ses Jahrhundert im Gedächtnis hast, und sofern habe ich mich sicher du sagst: Das weiß ich nicht. Und dann falsch ausgedrückt. Ich konnte muß ich wieder erzählen. plötzlich über den Herbst 1932 WALSER: Jetzt muß ich wirklich ein Bei- schreiben, obwohl ich nichts spiel bringen, um zu verdeutlichen, wie ich über den Herbst 1932 gewußt Gedächtnis von Erinnerung unterscheide. habe. Die Erinnerung ist eine Also: Ich habe jetzt dieses Buch geschrie- Produktion, an der die Gegen- ben, das in den dreißiger Jahren spielt. Als wart genauso beteiligt ist wie ich das Manuskript schon hatte, aber noch die Vergangenheit. Deshalb, laß nicht publiziert – da habe ich am Bodensee mich dir das sagen, finde ich es ja in Wasserburg, im Lokal meines Bruders, so toll, daß du dir alles glaubst, mit Einheimischen zusammengesessen, die was dir von damals einfällt. über ein exzellentes Gedächtnis verfügen. AUGSTEIN: Aber deine Erinne- Und dann erzählte einer beiläufig, daß sein rung wäre natürlich anders, Vater, wenn er ihn als Bub im Dorf errei- wenn du 1915 geboren wärst chen wollte, einen bestimmten Pfiff ausge- oder 1940. stoßen habe – ein höherer Ton, zwei tiefer WALSER: Das ist richtig. Ich bin in runter und kurz. der Weimarer Zeit geboren, und Den hat er vorgepfiffen. Und da sage ich: durch meinen Jahrgang bin ich „Guido, genau dieser Pfiff, du wirst es nicht festgelegt. Das habe ich gemerkt Soldat Walser (in Oberammergau 1945) glauben, kommt auf Seite 271 in meinem bei dieser Diskussion über die „Man war im Überlebenskampf“ Buch vor. Ich schicke dir per Fax die Seite.“ deutsche Teilung, als ich anfing AUGSTEIN: Und woher kanntest du diesen zu sagen, daß ich mich daran nicht gewöh- Deutsch, das es je gab. So wuchs die Tei- Pfiff, wenn es denn derselbe war? nen könnte. Da habe ich immer dazuge- lung allmählich ins Absolute. WALSER: Das ist Erinnerung. Ich habe die- sagt: Das liegt an meinem Jahrgang. Ich Im Grunde hat mich das Politische aber sen Pfiff vom Vater meines Freundes nicht bin in einem Land aufgewachsen, das hieß nach 1945 nicht interessiert. Ich hatte im gekannt. Und doch habe ich ihn in dem Deutschland. Und ich kann mich nicht dar- Gefangenenlager gelesen, und nach Kriegs- Buch genau beschrieben. Das ist Erinne- an gewöhnen, daß dieses Deutschland nur ende habe ich weitergelesen. Ich habe mei- rung. Ich weiß ganz sicher, daß ich das noch als Wort im Wetterbericht vorkommt. ne Lektüre einfach fortgesetzt. AUGSTEIN: Das konnte doch gar nicht an- AUGSTEIN: Du hast studiert. ders sein. Die Bundesrepublik war doch WALSER: Ja. Ich habe 1946 in Regensburg wirklich nur ein Provisorium, Ersatzlösung begonnen, an der Philosophisch-Theologi- und Notbehelf für eine Nation, die den schen Hochschule. Das war so eine Neu- Krieg als ganze verschuldet und verloren gründung. Ich hätte natürlich lieber in Frei- hatte und die auch den Frieden als ganze burg, Tübingen oder München studiert. gewinnen mußte. Das habe ich schon 1952 Aber ich war weder verwundet noch alt ge- geschrieben. nug, noch verfolgt. Trotzdem hätte ich in WALSER: Damals hatten wir schon ange- Freiburg einen Studienplatz bekommen fangen, gegenüber der DDR diese peinliche können – wenn ich sechs Wochen Aufbau- Pseudosprache zu entwickeln, dieses Wie- arbeit geleistet hätte, also Steine klopfen, dervereinigungsgedröhn, das verlogenste von den Ziegeln den Mörtel runterklop- AP 1950 Koreakrieg: Koreaner fliehen vor chinesischen Truppen nach Süden KEYSTONE / SYGMA KEYSTONE 1955 Hollywood-Ikone Marilyn Monroe posiert 1956 Während des Aufstands in Ungarn

für Billy Wilders Film „Das verflixte 7. Jahr“ / STUDIO X STILLS stürzen Demonstranten ein Stalin-Denkmal

63 Titel

die du zu verantworten hast – falsch ein- geschätzt habe. AUGSTEIN: Die Toten sind immer gut, das kennt man ja. WALSER: Ach, Rudolf, jetzt redest du so ne- benhin. Es stimmt ja nicht bei Strauß, und sonst stimmt es auch oft nicht. Die Toten in Vietnam waren nicht gut, nicht damals, nicht heute.Aber wer das in den sechziger, siebziger Jahren sagte, stand nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Das habe ich selbst erlebt, als ich Vietnam-Veranstal- tungen machte, weil ich dagegen war, daß die deutsche öffentliche Meinung den ame- rikanischen Krieg unterstützte. Da wurde man schnell zum Feind, nur weil sich Leute beteiligten, die links waren da- mals, die nachher bei dieser neuen DKP mitmachten. Dabei hatte ich nicht eine ein- zige Nachricht verbreitet, die aus dem Osten stammte, sondern nur Nachrichten aus Frankreich und Amerika. AUGSTEIN: Das kenne ich aber auch.

AP WALSER: Daß du nicht auf dem Boden des Verhafteter Augstein (1963)*: „Adenauer plus Strauß war zuviel“ Grundgesetzes warst? AUGSTEIN: Ja, sicher. Ich war doch auch ge- fen. Nur hatte ich bis dahin in meiner jetzt glaube – falsch erlebt habe. Für mich gen den Vietnamkrieg und habe es ja auch Jugend und Kindheit schon so viel körper- ist es ein Beispiel meiner Verführbarkeit kundgetan. Der Strauß im übrigen war lich gearbeitet wie andere Studenten ga- oder Nichtzuständigkeit. dafür. rantiert nicht. Ich hatte die Nase voll vom AUGSTEIN: In gewisser Weise kann ich ja WALSER: Aber du warst selber eine Macht. Körpertum. hier wohl als Fachmann reden. AUGSTEIN: Ach, ich war keine Macht, ich AUGSTEIN: Ich habe einen problemlosen WALSER: Ja bitte, dann rede auch einmal als war eine halbe Ohnmacht. Nein, die frei- Übergang gehabt in die neue Welt und in Fachmann. heitlich-demokratische Grundordnung, die die neue Zeit. Wir haben dann bald den AUGSTEIN: Ich habe ja viele vergnügliche habe auch ich in Frage gestellt. Der Viet- SPIEGEL gemacht, das ist ja alles bekannt. Stunden mit Strauß verbracht, hinterher. namkrieg war ein Verbrecher-Krieg. Ich hatte nie Schwierigkeiten, gegen etwas Aber vorher mußte er weg. Adenauer plus WALSER: McNamara hat in seinen Memoi- zu sein. Ich hatte mehr Schwierigkeiten, für Strauß war zuviel. Beide waren unterein- ren geschrieben, es sei ein Irrtum gewe- etwas zu sein. Das hat sich aber im Laufe ander Konkurrenten. Das machte die Sa- sen. Die mehr als drei Millionen Toten, die der Jahre abgeschliffen: Je älter man wird, che nur gefährlicher. waren ein Irrtum. In den Feuilletons zeig- desto weniger hat man Einfluß auf die jun- WALSER: In der sogenannten SPIEGEL-Af- ten sie mit Fingern auf mich, weil ich nicht gen Leute. färe, da war ich ja auch vollkommen auf korrekt auf dem Boden der FDGO, also WALSER: Mich hast du 1961 beeinflußt, in- deiner Seite.Aber das war nicht Strauß, das der freiheitlich-demokratischen Grund- dem dein SPIEGEL angst machte vor Franz war doch Adenauer. ordnung, stand. Damals waren das die Kon- Josef Strauß als das schlechthin Bedro- AUGSTEIN: Es war nur Strauß, der hat mich servativen. Inzwischen sitzen dort die hende. Der Strauß will die Atombewaff- ins Gefängnis gebracht. Dem Adenauer hat Linksintellektuellen, die 68er. Die nutzen nung der Bundesrepublik, habt ihr ge- das gefallen, das ist richtig. Aber der, der ihre Macht genauso aus wie ihre Vorgänger schrieben. Deshalb habe ich ein Büchlein die Gelegenheit gesucht und gefunden hat, und sagen mir heute nun wieder, daß mei- herausgegeben: „Die Alternative, oder und innerlich habe ich sie ja vielleicht auch ne Haltung nicht korrekt ist. Brauchen wir eine neue Regierung?“, zu- gesucht und gefunden, das war er, Strauß. AUGSTEIN: Es war ja unzweifelhaft, daß wir gunsten der damaligen SPD. Nachträglich WALSER: Dennoch, meine ganze zeitgenös- für die Folgen des Hitler-Krieges haften tut es mir leid, daß ich den Strauß – wie ich sische Aufmerksamkeit hat mir nachträg- und daß die Spaltung Deutschlands eine lich aufgedrängt, daß ich den Strauß – nicht Konsequenz die- * Bei einem Haftprüfungstermin in Karlsruhe. zuletzt unter allen möglichen Einflüssen, ses Krieges war.

1956 Pablo 1959 Chinas Führer Mao Picasso, Revo- mit Deng zur Zeit des lutionär der „Großen Sprungs nach vorn“ Modernen Male- rei, wird 75 I. PENN O. SALAS / BLACK STAR / BLACK SALAS O. 1959 Fidel Castro (r.) und Ernesto „Ché“ 1956 König des Rock’n’Roll – Guevara übernehmen GAMMA / STUDIO X JAUCH UND SCHEIKOWSKI JAUCH Elvis Presleys größter Hit: „Don’t Be Cruel“ die Macht in Kuba

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Aber daß daraus, wie Karl AUGSTEIN: Das ist tatsächlich Deutschland. Jaspers 1960 von hoher Ich beispielsweise kann mit der Stasi-Ver- philosophischer Warte aus dächtelei wenig anfangen, im SPIEGEL dekretierte, notwendig die aber und auch in anderen Blättern kann ich Existenz zweier deutscher darüber lesen. Von mir aus hätte man aus Staaten folgen mußte – das allen Stasi-Akten zusammen ein Feuer- erschien mir schon damals chen machen können. Aber es gab eben eine unsinnige Haltung. auch zu viele, die echt gelitten hatten. Wieso sollten die Deut- WALSER: Klar. Tolerant sein fällt in einem schen aus moralischen Herrenclub leichter als in einem Volk, das Gründen auf die Wieder- zwei Diktaturen durchmachen mußte. vereinigung verzichten? Und jetzt bin ich auf etwas gestoßen, WALSER: Ich bin erst in den was mir zu denken gibt: 1794 haben Goe- sechziger Jahren richtig the und Schiller nach einer Sitzung der wach geworden. Da habe Naturforschenden Gesellschaft in Jena, ich einen Roman geschrie- wo Goethe ja Ehrenmitglied war, ihre ben, der hieß „Halbzeit“, Freundschaft endgültig besiegelt. Schil- und in dem müssen sich ler war zu dem Zeitpunkt Ehrenbürger gewisse Personen zu die- der Französischen Revolution. Und Goe- ser Vergangenheit verhal- the, als Staatsbeamter geadelt, hat diese ten. Und in einem Thea- Revolution sozusagen nicht zur Kenntnis terstück, „Der schwarze genommen. Schwan“, habe ich zwei AUGSTEIN: Die Revolution spielte zwischen Ärzte mit ihrer Euthana- den beiden kaum eine Rolle. Denen ging es sie-Schuld konfrontiert. um die „Urpflanze“, aber nicht um Re- Das muß um die Zeit des volution. Auschwitz-Prozesses ge- WALSER: Mir ist aber klargeworden – das wesen sein, 1963. Da bin hat jetzt nichts mit der Qualität dieser ich natürlich gewesen. Ich beiden Kerle zu tun, sondern mit ihnen habe im Gerichtssaal mit- als Intellektuelle, als Schriftsteller –, daß geschrieben und hinterher eine solche Freundschaft heute unvorstell-

einen Aufsatz veröffent- BILDERDIENST ULLSTEIN bar wäre. Bei uns geht ein Graben durch licht: „Unser Auschwitz“ Schriftsteller der Gruppe 47*: Ungeheure Bevormundung? die Biographien, du gehörst hierhin oder heißt er, „Unser Ausch- dorthin. witz“. Ich habe sozusagen dagegen prote- nie aufgehoben oder gar entlastet gefühlt AUGSTEIN: Und nun möchtest du von mir stiert, daß man die KZ-Aufseher Boger und in der Behandlungsart, die das jeweili- hören, warum das so ist? Kaduk, und wie sie alle geheißen haben, zu ge Jahrzehnt praktiziert hat. Und dann WALSER: Ja, das möchte ich wissen, Rudolf, Bestien macht und zu Dante-Höllenfigu- schreibt eine Intellektuelle in einer Buch- Historiker. Gibst du zu, daß das deutsche ren, weil es eben unsere Leute sind. besprechung, nicht etwa in einer Polemik intellektuelle Klima immer schon intole- AUGSTEIN: Auschwitz ist und bleibt eine oder in einem politischen Artikel, den Satz: ranter war als im übrigen Europa? Katastrophe. Aber in der praktischen Poli- „Er hat sich gewandelt vom linken Kämp- AUGSTEIN: Nein. Man muß doch auch un- tik können wir das doch nicht perpetu- fer zum CSU-Festredner der deutschen terscheiden, von welchen Zeiten man re- ieren. Das geht nicht. Das können ja unse- Einheit.“ Das ist meine Biographie in die- det. Klar ist, daß Leute, die im Vormärz in re Kinder gar nicht mehr verstehen. ser Republik.Weißt du, was man da möch- Deutschland in Opposition standen, nach WALSER: „Auschwitz und kein Ende“ heißt te? Auswandern. Nur noch auswandern. England, Frankreich und Belgien auswei- ein Aufsatz, den ich – nach dem Goethe-Ti- AUGSTEIN: In Frankreich und Italien wäre chen konnten. Daß sie das mußten, lag tel „Shakespeare und kein Ende“ – 15 Jah- das natürlich so nicht denkbar, da kann ein natürlich an dem Metternichschen Klima re später geschrieben habe. In jedem Jahr- Schriftsteller vor jedem Gremium reden, vor allem in Preußen, das ist wahr. Also: zehnt habe ich mich neu auf das Thema ohne Rücksicht auf Parteien, ohne zu über- Man mußte aus Deutschland weg, aber eingelassen. Ich war nie entlassen aus die- legen, ob es diesem oder jenem genehm ist. man konnte auch weg. ser Problematik. Ich habe mich aber auch WALSER: Aber das ist Deutschland. Trotzdem entstand, schon vor Bismarck, das Gefühl, daß es so nicht weitergehen * Martin Walser, Heinrich Böll, , 1955. konnte. Dann kam dieser große und gleich-

1961 Männer des Kalten Krieges: Chru- schtschow und Kennedy treffen sich in Wien

1962 Medizin-Nobel-

R. LEBECK / STERN PICTURE PRESS preis für die Entschlüs- 1960 Aufbruch des Schwarzen Konti- selung der Struktur der SIPA nents: Belgisch-Kongo wird unabhängig Erbsubstanz DNS / DER SPIEGEL C. RIEWERTS

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das Feld, auf dem solche Meinungsherr- schaft am leichtesten durchsetzbar zu sein scheint. AUGSTEIN: Auch der Erinnerung kann man nicht befehlen, man kann sie nicht her- und nicht wegzwingen. WALSER: Als ich mich in den sechziger Jah- ren als Schriftsteller damit beschäftigt hat- te, dachte ich – das war naiv damals, das weiß ich wohl –, ich hätte das hinter mir: „Das habe ich verarbeitet. Ich habe damit nichts mehr zu tun.“ AUGSTEIN: Was natürlich nicht wahr ist. WALSER: Unsere Kinder können das viel- leicht sagen, denen ist das nicht mehr per- sönlich aufgeladen. Aber wir können uns nicht wegstehlen. Da kannst du noch so sehr, Rudolf, dieser Gnade oder jener Gna- de oder Geburt angehören. Tätermäßig habe ich nie etwas damit zu tun gehabt. Aber dennoch bin ich, warum, weiß ich auch nicht, hineinverwirkt in diesen Dreck.

M. ZUCHT / DER SPIEGEL Und ich merke nachträglich, nachdem al- Gesprächspartner Augstein, Walser: Ein ganz normales Volk? les zu spät ist, daß ich nicht herauskomme. AUGSTEIN: Ich fühle mich beschämt, weil zeitig verheerende Junker und stülpte alles AUGSTEIN: Du willst immer philosophisch ich Zeitgenosse dieser Taten war, von de- um. Aber man kann nicht sagen, daß eine werden. nen ich nichts wissen konnte. Das be- gerade Linie von Arminius zu Luther über WALSER: Nein, das ist nicht philosophisch. schämt mich. Meine Kinder schon nicht – wer ist der nächste Bösewicht, den wir Wenn mir jemand Auflagen macht, das soll mehr. Die Enkel werden gar nicht be- haben? – Friedrich, Bismarck und Luden- ich so und so in meinem Gewissen emp- schämt sein. Das ist ein ganz natürlicher dorff zu Hitler führt. Das geht nicht. Wur- finden, dann sträubt sich in mir etwas. Vorgang. de aber nach dem Krieg gemacht. Ich weiß Dann nenne ich das, obwohl das zum Ge- WALSER: Rudolf, ich bewundere dich, daß nicht, ob ich mich daran beteiligt habe. wissen nicht paßt, Porenverschluß. Dann du das sagen kannst: Ich fühle mich be- Aber ich glaube nicht. wehre ich mich. Wenn einer in der ein- schämt. Ich kann nur sagen: Ich fühle mich WALSER: Du hast von einer Kontinuität des flußreichsten Literatursendung des Fern- hineinverwirkt. Ein wirkliches Gewissens- Irrtums gesprochen. sehens, offenbar von Millionen Zuschauern wort … AUGSTEIN: Ja, sicher. Aber irgendeine Kon- angeschaut, wenn einer da vorwurfsvoll AUGSTEIN: Aber das ist doch dasselbe. tinuität dieser Art gibt es in allen Staaten. sagt: In meinem Roman komme Auschwitz WALSER: Nein, nein, nein. Nur bei uns hat sich das so stark ausgeprägt nicht vor, und wenn der andere dann sagt: AUGSTEIN: Zu einer Zeit gelebt zu haben als durch diesen schmachvollsten Irrtum, an Schon in „Ehen in Philippsburg“, also 1957, Erwachsener, wo das passieren konnte, das den man uns ja heute immer noch festkle- sei keiner in der HJ gewesen, keiner im beschämt einen auf immer. Aber politisch ben will, aus verschiedensten Gründen. BDM; ja, schon 1955 sei die deutsche Ver- sollten wir uns nicht mehr ducken. Das Nicht nur aus moralischen. gangenheit im „Flugzeug über dem Haus“ geht nicht mehr. Das ist jetzt zu Ende. Wir Das gilt es zu durchbrechen. Dazu gehört ausgeklammert worden … Daß das 1955 sind ein normales Volk, das Probleme hat, nicht so sehr Mut als zunächst einmal die kafkaeske Parabeln waren, in denen die die andere Leute auch haben. Und damit Erkenntnis, daß es eine herrschende Mei- Hitlerjugend schlecht plazierbar gewesen müssen wir anständig umgehen. nung gibt, die mal durchbrochen werden wäre, gilt nichts. Ästhetik gilt nichts, nur WALSER: Du hast jetzt schon zum zweiten muß. Ich beispielsweise – und als alter die politische Korrektheitsforderung gilt, Mal gesagt, wir seien ein normales Volk. Ich Mensch kann ich mir das gerade noch lei- und das erlebe ich als ungeheure Bevor- hoffe, deine Mitarbeiter werden dir solche sten –, ich wandle am Rande der Political mundung. Unkorrektheiten nicht durchgehen lassen. correctness. AUGSTEIN: Das ist es auch. Aber daß wir gern ein ganz normales Volk WALSER: Das Gewissen ist eines jeden Men- WALSER: Es wird vorgeschrieben, was vor- wären, das wenigstens wird man doch un- schen ganz eigene Sache. kommen muß. Und die Literatur ist nur gescholten wünschen dürfen. B. ADELMAN / AGENTUR FOCUSB. ADELMAN / AGENTUR 1963 Martin Luther King kämpft für Bürgerrechte der Farbigen in den USA AP 1964 Auf dem Weg zur Pop-Legende: AKG die Beatles aus Liverpool 1968 Die Studenten gehen in Paris auf die Barrikaden

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