Heimatspiegel Illustrierte Beilage im Verlag von «Zürcher Oberländer» und «Anzeiger von » – Redaktion Anne Bagattini März 2016

Die Industrielandschaft Zürcher Oberland Von der Heimspinnerei bis zur Deindustrialisierung

Bauma, Juckeren: Die Spinnerei Grünthal mit Wirtshaus und Laden. (Foto Cornel Doswald)

Die Industrielandschaft Zür- des Kantons Zürich, besonders Etwa seit den 1740er Jahren ­dieser Zeit vollendete sich die bis cher Oberland in ihrer heuti- das Oberland mit Glatt-, Kempt-, ermöglichten steigende Löhne heute sichtbare Siedlungsland­ -­­ gen Gestalt entstand über Töss- und Jonatal und den sie die Gründung von Familienhaus­ schaft des Zürcher Oberlands. eine Zeitdauer von rund drei- umgebenden Berglandschaften, halten ohne bäuerliche Existenz- einhalb Jahrhunderten. Die eigneten sich weniger gut für grundlage, in denen auch die Der Flarz als Heimindustrie, die Fabrikan- den im Mittelland vorherrschen- Männer spannen und woben. Die Wohn- und Arbeitsort lagen der Industriellen Revo- den Getreidebau oder einen er- Heimindustrie erlaubte es auch Bereits die vorindustrielle Be- lution, Verkehrsbauten und tragreichen Weinbau als das landlosen Taglöhnern und Klein- siedlung des Zürcher Oberlands Kanäle, schliesslich die De- Unterland, das Weinland und das bauern, eine Existenz aufzu- war in ihrer Grundstruktur sehr industrialisierung – sie haben Nordufer des Zürichsees. bauen. Dies führte zu einem dezentral. Es war nicht das ge- alle in der offenen Landschaft Entscheidend für diese Ent- en­ ormen­ Bevölkerungswachs- schlossene Dorf vorherrschend, und im Siedlungsraum Spuren wicklung war, dass Baumwolle tum. Dabei ging gleichzeitig die sondern eine stark vom Relief hinterlassen, die als Ganzes als billiges Massenprodukt in Auswanderung in den Heim- ­abhängige Durchmischung von die Industrielandschaft aus- wachsenden Mengen importiert industriegebieten stark zurück. Dörfern, Weilern und Einzel­ machen. und verarbeitet wurde. Mit dem Stattdessen entstanden­ zahlrei- höfen. In dieser Streusiedlungs- Im 17. und 18. Jahrhundert Wachstum der Menge verarbei- che neue Wohnhäuser in den be- landschaft gab es nur wenige, breitete sich die Baumwoll- teter Rohbaumwolle setzte sich stehenden Dörfern und Weilern schwach entwickelte Zentren in industrie als ländliche Heim- im Oberland im Laufe des­ und neue Ansiedlungen im übri- den Zwergstädten der Land- industrie in einer Agrarland- 18. Jahrhunderts die Baumwoll- gen Gebiet. Die Besiedlung dehnte vogteisitze Kyburg, schaft aus, die bereits im spinnerei als dominierendes sich im Tössbergland sogar in und Grüningen, den Kirchdörfern Spätmittelalter bis an die Gren- ­Gewerbe durch; gebietsweise feuchte und steile Grenz­lagen und einigen wenigen Marktorten zen ihrer wirtschaftlichen Trag- verbreitete sich auch bereits die aus, die bisher für ganzjährige (Grüningen, Kyburg, Uster, Pfäffi- fähigkeit erschlossen war. Die Baumwollweberei. Beide wur- landwirtschaftliche Bewirtschaf- kon und, seit dem Spätmittelalter, südlichen und südöstlichen Teile den in Heimarbeit ausgeübt. tung nicht geeignet waren. In Wald 1621, Bauma 1661/1662). ­gemeinsamen Besitz aller Bauern in einem Dorf und bestand in der Regel aus Wald, Wiese und Streu- land. Dieses gemeinsame Eigen- tum diente als Weide für die Tiere und versorgte die Bauern mit Holz. Als aber im 16. Jahrhundert die Bevölkerung im Zürcher Oberland anstieg und es eng auf der Allmend wurde, beschlossen die Dörfer, die Nutzung auf eine bestimmt Anzahl von Bauernhäu- ser oder Höfe zu beschränken. Da­ im Fall einer Haus- oder Hoftei- lung auch die Allmendnutzung aufgeteilt wurde, unterteilte man nun die bestehenden Häuser oder man baute an sie an. Damit war jedem Hausbesitzer mit ­eigenem Kamin der Zugang zur Bauma, Sternenberg: Reihenflarz in der Untermatt. (Foto Cornel Doswald) Allmend gesichert.

Ausser in den geschlossenen «bäuerliches Reihenhaus». Der bestand wegen der Heimarbeit Die Epoche Dorfsiedlungen bestand hier Ausdruck «Flarz» stammt von noch die bisher übliche Einheit der Fabrikindustrie kein Verbot, ausserhalb eines «umeflarze» und hat die alte von Wohnort und Arbeitsplatz, Im frühen 19. Jahrhundert Dorfetters zu bauen. Neubauten mundartliche Bedeutung «krie- die erst durch die Zentralisie- setzte die Mechanisierung des waren ebenso wie Hausteilun- chen, sich ducken», ein sicher rung der Arbeitsplätze in den Zürcher Heimindustriegebiets gen und Anbauten verbreitet. passender Ausdruck für die nied- ­Fabriken aufgehoben wurde. ein (1802 Betriebsaufnahme der Die Realteilung der Güter bei rigen Häuser mit den schwach Heute sind im Zürcher Oberland ersten mechanischen Spinnerei Erbgängen führte zu einer Ver- geneigten Dächern, ­den soge- mehrere hundert solcher Häuser der Schweiz im Hard bei Wülf­ mehrung kleiner und kleinster nannten Tätschdächern. Typisch­ noch erhalten. lingen). 1814 gab es im Kanton selbständiger Bauernhöfe und für die Flarze sind auch die Flarze sind durch Teilen, Um- Zürich bereits 60 mechanische Taglöhnerhaushalte mit prekä- ­Reihenfenster, die noch heute­ und Anbauen von bestehenden, Baumwollspinnereien, 1827 wa- ren Existenzgrundlagen. die ehemaligen Webkeller und traditionellen Kleinbauernhäu- ren es 106 mit insgesamt Das charakteristische Erzeug- Spinn- oder Webstuben der sern entstanden. Zu ersten Haus- nis und die typische Hausform Heimarbeiterhäuser anzeigen. teilungen kam es bereits im 16. ­befanden sich viele kleinere­ Be- des Zürcher Oberlands ist seit Die Flarze besassen in der Regel Jahrhundert. Anlass dafür war triebe,196 000 teilweise Spindeln. ohne DarunterWasser- der Zeit der Heimindustrie das keinen bäuerlichen Wirtschafts- die sogenannte «Gerechtigkeits- kraftantrieb, die später wieder Flarzhaus. Der Flarz ist eine Art teil mehr oder höchstens eine beschränkung» auf der Allmend. - aus der Not heraus entstandenes kleine Stallscheune. Trotzdem Eine Allmend war damals im men bei Pfäffikon). verschwanden (z. B. an der Lupp

Wetzikon: Ehemalige Spinnerei Schönau mit Turbinenhaus, Kanalauslauf und (links). (Foto Jan Fischer, Kulturdetektive)

114 ­Energie effizient und kosten- günstig verwerten. Dies beein- flusste die Lage und die Gestalt der Industriestandorte nachhal- tig und lässt sich bis heute an den Bauten jener Epoche ab- lesen. Die typische Siedlungs- form der industriellen Revolu- tion bilden die Fabriken mit ihren Nebengebäuden sowie den ausgeklügelten Kanalsystemen und Weiheranlagen. Fabriken waren keine isolierten Produk- tionsanlagen, sondern funk-­ tionale Komplexe, zu denen die Verwaltungsgebäude, die Fabri- - sartigen Pärken (Neuthal, Trüm- pler-Arealkantenvillen und mit ihrenZellweger-Park z. T. gros Uster, Seiden­weberei und Villa Wald: Verschachtelte Flarzhäuser an der Werkstrasse. (Foto Cornel Doswald) Weber in Rüti, Dürsteler-Fabrik usw.), Stallscheunen Die neuen Betriebe der me- und Wagenschöpfen gehörten, chanisierten Baumwollindustrie aber auch Reparaturwerk­ nutzten eine natürliche Res- stätten, aus denen oft selbstän- source des Zürcher Oberlands: dige Produktionsbetriebe wie die reichlich vorhandene Was- mechanische Werkstätten oder serkraft und Gefällsenergie der Giessereien wurden. Bemer- zahlreichen Bäche und Flüsse kenswert ist die­ grosse Dauer- des Tössberglands und seiner haftigkeit der Betriebsstandorte, Westabdachung, die mit dem die trotz der späteren Weiterent- Aabach bis an den Greifensee wicklung der Energieerzeugung reicht. Je nach Energiekapazität und der Antriebssysteme­ orts- des Einzugsgebiets entstanden fest blieben, da an ihren Stand- Standorte unterschiedlicher orten bereits bedeutende Inves- Grösse. Die einzelnen Betriebe titionen getätigt worden waren. reihten sich an einem Wasser- Deshalb prägen die Bauten der lauf oder künstlichen Kanal auf ersten industriellen Revolution zu eigentlichen Industrieachsen, Uster: Kosthäuser, so genannter «Eisenbahnzug». die Orts- und Landschaftbilder oder sie siedelten sich in be- (Foto Cornel Doswald) immer noch. stehenden Dörfern an, die zu ­Industriedörfern wurden. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden dabei die für die Ener- giegewinnung günstigen Lagen umgestaltet; die Fabriken besie- delten die Einzugsgebiete der Wasserläufe Töss, Jona, Chäm- terbach/Aabach und Kempt und der meisten ihrer Zuflüsse. Als Ergebnis dieser dezentralen ­Industrialisierung entstand die unübersehbare Allgegenwärtig- keit der Industrieanlagen in den Tälern des Zürcher Oberlands. Das Zürcher Oberland wurde zur ersten mechanisierten Textil- industrieregion auf dem euro- päischen Kontinent. Fabriken und Kosthäuser Die Mechanisierung der Spin- nerei war wegen der Nutzung der Wasserkraft als Antriebs- energie auf die Zusammenfas- sung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben ange- wiesen. Nur in Grossbetrieben mit zahlreichen Arbeitskräften­ liess sich die mechanische Seegräben: Spinnerei Kunz im Aatal, einer der Grossbetriebe des «Spinnerkönigs». (Foto Cornel Doswald)

115 Ostschweizer Baumwollindust- bunden; es gab kein effizienteres rie um etwa 20 Jahre verzögert. Energietransportsystem für grös- (Die erste mechanische Baum- sere Distanzen als Seiltransmis- wollweberei der Schweiz wurde 1825 in Rheineck in Betrieb ge- der Spinnerei Neuthal bei Bärets- nommen.) Erst in den 1850er bis wilsionen oder (erhaltene bei der Weberei Bauten Rosenz. B. in- 1870er Jahren kam es durch das berg Wila). Zusammenwirken von Eisen- Erst der Einsatz von Dampf- bahnbau, Mechanisierung der maschinen seit den 1850er Jah- Weberei und Maschinenbau zu ren machte die Energieerzeu- einem zweiten, starken indus­ gung standortunabhängig und triellen Entwicklungsschub. erlaubte die Einrichtung grösse- Der Aufschwung der Textil- rer Produktionsbetriebe abseits industrie begünstigte die Ent­ der Wasserläufe. Die auffälligs- stehung von Sekundärindus­ ten baulichen Zeugen jener Zeit trien, namentlich der Metall- und sind die Hochkamine, die zu den Maschinenindustrie. Das bedeu- Kesselhäusern der Dampfma- tendste Unternehmen des Textil- schinen gehörten. Während der maschinenbaus im Zürcher Blütezeit der Energieerzeugung Oberland wurde die 1847 aus mit Dampfmaschinen durften Siebnen SZ nach Rüti verlegte die mächtigen Rauchfahnen Webereimaschinenfabrik Caspar über den Schloten auf keiner Honegger. 1863 nahm die Eisen- Darstellung eines Fabrikbetrie- giesserei Honegger in Wetzikon bes fehlen, welcher etwas auf den Betrieb auf. sich hielt, denn sie bestätigten, Bedeutend blieb auch die Fär- dass er prosperierte und auf vol- berei, hauptsächlich die Blau­ len Touren lief. färberei, als wichtigste textil­ Die Dampfkraft setzte aller- veredelnde Industrie. Daneben dings die Einfuhr von Steinkohle spielten die Stoffdruckereien, voraus und damit die Eisenbah- die Baumwollstoffe mit orna- nen als Energietransportsystem, mentalen Mustern bedruckten, das in der zweiten Hälfte des 19. im Zürcher Oberland nur eine Jahrhunderts gebaut wurde. untergeordnete Rolle. Nach der Bahnhofsnähe wurde damit für Turbenthal, «Eskimo»: Kesselhaus der ehemaligen Tuchweberei. Jahrhundertmitte etablierten Industriebetriebe zu einem wich- (Foto Cornel Doswald) sich vor allem in Rüti, Wald und tigen neuen Standortfaktor. Sie Bauma auch Betriebe der Sei- führte zu einer verstärkten Sied- Von einer tiefgreifenden Ver- Winterthur. Abgelegene Gebiete denindustrie. lungskonzentration und förderte änderung der Siedlungsform entvölkerten sich, vor allem das die Entstehung von Zentrums­ Tösstaler Hügelgebiet. Dampfkraft orten mit städtischem Erschei- «Aargauerdörfli» der Spinnerei Gegenüber der schnellen dank Eisenbahnbau nungsbild in den Industrie­ Unter-Aathalzeugen die Kosthäuser mit seinen (z. B. Kost das- ­Mechanisierung der Baumwoll- Ursprünglich gab es nur die dörfern Uster, Wetzikon, Rüti und häusern), die von den Fabrikan- spinnerei wurde die Mechanisie- direkte Nutzung der Wasserkraft Wald. Die grösseren Siedlungen ten für zugezogene Arbeitskräfte rung der Baumwollweberei in- in Fabrikbauten durch Wasser­ des Tösstals mit ihrer stärker (die im Aatal zum Beispiel aus folge des Fabrikbrands in Uster räder, später Turbinen. Die Ener- ­dezentralisierten Industrieland- dem Aargau stammten) gebaut 1832 im Vergleich zur restlichen gieerzeugung war standortge- schaft behielten dagegen das wurden. Erstmals lebten zahl­ reiche Industriearbeiter und -ar- beiterinnen nicht mehr auf eige- nem Grund und Boden, sondern waren in Wohnhäusern einge- mietet, in denen zahlreiche Woh- nungen über- und nebeneinan- der lagen. Zur Versorgung der Lohnarbeiter entstanden an vie- len Betriebsstandorten Kauf­ läden und oft auch Wirtshäuser (wie z. B. die erhaltenen Bauten in Juckern-Saland). Damit löste sich die Verbin- dung von Landwirtschaft und Industriearbeit, welche seit der Epoche der Heimindustrie das Oberland geprägt hatte, zuneh- mend auf. Fabrikdörfer wie ­Uster, Wetzikon, Rüti, Wald wuchsen kräftig; viele arbeitslos gewordene Heimarbeiterfami- lien zogen auch in die wachsen- Illnau-Effretikon: Mauerwerksbrücke der Bahnlinie Zürich–Winterthur über die Kempt. den Industriestädte Zürich und (Foto Cornel Doswald)

116 daher in vielen Fällen an den Rand oder abseits der Siedlungs- kerne zu liegen. Es entstanden Bahnhofstrassen und Bahnhof- quartiere mit Banken und Hotel- bauten (Uster, Wetzikon, Bauma, Wald, Hinwil usw.) als neue Sied- lungsschwerpunkte. Die verbesserte Verkehrser- schliessung führte im Zusam- menwirken mit der Konzentra- tion der Industrieansiedlungen in den Talböden zur Stärkung der verschiedenen regionalen Zentrumsorte. Dabei wirkte sich der Strassenbau wegen des ­dichten Strassennetzes weniger stark aus als der Eisenbahnbau, denn die Eisenbahn beschränkte Wila: Stahlfachwerkbrücke der Tösstalbahn. (Foto Cornel Doswald) sich auf wenige Linien. Sie för- derte dadurch vor allem die Aussehen von Dörfern, trotz An- Nach dem Ende des aristokra- bahnbau veränderte daneben wichtigsten bestehenden Ver- sätzen zu einem verstädterten tischen Regimes in der sogenann- aber noch mehr als der Strassen- kehrsknotenpunkte, die zu Um- Ortsbild in Bauma und Turbent- ten Regenerationszeit wurde in bau auch die Struktur der Sied- ladestationen zwischen Bahn- hal. Im Nahbereich der Bahnhöfe, den 1830er bis 1850er Jahren in lungen, da er mehr als der Stras- und Strassennetz aufstiegen. die als Verkehrsknotenpunkte einer kurzen Zeitspanne von senbau von einem geringen Nicht in allen Fällen waren diese wirkten, konzentrierten sich Se- rund 20 Jahren – von den libera- Gefälle des Trassees abhängig auch mit Industriezentren iden- kundärindustrien mit hoher len Kantonsregierungen mit war und günstige Linienführun- tisch. Industriekonzentrationen Wertschöpfung wie Maschinen- grossem finanziellem Aufwand gen suchte; die Bahnhöfe kamen in Zentrumsorten gab es in Uster, fabriken, mechanische Werk­ unterstützt – der Bau eines stätten und Veredelungsbetriebe ­modernen Kunststrassennetzes der Textilindustrie, aber auch durchgeführt. Dessen bauliche die wichtigsten Dienstleistungs- Qualität und die gestreckten unternehmen, allen voran Ban- ­Linienführungen zwischen den ken und Postablagen. wichtigeren Ortschaften bedeu- Schliesslich trennte die Elekt- teten für die Leistungsfähigkeit rifizierung seit dem späten 19. des Verkehrsnetzes einen Quan- Jahrhundert die Energieerzeu- tensprung. gung von den Betriebsstand­ Nach der Jahrhundertmitte orten. Das Leitungsnetz als Ener- folgte mit dem Bau von Eisen- gietransportsystem ermöglichte bahnlinien eine neue Kapazitäts- fortan den unabhängigen Ein- steigerung des Verkehrsnetzes. satz von Elektromotoren. Somit Verbunden damit waren weitere konnten auch kleinere Betriebe, starke Eingriffe in das Land- insbesondere Handwerksbe- schaftsbild durch die zugehöri- Wald: Die Tössscheidi nach der Tösskorrektion mit Betonbrücke von triebe, von der Mechanisierung gen Kunstbauten. Der Eisen- 1899. (Foto Cornel Doswald) profitieren. Die Erzeugung elekt- rischer Energie war aber auch an den bestehenden Industrie- standorten möglich, was zur Mo- dernisierung der alten Wasser- kraftanlagen führte. Aus jener Zeit haben dennoch zahlreiche Kleinwasserkraftwerke über- lebt, die heute eine neue Wert- schätzung geniessen. Technische Durchdringung der Landschaft Mit der industriellen Revolu- tion einher ging eine starke ­technische Durchdringung der Landschaft. Diese äusserte sich einerseits als sogenannte Ver- kehrsrevolution. Andererseits war sie mit dem Ausbau der Wasserläufe durch Stauweiher, Kanalsysteme, Flusskorrektionen Illnau-Effretikon, Kyburg: gedeckte Holzbrücke über die Töss aus der Zeit des Kunststrassenbaus. und Verbauungen verbunden. (Foto Cornel Doswald)

117 Wetzikon, Wald und Rüti, nicht 1876 eine umfassende Fluss­ aber in Pfäffikon, Hinwil, Tur- korrektur bis hinauf nach Steg benthal und Bauma, in deren ausgeführt. Nach dem schweren Umgebung die Industriebetriebe Hochwasser von 1896 bis 1903 aufgrund des geringeren Gefäl- wurde dann auch das Quellgebiet les der Wasserläufe weiter aus- oberhalb von Steg gesichert. einanderlagen. Die Industrielandschaft Zür- cher Oberland umfasst seit dem Ausbau der Wasserläufe Abschluss dieser Massnahmen Die Systematisierung zusam- nicht mehr nur ländliche Sied- menhängender Gewerbekanäle lungen und industrielle Produk- im Zusammenhang mit der An- tionsstandorte. Sie enthält auch lage der grossen Spinnereibe- die unterschiedlichsten Anlagen triebe und der Ausbau von Bach- für die Energieerzeugung aus tobeln mit Wasserkraftanlagen Wasserkraft und Kohle, das Ver- bedeuteten einen ersten umfas- kehrsnetz mit seinen verschie- senden Rationalisierungseingriff denen Verkehrsträgern (Strasse in das natürliche Gewässernetz. und Eisenbahn) und ihren Vor allem die Stauweiher, Seiten- Kunstbauten (Brücken, Däm- kanäle und Aquädukte an der men, Einschnitten und Tunnels) Töss (Rittweg-Juckeren, Tur- sowie den Schutzwasserbau. benthal, Rämismühle, Tössge- werbekanal Rikon-Leisental), an Von der Industrie- der Jona (Wald, Rüti) und am zur Dienstleistungs­ Aabach von Wetzikon-Roben- gesellschaft hausen bis Niederuster bewirk- Der Höhepunkt der indust- ten eine Regulierung der Durch- riellen Entwicklung und der Ex- flussmengen zugunsten der portindustrie erfolgte nach dem Fabriken. Von der Ausnutzung Zweiten Weltkrieg. Sie führte zu der Gefällsenergie der kleineren einer starken Durchdringung Wildbäche zeugen heute noch der Siedlungen mit Fabrik- und die Ruinen von Anlagen, bei- Gewerbeanlagen, die bis heute Rüti: Industriebauten im Zentrum Joweid, früher Maschinenfabrik spielsweise im Schmittenbach- die Ortsbilder prägt. Dies macht Rüti. (Foto Cornel Doswald) tobel bei Wald oder im Kempt- die Industrielandschaft Zürcher ner Tobel bei Wetzikon. Oberland zum aussergewöhn­ konjunktur setzte mit der Ent- bau, eine starke Zunahme der Schliesslich folgten als ergän- lichen Zeugen der Frühindus­ wicklung zur Dienstleistungs­ Arbeitskräfte und Produkte im zende Massnahmen des Hoch- trialisierung in Europa. gesellschaft (Tertiarisierung) Dienstleistungssektor bei gleich- wasserschutzes zugunsten der Noch bestand eine geringe die Deindustrialisierung ein. zeitiger Abnahme des Anteils Wasserkraftanlagen und Ver- funktionale Trennung innerhalb ­Deindustrialisierung bedeutete der Arbeitskräfte in der Indust- kehrsbauten auch Gewässer­ der Ortschaften, da die meisten nicht das Verschwinden jegli- rie und schliesslich eine aus­ regulierungen. Diese veränder- Siedlungsstrukturen entstanden cher Industrieproduktion, son- geprägte Diversifizierung der ten vor allem das Tösstal waren, bevor sich moderne dern das weitgehende Ver- Industrieproduktion mit hoher einschneidend. Dort wurde nach ­Planungsleitbilder durchsetzten. schwinden der Leitindustrien Arbeitsproduktivität und Wert- der Hochwasserkatastrophe von Nach der industriellen Hoch­ Textilindustrie und Maschinen- schöpfung.

Illnau-Effretikon, Kyburg: Spinnerei Hermann Bühler AG bei Sennhof mit Einlauf der Wasserkraftanlage. (Foto Cornel Doswald)

118 Die neuen Produktionsstand- Heute besteht im Zürcher Die Autoren/-innen Wichtigste Literatur orte wurden planerisch festge- Oberland eine grosse Spannweite und Quellen legt, möglichst in Zonen mit gros- in der Ausgestaltung der Bauten Cornel Doswald, Historiker sen freien Flächen mit guter des Industriezeitalters, die von und Archäologe, leitet das – Hans-Peter Bärtschi, Industrie- Verkehrsanbindung. Die neuen museal erhalten über sanft um­ Fachteam des Projekts kultur im Kanton Zürich: Produktionszonen sind damit genutzt, architektonisch durchge- «Industrielandschaft Zürcher vom Mittelalter bis heute, Oberland». Zum Team Zürich 1995. nicht mehr an landschaftliche und staltet bis kommerziell verwildert gehören auch die Historikerin – Rudolf Braun, Industriali­ entwicklungsgeschichtliche Vor- reicht. Die Bauten sind ausserdem und Kunsthistori­kerin Claudia sierung und Volksleben: aussetzungen gebunden, sondern eingebettet in die ausgedehnte Fischer-Karrer, Geschäfts­ Veränderungen der Lebens- wirken überregional gleichförmig postindustrielle Agglomerations- führerin der Kultur­detektive formen unter Einwirkung landschaft (Zwischenstadt) und Wetzikon, und die Architektin der verlagsindustriellen «Gnusch», sogenannter Big Box deren Ausläufer. Gerade an den Barbara Thalmann, Stadträtin und austauschbar (z. B. das von Uster. Heimarbeit in einem Cluster in der Wässeri in Hinwil, Wasserläufen, an denen die Fab- ländlichen Industriegebiet vgl. Heimatspiegel April 2012). rikindustrialisierung eingesetzt (Zürcher Oberland) Die älteren Bauformen und Pro- hatte, veränderte sich seit den Das Projekt vor 1800, Göttingen 1979. duktionsstandorte bleiben da- 1970er Jahren die Produktions- «Industrielandschaft – Rudolf Braun, Sozialer und gegen – abgelöst von der Indus­ landschaft des Zürcher Oberlands Zürcher Oberland» kultureller Wandel in einem trie, die sie hervorgebracht hat markant. Zahlreiche Fabrikanla- ländlichen Industriegebiet «Industrielandschaft Zürcher – in die Kerne der sich ausdeh- gen verloren ihre ursprünglichen (Zürcher Oberland) unter Oberland» ist ein Projekt der nenden Siedlungen eingebettet. Funktionen und wurden – oft Einwirkung des Maschinen- Kulturkommission Zürcher und Fabrikwesens im 19. und Die wachsende Anziehungs- nach einer Phase des Leerstands Oberland, eines Gremiums 20. Jahrhundert, Zürich 1999. kraft des Arbeitsmarkts der der Industrie­brache – umgenutzt. des Zweckverbands Region ­städtischen Zentren Zürich und Gelungene Beispiele dafür sind Zürcher Oberland RZO. – Direktion der öffentlichen Winterthur und eine starke etwa die ehemalige Seiden­ Es strebt folgende Ziele an: Bauten des Kantons Zürich ­Zunahme der Mobilität von weberei und das Technologie­ «Das Zürcher Oberland ist (Hg.), Siedlungs- und ­Personen und Gütern führte zur zentrum ­Joweid in Rüti, die «Blei- sich einig, was alles zu seiner Baudenkmäler im Kanton Umwandlung des Zürcher Ober- chi» in Wald, die Weberei Steg einmaligen Industrielandschaft Zürich. Ein kulturgeschicht- lands in eine Siedlungsagglome- oder «Eskimo» und «Sticki» in gehört. Dieses wertvolle licher Wegweiser, Stäfa 1993. Kulturgut ist im Bewusstsein – Eidgenössische Technische ration. Intensiv bewirtschaftetes Turbenthal, Trümpler- und Zell- der Bevölkerung verankert Hochschule (Zürich), ETH Landwirtschaftsgebiet, Wasser- weger-Areal in Uster, um nur und wird mit vereinten Kräften Wohnforum, AgglOasen: läufe, Wälder und Relikte der ­einige wenige zu nennen. Die gepflegt. Es ist Teil eines Impulse für die Agglomera- ­Naturlandschaft dienen einem einstige Industrielandschaft Lebensraums von hoher tion am Fusse des Bachtels. Grossteil der Bevölkerung heute wurde durch die damit verbunde- Qualität und überregionaler Erkenntnisse des Forschungs- als Erholungsgebiet. Daran hatte nen Folgenutzungen umgewan- Ausstrahlung. Die Industrie- landschaft Zürcher Oberland projekts «S5-Stadt. Agglome- der weitere Ausbau der Eisen- delt. Es finden sich heute extensiv ration im Zentrum», Baden bahnverbindungen durch den genutzte Industriebrachen, ge- steht in der ‹liste indicative› des Bundesamts für Kultur 2011. Zürcher Verkehrsverbund (Eröff- werbliche Nach­folgenutzungen, BAK.» Die «liste indicative» – Klaus C. Ewald, Schlaglichter nung der S-Bahn Zürich 1990) enthält Kulturgut, das der auf 250 Jahre Wandel der einen grossen Anteil – wobei Unesco als Welterbe vor­ Kulturlandschaft im Kanton Wohnsiedlungen (z. B. Im Lot nicht übersehen werden sollte, Uster) in engster Nachbarschaft, geschlagen werden könnte. Zürich, in: Mensch und Natur: dass die heutige «S5-Stadt» be- verbunden­Uster) und Pärkedurch (z. B.die altenStadtpark Fab- Mehr Informationen auf Festschrift zur 250-Jahr-Feier reits in der Bahnlinie Zürich–­ rikkanäle und ein­gebettet in eine www.zuerioberland-kultur.ch/ der Naturforschenden Uster–Rapperswil von 1855/1856 sich dynamisch umgestaltende zok/kulturerbe/ Gesellschaft in Zürich, industrielandschaft/ vorgezeichnet worden ist. Agglomeration. 1746–1996, Zürich 1996. – Beat Frei, Das Zürcher Oberland, Baden 2002 (Die Bauernhäuser des Kantons Zürich, Band 2). – Jürg Hanser, Jürg E. Schneider, Hans-Peter Bärtschi, Die industrielle Revolution im Zürcher Oberland: von der industriellen Erschliessung zum Industrielehrpfad, Wetzikon 1985. – Reto Jäger, Max Lemmen- meier, August Rohr, Peter Wiher, Baumwollgarn als Schicksalsfaden, Zürich 1986. – Paul Kläui, Eduard Imhof, Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich, Zürich 1951. – Michael Köhler, Uster, Vom Fabrikdorf zur Stadt, Uster 2005. – Bernhard Nievergelt, Hansruedi Wildermuth, Eine Landschaft und ihr Leben: das Zürcher Oberland, Zürich 2001. Uster: Neue Wohnsiedlung «Im Lot» bei der ehemaligen Spinnerei Niederuster. (Foto Cornel Doswald)

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