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Kultur

Genazino: Mir geht es nicht darum, meine Figuren zu schützen. Sie sehen ihre Un- AUSZEICHNUNGEN zulänglichkeiten, das Hässliche im Detail – aber sie transformieren das, was sie sehen, zu einer Art innerer Belustigung. Bei „Das Peinliche bewegt mich“ Martin Walser, den ich sehr schätze, haben die Figuren dagegen immer den Gedanken Der Schriftsteller über Bettszenen, der : Sie möchten zurückschla- gen gegen das, was ihnen widerfährt. den Siegeszug des Kleinbürgertums und den Georg-Büchner-Preis, SPIEGEL: Finden Sie auch die Schrecken des der ihm am Samstag in Darmstadt verliehen wird Alters und des körperlichen Verfalls ko- misch, die Sie in Ihrem noch unaufgeführ- kül, das meinem Schreiben zu Grunde ten Theaterstück „Lieber Gott mach mich liegt, besteht darin, dass ich mir in den blind“ so gnadenlos schildern? siebziger Jahren gesagt habe: Ich will Genazino: Unbedingt. Das Thema des Stücks über etwas schreiben, was es noch nicht ist nicht so sehr das Alter und der Verfall, gibt. Ich wollte also die Welt der Ange- sondern der Kampf gegen den Körper über- stellten beschreiben, in der ich mich ein haupt. Der Nahkampf vieler Menschen ge- bisschen auskannte. Die Leute sollten sa- gen ihr eigenes Gesicht, gegen ihre Figur, gen: Da ist tatsächlich eine Lücke. Erst spä- gegen ihre Transpiration. Dafür muss der ter habe ich gelernt, dass es doch einige Körper gar nicht alt sein. Der Kosmetik- bedeutende Vorläufer gab. Ich kannte zu salon ist ja nicht für Alte, die Schönheits- dieser Zeit nur die Angestelltenromane chirurgie auch nicht. Und dort werden von Martin Walser, aber der war mir nicht psychische und physische Massaker am Kör- rabiat genug. per angerichtet – im Glauben, dass irgend-

ANDREAS REEG ANDREAS SPIEGEL: Inwiefern? was am eigenen Körper einem besseren Autor Genazino Genazino: Weil Walser eine Berührungs- Leben im Weg steht. Das ist es, was mich Glück an der Olympia-Schreibmaschine angst gegenüber der Peinlichkeit hat. Mir interessiert: dass der Körper angeklagt wird, dagegen ist das Peinliche wichtig, es be- weil einen ein dicker Hintern oder eine SPIEGEL: Herr Genazino, wie sehr hat es wegt mich. Walser will seinen Figuren zum kleine Brust angeblich an der sexuellen Er- Sie überrascht, dass Sie nun die wichtigste Beispiel nie die Einzelheiten von Bettsze- füllung oder am Lebensglück hindert. Auszeichnung der deutschsprachigen Lite- nen zufügen, ich möchte das absolut. SPIEGEL: Sie haben geschrieben, dass Sie ratur bekommen? SPIEGEL: Und deshalb lassen Sie Ihre Leser auf viele gar nicht wie ein Schriftsteller Genazino: Jedes Interesse an meiner Arbeit in allen erbärmlichen Details miterleben, wirken. Sind Sie denn mit Ihrem Körper, kommt für mich überraschend. Ich denke wie etwa der Held des „Regenschirm“-Ro- mit Ihrem Aussehen zufrieden? beim Schreiben nicht an ein Publikum. mans mit Erektionsproblemen kämpft, bis Genazino: Ich höre das oft, dass auch Frau- Gertrude Stein sagte auf die Frage, für ihn der von einer nackten Frau verström- en sagen: Der sieht ja gar nicht wie ein wen sie schreibe: „Für mich und ein paar te „Brotgeruch“ dann doch scharf macht? Schriftsteller aus. Aber ich bin zufrieden Fremde.“ Das gefällt mir. mit mir – also damit, wie Und dass diese paar Frem- ich aussehe. den derzeit mehr werden, SPIEGEL: Ihre Begabung fürs erstaunt niemanden mehr Komische haben Sie schon als mich. Denn der einzige als Redakteur bei der le- Grund, aus dem ich schrei- gendären Frankfurter Satire- be, ist die Lust: Ich muss zeitschrift „Pardon“ ausge- mich amüsieren dabei. lebt. Warum flogen Sie dort SPIEGEL: Heißt das, Sie 1971 raus? lachen über Ihre eigenen Genazino: Ich war zwei Jah- Einfälle, wenn Sie an Ih- re lang bei „Pardon“. Dann rer mechanischen Olympia- wurden dort alle jungen Schreibmaschine sitzen? Redakteure gefeuert, auch Genazino: Ja, das passiert Eckhard Henscheid war da- mir zuweilen. Wenn sich bei: Wir wollten Mitbestim- Einfälle in eine Geschichte, mung und ein Redaktions- in den Witz von drei Zeilen statut. Das war damals ge- verwandeln – das ist Glück rade aktuell. für mich. SPIEGEL: War die Kündigung SPIEGEL: Die Missgeschi- für Sie ein schwerer Schlag? cke Ihrer Helden aus der Genazino: Ich hatte zu „Abschaffel“-Romantrilogie kämpfen. Ich war Familien- oder dem Buch „Ein Re- vater und hatte ein Kind zu genschirm für diesen Tag“ versorgen. Und plötzlich scheinen nicht nur den Au- war ich arbeitslos, meine tor, sondern auch die Figu- Frau war auch Journalistin, ren selbst zu amüsieren – ohne feste Anstellung. So gehört das zum literarischen kam ich dann zum Radio. Programm? Lange Jahre habe ich für

Genazino: Ich habe kein Pro- / LAIF REDUX PICTURES das Radio gearbeitet und gramm. Das einzige Kal- Körperkult in den USA: „Nahkampf gegen die eigene Figur“ davon leben können.

43/2004 199 SPIEGEL: Waren Sie, der da im Streit für Mitbestimmung seinen Job verloren hatte, in den siebziger Jahren generell ein linker Gesellschaftskritiker? Genazino: Selbstverständlich. Ich habe zu- mindest die „Abschaffel“-Romane als en- gagierter Schriftsteller geschrieben. Ich hat- te sehr ernsthaft die Idee, dass man aus meinen Büchern gar nichts anderes folgern konnte, als dass es mit der Gesellschaft so nicht mehr weitergeht. SPIEGEL: Wann kam die Desillusion? Genazino: Das war eine allmähliche Selbst- aufklärung Ende der siebziger Jahre. Ich „Pardon“-Cover (1968), Redakteur Genazino (r.) bei „Pardon“-Aktion (1971): „Alle gefeuert“ habe gemerkt, dass die Literatur nicht in die Gesellschaft wirkt, sondern auf den, liegt noch ein halber Roman in meiner das Fernsehen und die Massenmedien. Wir der sie geschrieben hat. Das ist mir Schublade. leben im Weltkleinbürgertum. Die Klein- schmerzhaft klar geworden. Ich war so SPIEGEL: Was hätten Sie getan ohne Schrift- bürger haben das Sagen. politisch engagiert, fast wie ein DDR-Au- stellerei? SPIEGEL: Und doch sammeln Sie ihre Be- tor, auch wenn ich dort als Abweichler Genazino: Ich dachte ja, es sei vorbei. Also obachtungen aus dem Alltag. Arbeiten Sie ohne Klassenstandpunkt durchgefallen habe ich voller Panik ein Studium nachge- nur aus der Erinnerung? wäre. Dann habe ich gemerkt, wie ver- holt. Germanistik, Philosophie und Sozio- Genazino: Nein. Ich habe zwar ein sehr messen es ist, wenn ein Autor auf die logie. Das habe ich mit über vierzig mit gutes Gedächtnis und erinnere mich zum Gesellschaft einwirken möchte. Ich hatte dem Magister abgeschlossen, mit Note eins. Beispiel noch genau an den braunen Wool- von 1984 bis 1989 fünf harte Krisenjahre, Ich wusste, das muss sein, wenn ich einen worth-BH einer Frau, die ich vergan- auch buchlose Jahre, da dachte ich: Das Job haben will in diesem Alter. Ich habe gene Woche nach 30 Jahren wiedergese- ist es jetzt gewesen mit dem Schreiben. von diesem Studium sehr profitiert. Ich bin hen habe – genau so einen hat sie vor 30 Dann habe ich lauter ganz kurze Sachen dadurch ein anderer Autor geworden. Jahren getragen. Aber ich mache mir geschrieben und sie in einem Buch ver- SPIEGEL: Glauben Sie heute überhaupt noch auch im Café, im Kaufhaus fortwährend öffentlicht. Die andere mögliche Rich- an die Erziehbarkeit des Menschen, zu- Notizen auf kleinen Zettelchen, die ich bei tung wäre die totale Kloake gewesen, mindest die ästhetische? mir trage. Zu Hause arbeite ich die aus der Abstieg in die Bordellkloake, in die Genazino: Die Leser sind nicht die breite und lege sie nach einem ausgeklügelten Arbeitslosen- und Alkoholikerkloake, da Masse. Den Geschmack geben andere vor, System in Ordnern ab. Mit Nummern und Kultur

Überschriften, etwa: „Hund im Café“ oder Rilke und , im Roman te gibt es statt der privaten Gedächtnis- „Alter Mann im Pissoir“. Ich habe immer in Camus’ „Der Fremde“. Gelungenes Pa- kultur eine allgemeine Entsetzenskultur. noch die Übersicht, auch wenn es mitt- thos ist sehr, sehr selten. Ich glaube jeden- SPIEGEL: Stört Sie die? lerweile gut 30 Leitz-Ordner sind. Die falls nicht, dass ich’s hinkriege. Und wenn Genazino: Nein: Der Umgang mit diesem Hauptarbeit ist das Verknüpfen der Teile, ich es versuche, gefällt es mir nicht. Plötz- Thema ist immer bizarr. Meine private das Verschmelzen. lich wird der Kitsch sichtbar. Oder eine Bizarrerie besteht darin, dass ich seit mei- SPIEGEL: Heißt das, es kommt beim Schrei- heroische Weinerlichkeit, die auch merk- nem 16. Lebensjahr Holocaust-Bücher lese. ben wenig Neues dazu? würdig ist. Man muss den Ton genau tref- Ich war zweimal in Auschwitz. Mein Ge- Genazino: In der Hauptsache bestehen mei- fen. Ich kann es nicht. dächtnis ist übereifrig und überpräzise. Ich ne Bücher aus diesem Material. Das darf SPIEGEL: Warum kommen die Schrecken träume nachts davon, und ich träume mich der Leser aber natürlich nicht merken. des Dritten Reichs kaum vor in Ihren als Täter – das ist eine Folge von 40 Jahren SPIEGEL: Es fällt auf, dass Ihre Bücher an Büchern? KZ-Literatur. Ich muss aus Gründen mei- Umfang abnehmen und oft nur 150 Seiten Genazino: Ich schrecke davor zurück. Man ner eigenen Lebensfreude etwas dagegen dick sind. Woran liegt das? muss diesen winzigen, schmalen Pfad tref- haben, dass ich mich als KZ-Mann träume. Genazino: Ich muss Ihnen gestehen, dass fen. Ich habe es in meinem Buch „Eine SPIEGEL: Heißt das, Sie lehnen sich, ähnlich ich eine Art Todespanik davor habe, etwas Frau, eine Wohnung, ein Roman“ so an- wie Martin Walser, gegen die immer glei- nicht rechtzeitig fertig zu bekommen. Ich gedeutet, wie ich es kann. Dort habe ich chen Erinnerungs- und Schuldreflexe auf? finde es schlimm mir vorzustellen, ich geschrieben, dass in den fünfziger Jahren Genazino: Nein, denn es ist sinnlos, dagegen könnte tot umfallen und ein Fragment hin- das Entsetzen der Menschen noch in den zu polemisieren. Es gibt ja tatsächlich ei- terlassen. Selbst bei diesen kurzen Roma- Gesichtern abzulesen war. nen Verlust des Weltvertrauens durch den nen geht mir das gegen Ende so. Ich be- SPIEGEL: Dort heißt es: „Es gab weit und Holocaust, durch den Massenmord der Na- komme Schweißausbrüche. Das ist irratio- breit niemanden, der von ihnen verlangte, zis. Das ist eine Kulturlast, die wir mit uns nal – und auch wieder nicht: Ich bin dass sie fröhlich, erfolgreich, lustig, opti- herumschleppen. schließlich 61. mistisch oder sonstwie sein sollten.“ Aber SPIEGEL: Was wird das Thema Ihrer Büch- SPIEGEL: Die Kritiker loben Sie meist als waren die Deutschen damals nicht weniger nerpreis-Rede sein? den großen Unpathetischen unter den über die deutsche Schuld an den Nazi- Genazino: Ich werde über Langeweile re- deutschen Autoren. Ist diese Scheu vor Gräueln entsetzt als über Trümmer und den, dieses in „Leonce und Lena“ zum ers- dem Pathos auch Angst vor dem Risiko, Zerstörung? ten Mal im großen Stil behandelte moder- sich zu blamieren? Genazino: Nein, die waren schon über die ne Thema: Die mehr und mehr um sich Genazino: Ich glaube es ist Klugheit, die KZ und das Morden dort entsetzt. Es gab greifende Langeweile, die vollständige Rat- mich da zur Zurückhaltung zwingt. Es gibt nicht diese Entsetzenskultur, die wir heu- losigkeit der Gesellschaft angesichts der doch ganz wenig gelungenes Pathos. In der te haben, diese Denkmale, Filme, Artikel, Freizeitkatastrophe. Lyrik da und dort bei , bei die jetzt fortwährend zu sehen sind. Heu- Interview: Volker Hage, Wolfgang Höbel