Erinnerung, Fiktion Und Geschichte. Über Die Transformation Des Erlebten Ins Kulturelle Gedächtnis: Walser – Wilkomirski – Grass
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German Life and Letters 57:4 October 2004 0016–8777 (print); 1468–0483 (online) ERINNERUNG, FIKTION UND GESCHICHTE. ÜBER DIE TRANSFORMATION DES ERLEBTEN INS KULTURELLE GEDÄCHTNIS: WALSER – WILKOMIRSKI – GRASS HEINZ-PETER PREUSSER ABSTRACT In alle Erinnerungen mischen sich konstruktive Anteile; das gilt für die schriftlich abgefassten Autobiographien in besonderem Maße. Zuweilen wird hier deutlich die Grenze zur fiktionalen Narration überschritten. Aber gerade der Fall Wilkomir- ski hat gezeigt, wo die ontologische Differenz gewahrt werden muss zwischen Erinnerungen als Wahrheitsaussagen und reinen Produkten künstlerischer Phanta- sie. Umgekehrt hat Walser diesen Anspruch gar nicht erhoben und ist dennoch für seinen Roman Ein springender Brunnen dafür haftbar gemacht worden, kein adäquates Bild der Vergangenheit geliefert und Auschwitz verschwiegen zu haben. Schließlich hat Grass mit seiner Novelle Im Krebsgang Geschichte mit den Mitteln der Fiktion ins Bewusstsein rücken wollen; das Vergessene sollte wieder Gestalt erhalten und Allgemeingut werden. Alle drei Autoren bieten Extrempunkte im Prozess der Transformation des Erlebten ins kulturelle Gedächtnis, in denen insbesondere das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem unterschiedlich gewichtet wird. Und sie unternehmen ihre Versuche zu einem historisch neuralgi- schen Zeitpunkt, in dem die Gesellschaft abzuklären sucht, wie der Holocaust, die NS-Zeit und die Geschichte des Zweiten Weltkrieges – im Sinne eines Archivierens – erinnert werden sollen. I. GESCHICHTEN UND GESCHICHTE ‘In der Vergangenheit, die alle zusammen haben, kann man herumgehen wie in einem Museum. Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar.’1 Des- halb, so ließe sich im Sinne des Autors ergänzen, soll sie erzählt werden. Es müssen einzelne Geschichten sein, die Erzählungen, die dasjenige ergän- zen und kontrastieren, was als allgemeine Geschichte nur im Singular vor- kommt. Martin Walser beginnt seinen 1998 erschienenen Roman Ein springender Brunnen mit einer geschichtsphilosophischen Reflexion, die dem Individuierten gegen das Allgemeine zu seinem Recht verhelfen, es einklagen und behaupten will. In der dichotomen Konstruktion fällt einer- seits die sprichwörtliche Objektivität auf, in der vergegenwärtigt wird, was allen präsent ist oder gesellschaftliches Wissen über eine Zeit sein soll. Andererseits ist dem Einzelnen gerade nicht verfügbar, was seinen indivi- duierten Anteil am Ganzen der Vergangenheit ausmacht. 1 Martin Walser, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M. 1998, S. 9–10, auch die folgenden Kurzzitate. Weitere Einzelbelege im Text in Klammern, Seitenzahl nach Sigle SB. © Blackwell Publishing Ltd 2004. Published by Blackwell Publishing, 9600 Garsington Road, Oxford, OX4 2DQ and 350 Main Street, Malden, MA 02148, USA. ERINNERUNG, FIKTION UND GESCHICHTE. WALSER – WILKOMIRSKI – GRASS 489 Nimmt man die Raummetapher ernst – und das sollte man – so bietet sich die Geschichte dar als ein Museum mit Exponaten, zu dem sich ein Betrachter verhält, seinen Ort wechselt, mal dieses, mal jenes in den Blick nimmt, der Eindrücke selektiert und akkumuliert. Am Gegenständlichen selbst besteht kein Zweifel – oder besser: Er interessiert Walser hier nicht. Ganz anders die Seite der individuellen Vergangenheit, die Erinnerung des Einzelnen: Hier sind wir auf einer Ebene des Traumes, die im Erzäh- len zwar Gestalt wird, aber dennoch, wie der Traum selbst, dem Ich nicht verfügbar ist. ‘Erzählen, wie es war, ist ein Traumhausbau’, sagt Walser. ‘Beim Traumhausbau gibt es keine Willensregung, die zu etwas Erwünsch- tem führt. Man nimmt entgegen. Bleibt bereit.’ Die Bilder stellen sich ein; sie sind nicht verfügbar. Diese Loslösung vom Willensprozess hat Klages einmal Pathik genannt.2 Alles strömt ein auf das Ich, das sich mehr zum Medium es durchflutender Empfindungen macht, als zu einem selbst Tätigen. Zum Korrektiv dieses chaotisch anmutenden Fließenden wird erst die Narration und ihr Wesensmerkmal, die Sukzession. ‘Lange genug geträumt. Jetzt bau’, sagt der Text selbst. Die Träume werden transfor- miert in das sprachliche Nacheinander syntagmatischer Verkettungen, in die chronologische Abfolge des fragenden ‘und weiter?’, ‘und dann?’.3 Walser gebraucht hier die Metapher des Zuges, die als verkürzter Ver- gleich die Sprache, die Zeit und das Leben zu substituieren hat. Das schrei- bende Ich wartet in Wasserburg auf den letzten Zug, greift, da der Zug hält, nach allen seinen Taschen, und da es mehr sind, als es auf einmal fas- sen kann, löst es die Vielzahl auf in ein geordnetes, konzentriertes Hinter- einander. Doch das Resultat ist ein Scheitern. Allgemeinheit des Zuges – der Zeit wie der Sprache – und Individuiertes des Reisenden und seines Gepäcks, der je verschiedenen Erinnerungen, sind nicht kongruent. ‘Immer wenn du eine weitere Tasche in die Finger kriegst, entschlüpft dir eine andere, die du schon gefaßt zu haben glaubtest’, registriert das refle- xive Ich als Ansprache an sich selbst. ‘Da fährt der Zug an. Es ist zu spät.’ In der Textarchitektur objektiviert sich die subjektive Empfindung als Sprachwerdung; und sie realisiert dies in ihrer kunstvollen Anordnung, ihrer Komposition. Durch den Ausdruck wird sie Teil des Allgemeinen, das dennoch seine Individuiertheit behauptet. Der konkrete Schreibakt aktualisiert die Sprache als System, bestätigt, hinterfragt und verändert sie. Aber das eine geht nicht im anderen auf. Schreibender und Sprache verhalten sich asymmetrisch zueinander. Die vielen Koffer wollen nicht in den Zug. Immer ist es zu spät, und Erfahrung, gelebtes Leben, kann kaum, oder nur mit erheblichen Verkürzungen, Bestandteil des Allgemeinen werden. 2 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele [1929–31], 6. Aufl., Bonn 1981, S. 68, 233–7, 244–50, 520, 548, 558, 664, 843, 859, 867, 891, 1040, 1400 und öfter. 3 Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens [1955], 8. Aufl., Stuttgart 1983, S. 19–22. © Blackwell Publishing Ltd 2004. 490 ERINNERUNG, FIKTION UND GESCHICHTE. WALSER – WILKOMIRSKI – GRASS Selbst das Eigene ist nicht für sich genommen verfügbar. Walser thema- tisiert auch dies: ‘Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte.’ Das Erfahrene verändert sich in der Zeit wie die Person, die sich erinnert. Erleben und Erinnern fallen auseinander. ‘Man kann nicht leben und gleichzeitig etwas darüber wissen’ (SB, 124). Der gelebte Augenblick ist, wie Bloch sagen würde, dunkel:4 ‘Als das war, von dem wir jetzt sagen, daß es gewesen sei, haben wir nicht gewußt, daß es ist.’ Die Reflexion und damit auch die Erinnerung sind verspätete Prozesse. Und indem sie etwas nachholen, was im Vorgang nicht verfügbar war, konstruieren sie dasjenige, von dem behauptet wird, es sei gewesen. ‘Allerdings ist man dem näher als anderen’, räumt Walser ein. ‘Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird’ (SB, 9). Mit der Wiederholung unter- streicht der Text die Notwendigkeit der Konstruktion von Erinnerung. Und er thematisiert zugleich die Nähe zum eigenen Erlebten, die Grenzen in der Konstruktion von Geschichten. Walsers Ontologie der Erinnerung weist sie genuin als Fiktion aus. ‘Erzählen, wie es war, ist ein Traumhaus- bau’ (SB, 10), hieß es im Roman. Und gerade deshalb behauptet der Autor die größere Wahrheitsnähe des subjektiven Erlebens. Was ein wenig schwierig und theoretisch daherkommt, ist nichts anderes als die Verteidigung der Person, des eigenen Erinnerns, des eigenen Kör- pers gegen die Tendenz zur Verallgemeinerung geschichtlicher Tatsa- chen. Nur wenn man diese Passagen überliest oder gezielt missversteht, kann man dem Springenden Brunnen den Vorwurf machen, er verschwiege Auschwitz.5 ‘Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar’, behauptet Wal- ser mit Bezug auf seine Metapher vom Museum der Geschichte. ‘Wir haben von ihr nur das, was sie von selbst preisgibt.’ Das, was sich dergestalt als Individuiertes einstellt, erreicht gerade am Ende einer Lebensspanne erneute Prägnanz. ‘Ist jetzt im Vorbeisein mehr Vergangenheit oder mehr Gegenwart?’, fragt sich der essayistische Erzähler (SB, 15). Erinnerung lebt vom Rückblick. Aber auch das Zurückschauen ist interessegeleitet aus dem Hier und Jetzt der Gegenwart; Vergangenheit als Gegenwart, sagt Walser 4 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1979, S. 334–68, insb. 334–5, 338–49. 5 Vgl. dagegen Walser, Ein Springender Brunnen, S. 123, 379. Dort wird das KZ Dachau erwähnt und Häftlinge, die Johann zunächst in Uniform gekleidet und in Marschordnung beobachtet. Später wird er mit zwei Kameraden von zweien in solcher Sträflingskleidung ‘gestellt, mit Pistolen bedroht und aufgefordert [. .], alles was sie noch an Waffen besitzen, auszuhändigen’. Und zugleich ‘fällt Johann ein, was er vergessen gehabt hat und da er es vergessen gehabt hat’. Auch ist an mehreren Stellen vom (Halb-)Juden Wolfgang Landsmann die Rede, S. 122–3, 133, 397–8, und wie ‘wenig Johann weiß’ über die Juden und ihre Verfolgung in Deutschland, S. 397, vgl. S. 357. Am Rande kommen ebenfalls die in Dachau inhaftierten Homosexuellen, der rosa Winkel und ein Vetter vor, der als ‘Hundertfünfundsiebziger’ eingekerkert wurde, S. 361, vgl. S. 322–3. © Blackwell Publishing Ltd 2004. ERINNERUNG, FIKTION UND GESCHICHTE. WALSER – WILKOMIRSKI – GRASS 491 dazu.6 Und er widerruft alle Versuche, die verlorene Zeit