Die Industrielandschaft Zürcher Oberland Von Der Heimspinnerei Bis Zur Deindustrialisierung
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Heimatspiegel Illustrierte Beilage im Verlag von «Zürcher Oberländer» und «Anzeiger von Uster» – Redaktion Anne Bagattini März 2016 Die Industrielandschaft Zürcher Oberland Von der Heimspinnerei bis zur Deindustrialisierung Bauma, Juckeren: Die Spinnerei Grünthal mit Wirtshaus und Laden. (Foto Cornel Doswald) Die Industrielandschaft Zür- des Kantons Zürich, besonders Etwa seit den 1740er Jahren dieser Zeit vollendete sich die bis cher Oberland in ihrer heuti- das Oberland mit Glatt-, Kempt-, ermöglichten steigende Löhne heute sichtbare Siedlungsland - gen Gestalt entstand über Töss- und Jonatal und den sie die Gründung von Familienhaus- schaft des Zürcher Oberlands. eine Zeitdauer von rund drei- umgebenden Berglandschaften, halten ohne bäuerliche Existenz- einhalb Jahrhunderten. Die eigneten sich weniger gut für grundlage, in denen auch die Der Flarz als Heimindustrie, die Fabrikan- den im Mittelland vorherrschen- Männer spannen und woben. Die Wohn- und Arbeitsort lagen der Industriellen Revo- den Getreidebau oder einen er- Heimindustrie erlaubte es auch Bereits die vorindustrielle Be- lution, Verkehrsbauten und tragreichen Weinbau als das landlosen Taglöhnern und Klein- siedlung des Zürcher Oberlands Kanäle, schliesslich die De- Unterland, das Weinland und das bauern, eine Existenz aufzu- war in ihrer Grundstruktur sehr industrialisierung – sie haben Nordufer des Zürichsees. bauen. Dies führte zu einem dezentral. Es war nicht das ge- alle in der offenen Landschaft Entscheidend für diese Ent- en ormen Bevölkerungswachs- schlossene Dorf vorherrschend, und im Siedlungsraum Spuren wicklung war, dass Baumwolle tum. Dabei ging gleichzeitig die sondern eine stark vom Relief hinterlassen, die als Ganzes als billiges Massenprodukt in Auswanderung in den Heim- abhängige Durchmischung von die Industrielandschaft aus- wachsenden Mengen importiert industriegebieten stark zurück. Dörfern, Weilern und Einzel- machen. und verarbeitet wurde. Mit dem Stattdessen entstanden zahlrei- höfen. In dieser Streusiedlungs- Im 17. und 18. Jahrhundert Wachstum der Menge verarbei- che neue Wohnhäuser in den be- landschaft gab es nur wenige, breitete sich die Baumwoll- teter Rohbaumwolle setzte sich stehenden Dörfern und Weilern schwach entwickelte Zentren in industrie als ländliche Heim- im Oberland im Laufe des und neue Ansiedlungen im übri- den Zwergstädten der Land- industrie in einer Agrarland- 18. Jahrhunderts die Baumwoll- gen Gebiet. Die Besiedlung dehnte vogteisitze Kyburg, Greifensee schaft aus, die bereits im spinnerei als dominierendes sich im Tössbergland sogar in und Grüningen, den Kirchdörfern Spätmittelalter bis an die Gren- Gewerbe durch; gebietsweise feuchte und steile Grenz lagen und einigen wenigen Marktorten zen ihrer wirtschaftlichen Trag- verbreitete sich auch bereits die aus, die bisher für ganzjährige (Grüningen, Kyburg, Uster, Pfäffi- fähigkeit erschlossen war. Die Baumwollweberei. Beide wur- landwirtschaftliche Bewirtschaf- kon und, seit dem Spätmittelalter, südlichen und südöstlichen Teile den in Heimarbeit ausgeübt. tung nicht geeignet waren. In Wald 1621, Bauma 1661/1662). gemeinsamen Besitz aller Bauern in einem Dorf und bestand in der Regel aus Wald, Wiese und Streu- land. Dieses gemeinsame Eigen- tum diente als Weide für die Tiere und versorgte die Bauern mit Holz. Als aber im 16. Jahrhundert die Bevölkerung im Zürcher Oberland anstieg und es eng auf der Allmend wurde, beschlossen die Dörfer, die Nutzung auf eine bestimmt Anzahl von Bauernhäu- ser oder Höfe zu beschränken. Da im Fall einer Haus- oder Hoftei- lung auch die Allmendnutzung aufgeteilt wurde, unterteilte man nun die bestehenden Häuser oder man baute an sie an. Damit war jedem Hausbesitzer mit eigenem Kamin der Zugang zur Bauma, Sternenberg: Reihenflarz in der Untermatt. (Foto Cornel Doswald) Allmend gesichert. Ausser in den geschlossenen «bäuerliches Reihenhaus». Der bestand wegen der Heimarbeit Die Epoche Dorfsiedlungen bestand hier Ausdruck «Flarz» stammt von noch die bisher übliche Einheit der Fabrikindustrie kein Verbot, ausserhalb eines «umeflarze» und hat die alte von Wohnort und Arbeitsplatz, Im frühen 19. Jahrhundert Dorfetters zu bauen. Neubauten mundartliche Bedeutung «krie- die erst durch die Zentralisie- setzte die Mechanisierung des waren ebenso wie Hausteilun- chen, sich ducken», ein sicher rung der Arbeitsplätze in den Zürcher Heimindustriegebiets gen und Anbauten verbreitet. passender Ausdruck für die nied- Fabriken aufgehoben wurde. ein (1802 Betriebsaufnahme der Die Realteilung der Güter bei rigen Häuser mit den schwach Heute sind im Zürcher Oberland ersten mechanischen Spinnerei Erbgängen führte zu einer Ver- geneigten Dächern, den soge- mehrere hundert solcher Häuser der Schweiz im Hard bei Wülf- mehrung kleiner und kleinster nannten Tätschdächern. Typisch noch erhalten. lingen). 1814 gab es im Kanton selbständiger Bauernhöfe und für die Flarze sind auch die Flarze sind durch Teilen, Um- Zürich bereits 60 mechanische Taglöhnerhaushalte mit prekä- Reihenfenster, die noch heute und Anbauen von bestehenden, Baumwollspinnereien, 1827 wa- ren Existenzgrundlagen. die ehemaligen Webkeller und traditionellen Kleinbauernhäu- ren es 106 mit insgesamt Das charakteristische Erzeug- Spinn- oder Webstuben der sern entstanden. Zu ersten Haus- nis und die typische Hausform Heimarbeiterhäuser anzeigen. teilungen kam es bereits im 16. befanden sich viele kleinere Be- des Zürcher Oberlands ist seit Die Flarze besassen in der Regel Jahrhundert. Anlass dafür war triebe,196 000 teilweise Spindeln. ohne DarunterWasser- der Zeit der Heimindustrie das keinen bäuerlichen Wirtschafts- die sogenannte «Gerechtigkeits- kraftantrieb, die später wieder Flarzhaus. Der Flarz ist eine Art teil mehr oder höchstens eine beschränkung» auf der Allmend. - aus der Not heraus entstandenes kleine Stallscheune. Trotzdem Eine Allmend war damals im men bei Pfäffikon). verschwanden (z. B. an der Lupp Wetzikon: Ehemalige Spinnerei Schönau mit Turbinenhaus, Kanalauslauf und Aabach (links). (Foto Jan Fischer, Kulturdetektive) 114 Energie effizient und kosten- günstig verwerten. Dies beein- flusste die Lage und die Gestalt der Industriestandorte nachhal- tig und lässt sich bis heute an den Bauten jener Epoche ab- lesen. Die typische Siedlungs- form der industriellen Revolu- tion bilden die Fabriken mit ihren Nebengebäuden sowie den ausgeklügelten Kanalsystemen und Weiheranlagen. Fabriken waren keine isolierten Produk- tionsanlagen, sondern funk- tionale Komplexe, zu denen die Verwaltungsgebäude, die Fabri- - sartigen Pärken (Neuthal, Trüm- pler-Arealkantenvillen und mit ihrenZellweger-Park z. T. gros Uster, Seiden weberei und Villa Wald: Verschachtelte Flarzhäuser an der Werkstrasse. (Foto Cornel Doswald) Weber in Rüti, Dürsteler-Fabrik Wetzikon usw.), Stallscheunen Die neuen Betriebe der me- und Wagenschöpfen gehörten, chanisierten Baumwollindustrie aber auch Reparaturwerk- nutzten eine natürliche Res- stätten, aus denen oft selbstän- source des Zürcher Oberlands: dige Produktionsbetriebe wie die reichlich vorhandene Was- mechanische Werkstätten oder serkraft und Gefällsenergie der Giessereien wurden. Bemer- zahlreichen Bäche und Flüsse kenswert ist die grosse Dauer- des Tössberglands und seiner haftigkeit der Betriebsstandorte, Westabdachung, die mit dem die trotz der späteren Weiterent- Aabach bis an den Greifensee wicklung der Energieerzeugung reicht. Je nach Energiekapazität und der Antriebs systeme orts- des Einzugsgebiets entstanden fest blieben, da an ihren Stand- Standorte unterschiedlicher orten bereits bedeutende Inves- Grösse. Die einzelnen Betriebe titionen getätigt worden waren. reihten sich an einem Wasser- Deshalb prägen die Bauten der lauf oder künstlichen Kanal auf ersten industriellen Revolution zu eigentlichen Industrieachsen, Uster: Kosthäuser, so genannter «Eisenbahnzug». die Orts- und Landschaftbilder oder sie siedelten sich in be- (Foto Cornel Doswald) immer noch. stehenden Dörfern an, die zu Industriedörfern wurden. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden dabei die für die Ener- giegewinnung günstigen Lagen umgestaltet; die Fabriken besie- delten die Einzugsgebiete der Wasserläufe Töss, Jona, Chäm- terbach/Aabach und Kempt und der meisten ihrer Zuflüsse. Als Ergebnis dieser dezentralen Industrialisierung entstand die unübersehbare Allgegenwärtig- keit der Industrieanlagen in den Tälern des Zürcher Oberlands. Das Zürcher Oberland wurde zur ersten mechanisierten Textil- industrieregion auf dem euro- päischen Kontinent. Fabriken und Kosthäuser Die Mechanisierung der Spin- nerei war wegen der Nutzung der Wasserkraft als Antriebs- energie auf die Zusammenfas- sung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben ange- wiesen. Nur in Grossbetrieben mit zahlreichen Arbeits kräften liess sich die mechanische Seegräben: Spinnerei Kunz im Aatal, einer der Grossbetriebe des «Spinnerkönigs». (Foto Cornel Doswald) 115 Ostschweizer Baumwollindust- bunden; es gab kein effizienteres rie um etwa 20 Jahre verzögert. Energietransportsystem für grös- (Die erste mechanische Baum- sere Distanzen als Seiltransmis- wollweberei der Schweiz wurde 1825 in Rheineck in Betrieb ge- der Spinnerei Neuthal bei Bärets- nommen.) Erst in den 1850er bis wilsionen oder (erhaltene bei der Weberei Bauten Rosenz. B. in- 1870er Jahren kam es durch das berg Wila). Zusammenwirken von Eisen- Erst der Einsatz von Dampf- bahnbau, Mechanisierung der maschinen seit den 1850er Jah- Weberei und Maschinenbau zu ren machte die Energieerzeu- einem zweiten, starken indus- gung standortunabhängig und triellen Entwicklungsschub.