Nr.40/29.9.2018 Deutschland €5,10 Slowakei € 6,60 Slowakei 185,- Kc Spanien € 6,50 Tschechien in Printed Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren Slowenien Ft 2350,- Ungarn € 6,70 Germany

Was kommt, wenn Merkel geht? Der Machtkampf um ihr Erbe hat begonnen BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– NOK 82,– Griechenland € 7,– Norwegen ZL 32,– (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 53,– € 6,50 Frankreich Italien € 6,50 € 5,80 Österreich (cont) € 6,50 Portugal Vergewaltigungsvorwurf Schwangerschaft LITERATUR SPIEGEL Eine Frau verklagt Das Drama der Frankfurter Buchmesse: Cristiano Ronaldo Alkohol-Babys Die Bücher des Herbstes Urbane Eleganz. kreiert von wempe.

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Es ist ein schwerwiegender Vorwurf, den digitalen Prozessen im eine Frau aus den USA erhebt: Kathryn Mayorga, 34, aus Las Vegas behauptet, Unternehmen. Cristiano Ronaldo, 33, habe sie vor neun Jahren nachts in einem Hotel vergewaltigt. Der Fußballstar kaufte ihr Schweigen im Zuge eines zweifel- haften Vertrags, über den ein SPIEGEL- Team erstmals vor anderthalb Jahren

MARIA FECK / DER SPIEGEL MARIA FECK berichtet hatte. Ronaldos Vertreter wer- Buschmann, Mayorga, Windmann in Las Vegas teten den Artikel als »journalistische Fiktion«. Nun tritt das mutmaßliche Opfer trotz des Schweigeabkommens an die Öffentlichkeit. Und nicht nur das: Die Amerikanerin verklagt den Superstar. Dabei hilft ihr ein Dokument – das auch dem SPIEGEL vorliegt –, in dem die Nacht aus Ronaldos Sicht geschildert wird. Demnach hat Kathryn Mayorga mehrfach »Nein« und »Stopp« gesagt. »Wir hätten gern gehört, was Cristiano Ronaldo zu den Vorwürfen und natürlich auch zu diesem Dokument sagt«, berichten die Redakteure Antje Windmann und Rafael Buschmann, »doch all unsere Versuche, mit ihm zu sprechen, wurden abgeblockt.« Seite 94

Als Multimediaredakteurin Alexandra Frank im März zum Skifahren im Norden Is- lands war, deutete abends im Restaurant ihr Tourguide auf einen älteren Herrn am Nachbartisch und sagte: »Du bist doch Journalistin. Über diese Stadt hier musst du mal schreiben – und über den da. Das ist der wichtigste Mann Islands.« Also erkun- digte sich Frank nach dem Unternehmer Róbert Guðfinnsson und nach der Geschichte von Siglufjörður, dem Hafenort am nördlichen Polarkreis, der einmal die »Welthaupt- stadt des Herings« war, bevor er sich in eine Geisterstadt verwandelte. Gemeinsam mit der Wirtschaftsredakteurin Simone Salden reiste Frank erneut nach Island, um zehn Jahre nach der Finanzkrise dem Wirtschaftswunder des Landes nachzuspüren. »Gemeinhin lobt man Köpfe aus dem Silicon Valley dafür, dass sie offen über das Schei- tern sprechen«, sagt Salden, »aber die Ein- wohner von Siglufjörður können viel an- schaulicher darüber berichten, wie das wirk- lich geht: hinfallen – und wieder aufstehen.« Die Koproduktion der beiden Redakteurin- nen umfasst den Text in diesem Heft sowie die Visual Story, eine Multimediareportage in der SPIEGEL-App, die wöchentlich mit wechselnden Themen erscheint. Diesmal zeigt sie Videos der wichtigsten Protago - nisten aus Siglufjörður, historische Vorher-

nachher-Slider sowie eine umfangreiche ALEXANDRA FRANK / DER SPIEGEL Bildstrecke. Seite 64 Salden, Frank in Siglufjörður Egal, was Sie geschäftlich planen: Die dafür not- wendigen Freiräume verschaffen Sie sich mit durchgängig digitalen DATEV-Lösungen für sämtliche kaufmännischen Aufgaben. So kön- Erst war es nur eine der vielen eigentümlichen Ideen des nen Sie sich ganz auf das Wesentliche konzent- Mittelalters: Mit einem Kaiser an der Spitze wollten die Men- rieren – Ihr Unternehmen. schen das Römische Reich der Antike fortsetzen, obwohl das Imperium da bereits zum größten Teil nördlich der Alpen lag. Doch dann hielt das so entstandene Reich mehr als acht Jahr- Digital-schafft-Perspektive.de hunderte lang. Der 1871 gegründete erste deutsche National- staat war dagegen schon nach 47 Jahren am Ende. Die neue SPIEGEL EDITION GESCHICHTE präsentiert die wichtigsten Köpfe dieser Zeit – von Karl dem Großen bis Wilhelm II. – in Porträts, Analysen und Gesprächen mit Historikern. Das Heft »Die deutschen Herrscher« erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 3 Inhalt

72.Jahrgang | Heft 40 | 29.September 2018

Titel Waffenhandel Warum ein Geschäftsmann fast Union Der Kampf um die 200 Millionen Dollar Nachfolge von Kanzlerin bei einem Panzerverkauf Merkel hat begonnen ...... 14 erhielt – und ihm das noch zu wenig war . . . . . 42 Liberale und Grüne bereiten sich auf neue Migration Der Historiker Jamaika-Gespräche vor . . . . 21 Michael Hochgeschwender erklärt im SPIEGEL-Gespräch, was Deutschland von der Deutschland Einwanderungsnation USA lernen kann ...... 46 Leitartikel sollte ihren Abgang Betrachtung Was Rainer selbstbestimmt und zügig Maria Rilke und die Bundes- planen ...... 6 kanzlerin verbindet ...... 49

Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen: Donald Trump Gesellschaft überwindet Raum und Zeit 8 Früher war alles schlechter:

Deutsche und britische Politiker / REX SHUTTERSTOCK CLEMENS BILAN / EPA-EFE Automobile unter Strom / nähern sich in Sachen Brexit Was hat die deutsche an / CDU will Plus-Rente Ende eines langen Weges Polizei mit »Miami Vice« für Geringverdiener / Umfrage: zu tun? ...... 50 Seehofers Beliebtheit rapide Bei der Wahl des Fraktionsvorsitzenden haben die gesunken ...... 11 Eine Meldung und ihre Unionsabgeordneten der Kanzlerin die Gefolg- Geschichte Wem gilt der Karrieren Die Genossen schaft verweigert. Der CDU-Chefin entgleitet die Zaun an der dänisch- fremdeln mit Parteichefin Partei. Freunde und Gegner bringen sich deutschen Grenze: Mensch Nahles ...... 24 für den Nachfolgekampf in Stellung. Im Dezember oder Tier? ...... 51 Seiten 14, 21 SPD Wie ein unscheinbarer könnte die Ära Merkel beendet sein. Schicksale Gestrandet – Staatssekretär zum warum ein Syrer neuen Helden der Berliner seit einem halben Jahr Politik wurde ...... 27 im Flughafen von Kuala Lumpur lebt ...... 52 Europa CSU-Vize Manfred Weber fordert mehr Macht Kolumne Leitkultur ...... 57 für das EU-Parlament ...... 28

Bayern Die Grünen vor ihrem Wirtschaft größten Erfolg im Freistaat 30 Neues Personal für die Zeitgeschichte Bundesdeutsche Bahn / Niedrigwasser macht Spitzenpolitiker kämpften Heizöl teuer / Neuer Chef- für NS-Verbrecher in Haft 32 redakteur für die »Titanic« 58 A. POHL / NURPHOTO / SIPA USA / DDP IMAGES USA / SIPA / NURPHOTO A. POHL Militär Beim Moorbrand hat Globalisierung Warum Unter- die Bundeswehr versagt . . . . 36 Abgedreht nehmen wieder Fabriken in Deutschland bauen und Geheimdienste Die Bundes- Die Grünen sind im Höhenrausch und könnten nach nicht mehr in China ...... 60 anwaltschaft ermittelt der Macht in Bayern greifen. Welchen Preis würden gegen mutmaßlichen sie für ein Bündnis mit der CSU zahlen? Derweil Finanzkrise Wie es die iranischen Agenten, der Isländer schafften, einen Anschlag in Europa tourt Ex-»Focus«-Chef Helmut Markwort für die sich aus der Pleite heraus - angeleitet haben soll ...... 38 FDP mit dem Faktomobil durchs Land. Seiten 30, 75 zuarbeiten ...... 64

4 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Digitalisierung Die Ökonomin Wissenschaft Shoshana Zuboff warnt im SPIEGEL-Gespräch vor Hackerangriff auf Grünen- dem Überwachungs- Stiftung / Wie groß kapitalismus ...... 68 ist die Keimbelastung im Flugzeug wirklich? / Luftfahrt Airbus verärgert Einwurf: Wer Schuld hat mit dem Pannenflieger am Dauerstress ...... 104 A320 Neo die Lufthansa . . . 71 Medizin Wie Kinder ein Leben lang leiden, Medien weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Demokratie Machthaber Alkohol getrunken haben 106 und Mafiosi in Osteuropa bekämpfen Journalisten . . . . 72 Verkehr Kirmes in den Bergen – können Touristen Karrieren »Focus«-Gründer bald die Alpen mit Helmut Markwort macht der Seilbahn überqueren? 110 Wahlkampf im Faktomobil 75 BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL BÉATRICE Philosophie Gelassener leben lernen – die Ausland Hart an der Scherzgrenze Weltwoche der Stoiker . . . . 113

Frankreichs Präsident Macron Der Comedian Oliver Polak setzt sich Gesundheit Die App will im Europawahlkampf mit dem alltäglichen, vermeintlich harmlosen Ada ersetzt manchen das alte Parteienschema deutschen Antisemitismus auseinander – Arztbesuch ...... 114 überwinden / Historischer Moment im US-Senat: auch bei einem Auftritt in New York, zu dem die Aussagen von Christine der SPIEGEL ihn begleitet hat. Seite 118 Kultur Blasey Ford ...... 78 Interview mit Dave Eggers Brasilien Ein Rechts- über sein neues Kinderbuch / populist will das Land Hot Dudes Reading auf zurückführen in eine Jeder Tropfen zählt Instagram / Kolumne: Besser düstere Vergangenheit . . . . . 80 weiß ich es nicht ...... 116 Bereits ein Glas zu viel kann dem Gehirn Eritrea Besuch in der Hütte von Ungeborenen im Mutterleib schaden. Die Zeitgeist Comedian Oliver des skurrilen Alleinherrschers Kinder leiden ihr Leben lang an den Folgen. Polak und sein Buch Isaias Afwerki ...... 85 »Gegen Judenhass« ...... 118 Adoptiveltern wehren sich gegen Jugendämter, Warum die Eritreer in von denen sie sich getäuscht fühlen. Seite 106 Städtebau Architekt Ole Deutschland so zerstritten Scheeren möchte das Wohnen sind ...... 87 im Hochhaus von seinem schlechten Ruf befreien – ein Russland Wie stümperhafte SPIEGEL-Gespräch ...... 124 Agenten Wladimir Putin blamieren ...... 88 Autoren Der eigenwillige Charme des österreichischen Demokratie Pussy-Riot- Schriftstellers Wolf Haas 128 Aktivist Pjotr Wersilow will weiterprotestieren ...... 91 Filmkritik »A Star Is Born« mit Lady Gaga ...... 131

Sport

Geldmaschine Europameister- / DER SPIEGEL MARIA FECK schaft / Magische Momente: Tischtennis-Europameister Eine Frau klagt an Timo Boll über das Geheimnis seiner Erfolge ...... 93 Kathryn Mayorga behauptet, dass Cristiano Bestseller ...... 127 Ronaldo sie vergewaltigt habe. Der Fußballstar Impressum, Leserservice . . . 132 Fußball Klage wegen eines hat versucht, ihr Schweigen zu erkaufen. Nun Nachrufe ...... 133 Vergewaltigungsvorwurfs Personalien ...... 134 gegen Superstar Cristiano verklagt die Amerikanerin Ronaldo. Hier bricht Briefe ...... 136 Ronaldo ...... 94 sie erstmals ihr Schweigen. Seite 94 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 138

Titel-Illustration: Nishant Choksi für den SPIEGEL; Fotos: Getty Images, Maria Feck für den SPIEGEL [M] 5 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Es ist Zeit

Leitartikel Die Kanzlerin sollte ihren Rückzug planen – solange sie noch darüber mitbestimmen kann.

s hat oft etwas Tragisches, wenn die Macht erodiert Es gelingt ihr nicht mehr zusammenzuhalten, was nicht län- und eine Ära sich dem Ende zuneigt. In dieser Pha- ger zusammen sein will. Zu den Kennzeichen ihrer Kanzler- E se verlieren die Mächtigen oft den Bezug zur Wirk- schaft zählt neben erfreulichen Wirtschaftsdaten und einer lichkeit, das Band zwischen ihnen und denen, die überraschend humanen Flüchtlingspolitik auch eine chroni- sie tragen, zerreißt. Sie sitzen dann verloren in ihren Mäch- sche Sprachlosigkeit. Die ist Teil ihres apolitischen Herr- tigenzentralen, umringt von den ewig Gewogenen, und schaftsansatzes, der auf Harmonisierung setzt und aufkom- verlieren den Kontakt zur Außenwelt, das Gespür für Stim- mende Konflikte schon vor dem Entstehen entschärfen will. mungen. Angela Merkel ist in diesem Stadium angelangt. Am Dienstag ist diese Ära der Sprach- und Alternativ - Gerade wenn man dieser Kanzlerin nicht in pegidahaftem losigkeit beendet worden –von einem höflichen Steuerfach- Hass gegenübersteht, gerade wenn man ihre Gewissenhaftig- mann aus Rheda-Wiedenbrück. Mit gab es keit und Bescheidenheit, ihre Verdienste um Ausgleich, plötzlich eine Alternative, und das ist ein Segen für die De- Stabilität und Wohlstand zu würdi- mokratie. Für die innerparteiliche gen weiß, gerade dann tut es weh der Union, die lange Zeit stillge- mitanzusehen, wie sie nun die legt war. Aber auch für die Demo- Quittung für ihre späte Selbstherr- kratie an sich. Brinkhaus’ mutige lichkeit erhält. Wie sie immer öfter Kandidatur hat eine Signalwir- danebenliegt. Wie sie vorgeführt kung, die weit über ihn hinaus- wird von der eigenen Partei. reicht. Sie zeigt, dass die Mitte, Angela Merkel hatte lange ein allen voran der demokratische gesundes Gespür für Mehrheiten Konservatismus, seine Sprache und Stimmungslagen. Und wenn wiedergefunden hat. Und dass der das Bauchgefühl mal nicht ein - Mehltau der Merkel-Jahre sich deutig genug war, bediente sie nicht mehr lange ausbreiten wird. sich wie kein Kanzler zuvor der Schon bei der Verkündung Erkenntnisse der Meinungs - ihrer letzten Kandidatur konnte forschung. Beides half ihr, sich Merkel nicht mehr begründen, 13 Jahre lang an der Macht zu was sie mit vier weiteren Jahren halten. In dieser Woche aber wur- anfangen wollte. Machthunger, de überdeutlich, dass ihr diese befreit von Gestaltungsfreude, Gabe abhandengekommen ist. aber ist ein ungesunder Hunger. Sie habe »zu wenig an das ge- Hinzu kommt: Ihr Stil der präsi- dacht, was die Menschen zu Recht dialen Unaufgeregtheit und zuge- bewegt«, gestand sie nach der ge- wandten Unbeteiligtheit mag in

planten hanebüchenen Beförde- SCHREIBER / AP MARKUS den ersten Jahren ihrer Regie- rung von Verfassungsschutzpräsi- rungszeit gut zum Zeitgeist ge- dent Hans-Georg Maaßen. Das passt haben. Er war auch die mo- war ein neuer Merkel-Ton, weniger unbeteiligt, weniger derne Antwort auf das hemdsärmelige Rabaukentum ihrer hochmütig, aber ihre Aussage belegte auch, dass ihre Senso- Vorgänger. Merkels Nonchalance und Sprachlosigkeit aber ren und ihr Fingerspitzengefühl abgestumpft sind. Es war wirken in aufgepeitschten Zeiten wie diesen überholt. auch abgehoben, der Unionsfraktion nach 13 Jahren erneut Spätestens jetzt sollte Angela Merkel ihren Rückzug einlei- als Chef aufzudrängen, den Inbegriff des brä- ten und ihre Macht zeitnah übergeben: den CDU-Vorsitz auf sigen »Alles bleibt, wie es ist«. »Ich brauche ihn«, stellte sie dem Parteitag im Dezember. Das Kanzleramt im kommen- klar. Und warb dann mit dem ebenso typischen wie hilflosen den Jahr. Sie muss nichts überstürzen, ein Rückzug, der nur Argument für ihn, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für eine Er- Chaos hinterlässt, wäre kein guter Abschied. Dennoch sollte neuerung sei. Es war der Versuch, die Vergangenheit zu kon- er so zeitig kommen, dass ihm wenigstens noch der Anschein servieren, doch die Zeit ist längst über sie hinweggegangen. von Selbstbestimmung anhaftet. Die Spätphase von Helmut Noch immer ordnet Merkel ihr Handeln einer egozentrier- Kohl war eine Zumutung, für sein Land, seine Partei und ten Stabilitätsmaxime unter, ohne zu merken, wie instabil al- auch für ihn selbst. Angela Merkel sollte ihre Spätphase so les um sie herum geworden ist. Der neurotische Streit mit der kurz wie möglich halten. Mit jedem Monat, den sie ihren Ab- CSU und die irrationale Panik der SPD, die ihre Regierung schied hinausschiebt, trübt sie den Blick auf ihre stolze Ära. belasten, haben ja nicht nur mit dem sehr speziellen Verhal- Viele werden sie schon am Tag ihres Rückzugs vermissen. ten von Horst Seehofer, Kevin Kühnert oder Aber auch das zeichnet einen geglückten Abschied aus. zu tun. Sie sind auch das Ergebnis ihrer Politik und ihres Stils. Markus Feldenkirchen

6 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 www.volkswagen.de

Selbstbewusstsein in Form gebracht.

ÜBERZEUGT. VON ANFANG AN. Der T-Roc. Manche können andere im Bruchteil von Sekunden für sich gewinnen. So wie der T-Roc. Mit seinem Coupé-Charakter und der unverwechselbaren Front hinterlässt er einen fulminanten ersten Eindruck – und bleibt dank auffälliger Details auch nach genauerem Hinsehen im Kopf.

Wir bringen die Zukunft in Serie.

Abbildung zeigt Sonderausstattungen gegen Mehrpreis. Stand 08/2018. So gesehen Meinung Allmächtig

Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Donald Trumps Wille geschieht. Meiner auch. Das Prinzip Kühnert G So unfair. Kaum jemand hat es Ich habe zu Kevin Kühnert nisse beibringt – soll man das Gleiche mitbekommen: Drei Millionen recherchiert, dem Vorsit- nicht von einem erwarten dürfen, Menschen in der syrischen Provinz zenden der Jusos. Küh- der sich zu regieren anschickt? Aber Idlib verdanken Donald Trump nert gilt bei den Sozial - es gibt überraschend viele Leute, ihr Leben. Er allein war es, der eine demokraten als der kom- die schon die Frage nach der Studien- blutige syrisch-russische Offensive mende Mann. Wie mächtig dauer anstößig finden. Ein Redakteur auf die Rebellenhochburg verhindert er ist, hat er gezeigt, als er die der »Zeit« schrieb, Leute wie ich hat. Manche glauben zwar, die Spitze seiner Partei im Streit um den hätten bloß Angst vor der Deutungs- Waffen ruhe sei das Ergebnis vielfäl - Verbleib des Verfassungsschutzchefs macht von jungen Menschen. Ich habe tiger diplomatischer Bemühungen zwang, alle Zusagen zurückzunehmen. mir daraufhin das Bild des Redakteurs und letztlich eines Treffens des türki- Kühnert wurde vor 29 Jahren in angesehen. Er schien mir auch nicht schen Präsidenten Erdoğan mit sei- Berlin geboren, das scheint gesichert. mehr der Jüngste zu sein. Ich glaube, nem russischen Amtskollegen Putin Schwieriger zu sagen ist, welche Quali- das nennt man Altersopportunismus. gewesen. Aber das ist Unsinn. fikationen er seitdem erworben hat. Gerade die SPD war immer stolz In manchen Zeitungen steht, dass er in darauf, Aufstieg durch Bildung zu er- Berlin Kommunikationswissenschaft möglichen. Der ideale Sozialdemokrat studiert hat. Dann habe ich den Hin- war in dieser Hinsicht Gerhard Schrö- weis gefunden, Kühnert studiere nicht der: aufgewachsen in Armut, zweiter Kommunikations-, sondern Politik- Bildungsweg, Jurastudium (abge- wissenschaft, und das nicht in Berlin, schlossen), Juso-Chef, Ministerpräsi- sondern an der Fern-Uni Hagen. dent, Kanzler. Der Bummelstudent Außerdem habe er das Studium abge- zählte bislang nicht zu den Vorbildern brochen. Von ihm selbst habe ich nur des sozialdemokratischen Emanzi - die Angabe gefunden, er sei Bezirks- pationsversprechens. Komischerweise verordneter in Berlin und Kolumnist traut sich niemand in der SPD, den Tatsächlich lief es so, wie Trump beim »Handelsblatt«: Von Studium, heutigen Juso-Chef darauf hinzuwei- es gerade erst bei einer Pressekonfe- ob in Berlin oder Hagen, kein Wort. sen. Was mir an Kühnert auffällt, ist renz in New York erzählt hat: Erst Vielleicht ist es ihm peinlich, sich dazu die Mischung aus Herablassung und vor ein paar Wochen habe er in der zu äußern. Wenn er nach dem Abitur Gönnerhaftigkeit, mit der er auftritt. Zeitung darüber gelesen, was da in mit dem Studium angefangen hat, Wo lernt man diese Form der Arro- dieser Idlib-Provinz los ist, er hatte wäre er jetzt im 20. Semester. Das ist ganz, habe ich mich gefragt. Vielleicht davon noch nie gehört. Aber dann selbst für Jusos ziemlich lang. sollte ich mich doch mehr für alter - sagte er: »Das darf nicht geschehen.« Darf man einen Politiker nach sei- native Bildungsangebote interessieren. Und so schrieb er das auch ins Inter- nem Bildungsweg fragen? Ich finde net. Und tatsächlich: Waffenruhe. schon. Wir bitten jeden Praktikanten, An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan »Niemand wird mir dafür danken«, dass er bei einer Bewerbung Zeug - Fleisch hauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. sagte Trump. »Aber das ist in Ord- nung. Die Leute wissen es.« Ja, wir wissen es. Danke, Mister President. Kittihawk Keiner kann so etwas, nur Sie allein. Aber Moment. Ich kann es auch! Erst kürzlich beim Abendessen dach- te ich mir nämlich, dass es doch ganz nett wäre, wenn die Fußball-EM 2024 in Deutschland ausgetragen würde – obwohl ich mich überhaupt nicht für Fußball interessiere. Und wenn ich mich recht erinnere, habe ich das dann sogar zu meiner Frau gesagt. Und es hat funktioniert! Schon klar, niemand wird zugeben, dass ich das geschafft habe. Alle sagen jetzt, das habe diese Uefa ent- schieden. Stimmt zwar nicht, aber das ist schon in Ordnung. Sie und ich wissen ja, wie es wirklich war. Keine Ursache. Stefan Kuzmany

8 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 $1=(,*(

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Manchmal wirkt Nahles wie die Vorsitzende einer Partei, die es nicht mehr gibt. ‣ S. 24

Premierministerin Theresa May beim EU-Gipfel in Salzburg JOE KLAMAR / AFP

Brexit Annäherung zwischen Deutschen und Briten Bundestagspolitiker für weniger dogmatische Verhandlungslinie – Zugeständnisse aus Großbritannien

Außenpolitiker der Unions-Bundestagsfraktion kritisieren die anerkennen, wie der britische Innenminister Sajid Javid bei harte Verhandlungslinie der EU gegenüber Großbritannien. »Man einem Treffen mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages kann die Brexit-Verhandlungen nicht führen, indem man ständig angedeutet hat. Hintergrund sind Verhandlungen zwischen der EU-Glaubenssätze wiederholt«, sagt Norbert Röttgen, Chef des EU und Großbritannien über eine zukünftige Kooperation in Auswärtigen Ausschusses. »So bedauerlich der Brexit ist, wir soll- Sicherheitsfragen. Die EU hat ihr Interesse an einer Sicherheits- ten jetzt versuchen, etwas Vernünftiges daraus zu machen.« Die partnerschaft bekundet, fordert jedoch, dass eine Weitergabe EU solle den Briten nicht alle Zugänge zum Binnenmarkt ver- von Daten ihrer Bürger an britische Behörden nur in Einklang wehren, nur weil diese die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht mehr mit der europäischen Grundrechtecharta geschehe. akzeptieren wollten. Damit wendet sich Röttgen gegen die Linie Innenminister Javid schloss das am Mittwoch bei einem der 27 übrigen EU-Staaten. Unterstützung kommt von Fraktions- Besuch in Berlin nicht aus – ebenso wenig wie eine zukünftige vizechef : »Großbritannien wird auch künftig Anerkennung von Urteilen des EuGH. »Ob die britische Regie- nicht irgendein Drittland sein, daher kann es nicht in unserem rung zu diesen Fragen eine einheitliche Verhandlungsposition Interesse sein, unerfüllbare Bedingungen zu stellen.« vertritt, ist unklar«, sagt der FDP-Parlamentarier Konstantin Gleichzeitig könnte Großbritannien nach dem Brexit weiter- Kuhle. »Die Mitgliedstaaten der EU wissen momentan nicht, hin die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) woran sie bei der britischen Regierung sind.« CSC, MP

Altersarmut des erreichten Rentenanspruchs betragen. es in einem Leitantrag, den der Bundes- CDU fordert Plus-Rente Das bedeutet: Wer heute eine gesetzliche ausschuss der CDA am Samstag beschlie- Rente von beispielsweise 700 Euro erhält, ßen will. Das Konzept ist ein Gegenent- Der Arbeitnehmerflügel der Union kann sie nach geltendem Recht mit durch- wurf zu den Plänen der Bundesregierung. (CDA) hat ein Konzept zur Bekämpfung schnittlich 150 Euro staatlicher Grund - Im Koalitionsvertrag hat die SPD durch - von Altersarmut bei Geringverdienern sicherung auf insgesamt 850 Euro aufsto- gesetzt, dass die Altersversorgung von vorgelegt. Danach soll die gesetzliche cken. Mit der Plus-Rente will die CDA Geringverdienern künftig zehn Prozent Rentenversicherung die Altersversorgung Geringverdienern zusätzlich 175 Euro pauschal oberhalb der Grundsicherung lie- bedürftiger Senioren, die auf staatliche bereitstellen – aus Steuermitteln. »Unser gen soll. »Das ist ungerecht«, sagt CDA- Grundsicherung angewiesen sind, mit Ziel ist, dass jemand, der gearbeitet und Chef Karl-Josef Laumann. »Die Plus-Ren- einem Rentenaufschlag aufstocken. Diese eingezahlt hat, am Ende mehr hat als te belohnt Fleiß. Wer mehr eingezahlt hat, sogenannte Plus-Rente soll 25 Prozent jemand, der nicht eingezahlt hat«, heißt bekommt dann auch mehr heraus.« COS

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 11 Frank-Walter Das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public Steinmeier nannte die Namen von Politikern. BELIEBTHEIT Anteil der Befragten, die angaben, dass der genannte Politiker künftig »eine wichtige Angaben in Prozent; Veränderungen von bis zu Rolle« spielen solle drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen. Veränderung zur vorigen Umfrage im Juni, Kantar Public für den SPIEGEL vom in Prozentpunkten 24. bis 26. September, 1039 Befragte

Angela Olaf Christian Merkel Scholz Lindner Ursula Peter Annegret von der Leyen Altmaier Kramp- Sahra Heiko Karrenbauer Wagenknecht Maas 70 Andrea Julia Katrin Nahles Klöckner Göring- Eckardt

47 46 –4 44 43 42 42 40 +8 39 34 32 30

»Dieser Politiker ist mir unbekannt.« M. POPOW / IMAGO; J.REETZ / BRAUERPHOTOS; K. NIETFELD / DPA (2); K. NIETFELD / DPA / BRAUERPHOTOS; J.REETZ / IMAGO; M. POPOW PRESS; PUBLIC ADDRESS / ACTION PICTURE-ALLIANCE; / DPA PADILLA T. JUTRCZENKA / / AFP; B. V. S. LOOS FRISCHMUTH / ARGUS; JESKE; P. J. ALLIANCE; PICTURE / DPA I. FASSBENDER PICTURE-ALLIANCE; DPA REHDER / DPA; C. / DDP IMAGES; ECKEN PRESS; D. COLDREY / ACTION J. (3); M. KAPPELER PICTURE-ALLIANCE; / DPA / DPA M. GAMBARINI ALLIANCE / SZ PHOTO HESS / PICTURE PRESS; C. + BREDEL / ACTION BECKER

16 13 12 20 9 14 8 34 27

Nordrhein-Westfalen hat die Bereitschaftspolizei ein anderes Man könne »nicht gegensteuern«, da viele Zu viele Beamte im Wald Auftreten, sie ist wirkungsvoller.« Ähnli- Polizisten fehlten. Laut Innenministerium che Probleme gibt es offenbar in Köln: habe sich keine Polizeibehörde diesbezüg- Der Großeinsatz im Hambacher Forst »In der Innenstadt steigen die Zahlen im lich beklagt. »Schwerpunkteinsätze fin- reißt Lücken bei den Sicherheitskräften in Bereich Straßenraub«, sagt Helmut Adam den weiterhin statt«, so ein Sprecher, »nur Nordrhein-Westfalen. Seit Wochen sind vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. eventuell mit weniger Beamten.« LE Hunderte Polizisten im Einsatz, um die Baumhäuser von Umweltaktivisten abzu- reißen. Diese wollen die Rodung des Waldstücks bei Köln durch den Energie- konzern RWE verhindern. Das NRW- Innenministerium setzt viele Schwer- punkteinsätze der Bereitschaftspolizei bis Januar 2019 aus. Bonns Leitender Polizei- direktor Helmut Pfau, der rund 120 Poli- zisten zur Waldräumung abgestellt hat, klagt, dass er bei Einsätzen gegen Jugend- banden, in der Drogenszene und bei Demonstrationen vermehrt auf Streifen- Polizisten, Umweltschützer im Hambacher Forst

polizisten angewiesen sei. Pfau: »Dabei KLAMMER / LAIF DAVID

12 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Seehofer stürzt ab, Merkel rutscht tiefer Justiz Mehr Bundesanwälte Der Streit um den geschassten Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hat nicht nur Kanzlerin Angela Merkel (CDU), sondern beson- gegen Kriegsverbrecher ders Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) viel Ansehen gekostet. Seehofer, dessen Partei sich in Bayern in zwei Wochen den Wählern stel- Der Generalbundesanwalt erweitert len muss, ist in der Umfrage für die aktuelle SPIEGEL-Politikertreppe sein Personal, das für die Ermittlung um zwölf Prozentpunkte abgerutscht und rangiert jetzt deutlich hinter von Kriegsverbrechen zuständig ist. Ab SPD-Chefin Andrea Nahles. Nahles, selbst Teil des GroKo-Krachs, hat 1. Oktober wird es neben dem bisheri- dagegen von ihrer mittelmäßigen Beliebtheit nichts eingebüßt. Wenn gen Referat S4 ein weiteres geben, das drei sich streiten, freut sich der Vierte: FDP-Chef hat sich um Fälle des Völkerstrafrechts um acht Prozentpunkte in der Wählergunst aufgeholt; er liegt fast gleich- kümmert. Statt bislang sechs ermitteln auf mit Kanzlerin und Vizekanzler (SPD). AB dann elf Staatsanwälte Kriegsverbre- chen und Verbrechen gegen die Mensch- lichkeit. Derzeit bearbeitet die Behörde 80 Ermittlungsverfahren in diesem Bereich. Rund der Hälfte dieser Verfah- Jens Horst Markus ren liegen Taten in den Kriegsgebieten Spahn Seehofer Söder in Syrien und dem Irak zugrunde. Zu den Beschuldigten zählen Kämpfer Robert Alexander des »Islamischen Staates« genauso wie Habeck Dobrindt Angehörige des Regimes von Syriens Präsident Baschar al-Assad. Als Beweis- material dienen den Bundesanwälten Alexander Andreas Alice Gauland Scheuer Weidel unter anderem 53000 Bilddateien eines ehemaligen Fotografen der syri- schen Militärpolizei, der sich das Pseu- donym Caesar gegeben hat. KNO

Flüchtlinge Amt ächzt unter Prüflast 27 27 26 Das Bundesamt für Migration und –12 Flüchtlinge (Bamf) muss bis Ende 2019 +4 20 20 eine halbe Million sogenannte Wider- rufsverfahren bearbeiten. Spätestens drei Jahre nach Anerkennung eines Asyl- 14 gesuchs muss laut Gesetz geprüft wer- 11 den, ob sich die Voraussetzungen geän- 10 dert haben. »Es ist eine große Aufgabe, 28 17 56 16 16 48 43 die auf uns zukommt«, sagte der neue Bamf-Präsident Hans-Eckhard Sommer in einer internen Sitzung des Innenaus- schusses. Um die nötige Personalstärke müsse man sich »Gedanken machen«. Bonus oder Malus könnte einen wirk - Bei der größten Flüchtlingsgruppe, der Neue Rufe nach samen Anreiz setzen, damit Parteien aus Syrien, hat sich wenig geändert: Dort mehr Frauen als Direktkandidatinnen für herrscht immer noch kein Frieden. Der Frauenquote den Bundestag aufstellen.« Die SPD- Bamf-Präsident regt an, die Prüffrist auf Abgeordnete Josephine Ortleb will eine fünf Jahre zu verlängern: Drei Jahre Immer mehr Abgeordnete von Union »umfassende Lösung«, die auch die nach einem positiven Bescheid habe sich und SPD fordern eine Frauenquote für Direktmandate umfassen solle. »Gerade »meistens noch nicht so viel im Her- den Bundestag. »Das Ziel muss Parität, wenn es um die Nominierung in den aus- kunftsland getan«, nicht genug, um die- also halbe-halbe, sein«, sagt sichtsreichen Wahlkreisen geht, haben sen zu widerrufen. Zugleich hofft sein (SPD). Anfangen will Mast mit Vorgaben Frauen oft schlechtere Karten«, sagt sie. Amt auf mehr Handhabe, um Schumm- für die Landeslisten, über die mehr als Der Schleswig-Holsteiner SPD-Abgeord- ler aufspüren zu können. Bisher kann es die Hälfte der Abgeordneten ins Parla- nete Sönke Rix sagt: »Jede Quote wäre bei Widerrufsprüfungen Flüchtlinge nur ment kommen. Dazu bedarf es laut Mast besser als der Istzustand.« Zuvor hatten zum freiwilligen Gespräch bitten. Dies keiner Verfassungsänderung. Die Quote schon die SPD-Politikerinnen Katarina will die Regierung mit einem Gesetz solle im Rahmen einer ohnehin geplanten Barley und Eva Högl und die Unions - ändern, das jetzt dem Bundestag vor- Wahlrechtsreform durchgesetzt werden. abgeordnete Annette Widmann-Mauz liegt. Weil in der Hochphase der Flücht- Elisabeth Winkelmeier-Becker, rechtspoli- gegenüber dem SPIEGEL für eine Quote lingskrise Angaben »nicht immer hinrei- tische Sprecherin der Unionsfraktion, plädiert (38/2018). Der aktuelle Bundes- chend überprüft« werden konnten, sol- regt als weitere Maßnahme Regeln für die tag hat mit 30,9 Prozent den geringsten len besonders diese Fälle im Nachgang Wahlkampfkostenerstattung an. »Ein Frauenanteil seit 1998. ASE besser kontrollierbar werden. WOW

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Im Abendlicht

Union In einem Akt des Widerstands hat sich die Unionsfraktion gegen die Kanzlerin erhoben und deren Vertrauten Volker Kauder abgewählt. Nun ist hinter den Kulissen ein Machtkampf um ihr Erbe entbrannt. Wie lange kann sich Angela Merkel noch halten?

14 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 r hat den Sturz nicht kommen sehen, bis zum Schluss hat Volker E Kauder gedacht, es würde reichen, dieses eine Mal noch. Nun steht er in seinem Eckbüro an der Berliner Wilhelmstraße, durch die bodentiefen Fenster sieht man den Reichstag, die Spree und den Garten der Parlamentarischen Gesellschaft. Er ist gleich gegangen nach seiner Ab- wahl, ein Händedruck für seinen Nachfol- ger Ralph Brinkhaus, dann verließ er den Fraktionssaal und ging in sein Büro, wo seine engsten Mitarbeiter auf ihn warteten. Manche hatten Tränen in den Augen, so berichtet es jemand, der dabei war. Einer bestellt schon den Umzugscontainer, die Regeln sind unerbittlich: Schon bald wird Brinkhaus das große Büro mit Bespre- chungstisch und Sitzecke in Anspruch neh- men, Kauder verliert den riesigen Mitar- beiterstab, den eigenen Fahrer und die Hälfte seiner Bezüge. Kauder versucht erst einmal, die Unter- gangsstimmung zu dämpfen: »Jetzt beru- higt euch mal, ich werde es schon über- leben.« Aber alle wissen, wie wichtig Kau- der der Job war, die Nähe zur Kanzlerin. Eine befreundete Abgeordnete ruft Kau- ders Frau Elisabeth an, eine Ärztin, die versucht, den letzten Flug aus Stuttgart nach Berlin zu erwischen. Immer wieder gehen SMS von Angela Merkel ein: Wie geht es ihm? Wer kümmert sich? Merkel hatte keine Zeit, ihren treuen Weggefährten zu trösten, nach dem Sieg von Brinkhaus verlässt auch sie die Frak- tionssitzung, auch sie zieht sich mit ein paar Vertrauten zurück, um eine Sprach- regelung zu finden für die Katastrophe, die sich eben vor ihren Augen abgespielt hat. Was soll sie sagen, wo die Dinge doch so offensichtlich sind? Es hat schon so viele gegeben, die ver- sucht haben, Merkel aus dem Weg zu räu- men, der sanfte Christian Wulff war da- runter, der jähzornige Friedrich Merz, der listige Roland Koch. Merkel hat sie alle hinter sich gelassen. Wenn es darauf an- kam, dann hatte sie immer die besseren Nerven und das richtige Gespür für die Gemütslage ihrer Partei. Bis zum Schluss blitzte immer wieder ihr genialisches Machtbewusstsein auf; es ist erst ein paar Wochen her, dass sie Horst Seehofer im Streit um die Zurückweisungen an den deutschen Grenzen beinahe in den Rück- tritt trieb. Es ist nicht ohne Komik, dass nun ausge- rechnet Brinkhaus der Kanzlerin die schwerste Niederlage ihrer 13-jährigen Amtszeit beibringt. Brinkhaus ist kein Getriebener, niemand, für den Merkel zum Dämon geworden ist. Seine Kampagne war ganz sanft, er forderte nicht den Sturz Mer- Parteivorsitzende Merkel kels, nur andere Umgangsformen, aber ge-

CLEMENS BILAN / EPA-EFE / REX SHUTTERSTOCK CLEMENS BILAN / EPA-EFE rade deshalb war er am Ende erfolgreich:

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Mit mir gibt es den Wandel, ohne dass sich Karrenbauer nach Berlin, um ihr, wenn al- »Die Abwahl Kauders war ein wichtiges etwas ändert, das war die Botschaft, die les gut läuft, im Jahr 2020 den Parteivorsitz Ventil für die Fraktion, an der Basis brodelt verfing in einer Fraktion, die am Ende einer zu übergeben. So wird der Plan zumindest es wegen der ständigen Störfeuer aus Berlin. langen Ära genauso wie das Land schwankt im Konrad-Adenauer-Haus kolportiert; er Ich gehe davon aus, dass dieses Signal in zwischen Überdruss und Beharrung. hätte Merkel die Zeit gegeben, die Dinge der Parteiführung angekommen ist«, sagt Merkel hätte die Revolte abwenden kön- in ihrem Sinne zu ordnen. der Europaabgeordnete Sven Schulze. nen, wenn sie nicht an Kauder festgehalten Als sie sich im Herbst 2016 entschied, »Der nächste Schritt ist der Bundesparteitag und einen anderen Kandidaten ins Rennen noch einmal anzutreten, ging wegen des in Hamburg. Ich bin mir sicher, dass Frau geschickt hätte; aber sie wollte den Mann Flüchtlingsstreits ein Riss durch Europa, Merkel gut abwägt, ob sie noch mal antritt.« nicht enttäuschen, der schon so lange mit ihr und gerade war Donald Trump zum neuen Schulze, der auch Generalsekretär der zusammenarbeitet und der sie zu Beginn der US-Präsidenten gewählt worden. Auf viele CDU Sachsen-Anhalt ist, versichert, dass Legislaturperiode gefragt hatte, ob er noch wirkte Merkel wie die letzte Hoffnung in er keine Personaldebatten eröffnen wolle. einmal antreten dürfe. Auch das ist so eine einer verrückt gewordenen Welt. »She’s »Das würde der Partei nur schaden.« Doch Pointe in dieser verrückten Geschichte: Mer- all alone«, sagte der scheidende US-Präsi- das dürfte ein frommer Wunsch bleiben. kel, der immer nachgesagt wird, wie ruchlos dent Barack Obama, nachdem er Merkel Merkels Leute zerbrechen sich ja seit der sie Männer aus dem Weg räumt, strauchelt Mitte November 2016 zu einem letzten Revolte in der Fraktion selbst den Kopf nun auch deshalb, weil sie den Wunsch eines langen Abendessen im Berliner Hotel Ad- darüber, wie die Kanzlerin ihre letzte Mannes nicht abschlagen konnte. lon getroffen hatte. Amtsperiode in Würde zu Ende bringen Natürlich, sie hat schon so viele Nieder- und ihr Erbe retten kann. lagen einstecken müssen, schon oft wurde Von Merkel bleibt kein historischer Fuß- ihr Ende prophezeit, ihr geht es da nicht Es geht um die Frage, abdruck wie bei den beiden anderen lang- besser als Helmut Kohl, dem Elefanten der ob die CDU nach der Ära jährigen CDU-Kanzlern Adenauer und Christdemokratie, der sich 16 Jahre lang Kohl, die für immer mit der Westbindung im Kanzleramt hielt. Aber noch nie hat Merkel wieder nach und der Einheit verknüpft sein werden. die Unionsfraktion offen gegen einen rechts schwenken soll. Doch Merkel hat auf ihre Weise die CDU Kanzler rebelliert und sich einen Vorsit- verändert wie niemand zuvor. Sie hat die zenden gewählt, der nicht den Segen des Partei so weit in die Mitte gerückt, dass Regierungschefs hatte. Die Abgeordneten, Dann aber trat Frankreichs Präsident sie kaum noch von der politischen Kon- auf deren Schultern die Macht der Kanz- Emmanuel Macron auf die Bühne, der so kurrenz zu unterscheiden ist. lerin ruht, haben sich entschieden, ihren ungleich energischer wirkt als Merkel, und Merkel hält das für eine notwendige Mo- eigenen Weg zu gehen. Und wenn sie es viele in der Union ergriff das Gefühl, das dernisierung, ihre Gegner aber für einen einmal tun, werden sie es wieder wagen. Merkel die Spaltungen in Europa und historischen Irrtum, der die Saat gelegt hat Merkel weiß das. Sie hat ja gar nicht ver- Deutschland nicht überwinden kann, son- für den Aufstieg der AfD und den es nun sucht, die Dinge zu beschönigen: »Das ist dern sie eher vertieft. Nun ist es äußerst zu tilgen gilt. Auch deshalb entfaltet sich eine Stunde der Demokratie, in der gibt fragwürdig, ob Merkels Plan eines selbst- hinter den Kulissen so ein unerbittlicher es auch Niederlagen«, sagte sie am Diens- bestimmten Abgangs noch funktioniert. Machtkampf: Es geht nicht nur um die tag nach der Abwahl Kauders. Sie weiß, Im Dezember findet der nächste Partei- Frage, wer die Partei in die Zukunft führt. wie schwer es nun wird, den eigenen Ab- tag statt, dort muss sich Merkel, wie die ge- Es geht auch darum, ob die CDU nach der gang selbst zu bestimmen. samte CDU-Spitze, der Wiederwahl stellen. Ära Merkel wieder weiter nach rechts Das war noch keinem Kanzler vergönnt, Nun werden die ersten Stimmen laut, die schwenken soll. aber bei Merkel sah es so aus, als könnte nach dem Wechsel in der Fraktion auch Niemand steht für die Gegenrevolution ihr das gelingen. Sie holte Annegret Kramp- eine Erneuerung der Parteispitze fordern. so wie , der 38-jährige Abge- ordnete aus dem Münsterland, der sich erst gegen den Willen Merkels ins CDU- Präsidium und dann ins Kabinett geboxt hat. Spahn hat Verbündete, aber sie stehen vor allem außerhalb der CDU: FDP-Chef Christian Lindner gehört dazu, auch CSU- Landesgruppenchef . Innerhalb der Partei fehlen ihm noch die Truppen, weshalb ihm die Brinkhaus- Revolte viel zu früh kam. Das gilt auch für CDU-Generalsekretärin Kramp-Karren- bauer, die zu sehr als Geschöpf der Kanz- lerin gilt. Kommen deshalb Kandidaten zum Zug, die bisher ihren Ehrgeiz zu ver- bergen wussten? Die Dinge sind ins Rutschen gekommen in der CDU. Die Partei, die so lange straff von oben geführt wurde, nimmt sich jetzt das Recht, von unten zu entscheiden. Die Umfragen sind derart desaströs, dass das Vertrauen in die Führung erodiert. In Sach- sen ist es gut möglich, dass die AfD bei der Landtagswahl im kommenden Jahr die HC PLAMBECK regierende CDU überholt. Als in dieser Ex-Fraktionschef Kauder: Symbol eines erstarrten Machtsystems Woche die Wahl des neuen Fraktionschefs

16 KAY NIETFELD / DPA KAY Merkel-Kontrahent Brinkhaus: Veränderung des Stils, nicht der Inhalte im Dresdner Landtag anstand, entschie- zahl von Liberalen Brinkhaus ihre Stim- auf dem Parteitag im Dezember erneut als den sich die Abgeordneten gegen den men gegeben hat. Parteivorsitzende antreten. Die Delegier- Vorschlag von Ministerpräsident Michael Die Veränderung, die Brinkhaus als Ers- ten wären vermutlich bereit, den Wechsel Kretschmer und votierten für den Innen- tes angehen will, ist eine des Stils, nicht des an der Fraktionsspitze als ersten Schritt politiker Christian Hartmann, der Koali- Inhalts. »Die Leute mitnehmen, wertschät- zur Erneuerung zu akzeptieren. tionen mit der AfD nicht ausschließt. Auch zen, ernst nehmen«, sagt er. Was sich wie Doch die Umfragewerte sind miserabel, in Hessen, wo Ende Oktober gewählt wird, eine Banalität anhört, ist die Einsicht, dass sowohl in Bayern als auch in Hessen. folgt die CDU nicht mehr bedingungslos viele Abgeordnete schon dankbar sind, Kommt es zum Desaster, muss sich Merkel Parteichef Volker Bouffier. Als vor ein paar wenn sie den Eindruck haben, ihre Mei- entscheiden, wie sie den Delegierten ge- Tagen der neue Landesgruppenchef im nung werde gehört. Über Kauder wird die genübertreten will. In der Parteispitze wer- Bundestag zur Wahl stand, setzte sich der Geschichte erzählt, dass er selbst dann ein den zwei Optionen diskutiert: Die Kanz- Außenseiter Michael Brand durch, nicht »Was soll das jetzt?« geblafft habe, wenn lerin kann erneut als Parteichefin antreten Bouffiers Favorit . man ihn auf den Fluren freundlich grüßte. und die Wahl zur Vertrauensfrage über Doch Ralph Brinkhaus ist bislang der Nun ist er weg. Und bald auch Merkel? ihre Kanzlerschaft deklarieren. größte Profiteur des neuen Widerspruchs- Oder sie räumt doch den Posten der Par- geistes. Es ist Mittwochnachmittag, Brink- Sie will kämpfen, das hat sie auch öffent- teivorsitzenden und versucht, einen Kan- haus nimmt seine Brille ab und reibt sich lich bekundet. Auf einer Veranstaltung der didaten oder eine Kandidatin ihrer Wahl die Augen. Er hat kaum geschlafen, 268 »Augsburger Allgemeinen« sagte sie am zu installieren. Schon auf dem Höhepunkt ungelesene SMS sind auf seinem Handy, Donnerstagabend auf die Frage, ob sie im- des Flüchtlingsstreits im Sommer hatte Mer- mehr als 500 E-Mails muss er noch beant- mer noch glaube, dass Parteivorsitz und kel erwogen, auf einem Parteitag die Ver- worten. Er hat sich den Mitarbeitern vor- Kanzlerschaft in eine Hand gehörten: trauensfrage zu stellen – für den Fall, dass gestellt, er hat mit den stellvertretenden »Das ist absolut gültig.« Ob sie in der die Union zerbricht und die CSU ihre Mi- Fraktionsvorsitzenden geredet, er hat am nächsten Wahlperiode noch mal antreten nister aus der Regierung abberufen hätte. Morgen zum ersten Mal im Kanzleramt wolle? »Da müssen wir noch mit einer Ent- Sollte sich Merkel zurückziehen, wird es an der Besprechung der Union vor dem scheidung warten.« Am Ende sieht sie ihre eine Kampfkandidatur um ihre Nachfolge Kabinett teilgenommen. Kanzlerschaft noch nicht, das macht sie geben. Kramp-Karrenbauer träte an, der Er wolle Brücken bauen, sagt Brink- klar: »Ich bin quicklebendig.« nordrhein-westfälische Ministerpräsident haus. Er will jetzt noch keinen Streit mit Die Frage ist, ob sie ihre politische Zu- Armin Laschet und wohl auch Spahn, der Merkel. Die Wahl, die er gewonnen hat, kunft wirklich in der Hand hat. Entschei- schon in der Vergangenheit erkennen ließ, war kein Mandat für einen Rechtsruck, das dend werden die Landtagswahlen in Bay- dass er dem liberalen Flügel nicht kampflos weiß er. Es gab eine Reihe Konservativer ern am 14. Oktober und in Hessen zwei den Parteivorsitz überlassen wird. Inzwi- in der Fraktion, die für Kauder votiert ha- Wochen später sein. Gelingt der Union ein schen ist es auch denkbar, dass Merkel di- ben, genauso wie eine nicht geringe An- halbwegs akzeptables Ergebnis, kann sie rekt herausgefordert wird. Der Erfolg von

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 17 Titel

Spahn fällt, die nötige Gravitas aufzu- bauen. Im Konrad-Adenauer-Haus rechnet man damit, dass Merkel erst kurz vor dem Parteitag über ihre Zukunft entscheiden wird. Dabei geht es nicht nur um den Vor- sitz. Offen ist auch, ob sie die verbleiben- den drei Jahre ihrer Kanzlerschaft noch im Amt bleiben kann. Viele in der CDU sind der Meinung, dass Merkel vor der Bundestagswahl 2021 ihr Amt abgeben muss, damit der Nachfolger mit dem Kanz- lerbonus vor die Wähler treten kann. Dazu aber müsste die SPD den neuen Kanzler mitwählen. Warum sollte sie das tun?

Am Dienstagnachmittag, kurz nach Kau- ders Niederlage, verschickte Generalsekre- tär vorsichtshalber eine SMS an die Mitglieder der SPD-Parteispit- ze. »Liebes Präsidium«, schrieb er, »fol- gende Info von Andrea: Das Desaster liegt bei denen. Die sollen sich erklären. Ich be- danke mich bei Kauder. Ich gratuliere Brinkhaus. Mehr müssen wir die nächsten 12 h nicht machen. Bitte.« Es war zu schön, dabei zuzusehen, wie sich die Union zerlegt hat. Der Putsch ge- gen Kauder war ja nicht einmal geplant, es gab keine Kampagne und keine Fron- deure, die sich heimlich trafen. Es gab nur den Unmut über Merkel und Kauder, der zum Symbol eines erstarrten Machtsys- tems geworden war. Als Merkel den Mann aus Tuttlingen nach der Bundestagswahl 2005 zum Frak- tionschef berief, galt dies noch als geschick- ter Schachzug: Kauder hatte 2002 offen Merkels CSU-Rivalen Edmund Stoiber als Kanzlerkandidaten unterstützt; Kauders Nominierung war deshalb auch eine Ver- neigung Merkels vor dem konservativen Teil der Fraktion. Doch Kauder sah seine Aufgabe von Anfang an darin, den Willen der Kanzlerin zu erfüllen, was ihn bald von vielen in der

HC PLAMBECK / LAIF Fraktion entfremdete, zumal seine Metho- CDU-Politikerinnen Kramp-Karrenbauer, Merkel: Machtbasis noch nicht gefestigt den nicht immer zimperlich waren. Wäh- rend der Abstimmung über die Hilfspakete für Griechenland drohte der Fraktionschef Brinkhaus hat gezeigt, dass es sich lohnen folgerin wäre. Ihre Planung ist längerfristig Abweichlern mit dem Verlust ihrer Posten kann, ein politisches Risiko einzugehen. angelegt, allerdings hat sie im Streit um in den Bundestagsausschüssen. Die Kolle- Ein Faktor allerdings spricht für Merkel: den Verfassungsschutzpräsidenten Hans- gen würden zum Teil »in einer Weise ge - Ihre Gegner sind weitgehend unvorberei- Georg Maaßen gezeigt, dass sie gewillt ist, kne tet und ge dreht, dass es einem schlecht tet. Spahn hat seinem Biografen Michael sich von Merkel zu distanzieren. wer den« könne, klagte einmal der CSU- Bröcker anvertraut: »Bekannt bin ich jetzt. Bessere Chancen hätte Laschet. Er steht Veteran Peter Gauweiler. Beliebt muss ich noch werden.« Bis dahin dem stärksten Landesverband vor und Doch Kauder blieb so lange unumstrit- ist es noch ein gutes Stück Weg. Auch wäre bei einer Niederlage der CDU in ten, wie Merkel Erfolg hatte. Dann aber wohlmeinende Parteifreunde hat er durch Hessen der mit Abstand einflussreichste kam die Flüchtlingskrise, bei der Kauder öffentlich zelebrierte Nähe zum umstritte- Ministerpräsident der CDU. Anders als treu an der Seite Merkels stand und die nen US-Botschafter Richard Grenell oder Kramp-Karrenbauer verfügt er über ein dann die AfD in den Bundestag spülte. Die dem österreichischen Kanzler Sebastian wichtiges Amt, er hätte Rederecht im CDU dagegen holte bei der Wahl im Herbst Kurz irritiert. Bundestag und könnte über den Bundes- 2017 das schlechteste Ergebnis ihrer Ge- Spahns schärfste Konkurrentin Kramp- rat Gesetze einbringen. Laschet hat schichte, und als Merkel nach dem Schock Karrenbauer ist in der Partei zwar beliebt, ein scharfes Auge für die Schwächen sei- in aller Eile die Fraktionsspitze neu wählen sie hat aber ihre Machtbasis noch nicht so ner Gegner, er sieht nicht ohne Freude, ließ, verweigerte rund ein Drittel der Ab- gefestigt, dass sie Merkels logische Nach- wie schwer es Kramp-Karrenbauer und geordneten Kauder die Unterstützung.

18 Es war ein deutliches Warnsignal. Aber Merkel überhörte es. Sie hätte Kauder ja einen Posten in der Regierung anbieten und einem loyalen Mann die Fraktion überlassen können, dem damaligen Ge- sundheitsminister Hermann Gröhe etwa oder ihrem Vertrauten . Durch den schwachen Start der Großen Koalition litt Kauders Ansehen weiter. Ihm wurde mit angelastet, dass der Asylstreit mit der CSU derart eskalierte. Gleichzeitig fing Brinkhaus an, sich in der Fraktion Ge- hör zu verschaffen. Als Finanzexperte hatte er ohnehin einen guten Ruf unter seinen Kollegen. Er wandte sich gegen die Reform- vorschläge des französischen Präsidenten Macron für die Eurozone und sprach sich dafür aus, das Werbeverbot für Abtreibun- gen beizubehalten, was auch in seiner kon- servativen westfälischen Heimat gut ankam. Brinkhaus wuchs in Rietberg-Mastholte auf, einem Dörfchen südlich von Gütersloh.

Heute lebt er ein paar Kilometer weiter, in / GETTY IMAGES MICHELE TANTUSSI Rheda-Wiedenbrück. Wenn er in seiner Merkel-Widersacher Spahn: »Beliebt werden muss ich noch« Heimat ist, joggt er fast jeden Morgen über die Felder. Er trinkt nie Alkohol, nur Oran- gensaft, selbst bei den Schützenfesten, die toph Ploß. »Die Erwartung der Menschen, Jahrzehnt lang stand Merkel unangefoch- er fleißig besucht, zieht er das durch. dass etwas passiert, war riesig.« ten an der Spitze des Landes und der Bescheiden sei der Ralph, fast genant, er- Merkel spürte, dass die Stimmung sich Union. Von der Bundestagswahl 2013, bei zählen sie im CDU-Kreisverband in Güters- drehte, und entschuldigte sich öffentlich. der sie nur um ein Haar die absolute Mehr- loh. Er fahre eine alte A-Klasse, an einen Doch es war zu spät, um Brinkhaus noch heit verpasste, bis zum August 2015, als Dienstwagen müsse er sich erst gewöhnen. zu stoppen. Der hatte zu diesem Zeitpunkt pro Tag Tausende Menschen in Deutsch- Brinkhaus sei tiefreligiös, er kämpfe gegen schon eine intensive Werbekampagne ab- land aufgenommen wurden, stand sie im die Verfolgung von Christen in aller Welt. solviert. Er trat vor der »Jungen Gruppe« Zenit ihrer Macht. Ist es nun Zeit? In den Sitzungswochen steht Brinkhaus an der Fraktion auf und gewann die »Gruppe Die Bilanz von Merkels Amtszeit bleibt Donnerstagen in aller Herrgottsfrühe auf, 17« nahezu geschlossen für sich – die Run- zwiespältig, das gilt nicht nur für die Flücht- damit er die Messe besuchen kann, die de aller Abgeordneten, die neu ins Parla- lingspolitik. Sie hat Deutschland durch die der Leiter des Katholischen Büros, Prälat ment gekommen sind. Außerdem rief er Euro- und Finanzkrise geführt, wie sie es Karl Jüsten, in seiner Kapelle eigens für die fast jeden Abgeordneten einzeln an – auch versprochen hatte: Das Land ging stärker Unions abgeordneten des Bundestags liest. die aus Kauders Landesverband. daraus hervor, als es hineingegangen war. Vor ein paar Monaten, während der Brinkhaus ging dabei geschickt vor, er Aber Deutschland zahlte auch einen hohen parlamentarischen Sommerpause, tourte positionierte sich nicht gegen Merkel. Statt- Preis: Es verlor das Vertrauen der Europä- Brinkhaus durch seinen Wahlkreis. »Brink- dessen versprach er einen neuen Ton. Ihre er, dass die Deutschen nicht in erster Linie haus vor Ort« nannte er die Aktion. Er Anliegen würden künftig gehört, kündigte den eigenen Geldbeutel, sondern das Wohl war in den Städten und Gemeinden rund Brinkhaus an. Viele, die Kauders Belehrun- des Kontinents im Blick haben. um Gütersloh unterwegs, stand vor Bäcke- gen leid waren, nahmen das begeistert auf. »Die deutsche Präsenz und der Einfluss reien und Gaststätten, führte Gespräche. der deutschen Regierung sind nicht mehr »Er merkte dabei, dass wir mit unserer optimal. Das hat mit der Bundestagswahl, Politik die Mitte der Gesellschaft nicht Die Bilanz von Merkels der schwierigen Regierungsbildung und mehr erreichen«, sagt Heiner Kollmeyer, Amtszeit bleibt zwie- dem Streit während der letzten Monate in ein guter Freund von Brinkhaus und des- der Union und in der Bundesregierung zu sen Nachfolger als Fraktionschef im Gü- spältig, das gilt nicht nur tun«, sagt der deutsche EU-Kommissar tersloher Stadtrat. für die Flüchtlingspolitik. Günther Oettinger. »Natürlich ist die Die CDU-Fraktion in Berlin sei blutleer, Kanzlerin jetzt geschwächt, aber ich er- ohne Eigenleben, erzählte Brinkhaus sei- warte, dass sie beim Parteitag im Dezem- nen Weggefährten in der Heimat. »Da Nun frohlocken Merkels und Seehofers ber erneut als CDU-Vorsitzende gewählt muss bald etwas passieren.« Er sei selbst Gegner in der Fraktion, dass die alte Garde wird und über die ganze Legislaturperiode nicht davon ausgegangen, dass er gegen bald abgesetzt wird. »Die Fraktion hat ge- das Amt der Kanzlerin ausübt.« Kauder gewinnen könne. »Selbst wenn ich zeigt, dass sie noch lebt. Das Signal für eine Gut besichtigen ließ sich der Verfall von es nicht schaffe, habe ich wenigstens einen personelle Erneuerung dürfte nun auch in Merkels Macht im Juni, als die Staats- und Punkt gesetzt«, habe Brinkhaus gesagt. den Parteien ankommen«, sagt Bundestags- Regierungschefs stundenlang über lästigen Doch dann kam die Affäre Maaßen, die vizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU). Fragen der Flüchtlingspolitik brüteten, viele Abgeordnete am Verstand der Füh- Deutschland erlebt das Ende einer Ära, weil Merkel unbedingt ein Papier brauchte, rung zweifeln ließ. »Als wir in die Wahl- eine Zeit des Übergangs. Die Republik das sie im Streit mit Seehofer als »euro- kreise gefahren sind, ist uns völli ges Un- schwankt zwischen dem Wunsch nach Ver- päische Lösung« präsentieren konnte. verständnis entgegengeschlagen«, erzählt änderung und der bereits beginnenden Beim informellen Gipfel vor gut zehn der Hamburger CDU-Abgeordnete Chris- Nostalgie für die Ära Merkel. Mehr als ein Tagen in Salzburg gab Merkel nicht mehr

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 19 FEDERICO GAMBARINI / DPA GAMBARINI FEDERICO Wahlplakat mit Porträt des CDU-Spitzenkandidaten Laschet*: Scharfes Auge für die Schwächen der Gegner den Ton an. Dabei ging es um ein Thema, Es gibt Momente, da wird sie verehrt Merkel nickt zufrieden, als eine Mecha- von dem für Deutschlands Wirtschaft wie eine Heilige. »Frau Dr. Chancellor, tronikstudentin von ihrer Liebe zur EDV viel abhängt – den Brexit. Nachdem Groß- a warm welcome to Jordan«, sagt Ma - erzählt. Auch in Deutschland, sagt Merkel, britanniens Premierministerin Theresa nar Fayyad, als die Kanzlerin Mitte seien immer noch viel zu wenige Mädchen May die Staats- und Regierungschefs beim Juni die deutsch-jordanische Universität in den Ingenieursstudiengängen. Ein biss- Abendessen am Mittwoch in der finsteren in Amman besucht. Fayyad ist eine chen wirkt es so, als wolle sie selbst hier Salzburger Felsenreitschule mit ihrem har- Frau, wie Merkel sie mag, eine Natur- in Amman dazu aufrufen, die Macht nicht ten Vortrag in Rage gebracht hatte, setzte wissenschaftlerin in einem schlichten Ho- den Männern zu überlassen. sich nicht Merkels moderater Kurs im Um- senanzug, die sich nicht spreizen muss, Über all die Jahre war sie unendlich vor- gang mit den Briten durch, sondern die nur weil die Kanzlerin gerade zu Besuch sichtig, sie hat ihre Macht gehütet wie eine Linie von Macron und anderen. ist. zerbrechliche Vase, sie hat jede überhas- Sie schickten May mit einer klaren Bot- tete Bewegung vermieden. Merkel wollte schaft nach Hause: Ihren Brexit-Plan kön- es sich mit niemandem verderben, für vie- ne sie getrost vergessen. Seitdem stecken Merkel war eine perfek- le Jahre war sie so die perfekte Kanzlerin, die Verhandlungen fest; ausgerechnet te Kanzlerin, dann ka- aber dann kamen die Flüchtlinge, und seit- jetzt, wo May vor ihren Parteitag tritt, her ist alles anders. düpiert die EU sie. »Eine Panne«, versuch- men die Flüchtlinge, und Merkel will keine Rücksicht mehr neh- te Merkels Europaberater Uwe Corsepius seither ist alles anders. men, es geht jetzt auch darum, was von im Telefonat mit Bundestagsabgeord - ihrer Kanzlerschaft bleibt. Sie weiß, dass neten die Sache schönzureden. In Wahr- die Flüchtlinge so mit ihrer Kanzlerschaft heit hatten schlicht andere die Regie über- Merkels Blick streift über die Studen- verbunden bleiben werden wie die Einheit nommen. ten, Professorin Fayyad hat eine Mode- mit Kohl; sie mag sich dafür nicht entschul- Zu Merkels Vermächtnis gehört auch, ratorin für die Diskussion engagiert, aber digen, egal was die Schreihälse in Chem- dass sie die erste Frau an der Spitze einer Merkel nimmt die Dinge lieber selbst nitz oder Dresden brüllen. deutschen Regierung war. Sie versteht sich in die Hand, es sollen nicht nur die Dräng- Wenn man Merkel durch die Welt be- nicht als Feministin. Aber sie hat einen ler und Selbstdarsteller drankommen, lie- gleitet, nach Peking, Washington, nach neuen Stil in der Politik etabliert, ruhig ber die stillen Mädchen, die sich brav Amman und Québec, dann fällt vor allem und sachlich, ohne Machtallüren. Das melden. auf, wie breit der Graben zwischen der Ansehen, dass die Bundesrepublik in aller Die Dame mit den dunklen Haaren? globalpolitischen Analyse und ihrer wirk- Welt genießt, hat auch damit zu tun, dass lichen Macht als Kanzlerin geworden Merkel das Land so bescheiden nach * Während des NRW-Landtagswahlkampfs im Mai ver- ist. China will wieder zurück zu den außen repräsentierte. gangenen Jahres. Machtgrenzen der Qing-Dynastie; Wla-

20 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Opposition FDP und Grüne üben für neue Jamaikagespräche. Kubicki duzt sie sich. Nur bei Lindner und Habeck hakt es noch etwas. Zwar treffen sie sich immer mal wieder bei Podiumsveranstaltungen. »Dort Diskrete Therapiesitzungen beschnuppern sie sich, trauen sich aber noch nicht ganz über den Weg«, sagt einer, der beide kennt. Sie wollen nicht gesehen werden, des- schirm ESM geübt hatten. Die Grünen Das liegt auch an der aktuellen Lage. wegen treffen sie sich nicht im Regierungs- fanden wiederum die Kritik der FDP an Während die FDP derzeit froh wäre, die viertel, sondern im Westen Berlins. Sie, ihrer Klimapolitik unfair. Zusammenarbeit zu intensivieren, hält das sind Bundestagsabgeordnete von FDP So sollte allmählich ein Vertrauensver- sich das Interesse bei den Grünen in Gren- und Grünen, rund ein Dutzend von ihnen, hältnis entstehen, das mögliche Sondie- zen. Deren Umfragewerte nehmen stetig die etwa alle sechs Wochen zusammen- rungen nach der nächsten Bundestags- zu, in Bayern könnten sie zweitstärkste kommen. Lebensstern nennt sich die wahl in drei Jahren erleichtern könnte. Kraft werden, in Hessen wieder in die Gruppe, angelehnt an den Namen der Bar, Doch als sich die Runde am Mittwoch die- Regierung kommen. Die FDP dagegen hat in der sie sich trifft, direkt über dem ser Woche zu später Stunde im Lebens- seit der Bundestagswahl an Zustimmung Café Einstein in der Kurfürstenstraße. Die stern traf, schwante ihr, dass der Praxistest eingebüßt und muss in Bayern um den Lebenssternler wollen vorbereiten, was früher kommen könnte, als bislang ge - Einzug in den Landtag bangen. vor einem Jahr gescheitert ist: ein Regie- dacht. Am Vortag war Merkels Favorit für Es gibt einige Grüne, die den Runden rungsbündnis im Bund, an dem zum ers- den Fraktionsvorsitz gescheitert; und deshalb kritisch gegenüberstehen. »Wieso ten Mal Liberale und Grüne beteiligt sind. seither mag kaum noch jemand wetten, sollten wir denen helfen, aus ihrer selbst Es sind überwiegend jüngere, pragma - dass die Koalition bis zum Ende der Legis- zugefügten Lage herauszukommen?«, tische Vertreter beider Parteien. Die Vize- laturperiode durchhält. fragt einer von ihnen. Schließlich habe die Fraktionschefs und Nun könnte es den Jamaikanern zugu- FDP dafür gesorgt, dass Jamaika geschei- sowie die Parlamentarischen tekommen, dass sie zumindest in jener tert sei und jetzt alle die Große Koalition Geschäftsführer und Ste- Runde schon mal über die großen The- ertragen müssten. Doch selbst die größten fan Ruppert etwa sind für die FDP dabei; men gesprochen haben: Europa, Migra - Skeptiker erkennen, dass sich die Lage bei den Grünen sind es unter anderen die tion, Sicherheit. diese Woche entscheidend verändert hat. Vize-Fraktionsvorsitzenden Konstantin Dazu kommen die Vorstöße, die die Und so könnte es am Ende ziemlich von Notz und , die Parla- Oppositionsfraktionen in den vergan- schnell gehen. Wie in Schleswig-Holstein, mentarische Geschäftsführerin Franziska genen Monaten gestartet hatten: ein offe- wo sich die Architekten des Jamaika- Brantner und , Sprecher ner Brief an die Kanzlerin, in dem Grüne Bündnisses schon länger kannten – und für digitale Wirtschaft. und Liberale mehr Kompetenzen für den vertrauten. ist einer Die gelb-grüne Gesprächstherapie hatte Bund in der Bildungspolitik fordern. Eine von ihnen. Er registriert die Annäherung sich im Winter, nach dem Scheitern von gemeinsame Klage vor dem Bundesverfas- mit Genugtuung. »Ich habe immer gesagt, Jamaika, gefunden. »Es gab damals auch sungsgericht gegen das bayerische Polizei- dass die Jamaika-Sondierungen auch massive atmosphärische Probleme«, sagt gesetz. Die Unterstützung der Grünen daran gescheitert sind, dass zwischen uns der Grüne Notz, der die Runde mit dem zum FDP-Antrag auf eine Aktuelle Stun- und den Grünen auf Bundesebene zu FDPler Thomae gegründet hat. de im Fall des Verfassungsschutzpräsiden- wenig Vertrauen bestand«, sagt er. Dies Zunächst ging es darum, die gegenseiti- ten Hans-Georg Maaßen. habe sich in den vergangenen Monaten, gen Verletzungen aufzuarbeiten, die sich Auch in der Spitze der Fraktionen gab oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit, beide Parteien während der Sondierungen es erfolgreiche Annäherungsversuche. geändert. »Sollte es zu Neuwahlen kom- zugefügt hatten. Die Vertreter der FDP Die grüne Fraktionschefin Katrin Göring- men, würde ein Jamaikabündnis wahr- beschwerten sich etwa, dass sie von den Eckardt und ihr liberales Pendant Chris - scheinlicher werden.« Grünen als Europafeinde bezeichnet tian Lindner gehen immer wieder mit - Timo Lehmann, Ann-Katrin Müller, wurden, weil sie Kritik am Euro-Rettungs- einander essen, mit FDP-Vize Wolfgang Christoph Schult IMAGO STOCK IMAGO HC PLAMBECK / LAIF Treffpunkt Lebensstern, Grünen-Abgeordneter Notz: »Es gab massive atmosphärische Probleme«

21 Titel BERND VON JUTRCZENKA / DPA JUTRCZENKA BERND VON Parteichefin Merkel: Kampf ums liberale Erbe dimir Putin träumt den Traum eines he- Instabilität der Großen Koalition ist davon sen Lage zu befreien. Merkel wird um ihr gemonialen Russlands, Trump sähe es nur ein Ausdruck. Die Sozialdemokraten Erbe kämpfen. Sie will nicht, dass die Uni- gern, wenn die EU zerbräche und die Uno sind von der Frage zerrissen, ob Regieren on nach rechts rückt. Sie hat aus der CDU gleich mit. Es gibt so viel zu tun, aber überhaupt noch einen Sinn ergibt. Nur mit eine liberale Partei gemacht. Das soll nicht dann schaut sie auf ihr Handy, und es Mühe kann sich die Parteispitze gegen ei- einfach aus der Geschichte getilgt werden. poppt eine SMS von einem renitenten nen Juso-Chef wehren, der raus möchte Am Donnerstag betritt sie um exakt Abgeordneten auf. aus der alten Logik von Machbarkeiten 15.59 Uhr das Forum der Konrad-Ade- Merkels Machterosion ist das Zeichen und Finanzplänen. nauer-Stiftung am Berliner Tiergarten. eines gewaltigen Umbruchs in der Politik, Merkel erschien lange wie der stabile Kaum hat sie einen Fuß in den Raum ge- der nicht einmal vor einer konservativen Gegenentwurf zur irrlichternden SPD. setzt, da beginnen die Leute zu klatschen. deutschen Volkspartei haltmacht. Ihre Doch ihre Niederlage in der Fraktion Freundlich, nicht frenetisch, aber warm und Kanzlerschaft ist auch deshalb so unter zeigt, wie sehr auch in der Union die ehrlich. Der Applaus hält an, als sie durch Druck, weil sich überall in der westlichen die Reihen geht, und er hört nicht sofort Welt eine Sehnsucht nach Veränderung auf, als sie in der ersten Reihe Platz nimmt. breitmacht, die weit über das übliche Maß Merkels Machterosion Dann geht sie ans Pult und hält eine hinausgeht. Die Disruption, die bisher ist Zeichen eines 20-minütige Rede, die sie so souverän und Brüche in Technologie und Wirtschaft be- leicht vorträgt, als wäre in den vergange- schrieb, ist inzwischen in der Politik ange- gewaltigen Umbruchs nen Tagen nichts geschehen. kommen. in der Politik. »Deutschland. Das nächste Kapitel« In Frankreich, den USA und Großbri- steht auf dem Screen an der Wand. Davor tannien lässt sich beobachten, welche steht – immer noch – Angela Merkel. dramatischen und zuweilen irrationalen Bindekraft schwindet und wie stark das Folgen die Sehnsucht haben kann, mit her- Bedürfnis danach ist, Experimente zu wa- Melanie Amann, Annette Bruhns, Lukas Eberle, Florian Gathmann, kömmlichen Regeln und Ritualen zu bre- gen. Merkel hat wie SPD-Chefin Andrea Christiane Hoffmann, Veit Medick, chen. Macron hat den alten Eliten den Nahles darunter zu leiden, dass die alten Cornelia Schmergal, Peter Müller, Spiegel vorgehalten und gewonnen. Drohungen nicht mehr wirken. Die Kanz- Ralf Neukirch, René Pfister Trump ist ein Präsident, wie es ihn noch lerin hatte ja klargemacht, dass die Ab- nie gab. Beide profitierten davon, dass die wahl Kauders ein Anschlag auf ihre Video alte Garde häufig so falsch lag, dass weite Autorität wäre. Den Abgeordneten war Was kommt nach Teile der Gesellschaft ihr nicht mehr es egal. Merkel? glaubten. Aber man darf Merkel auch nicht zu spiegel.de/sp402018merkel Merkel und die gesamte deutsche Poli- früh abschreiben, sie hat es schon häufig oder in der App DER SPIEGEL tik drohen in diesen Sog zu geraten, die geschafft, sich aus einer schier ausweglo-

22 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 OLYMP.COM/SIGNATURE

GERARD BUTLER’S CHOICE PHOTO: GREG WILLIAMS PHOTO: GREG Deutschland Guerillas im Nebel

Karrieren Der Fall Maaßen hat offengelegt, wie fremd sich Andrea Nahles und die SPD geworden sind. Ist sie noch die richtige Parteichefin? Von Christoph Hickmann

dokumentieren. Auch die Chefin. Aber Nahles findet sich nicht. »Ich muss hier immer so rumsuchen«, sagt sie. »Ich hab das Gefühl, das ver- ändert sich hier immer.« Dann findet sie ihren Namen. Sie unter- schreibt. Die Sitzung kann beginnen. Rumsuchen, das trifft die Sache schon ganz gut. Man ist, als es in der vergange- nen Woche um Maaßen ging, genau diesen Eindruck nicht losgeworden: dass ausge- rechnet Andrea Nahles, der ein sagen - haftes Gespür für ihre Partei und deren Gemütslage nachgesagt wird, ziemlich rumsuchen musste. Dass ihr, als sie der Beförderung Maaßens zum Staatssekretär zustimmte, nicht ganz klar war, welche Wut, welches Unverständnis es in der Be- völkerung im Allgemeinen und der SPD im Besonderen auslösen würde, dass der Verfassungsschutzpräsident nun auch noch belohnt werden sollte. Nahles suchte rum, fand aber die falsche Lösung. Sie hat dann, den Abgrund vor Augen, den Fehler zugegeben und korrigiert, wes- halb die Sondersitzung der Fraktion am Montagnachmittag für sie ziemlich glimpf- lich abläuft. Trotzdem muss man nach der vergangenen Woche die Frage stellen, ob Andrea Nahles, 48, eigentlich die richtige Vorsitzende für diese Partei ist. Auch wenn sie noch kein halbes Jahr im Amt ist. Das hat nur zum kleineren Teil mit der Person Nahles zu tun. Ja, sie hat einen Feh- ler gemacht, einen dicken, aber ihr Vor- vorgänger Sigmar Gabriel hat sich im Quartalstakt haarsträubende Dinge geleis- tet und blieb sieben Jahre lang Parteichef. Wäre es nur das, dann könnte Nahles das Ganze mit viel Mühe und ein paar Erfol- gen womöglich irgendwann loswerden. Aber es ist eben nicht nur das. Dass die Frage nach Nahles’ Eignung bereits jetzt

DANIEL HOFER / DER SPIEGEL DANIEL im Raum steht, liegt weniger an Nahles als Sozialdemokratin Nahles: »Noch einige Wackersteine vor uns« an der SPD und ihrer inneren Verfasstheit. Man kennt das ja eigentlich seit Lan- gem, den Frust, die tiefe Verunsicherung, o genau muss sie denn hier noch Beförderung von Hans-Georg Maaßen die miesen Umfragewerte, die Orientie- W mal unterschreiben? Andrea Nah- und die Rücknahme dieser Beförderung rungslosigkeit der Sozialdemokraten. Die les stockt kurz, dabei hat sie jetzt zu sprechen. Es gibt da etwas Redebedarf. Wucht des Unmuts allerdings, der Nahles eigentlich Wichtigeres zu tun, aber ohne Nahles ist pünktlich aus dem Aufzug in der vergangenen Woche traf, hat den Unterschrift geht es nicht, Ordnung muss getreten, rechts abgebogen und wortlos Blick darauf freigelegt, dass die Sache sein. Auch in diesen Zeiten. an der Hauptstadtpresse vorbeigegangen. noch tiefer geht. Genossen, die vor nicht Montagnachmittag, Reichstagsgebäude, Jetzt steht sie vor dem Sitzungssaal, vor einmal einem Jahr noch für die Große Koa- die SPD-Fraktion kommt zur Sondersit- der Namensliste, in die sich die Abgeord- lition geworben hatten, waren nun bereit, zung zusammen, um noch mal über die neten eintragen, um ihre Anwesenheit zu das Bündnis platzen zu lassen, gern auch

24 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 sofort. Nahles und ihre Leute wiederum Nahles wurde später immer mal wieder bekommt die Führung am Ende doch blickten auf den kollektiven Wutausbruch unterstellt, sie habe das vorhergesehen ihren Willen. Zweitens: Regieren ist der wie auf eine etwas abgefahrene Kunstper- und Schulz ins offene Messer laufen lassen. Mehrheit der Funktionäre grundsätzlich formance: Jaja, ein Fehler, aber deshalb Aber das stimmt nicht. In dem kalten Haus eher suspekt, während die Mehrheit der gleich die Koalition platzen lassen? in der Eifel saß an diesem Morgen eine Mitglieder grundsätzlich fürs Regieren ist. Es hat sich etwas verschoben zwischen Frau, die sich entschlossen gab, für Schulz Und heute? Heute muss die Parteispitze Andrea Nahles und der Partei, für die sie zu kämpfen. »Ich habe in der SPD schon die Entscheidungen zu Schulz und Maa- seit drei Jahrzehnten lebt. Passt das über- ganz andere Dinge durchgestanden«, sagte ßen nach heftigsten Protesten zurückneh- haupt noch zusammen? sie. Unmittelbar danach aber stellte sich men. Und niemand traut sich mehr vor- An einem kalten Morgen im Februar Schulz’ Landesverband Nordrhein-West- herzusagen, wie ein neuer Mitgliederent- saß Andrea Nahles in einer dicken Win- falen gegen ihn, am Nachmittag erklärte scheid zur Großen Koalition ausginge. terjacke in ihrem Haus in der Eifel. Die Andrea Nahles ist durchdrungen von Heizung war ausgefallen, Nahles’ Laune der Gewissheit, dass es die Sozialdemo- eher mäßig, was auch daran lag, dass im Ihr Gegenspieler kratie seit gut 150 Jahren gibt. Der Gedan- Hintergrund ihre Tochter durchs Haus tob- profitiert von Frust ke, dass es womöglich nicht noch mal te und sich zwischenzeitlich an einem 150 Jahre weitergeht, fällt da eher schwer. Schlagzeug betätigte. Währenddessen ver- und Angst Die Partei dagegen ist durchdrungen von suchte Nahles, per Skype nach Berlin ver- unter den Genossen. der Angst, dass es demnächst, wie an vie- bunden, ein Interview zu geben. len Orten in Europa, vorbei sein könnte Zwei Tage vorher war bekannt gewor- mit der Sozialdemokratie alter Prägung. den, dass trotz seiner Be- er seinen Rückzug. Das Interview mit Nah- Und dann ist da noch Kevin Kühnert. teuerung, niemals in ein Kabinett von An- les ist nie erschienen. Die sozialdemokra- Als Nahles Juso-Vorsitzende war, konn- gela Merkel einzutreten, nun doch Außen- tische Realität war darüber hinweggerollt. te sie Gerhard Schröder als »Abrissbirne minister werden wollte. Was folgte, war Andrea Nahles hat in den drei Jahrzehn- sozialdemokratischer Programmatik« titu- ein ähnlicher Aufstand wie ein gutes hal- ten ihres Parteilebens ein paar Grund - lieren, ohne dass Schröder groß gezuckt bes Jahr später wegen der Maaßen-Beför- mechanismen verinnerlicht, die schon un- hätte. Als Parteichefin muss sie sich nun derung: Mitglieder, Ortsvereine und ganze ter Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel auf Augenhöhe mit einem Juso-Chef aus- Landesverbände protestierten, wüteten, galten. Erstens: Die SPD ist zwar eine einandersetzen, dessen Zitate in der SPD weil sie fürchteten, Schulz’ Kehrtwende dauer renitente Partei, aber nach ein paar gleichsam börsenrelevant sind. könne die SPD den letzten Rest Glaubwür- Drohungen, Konzessionen und Ergänzun- Kühnert wird von der Angst und dem digkeit kosten. Offener Aufruhr. gen des dritten Unterpunkts im Leitantrag Frust einer Partei getragen, die sich seit

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Schröders Agenda-Reformen immer wie- Kurz vor diesem Auftritt hat sie eine Ein Treffen im Bundestag am Morgen der den Argumenten des Sachzwangs ge- Rede beim Bundesverband der Deutschen nach der Kauder-Abwahl, eigentlich sollte beugt hat. Kühnerts Gegenmittel lauten Industrie gehalten, es ging um die Euro- es dieses Treffen gar nicht geben. Keine Linkskurs und Opposition. päische Union, ein Fachkräfteeinwande- Zeit, der Terminplan komplett dicht, aber Nahles muss gegen den Frust und die rungsgesetz und die industrielle Basis. dann klappt es doch noch, spontan, kurz Angst anarbeiten, von denen Kühnert pro- Doch am Abend ist es nicht Nahles, die ein paar Fragen – Bedingung: Es wird fitiert. Ihr Gegenmittel lautet Sacharbeit. für die SPD prominent in den Meldungen nicht aus dem Gespräch zitiert. Die beiden stehen im Grunde genom- der Nachrichtenagenturen auftaucht, son- Zusammenfassen lässt es sich so, dass men schon nicht mehr für eine Partei, son- dern Bundestagsvize . man auf eine fröhliche und dennoch illu - dern für zwei Parteientwürfe, die sich aus- Der hatte nach Kauders Abwahl getönt, sionslose Frau trifft, die sich des Ernstes schließen. Wenn Kühnert, Mitglied der dies sei ein »Aufstand gegen Merkel«. der Lage ziemlich klar bewusst ist, aber Bezirksverordnetenversammlung Tempel- Andrea Nahles erinnert in diesen Zei- entschlossen ist weiterzumachen. Drei Sät- hof-Schöneberg, beim nächsten Parteitag ten an eine Generalin, die exzellent für ze gibt sie am Ende dann doch zum Zitie- gegen die vormalige Generalsekretärin die Landesverteidigung ausgebildet wur- ren frei, sie lauten: »Wir befinden uns mit- und Arbeitsministerin Nahles anträte – de, sich aber plötzlich in einem Guerilla- ten im Change Management. Wir haben wie ginge das wohl aus? krieg wiederfindet. Das klassische partei- da noch einige Wackersteine vor uns.« Dienstagnachmittag, Reichstag, zweite politische Instrumentarium beherrscht sie Und: »Wir müssen uns wieder auf die The- Fraktionssitzung in zwei Tagen, diesmal selbstverständlich, die Parteitagsrede, das men konzentrieren, die Arbeitnehmerin- stellt Nahles sich vorher vor die Kameras, Machtspiel in den Gremien. Aber au - nen und Arbeitnehmer betreffen.« den Rücken gerade, die Hände vor dem ßerhalb der hergebrachten Formate? Im Wenn es einen Begriff gibt, den Kühnert Bauch verschränkt. Es ist der Tag, an dem täglichen Twitter-Gesumse etwa findet nie benutzen würde, ist es Change Manage- die Unionsfraktion ihren Vorsitzenden Vol- Nahles bislang nicht statt. In ihrem Fest- ment. Manchmal wirkt es, als wäre Andrea ker Kauder stürzen wird, aber das weiß halten an den klassischen Kommunika - Nahles die Vorsitzende einer Partei, die es Nahles in diesem Augenblick noch nicht. tionswegen ähnelt sie der Kanzlerin. eigentlich schon gar nicht mehr gibt. Stattdessen redet sie über die Tagesord- Andrea Nahles ist 16 Jahre jünger als nung des Bundestags, über Brückenteil- Angela Merkel, aber sie macht ähnlich Video zeit, die Wiederherstellung der Parität in lange Politik. Geht es für sie noch weiter? »Keiner reißt sich der Krankenversicherung, das geplante Jetzt, da es selbst in der Union bebt, da um den Job« neue Pflegegesetz. Die Sache mit Maaßen auch Merkel wackelt, was den Gegnern spiegel.de/sp402018nahles sei erledigt, sagt sie. Nun müsse man den der Großen Koalition in der SPD noch ein- oder in der App DER SPIEGEL »Problemstau in Deutschland abarbeiten«. mal Auftrieb verschaffen dürfte?

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Profi tieren Sie von ganzheitlichen und individuellen E-Commerce-Lösungen. Mit DHL wird Onlinehandel ganz einfach. dhl.de/ecommerce seinen Platz stets hinter den Kulissen. Man werde natürlich eine Verwendung für Wohl auch deshalb machte die Über- Herrn Adler finden, versichert Merkel. Die belichtung seiner Person dem 55-Jährigen Wer sich nicht für Politik interessiert zu schaffen, für ihn waren es Tage wie im und jetzt erst einschaltet, muss glauben, Film. Der Dienstag vergangener Woche, Deutschland sei kurz davor, den weltbes- Schachfigur Andrea Nahles, Horst Seehofer und An- ten Baufachmann und klügsten Regie- gela Merkel treffen sich im Kanzleramt. rungsstrategen zu verlieren. Adler ist an- SPD Gunther Adler, ein stiller Maaßen, der unhaltbare Verfassungsschüt- erkannter Ministerialer. Aber diese Dyna- Staatssekretär im Innen- zer, soll Staatssekretär im Innenministe- mik ist auch ihm ein bisschen zu viel. ministerium, gilt seit der Maaßen- rium werden. Der Adler müsse gehen, sagt Es gibt Beamte, die den Staatssekretär Seehofer. Na, wenn’s denn sein muss, sagt um die großen Schlagzeilen beneiden, die Affäre als Star im politischen Nahles. Adler, die Schachfigur. Der Staats- sein Fall produzierte, aber er zeigt eben Berlin. Wie fühlt sich das an? sekretär erfährt am Abend per Telefon von auch, wie schnell in der Politik heutzutage seiner Absetzung. Geahnt hat er nichts. Stimmungen entstehen, die sich selbst von Das Problem: Er steckt mitten in den den Mächtigsten nicht mehr steuern lassen. s rufen jetzt viele an, die Freunde, Planungen für den Wohngipfel, der ein Am Donnerstag ist es, als lebte Adler die Feinde, ja sogar die wichtigen großer Aufschlag werden soll für diese Kri- in zwei Welten. In den Medien wird er als E Talkshows melden sich. Er, der klei- senkoalition. Ausgerechnet Adler, dessen Märtyrer gefeiert, an seinem Schreibtisch ne Baustaatssekretär, soll allen seine große Ablösung gerade beschlossen wurde, ist versucht er, den Wohngipfel zu retten. Geschichte erzählen, jenes schöne Stück der zentrale Mann. Er kennt die Details, Mehr Bauland, mehr Geld, Steuer- vom plötzlichen Ruhm. Gunther erleichterungen und neue Grenzen Adler, Superstar. Der heim liche Ge- für den Mietspiegel – es gibt viel zu winner der Affäre um Verfassungs- koordinieren, mit Ministerien, den schutzpräsident Hans-Georg Maa- Ländern, den Parteien. Andere hät- ßen. Aber Adler sagt alles ab. Er ten sich krankschreiben lassen, nicht will keine Show, er will doch nur ar- so Adler. Er kennt die Situation der beiten. unsicheren Bleibeperspektive. Zwei- Es hat sich ein bisschen was ver- mal schon sah er sein Ende gekom- ändert im Leben von Gunther Adler, men. Im September 2017, als die SPD jenem Mann, der sich jahrelang un- erst in Richtung Opposition blinkte. erkannt durch Landesbauordnungen Und im März 2018, als sein Themen- wühlte und dann, innerhalb weniger feld an die CSU ging. Adler überlebte Stunden, zu einer Symbolfigur im alles. Das härtet ab. Berliner Koalitionsdrama aufstieg. Freitagmittag vergangener Woche, Erst gefeuert, dann gefeiert und die Koalition trifft sich im Kanzleramt schließlich doch gehalten – so in zum Wohngipfel. Adler sitzt neben etwa lässt sich das abenteuerliche Seehofer und der Kanzlerin, wobei Hin und Her beschreiben, in das man auch sagen könnte, Seehofer ihn die drei Parteivorsitzenden von und die Kanzlerin sitzen neben Adler. CDU, CSU und SPD in der Causa Eigentlich soll es um Bauen und Mie- Maaßen geschickt haben. ten gehen, doch dann, so erinnern sich Selten tritt Machtpolitik so offen Teilnehmer, fragen ein paar Leute aus zutage wie im Fall Adlers. Am Ende der Branche Merkel und Seehofer em- dieser Affäre, so scheint es, haben pört, wie es dazu kommen konnte, die Deutschen zwar keine handlungs- dass Adler nun gehen müsse. Nun ja, fähige Regierung mehr, aber dafür sagt Seehofer, jetzt solle man mal ab- einen neuen Helden mit der Besol- warten. Nun ja, sagt Merkel, Adler

dungsgruppe B 11, der seit Jahren BILD / ULLSTEIN / WELT MARLENE GAWRISCH sei ja noch im Amt. Zwei Tage später exakt das tut, wozu die Regierung Bauexperte Adler: Wie im Film revidieren die Parteivorsitzenden ihre sich nun endlich aufraffen will: Sach- Entscheidung. Maaßen wird Berater, arbeit. Welch Ironie. Adler darf bleiben. Berlin-Kreuzberg, ein Restaurant un- er feilt an den Zielen. Soll er jetzt seinen »Das waren schon interessante Tage«, weit des Potsdamer Platzes. Adler bestellt Schreibtisch räumen? Oder den Gipfel wei- sagt Adler. »Ich möchte jetzt gern einfach Schnitzel und Apfelschorle. Grauer Anzug, ter vorbereiten? Natürlich entscheidet er weiterarbeiten, weil die Große Koalition randlose Brille, Seitenscheitel. Ein seriöses sich für Letzteres. Er ist schließlich Staats- noch so viel zu tun hat. Sie ist besser als Auftreten. Malte man einen Staatssekretär, sekretär. Jammern kommt nicht infrage. ihr Ruf.« er sähe aus wie Adler. Er hat wenig Zeit Als Seehofer am Mittwoch Adlers De- Adler will sich nun schleunigst wieder und will seine eigene Causa gar nicht groß mission öffentlich macht, folgt ein Auf- um seine Themen kümmern. Die Woh- reflektieren, weil er findet, dass das weder schrei. Sozialdemokraten, die den gebür- nungsnot sieht er als die soziale Frage un- zu ihm noch zu seinem Job passt. Natür- tigen Leipziger noch kürzlich als Schoß- serer Zeit. Da will er ran. lich kann das Atti tüde sein, Demut kommt hündchen der Baulobby kritisiert haben, Mittwochvormittag, Adler hält eine immer gut an. Aber die, die ihn gut ken- klagen nun über seine Kündigung. »Der Rede im »Effizienzhaus« in Berlin. Als nen, berichten, er sei die Zurückhaltung Bau hat seine Heimat verloren«, protestiert sein Auftritt beendet ist, bedankt sich der in Person. Wo immer er auch arbeitete, ob die Architektenkammer. Auf Twitter gibt Moderator bei ihm und meint, er sei damit im SPD-Vorstandsbüro, dem Präsidialamt, es eine Solidaritätswelle, am Abend muss nun »entlassen«. Adler zuckt kurz. Nicht dem Verkehrsministerium oder bei der die Kanzlerin am Rande des EU-Flücht- schon wieder dieses Wort. Veit Medick Landesregierung in Düsseldorf – Adler sah lingsgipfels in Salzburg Stellung nehmen.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 27 Deutschland »Es geht um Stabilität« Europa CSU-Vize Manfred Weber, 46, will Jean-Claude Juncker als Kommissionschef beerben. Er fordert mehr Rechte für das EU-Parlament und einen Kurswechsel seiner Partei.

SPIEGEL: Herr Weber, Sie sind Spitzen- tung Europa, aber wir müssen wissen, wer Block EU-feindlicher Parteien auf dem kandidat der Union für die Europawahl. hierherkommt. Zugleich benötigen wir ein Kontinent. Hat er recht? Die Abwahl Volker Kauders aber hat die Minimum an Solidarität bei der Aufnahme Weber: Die Auseinandersetzung mit dem Kanzlerin geschwächt. Verringert sich nun von wirklich Verfolgten in Europa. In bei- Populismus ist ein wichtiges Thema für der deutsche Einfluss in Brüssel? den Fragen müssen wir bis Jahresende den Wahlkampf, es darf aber nicht das ein- Weber: Deutschlands Stabilität ist wesent- deutlich vorankommen, sonst liefern wir zige sein. Es geht auch um die Frage, in lich für ein starkes Europa. Angela Merkel den Populisten die Munition für ihren welche Richtung Europa geht: zum Bei- hat daran großen Anteil und genießt für Wahlkampf frei Haus. spiel ob wir für Freihandel einstehen oder ihre Arbeit hohe Wertschätzung in der SPIEGEL: Frankreichs Präsident Emma- für wirtschaftliche Abschottung, wie wir EU. Die Koalitionsparteien würden des- nuel Macron sieht die Europawahl schon für mehr wirtschaftliche Dynamik sorgen halb gut daran tun, die Kanzlerin bei als Schicksalskampf mit dem wachsenden und die Gemeinschaft demokratischer ma- den anstehenden, sehr wich- chen können. Mein Ziel da- tigen Verhandlungen, wie bei ist der Ausbau des Par- zum Beispiel zur Migration lamentarismus. oder zum Brexit, voll zu un- SPIEGEL: Was meinen Sie terstützen. Ansonsten wür- damit? den deutsche Interessen ge- Weber: Das heutige Europa schwächt. krankt daran, dass es von SPIEGEL: Zuletzt haben aber den Bürgern als ein Europa sogar die Schwesterparteien der Eliten und der Bürokra- CDU und CSU eher gegen- ten wahrgenommen wird, einander als miteinander ge- als Blackbox Brüssel sozusa- arbeitet, zum Beispiel als es gen. Viele Menschen fühlen um die Zurückweisung von sich einem undurchschau - Flüchtlingen an der Grenze baren Apparat unterworfen, ging. Wem standen Sie in die- der in hoher Detaildichte ser Frage näher: der Kanzle- Gesetze auswirft, von dem rin oder Ihrem Parteichef aber kaum jemand weiß, Horst Seehofer? wie er funktioniert. Weber: In außergewöhnli- SPIEGEL: Politologen be- chen Situationen muss ein zeichnen das als »demokra- Staat als Ultima Ratio seine tisches Defizit«. Was wollen Grenze schließen können, Sie dagegen tun? da stimme ich mit meinem Weber: Das Europäische Parteichef völlig überein. Parlament ist die legitime Viel besser als ein nationales Vertretung der europäi- Vorgehen ist aber eine euro- schen Bevölkerung. Deshalb päische Lösung, wie sie müssen wir es stärken und beim EU-Gipfel im Juni seine Befugnisse ausweiten. auch erzielt wurde. Das war So sollte das Parlament das ein Riesenerfolg der Kanz- Recht bekommen, auf eige- lerin und der CSU, und ich ne Initiative Gesetze einzu- hätte es begrüßt, wenn die bringen. gesamte Union dieses posi- SPIEGEL: Bislang verbieten tive Ergebnis deutlicher her- das aber die EU-Verträge. vorgehoben hätte. Weber: Deshalb möchte ich SPIEGEL: Von einem Erfolg Wege finden, wie die Abge- kann keine Rede sein. Der ordneten die künftige EU- vereinbarte Schutz der Au- Kommission zwingen kön- ßengrenze steht nur auf dem nen, ihre Anträge aufzugrei- Papier, und von einer Vertei- fen. Außerdem sollte das lung der Flüchtlinge nach Parlament Untersuchungs- Quoten, wie sie Merkel seit ausschüsse mit umfassen - Jahren fordert, wollen viele deren Rechten als bisher EU-Staaten nichts wissen. einsetzen dürfen, um die Weber: Wir brauchen aber DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL EU-Kommission, aber auch beides. Ich will keine Fes- Spitzenkandidat Weber: »Herr Zuckerberg sollte sich nicht täuschen« nationale Regierungen in

28 europäischen Rechtsfragen besser kontrol- SPIEGEL: Der aktuelle Kommissionschef SPIEGEL: Beim vergangenen Europawahl- lieren zu können. Dann würden die Bürger Jean-Claude Juncker, der bei der vorigen kampf schickte die CSU-Spitze sogar den das Europäische Parlament auch stärker Wahl ebenfalls als Spitzenkandidat ange- bekennenden Eurokritiker Peter Gauwei- als ihre Vertretung anerkennen. treten ist, sieht sich nicht als Behördenchef, ler in die Bierzelte mit der Parole, Grie- SPIEGEL: Das ist Wunschdenken. Die sondern als eine Art Premierminister der chenland solle den Euro verlassen. Ist die meisten Europäer wissen nicht mal, wie EU. Verstehen Sie das Amt genauso poli- Zeit solcher Forderungen bei der CSU nun ihr Straßburger Abgeordneter heißt. tisch wie er? endgültig Vergangenheit? Weber: Und genau darin liegt das Pro- Weber: Absolut. Es muss klar sein, dass Weber: Ein Wahlkampf, bei dem man ver- blem, denn der Abgeordnete in Straßburg an der Spitze der Kommission jemand schiedene Signale aussendet, kann nicht hat inzwischen mindestens genauso viel steht, der umsetzt, was er den Menschen funktionieren. Das haben wir in der CSU zu sagen wie sein Kollege in Berlin. Wenn im Wahlkampf versprochen hat. Die Kom- bei der letzten Europawahl schmerzhaft sich beispielsweise Facebook-Chef Mark mission legt jeden Tag Gesetze vor, die erleben müssen. Durch meine Kandidatur Zuckerberg zu Datenschutz oder Redefrei- jeden in unserer Gesellschaft betreffen: ist klar, dass sich die CSU für ein positives heit im Netz äußern muss, geht er nicht in Euro, Migration, Datenschutz, Copyright, Europabild einsetzt, so wie das auch Hel- den Deutschen Bundestag, sondern ins Verbraucherrechte. All das ist von höchs- mut Kohl und Theo Waigel getan haben, Europäische Parlament. Viele Dinge wer- ter gesellschaftlicher Relevanz. Wollen Sie als sie in den Neunzigerjahren für die Ein- den inzwischen hier entschieden, deshalb die Entscheidung darüber wirklich Büro- führung des Euro warben. Das war nicht müssen sie auch hier offengelegt und dis- kraten überlassen? populär, aber weitsichtig. Genauso war es kutiert werden. SPIEGEL: Nein. Nur hatte man bisher im- richtig, dass wir Griechenland, allen SPIEGEL: Bei seinem Auftritt vor dem EU- mer den Eindruck, dass ausgerechnet Ihre Schwierigkeiten zum Trotz, in der Wäh- Parlament erweckte Zuckerberg nicht ge- Partei, die CSU, diesen Weg auf keinen rungsunion gehalten haben. rade den Eindruck, als würde er von den Fall beschreiten wollte, im Gegenteil: SPIEGEL: Worin sehen Sie das Europrojekt Volksvertretern viel halten. Weniger Macht für Brüssel, das war der Ihrer Generation? Weber: Herr Zuckerberg sollte sich da Sound, den man aus München kannte. Weber: Europa darf nicht nur ein wirt- nicht täuschen. Das Europäische Parla- Weber: Die CSU ist eine proeuropäische schaftlicher Gigant sein, es muss auch ment wird genau hinschauen, wenn es Kraft. Wir waren immer im Herzen politisch eine stärkere Rolle spielen. Wenn um die Internetriesen geht. Ich bin zum Europas, wir haben immer alle wesent - wir ein neues Syrien verhindern wollen, Beispiel dafür, dass Konzerne in bestimm- lichen europapolitischen Entscheidungen muss die EU in der Außenpolitik schlag- ten Fällen ihren Algorithmus offenlegen mitgetragen, von der Einführung des Euro kräftiger werden. Und das heißt: Die EU müssen, mit dem sie ihre Werbeaktivitä- bis zu den Rettungspaketen. Jedem in mei- sollte in diesen Fragen, in denen bislang ten organisieren. Und ich halte es für ge- ner Partei ist klar: Ein Bundesland wie der alle zustimmen mussten, künftig mit qua- boten, die Monopolfrage zu stellen. Die Freistaat Bayern hat nur dann eine gute lifizierter Mehrheit entscheiden. EU-Kommission sollte prüfen, ob bei- Zukunft, wenn es eingebettet ist in einem SPIEGEL: Ex-Außenminister Sigmar Ga- spielsweise Facebook nach der Übernah- stabilen und erfolgreichen Europa. briel bezeichnete diesen Vorschlag kürzlich me von WhatsApp und Instagram eine im SPIEGEL als ferne Zukunftsmusik. marktbeherrschende Stellung besitzt. Im Weber: Dafür habe ich kein Verständnis. Extremfall ist auch eine Entflechtung so »Das Verständnis für Er selbst hat die gebundenen Hände der eines Konzerns denkbar. So etwas durch- die Sorgen der Nachbarn EU erleben müssen. Wir brauchen diese zusetzen ginge heute nur noch gemeinsam Weichenstellung so rasch wie möglich, in der EU. haben wir manchmal sonst werden wir in der Weltpolitik keine SPIEGEL: Damit die Bürger die Europa- vermissen lassen.« Rolle mehr spielen. wahl ernst nehmen, stellen die europäi- SPIEGEL: Ihre Partei, die CSU, marschiert schen Parteifamilien inzwischen Spitzen- auf ein einzigartiges Wahldesaster bei der kandidaten auf, die Präsident der EU- SPIEGEL: In kaum einer anderen Partei Bayernwahl in knapp zwei Wochen zu. Kommission werden wollen. Sie möchten war die Kritik am Euro sowie an der Fi- Stehen Sie als Parteichef bereit, wenn für die konservative Europäische Volks- nanz- und Haushaltspolitik in den Südlän- Horst Seehofer gehen muss? partei antreten, der bisherige EU-Ener- dern des Kontinents so groß wie in der Weber: Markus Söder und Horst Seehofer giekommissar Maroš Šefčovič aus der CSU. Die neue italienische Regierung zum haben meine Unterstützung. Die CSU Slowakei strebt dasselbe Amt für die So- Beispiel hat nach dem Einsturz der Brücke kämpft um jede Stimme in Bayern, wir zialisten an. Aber, bei allem Respekt, in Genua angekündigt, künftig mehr in die wollen überzeugen, und wir haben gute weder Sie noch Šefčovič sind einer brei- Infrastruktur zu investieren, und zwar un- Argumente: Es geht um Stabilität. Wir wol- teren Öffentlichkeit in Europa bekannt. abhängig davon, ob die Schuldenkriterien len keinen Landtag mit sieben Parteien, Wen, bitte schön, sollte ein solches Duell von Maastricht verletzt werden oder nicht. mit all den Querelen, die wir in Berlin Tag begeistern? Haben Sie Verständnis dafür? für Tag erleben. Weber: Sie werden sehen, dass sich das Weber: Wir sind eine Union des Rechts, SPIEGEL: Das war jetzt keine Antwort auf 2019 völlig ändern wird. Bei jeder Bürger- das ist die Grundlage der EU. Andererseits unsere Frage; deshalb versuchen wir es meisterwahl ist es selbstverständlich, dass sollten wir von den Debatten in der Euro- mal so: Kann jemand, der Kommissions - verschiedene Kandidaten gegeneinander krise lernen. Wenn in Italien, Griechen- chef in Brüssel werden will, gleichzeitig antreten. Wollen Sie, dass die wichtigste land oder Spanien eine große Zahl junger Parteichef der CSU sein? Position in Brüssel wie früher von den Re- Menschen ohne Arbeit ist, wenn in diesen Weber: Diese Frage werde ich nicht beant- gierungschefs im Hinterzimmer ausgekun- Ländern eine verlorene Generation zu ent- worten, weil sie auf eine bestimmte Ant- gelt wird? Das kann es nicht sein. Wenn stehen droht, dann darf das den ökono- wort abzielt. Ich bin aber im Grundsatz wir Europa näher zu den Menschen brin- misch starken Partnern in Deutschland, der Meinung, dass Europapolitik eine nor- gen wollen, sind die Spitzenkandidaten Frankreich oder Finnland nicht gleichgül- male politische Ebene ist. Wie die Landes- ein wichtiger Teil dafür. Ich würde sogar tig sein. Dieses Verständnis für die Sorgen politik, wie die Bundespolitik. sagen: Damit verteidigen wir die Demo- und Nöte unserer Nachbarn haben wir Interview: Peter Müller, Michael Sauga kratie in Europa. Deutschen manchmal vermissen lassen.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 29 Deutschland

in Schwabing, München-Milbertshofen, Nürnberg und Würzburg haben grüne »Fahrt ins Paradies« Direktkandidaten Chancen. Gerade feier- te der Landesverband Bayern, dass man Bayern mit 10450 Parteimitgliedern Baden-Würt- Die Grünen sonnen sich in guten Umfragewerten. Doch bis temberg überholt habe. zur Regierungsbeteiligung ist der Weg noch weit – für eine Doch ob das große Selbstbewusstsein Koalition mit der CSU müssten sich beide Partner verbiegen. die Grünen zu einem großen Sieg trägt, ist ungewiss – zu oft blieb das Ergebnis in der Vergangenheit hinter den Umfragen zu- ie Oide Wiesn ist so etwas wie das ner-FDP oder zu den darbenden Sozial- rück. Ihre Stärke speist sich derzeit vor D gute Gewissen des Münchner Ok- demokraten. allem aus der Schwäche der anderen Par- toberfests. Nicht so derb, nicht so Sollten sieben Parteien in den Landtag teien. CSU-Parteichef Horst Seehofer und polternd, eher leise und bunt. kommen, wären die Grünen womöglich Ministerpräsident Markus Söder rufen bei Statt Achterbahnen gibt es historische die Einzigen, mit denen die Christsozialen ihren Gegnern ähnlich viel Verdruss her- Fahrgeschäfte, zur Maß Bier werden Bio- nach dem 14. Oktober ein Zweierbündnis vor wie 2011 der CDU-Ministerpräsident speisen gereicht. Die Kinder dürfen auf ei- bilden können. So wünschen es sich laut Stefan Mappus in Baden-Württemberg. ner Spielwiese toben, während die Eltern Umfragen viele Wähler. Verschieben sich Allerdings fehlt den Grünen in Bayern ein trinken. Man trägt Tracht. Aber das Publi- die Zahlen noch, dann hat die CSU wohl Großthema wie seinerzeit der Tiefbahnhof kum könnte auch gut auf eine Trekking- auch andere Koalitionsoptionen. Stuttgart 21. messe oder ein Stadtteilfest passen. Seit vielen Wochen liegen die Grünen Im Freistaat setzen sie deshalb auf ihre Ein Biotop wie geschaffen für grüne bei den Demoskopen auf dem zweiten Klassiker: Bürgerrechte und Umweltschutz. Spitzenpolitiker. Parteichefin Annalena Platz nach den Christsozialen, das tradi- Die Partei macht gegen das bayerische Baerbock und die bayerische Fraktions- tionelle TV-Duell gegen Ministerpräsident Polizeiaufgabengesetz mobil und kämpft vorsitzende Katharina Schulze sind im Markus Söder bestritt am vergangenen gegen die Zersiedelung der Landschaft. Sie Dirndl erschienen, lachend setzen sie sich Mittwoch ihr Spitzenkandidat Ludwig positioniert sich gegen eine dritte Start- in ein historisches Karussell mit der Auf- Hartmann, 40 Jahre alt, und nicht etwa bahn am Münchner Flughafen und will schrift »Fahrt ins Paradies«. So stellen sie die Sozialdemokratin Natascha Kohnen. 1000 zusätzliche Lehrer einstellen. sich ja auch die verbleibenden Tage bis »Wir sind der Gegenspieler zur CSU«, sagt Ihre Klientel mobilisiert die Partei bis- zur Landtagswahl vor: ein beschwingtes, Hartmann selbstbewusst. lang vor allem dadurch, dass sie sich von gut gelauntes Hinübergleiten ins Lager der Seine Mitstreiterin Katharina Schulze, der CSU absetzt. Am Tag der Deutschen Volksparteien. 33, gibt die Losung aus: »Wir bleiben auf Einheit kommende Woche wird München Die Grünen wollen werden, was die dem Teppich, auch wenn der Teppich seine vierte Großdemonstration binnen SPD schon sehr lange nicht mehr ist: eine fliegt.« Der Satz stammt von Winfried weniger Monate erleben. Motto: »Jetzt Kraft, an der in Bayern keiner mehr vor- Kretschmann, dem grünen Ministerprä- gilt’s. Gemeinsam gegen die Politik der beikommt. Schon gar nicht die CSU. sidenten von Baden-Württemberg. Vom Angst.« Die Grünen reihen sich dort in ein Dafür kopieren sie selbstbewusst bis iro- Nachbarland ist unter den bayerischen breites Bündnis von Gruppen ein, die See- nisch die Rituale der ehemals christsozia- Grünen derzeit viel die Rede, man hofft hofers Partei scharf angehen. »CSUrensöh- len Leitkultur. Nach der Karussellfahrt ver- auf einen Steigflug wie in Baden-Württem- ne« oder »CSU Faschistenpack« war auf teilt Katharina Schulze grün geränderte berg 2011. Plakaten zu lesen, für den Geschmack der Lebkuchenherzen (»I wähl’ di«), als wäre »Wir wollen beide lieber pragmatisch Christsozialen distanzieren sich die Grü- sie schon die neue Landesmutter. Dann die Welt retten«, so zieht Schulze die Pa- nen zu wenig von solchen Parolen. zieht der Grünen-Tross ins Festzelt »Tra- rallelen zu Kretschmann. In beiden Bun- Anders als in Baden-Württemberg oder dition« ein, die Blaskapelle ruft kurz da- desländern sei man kommunal verankert: Hessen mussten sich die Grünen in Bayern rauf ein »Prosit« aus. »Es läuft sehr gut«, In Bayern stellen die Grünen immerhin noch nicht mit den Fallstricken des Asyl- sagt Baerbock zwischen zwei Schluck Bier. zwei Landräte, dazu einige Bürgermeister. rechts befassen. Alles, was nach Konflikt Ihre Partei genießt in Bayern gerade viel Laut Prognose werden künftig auch einige aussieht, überlassen sie lieber der CSU. Zuspruch, auf dem Volksfest wie in den Direktmandate dazukommen, Hartmann »Das individuelle Asylrecht wird nicht an- Meinungsumfragen zwei Wochen vor der etwa ist Favorit in München-Mitte, auch getastet«, sagt Spitzenkandidatin Schulze. Landtagswahl. Die taxieren die Grünen Sie möchte vor allem Fluchtursachen be- auf rund 17 Prozent. Wenn es weiter so kämpfen und so verhindern, dass sich gut läuft, könnten sie demnächst neben 35 Sonntagsfrage Bayern Menschen auf den Weg machen. Ein Ein- der CSU im Kabinett landen, ausgerechnet »Welche Partei würden Sie wählen, wanderungsgesetz, keine Waffenexporte, im schwarzen Süden. Es wäre aktuell ihre wenn am nächsten Sonntag mehr Handelschancen für die Dritte Welt, zehnte Regierungsbeteiligung in einem Landtagswahl wäre?« das sind die grünen Rezepte. Bundesland. Und dass sie gern wollen, das Angaben in Prozent, Fragt sich nur, wie beide Parteien nach verbergen die Spitzenpolitiker der Partei Veränderung zur letzten Landtagswahl in Prozentpunkten der Wahl zueinanderfinden wollen. Schul- nicht. Nach 30 Jahren Opposition im 16 ze wirbt zwar für einen »neuen, smarten Landtag möchten die Grünen in Bayern Sicherheitsbegriff«, als Innenpolitikerin 13 12 endlich mitbestimmen. 10 fährt sie gern bei Polizeistreifen mit und Das Dauerhoch hat mit der politischen fordert »starke und durchsetzungsfähige Großwetterlage zu tun: Die CSU hat durch 5 4 Institutionen«. ihre scharfe Asyl-Rhetorik viele bürger- –12,7 +7,4 –7,6 * +1,0 +1,7 +1,9 Dennoch liegen die potenziellen Koali- liche Wähler in der Mitte vergrätzt, die tionspartner so weit auseinander wie in CSU Grüne SPD AfD Freie FDP Linke Bindungskraft der Volksparteien schwin- Wähler keinem anderen Bundesland. Parteichefin det. Für viele Enttäuschte scheint der Weg Baerbock sieht »wenig Verbindungen« zu GMS im Auftrag von Sat.1 Bayern vom 20. bis 26. September, zu den Grünen kürzer zu sein als zur Lind- 1004 Befragte *AfD tritt erstmals zur Wahl in Bayern an den Christsozialen: »Man kommt aus un-

30 Parteifreunde Schulze, , Baerbock, Hartmann auf dem Oktoberfest: »Wir sind der Gegenspieler zur CSU« terschiedlichen politischen Sozialisatio- Wähler. Die Kämpfe zwischen Fundis und nehmen politische Farbenspiele ein. »Das nen.« Bei den Jamaikaverhandlungen Realos seien passé, postuliert Schulze: Koalitionsthema treibt die Basis um«, er- habe man sich angenähert, jedoch: »Es »Wir lassen uns nicht in eine Flügeldebatte zählt Göring-Eckardt, die bislang rund gibt für uns rote Linien.« ziehen.« Stattdessen machen ihre Helfer 20 Auftritte absolviert hat. Noch härterer Widerstand kommt aus lieber Haustürwahlkampf nach US-ameri- Die meisten befürworten eine Koope- der CSU. Fraktionschef Thomas Kreuzer kanischem Vorbild. Die Spitzenkandidatin ration, in Rosenheim dauert es über eine hat Schwarz-Grün ausdrücklich ausge- absolvierte einst ein Praktikum bei der Stunde, bis sich ein Skeptiker zu Wort mel- schlossen. In seiner Fraktion sind die Be- Demokratischen Partei im US-Bundes- det. Er sei ein Altlinker, sagt der Mann, er denken groß: Die Grünen seien eine Ver- staat Michigan und schüttelte dabei Barack zitiert den Schriftsteller Hans Magnus En- botspartei, in der Schulpolitik vertrete Obama die Hand. An 5000 Haustüren zensberger, ohne diesem zuzustimmen: man diametrale Ansichten, die CSU stehe habe man schon geklingelt, heißt es, nach »Die Berührungsangst vor der Scheiße ist für das gegliederte Schulsystem, die Grü- internen Analysen konnte die Partei zu- ein Luxus, den sich ein Kanalarbeiter nicht nen stünden für die Gemeinschaftsschule. letzt vor allem auf dem Land zulegen. Der leisten kann.« Das Publikum johlt und Auch Christsoziale verweisen auf Ba- Bundesvorsitzende Robert Habeck füllt feixt, der Spruch passt gut zum Selbstver- den-Württemberg: Dort verlieren Grüne sogar Bierzelte, er wird zwei Wochen am ständnis: Der Kanalarbeiter, das sind die und Union in einigen Umfragen derzeit Stück Wahlkampf in Bayern machen. Grünen in den Windungen des Landtags- parallel, die Linke liegt über der Fünfpro- Doch den Mobilisierungsgrad des gro- wahlkampfs. Die Berührungsangst ist die zenthürde und die AfD bei 18 Prozent. ßen Gegners und potenziellen Partners Regierungsbeteiligung. Die Scheiße, das Eine Erklärung: Schwarz-Grün stärke die erreichen die Grünen nicht. Zur Veranstal- wäre demnach die CSU. Ränder und schwäche die Mitte. tung »Frag’ Katrin« mit der Fraktionsvor- »Da fehlt mir die politische Fantasie«, Folgerichtig setzt Ministerpräsident Sö- sitzenden Katrin Göring-Eckardt sind sagt der Mann. »Vielleicht kannst du der im Schlussspurt auf die Bindungskraft rund 50 Gäste nach Rosenheim gekom- mir ein bisschen Mut machen.« Göring- der CSU und auf die Kampagnenfähigkeit men, in einen mit Kronleuchter ge- Eckardt bleibt ernst: »Man muss reden ihrer 140000 Mitglieder. Seine Partei stehe schmückten Saal einer Brauereigaststätte und schauen, was man hinbekommen für »Stabilität«, es brauche »keine Spiele- in der Innenstadt. Der Direktkandidat kann«, sagt die Politikerin. Ein historischer reien« und erst recht »keine Berliner Ver- Martin Knobel präsentiert sich, ein 30-jäh- Erfolg sei greifbar: »Wir müssen so stark hältnisse«, nur die CSU als »politische Kraft riger aktiver Trachtler. »Ich will dem aus- werden, dass sie ohne uns nicht können.« der Mitte«, die Bayern zusammenhalte. Es grenzenden Heimatbegriff der CSU etwas Jan Friedmann ist eine Strategie, die den Grünen noch sehr entgegensetzen«, sagt Knobel. Die Grü- wehtun kann, das geben auch deren Wahl- nen seien eine Partei zum Mitmachen. ‣ Lesen Sie auch auf Seite 75: Helmut strategen zu. Bislang verfing sie nicht. Dann geht es um die Klassiker, Solar- Mark wort – ein Porträt des FDP-Poli ti kers, Einstweilen genießen die Grünen die energie, den Hambacher Forst oder den Landtagskandidaten und »Focus«-Gründers weiß-blauen Wohlfühlwochen mit dem ÖPNV-Ausbau. Doch den größten Raum

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 31 Deutschland Hilfe für den Henker Zeitgeschichte Wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und weitere bundesdeutsche Spitzenpolitiker sich für NS-Täter verwendeten, die nach Kriegsende im Ausland in Haft saßen. Von Felix Bohr

illy Brandt ist bester Stim- mung, als er am 23. November W 1970 in Rom eintrifft. Die ita- lienische Regierung begrüßt ihn herzlich und mit militärischen Ehren. Der Kanzler ist beliebt hier, als ehemaliger Widerstandskämpfer steht er für ein mo- dernes Deutschland, frei vom Muff der NS- Vergangenheit. Erst wenige Monate zuvor hat Brandt in einem Vertrag mit der Sowjetunion die Oder-Neiße-Linie als deutsche Grenze zu Polen für unverletzlich erklärt. Im Kalten Krieg gilt er als Visionär des Friedens. Sein italienischer Amtskollege lobt ihn in einem Vieraugengespräch für die neue Ostpolitik, die Aussöhnung mit Polen, und versichert ihn seiner Unterstützung. Später setzen die Delegationen die Ge- spräche fort. Es geht um die westeuro- päische Zusammenarbeit, den Nahostkon- flikt, die Einführung des Farbfernsehens in Italien. Am Ende der Sitzung, gegen 19 Uhr, ergreift Brandt das Wort: Er sei in seinem Land dabei, »die Folgen des Zwei- ten Weltkriegs abzubauen«. In diesem Sinne bitte er die italienische Regierung zu prüfen, ob nicht »eine abschließende Regelung des Falls des letzten deutschen Kriegsverurteilten in Italien, Kappler, mög- lich« sei, aus humanitären Gründen. Kappler, Herbert, geboren 1907, ab 1943 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsfüh- rers SS in Rom: Er befehligte im März 1944 das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen. Die deutschen Besatzer wählten 335 Italiener willkürlich aus und richteten sie in einem stillgelegten Bergwerk durch Genickschuss hin, um einen Anschlag von Partisanen auf ein deutsches Polizeibatail- lon zu rächen. Nach dem Krieg verurteilte ein italienisches Militärgericht Kappler we- gen Mord zu lebenslanger Haft. Ministerpräsident Colombo antwortet diplomatisch-ausweichend auf Brandts Bitte. Er teile die »menschlichen Gründe«, seine Regierung brauche aber Bedenkzeit. Colombos Stellvertreter, der Sozialist Fran- cesco De Martino, macht dem Kanzler weniger Hoffnung: Er verweist auf die ab- lehnende Haltung der italienischen Bevöl- kerung. Das Massaker ist seit 1945 das Sym- bol für den Terror der Deutschen in Italien vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Kappler ist zu diesem Zeitpunkt seit LAIF GBB / CONTRASTO/ ARCHIVIO 25 Jahren in Haft. In anderen westeuro- Häftling Kappler 1945: 335 Italiener starben durch Genickschuss

32 päischen Ländern sitzen weitere NS-Täter noch lange nach Kriegsende ein. Zu den bekanntesten zählen die »Vier von Breda«. Die ehemaligen SS-Schergen Willy Lages, Ferdinand aus der Fünten, Franz Fischer und Joseph Kotalla verbüßen in der nie- derländischen Stadt lebenslange Strafen. Die ersten drei hatten die Deportation Zehntausender niederländischer Juden mitorganisiert, unter ihnen Anne Frank und ihre Familie; Kotalla war stellvertre- tender Lagerkommandeur des KZ Amers- foort gewesen und hatte Häftlinge sadis- tisch gequält. Sie alle können auf Hilfe aus der Heimat zählen. Während NS-Opfer in der Bundes- republik um Anerkennung und vielfach um Entschädigungen kämpfen müssen, unterstützt die Regierung in Bonn die NS- Täter, die im Ausland inhaftiert sind, auf vielfältige Weise. Sie zahlt übermäßig hohe Anwaltskosten, überweist den Gefan- genen ein Taschengeld. Das Engagement geht jahrzehntelang weit über das hinaus,

was die Grundsätze des gesetzlichen AP »Rechtsschutzes« vorsehen, der bis heute Bundeskanzler Brandt im November 1970 in Rom: »Die Folgen des Weltkriegs abbauen« jedem Bundesbürger in ausländischem Gewahrsam zusteht. Bislang unbekannte Akten aus deut- desbürger blendeten die NS-Kriegsverbre- Deutsche im Westen« oder »deutsche schen, italienischen und niederländischen chen aus: Im kollektiven Gedenken nah- Gefangene im Ausland«. Im Lauf der Archiven belegen nun das Ausmaß dieser men Flucht, Vertreibung und Bomben- Jahre setzte sich im Beamtendeutsch verdeckten Hilfe. Im Namen der Bundes- krieg den größeren Raum ein. der verschleiernde Begriff »Kriegsver - regierung erhielten die Täter sogar »Lie- Die rechtliche Betreuung der inhaftier- urteilte« durch. besgabenpakete«, gefüllt mit Zigaretten, ten Kriegsverbrecher oblag der Zentralen Trotz der Hilfe verlor Kappler auch in Cognac und Konserven. Auch der diplo- Rechtsschutzstelle in Bonn, die später dem der Berufung. Kollektivstrafen nach Parti- matische Druck war hoch. Im Fall Kapp- Auswärtigen Amt angegliedert wurde. Ihr sanenanschlägen schloss das Völkerrecht ler forderten westdeutsche Regierungs- Leiter Hans Gawlik hatte vor 1945 als NS- zwar nicht grundsätzlich aus, die Morde mitglieder bei nahezu jedem bilateralen Staatsanwalt am Landgericht Breslau an in den Ardeatinischen Höhlen waren aber Treffen die Freilassung. Für die Kriegs- zahlreichen Todesurteilen mitgewirkt. Sei- mit besonderer Grausamkeit durchgeführt verbrecher verwendeten sich Spitzen- ne neue Funktion nutzte er, um die Straf- worden. Auch ließ Kappler mehr Men- politiker wie Konrad Adenauer, Helmut verfolgung ehemaliger NS-Handlanger zu schen erschießen als vorgesehen. Ab No- Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Ri- vereiteln: Einmal warnte er etwa 800 vember 1951 war er der einzige deutsche chard von Weizsäcker und eben auch Deutsche und Österreicher vor Reisen Kriegsverbrecher, der eine Haftstrafe in Ita- Willy Brandt. Die Hilfe endete erst im nach Frankreich. Als Herbert Kappler in lien verbüßte. Hunderte NS-Täter hatten Januar 1989, als die letzten beiden NS- seiner Zelle von der Gründung der Zen- das Land bereits 1945 unerkannt verlassen. Täter, Franz Fischer und Ferdinand aus tralen Rechtsschutzstelle erfuhr, freute Andere wurden von der italienischen Re- der Fünten, freikamen. er sich, dass »sich die Heimat wieder um gierung und von alliierten Gerichten am- Schon der Regierung Adenauers, der einen kümmern darf«. nestiert, unter ihnen einstige Befehlsgeber von 1949 bis 1963 als Kanzler amtierte, Gawlik engagierte – anders als üblich – Kapplers. Sie trugen größere Verantwor- war die Freilassung der Kriegsverbrecher nicht nur einen, sondern gleich drei Vertei- tung als er, waren aber nicht so berüchtigt wichtig. Das entsprach der Mehrheitsmei- diger für Kappler. Sie sollten die Berufung wie der »Henker von Rom«. nung der bundesdeutschen Bevölkerung. unterstützen, die Kappler 1948 eingelegt Bonns Diplomaten setzten ihre Lobby- Auch der Kölner Kardinal Joseph Frings hatte. Ein Beamter des Bundesjustizmi - arbeit fort. Allein im Fall Kappler interve- und andere Kirchenführer plädierten für nisteriums gab zu bedenken, dass das nierte die bundesdeutsche Seite zwischen eine Amnestie verurteilter NS-Täter. Da- Honorar in Höhe von 12000 Mark, nach 1955 und 1958 zehnmal mit Gnadengesu- bei waren die meisten längst frei. heutiger Kaufkraft etwa 30000 Euro, »au- chen, Mahnungen und Bittbriefen. Die alliierte United Nations War Crimes ßerhalb jedes Verhältnisses« liege. Die Für die Inhaftierten kämpften auch ehe- Commission hatte ursprünglich 34270 Rechtsschutzstelle argumentierte, das Ver- malige Kriegskameraden. Jahrzehntelang mutmaßliche NS-Täter in Europa identifi- fahren gegen Kappler sei »einer der größ- taten sich einstige Angehörige der Waffen- ziert. Am 1. April 1950 befanden sich nur ten Prozesse, die in Italien gegen deutsche SS hervor. Sie schlossen sich bereits 1951 noch 3631 in westlichem Gewahrsam. Das Kriegsgefangene durchgeführt wurden«. in einem eingetragenen Verein zusammen: Interesse der USA und Großbritanniens Das Verbrechen nannten die Bonner der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit. an einer systematischen Verfolgung von Behörden nicht beim Namen. In der Hinzu kamen die im Verband der Heim- Kriegsverbrechen schwand im beginnen- Sprachregelung des Bundespräsidialamts, kehrer organisierten Frontkämpfer und den Ost-West-Konflikt. Die Bundesrepu- des Kanzleramts und des Auswärtigen zahlreiche »Soldatenverbände«. Sie alle blik war nun ein wichtiger Vorposten, den Amts galten Kappler und die Breda-Häft- unterstützten ihre ehemaligen Kameraden. es zu stabilisieren galt. Und Millionen Bun- linge mitunter gar als »kriegsgefangene Die Bonner Behörden erreichten über die

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 33 Deutschland

Jahre Tausende Eingaben, Protestschrei- Generationen, die nicht mit den Hypothe- hungen etwas für Herrn Kappler zu tun. ben und Petitionen. ken der Älteren belastet werden dürfen«. Er fragte mich, was ich davon halte. Du Während der Niederländischen Woche Zu den Hypotheken zählte der neue Kanz- kennst meine Einstellung zu der Geschich- in Stuttgart 1955 verteilte der Verband der ler auch Kappler und die inzwischen nur te. Ich habe sofort ja gesagt.« Heimkehrer 10000 Flugblätter, die auf das noch »Drei von Breda«. Willy Lages war Kappler hatte dem Kanzler per Brief zu »Schicksal der deutschen Kriegsverurteil- wegen einer lebensgefährlichen Erkran- dem Preis gratuliert. Mit den »besonderen ten in Breda« hinwiesen. Die Organisation kung in ein Hospital im Harz überstellt Beziehungen« waren die Kontakte der rief zum Boykott niederländischer Tulpen worden. SPD zu Anführern der Kommunistischen und Tomaten auf. Mitglieder nutzten Ur- Wenige Monate nach seiner Romreise Partei Italiens gemeint. Deren Mitglieder laubsreisen nach Holland, um unangekün- im November 1970 sprach Brandt den Fall waren gegen eine Amnestie, viele hatten digt vor der Justizvollzugsanstalt in Breda Kappler beim Gegenbesuch von Minister- als Partisanen gegen Hitler-Deutschland aufzutauchen: Sie verlangten, den Direk- präsident Colombo in Bonn erneut an. Er gekämpft. Bauer flog nach Rom. Seine Ge- tor zu sprechen. schickte SPD-»Sondergesandte« nach Den sprächspartner sagten ihm, ihre Partei kön- 1963 waren im westeuropäischen Aus- Haag, um Abgeordnete der niederländi- ne in der Causa Kappler nicht aktiv wer- land nur noch fünf NS-Verbrecher inhaf- schen Schwesterpartei PvdA zu bearbei- den. Sie räumten aber ein, dass es keine tiert: Kappler und die »Vier von Breda«. ten. Und er schrieb Briefe an italienische Lösung sei, den Häftling »bis zum Ende Sie seien der »harte Kern der schlimmsten Regierungsmitglieder: »Ich bin sicher, dass seines Lebens im Gefängnis zu lassen«. Schurken«, sagte der niederländische Bot- das italienische Volk einen großzügigen Ihr Vorschlag: Kappler solle ein Gna- schafter. Bonn drängte weiterhin beharr- Gnadenakt letztlich verstehen und aner- dengesuch an den italienischen Präsiden- lich auf die Amnestie, doch ähnlich der kennen wird.« ten stellen, das die Kommunistische Partei italienischen Regierung lehnte die nieder- Den Kanzler trieb wohl vor allem die nicht torpedieren werde. Zudem sei es »im ländische alle Gnadengesuche ab. Der inhaf- Idee, die »innere Aussöhnung des deut- Sinne der Atmosphäre« gut, wenn der tierte Kotalla sagte kurz darauf zu einem schen Volkes« zu erreichen, sagt der His- Kanzler »bei der Entgegennahme des No- Botschaftsmitarbeiter, der die »Kriegs- toriker Bernd Rother von der Willy- belpreises … auch ein Wort zur der Rolle verurteilten« regelmäßig besuchte, er habe Brandt-Stiftung. Er habe die Meinung ver- der Widerstandsgruppen sagen könnte«. alle Hoffnung aufgegeben, in seinem Le- treten, »dass auch ehemalige Befürworter Brandt kam der Bitte nach. Am 10. De- ben noch einmal in Freiheit zu sein: Er als des Hitlerregimes eine zweite Chance ver- zember 1971 nahm er den Nobelpreis ent- kleiner Mann habe die Quittung bekom- dienten, wenn sie sich in den Dienst der gegen, am folgenden Tag hielt er in der men, während seine Vorgesetzten, die ihn Demokratie stellten«. Brandt sagte später, Universität Oslo seine Nobelvorlesung zu dieser »Drecksarbeit« angehalten hät- man könne ein Volk nicht »in seiner zum Thema »Friedenspolitik in unserer ten, bereits entlassen worden seien. Schuld und Mitverantwortung eingraben«. Zeit«. Darin sagte er: »Den Männern und Die Chancen der Häftlinge auf eine Frei- Frauen des Widerstands gegen Hitler bin lassung schwanden zusehends. Der Pro- Die »alten Kameraden« ich gerade auch hier ein Wort des Respekts zess gegen den Holocaust-Organisator schuldig. Ich grüße die ehemalige Résis- Adolf Eichmann 1961 rief aller Welt den setzten die Bundesregie- tance in allen Ländern.« Völkermord an den europäischen Juden rungen mit öffentlichen Drei Tage später schrieb Leo Bauer in ins Gedächtnis. Die Botschaft in Rom kam euphorischem Ton an seine Kontaktleute zu dem Schluss, das Gerichtsverfahren Aktionen unter Druck. in Rom: »Ich hoffe, dass das den Intentio- werde die internationale Öffentlichkeit nen entsprach.« Bauer verwies darauf, »zum Nachteil Deutschlands beeinflus- Auch humanitäre Aspekte spielten eine dass es für die SPD einen enormen Image- sen«. Für die ehemaligen Widerstands- Rolle. Seit den Sechzigerjahren hatte sich gewinn in konservativen Kreisen bedeuten kämpfer und die jüdischen Gemeinden in eine moderne Auffassung des Strafvoll- würde, wenn gerade sie die Freilassung er- Italien und den Niederlanden war es eine zugs durchgesetzt. Lebenslang dauernde reichen könnte. Doch die Kommunistische Frage der historischen Gerechtigkeit, dass Haftstrafen galten inzwischen als un- Partei zeigte sich unbeeindruckt. Während die NS-Täter inhaftiert blieben. menschlich. Die vier Häftlinge waren zu- Brandt mit seiner Ostpolitik vergleichswei- Die Bonner Regierung engagierte sich dem alt und krank. Brandts ehemaliger se schnell vorankam – bei Kappler änderte von nun an verdeckter als vorher. Zu die- Büroleiter im Auswärtigen Amt, Hans Ar- sich nichts. Der Deutsche war auch ein Ge- ser Zeit bahnte sich Willy Brandt den Weg nold, nennt Empathie und Mitleid als wich- fangener der italienischen Innenpolitik, an die Macht. Auch seine SPD war in den tige Motive des Kanzlers. sein Fall wurde auch instrumentalisiert. Fünfzigerjahren aus der Opposition heraus Doch Brandt war auch Machtpolitiker. In einem Interview mit dem »Stern« dafür eingetreten, NS-Täter freizulassen. Unter anderem wollte er der konservati- platzte dem Kanzler 1973 der Kragen: »Die SPD trug die Amnestiepolitik der ven CDU/CSU-Opposition, die ihn wegen Man müsse mit den »musealen Überbleib- Adenauer-Regierung im Nachkriegsjahr- seiner Ostpolitik anfeindete, keine weitere seln des letzten Krieges fertig werden«. Er zehnt weitgehend mit«, sagt die Jenaer Angriffsfläche bieten. Seinem Erzfeind habe sich als Außenminister und als Kanz- Historikerin Kristina Meyer. Sie habe Wäh- Franz Josef Strauß versicherte er im Juni ler »den Mund fusselig geredet, um einen ler nicht dadurch vergraulen wollen, dass 1971 vertraulich, dass seine Regierung Mann aus einem italienischen Gefängnis sie sich allzu sehr um Aufarbeitung be- »jede ihr vernünftig erscheinende Initiative herauszubekommen«. Die Italiener be- müht hätte: »Die Entwicklung zur Volks- zugunsten von Herrn Kappler unternom- zichtigte er der »Heuchelei«. partei sollte nicht gefährdet werden.« men hat und weiterhin unternehmen will«. In Italien herrschte Empörung, in der Als Brandt 1969 Kanzler wurde, ging er Wenige Wochen nachdem Brandt für Bundesrepublik kam der Beifall von in seiner berühmten Regierungserklärung seine Ostpolitik der Friedensnobelpreis zu- rechts. Die Hilfsgemeinschaft auf Gegen- (»Wir wollen mehr Demokratie wagen«) gesprochen worden war, schrieb sein Be- seitigkeit sprach von einer klärenden und auch auf sein geschichtspolitisches Pro- rater Leo Bauer an den SPD-Fraktionsvor- ermunternden Wirkung. Kapplers Frau gramm ein: Die westdeutsche Demokratie sitzenden Herbert Wehner: »Am Dienstag Anneliese, die den Kriegsverbrecher 1972 habe 20 Jahre nach ihrer Gründung »ihre sagte mir Willy, es sei angeregt worden, im Gefängnis geheiratet hatte, dankte dem Probe bestanden«. Seine Regierung wende die Nobelpreisverleihung zu benutzen, um Kanzler für dessen »Zivilcourage«. Brandt sich an die »im Frieden nachgewachsenen zu versuchen, über die besonderen Bezie- ließ unterdessen eine halbherzige Entschul-

34 COURTESY OF USHMM PHOTO ARCHIVES OF USHMM PHOTO COURTESY SS-Offiziere bei der Deportation von Juden in Westerbork 1943: Die Behörden nannten das Verbrechen nicht beim Namen

digung veröffentlichen: Er habe das Wort dersächsischen Soltau kamen mehrere neue Erörterung vom Sinn des Rechts, des »Heuchelei« im abstrakten Sinne gemeint. Hundert Menschen. Strafvollzugs und der Gnade nicht aus«. Bis zu seinem Rücktritt 1974 intervenier- Als 1979 Joseph Kotalla in seiner Zelle Und: Er melde sich nicht zu Wort, »um te Brandt noch zweimal zugunsten der starb, befanden sich nur noch zwei deut- einem öffentlichen Druck aus Deutschland »Kriegsverurteilten«. Helmut Schmidt, sche NS-Täter in Westeuropa in Haft: gerecht zu werden«. sein Nachfolger, führte die Bemühungen Franz Fischer und Ferdinand aus der Fün- In der Bundesrepublik hatten sich die fort. Die »alten Kameraden« setzten auch ten, die verbliebenen »Zwei von Breda«. Reihen der »alten Kameraden« aus Alters- seine Regierung mit öffentlichen Aktionen Neben Außenminister Genscher nahm gründen gelichtet. In dem Gespräch be- unter Druck. Der Verband der Heimkeh- sich nun vor allem Richard von Weizsä- gründete Weizsäcker sein Engagement mit rer überreichte 1974 den Botschaftern der cker, ab Mai 1984 Bundespräsident, der seinem eigenen »Gewissen und Rechts- Niederlande und Italiens Gnadengesuche beiden Häftlinge an. Als junger Mann hat- empfinden«. Der Justizminister wollte ihm mit je 200000 Unterschriften. Im Jahr da- te er seinem Vater Ernst von Weizsäcker keinerlei Zusagen machen. rauf druckte der Verband 300000 Flug- in den Nürnberger Kriegsverbrecherpro- In den folgenden Jahren nahmen die öf- blätter: »Gebt sie endlich frei!« zessen als Hilfsverteidiger gedient; der Va- fentlichen Diskussionen in den Niederlan- Die Unterstützer Kapplers verknüpften ter war unter anderem verurteilt worden, den über die »Zwei von Breda« zu. Am ihre Amnestieforderungen und einen Mil- weil er an der Deportation französischer 27. Januar 1989, um 13 Uhr, beschloss das liardenkredit der Bundesregierung: Das Juden nach Auschwitz mitgewirkt hatte. Parlament schließlich, die beiden freizu- Geld, das Italien zugesagt worden war, soll- Erstmals intervenierte der Bundesprä- lassen. Nur anderthalb Stunden später, um te nur fließen, wenn Kappler freikomme. sident Ende Mai 1985 während seines 14.30 Uhr, verließen sie in einem Kranken- Kanzler Schmidt war offenbar gleicher An- Staatsbesuchs in den Niederlanden, nur wagen das Gefängnisgelände, begleitet sicht. In einem Gespräch mit dem öster- wenige Wochen nach seiner berühmten von einer Ärztin und einem Polizisten. reichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Dann brachte man die Greise über die 1975 klagte er, die Bundesregierung sei für Dazu wurde kurz vor dem Festbankett in Grenze nach Deutschland. Noch am sel- Kappler »16-mal in fünf Jahren vorstellig Amsterdam der damalige niederländische ben Tag dankte Bundespräsident von geworden« – und selbst der Milliardenkre- Justizminister Frits Korthals Altes in das Weizsäcker dem niederländischen Parla- dit sei ohne Wirkung geblieben. Königliche Palais gebeten. »Es war das ein- ment. Ferdinand aus der Fünten starb Auch Außenminister Hans-Dietrich zige Mal in meiner Karriere, dass das knapp drei Monaten später, Franz Fischer Genscher (FDP) kam in Gesprächen mit Staatsoberhaupt eines anderen Landes wenige Monate darauf. seinen Amtskollegen in Rom und Den mich sprechen wollte«, sagt der heute 87- Mail: [email protected], Twitter: @felix_bohr Haag nicht weiter. Der Fall Kappler fand Jährige. »Ein Staatsoberhaupt spricht nor- dennoch bald ein Ende: In der Nacht zum malerweise nicht mit dem Justizminister.« SPIEGEL-Redakteur Bohr, 35, wurde über 15. August 1977 gelang dem inzwischen Im oberen Geschoss des Schlosses sagte das Thema dieses Arti kels promoviert. Seine krebskranken Kriegsverbrecher mithilfe der Bundespräsident, wie er später fest- Dissertation erscheint jetzt bei Suhrkamp: seiner Frau die Flucht aus einem römi- hielt: Die »Empfindlichkeiten der Verfolg- »Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche schen Militärhospital. Er starb wenige Mo- ten der deutschen Besatzung« seien ihm Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter«. nate später, zu seiner Beisetzung im nie- bewusst, »dies schlösse jedoch die immer

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 35 Deutschland Wasser marsch!

Militär Der Brand im Moor von Meppen – oder: wie die Bundeswehr es beinahe geschafft hätte, ein Feuer zu löschen

ls das Moor schon brennt, aber A noch wenige davon wissen, macht sich ein kleiner Trupp der Freiwilli- gen Feuerwehr bereit. Auf dem nahen Bundeswehrgelände, dem größten Schieß- platz in Westeuropa, ist für diesen Tag eine Übung geplant. Die Feuerwehrleute sollen durchspielen, wie man einen großen Lösch-

behälter unter einen Hubschrauber hängt: / DPA DERSTROFF ILJA Lastengeschirr anlegen, Druckschlauch an- Hubschrauber CH-53 mit Löschbehälter über dem Meppener Moor: Spitzname »Smokey« bringen, alles x-mal geübt. Im Ernstfall soll der Bottich – Spitzna- me »Smokey« – unter dem Bundeswehr- Tag zwei: Das Kommando vor Ort be- Tag vier: Die Hubschrauber sind nicht hubschrauber zum Feuer fliegen. Der CH- schließt, doch den Hubschrauber zu rufen. mehr im Einsatz, an diesem Tag nicht und 53 kann bis zu fünf Tonnen Wasser in die Ein Antrag ist gut zu begründen, es gibt auch nicht an allen folgenden 17 Tagen. Luft heben und über einem Brandherd ab- nur noch wenige flugtüchtige Exemplare Die Bundespolizei braucht ihren Helikop- kippen. Das ist sehr effektiv, besonders bei des altersschwachen CH-53, und die wer- ter anderswo; die Bundeswehr habe ihn unwegsamem Gelände. Einem Moor zum den für die Ausbildung gebraucht. Ob »Ge- nicht angefordert, heißt es. Und der CH- Beispiel. fahr für Leib und Leben« bestehe, müssen 53? Auch für ihn gibt es keine dringende Doch aus der Übung wird an diesem die Meppener Soldaten angeben. »Nein.« Anforderung mehr, er zieht wieder ab. 3. September nichts. Am Nachmittag mel- Die Luftwaffe lehnt den Antrag ab. Keine Es wird noch sechs Tage dauern, bis die det sich die Bundeswehr: Die Feuerwehr- Lebensgefahr, kein Hubschrauber. Bundeswehr die Feuerwehren der Gegend leute könnten zu Hause bleiben. Denn das An diesem Tag ist das Wetter ungünstig. zu Hilfe ruft. Der Moorbrand breitet sich Moor brenne wirklich. Wind treibt das Feuer über das Moor, währenddessen aus, unterirdisch im Torf Im Auftrag der Bundeswehr haben Air- Blindgänger explodieren. Als auch noch und an der Oberfläche. Der Landkreis bus-Techniker zehn Testraketen abgefeu- die zweite Löschraupe ausfällt, gerät der stellt am 21. September den Katastrophen- ert. Das Gebiet, ausgedörrt durch den tro- Brand außer Kontrolle. fall fest, das Feuer droht auf Siedlungen ckenen Sommer, fängt an sechs Stellen Nun geht doch ein Antrag raus mit der überzugreifen. Bundesverteidigungsminis- Feuer. Vermutlich ist es kein idealer Tag Priorisierung »Leib und Leben«, wie es terin fährt zu ihrer für derartige Versuche. Und vermutlich im Bundeswehrjargon heißt. Die Bundes- Truppe und bittet um Entschuldigung. hätten die Freiwillige Feuerwehr und der wehr lässt sich zu diesem Zeitpunkt vom Warum das Moor ungehindert weiter Hubschrauber Schlimmeres verhindern Technischen Hilfswerk unterstützen, die brannte, interessiert jetzt auch die Polizei, können. Aber: So läuft das nicht in der Freiwilligen Feuerwehren der Gegend alar- die Liegenschaften der Bundeswehr durch- Welt der Bundeswehr. miert sie nicht. Nur den kleinen Trupp zur sucht. Sie ermittelt wegen des Verdachts Die will den Brand allein löschen, mit Bedienung des »Smokey« fordert sie an. der fahrlässigen Brandstiftung. der eigenen Feuerwehr und ihren zwei Die Meppener Feuerwehrleute eilen Im Meppener Hochmoor mühen sich hochmodernen Löschraupen. Oder we- zum Landeplatz. Doch der CH-53 ist noch inzwischen mehr als 1500 Einsatzkräfte, nigstens einer davon, die andere ist defekt. nicht gelandet, stattdessen hilft ein klei- den Großbrand zu bändigen. »Tornado«- Doch das Moor bei Meppen ist tückisch. nerer Hubschrauber der Bundespolizei. Er Jets machen Wärmebildaufnahmen, die Schwere Lastwagen können versinken, kann aber nur rund ein Drittel der Was- tief im Moorboden weitverzweigte Glut- wenn sie die festen Wege verlassen. Das sermenge heben. »Das war so viel wie nester zeigen. »Es ist verheerend, was da Feuer frisst sich tief in den Torf, wenn es der berühmte Tropfen auf den heißen passiert ist«, sagt der niedersächsische Um- nicht schnell gelöscht wird. Und wegen Stein«, sagt ein erfahrener Brandmeister. weltminister Olaf Lies (SPD). »Die Bun- der vielen Blindgänger darf man es dann »Von nun an ist man der Lage nur noch deswehr ist erschreckend leichtfertig mit nicht mehr betreten, Explosionsgefahr. hinterher gelaufen.« Natur und Umwelt umgegangen.« Hote- Am Abend ist das Problem, so scheint Bald lodern die Flammen an vielen Stel- liers und Ferienhausbesitzer haben bereits es, dennoch gelöst, die Einsatzkräfte zie- len des Naturschutzgebiets. Am Abend trifft erste Schadensersatzforderungen an das hen sich bei Einbruch der Dunkelheit zu- der CH-53 endlich ein, fliegt ein paar Ein- Verteidigungsministerium angekündigt. rück. Bei einer Kontrollfahrt fällt gegen sätze, dann ist erst mal Schluss: Der Lösch- Die letzten Aufnahmen zeigen, dass der 23 Uhr allerdings auf, dass die Brände an behälter hat einen technischen Defekt. Schwelbrand deutlich kleiner geworden mehreren Stellen aufflammen. Trotzdem Tag drei: Beide Hubschrauber fliegen, ist. Wasser marsch: Es hat geregnet. gehen die Löscharbeiten erst am Morgen Hoffnung keimt auf, aber das Feuer ist Matthias Gebauer, Hubert Gude weiter. noch lange nicht gelöscht.

36 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 16 TAUSEND ZIELEINFAHRTEN. TÄGLICH. WERDE EINER VON UNS!

Wir alle machen uns auf den Weg. Wir fahren, wir fl iegen, wir laufen. Wir brechen die Rekorde, die wir selbst aufgestellt haben. Wir alle tragen das Gelbe Trikot. Gemeinsam bestreiten wir die größte Tour der Welt. Jeden Tag. werde-einer-von-uns.de Deutschland Bombe im Kulturbeutel Geheimdienste Hat ein iranischer Agent einen Sprengstoffanschlag in Paris befohlen? Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den Diplomaten aus Teheran.

ie geheime Mission des mutmaß- drei Führungsfiguren der kurdischen Ar - mit dem Sprengsatz erwischt wurde, schon lichen Agenten endete auf der A3 beiterpartei PKK in Paris (SPIEGEL 7/2014). länger im Visier gehabt, heißt es in Sicher- D zwischen Aschaffenburg und 2017 entführten vietnamesische Agenten heitskreisen. Würzburg. Beamte der Verkehrs- einen Dissidenten auf offener Straße in Die beiden Zuträger, Amir S. und Nasi- polizei nahmen Assadollah A. auf dem Berlin (SPIEGEL 17/2018). Und im März meh N., hatten vor Jahren in Belgien Asyl Rastplatz Spessart Süd fest. Er ist als dieses Jahres verübten mutmaßliche Agen- beantragt und engagierten sich seit einiger 3. Botschaftsrat der iranischen Vertretung ten des russischen Militärgeheimdienstes Zeit bei den Volksmudschahidin, einer in Wien akkreditiert. Nun führten die deut- GRU im britischen Städtchen Salisbury ei- militanten Oppositionsbewegung, die bis schen Beamten den angeblichen Diploma- nen Anschlag mit dem chemischen Kampf- 2009 in der EU als Terrororganisation ein- ten auf die Wache, seine Frau und die bei- stoff Nowitschok auf einen übergelaufenen gestuft war. Fast ebenso lange arbeiteten den Söhne mussten mitkommen. Ex-Kollegen. die beiden als Zuträger für den iranischen Dann untersuchte »Rambo« den roten Nach dem Nowitschok-Fall wiesen 27 Geheimdienst in Teheran. Van der Familie. Der Sprengstoffspürhund Länder russische Diplomaten aus. Der Den belgischen Behörden erzählte Na- der Polizei umkreiste den in Wien gemie- geplante Anschlag in Paris hat dagegen simeh N., sie seien einst zur Zusammen - teten Wagen. Er zwängte sich von hinten nur hinter den Kulissen Aufsehen erregt. arbeit gezwungen worden, indem ihre unter den Ford S-Max und verhielt sich Eigentlich müsste ein solcher Vorgang Angehörigen in der Heimat bedroht und merkwürdig. Später notierte ein Polizist, das diplomatische Verhältnis Frankreichs, drangsaliert wurden. der Hund habe Interesse gezeigt, sich je- Deutschlands und der gesamten Europäi- Unter diesem Druck hätten S. und N. doch nicht weiter unter das Auto vorarbei- schen Union zu Teheran schwer belasten. jahrelang Informationen aus dem Innen- ten können, um die Geruchsquelle zu lo- Doch der Bundesregierung und der EU ist leben der Volksmudschahidin an das kalisieren. etwas anderes wichtiger: Nach dem Aus- iranische Regime geliefert. Sie hätten ih- Hatte Assadollah A. Sprengstoff trans- stieg der USA wollen sie unbedingt am ren mutmaßlichen Führungsoffizier Assa- portiert? Atomabkommen mit Iran festhalten. dollah A. in Venedig, Mailand, Salzburg, Vieles spricht dafür. Je mehr Aufhebens um den Anschlags- Wien und in Teheran getroffen. Sie kann- Inzwischen ermittelt die Bundesanwalt- plan gemacht würde, desto schwieriger ten ihn nur als Daniël. Etwa 4000 Euro schaft gegen A., wegen geheimdienstlicher habe ihnen A. bei jeder Begegnung gege- Agententätigkeit und eines geplanten Bom- ben, viel Geld für die beiden – S. arbeitete benanschlags. Der Iraner soll ein Attentat Die bange Frage in Berlin zuletzt als Lagerist, N. als Büglerin. auf eine Veranstaltung der iranischen Volks- lautet nun, wie weit Der iranische Geheimdienst Mois, dem mudschahidin, einer Oppositionsgruppe, Assadollah A. angehören soll, ist eine in Paris vorbereitet und angeleitet haben. nach oben die Spur im wichtige Stütze des Regimes in Teheran. Auf dem Treffen mit 25000 Teilnehmern Mullah-Regime führt. Nach Erkenntnissen deutscher Sicherheits- Ende Juni in Paris sprach auch der ehema- behörden arbeiten etwa 30000 Menschen lige Bürgermeister New Yorks, Rudy Giu- für den Dienst, der hauptsächlich Opposi- liani, heute ein Vertrauter Trumps. wäre es, den Atomdeal bestehen zu las- tionelle im In- und Ausland überwacht. Ein Paar aus Belgien, beide Exil-Iraner, sen. Denn wie vertrauenswürdig kann Aus vertraulichen Dokumenten deutscher war bereits mit einem Sprengsatz auf dem ein Staat sein, der Bombenanschläge auf Stellen geht hervor, dass die iranischen Weg nach Paris. Doch israelische und bel- dem Territorium seiner Partner in Auf- Agenten selbst vor Mord nicht zurück- gische Sicherheitsbehörden konnten das trag gibt? schrecken. Vor allem die Volksmudschahi- Komplott vereiteln, die beiden wurden in In deutschen Regierungskreisen beob- din hat der Mois demnach im Visier. Brüssel festgenommen. Anschließend be- achtet man besorgt, ob die Ermittler im Assadollah A. alias Daniël soll seine lasteten sie den iranischen Agenten Fall Assadollah A. handfeste Belege für beiden Spione im März mit ihrer mutmaß- schwer. Sie hätten in seinem Auftrag seit »Staatsterrorismus« finden. Die Ermittler lichen Mordmission beauftragt haben. Die rund zehn Jahren Oppositionelle bespit- gehen davon aus, dass es diese Belege gibt. beiden berichteten nach ihrer Festnahme zelt, dann habe er sie angestiftet, den An- Die bange Frage in Berlin lautet nun, wie bei der Polizei, er habe ihnen gesagt, sie schlag zu verüben. Wenige Tage vor ihrer weit nach oben die Spur des Terrorplans bekämen ein Gerät, das sie auf der »Gro- Festnahme habe er ihnen auf einem Markt im Mullah-Regime führt. ßen Versammlung« der Volksmudschahi- in Luxemburg 500 Gramm des Spreng- Erschwerend kommt ein Verdacht deut- din »in der Nähe der Essstände« abstellen stoffs TATP und einen Fernzünder über- scher Sicherheitsbehörden hinzu. Dem- und aus 300 Meter Entfernung aktivie- geben. nach haben iranische Agenten bereits seit ren sollten. Der Fall, den derzeit Beamte in Deutsch- geraumer Zeit an einer Liste jüdischer Ein- Ob Menschen zu Schaden kommen land, Belgien, Frankreich und Österreich richtungen in Deutschland gearbeitet. Als würden, wollen S. und seine Frau gefragt aufarbeiten, ist ein erneuter Beleg dafür, mögliche Anschlagsziele. haben. Und Daniël antwortete angeblich: dass ausländische Geheimdienste in Eu - Es war vermutlich der israelische Aus- Nein, Ärzte im Iran hätten das Gerät er- ropa vor nichts zurückschrecken. 2013 er- landsgeheimdienst, der Hinweise auf den probt, es werde nur viel Krach machen. mordete ein wahrscheinlich vom türki- mutmaßlichen Agenten Assadollah A. gab. Kurz vor dem geplanten Anschlag habe schen Geheimdienst losgeschickter Killer Der Mossad habe ihn und das Paar, das er ihnen in Luxemburg den in einer blau-

38 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 en Kulturtasche versteckten Sprengsatz übergeben. Agent Assadollah versuchte offenbar, die Reise dorthin als Familienausflug zu tarnen. Er mietete den roten Van in Wien und brach mit den beiden Söhnen, 17 und 21 Jahre alt, und seiner Frau auf. Der Polizei erzählte er, sie hätten sich Burgen angesehen. Zwar fanden die Staatsschützer des Bun- deskriminalamts schließlich die Anschrift des Heidelberger Schlosses im Naviga - tionsgerät des Autos, doch ansonsten dürf- te die Tour eher dienstlich gewesen sein: Die Fahrt ging nach Cochem, nach Luxem- burg und Belgien, nach Bonn und Köln. Einer der Söhne sagte der Polizei, sein Vater habe auf einem Markt in Luxemburg »zufällig« einen »alten Bekannten« ge- troffen. Es sei wahrscheinlich ein Freund aus dem Irakkrieg gewesen, jedenfalls seien die beiden zusammen zum Essen

NEWS5 / PATZAK / NEWS5 / PATZAK NEWS5 gegangen, für eine Stunde. Die Ermittler Polizeieinsatz bei der Festnahme von A.: Auf dem Rückweg vom »Romantik-Hotel« gehen davon aus, dass dieser Bekannte Amir S. war. Während dieser Zusammenkunft hätten die mutmaßlichen Verschwörer verabre- det, dass sie sich nach dem Anschlag in Köln treffen würden. »Wir sollten berich- ten, wie alles abgelaufen war«, so Amir S. Den genauen Ort und die Zeit für das Tref- fen hätten sie noch vereinbaren wollen. Dafür habe Daniël ihnen ein Handy mit einer österreichischen Nummer gegeben. Dazu kam es nicht, weil die belgischen Be- hörden Amir S. und seine Frau vor der Tat festnahmen. Danach traten Assadollah A. und seine Familie die Rückreise an. Von einem »Ro- mantik-Hotel« in Bergisch Gladbach steu- erten sie in Richtung Süden, bis die Polizei auf dem Rastplatz zugriff. Assadollah A. sitzt nun in Haft. Die Bel- ZUMA PRESS / IMAGO gier haben seine Auslieferung beantragt, Politiker Giuliani auf Iran-Kongress in Paris, Ausweisfoto von A.: Nur viel Krach? er wehrt sich dagegen. Sein Anwalt beruft sich auf das Wiener Übereinkommen, das Diplomaten freien Transit zu ihren Posten zusichert. Das Auswärtige Amt ist hinge- gen der Auffassung, dass ein solcher Tran- sit nicht durch mehrtägige touristische Ak- tivitäten unterbrochen werden darf. Die letzten Entscheidungen der Gerichte in der Sache stehen noch aus. Klar ist jedenfalls, dass Familie A. von ihrem Aufenthalt in Deutschland wenige kulturelle Eindrücke mitgenommen hat. An die Namen der Burgen, die sie sich doch angeblich angeschaut hätten, konn- ten sich die Söhne des Agenten nicht er - innern. Seine Frau konnte nicht einmal die Länder nennen, in denen sie gewesen sei- en. Ob sie denn wenigstens sagen könne, in welchem Land sie sich gerade befinde, fragten die Polizisten. Sie antwortete, dass sie auch das nicht wisse. Jörg Diehl, Martin Knobbe, SCREENSHOT: REUTERS SCREENSHOT: Fidelius Schmid Einsatzkräfte nach Sprengstofffund in Brüssel: Fernzünder im Kofferraum

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Cybersecurity

Die Welt wird digital. Milliarden Geräte sind im Internet der Dinge verknüpft. Das Potenzial ist gigantisch – aber auch die Risiken. Intelligente Systeme wie Stromnetze, die Verkehrs- infrastruktur, Produktionsanlagen und Gebäude müssen vor Hackerangriff en abgesichert werden.

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196 Tage dauert es im Schnitt, um IT-Sabotage festzustellen

KLINIK

Abwehr von Angriffen Eine sogenannte Datendiode von Siemens Erkennung von Gefahren verhindert, dass Hacker auf sicherheitskriti- Mit Plant Security Services analysiert Siemens sche Systeme zugreifen können. Sicherheitslücken und schließt sie. Deutschland SALEH AL-OBEIDI / AFP SALEH »Leclerc«-Einsatz im Jemen: Motoren und Getriebe aus Deutschland »Der beste Panzer der Welt«

Waffenhandel Ein Geschäftsmann kassierte beim Verkauf von Kampfpanzern fast 200 Millionen US-Dollar Provision. Er warb auch in Deutschland für das Geschäft.

m Sommer vor drei Jahren kamen einst ausgegeben. Die Motoren kommen laubt. Der SPIEGEL, das französische On- die Panzer zu ihrem ersten Einsatz aus Deutschland, von der Motoren und lineportal Mediapart und die italienische I im Krieg. Anfang August 2015 roll- Turbinen Union (MTU) in Friedrichshafen Zeitung »La Repubblica« konnten es vor- ten sie im Jemen auf der Schnell- am Bodensee, die Getriebe lieferte die ab einsehen. straße N1 nach Norden, zum Luftwaffen- Renk AG in Augsburg zu. Gebaut wurden Das Dokument beschreibt einen Rüs- stützpunkt Al-Anad. Dort sollten sie den die Panzer von dem französischen Staats- tungsdeal von erheblicher Dimension: Truppen der Regierung helfen, Rebellen konzern Giat, der mittlerweile im franzö- Allein die vereinbarte Provision betrug in die Flucht zu schlagen. sisch-deutschen Gemeinschaftsunterneh- 235 Millionen US-Dollar. Davon flossen Nur wenige Tage dauerte die Schlacht men Nexter aufgegangen ist. 195 Millionen von Giat über eine Briefkas- um den Stützpunkt, dann vermeldete die Die Emirate beteiligen sich im Jemen tenfirma auf den Britischen Jungferninseln sunnitische Regierung den Sieg über die an einem Bürgerkrieg mit Tausenden To- an den schillernden arabischen Geschäfts- schiitischen Huthis. Den Erfolg verdank- ten. Es ist nicht bekannt, wie viele Men- mann Abbas Ibrahim Yousef Al Yousef. ten sie auch ihren Helfern aus dem Aus- schenleben der Einsatz ihrer Panzer ge- Er gilt als einer der reichsten Männer land: Die Vereinigten Arabischen Emirate kostet hat. Nachzeichnen aber lässt sich der Emirate. Manches deutet darauf hin, hatten eine Brigade mit Panzern vom Typ nun, wie es zum Verkauf der »Leclerc«- dass Yousef nicht die gesamte Provision »Leclerc« geschickt, um die Huthi-Rebel- Panzer kam. Die Enthüllungsplattform Wi- für sich behielt, sondern Teile davon an len aus Al-Anad zu vertreiben. kiLeaks veröffentlicht ein Dokument, das arabische Amtsträger weiterreichte. Die Mehr als drei Milliarden Dollar hatten einen seltenen Blick hinter die Kulissen Unterlagen werfen auch die Frage auf, ob die Emirate für 436 »Leclerc«-Panzer der- des internationalen Waffenhandels er- Deutsche geschmiert wurden, die den Ex-

42 port der Motoren und Getriebe zu geneh- sische Waffenschmieden als Mittelsmann mit den Getrieben von Renk aus Augs- migen hatten. Yousef erklärte jedenfalls in den Vereinigten Arabischen Emiraten burg. Die Emirate waren so erpicht auf 2009: »Ich lobbyierte die deutschen Be- fungiert. den deutschen Motor, dass sie sogar hörden und habe dafür gesorgt, dass die Nicht immer ging es dabei wohl mit die zusätzlichen Entwicklungskosten von nötige Genehmigung erteilt wurde.« rechten Dingen zu. Voriges Jahr wurde be- 60 Millionen Franc (umgerechnet 9 Mil- So steht es in der Entscheidung eines kannt, dass Yousef in einen möglichen Kor- lionen Euro) übernehmen wollten. Yousef Schiedsgerichts der Internationalen Cham- ruptionsfall bei Airbus verwickelt gewesen berichtete dem Schiedsgericht stolz: »Es ber of Commerce, das unter Ausschluss sein könnte. Das deutsch-französische Luft- war die Idee, die besten Teile aus kon- der Öffentlichkeit in Paris tagte. Als der fahrtunternehmen hatte über eine Tarnfir- kurrierenden Produkten zusammenzu- Verkauf der »Leclerc«-Panzer an die Emi- ma 19 Millionen Euro an die Firma Avinco bringen und den besten Panzer der Welt rate 1993 besiegelt wurde, hatten sich Giat gezahlt, die mit gebrauchten Flugzeugen zu bauen.« und Yousef auf eine Provision von 6,5 Pro- und Helikoptern handelte. Hinter Avinco Allerdings verkomplizierten die deut- zent geeinigt, 235 Millionen Dollar. Die soll Yousef gestanden haben. Der Ge- schen Motoren den Deal. Der Export von Manager des französischen Staatsunter- schäftsmann soll einen Großteil der Airbus- Kriegsgerät unterliegt hierzulande dem nehmens zahlten regelmäßig bis März Zahlungen an eine Firma in Panama wei- Kriegswaffenkontrollgesetz. Ein spezielles 2000 an Yousef, aber hörten bei gut 195 tergeleitet haben. Wo das Geld am Ende Gremium, der Bundessicherheitsrat, kon- Millionen Dollar auf – was dem Geschäfts- landete, ist unklar. Yousef war für eine Stel- trolliert die Ausfuhr von Kriegswaffen und mann gar nicht gefiel. Er verlangte Rüstungsgütern. In dem Gremium deshalb vor dem Schiedsgericht die saßen damals Kanzler Kohl und sie- ausstehenden 40 Millionen Dollar ben Minister der Regierung von und brachte dafür brisante Details Union und FDP. in das Verfahren ein. Sie lassen sich Waffenexporte an Frankreich in der Entscheidung des Schieds - genehmigt die Regierung norma- gerichts nachlesen, die WikiLeaks lerweise problemlos. Diesmal aber anonym zugespielt wurde. war zu berücksichtigen, dass der Rüstungsgeschäfte haben eine Käufer sich in einer Krisenregion lange Laufzeit. Kampfflugzeuge, befand. Der irakische Herrscher Kriegsschiffe und Panzer werden Saddam Hussein hatte den Nach- bestellt, über Jahre ausgeliefert und barstaat Kuwait überfallen, die müssen später instandgehalten wer- USA und mehr als 30 weitere den. Der Anfang des Milliarden- Staaten warfen ihn wieder hinaus. deals mit den »Leclerc«-Panzern Dazu zählten die Vereinigten führt in eine Zeit zurück, als in Arabischen Emirate, die sich mit Frankreich noch der Sozialist Fran- 1000 Soldaten an dem Krieg be- çois Mitterrand an der Macht war teiligten. und in Deutschland der Christde- Die Entscheidungen des Bundes- mokrat Helmut Kohl. sicherheitsrats sind geheim, nur Die französischen Generäle selten dringen Details nach außen. wünschten sich in den Achtziger- Im Fall der »Leclerc«-Panzer aber jahren einen modernen Kampf - berichtete das Magazin »Focus« panzer. Die Bordkanone – Kaliber im Februar 1993 über die Zustim- 120 Millimeter – sollte automatisch mung des Gremiums. In jüngster nachladen, sodass drei statt der üb- Zeit habe sich der Bundessicher- lichen vier Mann als Besatzung aus- heitsrat beim Export von Militär- reichen würden. Der Panzer wäre gerät, etwa nach Thailand, »eher

leichter, kleiner und wendiger als TEUTOPRESS rigide« gezeigt, beim Panzerdeal der deutsche »Leopard« oder der Kanzler Kohl in einem »Leopard 2« 1986 aber sei er »weniger pingelig« ge- US-amerikanische »Abrams«. Exporte ins Krisengebiet wesen und habe die Motorenlie- Schon wegen der hohen Ent- ferung am 8. Dezember 1992 ge- wicklungskosten suchte Giat nach billigt. Kunden außerhalb Frankreichs. So kam lungnahme nicht erreichbar. Airbus sagte Damit konnte das Geschäft abgeschlos- Waffenagent Yousef ins Spiel: Der Ge- auf Nach frage, der Fall werde untersucht. sen werden, der bis heute einzige Export schäftsmann aus den Vereinigten Arabi- Yousef vermittelt nicht nur Waffenge- von »Leclerc«-Panzern. Die Emirate be- schen Emiraten vermittelte zwischen Giat schäfte. Einen Teil seiner Profite investier- stellten 388 Kampfpanzer, 46 Bergepan- und den Emiraten, wohl ab 1989. te er in die deutsche Biosupermarktkette zer, 2 Fahrschulfahrzeuge sowie Zubehör Yousef tritt, wie die meisten Akteure Basic AG mit Sitz in München. Werbeslo- für insgesamt 3,6 Milliarden Dollar. Ein im internationalen Waffenhandel, nur gan: »Bio-Genuss für alle«. Sein Sohn sitzt gehöriger Teil des Geldes floss nach selten öffentlich in Erscheinung. Er soll heute dem Aufsichtsrat der Firma vor. Deutschland. Das Unternehmen MTU aus dem Dorf von Scheich Al Zayed stam- Auch beim Panzerdeal führen Spuren lieferte 473 Motoren für 300 Millionen men, dem Gründungsvater der Emirate. nach Deutschland. Die Waffenkäufer der D-Mark, also etwa 150 Millionen Euro. Auch seine Kontakte zur Familie des ak- Emirate zeigten sich angetan vom »Le- Hinzu kamen Getriebe von Renk. tuellen Präsidenten seien gut, heißt es. Als clerc«. Doch Scheich Zayed bin Sultan Al MTU teilt auf An frage mit, von einer junger Mann sei er Kampfflugzeuge des Nahyan, der Regent der Emirate, forderte, Zusammenarbeit mit dem arabischen Mitt- französischen Herstellers Dassault geflo- dass seine neuen Panzer ähnliche Moto- ler nichts zu wissen. »Nach Aktenlage«, er- gen. Ein ehemals mächtiger Manager in ren bekommen sollten wie der deutsche klärt ein MTU-Sprecher, gab es bei diesem Frankreich beschreibt ihn als sehr westlich »Leopard 2«-Panzer: die Zwölfzylinder- Geschäft »weder eine Zusammenarbeit mit orientiert. Yousef habe für viele franzö - modelle von MTU aus Friedrichshafen Lobbyisten, noch ist ein Herr Abbas Ibra-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 43 Deutschland him Yousef Al Yousef dabei scheider der höchsten Ebenen in Frank- in Erscheinung getreten.« reich und Deutschland beteiligt waren«. Giat hingegen zeigte sich Als die Richter in der mündlichen Verhand- erkenntlich. Der französi- lung mehr wissen wollten, gab sich Yousef sche Staatskonzern räumte zugeknöpft. Auf die Frage, wen er auf deut- Yousef eine Provision von scher Seite getroffen habe, antwortete er: 6,5 Prozent des Kaufpreises »Niemanden.« Keine Politiker, keine Be- ein, die Summe betrug amten, angeblich nur Lobbyisten. 234875369,40 Dollar. Die Stimmt das? Deutsche Politiker waren Abwicklung deutet darauf in jenen Jahren durchaus geübt im Um- hin, dass außer den Betei- gang mit Rüstungslobbyisten und Expor- ligten niemand davon er- ten in die arabische Krisenregion. Die Re- fahren sollte. Das Geld gierung von Helmut Kohl genehmigte 1991 floss nicht an Yousef direkt, den Verkauf von 36 »Fuchs«-Spürpanzern

sondern an seine Briefkas- TOGOPORTAIL.NET nach Saudi-Arabien, was eine der größten tenfirma Kenoza Industrial Vermittler Yousef Korruptionsaffären der deutschen Nach- Consulting & Management »Entscheider der höchsten Ebenen beteiligt« kriegsgeschichte nach sich zog. mit Sitz auf den Britischen Thyssen Henschel zahlte damals 220 Mil- Jungferninseln. lionen Euro in dunkle Kanäle. Verschiede- Die Steueroase in der Karibik richt, seien ihnen die Zahlungen an Yousef ne Staatsanwaltschaften ermittelten gegen ist berüchtigt dafür, dass geheim bleibt, nicht mehr geheuer gewesen, daher hätten hochrangige Regierungsmitglieder, darun- wer dort Geld hortet. Yousef nutzte zudem sie diese gestoppt. Fragen des SPIEGEL be- ter FDP-Wirtschaftsminister Jürgen Mölle- Konten in Gibraltar und Liechtenstein. antwortet Nexter, der Rechtsnachfolger mann (FDP), der für das Geschäft zuständig Von Kenoza-Konten wurde das Geld an von Giat, nicht und beruft sich auf Ge - war. Das Landgericht Augsburg verurteilte Yousefs Unternehmensholding weiter- heimhaltungsklauseln. 2005 den früheren Verteidigungsstaatsse- geleitet, wie dessen Vermögensverwalter Yousef wies vor dem Schiedsgericht alle kretär Ludwig-Holger Pfahls (CSU) wegen dem Schiedsgericht in Paris bestätigte. Auf Korruptionsvorwürfe zurück: Die Provi- Vorteilsannahme und Steuerhinterziehung diese Weise wollte Yousef verschleiern, sion, die er erhalten habe, sei nicht dazu zu zwei Jahren und drei Monaten Haft. Er woher das Geld stammte. verwendet worden, »Verantwortliche in hatte zugegeben, in Zusammenhang mit Die Frage aber bleibt: Wer profitierte den Emiraten zu bezahlen«. Vielmehr den Spürpanzern 873000 Mark angenom- von den Zahlungen aus Frankreich? Nur habe er sie in seine Firmen investiert, »in men zu haben. Yousef? Oder auch Beamte oder andere verschiedenen Teilen der Welt«. Ob auch für die »Leclerc«-Panzer Beste- Amtsträger, die er mit Teilen der Provision Als die Richter wissen wollten, was er chungsgelder nach Deutschland flossen, bestochen haben könnte? denn für sein Honorar geleistet habe, blieb vor dem Schiedsgericht offen. Aus Das wollten auch die Richter in Paris konnte Yousef ebenfalls keine Unterlagen Deutschland ist kaum Aufklärung zu er- wissen. Sie forderten Yousef und Giat auf, vorlegen. Die habe er »zerstört, um die warten. Kohl und andere Beteiligte sind in- die Geschäftsbeziehung näher zu erläutern. Vertraulichkeit von Giat zu schützen«. Sei- zwischen verstorben. Volker Rühe (CDU), Nur so könnten sie abwägen, ob die gefor- ne Rolle beschrieb er so: »Ich habe eine damals Verteidigungsminister, Theo Waigel derten 40 Millionen US-Dollar Yousef zu- (CSU), damals Finanzminister, schreiben stünden. In der mündlichen Anhörung auf Anfrage, sie hätten an den Vorgang sorgten die Nachfragen der Richter für Sze- Deutsche Politiker waren »keine Erinnerung«. Andere reagierten gar nen, die sich in einem öffentlichen Gerichts- in jenen Jahren geübt nicht erst auf Fragen. prozess wohl kaum ereignet hätten. Klar ist allerdings, dass die deutsche Die Vertreter von Giat gaben in Paris im Umgang mit Exporten in Renk AG für den Auftrag der »Leclerc«- offen zu, dass die Provisionen als Beste- die arabische Krisenregion. Getriebe 2,6 Millionen Euro »Beratungs- chungsgelder geflossen seien: »Die wirkli- honorare« auf Schweizer Konten von zwei che Absicht war es, den Abschluss des Ver- französischen Dunkelmännern überwies. trags mit den Vereinigten Arabischen Emi- gute Beziehung mit dem Giat-Team ent- Diese wurden von einem Pariser Gericht raten zu erleichtern, indem man Beamten wickelt und habe beträchtliche Zeit damit 2005 wegen Korruption zu mehrjährigen oder anderen Offiziellen der Vereinigten verbracht, seine Mitglieder zu beraten, wie Haftstrafen verurteilt. Zwei deutsche Renk- Arabischen Emirate Teile der Provision an- sie ihre Produkte am besten präsentieren, Mitarbeiter bekamen im selben Verfahren bietet.« Der Vertrag habe »im Widerspruch vor dem Hintergrund der Kultur und Psy- 18 Monate Haft auf Bewährung und je- zur Moral und zu öffentlichen Grund - chologie in den Vereinigten Arabischen weils 100000 Euro Geldstrafe. sätzen« gestanden. »Kenoza plante und Emiraten und der dortigen politischen und Yousef könnte über mögliche weitere beging tatsächlich Korruptionstaten.« Wen wirtschaftlichen Gepflogenheiten. Ich ha - Beteiligte an einem Korruptionsnetzwerk Yousef bestochen haben sollte, konnte der be sie in jeder Phase darüber informiert, auspacken, aber er will nicht. Auch des- Waffenhersteller aber nicht sagen. Angeb- was die Regierung der Vereinigten Arabi- halb unterlag er im September 2010 in lich habe die Geschäftsbeziehung zu You- schen Emirate dachte.« Mit wem er auf dem Pariser Schiedsverfahren. Die Richter sef bei Giat »keine Spuren hinterlassen«. arabischer Seite verhandelt habe, verriet mochten nicht erkennen, warum er die In Frankreich war es, ähnlich wie in Yousef lieber nicht. Bei Giat habe er mit geforderten 40 Millionen Dollar erhalten Deutschland, lange keine Straftat gewesen, dem Vorstandschef sowie dem Giat-Ver- solle, wenn er seine Leistungen nicht be- ausländische Amtsträger zu bestechen. triebsleiter gesprochen. nenne. Am Ende hatte Yousef nicht mehr Doch im Jahr 2000 setzte Frankreich eine Ebenso wenig wollte Yousef über seine Geld als vorher, sondern weniger. Die OECD-Richtlinie zur Korruptionsbekämp- Kontakte in Deutschland reden. Vor der Richter erlegten ihm die Kosten des Ver- fung um, nun drohten Ermittlungsverfah- mündlichen Befragung hatte er schriftlich fahrens auf: 550000 Dollar. ren und Gefängnisstrafen. Von da an, er- dargelegt, er habe für die Exportgenehmi- Sven Becker, Michael Sontheimer klärten Giat-Manager vor dem Schiedsge- gung gesorgt, »ein Prozess, an dem Ent-

44 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Wir gratulieren den PreisträgerInnen der FIRST STEPS Awards 2018!

Kurz- und Animationsfi lm Michael-Ballhaus-Preis „In der Zwischenzeit / Meanwhile“ Mariel Baqueiro Regie: Mate Ugrin Kamera: „Hagazussa“ HfBK Hamburg dffb Berlin

Mittellanger Spielfi lm NO FEAR Award „Am Himmel“ Marius Ehlayil Regie: Magdalena Chmielewska Produktion: „früher oder später“ Filmakademie Wien HFF München

Abendfüllender Spielfi lm Drehbuchpreis „Hagazussa“ Janett Lederer Regie: Lukas Feigelfeld Drehbuch: „Der Storch ist tot“ dffb Berlin Filmakademie Ludwigsburg

Dokumentarfi lm Götz-George-Nachwuchspreis „Tackling Life“ Zejhun Demirov Regie: Johannes List Schauspieler: „Oray“ HFF München KHM Köln

Werbefi lm Ehrenpreis „myBorder’s joyFence“ Dieter Kosslick Regie: Michael Kranz HFF München

FIRST STEPS ist eine Veranstaltung der Deutschen Filmakademie e.V. in Partnerschaft mit:

Produziert von der DFA Produktion GmbH

Unterstützt von Gefördert von Deutschland »Langwierig und bitter«

SPIEGEL-Gespräch Was lässt sich aus der Einwanderung in die USA für Deutschland lernen? Vieles, sagt der deutsche US-Historiker Michael Hochgeschwender: Die Integration der Neuankömmlinge ist schwierig – und wird am Ende doch gelingen.

Der Deutsche Historikertag hat sich in die- sen Tagen unter dem Motto »Gespaltene Gesellschaften« viel mit Migration beschäf- tigt. Hochgeschwender, 56, ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

SPIEGEL: Herr Professor Hochgeschwen- der, die USA gelten als die Einwanderungs- nation schlechthin. Millionen Europäer wanderten im 19. Jahrhundert dorthin aus. In den vergangenen drei Jahren kamen mehr als fünf Millionen Menschen nach Deutschland. Beides war ungesteuert. Ha- ben wir hierzulande amerikanische Ver- hältnisse? Hochgeschwender: Es gibt zahlreiche Pa- rallelen: Schon damals kamen die meisten Menschen aus ökonomischen Gründen, und die Löhne in den USA lagen deutlich höher als in Europa. Die Suche nach poli- tischer Freiheit war demgegenüber zweit- rangig. Und wie heute auch machten sich viele falsche Vorstellungen, wie leicht es sei, im Ankunftsland reich zu werden. SPIEGEL: 2015 sind auf einen Schlag knapp eine Million Menschen zu uns ge- kommen. Hat es in der US-Geschichte so etwas gegeben? Hochgeschwender: Zwischen 1850 und 1920 wanderten rund 60 Millionen Men- schen ein. In den Relationen ist das ver- gleichbar, aber ein ungebremster Zustrom von einer Million Menschen auf einmal dürfte in der amerikanischen Geschichte nicht zu finden sein. SPIEGEL: Inzwischen wurde fast jeder Vier- te, der in Deutschland lebt, im Ausland ge- boren oder hat ausländische Vorfahren. Hochgeschwender: Da waren die ameri- kanischen Zahlen im 19. Jahrhundert ähn- lich, allerdings mit regionalen Unterschie- den. In den Industriestädten im Norden hatten um 1900 manchmal 80 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. SPIEGEL: Was können wir aus der ameri- kanischen Erfahrung lernen? Hochgeschwender: Selbst in Ländern wie den USA, die auf Migration eingestellt sind, ist Einwanderung ein schwieriger Pro- zess, und zwar für beide Seiten, für die JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL JOHANNES ARLT

Das Gespräch führten die Redakteure Cordula Meyer Forscher Hochgeschwender im Auswanderermuseum Hamburg und Klaus Wiegrefe. »Falsche Vorstellungen, wie leicht es sei, reich zu werden«

46 Migranten wie für die aufnehmende Ge- war die Vorstellung der Amerikaner von Hochgeschwender: In der großen Mehr- sellschaft. Integration ist immer langwierig streng päpstlich gesinnten Katholiken des heit wollten und wollen Migranten vor allen und bitter und war in den USA oft auch 19. Jahrhunderts. Dingen, dass es ihnen und ihren Familien mit Gewalt verbunden. SPIEGEL: Wie entstand das? gut geht. Normalerweise wollen Mi granten SPIEGEL: Was war an der amerikanischen Hochgeschwender: Zum einen durch auch keinen Rabatz machen. Rabatz ent- Erfahrung bitter? Fremdheit. Ein Gottesdienst in einer un- steht oft, wenn man nicht begreift, dass kul- Hochgeschwender: Das Scheitern. Nur bekannten Sprache, also in Latein. Oder turelles Erbe, das man mitbringt, in der neu- wenige schafften in der ersten Generation das Beichtgeheimnis. Viele Protestanten en Gesellschaft sehr unpassend ist. Integra- den Aufstieg. Die Neuankömmlinge woll- glaubten, der Priester gebe im Beichtstuhl tion setzt Geduld auf beiden Seiten voraus. ten arbeiten, aber sie durften bestimmte vor, wen man wählen solle. Zum anderen SPIEGEL: Die USA galten lange als Tätigkeiten nicht annehmen, weil die Ge- fanden manche Katholiken wirklich, die »Schmelztiegel«. Angeblich nabelten sich werkschaften das verhinderten. Das galt Kirche stehe über dem Staat, Presse und die Einwanderer von der alten Heimat ab für Chinesen und für Iren. Viele scheiter- Meinungsfreiheit seien keine Güter für und wurden innerhalb von zwei Genera- ten einfach an den Widrigkeiten. In den sich. Und dabei ging dann unter, dass die tionen zu mustergültigen Amerikanern. USA gab es bis weit ins 20. Jahrhundert meisten Iren kein Interesse daran hatten, Hochgeschwender: Es hängt vom ethni- kein soziales Netz. Um 1900 starben jedes die Monarchie in den USA einzuführen. schen Hintergrund ab: Die Norweger ha- Jahr durch Arbeitsunfälle rund 50000 Sie kamen ja aus einer, in der sie verfolgt ben spätestens in der zweiten Generation Menschen. Wer arbeitsunfähig wurde, war und unterdrückt worden waren. gesagt, wir wollen nicht mehr Norwegisch auf sich gestellt. Das war bitter. Man sieht SPIEGEL: Das Problem ist die Pauschali- reden, wir wollen gute Amerikaner sein. das an der hohen Rückwandererquote. Bei sierung? Umgekehrt verstehen sich irische Ameri- manchen ethnischen Gruppen kehrte jeder Hochgeschwender: Ja, damals wie heute. kaner oft auch heute noch als stolze irische Zweite zurück. Es gab radikale Katholiken in den USA, Amerikaner. Die Deutschen haben sich an- SPIEGEL: Vielleicht wollten die Männer – und es gibt radikale Muslime bei uns, aber fangs der Integration beharrlich verwei- es waren ja überwiegend Männer – von es sind eben nur kleine Minderheiten. gert. Nichts hat andere Amerikaner mehr vornherein nicht bleiben? SPIEGEL: Religiöse Bindungen von Ein- aufgeregt als die Deutschstämmigen, die Hochgeschwender: Von den Griechen wanderern, insbesondere Muslimen, gel- am Sonntag im Biergarten saßen und va- und Italienern planten tatsächlich einige, ten landläufig als Integrationshindernis. terländisches Liedgut von sich gaben, weil in den USA nur vorübergehend Geld zu Hochgeschwender: Das sehen amerika- sie partout Deutsche sein wollten. verdienen. Von den deutschen Auswande- nische Migrationsforscher anders. In den SPIEGEL: Warum taten sich einige Grup- rern wissen wir, dass es oft anders war. Wir USA gab es im 19. und frühen 20. Jahr- pen leichter als andere? kennen ihre Motive aus Briefen an Hei- Hochgeschwender: Das hängt zum Teil matpfarrer, in denen es heißt: Bitte sendet mit dem Klassenstatus zusammen, und es mir Geld, ich schaffe es nicht, will zurück. hängt mit Außendruck zusammen. Die Nor- SPIEGEL: Und was meinen Sie mit Ihrem »Die Ängste, jemand sei weger kamen als arme, aber nicht völlig un- Hinweis auf Gewalt? nicht loyal, sind in gebildete Menschen an. Sie haben relativ Hochgeschwender: Viele Einwanderer einer Einwanderungs - schnell eigenen Boden im mittleren Westen waren in den USA unerwünscht: Iren, Ita- erworben, das erleichterte die Anpassung, liener, Juden, Chinesen. Bis 1942 durften gesellschaft normal.« zumal es damals keine sehr ausgeprägte arme Migranten sich nicht ohne Genehmi- norwegische nationale Identität gab. Die gung von einem Bundesstaat zum anderen irische Migration hingegen vollzog sich in bewegen. Es gab Lynchmorde. 1891 wur- hundert keinen Sozialstaat. Die Gemein- der Zeit, als die irische nationale Identität den in New Orleans elf Italiener umge- den übernahmen Aufgaben des Sozial - entstand. Die katholischen Iren kamen als bracht, weil sie im Verdacht standen, der amtes und unterstützten die Gemeinde- sehr arme, sehr ungebildete Menschen, die Mafia anzugehören. 1844 kam es in Phila- mitglieder in Notsituationen. Sie halfen unfreundlich empfangen wurden. Sie ha- delphia zu Unruhen mit Toten, als das beim Umgang mit Heimweh und Trauer. ben schnell entschieden: Wir können nicht Gerücht umging, Iren hätten Waffen in Dabei kann auch heute jede Religion hel- zurück nach Irland. Gleichwohl blieben sie Kirchen gelagert und planten einen Auf- fen, die nicht fanatisiert ist. der Heimat verbunden. stand. SPIEGEL: Zurück zur Frage der Gewalt, SPIEGEL: Der zunehmend autokratisch re- SPIEGEL: Was störte die Amerikaner an denn die ging doch nicht nur von der Auf- gierende Präsident der Türkei, Recep den Iren oder Italienern? nahmegesellschaft aus. Tayyip Erdoğan, hat bei den vergangenen Hochgeschwender: Vor allem ihr Ka - Hochgeschwender: Tatsächlich ist Migra- Wahlen viele Stimmen von Deutschtürken tholizismus. Katholiken galten als Feinde tion mit Phänomenen wie Kleinkriminali- bekommen, was eine Debatte über die von Demokratie und Freiheit. Übrigens tät oder organisierter Kriminalität verbun- Loyalität von Migranten ausgelöst hat. auch die deutschen Katholiken, denen den. Es gibt praktisch keine Ethnie, die Hochgeschwender: Diese Ängste, jemand nachgesagt wurde, religiöse Fanatiker zu nicht eine Verbrecherorganisation hervor- sei nicht loyal, sind in einer Einwande- sein. Sie müssen in antikatholischen Tex- gebracht hat: den polnischen Mob, die ita- rungsgesellschaft normal. Nehmen Sie die ten des 19. Jahrhunderts nur das Wort lienische Mafia, die jüdische Kosher Nos- deutschen Einwanderer … »katholisch« durch »muslimisch« erset- tra, die chinesischen Triaden. Aber man SPIEGEL: … von denen mehr Amerikaner zen, und Sie haben die heutige antimus - sieht an den USA, dass selbst ein ver- abstammen als von jeder anderen Gruppe. limische Propaganda: Die Einwanderer gleichsweise schwacher Staat das verkraf- Hochgeschwender: Nach der Reichseini- seien illoyal und einer fremden Macht ver- tet. In Deutschland wird die Debatte oft gung 1871, als viele Deutsche kamen, war pflichtet – gemeint war damals der Papst, hysterisch geführt. Parallelgesellschaften, nicht klar, wo deren Loyalität lag. Viele ha- heute ist es der türkische Präsident Er- organisiertes Verbrechen, Kleinkriminali- ben Sedansfeiern durchgeführt, die schwarz- doğan. Sie wollten die Verfassungsord- tät – das muss alles bekämpft werden, aber weiß-roten Fahnen des Kaiserreichs vor den nung unter höhlen, sie rammelten wie die es bringt den Staat nicht um. Häusern gehisst, saßen in Biergärten und Karnickel, um mit ihren Nachkommen die SPIEGEL: Für Opfer von Kriminalität ist sangen »Die Wacht am Rhein«. Auf nahmegesellschaft zu überfluten. Das das ein nur kleiner Trost. SPIEGEL: Eine Provokation?

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 47 Auch das Tragen von Kopftüchern ist aus meiner Sicht kein Problem. Nicht jede Kopftuch tragende Türkin ist gleich unter- drückt. Das sind Scheindebatten, die füh- ren integratorisch zu nichts. SPIEGEL: Wovon hing denn in den USA der Erfolg der Integration ab? Hochgeschwender: Das Wichtigste war der Zustand des Arbeitsmarktes. Wenn dieser Migranten aufsog und die dort auf- steigen konnten, ohne dass die Gesell- schaft den Eindruck hatte: Unsere Armen und Zurückgebliebenen fallen noch weiter zurück, dann war in der Regel Zuwande- rung kein großes Problem. Wenn die Wirt- schaft schwächelte, machten die Gewerk- schaften bald Front gegen die Neuen. SPIEGEL: Unsere Erfahrung in Deutsch-

STEFAN SAHM / LAIF SAHM STEFAN land ist eine andere: Die Wirtschaft boomt, Steuben-Parade in New York 2008: »Dackel galten als urdeutsches Getier« trotzdem wird Zuwanderung von vielen als Problem wahrgenommen. Hochgeschwender: Weil die Menschen Hochgeschwender: Es wurde zumindest chen. Die haben sich trotzdem ganz gut den Eindruck haben, durch Globalisie- so wahrgenommen. Ich weiß nicht, ob es integriert. Großgruppen geben ja auch Zu- rungseffekte komme von dem ökonomi- auch so gemeint war oder sie einfach nur sammenhalt und Sicherheit, was bei der schen Wachstum bei ihnen nichts an. In leben wollten wie in der Heimat. Im Integration durchaus hilfreich sein kann. ihrer Imagination findet dieses Wachstum Ersten Weltkrieg eskalierte das Ganze. SPIEGEL: Wann würden Sie Integration überhaupt nicht statt. Was bleibt, ist der Zwar waren viele tatsächlich kaisertreu, als erfolgreich bezeichnen? neoliberale Diskurs: Ihr müsst total flexi- doch nur sehr wenige meldeten sich frei- Hochgeschwender: Wenn sich jemand in bel sein, und eure Arbeitsplätze sind per- willig in die deutsche Armee oder betei- erster Linie mit der Aufnahmegesellschaft manent bedroht. Das ist das, was die Men- ligten sich an Sabotageakten im Auftrag identifiziert, wenn er das dortige Verfas- schen verinnerlicht haben. des kaiserlichen Geheimdienstes. Aber sungssystem anerkennt, wenn er in das SPIEGEL: Wenn die USA heute Flüchtlinge diese Kaisertreue führte im Umfeld des politische System integriert ist, etwa in- aufnehmen, absolvieren diese einige kurze Kriegseintritts der USA 1917 zu Lynch- dem er einer Partei beitritt, und wenn er Kurse, sollen dann aber schnell arbeiten: morden an Deutschamerikanern. Es wur- die Sprache so spricht, dass er sich verstän- Regale einräumen im Supermarkt und an- den damals auch deutsche Dackel gestei- digen kann. Für mich heißt Integration dere Jobs, für die man kaum Englisch nigt, in St. Louis. braucht. Ist das ein Vorbild für uns? SPIEGEL: Das ist ein Scherz. Hochgeschwender: In den USA verlässt Hochgeschwender: Nein, Dackel galten man sich darauf, dass die Menschen genü- als urdeutsches Getier. Da sah man, dass »Moderne Gesellschaften gend Eigeninitiative aufbringen. Damit es mit der Integration der Deutschen in sind nicht so offen, sind die USA nicht schlecht gefahren im einer politischen Krisensituation nicht weit wie sie sich gern sehen, Laufe ihrer Geschichte. Migranten haben her war. dort oft ein stärkeres Gefühl der Selbstver- SPIEGEL: Wie lange dauerte es, bis die das betrifft auch uns.« antwortung. Bei uns würde es die Betei- Neuankömmlinge Englisch beherrschten? ligten überfordern, wenn wir das plötzlich Hochgeschwender: Das hing vom Umfeld so machten. In Deutschland hat man eher ab. Wenn Sie als Deutscher in Cincinnati nicht völlige Aufgabe der kulturellen Wur- diese Rundum-Unterstützungs-Mentalität, Over-the-Rhine lebten, das war ein deut- zeln oder Aufgabe der Religiosität oder die staatliche Fürsorge spielt eine wichtige scher Distrikt, gab es keine große Notwen- vorbehaltlose Akzeptanz von allem, was Rolle. digkeit, Englisch zu lernen. Wenn Sie aber in der Aufnahmegesellschaft ist. Natürlich SPIEGEL: Der Zugang zum amerikani- isoliert oder mit wenigen Deutschen zu- haben Migranten das Recht, die Aufnah- schen Arbeitsmarkt ist auch leichter, weil sammen in einer kleinen Gemeinde im megesellschaft zu kritisieren. er weniger reguliert ist. Mittelwesten lebten, dann lernten Sie SPIEGEL: Was kritisieren Sie denn an der Hochgeschwender: Ja, hierzulande müs- schnell Englisch. Das ist einfach eine Frage: deutschen Aufnahmegesellschaft? sen Mi granten lernen, dass sie Mindestan- Muss ich oder muss ich nicht? Hochgeschwender: Moderne Gesellschaf- forderungen erfüllen müssen. Wenn man SPIEGEL: Was bedeutet denn »schnell«? ten sind nicht so offen, wie sie sich gern se- es macht wie in den USA, hat das auch Hochgeschwender: Wir reden schon über hen, das betrifft auch unsere eigene. Nachteile. Ich weiß nicht, ob Sie mal einen zwei bis drei Generationen, das ist keine Einerseits gibt es Dinge, die nicht verhan- Handwerker in Washington bestellt haben, Sache von ein paar Jahren. delbar sind, die Grundordnung, an die man das ist meistens eine Katastrophe. SPIEGEL: Das klingt, als sollten wir heute sich halten muss. Und andererseits täte es SPIEGEL: Wenn Sie ein Fazit aus der ame- vermeiden, dass Migranten sich in großen uns gut, wenn wir bereit wären, bestimmte rikanischen Geschichte ziehen, wofür plä- national homogenen Gruppen ansiedeln? Reservatmentalitäten hinzunehmen. dieren Sie dann? Für Gelassenheit? Hochgeschwender: Da sind die Erfahrun- SPIEGEL: Was wären für Sie denn solche Hochgeschwender: Für das Wissen um gen aus den USA uneindeutig. Es gibt Reservate? die Schwierigkeit. Großgruppen, die sich zusammen angesie- Hochgeschwender: Es spricht nichts da- SPIEGEL: Herr Professor Hochgeschwen- delt haben: die Italiener, zum Teil die Iren gegen, wenn muslimische Gottesdienste der, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. in den Städten, zum Teil auch die Grie- auf Arabisch oder Türkisch stattfinden.

48 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Deutschland

Stefan Berg Influenza. Über Krisen, Krankheiten und Kriege. Und auch über Koalitionen. So finden wir in geteilter Erfahrung Trost oder schöpfen aus ihr Mut. Und so relativiert sich manches, was uns un- Wer jetzt allein ist überwindbar scheint, was wir viel größer machen, als es ist. Von Rilke kann hier deshalb nur exemplarisch die Rede sein. Was mir seine Zeilen wurden – Lebensbegleiter –, sind Betrachtung Herbst in der Natur, Herbst im anderen Textpassagen aus Goethes Faust oder ein liebens- werter heiterer Satz von Ringelnatz. Mir scheinen Rilkes Kanzleramt – wie ein Gedicht von Texte so eindringlich, als hätte sie kein Mensch geschrieben, Rainer Maria Rilke durch ungereimte Zeiten leitet als hätte der Dichter sie nur von weit her durchgereicht. Der Mensch ein Medium? Rilkes Reime stärken mein Immunsystem, an sie klam- mere ich mich in stürmischen Tagen wie diesen, wo nichts n diesem Herbsttag, an dem draußen die Blätter mehr zu gelten scheint und vieles zu Treibgut wird. A fallen und drinnen die Macht zerfällt, wirken die Wie oft ich seine Zeilen gelesen habe? Ich weiß es nicht. Worte Rainer Maria Rilkes wie ein Reim auf all Mir ist, als wären es schon meine Worte. das Ungereimte. Gerade schien sein Gedicht »Herbsttag« Ich möchte dich wiegen und kleinsingen und begleiten noch so zeitlos zu sein, und nun langt es, geschrieben schlafaus und schlafein … 1902, in einen Tag des Jahres 2018, an dem Angela Merkel Solche Worte weisen aus der Vergänglichkeit und alles aus den Händen zu gleiten, an dem ihr die Kanzler- der gelegentlichen Vergeblichkeit des täglichen Tuns, sie schaft so leicht und unweiger- zeigen etwas, worauf der lich abhandenzukommen Mensch keinen Anspruch scheint wie den Bäumen das hat, aber hoffen darf: auf Herbsttag Laub. Erlösung von Krankheit, Ein Herbsttag eben. Nach Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. auf Heil, auch da, wo es einem großen Sommer. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, keine Heilung gibt, auf Ver- Merkwürdig mutet es und auf den Fluren lass die Winde los. söhnung mit dem Unver- plötzlich an, dieses Gedicht Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein; söhnlichen, auf Frieden mit zu lesen, es zu sprechen gib ihnen noch zwei südlichere Tage, anderen und mit sich selbst. und es sprechen zu lassen. dränge sie zur Vollendung hin, und jage Viele von Rilkes Gedich- Wer jetzt allein ist, wird es die letzte Süße in den schweren Wein. ten haben einen Adressaten, lange bleiben Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Gott, der für ihn kein ferner Auf den Fluren lass die Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, Gott ist. Winde los wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben Du, Nachbar Gott, wenn Klingt dieser Text nicht und wird in den Alleen hin und her ich dich manches Mal in ein wenig wie ein Nachruf unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. langer Nacht mit hartem auf ihre Kanzlerschaft, jetzt, Klopfen störe, so ist’s, weil Rainer Maria Rilke wo es einsam wird um sie? ich dich selten atmen höre Wem wird sie lange Briefe und weiß: Du bist allein schreiben? im Saal. Und wird sie wandernd in Haben solche Zeilen et- den Alleen Ruhe finden? was in einem Nachrichten- Das kann wohl wirklich / DPA KUMM WOLFGANG Magazin verloren? Beginnt nur große Dichtung, zeitlos so die Flucht in Transzen - und aktuell zu sein. dente, ins Unpolitische? Waldspaziergang statt Wahl- Schon einmal ging es mir mit einem Gedicht von Rai- kampf? Innerlichkeit statt Debatte? Hier ließe sich auf ner Maria Rilke so, das ich erstmals mit 18 Jahren gelesen Gerhard Schröder verweisen, der als Kanzler Rilkes hatte. Als würde das unzählig mal Gelesene sich selbst »Herbsttag« auswendig rezitierte. Nie stand er im Ver- aufsagen, kam mir zu einer Eilmeldung im Fernsehen das dacht übertriebener Innerlichkeit. Gedicht »Der Panther« in den Sinn. Ich dachte an die Mich führen solche Texte nicht weg von dieser Welt in Verse über dessen müden Blick, als ob es tausend Stäbe ein Pseudoreich. Mir geben literarische Texte innere gebe. Und über dessen weichen Gang, der sich im aller- Sicherheit, jenseits von Polizei und Drohnen. Sie prägen kleinsten Kreise drehe … mein Bild vom Menschen, so wie es mein Christenglaube wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, tut. Gedichte sensibilisieren mich, sie machen mich in der betäubt ein großer Wille steht. hoffentlich hellhörig. Ich denke: Wer Gereimtes genießen Es war an einem Tag im Juni 2016, dem Tag, an dem kann, wird sich am Ungereimten stoßen. der Boxer Muhammad Ali, an Morbus Parkinson erkrankt Was für Herbsttage, in diesem September. Auf den wie ich, gestorben war. Ich fragte mich, welcher Kampf Fluren des Bundestags sind die Winde los. Und mancher der schwerste war in seinem Leben und in welcher Runde schafft es wohl nicht, ein Haus zu bauen. ich mich selbst befände und wie es um meinen Gang und Die neusten Nachrichten habe ich noch nicht gehört, meinen Blick bestellt sei und worum ich kreise. vermutlich sind es noch immer die von gestern, nur ein Ein Glück, dass es solche Texte gibt, Gedichte oder wenig anders formuliert. Psalme, die einen tragen, und die die Einsamkeit aufheben Ich stehe langsam auf, lese ganz langsam noch einmal können. Gott sei Dank gibt es davon so viele, ein Wärme- Rilkes »Herbsttag«. Ich stärke mich mit seinen Zeilen. strom durch die Jahrhunderte, hinfort über Inflation und Und ich bin sicher. Nicht nur die Blätter fallen. I

49 Gesellschaft

An Tag 127 im Terminal glaubte er, dass er bald kaputtgehen könne. ‣S.52

Früher war alles schlechter Nº 144: Elektroautos QUELLE: BLOOMBERG

2012: 2013: 2014: 2015: 2016: 2017: 3 6 13 23 29 39

In Norwegen betrug ihr Anteil Erstes an den Neuzulassungen* Halbjahr 2018: im Jahr 2010 erst 1 Prozent 47 Prozent *INKL. PLUG-IN-HYBRIDE

Von Ö zu E. In Palo Alto, Silicon Valley, fahren heute so viele E-Autos nicht nachhaltig. An einer Kreuzung weltwirtschaftlicher Teslas und andere Stromautos herum, dass man sich mit einem Entwicklungslinien befindet sich Norwegen. Das Land und sein Benziner irgendwie seltsam vorkommt. Ähnlich muss es sich in Reichtum sind auf Öl gebaut. Doch die Norweger verkaufen das US-Städten um 1900 angefühlt haben. Denn nicht nur die schmierige Zeug lieber an den Rest der Welt und treiben ihre Zukunft des Autos ist elektrisch, seine Vergangenheit war es eigenen Autos zunehmend mit Strom an. 2018 war fast jeder zwei- auch: Damals, als die Räder laufen lernten, hatten in den USA te in Norwegen verkaufte Wagen ein Elektrovehikel. Norwegen vier von zehn Autos einen Elektroantrieb (vier fuhren mit mag ein Sonderfall sein, weil es den Umstieg von Ö zu E mit An - Dampf, zwei mit Benzin). Dann schlug die Geschichte einen hun- reizen fördert, weil es über saubere Wasserkraft verfügt. Den- dertjährigen Irrweg ein, weil sich der deutsche Verbrennungs - noch: In Oslo oder Palo Alto zeigt sich, wie schnell man an einen motor durchsetzte. Konnte ja keiner wissen, dass man damit die Wendepunkt gelangen kann. Vielleicht wird es sich bald auch Umwelt kaputt macht. Erst seit Kurzem machen E-Autos wieder in Berlin oder Hamburg irgendwie seltsam anfühlen, das Kind mit Boden gut, ihr Absatz steigt derzeit exponentiell. Zugegeben, dem Benziner an der Schule abzusetzen. So, als würde man ein aufs Ganze gesehen ist der Anteil noch immer bescheiden, und Wählscheibentelefon aus der Jackentasche ziehen, während die dort, wo Strom aus Braunkohle gewonnen wird, sind auch anderen auf ihren Smart phones tippen. [email protected]

Berufe entweder nicht lange bleiben oder nicht Imagefilm heißt es: »Du magst es handfest. Was hat die deutsche die sind, die die Polizei haben möchte. Hast das Zeug zur Randaliererbremse.« Das SPIEGEL: Wer springt denn an auf so was? ist bewusst martialisch und lockt kleine Polizei mit »Miami Vice« Fischer: Die Kampagne spricht zwei Rambos an. Die Polizei braucht aber Mitar- zu tun, Herr Fischer? Typen an. Die einen sagen: So ist es also, beiter, die vor allem deeskalieren können. Polizist zu sein – wie bei »Miami Vice«, SPIEGEL: Der Slogan »Die Polizei – Karl Peter Fischer, 59, ist Professor für das ist ja geil. Das böse Erwachen kommt, dein Freund und Helfer« kann es aber Werbepsychologie an der Hochschule für sobald sie feststellen, dass man als Polizist auch nicht sein. angewandtes Management in Ismaning. schlecht bezahlt wird, Fischer: Er ist altba- dass die Work-Life- cken, aber ehrlich. SPIEGEL: Die Hamburger Polizei sucht Balance nicht stimmt. Die Hamburger Poli- Nachwuchs. Auf einem Werbeplakat sieht Die sind schnell wie- zei spricht von sich man zwei Polizisten, die in Shirt und mit der weg. selbst als »Cops«. Sonnenbrille im Boot über die Elbe düsen. SPIEGEL: Und der Diese Amerikanisie- Dazu der Spruch: »Baywatcher ist kein andere Typ? rung soll den Beruf Film, sondern Dein Beruf.« Geht’s noch? Fischer: Auf einem aufpimpen. Ich bin Fischer: Es sieht so aus, als hätte die Wer- anderen Plakat ist ein mir aber sicher, beagentur den Auftrag gehabt: Schaufelt Polizist mit Waffe im obwohl ich in Bayern uns die Leute rein, egal, wie! Kann gut Anschlag zu sehen, lebe, dass der Ham- sein, dass viele junge Menschen darauf dazu der Begriff HAMBURG POLIZEI burger keine Cops anspringen, aber ich befürchte, dass die »Zielsicher«. Im Werbeplakat der Polizei Hamburg haben will. MAG

50 Dänemark das Schengenabkommen umsetzte. »Jetzt schot- Eine Meldung und ihre Geschichte ten sie sich wieder ab.« Zuerst hätten die Dänen wegen der Flüchtlinge Grenzkontrollen eingeführt, weshalb er nun öfter im Stau stehe, wenn er die Kinder besuchen wolle. Jetzt der Sauerei Zaun. In einer Erklärung der Gemeindevertretung, die Pe- tersen ans dänische Umweltministerium weiterleiten ließ, schrieb er, der Zaun würde »die jahrzehntelangen Bemühun- Die Dänen bauen entlang der Grenze zu gen zur Überbrückung der deutsch-dänischen Grenze beein- Deutschland einen Zaun. Wen wollen trächtigen«. sie damit fernhalten: Mensch oder Tier? Claus Bruun Jørgensen steht auf seinem Hof in Gårdeby und schaut nach Süden, Richtung Deutschland. Er kennt die Kritik. Und hält sie für dummes Zeug. »Menschen, die unbe- ie Mutter aller Probleme ist die Migration, so sieht das dingt in unser Land wollen, schaffen das irgendwie.« Die kön- D auch Claus Bruun Jørgensen, dänischer Landwirt und ne man mit einem Zaun nicht stoppen. Wildschweine schon. Jäger aus Gårdeby, einer Siedlung, keine sieben Kilo- In Dänemark gilt das Wildschwein eigentlich seit gut hun- meter Luftlinie von der Grenze zu Deutschland entfernt. Der dert Jahren als ausgerottet. Die Phobie vor der Einwanderung Migrant, von dem er spricht, hat einen gedrungenen Körper, dieser Tiere rührt daher, dass von ihren domestizierten Nach- tagsüber versteckt er sich im Unterholz, nachts zieht er umher. fahren 12,73 Millionen Stück im Land leben, mehr als doppelt Seine Färbung variiert von Grau über verschiedene Braun- so viele wie Menschen. Jørgensen ist einer von gut 3000 töne bis zu tiefem Schwarz. In der Wissenschaft trägt der Mi- Schweinebauern, er besitzt 2300 Sauen, die unentwegt Nach- grant den Namen »Sus scrofa«. Das Wildschwein. wuchs produzieren: 70000 Ferkel verkauft Jørgensen im Jørgensen, 50 Jahre alt, läuft um zehn Uhr morgens über Jahr nach Deutschland, Italien, Rumänien. Wie viele seiner seinen Hof, trägt Gummistiefel und Blaumann und sagt, erst Kollegen befürchtet er, die Wildschweine könnten beim vor ein paar Tagen habe er Grenzübertritt die Afrikani- wieder eine Rotte gesichtet, die sche Schweinepest einschlep- rübergemacht habe aus Deutsch- pen, was für die dänische In- land: vier Tiere diesmal, Wild- dustrie ein Desaster wäre. schweine im zweiten Lebens- Und die Seuche rückt näher: jahr, die man, auch das noch, Von Georgien über Russland »Überläufer« nennt. Dänemark hat sie das Baltikum und Polen fährt eine Null-Toleranz-Politik erreicht. Belgien meldete die gegenüber Wildschweinen, die ersten Fälle. Jørgensen spricht sich über die Grenze wagen, je- von »schwarzen Regionen«. des Exemplar darf geschossen Kein Sattelzug, der aus einem werden. Zu ärgerlich, dass er der Länder anreist, darf bei ihm keine Flinte mit sich getragen an die Laderampe, ohne vorher habe, sagt Jørgensen. »Darum desinfiziert worden zu sein. ist der Zaun genau richtig.« »Von Polen aus ist das Wild-

Der Zaun. Um die Invasion CREATIVE SHUTTERSTOCK schwein bald in Brandenburg.« der Wildschweine aus Deutsch- Deutsch-dänisches Grenzgebiet Es sei nur eine Frage der Zeit, land zu verhindern, machen bis das Virus Dänemark errei- die Dänen die Grenze dicht. che. »Und dann schließen die Der »vildsvinehegn«, der Märkte, dann gehe ich pleite.« Wildschweinzaun, den man In Harrislee steigt Heinz sich vorstellen muss wie ein rie- Petersen in den Wagen und siges Stahlgitter, wird von der Von der Website Kn-online.de fährt an die Flensburger Förde, Nordsee bei Tønder bis zur zu einem Wanderweg, der am Ostsee bei Flensburg führen, 70 Kilometer lang, anderthalb Rande eines Naturschutzgebietes über die Grenze führt. Meter hoch. Weil Wildschweine exzellent graben und schwim- »Nächstes Jahr steht hier der olle Zaun«, sagt er, »und der men können, wird er auch 50 Zentimeter tief in die Erde ra- soll Menschen abschrecken, ganz klar.« Petersen meint, die gen und 30 Meter weit ins Meer. Baubeginn ist Anfang 2019. Dansk Folke parti führe Übles im Schilde; die rechtspopulis- Gut 20 Minuten sind es mit dem Auto von Jørgensens Hof tische Partei stützt die dänische Minderheitsregierung. auf die andere Seite der Grenze, bis zur deutschen Gemeinde Drei Jahre ist es her, dass Flüchtlinge, die über Deutschland Harrislee, wo Heinz Petersen wohnt. Er ist Bürgervorsteher eingereist waren, in Dänemark über die Autobahn marschier- und überzeugt, der Zaun solle in Wahrheit auch andere Ein- ten. 21000 Menschen beantragten damals Asyl. Seitdem tut dringlinge aufhalten, Flüchtlinge nämlich. Petersen ist 72 Jahre die Regierung alles, um das Land für Ausländer unattraktiv alt und Mitglied im Südschleswigschen Wählerverband, er ist zu machen: 89 Verschärfungen im Asyl- und Einwanderungs- mit einer Dänin verheiratet, seine Söhne leben in Dänemark. recht hat sie seither durchgesetzt. Petersen sagt: »Dänemark Sechs Jahre lang ist er zur See gefahren, Petersen kennt die hat seine liberale Seele verloren.« Welt. Für ihn ist der Zaun ein Symbol für Nationalismus. Vergangene Woche hat er eine Veranstaltung der zustän- Petersen sitzt zu Hause auf dem Sofa, grauer Vollbart und digen dänischen Behörde besucht. Petersen meldete sich zu eckige Brille, er sagt: »Bald haben wir in Europa drei Grenz- Wort und sagte, es sei zweifelhaft, dass der Zaun die Aus- zäune – im Westen in Spanien, im Osten in Ungarn und im breitung der Schweinepest hemme. Dann fragte er noch, wie Norden in Dänemark.« Den Gedanken findet er »furchtbar«. lange der Zaun überhaupt stehen bleiben solle. Die Antwort Er erinnert sich noch daran, wie er am Schlagbaum oben lautete: solange man sich bedroht fühle. Von wem genau, im Wald vor 17 Jahren mit den Nachbarn gefeiert hat, als erfuhr er nicht. Maik Großekathöfer

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 51 Flüchtling Hassan al-Kontar an seinem Schlafplatz am Flughafen in Malaysia Er ist zum Treibgut des Völkerrechts geworden, angespült in der Transitzone

52 Gesellschaft Holzklasse Schicksale Seit einem halben Jahr wohnt der Syrer Hassan al-Kontar auf dem Flughafen von Kuala Lumpur. Kein Land will ihn aufnehmen. Er lebt ohne Papiere an einem unwirklichen Ort und hofft auf ein Wunder. Von Jonathan Stock

nter einer Wolldecke, neben der jeder Name ein Bild im Kopf, ein Ziel für ja auch so ein Thema hier. Nicht ganz ein- Rolltreppe zu den internationa- die Menschen, die vorbeihasten, aber fach. Es gibt diesen Pappaufsteller bei der len Abfluggates sitzt er, seinen meist keine Zeit haben, ihn zu sehen. Er Passkontrolle, er zeigt eine Stewardess von U Air Asia, »Angelina« nennt Hassan sie, sei- Rucksack und den Rollkoffer mit achtet nicht mehr auf sie. ein paar Habseligkeiten neben sich, wie Hassan versteckt sich hier unter der ne Freundin. eine Barriere gegen die Welt. Es ist Mor- Treppe, in der dunkelsten Ecke des Termi- Hassan erhebt sich von seinem Lager, gen, aber im immer gleichen Neonlicht des nals, weil er eine Geschichte geworden streckt sich, die Morgenflieger sind gerade Terminals erkennt man den Morgen nur ist, in der er immer wieder die gleichen abgeflogen, nach Phuket und Labuan, ein am Rauschen der Abflugtafel. Er liest ein Gespräche führen muss, wenn Reisende paar Minuten Ruhe. Ein Follower auf Fa- Buch, er hat sich gerade weggeträumt, er ihn erkennen: Ach, er ist der Mann, der cebook hat ihm auf der Durchreise Instant- blickt auf, enttäuscht, dass der Traum vor- hier wohnt? Ja. Wo schläft er denn? Unter kaffee in kleinen Plastikbeuteln mitge- bei ist; müde braune Augen, die fahle Haut der Treppe. Und was isst er? Das Essen bracht, er hütet sie wie einen Schatz. Seine eines Mannes, der seit sechs Monaten an einer Airline, dreimal am Tag. O Gott! Ja, Freiheit endet 300 Meter den Gang hinun- einem Ort lebt, an dem es weder dunkel o Gott. Ist es nicht fürchterlich, im Flug- ter. Es ist der Weg zwischen den Flugstei- wird, noch die Sonne aufgeht, an dem kein hafen zu leben? Ja, ist es. Ist das überhaupt gen, an denen man ankommt, und der Wind weht und er nie Stille wahrnimmt. erlaubt? Ja, ist es. Und diese ständigen Passkontrolle, die schlechteste Ecke auf Hassan al-Kontar ist seit 189 Tagen ge- Durchsagen, die kein Mensch versteht? Ja, dem ganzen Flughafen, um dort zu woh- fangen auf dem Flughafen von Kuala Lum- die sind schlimm. Kennt er eigentlich die- nen. Kein Café, kein Buchladen, kein Im- pur, Malaysia, im nordwestlichen Flügel sen Film mit Tom Hanks, der auch im Flug- biss. Nur drei Handy stände und ein Schal- des Terminals 2, in der Transithalle der hafen lebt? Ja, kennt er. Der war lustig, ter für Transitpassagiere. Grauer Kunst- Billigairlines. Alle Ausgänge führen hier oder? Mmh. Und wo wäscht er sich? Auf stoffboden. Ein paar Neonlampen. Ein zu Grenzbeamten, die einen gültigen Pass der Behindertentoilette, da ist etwas mehr Fenster aufs Rollfeld. Und eine Durchsage. sehen wollen, ein Stück Papier, das die Platz. Warum fliegt er nicht einfach weg? Und noch eine Durchsage. Und noch eine Welt bedeutet. Hassan hat dieses Papier Nach Mexiko oder so? Weil das nicht geht, Durchsage. Den Himmel sieht man nur nicht. Sein Visum ist abgelaufen, kein ohne gültiges Visum. Wie lange muss er durch die Fenster, und für die Hölle ist es Land will ihn aufnehmen. Es gibt keinen hier noch bleiben? Vielleicht ein, zwei Jah- zu öde. Limbus, nannte Dante so einen Ausgang für ihn, keine Entscheidungen re. Das ist ja schrecklich. Ja. Dann noch Ort. Ein Ort zwischen den Orten. Ein mehr. Er lebt am Ende einer Sackgasse, einen schönen Tag. Bye-bye. Nichtort. alle Optionen sind Vergangenheit. »Win Neulich kam eine Flugbegleiterin, die Hassan steckt sich seine Zahnbürste ein, it all« steht auf der Wand gegenüber, Wer- er öfter sieht. Eigentlich fand er sie ganz schlurft an den Handyständen vorbei, bung für die Lotterie. Er hat kein Los. nett. Sie strahlte ihn an: »Hey! Ich kenne dann biegt er rechts ab, eine riesige Welt- Er deutet freundlich neben sich auf den dich doch aus den Nachrichten. Wie geht’s karte bedeckt hier die Wand, daneben Boden, weil man seine Gastfreundschaft dir?« Er flüchtet sich in solchen Momenten steht: »Willkommen zu Hause«. Hassan nicht einfach verliert, auch nicht an so ei- in Sarkasmus. »Du, mir geht es richtig muss jeden Morgen an ihr vorbei. Aus nem Ort. Gegenüber seinem Lager ist eine gut«, sagte er strahlend, »du glaubst gar einem kleinen Spender neben den Toilet- Überwachungskamera installiert, er steht nicht, wie schön das Leben ist!« – »Hängst ten kommt lauwarmes Wasser. Hassan pausenlos unter Beobachtung, die Polizei du immer noch am Flughafen fest?« – schüttet das Kaffeepulver in den Becher, schaut jeden Tag nach ihm. Er zieht die »Nee, sie haben mich schon rausgelassen, setzt sich auf eine Bank am Fenster des Decke enger um sich, die Klimaanlage aber ich bin gestern freiwillig wieder Flugsteigs. Sein Büro, so nennt er die Ecke. bläst kalte Luft durch das Terminal, jeden zurück gekommen.« – »Warum?« – »Ich Es gibt hier eine schmale Fensterbank vor Schritt hört man, wie in einer Kathedrale. habe die Bestuhlung vermisst.« Seitdem dem Rollfeld, manchmal drapiert Hassan »Es könnte schlechter sein«, sagt Hassan, lächelt die Flugbegleiterin nicht mehr, seine Bücher und sein Handy darauf, es und als sinne er noch ein wenig darüber wenn sie vorbeikommt, und Hassan ärgert sieht dann aus, als hätte er etwas zu tun. nach, ob die Worte merkwürdig klingen, sich ein wenig über sich selbst. Frauen sind Heute starrt er einfach nur nach draußen. fügt er schnell hinzu: »Kaffee?« Er lächelt. Die Sonne ist gerade aufgegangen, sie Mit seinem Bart, seinen Sandalen und sei- scheint auf die Ölpalmplantagen am Hori- nem Kapuzenpullover könnte man ihn für zont. Hassan erkennt von hier aus keine irgendeinen Hipster auf dem Weg nach Der Papp aufsteller zeigt Bäume, nur einen fahlen, grünen Streifen. Südostasien halten, nicht für einen Ob- eine Stewardess. Dahinter müsste das Meer liegen, aber er dachlosen, der sich auf der Herrentoilette »Angelina« nennt Hassan kann es nicht sehen. Es riecht nach nichts. die Haare schneidet und sich mit Papier- Seine Kindheit, so erzählt Hassan, duf- handtüchern das kalte Wasser vom Körper sie, seine Freundin. tete nach dem frischen Brot seiner Mutter, saugt. Melbourne, liest man auf der An- nach Weinblättern und Minze, nach Klö- zeigetafel, Jakarta, Singapur, Hongkong, ßen aus Bulgur, Hackfleisch und Zwiebeln,

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 53 Gesellschaft nach Kaffee, aber vor allem nach den werk über ihnen, in der Abflughalle, gibt Buchseiten aus der Bibliothek seines Va- es alles: McDonald’s, Starbucks, Medika- ters, der Geruch, den er am meisten liebte. mente, Bücher. Doch ohne Pass kommt Sein Vater las ihm Gedichte vor, russische Hassan dort nicht hin. Er hat versucht, bei Romane, Geschichtsbücher. Wie spannend den Putzleuten mal etwas anderes als Bur- die Welt ist, dachte Hassan. Nachts hörte ger zu bestellen, er zeigte ihnen Bilder auf er im Drusengebirge Wölfe heulen und seinem Handy, probierte es mit einem Hyänen schreien. Nach dem Studium Wörterbuch, aber sie haben ihn nicht ver- musste er sich entscheiden: Will er in Sy- standen oder wollten es nicht. Also immer rien bleiben, ein Amt in der Behörde über- Burger. Die kleinen Ketchup-Tüten dazu nehmen, Straßen bauen, Ingenieur wer- bewahrt er in seinem Rollkoffer auf, für den, wie sein Vater? Oder wählt er das schlechte Zeiten. Abenteuer und geht wie viele junge Syrer Hassan glaubt, wenn der Krieg nicht aus- zum Arbeiten nach Dubai, das Glück su- gebrochen wäre, würde er immer noch in chen? 2006, Hassan war 25 Jahre alt, und Dubai leben. Er würde Versicherungen ver- Syrien erschien ihm als ein zu friedliches, kaufen und in seinem roten Auto nach Hau- zu schönes Land. Ich bin bald zurück, sag- se zu seiner Familie fahren. Doch eine Ar- te er seinen Eltern. beitserlaubnis gab es nur mit gültigem Vi- Als der Flieger über dem Persischen sum, ein Visum nur mit gültigem Pass und Golf eindrehte, sah Hassan eine Stadt wie den Pass nur für den Militärdienst. Aber ein Versprechen, voll glitzernder Türme. warum sollte er seine Heimat zerstören? Er Jeden Morgen streifte er sich sein weißes beschloss zu warten. Der Krieg geht schon Hemd über, zog seine Krawatte an und vorbei, dachte er. Er verlor sein Visum, sei- ging in sein Büro, Versicherungen verkau- nen Job, seine Wohnung, er verkaufte sein fen. Abends ging er an die große Bucht Auto, seine Angel. Als in Syrien Gefechts- der Stadt, rauchte Wasserpfeife am Strand, köpfe mit Giftgas auf Wohnviertel geschos- holte sein Angelzeug heraus, sah den sen wurden, als Machthaber Baschar al- Mond und war glücklich. Er verliebte sich. Assad Aleppo bombardieren ließ, arbeitete Er kaufte sich ein rotes Auto. Er wollte in Hassan in der Sandwüste der Arabischen Dubai Karriere machen und eine Familie Halbinsel als Schwarzarbeiter, baute Solar- gründen. Das Leben ist gut zu mir, dachte anlagen auf, weit draußen vor der Stadt, wo er. 2011, Hassan war 29 Jahre alt, und in niemand Fragen stellte. Er schleppte Kabel Syrien begann der Krieg. Die Botschaft in durch den Sand, abends rollte er sich in sei- Dubai teilte ihm mit, dass nun die 21 Mo- nen Schlafsack und dachte an zu Hause. Als nate seines Militärdienstes beginnen wür- die Polizei ihn schließlich bei einer Kontrol- den. »Das ist nicht mein Leben«, sagt Has- le erwischte, war er fast dankbar. san heute. Sie schoben ihn nach Malaysia ab, dort Im Terminal in Kuala Lumpur tönt der bekommen Syrer ein Visum am Flughafen. letzte Aufruf für den Flug nach Hyderabad Als die syrische Armee Ende 2017 eine durch die Lautsprecher. Gepäck nicht un- neue Offensive eröffnete, rannte Hassan beaufsichtigt liegen lassen. Der Flugsteig Die kleinen Ketchup- in Malaysia von Imbiss zu Imbiss, um Ar- für Hongkong öffnet. Zeit für das Mittag- Tüten von McDonald’s beit als Küchenhilfe zu finden. Nach drei essen. Die ersten Monate hat Hassan sich Monaten lief auch dieses Visum ab; er am Transferschalter das Essen der Billig- bewahrt er auf, für kaufte ein Ticket nach Ecuador, doch die fluglinie Air Asia abgeholt, das gibt es für schlechte Zeiten. Airline ließ ihn nicht ins Flugzeug; er kauf- Reisende, die lange Wartezeiten haben. te ein Ticket nach Kambodscha, dort lie- Hühnchen mit Reis, eingeschweißt in klei- ßen sie ihn nicht ins Land und schickten ne Plastikpäckchen, bedeckt mit Alufolie. ihn zurück. In Malaysia kam er ohne gül- Er aß es zum Frühstück, zum Mittagessen tiges Visum nicht durch die Passkontrolle. und zum Abendessen. Irgendwann konnte Er war jetzt zum Treibgut des Völkerrechts er nicht mehr, seitdem besticht er ab und geworden, angespült in der Transitzone, zu die Putzkolonne. Er hat noch ein biss- im Schattenreich zwischen den Grenzen, chen Geld übrig, manchmal überweist ihm ein moderner Robinson Crusoe. eine kanadische Hilfsorganisation etwas, Nachmittag im Terminal. Der Flug nach Almosen von Durchreisenden nimmt er Malaysia wurde gestrichen. Ein halbes nicht an. Dutzend Stewardessen im roten Kostüm Im Gang vor den Flugsteigen findet er von Air Asia zieht mit seinen Rollköffer- jetzt einen schwarzhaarigen Mann in blau- chen vorüber. »Say yes to freedom« steht er Uniform. Sie sehen einander jeden Tag, hinter ihnen an der Wand. Hassan holt aber kennen ihre Namen nicht. Hassan eine Zigarette aus seiner linken Hosenta- überreicht ihm kleine Scheinchen, 16 ma- sche, geht in die letzte Herrentoilette, ganz laysische Ringgit, umgerechnet etwa drei nah an den Ventilator, dort schafft er es Euro. »Burger, Pepsi?«, fragt der Mann, es Gestrandeter Kontar zu rauchen, ohne dass Feueralarm ausge- sind die einzigen Worte, die er sagt. Er beim Haareschneiden, löst wird. Ein paar Minuten am Tag, die grinst. Er weiß, dass er Hassan das Wech- sein Blick aufs er allein verbringen kann, ein kleiner Akt selgeld nicht wiedergeben muss, weil Has- Rollfeld, mit Decke des Widerstands. Selbst nachts wecken ihn san von ihm abhängig ist. Nur ein Stock- manchmal Gestrandete, weil sie wissen

54 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 wollen, wo es Decken gibt. Neben dem Es war am dritten Tag, als er Absage Pissoir steht ein kleiner Topf mit einer für Absage kassierte, als die meisten, die künstlichen Pflanze, den Hassan seinen er angeschrieben hatte, gar nicht antwor- Garten nennt. Es ist das einzige Grün, das teten, als seine Mutter auch nicht mehr er im ganzen Terminal finden konnte. weiterwusste. Als er herausfand, dass Ganz vorsichtig streicht Hassan über die Malaysia als eines der wenigen Länder Blätter, lässt ein paar Tropfen Wasser in die Genfer Flüchtlingskonvention nicht die Handfläche laufen und begießt sie. Er unterzeichnet hatte, dass es also keine setzt sich wieder auf seine Bank vor den Möglichkeit für ihn gab, Asyl zu beantra- Flugsteigen und schaut den Maschinen gen, dass er auch kein Staatenloser war, beim Abheben zu. »Now everyone can weil es ja seinen Staat noch gab. Das war fly« steht in großen Lettern auf einem Flug- der Moment, in dem Hassan merkte, dass zeugrumpf, jetzt kann jeder fliegen. er hier feststecken würde; Wochen, Mo- Manchmal sieht er hier eine Schwalbe nate, vielleicht Jahre. Dass er Kaffee vorbeifliegen, dann freut er sich, und brauchte, Essen, eine Dusche, ein Bett, manchmal, wenn er nur so aus dem Fens- dass er sich einrichten musste in einem ter schaut, stellt er sich vor, er wäre einer ungewollten Zuhause. von ihnen, einer von diesen Passagieren, Später am Nachmittag, am Flugsteig, die nur kurz verschnaufen im Transit. Als schaut Hassan »Terminal«, einen Film, in wäre alles bloß ein schlimmer Traum. dem Tom Hanks »Viktor Navorski« spielt, Eine Putzfrau stellt sich neben ihn und aus dem erfundenen Staat Krakosien, der macht sehr laut ihr Telefon an, schaut auf dem New Yorker Flughafen gestrandet einen Actionfilm in voller Lautstärke. ist, weil in seinem Land der Bürgerkrieg »Könntest du das etwas leiser machen?«, ausgebrochen ist. »America closed«, sagt fragt Hassan. Die Putzfrau reagiert nicht. der Sicherheitschef des Flughafens zu Hassan seufzt. Es ist unklar, wie er das aus- »Tom Hanks weiß, Navorski. Es ist eine Parabel auf einen Hei- gehalten hat, mehr als ein halbes Jahr lang wie es ist«, sagt er, matlosen, in einer feindseligen Welt. Has- in einem Flughafen zu leben. Selbst in ei- san kennt alle guten Stellen, manche Pas- nem Gefängnis gibt es mal Hofgang. Er als wäre Hanks ein sagen kann er mitsprechen, er hat den Film muss in sich etwas gefunden haben, was Seelenverwandter. oft gesehen. »Tom Hanks weiß, wie es ist«, ihn unangreifbar macht. Ein Bild, das nicht sagt er, als wäre dieser sein Seelenverwand- kaputtgeht, wenn er die Augen schließt. ter, der nur ein paar Gates weiter schliefe. Er war elf Jahre alt, erzählt Hassan, er In dem Film gewinnt Navorski eine Menge saß unter den Olivenbäumen, die sein Va- Freunde, verliebt sich in eine Stewardess, ter gepflanzt hatte. Das Licht schien durch gespielt von Catherine Zeta-Jones, und be- die Blätter auf den roten Ackerboden, er siegt am Ende den bösen Sicherheitschef. hörte das Plätschern aus der Wasserpumpe Im Film ist der Flughafen ein Ort voller hinter sich. An jenem Morgen im Sommer Geheimnisse, Gefährten, Affären. Doch hatten sie frischen Kaffee gebrüht, sie tran- Hassan hat hier keine Catherine Zeta- ken ihn auf der Holzbank, als sein Vater Jones, er hat keine Freunde, er hat keine ihm ein Versprechen abnahm. »Egal was Shoppingmall und keinen Steven Spiel- passiert, verkauf nie den Hof, hörst du?« berg. »Dies ist die wahre Geschichte«, sagt Hassan schwieg, er dachte über eine Ant- er. Sein Leben ist kein Drehbuch. wort nach, die seinen Vater glücklich ma- Am fünften Tag im Terminal, beschloss chen könnte. »Für kein Gold der Welt«, Hassan deshalb, sich selbst zu helfen. Er sagte er schließlich, »ich verspreche es.« hatte nichts dabei, außer ein paar Socken Dann gingen sie auf das Feld, um zu arbei- und seinem Handy. Er meldete sich bei ten. Das ist das Bild, das kommt, wenn er Twitter an und schrieb: »My name is Has- die Augen schließt. san. I am from Syria.« Dazu tippt er die Am ersten Tag im Flughafen glaubte Hashtags »Love«, »War« und »Help«. Es Hassan, es würde jetzt ein paar Stunden folgten ihm am Anfang zwei Leute. Dann dauern, dann würde sich die Sache klären. ein paar Hundert, mittlerweile sind es mehr Es musste ja einen Ausweg geben. Er als 16000. An seinem 22. Tag schrieb er schrieb an alle Länder, die schon mal Syrer Tom Hanks, dass er sich allein fühle. Am aufgenommen haben, an Deutschland, 40. Tag im Terminal brachte ihm jemand den Sudan und die Türkei, er schrieb an eine zusammenklappbare Matratze vorbei. alle Fluggesellschaften, an die Uno und an Ein anderer besorgte einen Kaffeebecher, seine Mutter. Das müsste reichen, dachte ein Dritter Wechselklamotten, ein Vierter er und rollte sich in eine Flugzeugdecke. ein Handtuch. Eine kleine arabische Zei- Auf den Metallstühlen versuchte er, eine tung schrieb über ihn, dann der »Guar- bequeme Position zu finden, das funktio- dian«. Eine kanadische Hilfsorganisation nierte nicht, es wurde ihm egal, aber auch wurde auf ihn aufmerksam, die ihm einen nicht so richtig, und irgendwann, als die Obdachloser Kontar in seinem Job in einem Hotel in Vancouver besorgen Müdigkeit größer wurde als der Schmerz, »Büro«, am Gate, würde, falls er da mal hinkäme. Sie haben schlief er ein. Er wurde von einer Durch- beim Blutdruckmessen ein Visum für ihn beantragt, aber das dau- sage wach, dass man das Gepäck nicht un- ert ein bis zwei Jahre, meint Hassan. Es ist beaufsichtigt liegen lassen solle. gerade seine beste Option.

Fotos: Hassan Al-Kontar 55 Gesellschaft

An Tag 100 in der Transitzone bewarb ganzen Tag schneien, hofft er, er liebt Hassan sich für eine Marsmission der Nasa. Schnee, es wird wunderbar werden. Und An Tag 105 tanzte er auf den Gepäck- irgendwann, sagt Hassan, wird der Krieg wagen. An Tag 118 schrieb er einen Brief vorbei sein. Sein Vater ist gestorben, die an George R. R. Martin, den Autor von Olivenbäume auf dem Hof sind fast ver- »Game of Thrones«. Hassan wartet noch trocknet, aber kürzlich hat seine Familie auf eine Antwort von George R. R. Martin, die alte Pumpe wieder in Gang bekom- der Nasa und Tom Hanks, aber er weiß, men. Sie haben den Hof nicht verkauft. Ir- dass sie viel zu tun haben. An Tag 122 öff- gendwann, glaubt Hassan, wird er wieder nete die Putzfrau zum ersten Mal ein Fens- dort sein und von vorn anfangen. Er wird ter, frische Luft strömte ein. Ein großarti- sich auf die alte Bank setzen und wissen, ger Tag, schrieb Hassan. An Tag 127 glaub- dass er zu Hause ist, dass er das Verspre- te er, dass er bald kaputtgehen könne. An chen nicht gebrochen hat. Er ist bereit, da- Tag 128 feierte er seinen 37. Geburtstag. für noch zwei Jahre im Terminal zu leben Seine Familie schickt ihm »Happy Birth- und danach in einem kanadischen Hotel day« über WhatsApp. An Tag 143 drangen die Wäsche zu waschen. Deshalb ist er islamische Terroristen nachts in sein Hei- nicht kaputt zu kriegen. Deshalb ist jeder matdorf ein und ermordeten 258 der noch Kaffee, jede Zigarette, jede weitere Nacht, schlafenden Bewohner. An Tag 152 starb in der er nicht verrückt wird, ein Sieg. sein Cousin, der eine Kugel in den Kopf Jeder Kaffee, jede Es ist spät geworden, die letzten Nacht- bekommen hatte. An Tag 158 bekam er Zigarette, jede Nacht, flüge haben abgehoben, und trotzdem ein Kamel aus Wolle geschenkt, das er kommt der Flughafen nicht zur Ruhe. Miss Crimson nennt. An Tag 174 heiratete ohne verrückt zu Putzkolonnen ziehen durch die Gänge, die sein kleiner Bruder. Sie spielten ein Lied werden, ist ein Sieg. Rolltreppe knirscht über Hassans Kopf, für Hassan. An Tag 183 machte ihm eine manchmal sieht er Schatten an der Wand, Frau über Facebook einen Heiratsantrag. die an ihm vorbeigleiten. Selbst jetzt gibt An Tag 197, vergangene Woche, schrieb es noch Durchsagen, aber man versteht Hassan, er habe lange nachgedacht, was nur noch ein schrilles Rauschen. Ein La- er mal wieder schreiben könnte, und es chen hallt durch die Gänge, immer wieder falle ihm nichts ein. Er sei leer. Aber er dieselbe Frau, minutenlang. macht weiter. Hassan liegt unter seiner Flugzeug- Abend im Terminal. Die Putzfrau ist decke, eng an die Glasscheibe gepresst, die nach Hause gegangen. Letzter Aufruf für Schlafbrille, die er von einem Durchrei- den Flug nach Singapur. Der Verkäufer am senden bekommen hat, über die Augen ge- Handystand ist eingeschlafen. Unter sei- zogen. Er schnarcht etwas, immer wieder nem Arm leuchtet in pinken Buchstaben wacht er auf, niemand kann hier richtig der Schriftzug: »The world ist your net- schlafen. Er träume jede Nacht, erzählt er, work«. Hassan hat sich wieder in seine dass er wieder am Gate sei, dass irgendet- Ecke unter der Treppe gekauert, er wartet was passiere, dass er nicht durchkomme, auf einen Anruf, endlich klingelt es. dass er sie anflehe aufzuhören, ihn zu ja- »Mama«, sagt er. Er schluckt, er reißt sich gen, aber dass gerade, als er seinen Fuß in jetzt zusammen. Er hat ihr die ersten das Flugzeug setzen wolle, er wieder zu- 35 Tage nicht gesagt, dass er auf einem rückmüsse unter die knirschende Rolltrep- Flughafen festhängt, sie hat es aus den pe, in den Limbus. Nachrichten erfahren. »Mir geht es gut, Ein paar Schritte weiter arbeitet ein ma- Mama«, sagt er, »ich vermisse dich. Die laysischer Beamter an der Passkontrolle. Dinge bewegen sich, Gott sei Dank, bald, Er schaut freundlich. Als er nach Hassan ja, mach dir keine Sorgen!« Nach dem Ge- al-Kontar gefragt wird, blinzelt er und spräch sacken seine Schultern nach vorn, fragt: »Wer?« Kennt er wirklich Hassan er legt sich auf seine Matratze, starrt auf al-Kontar nicht, den Mann, der seit einem die Rolltreppe, scrollt auf seinem Handy halben Jahr unter dieser Treppe neben die Nachrichten durch, erlebt das Leben ihm wohnt? »Dies ist Terminal 2«, sagt der wieder nur durch das Display seines Tele- Mann. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Es fons. Er ist nicht da, aber auch nicht weg. ist so, als ob Hassan al-Kontar aus der »Lebende Leichname« nannte Hannah Welt gelöscht würde, als ob, wenn man Arendt, die aus Deutschland geflohene poli - ihn ignorierte, das Problem verschwände, tische Autorin, den Zustand der Staaten- Flüchtling Kontar als Kind (o. r.) mit Hassan immer kleiner würde und sich ir- losen. Hassan nennt es »nothing«, nichts. Mutter, Schwester um 1983, Stühle gendwann auflöste. Er will, wenn er frei ist, einfach ein we- als Schlafplatz, mit Putzkolonne Draußen scheint die Sonne. Die Luft ist nig durch die Straßen spazieren und sehen, schwül, in ein paar Wochen beginnt der wie das so ist. Er träumt davon, später ein- Monsun. Ein paar Schritte weiter hat je- mal mit einem Boot aufs Meer hinauszu- mand Orchideen angepflanzt, sie duften fahren und große, silbern glänzende Thun- Video-Interview nach Vanille. Die Transitzone ist verges- Wie leben Sie im fische zu fangen. Danach würde er sich in Flughafen, Hassan? sen. Es hat einen Stempeldruck gedauert, ein rotes Auto setzen und einmal ganz spiegel.de/sp402018gestrandet ein paar Sekunden an der Passkontrolle, Kanada durchqueren, von West nach Ost, oder in der App DER SPIEGEL eine Selbstverständlichkeit nur. dem Sonnenlauf entgegen. Es wird den

56 aber entschieden. Er ist mit Fania, der Tochter von Amos Oz verheiratet, dem Mann, der »Eine Geschichte von Liebe Kurz raus und Finsternis« geschrieben hat, ein Buch, in dem man leben kann wie in einem Haus. Leitkultur Alexander Osang über den Sinn Die Salzbergers gingen noch vorm Dessert, weil Fania Oz- Salzberger das Sukkot-Essen für die Familie vorbereiten deutscher Politikerreisen musste. Wir waren wieder unter uns. »Haste noch was drin?«, fragte der Bremer Bürgermeister den israelischen Kellner, der mit der Weinflasche vorbeilief. u den Reisephänomenen, die ich lange nicht begriffen Jetzt auf Deutsch. Z habe, zählen die riesigen ausgebuchten Kongresshotels, Am nächsten Morgen saß Dr. Sieling am Frühstückstisch die man in der amerikanischen Provinz findet, die Zahn- im Hotel in Haifa. Draußen 30 Grad, keine Wolke am arzttagungen in österreichischen Skiorten und die Ausflüge Himmel, aber die Nachrichten auf dem Handy waren nicht deutscher Lokalpolitiker in exotische Gegenden. In Israel gut. Die Große Koalition wackelte. Maaßen. Nahles. Merkel. kann man fast täglich einem deutschen Politiker begegnen. Seehofer. Vor ein paar Wochen sah ich in einer Benedikti- »Es ist ja eigentlich gut, dass man einen Regierungsbe- nerabtei in Jerusalem. Wenig später beobachtete ich eine amten nicht einfach so feuern kann, wenn er einem nicht Reise gruppe der Jungen Union beim Pflanzen eines Baumes passt«, sagte Sieling. »Wie woanders.« Er machte die »Zum in der Wüste. Vor ein paar Tagen traf ich den Bremer Bür- Beispiel in Trumps Amerika«-Geste, mit der man sich als germeister Dr. Carsten Sieling in der Cafeteria eines Museums deutscher Politiker gut trösten kann. Auf seinem Frühstücks- für japanische Kunst in Haifa, wo er sich einen Espresso holte. teller lagen kleine Salathäufchen, Dinge, die gesund aus - Es war die Zeit zwischen den jüdischen Feiertagen Jom Kip- sahen. Die Welt stand einen Moment still, aber seine Dele- pur und Sukkot, die Luft ist bleiern gation wartete schon draußen im wie bei uns zwischen Weihnachten Kleinbus vorm Hotel. und Neujahr. Es ging zu den Arabern. Um sich Warum kam er ausgerechnet ausgewogen zu verhalten, ergänzte jetzt? die Bremer Politik vor vielen Jah- »Es war dran«, sagte er. ren die Städtepartnerschaft mit Haifa ist Partnerstadt von Bre- Haifa durch eine Partnerschaft des men. Es gibt ein Filmfestival, auf Bremer Stadtteils Hemelingen mit dem gerade ein kleiner Bremer der israelischen Kleinstadt Tamra, Film lief. Es gibt ein paar Jubiläen wo vor allem Araber leben. Da fuh- und viele andere Gründe, die ren sie jetzt hin. Haifa war wie aus- deutsch-israelischen Beziehungen gestorben. Ab und zu sah man zu pflegen. Gerade erst hatte Sie- Menschen mit Palmzweigen auf ling von einem deutschen Gesand- dem Weg in die Synagoge. Sie fei- ten erfahren, dass der Abriss eines erten Sukkot, das Laubhüttenfest.

Beduinendorfes die anstehenden / DER SPIEGEL ALEXANDER OSANG Im Bus redete der Bürgermeister Regierungskonsultationen gefähr- Das Opfer einer Entführung? über die Industriestruktur von He- den könne. Es war Vormittag und melingen. Jacobs und Mercedes bereits 33 Grad heiß. Er zog das und so weiter und sofort. Jackett aus, setzte die Sonnenbrille auf. Seine Frau Alexia Je näher wir Tamra kamen, desto zäher wurde der Verkehr. trug ein buntes Sommerkleid, das sie in Bremen frühestens Jemand aus der Delegation erklärte, dass die Leute aus Angst in acht Monaten wieder aus dem Schrank holen kann. Ein vor Anschlägen den öffentlichen Transport mieden. Einheimischer erklärte die komplexe Bedeutung des Bedui- »Die Araber haben Angst vor Anschlägen?«, fragte die nendorfes für die Zukunft der Zweistaatenlösung. Die deut- Frau des Bürgermeisters. sche Diplomatie hatte mehrfach gegen den Abriss des Dorfes Dann betraten sie das Rathaus, wo Dr. Sieling in einer protestiert. Aber die Israelis wollten es dennoch tun. Gruppe einheimischer Politiker mit beeindruckenden Bäu- »Wie im Hambacher Forst«, fasste die Frau des Bremer chen Platz nahm. Er sagte ein paar freundliche Sätze, wäh- Bürgermeisters zusammen. rend das Licht eines Overheadprojektors auf seiner Stirn Ihr Mann wackelte mit dem Kopf. Ein Lächeln, zerbrech- tanzte. Dann redeten mehrere arabische Politiker, sie wurden lich wie Glas. Deutschland. Israel. Beduinen. Juden. Palästi- immer lauter, am Ende schrien sie. Es ging um die Politik nenser. Die SPD. Die Welt. Alexia. Netanyahus. Einmal sprang jemand auf den Konferenztisch, Ich wusste gleich, dass ich die Frau mochte. um den Overheadprojektor zu richten. Dr. Sieling wirkte Am Mittag, während eines Essens mit Fania Oz-Salzberger zwischen den Männern wie das Opfer eine Entführung. und ihrem Mann Eli, nach mehreren Gläsern Wein, zwischen SeineFraukichertedieganzeZeit,alswäresieaufKlassenfahrt. Fisch und Steak, pulte Alexia Sieling die CDs des Gast - Später, beim Essen mit Lehrern in einem libanesischen geschenkes aus dem Pappschober, um genau sagen zu können, Restaurant in Haifa, bat die Bremer Protokollchefin den Kell- was drauf ist. ner, das Menü abzukürzen. Ihr Chef finde keinen Draht mehr »Hör auf damit«, sagte ihr Mann. zu den Leuten. Dr. Sieling und seine Frau saßen wie ein er- »Nö«, sagte sie. schöpftes Königspaar im Präsidium der Tafel. Ein Königspaar Es waren Mahler und Beethoven, eingespielt von einem in der Fremde. Ich erkannte in ihren Gesichtern den Sinn Bremer Orchester. von Politikerreisen. Rauskommen. Kurz rauskommen. Mor- Fania Oz-Salzberger lächelte. Sie war ihrem schlauen Ehe- gens um drei Uhr sollte der Bürgermeister aus dem Hotel in mann Eli mehrfach in die Parade gefahren, als der versuchte, Haifa auschecken, um zur Sitzung der Bremischen Bürger- ihre Geschichten zu beenden. Salzberger ist Juraprofessor, schaft zu Hause zu sein. sein Hemd war weit aufgeknöpft, seine Haltung lächelnd, In ein paar Tagen soll die Kanzlerin kommen. I

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 57 Energie Es gibtabernoch einenbesonderen Opec, dieProduktion nichtzuerhöhen. Notierungen, ebenso dieAbsichtder gegen dasFörderland Iran treiben die antwortlich gemacht. DieUS-Sanktionen angespannte Lage amRohölmarkt ver - Für denAnstiegwird inerster Liniedie der Liter imBundesschnitt schon 78 Cent. rechnet zuBeginn derHeizperiode kostet 58 Heizöl teurer Trockenheit macht Heizöl wird seit Wochen teurer, ausge- unter fehlenden Lokführern; Züge müssen oft stehen, weil die Werkstatt mussten. DieGütersparte leidet besonders die Reparaturzentren verließen undkurzdarauf zurückin hatte esgroße Probleme mitICEsgegeben, diemitMängeln und fehlende Zuverlässigkeit derZüge zukontern. Zuletzt Strategie von Bahn-ChefRichard Lutz,umdieVerspätungen heißt esausKonzernkreisen. DasneuePersonal istTeil einer Mitarbeiter, auf204000 Deutschland wachse von 197000 bessere Wartung derZüge sorgen sollen. DieBelegschaft in darunter 1200Lokführer und1600 Instandhalter, diefüreine Menschen eineJobzusage erhalten,haben bereits 17000 das Unternehmen ausderKrise lenken. BisEndeAugust Der Bahn-Vorstand willmitTausenden neuenAngestellten Die Deutsche Bahnstockt Personal kräftig aufundrechnet mitdeutlichenLohnsteigerungen. Neuanfang mitneuenLeuten »Wer nichtszuverbergen hat, Wirtschaft Frachtkosten mitunter um mehralsdas Mitte inMannheim. AmRheinsinddie Verbands fürEnergiehandel Südwest- Hans-Jürgen Funke, Geschäftsführer des aufwendiger undteurer geworden«, sagt speziell entlangdesRheinssei »deutlich jahresmonat. DieVersorgung derLager nur einDrittel so vieleGüter wieimVor- transportierten dieFrachter imAugust werden. Auf demMain-Donau-Kanal die Tankschiffe können nichtvoll beladen der Nebenflüsse erheblichsinken lassen, Pegel von Rhein,MainundDonau ölpreise: Der trockene Sommerhatdie Grund fürdieRallye derdeutschen Heiz- Konzerne zu vermitteln, heißt esimBerliner Bahn-Tower. Ein vergleichbares Chaoswäre denKunden derzeit nurschwer mit Arbeitskämpfen wiebeiderletzten Lohnrunde2016. Alternative zumehrLohn.ImVorstand rechnet mannicht dern biszu7,5 Prozent undeinattraktives Freizeitmodell als Gehalt indennächsten zwei Jahren. DieGewerkschaften for- der Vorstand miteinerEinigungauf4,5bis5Prozent mehr verhandlungen mitdenLokführer-Gewerkschaften rechnet über Lohnsteigerungen freuen. Für dieanstehenden Tarif - Jahren indenRuhestand. DieneuenLokführer dürfen sich die Hälfte derBelegschaft wechselt indenkommenden zehn rund auch wegen derdemografischen Entwicklungnötig– die Fahrer Ruhezeiten einhalten müssen. Mehr Personal ist ist nichts.« ist ‣S. zwischen 190 und460Zentimetern. ren können, bedarfes einesWasserstands Damit Schiffe dort uneingeschränkt fah- fahrtsbehörden sogar darunter fallen. Woche wird ernachSchätzungderSchiff- 80-Zentimeter-Marke, Anfangkommender Rheins indieser Woche kaumüberder Koblenz undBingen lagderPegel des nicht entspannen.InKaubzwischen zu. DieSituationdürfte sichso schnell ten dieHeizölpreise umrund15Prozent drei Monaten nurwenig verteuerte, leg- Während sichRohöl indenvergangenen die Preise fürHeizöl nieder. DieFolge: Doppelte gestiegen, diesschlägt sichauf 68

BAZ, GT ARNO BURGI / DPA AJU Kartellverfahren Lkw-Konzernen drohen Greser & Lenz Milliardenkosten

Am Landgericht München beginnen am 14. November die ersten von meh- reren Schadensersatzprozessen gegen Mitglieder eines Lkw-Kartells. Geklagt hatten zwei mittelständische Spedi - tionen, vertreten von der Kanzlei Bub Gauweiler. Sie fordern knapp sieben Millionen Euro von den Lkw-Herstel- lern. Die EU-Kommission hatte 2016 Rekordbußen von 2,93 Milliarden Euro gegen Daimler, MAN, Iveco, DAF und Volvo/Renault wegen Preisabsprachen verhängt. Seitdem haben Tausende Firmen und Kommunen geklagt – sie machen geltend, wegen des Kartells zu hohe Preise gezahlt zu haben. Die For- derungen gehen in die Milliarden. Landgerichte in Hannover und Stutt- gart haben Klägern einen grundsätz - lichen Anspruch zugesprochen. MHS

Medien Fälschung. Im Juni twitterte Hürtgen, Hürtgen wird »Titanic«- Innenminister Horst Seehofer (CSU) habe das Unionsbündnis mit der CDU auf - Chefredakteur gekündigt; mehrere Medien übernahmen die Falschmeldung. Hürtgen folgt auf Tim Das Satiremagazin »Titanic« bekommt Wolff, 40, der den »Titanic«-Statuten ge - einen neuen Chefredakteur: Moritz mäß nach fünf Jahren abtritt. Er sei froh, Hürtgen, 29, bislang Redakteur, tritt das »ein gut bestelltes Feld verbrannt zu hin- Amt im Januar an. Hürtgen wurde dieses terlassen«, so Wolff. Hürtgen sagt, unter Jahr bekannt, als er »Bild« einen angeb - ihm solle »Titanic« das Magazin werden, lichen E-Mail-Wechsel zwischen Juso-Chef »das es mithilfe falscher und echter Fakten Kevin Kühnert und einem russischen sowie Fake-Vermutungen jedem er laubt, AKÜ THOMAS HINTNER THOMAS Informanten unterjubelte – eine »Titanic«- seine eigene Wahrheit zu finden«.

Samstagsfrage Warum laufen Facebook die Manager weg?

Facebook kommt nicht zur Ruhe. Noch sind die jüngs- sagte WhatsApp-Mitgründer Brian Acton dem Magazin ten Skandale nicht verdaut: der Datenabfluss an »Forbes«. Mit den vorherrschenden Geschäftsprakti- Cambridge Analytica, gezielte Desinformations- ken sei er »nicht unbedingt einverstanden«. Der Ex- kampagnen, lebensgefährliche Hetze gegen Min- Sicherheitschef ließ durchblicken, wie unzufrieden derheiten wie die Rohingya. Nun verliert Gründer er mit dem Krisenmanagement angesichts der Ein- Mark Zuckerberg immer mehr wichtige Führungs- fluss-Operationen im US-Wahlkampf ist. kräfte. Nie zuvor in der 14-jährigen Erfolgsge- Der Blick auf Facebook hat sich verändert, von schichte gab es einen ähnlichen Aderlass. In dieser innen wie außen. Zuckerberg musste sich in US- Woche wurde bekannt, dass die Gründer der Kon- Kongress und EU-Parlament verteidigen, seine Mit - zerntochter Instagram das Unternehmen verlassen. arbeiter ernten erstmals nicht nur Neid, sondern auch Zuvor hatten schon die Erfinder von WhatsApp ihm den Kritik. Parallel erhöht die Führung den Druck auf Whats- Rücken gekehrt – zumindest einer verzichtete dabei auf eine App und Instagram, mehr Geld aus den Diensten herauszuholen hohe dreistellige Millionensumme. Hinzu kommen mehr als ein und dafür eigene Werte aufzugeben. Ein Kurs, der nun viel kostet: halbes Dutzend Abgänge aus dem Führungszirkel von Facebook nämlich die Erfahrung und Kreativität der dortigen Gründergene - selbst, darunter langjährige Weggefährten Zuckerbergs. ration. Zuckerberg hatte sich für 2018 vorgenommen, Facebook in Einige sprechen unverblümt über ihre Motive. »Ich habe die Ordnung zu bringen. Wie es aussieht, wird er für das nächste Jahr Privatsphäre meiner Nutzer für einen größeren Zweck verkauft«, keinen neuen Vorsatz brauchen. Marcel Rosenbach

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 59 Wirtschaft Einmal China und zurück Globalisierung Die Industrie entdeckt Deutschland als Standort für Fabriken wieder. Jahrelang wanderten Produktion und Jobs massenhaft ins billige Ausland ab, nun kehrt sich der Trend um: Betriebe fertigen hierzulande – allerdings erledigen jetzt Roboter die Arbeit. ADIDAS ROLAND WEIHRAUCH / PICTURE ALLIANCE / DPA / PICTURE WEIHRAUCH ROLAND

Herstellung bei Adidas (o. l.), Gigaset (u. l.), Märklin (r.) Plötzlich rechnet sich »Made in Germany« wieder TIM WEGNER / DER SPIEGEL TIM WEGNER

60 olfrad Bächle ist Schwabe, das zehn Zentimeter lang, greift sich ein Ro- wenn auch nur einen Bruchteil der mehr ist hörbar. Er spricht »China« boterarm das Gussteil, rotierende Bürsten als 400 Millionen Paare, die der Sport- W mit einem »K«. Manchmal schleifen die Unebenheiten ab, Sensoren ausrüster im vergangenen Jahr ver- sagt der Manager aus Spaß erspüren den nötigen Anpressdruck. Dann kaufte. In der Ansbacher »Speedfacto- »Chinesien« – »Kinesien«. Das klingt dann dreht die Maschine den Kessel blitzschnell ry« fertigen 3-D-Drucker Kunststoffsoh- ein bisschen despektierlich. um, der nächste Grat wird weggefeilt. len, individuell an den Fuß angepasst, Bächle, 52, ist technischer Geschäftsfüh- Schneller als früher. Und günstiger. »Un- jeder Schuh wird dank Roboterhilfe rer von Märklin, dem Modellbahnherstel- schlagbar«, sagt Bächle. zum Unikat. ler aus Göppingen, seit 1990 arbeitet er Roboter können heute vieles erledigen, In solchen Hightech-Fabriken fallen Per- im Unternehmen. In der Zeit hat er viele was lange Zeit nur händisch gelang. Zu- sonalausgaben kaum ins Gewicht, sie ma- Erfahrungen mit der Volksrepublik ge- gleich werden die Maschinen von Jahr zu chen zuweilen weniger als fünf Prozent macht, es waren keine guten. Er formuliert Jahr erschwinglicher. Einen Roboterarm aller Kosten aus. Kein Wunder, dass es Un- es deutlicher: »China war eine klassische mit sechs Bewegungsachsen gibt es schon ternehmen leichterfällt, sich für den Hoch- Fehlentscheidung.« für unter 20000 Euro, deutlich weniger, lohnstandort zu entscheiden. Vor mehr als zehn Jahren hatten bei als ein Arbeiter einen Betrieb jährlich im Bosch errichtet sein neues Chipwerk Märklin Finanzinvestoren das Sagen, bes- Schnitt kostet. nicht irgendwo in Asien, sondern in Dres- ser bekannt als Heuschrecken. Sie gaben Plötzlich rechnet sich »Made in Ger - den: Mit einer Milliarde Euro ist es die forsch das Kommando »Go east« aus. Gro- many« wieder. größte Investition der Firmengeschichte. ße Teile der Produktion wurden von Göp- Auch die Tochter BSH-Hausgeräte expan- pingen nach China verlagert. Das drückte diert hierzulande: Sie hat zu Jahresbeginn die Personalkosten – doch dummerweise Produktionsverlagerungen im Werk Giengen eine neue, hochautoma- auch die Qualität. Bächle erlebte Anfang nach Branchen 2015, in Prozent tisierte Fertigungslinie in Betrieb genom- 2009 die schwärzeste Stunde seines Be- der befragten Unternehmen men. Die dort hergestellten Kühlschränke rufslebens, die Insolvenz. Rück- Produktions- liefert BSH bis nach China. Selbst die Tex- Vier Jahre später gelang mit Simba verlagerungen verlagerungen tilbranche, einst Pionier des Offshorings, Dickie, der Spielwarengruppe aus Fürth denkt darüber nach, sich aus Asien wieder (»Bobby Car«), der Neuanfang. Märklin Elektrische 4 zurückzuziehen. Ausrüstungen 24 holte die Fertigung wieder aus China zu- Laut einer Umfrage der Beratungsfirma 12 rück. Seitdem laufen die Geschäfte rund, Fahrzeugbau 18 McKinsey erwartet jeder dritte Einkaufs- jedoch grundsätzlich anders als zuvor: Der chef eines europäischen Bekleidungs - Chemische 6 Wandel lässt sich daran erkennen, wie bei 16 unternehmens, dass Automation den Trend Märklin heute Gussteile bearbeitet wer- Erzeugnisse, Pharma zum Reshoring verstärken wird. Begrün- den – und wo. 1 dung: Die Niedriglohnländer hätten ihr Maschinenbau 11 Bächle steht in einer Werkhalle, er Potenzial, Kosten zu senken, nahezu aus- DV-Geräte, nimmt den Kessel eines Dampflokmodells 6 geschöpft. elektronische und 10 aus einem Kasten, er streicht mit den Fin- optische Erzeugnisse Die Globalisierung verliert an Schwung – gern darüber. »Die Grate hier müssen 2 und diesmal sind nicht die Zölle und Sank- Metallerzeugnisse 7 weg«, sagt er. Als er bei Märklin anfing, tionen Donald Trumps schuld, auch wenn seien in Göppingen noch mehr als ein Dut- Gummi- und 2 der US-Präsident am Dienstag vor den 7 zend Leute damit beschäftigt gewesen, die Kunststoffwaren Vereinten Nationen erst wieder seine Ab- Unebenheiten abzuschleifen. Dann über- Holzwaren, 0 scheu vor der »Ideologie der Globalisie- nahmen Arbeiter in China die filigrane Papier, Pappe 6 rung« zum Ausdruck gebracht hat. Verant- Aufgabe. Nun werden die Überstände wie- 1 wortlich sind neue Hightech-Geräte. Sie Nahrungsmittel 1 Quelle: Erhebung der in der Firmenzentrale geglättet – je- Modernisierung bremsen die Dynamik im weltweiten Wa- doch nicht von Menschenhand: Ein Robo- Sonstige 3 der Produktion 2015, renhandel. ter erledigt den Job. 7 Fraunhofer ISI Die Entwicklung ist messbar. Karlsruher Einmal China und zurück: Das ist die Wissenschaftler befragen regelmäßig deut- Route, die Märklin mit seiner Produktion ‣ Erstmals seit dem Aus für das Bochumer sche Unternehmen danach, wo sie produ- gegangen ist und die nun auch andere deut- Nokia-Werk vor zehn Jahren werden er- zieren. Mittlerweile verlagern weit weni- sche Unternehmen einschlagen. Vor Jah- neut Mobiltelefone in Deutschland her- ger Betriebe Fertigung ins Ausland als vor ren verlagerten sie große Teile ihrer Ferti- gestellt. Gigaset, ehemals eine Siemens- 15 oder 20 Jahren, immer mehr aber holen gung nach Osteuropa und Asien, meist der Tochter, stellt das Modell »GS 185« in Kapazitäten zurück. Am aktivsten zeigten niedrigen Löhne wegen, ein Exodus der einer Fabrik in Bocholt her. Acht Mit- sich Unternehmen, die bei der Digitalisie- Wertschöpfung. Jetzt kehrt sich der Trend arbeiter betreuen eine Montagelinie. rung besonders fortgeschritten sind, stellen um, die Betriebe produzieren wieder in ‣ Bei Wilo, dem Weltmarktführer für Pum- die Forscher fest; hier bestehe »ein klarer, der Heimat. »Reshoring« nennen Ökono- pen, wurden zahlreiche Optionen für positiver Zusammenhang«. men, was hier geschieht, im Gegensatz einen neuen Standort hin und her ge- Diese Verbindung hat die Münchner zum »Offshoring«, der Auslandsverlage- rechnet, am Ende entschied sich das Ma- Ökonomin Dalia Marin genauer erforscht. rung früherer Tage. nagement gegen Polen oder Rumänien – Sie ist auf eine griffige Formel gekommen: Möglich macht dies der technische Fort- und für Dortmund, die westfälische Hei- Je mehr Roboter ein Industrieland einsetzt, schritt. Bislang kamen Roboter überwie- mat des Maschinenbauers. Gerade wur- umso seltener verlagern Unternehmen Fa- gend in der Großindustrie zum Einsatz, in de dort die Bodenplatte für die »Smart briken und umso eher holen sie Produk- Autofabriken schweißen und kleben sie seit Factory« gegossen, im kommenden Jahr tion wieder zurück. Jahrzehnten Teile zusammen. Nun dringen soll das Hundert-Millionen-Euro-Pro- Deutschland ist Roboterland, hier ist sie in die Werkstätten des Mittelstands vor. jekt fertig sein. die Dichte mit 31 Robotern pro 1000 Be- Wenn bei Märklin in Göppingen ein ‣ Adidas stellt nach mehr als 30 Jahren schäftigte vergleichsweise hoch, das Land Dampflokkessel zu bearbeiten ist, etwa wieder Schuhe in Deutschland her, steht weltweit auf Platz drei nach Süd -

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Motive für Rückverlagerungen 2015 in Prozent Sogenannte Cobots, kollaborative Roboter, lösen Aufgaben gewissermaßen Hand in 56 52 33 3115 11 5 Hand mit den Werktätigen. Bei Beyerdyna- mic, einem Kopfhörerhersteller aus Heil- zum Vergleich 43 bronn, haben drei Mitarbeiter damit zu tun, 2009 68 28* 32 13* 33 2 Membranen mit einer Dispersionsflüssigkeit zu beschichten. Früher mussten sie ungefähr 2000-mal am Tag dieselbe Bewegung aus- Flexibilität, Qualität Kapazitäts- Transport- Infra- Personal- Nähe zu führen, mal war der Strich dicker, mal dün- Lieferfähigkeit auslastung kosten struktur kosten heimischer ner. Jetzt helfen ihnen Cobots beim Auf- Forschung und *2012 Mehrfachnennungen möglich; Quelle: Erhebung Modernisierung der Produktion 2015, Fraunhofer ISI Entwicklung sprühen. Die Qualität schwanke nicht mehr, sagt der Geschäftsführer Edgar van Velzen, die Produktivität sei um die Hälfte gestiegen. korea (63) und Singapur (49). Die USA les, wozu früher Menschen da waren. Als Den Manager wundert es, dass Wett- belegen mit 19 Robotern nur den siebten Geschäftsführer Bächle vor 28 Jahren sei- bewerber in seiner Branche weiter in Asien Platz. Und in der Tat, dort kehren seltener ne Karriere begann, waren rund 1200 Leu- fertigen. »Da wird nur auf den Einkaufs- Unternehmen mit ihren Fabriken zurück te in der Produktion an der Stuttgarter preis geschaut«, meint Velzen. In Wahrheit ins Land, so eindringlich der Präsident sie Straße tätig. Heute sind es 140 Mitarbeiter, sei der Aufwand oft größer als gedacht. auch bittet – oder ihnen droht. sie überwachen die Maschinen. Roboterhersteller wie Universal Robots, Schon 2011 hätten deutsche Unterneh- Eines ist klar: Einen Jobboom wird der ABB oder Kuka profitieren davon, dass men nach Beobachtung von Expertin Ma- Reshoring-Trend in Deutschland kaum die Industrie ihre Werke digital aufrüstet. rin mit dem Reshoring begonnen. Als Re- auslösen. »Der einfache Fließbandarbeiter Kuka demonstriert in der Augsburger Zen- aktion auf die Finanzkrise hätten die Be- wird nicht mehr zurückkehren«, sagt trale, wie die Fabrik von morgen aussieht. triebe stark darin investiert, ihre Fabriken Klaus Prettner, Ökonom an der Universi- Darin navigieren Transportfahrzeuge zu automatisieren und zu vernetzen, so die tät Hohenheim. Prettner hat mit zwei Kol- autonom durch die Halle, sie befördern Professorin. »Ab einem bestimmten Punkt legen herausgefunden, was es für den Ar- ein Stück Blech zu einer Gruppe von vier lohnte es sich dann nicht mehr, Produktion beitsmarkt bedeutet, wenn Unternehmen Robotern, die stählernen Arme beugen in ein Billiglohnland zu verlagern.« mit der Produktion zurückkehren. sich über das Werkteil. Sie identifizieren Es ist nicht allein der Kostenvorteil, wes- Es entstünden fast ausschließlich höher das Teil – es trägt einen winzigen Sender – halb die deutsche Wirtschaft vor Jahrzehn- qualifizierte und besser bezahlte Stellen, und setzen die Schweißpunkte nach Vor- ten das Ausland als Produktionsstätte ent- lautet das Ergebnis. Einfache Tätigkeiten gabe an. In einer solchen Smart Factory deckt hat. Die Autoindustrie hat es auch blieben nur wenige übrig; in der Adidas- ließen sich auch kleinste Serien realisieren, nach Asien oder Amerika gezogen, weil Speedfactory gehöre beispielsweise das verspricht Kuka, ein Modellwechsel sei in dort ihre größten Wachstumsmärkte ent- Einfädeln der Schnürsenkel in die Ösen kürzester Zeit machbar. standen sind. Und wenn sich deutsche Un- dazu. So etwas beherrsche noch kein Ro- Solche Finessen flexibler Fertigung re- ternehmen heute aus China oder Osteuro- boter perfekt. lativieren zusätzlich den Kostenvorteil, pa verabschieden, dann liegt dies auch Reshoring trägt deshalb nach Ansicht mit dem Billigstandorte bislang gepunktet daran, dass sie Hindernisse unterschätzt Prettners dazu bei, dass die soziale Un- haben. China hatte das Glück, dass es die- haben: dass die Verständigung schwierig gleichheit im Land wächst. »Wir stehen sen Joker noch ausspielen konnte: Die ist, der Containertransport langwierig oder am Beginn dieser Entwicklung, nicht am Volksrepublik hat sich schon in den Neun- dass einfach die Qualität nicht stimmt. Ende«, warnt der Wissenschaftler. zigerjahren industrialisiert. Dieser Weg Und nun ziehen dort auch noch die Löh- Mitunter allerdings können sich Mensch bleibt anderen aufstrebenden Ländern ver- ne an. Immerhin lieferten niedrige Perso- und Maschine auch harmonisch ergänzen. sperrt, sie sind zu spät dran. Das gilt ins- nalkosten in den Neunzigerjahren das zen- besondere für Afrika. trale Argument, warum die Industrie sich Den Bürgern in den sogenannten Ent- in aller Welt engagierte. Als »Basarökono- wicklungsländern nützt es wenig, wenn mie« bezeichnete der Münchner Wirt- sie ihre Arbeitskraft für kleines Geld an- schaftsprofessor Hans-Werner Sinn seiner- bieten. Im Zweifel ist heute jeder Roboter zeit das Phänomen – und entzweite seine schneller, billiger, zuverlässiger, flexibler. Zunft darüber, ob Deutschland davon pro- Es böte sich jedoch ein Ausweg, wie die- fitierte oder darunter litt. se Länder noch Anschluss an die Weltwirt- Der Streit darum ist längst von der Rea- schaft finden könnten. Sie müssten sich lität überholt worden. Die Arbeiter in Chi- die Chancen der Automatisierung selbst na verdienen jedes Jahr im Schnitt fast zunutze machen. In Bangladesch verfol- zehn Prozent mehr, der Mindestlohn in gen Jeanshersteller eine solche Strategie. Shanghai erreicht bereits rumänisches Ni- Früher behandelten die Textilarbeiter veau. Und nun macht der Einsatz von Ma- die Jeans mit viel Wasser und Chemie, da- schinen die Kostenvorteile früherer Zeiten mit die Hosen ordentlich abgerockt aussa- vollends zunichte. Der Vormarsch der Ro- hen. Bis zu 20 Minuten dauerte es, den ge- boter macht den Basar obsolet. wünschten »Shabby Chic« zu erzeugen. Bei Märklin in Göppingen feilen Robo- Neuerdings übernimmt eine Maschine ter nicht nur die Grate von Dampflokmo- diese Aufgabe. Ein Laser brennt die Ge- dellen ab, sie befördern auch die Gussteile brauchsspuren in den Stoff, rund 90 Se- aus der Presse, fräsen die Oberfläche, be- kunden sind dafür nötig. Und kein Mensch drucken die Modelle, bohren winzige Lö- / DER SPIEGEL TIM WEGNER macht sich mehr die Hände schmutzig. cher in den Zinkkörper, bei manchen Loks Märklin-Chef Bächle Alexander Jung sind es mehr als 300 Stück. Sie tun fast al- »China war eine Fehlentscheidung«

62 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Unsere Initiative für den Mittelstand: individuelle Lösungen und Produkte.

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Finanzkrise Zehn Jahre nach der Pleite hat sich Islands Wirtschaft berappelt. Eine kleine Stadt im Norden der Insel ist ein Symbol dafür, wie nach dem Scheitern der Neuanfang gelingt.

enn Róbert Guðfinnsson sehen 35 Millionen Euro in Siglufjörður inves- jemand, der gern selbst die Richtung be- will, was er erreicht hat, fährt tiert. Er hat das marode Hafengelände sa- stimmt hat.« W er mit seinem kleinen Motor- niert und zwei Restaurants eröffnet, das Rückblende. Am 29. September 2008 boot auf den Fjord hinaus. Skigebiet modernisiert und einen Golf- verkündete der isländische Premier, dass Während ihm die Gischt ins Gesicht spritzt, platz gebaut. Für die Gestaltung seines Lu- die Glitnir-Bank, die drittgrößte, verstaat- deutet der 61-Jährige auf die Restaurants xushotels engagierte der Investor einen licht werde. Danach ging das Land zu Bo- am Hafen, das Hotel mit den weißen Gie- Filmkulissendesigner, damit es sich perfekt den wie ein Boxer nach einem Lucky beln, das moderne Fabrikgelände. Mein in die Landschaft fügt. Er hat eine Biotech- Punch. Die Folgen der internationalen Restaurant. Mein Hotel. Meine Fabrik. Das firma gegründet und insgesamt rund hun- Finanzkrise waren in Island so unmittelbar könnte er jetzt sagen. Doch er grinst nur. dert Arbeitsplätze geschaffen. zu spüren wie nirgends sonst in Europa. »Siglufjörður war eine Geisterstadt«, sagt Guðfinnssons Geschichte ist die eines Milliardenschwere faule Kredite platzten. Guðfinnsson, »ich wollte den Menschen Mannes, der in der Ferne reich wurde und Rein rechnerisch war jeder Isländer mit hier wieder eine Perspektive geben.« heimkehrte. Der seinem Heimatort neues mehr als 250000 Euro im Ausland ver- Mit Perspektiven ist es so eine Sache in Geld und neuen Mut brachte. Es ist die schuldet. 80 Prozent der isländischen Un- Siglufjörður. Es sind von hier nur noch Geschichte eines Isländers, der sich in der ternehmen und 30 Prozent der Privathaus- 40 Kilometer Luftlinie bis zum Nordpolar- größten Krise des Landes an seine Wurzeln halte waren Anfang 2009 de facto insolvent. kreis. Selbst für isländische Verhältnisse erinnert und anderen dabei geholfen hat, Die Menschen verloren quasi über Nacht liegt das Kaff am Ende der Welt. Manche sich auf die eigenen Stärken zu besinnen. ihr Geld, ihr Haus und ihren Job. Und vie- der 1200 Einwohner sagen, die hohen Ber- Das Meer, das Guðfinnsson vermögend le ihren Mut. ge umarmten den Ort. Andere sagen, sie gemacht hat, liefert ihm jede Menge Me- Zehn Jahre später hat sich Island zu- erdrückten ihn. Besonders im Winter, wenn taphern, um über sein Leben und seine rückgekämpft. Das Bankensystem gilt es hier fast 20 Stunden am Tag dunkel ist. Heimat zu sprechen. »Die meisten Men- inzwischen wieder als stabil, selbst im Róbert Guðfinnsson hat weltweit mit schen suchen in rauer See jemanden, der Fußball demonstrierte das Land zuletzt Fischfarmen ein Vermögen verdient. In ihnen vorausschwimmt und dem sie folgen ungeahnte Stärke. Das 350000-Einwoh- den vergangenen zehn Jahren hat er rund können«, sagt er. »Ich war schon immer ner-Eiland hat sich auf das besonnen, was

Touristen in Siglufjörður: Das Land ging zu Boden wie ein Boxer nach einem Lucky Punch

64 Fotos: Alexandra Frank / DER SPIEGEL es vor der Zockerzeit ausgemacht hat: das etwas, das ich selbst verstehe. Auch wenn Meer und die Menschen. Noch immer ist ich es mir lange erklären lassen muss.« die Fischerei für 38 Prozent der isländi- Sein jüngstes Investment sind Anti- schen Güterexporte verantwortlich. Der Aging-Kapseln auf Chitin-Basis. Die Nah- Tourismus verzeichnet Rekordumsätze. rungsergänzungsmittel sollen zum Beispiel Seit dem Jahr 2010 hat sich die Zahl der gegen Rheuma helfen. Guðfinnsson gibt Besucher vervierfacht – dank einer einzig- zu, dass es lange gedauert habe, bis er die artigen Natur, aber auch weil die Isländer Basis dieses Geschäfts verstanden habe. geborene Gastgeber sind. Und weil sie nie- Inzwischen kann er allerdings über Her- mals aufgeben. stellung, Verarbeitung und entzündungs- Siglufjörður liegt fünf Autostunden von hemmende Wirkung von Chitin-Inhalts- Reykjavík entfernt, immer weiter geht es stoffen dozieren, als hätte er Chemie stu- nach Norden, vorbei an Vulkankratern diert. Der Wirkstoff für seine Kapseln wird und Pferdekoppeln. Hier, am dunklen aus dem Chitin von Garnelenpanzern ge- Fjord, zwischen den moosgrünen Bergen, wonnen, einem Abfallprodukt der Shrimp- kann man das große isländische Wirt- Industrie. In Siglufjörður fällt der Rohstoff schaftswunder im Kleinen betrachten. tonnenweise an. Inzwischen arbeiten in Einer, den Róbert Guðfinnsson nach Si- seinem Hightechlabor Spezialisten aus glufjörður gelockt hat, ist Jón Garðar Stein- Investor Guðfinnsson sechs Nationen. grímsson. »Ich hätte nie gedacht, dass ich »Ich muss meiner Heimat helfen« Der Tourismus ist für ihn vor allem Mit- jemals nach Island zurückkehren würde«, tel zum Zweck. Er weiß, Spitzenkräfte wie sagt der Mann mit dem rötlichen Drei- Jón kann er nur in den Norden Islands lo- tagebart, »erst recht nicht nach Sigló.« durch die Nachbarschaft. Seine Frau macht cken, wenn die Bezahlung stimmt – und Wenn Steingrímsson über seine Rückkehr sich gerade als Personalberaterin selbst- die Lebensqualität. Jede Kneipe, jede Ga- spricht, schüttelt er den Kopf, als wundere ständig. Im Winter nutzt er die Mittags- lerie und jedes Museum ist für ihn daher er sich noch immer über sich selbst. Und pause auch mal zum Skifahren. auch eine Rekrutierungsmaßnahme. über die Überzeugungskraft von Róbert Der Ingenieur legt Wert darauf, dass es Guðfinnsson sieht Siglufjörður als »ein Guðfinnsson. hier zwar auf der Straße ruhig zugehe, strategisches Turn-around-Projekt«. Und Steingrímsson wurde vor 38 Jahren in nicht aber in seinem Job. »Ich habe jetzt er hätte wohl nie diesen Ort für seinen gro- Siglufjörður geboren, »aber früh habe ich eine anspruchsvollere Aufgabe, als ich sie ßen Plan gewählt, wenn er nicht hier ge- gemerkt, dass ich hier wegmuss. Weit weg. in diesem Alter in Berlin je bekommen hät- boren wäre. Mit Sentimentalität und Hei- Hier konnte man nur saufen«. Schon als te – und trotzdem mehr Zeit für meine Fa- matverbundenheit hat das nur in zweiter Gymnasiast verließ er sein Heimatstädt- milie oder meine Hobbys.« Linie zu tun. Viel wichtiger ist, dass der chen, er lernte Schiffsmechaniker, fuhr zur Herbst 2008. Als der isländische Pre- Investor deshalb einen entscheidenden See, studierte Maschinenbau in Reykjavík. mier verkündete, dass auch die anderen Faktor kannte, den ein Fremder niemals Im Jahr der Finanzkrise kam sein erster beiden großen Banken unter Zwangs- vermuten würde. Guðfinnsson sagt: »Ich Sohn zur Welt. Und Steingrímsson und sei- verwaltung gestellt würden, saß Róbert wusste, die Menschen hier haben das ne Frau beschlossen auszuwandern. »Die Guðfinnsson auf seiner Couch Potenzial dazu.« Und das Stimmung war nahe am Weltuntergang, vor dem Fernseher in Phoe- heißt vor allem: In Siglufjörður überall wurde massiv gespart«, erzählt er, nix im US-Bundesstaat Ari- weiß jeder, was es heißt, »also dachten wir: jetzt oder nie.« 2009 zona. Der Unternehmer Siglufjörður Akureyri zu fallen – und wieder auf- zog die junge Familie aus Island nach Ber- lebte in einer Villa in einem ISLAND zustehen. lin. Die deutsche Hauptstadt erschien ihm Golfplatzresort. Wer die Menschen in Si- hart und grob, erinnert sich der Isländer. Als Jugendlicher träumte Reykjavík glufjörður nach »der Krise« Die langen Wege zur Arbeit in der vollen Guðfinnsson davon, Fotograf zu fragt und danach, was sie mit ihnen U-Bahn, jeder Familienausflug erforderte werden. Doch mit Träumen ließ sich in und ihrer Stadt gemacht hat, der be- Planung. Der Umzug sei ein Kulturschock Siglufjörður in den Siebzigerjahren kein kommt statt einer Antwort meist eine Ge- gewesen, sagt Steingrímsson, »aber der Geld verdienen. Den ersten Job fand er, genfrage: »Welche Krise denn?« Die Stadt beste in meinem Leben«. wie viele seiner Landsleute, auf einem hat schon einmal erlebt, was dem ganzen Als dann vor vier Jahren sein Telefon Fischtrawler. Später studierte er Wirt- Land 2008 widerfahren ist: einen wirt- klingelte und Róbert Guðfinnsson ihm schaftswissenschaften, leitete das größte schaftlichen Höhenflug – und den unge- einen Job in Siglufjörður anbot, hielt er isländische Fischereiunternehmen. Mit bremsten Absturz. das zunächst für einen Scherz. Was sollte Fischfarmen in Mexiko, Chile, Kroatien Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich ihm dieses Nest schon bieten? Doch am und Japan baute er ein Vermögen auf. das abgelegene Örtchen zur Welthaupt- Ende überzeugte Guðfinnsson den Inge- Als Island in den internationalen Nach- stadt des Herings entwickelt. Die Fisch- nieur, als Betriebsleiter in seine Biotech- richten auftauchte, fasste der Selfmade- ströme vor der Küste spülten Menschen, firma Genís einzusteigen. Millionär auf der Couch einen Beschluss: Geld und Hoffnung in den Norden. Wäh- Sie sprachen über die Bezahlung, flexi- »Ich muss meiner Heimat helfen.« Und in rend der Fangsaison im Sommer lagen in ble Arbeitszeiten, die saubere Luft. Doch Siglufjörður wollte er damit anfangen. Siglufjörður mitunter mehr als 500 Schiffe die zwei wichtigsten Argumente, die für Guðfinnsson benutzt zwar gern gleichzeitig vor Anker, die Bevölkerung Island sprachen, waren: ein Karriere- schwülstige Meeres-Metaphern, doch wer wuchs auf bis zu 12000 Menschen an. sprung und die richtige Work-Life-Balance. das mit Gefühlsduselei verwechselt, Die Goldgräberstimmung zog Aben - Seit seiner Rückkehr nach Siglufjörður täuscht sich in dem alten Kapitän. teurer und Unternehmer aus ganz Europa hat sich Steingrímssons Leben gehörig ent- Guðfinnsson ist durch und durch Ge- an. Norweger, Schweden, Briten, Deutsche schleunigt. Zur Arbeit braucht er heute schäftsmann. Er wittert Chancen. Wenn suchten in den dunklen Gewässern ihr fünf Minuten, zu Fuß. Seine drei Kinder es um neue Geschäfte geht, gilt für ihn Glück. Zu Hochzeiten machte der Hering ziehen ohne Aufsicht mit ihren Freunden nur eine Regel: »Ich gebe nur Geld für aus Siglufjörður mehr als ein Drittel der

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isländischen Exporteinnahmen aus. Der Sahne und Meersalz. Auf der Terrasse hat Boom währte mehr als 60 Jahre. Doch die 53-Jährige Skulpturen aus ange- dann blieben die Heringsschwärme aus, schwemmtem Treibholz aufgeschichtet. mehr oder weniger über Nacht. Die Netze Das »Café Fríða« ist inzwischen fester waren leer, akute Überfischung. 1968 Bestandteil der lokalen Tourismusbranche, brach alles zusammen. Siglufjörður ver- die seit der Eröffnung von Guðfinnssons schwand wieder in der Bedeutungslosig- Hotel beständig wächst. »An vielen Orten keit, der Hafen und die Häuser verrotteten. fremdeln die Menschen mit den Touris- Wer konnte, kehrte dem Fjord für immer ten«, sagt Gylfadóttir, die selbst eine Zu- den Rücken. gezogene ist. Aber die Leute hier in

ALEXANDRA FRANK / DER SPIEGEL »Auch die Heringskrise vor 50 Jahren Siglufjörður seien offen, »das ist ein Erbe war eine von Menschen gemachte Krise«, der goldenen Heringsära, als hier ständig sagt Fríða Björk Gylfadóttir, »genau wie neue Menschen kamen und gingen«. die Finanzkrise 2008.« Wachstum ohne Noch immer ist die Fischindustrie für den Maß. »Wir spürten alle, dass das nicht gut Ort die wichtigste Einkommensquelle. gehen konnte.« Doch durch den Tourismus und durch die Die Frau mit der großen Hornbrille und neuen Einwohner, wandelt sich Siglufjör ður. der brüchigen Stimme betreibt das erste »Es herrscht eine Art Start-up-Stimmung«, richtige Café in Siglufjörður, das zugleich sagt Marteinn Brynjólfur Haraldsson. Und eine kleine Galerie ist. Die Toilette ist vom es seien keineswegs nur die jungen Leute, Boden bis zur Decke mit Mickymaus- die bereit seien, sich zu verändern, sagt der Comics beklebt und hat einen beliebten 34-Jährige, während er seine gegelten Haa- Selfiespot. re unter ein Haarnetz stopft. »Alle hier ha- Als die Finanzkrise begann, arbeitete ben Lust, dass etwas Neues beginnt.« Gylfadóttir bei der Íslandsbanki. »Die Leu- Haraldsson hat Informatik studiert, er te waren ängstlich, wütend, nervös. Nie- gehört wie Jón Garðar Steingrímsson, mand wusste, was passieren würde.« Gyl- der Ex-Berliner, zu den Rückkehrern. Als fadóttir war froh, im Backoffice der Bank Kind spielte er in den verrosteten Ruinen zu arbeiten und nicht vorn, im Schalter- Siglufjörðurs. Später zog er mit dem Ruck- raum, wo manche Kunden in Tränen aus- sack in die Welt hinaus. brachen. Und die Kollegen gleich mit. Vor zweieinhalb Jahren hat er hier wie- Als sie ihren Job bei der Bank verlor, der seine Zelte aufgeschlagen und in einer sei das ein Schock gewesen. Aber Gylfa- verlassenen Fischfabrik eine kleine Braue- Das Wunder von dóttir nutzte den Schicksalsschlag, um sich rei eröffnet. Wo früher Kabeljau und Heil- ihren wahren Passionen zu widmen: Kunst butt verarbeitet wurden, wird heute in Siglufjörður und Pralinen. Sie besuchte einen Choco- glänzenden Edelstahlkesseln mit isländi- latierkurs in Belgien, dann eröffnete sie in schem Quellwasser nach deutschem Rein- »Ich muss meiner Heimat helfen«, beschloss ihrem ehemaligen Atelier ein Café. Heute heitsgebot gebraut. Die Einrichtung stellt der Unternehmer Róbert Guðfinnsson im ist sie Chefin von sechs Mitarbeiterinnen. jede Hipster-Kneipe in den Schatten. »Se- Herbst 2008, als Islands Wirtschaft im Zuge Gylfadóttirs Kreationen sind so ungewöhn- gull 67« heißt Haraldssons Geschäft, seine der globalen Finanzkrise zusammenbrach. lich wie ihr Lebenslauf: Für die »Kokku- Hausmarke schmeckt herb, aber leicht, In seinem Heimatdorf Siglufjör ður, einem rinn«-Praline kombiniert sie Blauschim- »das Wasser macht den Unterschied«. Als Fischerdorf am nördlichen Polarkreis, wollte melkäse und Rum mit weißer Schokolade, Nächstes will er sich an Gin versuchen, ku- er damit anfangen. Denn die Menschen dort wissen, wie das geht: hinfallen und wieder aufstehen. Die kleine Gemeinde galt Anfang des 20. Jahrhunderts als »Welthaupt- stadt des Herings«. Doch dem wirtschaft - lichen Boom folgte 1968 der totale Absturz, Siglufjörður glich einer Geisterstadt. Heute gibt es hier eine Biotechfirma, ein Luxushotel und einen Golfplatz. Eine Geschichte über den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Islands und die Vision eines Unternehmers, für den ein Dorf am Ende der Welt erst der Anfang ist.

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»Wir dürfen nicht JETZT DIGITAL LESEN Ingenieur Steingrímsson, Cafébetreiberin Gylfadóttir, Brauer Haraldsson:

66 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Flexibel bleiben: Lesen Sie den riose isländische Kräuter wachsen in den Bergen rund um Siglufjörður zuhauf. Die meisten Menschen im Ort, sagt Haralds- SPIEGEL, solange Sie möchten! son, seien einfach nur stolz darauf, wie sich Island, wie sich Siglufjörður in den vergangenen Jahren entwickelt habe. Das Wichtigste aber sei jetzt, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und mehrere Geschäftsfelder zu bespielen. »Wir dürfen nicht mehr nur auf eine Einkommensquel- le setzen.« Das habe das Land, das habe den Ort schon mehr als einmal zu Fall ge- bracht. Das heißt auch: Siglufjörður darf sich nicht nur auf Guðfinnsson verlassen. Der Gönner selbst sieht das auch so. »Eine starke Stadt braucht eine starke Mit- telschicht«, sagt Guðfinnsson. Er habe vie- les angeschoben, »aber jetzt wünsche ich mir, dass die Leute ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen«. Ein paar Ideen für den Ort hat der In- vestor aber noch. Ein Spa etwa oder einen Campingplatz mit Uferpromenade. Oder Keine einen großen Abenteuerspielplatz. Auf letzteren hat ihn eine seiner Töchter Mindest- gebracht. Sie arbeitete jahrelang in London und für Siemens in München. Im März laufzeit 2017 ist die 39-Jährige mit ihrem dreijähri- gen Sohn zurückgekehrt. In ein Island, das wirtschaftlich wieder eine Perspektive hat. In die kleine Stadt am Ende der Welt, die das wie keine andere verkörpert. Es sieht ganz so aus, als würde Róbert Guðfinnssons Plan für Siglufjörður auf - gehen. Alexandra Frank, Simone Salden Mail: [email protected]

Visual Story Das Wunder von Siglufjörður spiegel.de/sp402018island oder in der App DER SPIEGEL

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040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215) Schwarz,Rosenzweig Hamburg & 67 Wirtschaft »Es gibt eine unerträgliche Sehnsucht in vielen von uns«

SPIEGEL-Gespräch Die Industrie des 19. und 20. Jahrhunderts beutete die Umwelt aus. Die neue digitale Wirtschaft sei noch gefährlicher, meint die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff, der Überwachungskapitalismus zerstöre die innere Natur des Menschen.

Zuboff, 66, emeritierte Professorin der Har- Wahlbetrug, Privatsphäre, Filterblasen. Zuboff: Dafür brauche ich im Buch mehre- vard Business School, ist eine der profilier- Fühlen Sie sich bestätigt? re Kapitel! Aber für die Zwecke dieses Ge- testen Analytikerinnen der digitalen Mo- Zuboff: Ich bin froh, dass das Problem brei- sprächs, ganz kurz: Der Überwachungska- derne. In ihrem neuen Werk »Das Zeitalter ter ins Bewusstsein rückt. Aber ich glaube, pitalismus ist eine Mutation des modernen des Überwachungskapitalismus«, das am die Öffentlichkeit nimmt gerade einmal die Kapitalismus. Sein Rohstoff sind Daten, die 4. Oktober auf Deutsch erscheint, stellt sie Symptome des Überwachungskapitalismus aus der Überwachung von menschlichem die Frage, ob es in der Welt der Hightech- wahr, ohne seine wahre Natur zu verstehen. Verhalten gewonnen werden. Diese Daten, Giganten und der intelligenten Maschinen Ich vergleiche unseren heutigen naiven Um- wie sich jemand verhält, verwandelt er in überhaupt noch eine Heimat für den Men- gang mit digitalen Technologien gern mit der Prognosen, wie sich jemand verhalten schen geben kann*. Art, wie die amerikanischen Ureinwohner wird – und diese Prognosen werden in neu- die spanischen Eroberer willkommen gehei- en Märkten verkauft. Der Überwachungs- SPIEGEL: Frau Zuboff, Sie widmen Ihr ßen haben. Diese Menschen hatten keine kapitalismus hat seine Wurzeln im digitalen Buch, unter anderen, dem verstorbenen Chance, die Bedeutung der Ankunft einer Milieu und dominiert dieses heute. Er stieg Herausgeber der »Frankfurter Allgemei- neuen Macht zu erahnen, die ihre spätere Un - zur Dominanz auf, weil er den ersten effi- nen«, Frank Schirrmacher, mit dem Sie terwerfung mit sich brachte. So sehr ich den zienten Weg zur Online-Monetarisierung eine intellektuelle Freundschaft verband. eröffnete, da er Investitionen schnell und Wie kam es dazu? zuverlässig in Kapital umwandelt. Zuboff: Ach, Frank! Es begann mit einer SPIEGEL: Den meisten Menschen dürfte Nachricht, die er mir schrieb, das muss 2011 »Wir sind den nicht deutlich sein, dass sie zum Rohstoff gewesen sein. Er sagte, dass er auf mein Buch gierigen Blicken der Wirtschaft werden. »In the Age of the Smart Machine« (»Im unserer Überwacher Zuboff: Aber es ist ihnen heute zumindest Zeitalter der intelligenten Maschine«) gesto- viel eher deutlich als vor sieben Jahren, ßen sei. Es war 23 Jahre zuvor erschienen, ausgeliefert.« als ich mit der Arbeit an diesem Buch be- und er meinte, das Buch habe so viele künf- gann. Die Menschen beginnen zu verste- tige Entwicklungen vorhergesehen – wie mir hen, dass ihre Privatsphäre nirgends ak- das bloß gelungen sei. Ich hatte seinen Na- neuen kritischen Geist gegenüber Facebook, zeptiert wird, dass alles, was sie online men noch nie gehört. Aber ich antwortete, Google und anderen begrüße – ich glaube schreiben, suchen oder klicken, zu Daten und so begann unsere jahrelange Korrespon- nicht, dass wir als Gesellschaft schon viel wei- wird, die von anderen genutzt werden. Ge- denz aus Fragen, Antworten und Gedanken. ter sind als damals die Indianer am Strand. rade lesen wir in den Nachrichten, dass Wir schrieben uns fast jeden Tag, manchmal SPIEGEL: Um in Ihrem Bild zu bleiben: der Mobilfunkbetreiber Verizon ein paar ging es 20-mal hin und her. Er antwortete Die Tech-Giganten sind die Eroberer? Hundert Millionen E-Mail-Konten seiner immer sofort, auch nachts. Ich vermisse ihn. Zuboff: Sie sind die Pioniere. Der Über- zugekauften Töchter Yahoo und AOL nach SPIEGEL: Wenn Sie die Nachrichten ver- wachungskapitalismus ist jedoch nicht zu Daten durchsucht, um sie Werbetreiben- folgen, denken Sie doch bestimmt: »Seht verwechseln mit den einzelnen Technolo- den zu verkaufen. Wir sind den gierigen ihr, ich hab’s doch schon immer gesagt.« gien oder Unternehmen, derer er sich be- Blicken unserer Überwacher ausgeliefert. Zuboff: So bin ich nicht. Aber, ja, Anlass dient. So verharmlost man ihn. Die Symp- SPIEGEL: Es gibt durchaus Wege, sich zu dazu gäbe es. tome, die uns jetzt bewusst werden, sind schützen. SPIEGEL: Tatsächlich haben Sie schon zu nur die logischen Konsequenzen einer voll- Zuboff: Sie meinen durch sichere Browser einer Zeit vor den Gefahren der digitalen kommen neuartigen Form des Kapitalis- und dergleichen? Aber wie viele Leute ma- Ökonomie gewarnt, als noch niemand von mus. Es geht um eine neue Logik der Ak- chen das? Nahezu unsere gesamte soziale Big Data sprach und Facebook nicht ein- kumulation, um neue Mechanismen des und berufliche Interaktion heutzutage mal existierte. Heute drehen sich die De- Marktes. Diese Logik hat mit Google und zwingt uns dazu, Onlinekanäle zu nutzen. batten um Datenmissbrauch, Fake News, später Facebook begonnen, aber sie brei- Sich ihnen zu entziehen ist nahezu unmög- tet sich auf die gesamte Ökonomie aus. lich geworden, und wer es doch tut, gerät SPIEGEL: »Überwachungskapitalismus« ins gesellschaftliche Abseits. Und wer sich, * Shoshana Zuboff: »Das Zeitalter des Überwachungs- kapitalismus«. Campus; 715 Seiten; 29,95 Euro. ist der Kernbegriff Ihres Denkens. Erklä- mit viel Aufwand, unsichtbar macht on- Das Gespräch führte der Redakteur Guido Mingels. ren Sie ihn bitte. line, wer anonymisierende Technologien

68 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 nutzt, um sich selbst zu tarnen, der ver- steckt sich quasi in seinem eigenen Leben. Ich empfinde das als unmenschlich. SPIEGEL: Wer sind die Agenten dieses »Überwachungskapitalismus«? Zuboff: Die gibt es nicht. Es gibt jedenfalls nicht irgendwo einen Haufen böser Leute, die man identifizieren und stoppen könnte. Es sind die ökonomischen Prinzipien des Überwachungskapitalismus, die ihn so ge- fährlich machen. Ein Prinzip lautet: Ent- ziehe den menschlichen Erfahrungen so viele Verhaltensdaten wie möglich. Wir werden ausgesaugt. Der Überwachungs- kapitalismus, seiner inneren Logik folgend, muss immer tiefer in unser Alltagsleben, unsere Persönlichkeit, unsere Emotionen eindringen, um unser künftiges Verhalten vorhersagen zu können. Denn aus diesem Wissen schlägt er seinen Profit. SPIEGEL: Sie glauben, bei den Menschen heutzutage ein universelles Gefühl der existenziellen Heimatlosigkeit auszuma- chen, ausgelöst durch die technologischen Disruptionen des 21. Jahrhunderts. Wo be- obachten Sie das? Zuboff: Überall, in vielen Gesprächen, aus meiner Lektüre. Es gibt eine unerträgliche Sehnsucht in vielen von uns. Viele Men- schen haben den Eindruck, dass sie wäh- rend dieser rasenden Veränderungen die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Dass sie ihren Kindern nicht mehr dieselbe Welt zeigen und erlebbar machen können, in der sie selbst aufgewachsen sind, dass sie ihnen den Weg in die Zukunft nicht mehr weisen können. Solche Aussagen hat man in den USA immer wieder von Anhängern der Tea-Party-Bewegung oder von Trump- Wählern gehört. Aus dem Unbehagen wird bei vielen Bitterkeit und Wut. SPIEGEL: Sie vergleichen den Überwa- chungskapitalismus in seiner Bedeutung mit der industriellen Revolution … Zuboff: … um dabei aber vor allem die ka- tegoriellen Unterschiede zu betonen. SPIEGEL: Richtig. Und diese wären? Zuboff: Der industrielle Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die damaligen Bevölkerungen waren wechsel- seitig abhängig voneinander. Die Men- schen waren Arbeitskräfte und Kunden dieses Systems. Insofern war der Industrie- kapitalismus – bei all seinen Gräueln – doch ein Kapitalismus für uns. Im Über- wachungskapitalismus dagegen sind wir kaum noch Kunden und Angestellte, son- dern in erster Linie Informationsquellen, Datenmaterial eines Apparats, dessen Funktionsweisen uns weitgehend verbor- gen bleiben. Es ist kein Kapitalismus für über uns. MICHAEL D. WILSON / DER SPIEGEL WILSON MICHAEL D. uns, sondern Er beobachtet uns, Autorin Zuboff: Den Kindern nicht mehr dieselbe Welt zeigen können um seine Produkte zu entwickeln. SPIEGEL: Die wir dann wiederum kaufen – insofern sind wir doch seine Kunden. Zuboff: Nur am Rande. Die Dienstleistun- gen des Überwachungskapitalismus beste-

69 Nächste Woche Wirtschaft im SPIEGEL: hen aus datenbasierten Vorhersagen über Zuboff: Mir geht es darum, die Probleme unser Verhalten, die dann an andere Un- zu benennen, das ist eine Voraussetzung ternehmen verkauft werden; an Werbe- dafür, sie zu bekämpfen. Es ist entschei- treibende, an Versicherungen, Warenhaus- dend, das öffentliche Bewusstsein für diese ketten, Gesundheitsanbieter. Ein schönes Gefahren zu schärfen. Auch der Industrie- und besonders dreistes Beispiel für diese kapitalismus, der völlig neue Realitäten Mechanismen war das Computerspiel für ganze Gesellschaften schuf, musste ge- »Pokémon Go«, ein wahres Menschenex- zähmt werden. Arbeiterrechte, Gewerk- periment. schaften, Arbeitszeiten, Mindestlöhne, SPIEGEL: Das Handyspiel, mit dem man Verbot der Kinderarbeit – für diese und kleine Monster in der Außenwelt jagt? viele weitere Errungenschaften waren Zuboff: »Pokémon Go« entzieht seinen Jahrzehnte des sozialen und politischen Spielern Daten und treibt sie zu bestimm- Kampfes notwendig. Wir werden diesen ten Orten in der Realität, es kann insofern Prozess der Zähmung erneut leisten müs- ihr Verhalten voraussagen und steuern. sen, durch demokratischen Druck, mit Ent- Die Entwickler des Spiels haben ihre Kö- schlossenheit. Im Moment aber kommt es derwesen zum Beispiel in Bars, Cafés, Lä- mir so vor, als würden wir ein paar Lecks den oder an Veranstaltungsorten platziert notdürftig abdichten. Wir reden hier ein und ihnen damit Kundschaft zugeführt. bisschen von Datenschutz, dort ein biss- Diese Unternehmen, nicht die Spieler, chen vom Kampf gegen Fake News. Das sind die eigentlichen Kunden von »Poké- ist alles noch zu klein gedacht. Gerade so, mon Go«. Auf dem Höhepunkt des Hypes als würden wir über akzeptable Bedingun- wurden Massen von Spielern von einem gen und Tageszeiten für Kinderarbeit ver- Monetarisierungs-Checkpoint in der rea- handeln, statt sie komplett abzuschaffen. len Welt zum nächsten geführt. Das ist SPIEGEL: Aber was genau sich ändern die perfekte überwachungskapitalistische müsste, sagen Sie nicht. Fantasie, Menschen mittels Fernstimulie- rung in Herden durch reale Terrains zu di- S-Magazin rigieren, durch Einkaufszonen und Res- taurants, damit sie dort ihr reales Geld in »Die digitale Infrastruktur Die Lifestyle-Beilage realen Geschäften ausgeben, wofür die wird von einem Etwas, Betreiber des Spiels wiederum eine Ge- das wir haben, zu einem des SPIEGEL bühr nehmen. SPIEGEL: »Pokémon Go« als Instrument Etwas, das uns hat.« dunkler Mächte – Sie können einem aber auch wirklich den Spaß an allem nehmen! Themen der Ausgabe: Zuboff: Tut mir leid. Aber es ist notwendig, Zuboff: Weil es sich heute noch nicht sagen dass wir ein kritisches Bewusstsein gegen- lässt. Aus der Verbannung über all diesen Dingen entwickeln. Es ist SPIEGEL: Ist es nicht so, dass das, was Sie falsch zu sagen: »Sollen sie doch meine befürchten, erst noch viel schlimmer wer- Küche, Kosmetik, Medizin, Erfahrungen scannen, ich habe nichts zu den müsste, damit jener breite soziale Wi- verbergen.« Ich sage: Wer nichts zu ver- derstand, den Sie sich wünschen, Wirklich- Mode – seit der Legalisie- bergen hat, ist nichts. Unser inneres Leben, keit würde? rung boomt das Cannabis- unsere privaten Erfahrungen, Einstellun- Zuboff: Vielleicht. gen, Gefühle und Wünsche sind das, was SPIEGEL: … denn es ist ja nicht so, dass Geschäft uns ausmacht als menschliche Wesen. Sie die Menschen heute, im Überwachungs- sind unser moralisches Zuhause. kapitalismus, in tiefer Not und Armut leb- Aus der Norm SPIEGEL: Und Sie glauben, dieser Über- ten, wie zur Zeit der industriellen Revolu- wachungskapitalismus, der alles über uns tion. Im Gegenteil. Eine neue Model-Generation weiß, habe die Macht, uns dieser inneren Zuboff: Zugegeben, wir leben nicht in je- Heimat zu berauben? nem dunklen Zeitalter der äußeren Armut, defi niert Schönheit anders Zuboff: Ja, ich sehe hier eine weitere Ana- des physischen Leidens und der allgegen- logie zwischen Überwachungs- und In- wärtigen Gewalt. Der Überwachungskapi- In der Zukunft dustriekapitalismus: Der Preis des Indus- talismus pflegt andere, subtilere Formen triekapitalismus und all der Wohlstands- der Gewalt. Er beraubt uns unserer mensch- Die Trendforscherin Lidewij gewinne, die er mit sich brachte, war und lichen Autonomie und gefährdet damit ist die äußere Natur, ist die Erde. Er beu- die Bedingungen der Demokratie. Und Edelkoort über Design, tet den Planeten aus und zerstört ihn. Der sein Machtinstrument, die allgegenwärtige Liebe, Schulterpolster – und Überwachungskapitalismus aber beutet wahrnehmungsfähige, rechnergestützte, den Menschen selbst aus. Noch einmal: vernetzte, digitale Infrastruktur, wird von das Ende der Menschheit Wir sind sein Rohstoff. So zerstört er einem Etwas, das wir haben, zu einem Et- nicht die äußere, sondern unsere innere, was, das uns hat. Das uns in der Hand hat. menschliche Natur. SPIEGEL: Sind Sie eigentlich auf Facebook? Außerdem: SPIEGEL: In Ihrem Buch sind Sie fast aus- Zuboff: Nein, bin ich nicht. schließlich auf der Suche nach Problemen, SPIEGEL: Frau Zuboff, wir danken Ihnen Das gezeichnete Interview aber Sie schlagen keine Lösungen vor. für dieses Gespräch. mit Philippe Starck Warum nicht?

70 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Wirtschaft

sich als falsch. Dennoch mussten die Pilo- Detlef Kayser beklagt weiterhin heftige ten sie überprüfen – und waren entspre- Vibrationen der Triebwerke. »Die Ur- Unfliegbare chend genervt. sache ist nach wie vor unklar«, sagt er. Auch am Boden zeigten die Neos unter Deshalb rechne der Konzern nicht mit ei- anderem in Deutschland ihre Tücken. Die ner schnellen Lösung. P&W argumentiert, Flugobjekte Triebwerke mussten vor dem Start und das Problem der Vibrationen betreffe nur nach der Landung jeweils mehrere Minu- rund zwei Prozent der Flugzeuge, man Luftfahrt Triebwerke schalten ten lang gekühlt werden, sonst hätten sich arbeite an dem Thema zusammen mit den sich in der Luft aus, manchmal die Motoren durch die Hitze krümmen Kunden. können. Auf stark frequentierten Flug- Lufthansa-Manager Kayser versucht vibriert es heftig: Der Airbus häfen stören solche Zwangspausen die Ab- derweil, die Neo-Krise zu entschärfen. Ein A320 Neo gerät zum Desaster, läufe erheblich. technischer Krisenstab tagt jede Woche sehr zum Ärger von Lufthansa. Das Problem der Hitzeanfälligkeit und bespricht die aktuelle Situation. An scheint inzwischen behoben. Dafür tauch- den Flughäfen Frankfurt und München, ten andere auf. Metallpartikel fanden sich auf denen die Pannenflieger am häufigsten igentlich sollte der jüngste Airbus unverhofft im Öl und führten zu Warnmel- auftauchen, wurden bei der Technik - A320 ein Flugzeug sein, wie es per- dungen. Ärger bescherte auch eine neu ent- tochter zusätzliche Mechaniker einge - E fekter kaum geht. Weniger Kerosin wickelte Dichtung. Sie erwies sich als Fehl- stellt. sollte der Neo verbrauchen, dazu deutlich konstruktion und führte zu Triebwerksaus- Schwierig wird es jedoch, wenn ein Neo leiser sein und überhaupt wahnsinnig effi- fällen in der Luft. Nun behilft man sich mit an einer Außenstation ausfällt. Dann müs- zient. Eigentlich. der Vorgängervariante, bis das endgültig sen oft Spezialisten aus Frankfurt anreisen, Tatsächlich macht der Flieger vor allem zum Einbau vorgesehene Teil vorliegt. weil eine Reparatur mit dem Personal vor Ärger. Die Triebwerke funktionieren nicht, Dann stellte sich heraus, dass offenbar Ort nicht möglich ist. »Der finanzielle Scha- wie sie sollen; Nachbesserungen helfen oft die Verkleidung der Brennkammer viel zu den ist insbesondere durch die vielen Aus- nicht wie versprochen. Es hagelt Rekla - mationen. Zeitweise parkten dutzendfach flugunfähige Neo-Maschinen auf den Air- bus-Standorten Hamburg und Toulouse. Die Triebwerke fehlten. Auch der Chef von Großkunde Lufthan- sa, Carsten Spohr, ist sauer. Von 67 bestell- ten A320-Neo-Modellen wurden gerade einmal 13 Exemplare geliefert. Eigentlich hätten es in diesem Herbst doppelt so viele sein sollen. Ein Teil der fehlenden Jets steht mit den anderen nutzlos in Toulouse und Hamburg herum. Lauter Ufos, unfliegbare Flugobjekte. Lufthansa musste wegen der ausgefal- lenen Lieferungen bereits Strecken strei- chen und darauf verzichten, das Angebot wie geplant auszuweiten. Mittlerweile hat der Konzern bei Airbus auch A320-Jets mit alten Antrieben bestellt, nach dem Motto: besser die als gar keine. Lufthansa-Boss Spohr ist auch deshalb

besonders frustriert, weil er Airbus zum / GETTY IMAGES BOCSI / BLOOMBERG KRISZTIAN Start des A320 Neo eine veritable Pein- Problemtriebwerk an einem A320 Neo: Metallpartikel im Öl lichkeit erspart hatte: Der erste Käufer der neuen Maschinen, Qatar Airways, war ab- gesprungen. Der Chef der arabischen Li- schnell verschliss. Seit Dezember 2017 wer- fälle und Standzeiten erheblich, weil unsere nie, Akbar Al Baker, weigerte sich, die Flie- den die Flieger mit einem neuen Brenn- operative Stabilität stark darunter leidet, ger abzunehmen, weil die empfindlichen kammerdesign ausgestattet; bei den älte- und wird auch durch die Strafzahlungen Motoren des neuen Neos sehr lange Ab- ren Triebwerken soll der Austausch nach nicht voll ausgeglichen, die Airbus uns er- kühl- und Anlasszeiten benötigen und das und nach erfolgen. Verantwortlich für das statten muss«, sagt Kayser. Flugzeug für den Einsatz im Wüstenstaat Neo-Desaster ist vor allem ein Zulieferer Airbus holt sich das Geld, das an Luft- daher ungeeignet erschien. von Airbus: der US-Triebwerkhersteller hansa geht, von P&W zurück und schiebt Spohr sprang ein, zur Erleichterung von Pratt & Whitney (P&W). die Schuld für das Neo-Debakel gern auf Airbus-Chef Tom Enders. Eine Entschei- Lufthansa ist nicht die einzige Linie, die die US-Firma. Doch der scheidende Air- dung, die Lufthansa heute bitter bereuen über Airbus verärgert ist, weil die Jets bus-Chef Enders ist am Fehlstart seines dürfte. verspätet ausgeliefert werden und die Vorzeigefliegers nicht unschuldig. Er hatte Als die ersten Maschinen eingetroffen Triebwerke pannenanfällig sind. Auch beschlossen, das Geld für eine komplette waren, hatten sich die Lufthansa-Piloten Konkurrenten haben Probleme, ihr Flug- Neuentwicklung des Brot-und-Butter- noch gefreut, dass sie den neuen Jet fliegen programm abzuwickeln, und müssen ihre Fliegers A320 zu sparen. Nun zahlt die durften. Doch das änderte sich, als die Soft- Passagiere immer wieder vertrösten. Lufthansa drauf. ware immer wieder Fehlermeldungen ins Aus Sicht der Lufthansa besteht noch Dinah Deckstein, Martin U. Müller Cockpit schickte. Die meisten erwiesen kein Anlass zur Entwarnung. Chefstratege

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 71 Medien Helden

Demokratie Vor sieben Monaten wurde der slowakische Journalist Ján Kuciak erschossen, nun nahm die Polizei Tatverdächtige fest – der Fall zeigt: Die Freiheit der Presse ist überall in Osteuropa in Gefahr.

er Konferenzraum der slowaki- ein Anschlag auf eine der wichtigsten Er- »In unseren Ländern sind die demo- schen Onlinezeitung Aktuality rungenschaften der fried lichen Revolution kratischen Institutionen wie Parlament, D sieht noch immer so aus wie in von 1989: die Pressefreiheit. Sie ist in Ge- Verfassungsgericht und die öffentlichen den Tagen nach der Ermordung fahr, nicht nur im Euroland Slowakei. Medien Potemkinsche Dörfer«, sagt der Ján Kuciaks, ihres Investigativreporters. Die Mitgliedschaft in der Europäischen polnische Publizist Adam Michnik, der An der Wand hängen die Fotos von Union hat offensichtlich nicht zu dem Zi- unter der kommunistischen Herrschaft Politikern, Geschäftsleuten und Halbwelt- vilisierungs- und Demokratisierungsschub wegen seiner kritischen Artikel jahrelang gestalten, Pfeile stellen Verbindungen her, geführt, auf den viele im Osten gehofft hat- eingesperrt war. manche Gesichter sind durchgestrichen. ten. Die Freiheit der Presse hat sich sogar Die Meinungsfreiheit wird von poli- Damals hatten sich Journalisten aller Zei- verringert, seitdem Polen, Ungarn, Rumä- tischen Populisten ausgehöhlt, die nach tungen des Landes hier versammelt, um nien, die Slowakei oder Bulgarien der Eu- ihren Wahlsiegen kritische Journalisten bei gemeinsam Kuciaks Recherchen auszuwer- ropäischen Union beigetreten sind – eine Radio- und Fernsehstationen aussortieren. ten. Die Redaktion hat die Bilder hängen traurige Wahrheit. Seit Viktor Orbán in Sie durchsetzen Rundfunkräte mit den eige - lassen, als Erinnerung an ihren Kollegen. Ungarn regiert, ist das Land im Ranking nen Leuten, vergeben Sendelizenzen aus- Mehr als ein halbes Jahr später hat eine von »Reporter ohne Grenzen« um mehr schließlich an willfährige Medienunterneh- Eliteeinheit der Polizei am Donnerstag- als 50 Plätze gefallen. Bulgarien erreicht mer. Staatliche Konzerne werben plötzlich morgen acht Tatverdächtige festgenom- 2018 nur noch Platz 111 von 180 und liegt nur noch in regierungstreuen Zeitungen. men, einer von ihnen soll Polizist sein. damit hinter Burkina Faso, der Elfenbein- Dazu kommt ein regelrechter Hass auf Mehr als 200 Verhöre hatten die Ermittler küste oder Kirgisistan. Journalisten, die Missstände aufdecken. geführt, waren unzähligen Spuren Der slowakische Ex-Ministerpräsi- und Hinweisen nachgegangen. dent Robert Fico beschimpft un- Doch: Wer genau am 21. Februar liebsame Reporter als »dreckige Kuciak, 27, und seine Verlobte Mar- Huren, Schlangen und Hyänen«. tina Kušnirová durch Schüsse in Der tschechische Präsident Miloš Kopf und Bauch getötet hat, war Zeman posierte im Oktober 2017 bis Donnerstagabend weiter unklar. öffentlich mit einer Kalaschnikow- Genauso wie das Mordmotiv. Attrappe, auf der »Für Journalis- In seiner letzten – unvollende- ten« stand. Orbán-nahe Medien ten – Reportage hatte Kuciak be- veröffentlichten im April eine schrieben, wie die italienische Mafia schwarze Liste »staatsfeindlicher« im armen Osten der Slowakei mit Auslandskorrespondenten, darun- dem Wissen von staatlichen Stellen ter auch der SPIEGEL-Mitarbeiter Geld gewaschen und EU-Subventio- Keno Verseck. nen veruntreut haben soll. In Bulgarien drohte ein Abgeord- Bei Aktuality geht es am Don- neter einem kritischen Fernseh-

nerstagmorgen erstaunlich ruhig / DER SPIEGEL STILLER AKOS moderator: »Sie benutzen starke und professionell zu. Minutenak- Reporter Dezsö Worte, das kann Sie Ihr Brot kos- tuell stellt das Portal die spärlichen Leichte Beute für Oligarchen ten.« 70 Prozent der Journalisten Nachrichten zu den Festnahmen dort geben an, von Politikern unter online. »Ich hoffe, dass das ein Druck gesetzt worden zu sein. Durchbruch ist, dass diese Verhaf- Am gefährlichsten allerdings ist, tungen zur Verurteilung des Mör- wie sich die Besitzverhältnisse in ders führen«, sagt Martin Turček, den Medienunternehmen verän- ein Kollege und Freund, der nun dern. In den Neunzigern hatten am Schreibtisch des Toten sitzt, sich vor allem deutsche, schweize- »aber im Augenblick wissen wir rische und britische Medienhäuser noch nicht einmal, wer die Verhaf- in Osteuropa eingekauft. Seit eini- teten sind und warum sie verhaftet gen Jahren ziehen sie sich wieder wurden.« zurück – und machen Sender und Der Doppelmord hat das Land Zeitungen zur leichten Beute für erschüttert, denn er hatte eine Bot- Oligarchen. schaft: Wer es in der Slowakei wagt, Zeitungen sind billig, die Print- die Netzwerke aus Banditen, Be- krise ist im Osten noch gravieren- trügern und Politikern offenzule- WIND / DER SPIEGEL CHRISTIAN der als in Westeuropa. Und meis- gen, der muss um sein Leben fürch- Aktuality-Redakteur Turček tens geht es den neuen Besitzern ten. Die Schüsse auf Kuciak waren Netze aus Banditen und Politikern nicht um publizistische Verantwor-

72 RADOVAN STOKLASA / REUTERS STOKLASA RADOVAN Protestdemonstration in Bratislava nach dem Kuciak-Mord: »Euch trauen wir« tung, sondern um eigene Interessen. Me- ran hindern, das Justizsystem zu reformie- ersatzforderung, die Index.hu sofort in den dieneigner und Machthaber haben sich zu ren«, hieß es bei TVP, als die PiS einen Bankrott treiben würde. Mehrfach schon Kartellen zusammengeschlossen, die sich Umbau des Gerichtswesens verabschiede- haben seine Gegner Dezsö vor Gericht gegenseitig stützen und schützen: Gute te – und die EU-Kommission ein Verfah- zitiert, doch nie wurde er verurteilt. Presse gegen gute Geschäfte, das ist der ren gegen Polen initiierte, weil sie das Prin- Hat er Angst? »Ja, am meisten davor, Deal. zip der Rechtsstaatlichkeit gefährdet sah. dass Index.hu dichtgemacht wird und ich Im größten Land Osteuropas, in Polen, TVP wird von vielen Polen inzwischen nur dann nicht mehr meinen Job machen kann. ist die Pressefreiheit vor allem in Gefahr, noch TVPiS genannt. Aber wenigstens muss man als Journalist weil die regierende Rechtspartei PiS das Ähnlich skrupellos hat auch Orbán in in Ungarn nicht fürchten, zusammenge- einst halbwegs pluralistische öffentliche Ungarn die staatlichen Sender gleichge- schlagen zu werden.« Fernsehen und den Rundfunk gnadenlos schaltet. Zudem kontrolliert seine Partei Anders sieht das in Bulgarien aus. Dort unter ihre Kontrolle gebracht hat. Fidesz den Rundfunkrat und machte ihn saß der Journalist Dimitar Stojanow vor Jacek Kurski ist dafür zuständig. Vor zu einer heimlichen Zensurbehörde. 2014 einigen Monaten in einer Bar in Sofia. Als vielen Jahren lernte er den Vorsitzenden zum Beispiel verlor das regierungskriti- er das Lokal um halb elf verlassen wollte, der PiS, Jarosław Kaczyński, kennen und sche »Klubradio« fast alle Lizenzen. warteten draußen ein paar Typen. Es kam erlebte eine »Erleuchtung«. Beeindruckt Aber es gibt auch Widerstand. »Die zu einer Schubserei. »Die wollten mich von Kaczyński, stellte er sich in dessen Pressefreiheit in Ungarn ist nicht abge- provozieren, dass ich zurückschlage und Dienste, erdachte Wahlkampagnen und schafft«, sagt András Dezsö. »Das kann wegen der Prügelei festgenommen wer- Parolen für die Partei. Dass er heute auch Viktor Orbán nicht, aber die Räume de«, sagt er. Unter den Randalierern war Kaczyńskis »Bullterrier« genannt wird, für kritischen Journalismus werden klei- der Wachmann eines Oligarchen, dessen empfindet er als Kompliment. ner.« Dezsö arbeitet seit den Neunziger- zwielichtige Geschäfte Stojanow aufge- Kaum hatte die PiS 2015 die Wahl ge- jahren als Investigativjournalist. Derzeit deckt hatte. wonnen, wurde Kurski Chef der staatli- geht das nur noch bei einigen wenigen In- Einst war Stojanow der bekannteste in- chen TV-Station TVP, der Sender wurde ternetportalen wie Index.hu. Dezsö ge- vestigative Fernsehjournalist des Landes. auf Linie gebracht. Viele Journalisten ver- lingt es immer wieder, Affären aufzude- Doch dann wurden seine Beiträge nicht loren ihren Job, wer geblieben ist, fürchtet cken. Sein größter Coup war, dass er 2014 mehr gesendet, schließlich wurde ihm ohne um seinen Arbeitsplatz. »Wir hören von mögliche Geheimdienstkontakte eines ein- Angabe von Gründen gekündigt. Inzwi- einem Klima der Angst«, sagt Andrzej flussreichen Politikers der rechtsextremen schen arbeitet er für das Nachrichtenportal Skworz, Chefredakteur des unabhängigen Jobbik-Partei nach Russland offenlegte. Bivol. Mindestens achtmal wurde er seither Warschauer Magazins »Press«: »Wer nicht Nach jedem von Dezsös Artikeln jedoch angegriffen, zweimal haben ihn Freundin- ins Archiv versetzt werden will, hält sich wächst der Druck auf den 35-Jährigen und nen verlassen. Das Leben an seiner Seite mit Kritik zurück.« die Redaktion von Index.hu. Oft beginnt sei einfach zu gefährlich, sagten sie ihm. Der Einfluss der rechten Machthaber ist es mit drohenden E-Mails internationaler In solchen Momenten zog sich Stoja- grotesk offensichtlich. »Die EU, die Deut- Kanzleien: Diese oder jene Story sei falsch, now in die Büros von Bivol zurück, im schen und die Opposition wollen Polen da- verleumderisch. Dann folgt eine Schadens- fünften Stock eines Altbaus im Zentrum

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 73 nen finanziert, die andere Unternehmen seiner Holding machen. Journalismus ist in Bulgarien zum Hobby unbeugsamer Demokraten gewor- den, die vierte Gewalt finanziert sich durch Spenden, Crowdfunding und Sti- pendien. »Kritischer Journalismus kann aber nur funktionieren, wenn eine Gesellschaft ihn auch will – und bereit ist, dafür Geld zu bezahlen«, sagt Matús Kostolný, Chef - Tschechischer Präsident Zeman redakteur der slowakischen Zeitung Regelrechter Hass auf Journalisten »Dennik N«. Kostolný ist einer der wichtigsten Jour- nalisten des Landes, war viele Jahre lang von Sofia. Dort haben sie ein Zimmer für Chefredakteur der Zeitung »SME« – bis ihn. Seine Rechercheunterlagen spielt er die Penta Group einen Anteil an »SME« jeden Abend auf eine Festplatte bei einer kaufte. Penta ist eine Firmengruppe, die Anwaltskanzlei. Bivol zahlt Stojanow und in einen großen Korruptionsskandal ver- seinen Kollegen kein Geld. »Es gibt nie- wickelt war. Kostolný kündigte und grün- manden, der es wagen würde, mich einzu- dete »Dennik N«, zusammen mit einem stellen«, sagt Stojanow. Zurzeit lebt er von großen Teil der alten Redaktion. Sie leben einem Stipendium aus dem Westen. von Spenden und ihren Abonnenten. »Medienpluralismus in Bulgarien ist 28000 sind es im Augenblick. vom Bestseller-Duo eine Illusion«, sagt Irina Nedewa, Vorsit- Aber er wird mit Prozessen überzogen, zende der Journalistenvereinigung AEJ- vor allem von der Penta Group. Ein lei- Greiner & Padtberg Bulgaria. Zeitungen, Sender, selbst die tender Manager habe sich vor einiger Zeit meisten Internetportale gehören Oligar- mit ihm getroffen und erklärt, Penta werde chen, die eng verbandelt sind mit der »Dennik N« in den nächsten Jahren wieder Regierung. Ihr mächtigster Vertreter ist und wieder verklagen. Er solle das nicht Deljan Peewski, ein Mann, der die Verbin- persönlich nehmen. dungen seiner Eltern in die einstige No- Kostolný sagt, in der Slowakei werde menklatura genutzt hat, um sich ein Im- meist im Sinne des Anklägers entschieden, perium aufzubauen. Er beherrscht fast die Urteile würden dann jedoch vor dem 80 Prozent des bulgarischen Printmarkts. Europäischen Gerichtshof in Straßburg »Peewski ist faktisch der Propaganda- landen – der für die Pressefreiheit entschei- minister der Regierung«, sagt Iwo Proko- de. Das allerdings könne Jahre dauern, oft piew, auch ein Oligarch, aber einer, auf dem zu lange für einen Journalisten oder ein jetzt alle Hoffnungen ruhen: Er gebietet Medium. Ob er sich etwas wünsche von über eine Holding aus unterschiedlichsten der Europäischen Union? »Die EU sollte Firmen, zumindest auf dem Papier. Tatsäch- die liberale Demokratie und die Bürger- lich hat eine staatliche Kommis sion die rechte schützen.« meisten seiner Vermögenswerte eingefroren, Für Politiker wie Kaczyński und Orbán Gesamtwert mehr als 100 Millionen Euro. sind die Medien vor allem ein Herrschafts- Prokopiew soll an einem illegalen Priva - instrument. Die Öffentlichkeit, so denken tisierungsdeal in den Neunzigerjahren be- sie, muss nicht überzeugt, sondern erzo- teiligt gewesen sein. gen werden. »Das ist nur ein Vorwand, um mich Die große Anteilnahme, die der Mord weichzuklopfen«, sagt er. »Dahinter steckt an Ján Kuciak in der Slowakei und in den die Regierung, sie nehmen mir übel, dass anderen osteuropäischen Ländern erfuhr, ich mit ›Capital‹ noch eines der letzten zeigt jedoch, dass viele Osteuropäer in- kritischen Magazine betreibe.« zwischen anders denken. Kuciak war jung ullstein.de/ schueler »Capital« deckt regelmäßig Skandale wie die Slowakei, viele Slowaken sahen ISBN: 9 78-3-548-37794-0 auf. Dafür überschütteten die regie - sich in ihm. Aber sein Tod belegt auch die rungsnahen Medien Prokopiew mit Relevanz journalistischer Arbeit. Artikel Schmähungen. »Beschimpfungen, Ver- können Auftragsmorde zur Folge haben, leumdungen, Kamerateams vor meinem um zu verhindern, dass die Wahrheit ans Schlafzimmerfenster – so funktioniert Licht kommt. das System.« »Viele Menschen kommen zu uns und Zeitweise verlegte der Oligarch seinen sagen: Wir trauen der Polizei, den Poli- Wohnsitz nach Singapur, aus Angst um sei- tikern und der Justiz nicht, doch euch trau- ne vier Kinder. Doch jetzt ist er zurück: en wir. Wollt ihr nicht aktiv werden?«, so »Die Medienkampagne und die Gerichts- Kostolný. »Selbstverständlich ist das ver- verfahren erschweren unsere Geschäfte. führerisch. Aber wir machen keine Politik: Die hoffen wohl, dass wir aufgeben und Wir schauen Politikern auf die Finger.« verkaufen.« Viel Geld verdient er mit »Ca- Jan Puhl, Tobias Rapp pital« nicht, das Magazin wird aus Gewin-

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Trüge Markwort eine Zahl unter den Bild – als Beweis dafür, dass er mit dem Füßen, dann vielleicht die »81«, so alt ist Mann auf dem Plakat identisch ist. Ein Mann er jetzt. Dabei ginge er locker für eine De- Markwort wittert eine Verschwörung. kade jünger durch. Die Gene, die Mähne. »Ich habe den Verdacht, dass die CSU sich In die Politik will er, um zu erfahren, »wie an den Rundfunkrat gewendet hat.« Dass sieht gelb es auf der anderen Seite aussieht«. die Reaktion des BR dessen Verpflichtung 19.20 Uhr. Markwort wird im schwarzen zu Staatsferne und Neutralität geschuldet Karrieren »Focus«-Gründer VW-Beetle vorgefahren. Am Steuer seine sein könnte, lässt Markwort nicht gelten. Helmut Markwort will in den Lebensgefährtin, die einstige »Bunte«- Er wollte neulich auch eine Komparsen- Chefin Patricia Riekel. Sie hat Mischling rolle in einer ARD-Serie versteigern, zu- Bayerischen Landtag einziehen. Emil an der Leine, im Wahlkampf treuer gunsten seiner Wahlkampfkasse, schon Im Wahlkampf setzt er mehr auf Gefährte, auf Instagram eine Berühmtheit. das gab Ärger. seine Prominenz als auf Inhalte. Riekel agiert dort als seine Ghostwriterin Sein langjähriger Arbeitgeber, der Ver- (»ich bin’s, der Emil«). Markwort tritt ver- lag Hubert Burda, handhabt das alles laxer. sehentlich auf Emil. Emil jault. Den Wahlkampf steuert Markwort von ine Stunde bevor der Wahlkämpfer Mehr als 80 Besucher sind Markworts dort aus, er hat ein paar Räume im achten Helmut Markwort in Oberhaching Einladung zum »Montags-Stammtisch« im Stock der Münchner Zentrale angemietet. E eintrifft, kommt Manni angerollt. Bürgersaal Oberhaching nahe München Seine Assistentin verschickt Wahlkampf- Korpulent, gelassen, Markwort-Fan: »Ein gefolgt. Der Vorsitzende des FDP-Orts- E-Mails von einer »Focus«-Adresse, in de- toller Typ, der lässt sich von niemandem verbands spricht von der »größten politi- ren Signatur werden Zeitschriften des Hau- etwas sagen.« schen Veranstaltung des Jahres«. Zwei ses beworben (»Playboy«, »Fit for fun«, »Focus«-Gründer Markwort, seit 1968 Teenager bitten den Kandidaten um ein »TV schlau«). Und Markwort schreibt wei- FDP-Mitglied, will in den Bayerischen Land - gemeinsames Foto. Markwort, bislang terhin seine »Focus«-Kolumne. Er sagt, er tag. Manni hilft ihm. Er lenkt das Fakto - nicht als Jugendidol aufgefallen, fragt miss- habe recherchiert: Der SPIEGEL habe mobil, einen gelben Kleinbus mit Markworts trauisch, warum sie das wollten. Die Mäd- auch Texte seines Gründers Rudolf Aug- Konterfei. Die rechte Seite lässt sich hoch- chen sagen, sie hätten viel von ihm gehört stein gedruckt, als dieser 1972 für die FDP klappen wie bei einer Wurstbude, es gibt und interessierten sich für die FDP. Sein Wahlkampf machte. Stimmt leider. Gummibärchen und Markwort-Stoffbeutel. Blick hellt sich auf. Gewinnerlächeln. Augstein errang ein Bundestagsmandat, Faktomobil. Wie »Fakten, Fakten, Fak- Auf der Bühne gibt Markwort sich ge- warf aber nach drei Monaten hin. Eine ähn- ten«, Markworts Spruch aus alten Tagen kränkt. Es geht um das verbotene Plakat. liche Verlegenheit könnte Markwort erspart als »Focus«-Chefredakteur. Sein neuer lau- Die FDP hatte den »Montags-Stammtisch« bleiben. Die FDP ist in Bayern eine Rand- tet: »Fakten in den Landtag«. Als würde mit einem Foto beworben, das Markwort erscheinung und aktuell nicht einmal im dort bisher nur gelogen. Oder als wollte im Polittalk »Sonntags-Stammtisch« zeigt, Landtag. Markwort steht auf Listenplatz 16. Markwort alternative Fakten liefern, ein den er zehn Jahre lang für den Bayerischen Zumindest Oberhaching scheint Mark- bayerischer Trump. Rundfunk (BR) moderiert hat. Der BR ant- wort wohlgesinnt. Scherze wie »Und wenn Und: Faktomobil – wie Guidomobil. wortete mit einer einstweiligen Verfügung. ich mal nicht weiterweiß, dann gründ ich Mit dem gondelte der damalige FDP-Chef »Man will mir mein eigenes Bild neh- einen Arbeitskreis« kommen gut an. Wider- Guido Westerwelle in seiner Sturm-und men«, empört sich Markwort. Seine Logik: worte gibt es keine, Störungen bleiben aus, Drang-Zeit durchs Land. »18« stand auf Er ist auf dem Foto zu sehen, also muss ja der Radetzkymarsch-Klingelton eines älte- seinen Schuhsohlen, so viel Prozent peilte wohl er die Rechte daran haben. In Ober- ren Herrn wird nicht als solche empfunden. die Partei bei der Bundestagswahl 2002 haching hat er dieselbe Krawatte und den- Ziele? Alterspräsident des Landtags an – und schaffte nicht einmal die Hälfte. selben Janker an wie auf dem strittigen möchte er werden, sagt Markwort. Und sonst? Mehr Bildung. Weniger Bürokratie. Fürs Kleinteilige hat er ein paar Lokal- größen an seiner Seite, an die er Publikums- fragen weiterreicht. Er wirkt wie ein Chef bei der Betriebsführung, der dem Gast sei- ne Abteilungsleiter vorstellt: Das ist unser Herr Soundso, der kennt sich beim Thema »XY« viel besser aus. Ein paar Überzeugun - gen wird Markwort doch noch los. Etwa dass Menschen, die aus strukturschwachen Regionen Bayerns nach München übersie- deln, »ein Migrationsproblem« darstellten: »Das sind ja auch Flüchtlinge.« Axel Schmidt, Chef des FDP-Ortsver- bands Oberhaching, sagt Markwort nach der Veranstaltung eine große Karriere vo- raus: »Ich sehe ihn als Gewissen des Land- tags.« Markwort sei »ein weiser Mann«, eine Figur »wie der späte Otto Schily«. Fahrer Manni, leicht erschöpft, sagt zu Markwort, es sei gut, dass der Wahlkampf bald ende. Markwort widerspricht: Jetzt beginne erst die heiße Phase.

THOMAS DASHUBER / DER SPIEGEL DASHUBER THOMAS Alexander Kühn FDP-Kandidat Markwort in Oberhaching: »Wie der späte Otto Schily«

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»Russland steht als Staat hinter dem Verbrechen. Das ist völlig offenkundig.« ‣S.88

Ford CNP VIA ZUMA WIRE / ZUMA PRESS / ACTION PRESS CNP VIA ZUMA WIRE / PRESS ACTION

Analyse Peinliches Spektakel

Der Auftritt von Christine Blasey Ford im US-Senat geriet zur historischen Blamage für die Republikaner.

Sie wollte erst gar nicht nach Washington kommen, sie fürch- Augen der Amerikaner zu diskreditieren. Die konservativen tete sich vor den Kameras, vor skeptischen, womöglich feind - Senatoren hatten nicht einmal den Mut, Ford selbst zu befra- seligen Fragen. »Ich habe Angst«, sagte Christine Blasey Ford gen. Das überließen sie einer Staatsanwältin. Die Männer am Donnerstag vor dem Justizausschuss des US-Senats. Und blieben stumm. Das Spektakel legt auf erbärmliche Weise das trotzdem legte sie den Senatoren in erschütternd glaubhafter entscheidende Problem der Partei offen: Sie ist, gerade unter Weise dar, was ihr vor 36 Jahren angeblich widerfuhr, als Brett diesem Präsidenten, zu einer Interessenvertretung alter weißer Kavanaugh versuchte, sie zu vergewaltigen – jener Mann, Männer geworden, ein Klub von Kerlen. Das ist nicht nur vor den die Republikaner als Richter an den Obersten Gerichts- den Midterm-Wahlen im November riskant, weil Frauen in hof hieven wollen. An ein Detail könne sie sich besonders größerer Zahl zur Wahl gehen. Für die Republikaner könnte gut erinnern, sagte Ford: an das entfesselte Lachen von Kava- dies auch langfristig heikel werden, wenn sich weibliche naugh und dessen Freund, als sie auf dem Bett lag, 15 Jahre Kandidaten von der Partei abgestoßen fühlen und den Demo- alt, in Todesangst. »Das Gelächter bleibt unauslöschlich in kraten zuwenden. Schon jetzt gehen Studentinnen, Ärztinnen, meinem Gedächtnis eingegraben.« Anwältinnen im ganzen Land auf die Straße gegen die kon - Ford trat als reflektierte Zeugin auf, sie wirkte menschlich, servative Scheinheiligkeit. Wenn die Republikaner aber die man konnte sich mit ihr identifizieren. Umso kleinlicher, pein - Frauen verlieren, werden sie als Partei bedeutungslos. licher waren die Fragen der Republikaner: Wer hatte für den Christoph Scheuermann Lügendetektortest bezahlt, dem sich Ford unterzogen hatte? Litt sie tatsächlich unter Flugangst, wie sie behauptete? Es Bis Redaktionsschluss Donnerstagnacht blieb unklar, ob die Abstimmung über Brett Kavanaughs Nominierung für den Supreme Court am Freitag noch war der unwürdige Versuch, ein mutmaßliches Opfer vor den stattfinden würde.

78 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Malediven sei, Präsident Abdulla Yameen aus dem Frankreich »Gute Nachrichten Amt zu befördern. Allez, les enfants SPIEGEL: Der neue Präsident sagt auch, für die Demokratie« er werde den chinesischen Einfluss Gab es so was schon einmal, einen zurückdrängen und das Land wieder feurigen Europawahlkampf? Oder erin- Am vergangenen Sonntag haben die näher an Indien rücken. Ist das nun ein nert die Wahl der Abgeordneten des Malediven mit großer Mehrheit Rückschlag für Peking? Europäischen Parlaments nicht eher an Ibrahim Mohamed Solih zum Präsi- Xavier: Die gewählte Regierung wird die bräsige Sitzungswochen in Brüssel oder denten gewählt. Fünf Jahre lang hatte Beziehungen zu Peking neu ausloten. Straßburg? Das allerdings könnte sich die Regierung seines Vorgängers Aber jeder maledivische Staatschef wird bald ändern. Acht Monate vor der Abdu l la Yameen den Insel staat zuneh - auf die eine oder andere Art das Verhält- Europawahl im Mai 2019 hat »La Répu- mend autoritär geführt. Noch im nis zu China langfristig intensivieren müs- blique en marche«, Frankreichs Regie- Februar ließ er den Ausnahmezustand sen. Aus einem einfachen Grund: weil es rungspartei, Pardon: Bewegung, zum ausrufen; Oppositionspolitiker und dem Land wirtschaftlich dient. Kampf aufgerufen. »Weil wir Europa Richter kamen in Haft. Der Südasien- SPIEGEL: Indien verfügt als potenzieller lieben, wollen wir es ändern«, verkün- experte Constantino Xavier vom neuer Partner hingegen weder über dete Parteichef Christophe Castaner. Thinktank Brookings India über die die Mittel noch über die Erfahrung für Macron und die Seinen fordern nun politischen Veränderungen im den Bau solcher Megaprojekte, wie europaweit zum Duell auf. Zwischen Urlaubsparadies. China sie hat. »Progressisten«, also denjenigen, die Xavier: Das stimmt. Aber Neu-Delhi die europäische Integration befürwor- SPIEGEL: Hat Sie der Ausgang der Wahl kann – so wie der Westen auch – dabei überrascht? helfen, staatliche Institutionen im Land Xavier: Nicht so sehr das Ergebnis, zu stärken. sondern eher die Tatsache, wie friedlich SPIEGEL: Wünschen sich die Menschen in die Machtübergabe verlief. Wir wissen Entwicklungsländern nicht vor allem eine ja aus den Erfahrungen mit anderen bessere Infrastruktur, neue Straßen, Züge Ländern, was passiert, wenn Regierungs- und Flughäfen? chefs sich an die Macht klammern – Xavier: Sie wollen beides. Und das ist und die Malediven sind eine noch sehr eine Debatte, die wir derzeit in ganz junge Demokratie. Der designierte Südasien sehen: In welchem Ausmaß

Präsident Solih hat versprochen, sich für führt die wirtschaftliche Zusammenarbeit / AFP STACHE CHRISTOF demokratische Freiheiten und gegen auch zu politischer Einflussnahme? Macron Korruption einzusetzen. Er steht aller- Die Bürger erkennen, dass es Nachteile dings an der Spitze einer Koalition aus bringen kann, sich mit China einzulassen. ten und sie vorantreiben wollen, und einstigen Rivalen. Dort gibt man zu, Und das sind gute Nachrichten für die Nationalisten, die lieber die eigene Sou- dass das Einzige, was alle zusammen- Demokratie: Es zeigt, wie widerstands - veränität beschwören. Macron glaubt, gebracht habe, der Wunsch gewesen fähig sie ist. LH dass sich Gesellschaften nicht mehr am alten Parteienspektrum orientieren; er wünscht sich die Europawahl als Wie- derauflage der Präsidentschaftswahl. Chappatte Um sich ein Bild der Befindlichkeiten zu machen, haben seine Marcheurs eine Methode aus dem Wahlkampf wie- derholt. Sie sind durchs Land gefahren und haben die Bürger befragt, wie sie zu Europa stehen. An 230000 Türen haben sie geklingelt, 80000 Umfrage- bögen wurden ausgewertet. Das Ergeb- nis: Die Franzosen schätzen den Euro, die Vorteile des Binnenmarkts und das Erasmus-Programm. Aber sie haben kaum Vertrauen in die europäischen Institutionen, sondern halten diese für ineffizient und zu bürokratisch. Mehr als 80 Prozent der Befragten erklärten, dass es sich lohne, »darum zu kämpfen, die EU besser zu machen«. Und genau das hat Macron vor. Allerdings wird es bei diesem Kampf auch auf die euro - päischen Mitstreiter ankommen, und die zeigen sich noch zögerlich. Macrons Gegner hingegen haben das Duell ange- nommen, der Italiener Matteo Salvini und der Ungar Viktor Orbán erklärten den französischen Präsidenten schon zum »Chef der Migrationsparteien«, den es auszubremsen gelte. HEY

79 Ausland Ein Land in Flammen

Brasilien Eine der größten Demokratien der Welt steht auf der Kippe. Wenn der Rechtspopulist Jair Bolsonaro im nächsten Monat die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte, werden auch Militärs wieder an die Macht kommen.

n dem Tag, seit dem die Geister wie einen Messias auf den Händen. Bolso- Er verlor zwei Liter Blut. Aber schon der Vergangenheit so bedrohlich naros Körper steckte in einem engen gel- drei Tage später twitterte sein Sohn Flávio, A wirken wie selten zuvor, schien ben T-Shirt mit der Aufschrift »Meine Par- dass das Land gerade einen neuen Präsi- die Sonne in der kleinen Stadt tei ist Brasilien«. Er jubelte. Doch plötzlich denten bekommen habe. Juiz de Fora. Tausende Menschen strömten rammte ihm ein Mann aus der Menge die Bolsonaro als Präsident? Das ist eine durch die engen Gassen. Sie trugen ihren Klinge eines Küchenmessers in den Bauch. Vorstellung, die den meisten Brasilianern Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro Bolsonaro sackte zusammen. lange wirklichkeitsfremd vorkam. Ein ultra-

Kundgebung mit Bolsonaro-Figur in São Paulo: Ein ultrarechter Hassredner im höchsten Amt des Staates?

80 rechter Hassredner im höchsten Staats- Schon vor dem Angriff hielten es viele eines politischen Systems, das sich ver- amt? Ein Mann, der einer Abgeordneten für möglich, dass Bolsonaro im ersten braucht hat, weil es vor allem um sich zurief, sie sei es nicht einmal wert, dass er Wahlgang am Sonntag kommender Wo- selbst kreist. sie vergewaltige? Der öffentlich erklärte, che die meisten Stimmen holt. Jetzt wird Brasilien ist jetzt ein weiteres jener Län- dass Schwarze sogar zum Kindermachen spekuliert, dass er es auch im wahrschein- der geworden, in denen eine populistische zu dumm seien? Man belächelte Bolsona- lich nötigen zweiten Wahlgang drei Wo- Bewegung gestärkt durch eine Krise Fahrt ro als gestörten Tropen-Trump. Doch der chen später schaffen könnte. Und das wür- aufnimmt. Der Unterschied zu anderen Messerangriff am 6. September lässt ihn de womöglich bedeuten, dass Brasilien sei- Nationen ist, dass es nicht beim Ruf nach in einem anderen Licht erscheinen. ne fragile Demokratie abwählt. einer Rückbesinnung auf die alten Zeiten Für viele ist er nun der Mann, der für Diese Wahl ist die wichtigste seit dem bleibt. An vielen Orten ist die Vergangen- Brasilien sein Blut vergossen hat. Journa- Ende der Militärdiktatur 1985. Sie wird da- heit längst wieder gegenwärtig. listen hielten deshalb wochenlang Nacht- rüber entscheiden, welchen Weg das Land Zeitgleich mit der Präsidentschaftswahl wache in der Lobby des Hospitals in São einschlägt, um aus einer Krise herauszufin- bewerben sich mehr als hundert Angehö- Paulo, in dem Bolsonaro behandelt wurde. den, die so dramatisch und zersetzend ist, rige der Streitkräfte für Sitze im Parlament. Während ihrer Live-Schalten wedelten sie dass sie mit Zahlen kaum zu fassen ist. Jah- Die Hälfte dieser Männer tritt auf dem Ti- mit den Bulletins der Ärzte und versuch- relang hatte Brasilien wie der nächste Glo- cket von Bolsonaros Partei PSL an. ten, die Verletzungen in ein Verhältnis zu bal Player ausgesehen. Investoren aus der Bolsonaro ist Hauptmann der Reserve. setzen zu den Meinungsumfragen über die ganzen Welt feierten den lateinamerikani- Sein potenzieller Stellvertreter ist ein viel- Präsidentschaftswahl. schen Star unter den aufstrebenden Brics- fach dekorierter General. Beide verklären Staaten, Millionen Brasilianer befreiten den Putsch, mit dem die Militärs Anfang sich aus der Armut. Umso brutaler erlebte der Sechzigerjahre die Macht erobert hat- das Land seinen Absturz. ten, als friedliche Revolution. Sie bezeich- 6,5 Millionen Menschen haben in der nen berüchtigte Foltergeneräle als Volks- schwersten Rezession der jüngeren brasi- helden. Angesichts des Messerangriffs lianischen Geschichte ihre Jobs verloren. raunte Bolsonaros Vizekandidat im Fern- Kriminelle beherrschen viele Gegenden: sehen, man solle die Gewalt im Land den Rund 60000 Menschen starben im ver- Profis überlassen. gangenen Jahr eines gewaltsamen Todes, Brasilien hat sich mittlerweile an so et- mehr als in Syrien. Während in Rio de was gewöhnt. Janeiro aufgrund von Schusswechseln je- Kaum jemand empört sich noch darü- den Tag für etwa tausend Schüler der Un- ber, dass an Bolsonaros Krankenbett Sol- terricht ausfällt, müssen in den öffent - daten auflaufen. Es gab keinen Aufschrei, lichen Krankenhäusern des Landes mehr als er in seiner ersten längeren Videobot- als 900000 Patienten auf Routineopera- schaft behauptete, die Wahlurnen könnten tionen warten. von seinen Gegnern manipuliert werden. Mehr als 200 Politiker und Manager Und es gab auch keinen Aufschrei, als sein großer Bau- und Ölfirmen sind seit 2013 Vize öffentlich die Möglichkeit erörterte, in Korruptionsverfahren verurteilt wor- dass die Generäle putschen könnten, falls den. Der Beliebtheitswert des seit zwei nach der Wahl Chaos ausbrechen sollte. Jahren amtierenden Präsidenten Michel Die Frage ist also: Wie viel Vergangen- Temer liegt bei drei Prozent, auch weil der heit wählt Brasilien? Was steckt hinter Mann in krumme Deals verwickelt sein dem unheimlichen Aufstieg dieses Man- soll. Das heißt, dass praktisch kein Brasi- nes, der jetzt vom Krankenbett aus die lianer mit dessen Politik zufrieden ist. Auf politische Agenda bestimmt? eine Kandidatur hat er verzichtet. Jair Bolsonaro, 63, stammt aus Eldora- Im April musste der äußerst populäre do Paulista, einer Kleinstadt, die sich zwi- Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva schen Bananen- und Kaffeeplantagen ins trotz dünner Beweise eine zwölfjährige hügelige Hinterland von São Paulo duckt. Haftstrafe antreten. Den ganzen Sommer Sein Vater zog als selbst ernannter Zahn- hindurch versuchte er, die Erlaubnis ein- arzt mit einem Maulesel über die Dörfer. zuklagen, zu kandidieren. Aber die Ge- Bolsonaros Mutter schleppte ihre Kinder richte wiesen alle Einsprüche zurück. zu den berüchtigten »Freiheitsmärschen Dann brannte, Tage vor dem Attentat gottesfürchtiger Familien«, die den Putsch auf Bolsonaro, das Nationalmuseum in der Militärs mitvorbereiteten. Rio nieder. Millionen Ausstellungsstücke Es war eine kleine, geordnete Welt, in wurden vernichtet, darunter die letzten der Bolsonaro seine freien Stunden mit Sprachaufzeichnungen ausgestorbener in- einer Angel am Fluss verbrachte. Brasilien digener Völker. Die Löscharbeiten, hieß wuchs in jenen Jahren. Und durch das es, hätten sich verzögert, weil einige Hy- Geld, das die Generäle in die Infrastruktur dranten, die Obdachlose gern als Dusche investierten, rückten Orte wie Eldorado nutzten, abgeschaltet waren. Paulista näher an die große Welt. In seiner Diesen brennenden Palast deuteten Biografie »Mythos oder Wahrheit« schil- manche als Symbol für ein Land, das in dert Bolsonaros Sohn Flávio ein Ereignis, Flammen steht. Als Strafe für jahrelange das seinen Vater stark prägte. Misswirtschaft, für die Verantwortungs - Bolsonaro war 15, als der berüchtigte NACHO DOCE / REUTERS losigkeit einer Elite, der niemand mehr linke Guerillero Carlos Lamarca seine traut. Als Zeichen für den Niedergang Zelte in den umliegenden Wäldern aufge -

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 81 Ausland schlagen hatte. Als Lamarca eines Tages ken unser Land zu einem zweiten Vene- te aktive Soldat des Landes, Heereschef an einer Tankstelle das Feuer auf eine zuela machen. Wir befinden uns im Eduardo Villas Bôas, als er verkündete, Gruppe Polizisten eröffnete, rückten über Krieg!«, ruft er seinen Leuten zu. dass die Legitimität des neuen Präsidenten Nacht Hunderte Soldaten in Eldorado ein. Ein konkretes Parteiprogramm hat er durchaus hinterfragt werden könne. Villas Es waren Tage, die Bolsonaros Hass auf nicht, er reißt emotionale Themen wie Re- Bôas hätte auch sagen können: Wenn der alles Linke weckten und seine Leiden- ligion, Familie, Waffen kurz an. Der Mann, gewählte Staatschef nicht genehm ist, kön- schaft fürs Militär. der die konkreteren Aussagen macht, ist nen die Streitkräfte ihn austauschen. Da war es naheliegend, dass Bolsonaro Reservegeneral Hamilton Mourão. Der Mourão versichert zwar, dass er es ak- nach dem Schulabschluss zur Armee ging, Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten zeptieren würde, wenn ein Linker die die jungen Männern aus bescheidenen Ver- pflegt auch den Kontakt zur Truppe. Wahl gewinnen sollte. Aber was geschieht, hältnissen die besten Aufstiegschancen ver- Mourão, der ein Netzwerk aus ehema- wenn der Sieg so knapp ausfällt, dass Bol- sprach. Bolsonaro wurde Fallschirmjäger, ligen und aktiven Offizieren geknüpft hat, sonaro das Ergebnis in Zweifel zieht? Vorgesetzte lobten seine »Führungsstär- empfängt im Militärklub von Rio de Das Drehbuch für einen Staatsstreich ke«. Dann kam heraus, dass er mit Kame- Janeiro, dessen Präsident er ist. Er ist ein könnte bereits geschrieben sein, der Plan B raden den Bau einer Bombe plante, um gedrungener Mann mit wachen, dunklen liegt vielleicht schon in der Schublade. gegen das niedrige Salär zu protestieren. Augen und gibt sich gern als Feingeist. Ge- Das Sonderbare ist, dass diese Vision Bolsonaro verließ die Armee, er wurde legentlich streut er französische Vokabeln 33 Jahre nach dem Ende der Diktatur Stadtrat in Rio de Janeiro und zog Anfang in die Unterhaltung ein. weniger Brasilianer abschreckt, als die Ver- der Neunzigerjahre als Abgeordneter in »Bolsonaro ist unser Kandidat«, sagt er. fechter der Demokratie wahrhaben möch- den Kongress ein, wo er während sieben »Ich bin sein Schwert und Schild.« ten. Wie in anderen Ländern Lateiname- Legislaturperioden ganze zwei Gesetzes- vorschläge durchbrachte. Sechsmal wech- selte er die Partei. Er war ein Hinterbänk- ler, der, wenn überhaupt, als obskurer Sprücheklopfer auffiel. Das Problem der Diktatur, sagte Bolso- naro einmal, sei gewesen, dass die Gene- räle gefoltert, aber nicht getötet hätten. Die Erfüllung einer Frau, erklärte er, be- stehe darin, Söhne zu gebären. Bolsonaro selbst hat vier Söhne gezeugt, von denen drei in die Politik gegangen sind. Nachdem in zweiter Ehe schließlich eine Tochter folgte, sagte er, dass er geschwächelt habe. 13 Jahre lang regierte in Brasilien Lulas linke Arbeiterpartei, unter deren Führung das Land erst einen sagenhaften Aufstieg erlebte, aber in der Folge einen nicht we- niger spektakulären Fall. Und seitdem wird einer wie Bolsonaro wahrgenommen. Um der Selbstbereicherung ein Ende zu setzen, will er große Staatsbetriebe priva- tisieren. Als Antwort auf die entfesselte

Gewalt forderte er Waffen für alle Bürger. / DER SPIEGEL VINCENT CATALA Ginge es nach ihm, dürften Polizisten un- Jugendliche beim Morgenappell der Militärschule Dr. Cézar Toledo: »Die Schüler gehorchen« gestraft morden. Er ließ sich im Jordan ein zweites Mal medienwirksam taufen. Spä- ter erklärte er, dass Gott nicht die Fähigs- Brasilien, verkündet Mourão, brauche rikas hatten die Streitkräfte auch in Brasi- ten auswähle, sondern dafür sorge, dass eine neue Verfassung. Allerdings sollte die lien nicht ohne Rückhalt in der Zivilgesell- seine Auserwählten befähigt würden. neue nicht von Volksvertretern ausge - schaft die Macht übernommen. Bei vielen Er ist jetzt auf einer Mission. Und das arbeitet werden, sondern von »Ehrenmän- sind sie auch heute noch hoch angesehen. Gebräu aus rechter Rhetorik und Religion nern«, die der Präsident ernennt. Vor Un- Im Vergleich zu Argentinien oder Chile funktioniert. ternehmern schwadronierte Mourão über haben die brasilianischen Generäle weni- An einem Sonntagmorgen, sechs Wo- den Volkscharakter der Brasilianer: Von ger Oppositionelle ermorden lassen. 400 chen vor dem Messerangriff, haben sich den indigenen Ureinwohnern hätten sie bis 500 Regimegegner sind einer unabhän- in einem Kongresszentrum in Rio de die Faulheit geerbt und von den Nachfah- gigen Wahrheitskommission zufolge den Janeiro rund 3000 Menschen eingefunden. ren afrikanischer Sklaven das Tricksertum. Schergen der Diktatur zum Opfer gefallen. Viele hüllen ihre Körper in Nationalflag- Solche Sprüche sind nicht nur Wahl- Diese Verbrechen wurden nie juristisch gen. Andere tragen Trump-Masken. Sie kampfrhetorik. Mourão macht womöglich aufgearbeitet. jubeln, als Bolsonaro auf die Bühne tritt, gezielt die bestehende Ordnung verächt- Für einen Mann wie Bolsonaro ist es um seine Präsidentschaftskandidatur offi- lich, um den Boden zu bereiten für eine deshalb jetzt möglich, mit der Sehnsucht ziell bekannt zu geben. Als sie mit In- Rückkehr der Militärs an die Macht. nach militärischer Disziplin und Ordnung brunst die brasilianische Hymne anstim- »Die Militärs«, versichert Mourão, »wer- zu spielen. Was dies für die Zukunft Brasi- men, bricht er in Tränen aus. den nur dann eingreifen, wenn die Institu- liens bedeuten könnte, kann man an eini- Bolsonaro ist kein großer Redner, er tionen nicht ihrer Funktion nachkommen.« gen Orten schon heute sehen. fasst sich auch an diesem Morgen kurz. Wer aber definiert, wann dieser Moment Im Bundesstaat Goiás, einer Hochburg »Wir können nicht erlauben, dass die Lin- gekommen ist? Die Antwort gab der obers- der Bolsonaro-Anhänger, gibt es inzwi-

82 schen 46 Schulen, die von der Militärpoli- 122 Schulen werden im ganzen Land Es ist das gleiche Phänomen wie bei Do- zei verwaltet werden. An einem Morgen von der Militärpolizei verwaltet. Im nächs- nald Trump. Wirres Gerede und Hetze im September stehen auf dem Parkplatz ten Jahr sollen weitere 70 dazukommen. sind normal geworden. Der Bolsonaro- der Militärschule Dr. Cézar Toledo, an der »Diese Schulen«, erklärte Bolsonaro auf Zirkus findet vor allem auf Facebook, 2150 Schüler unterrichtet werden, zahl- einer Kundgebung in São Paulo, »werden YouTube und Twitter statt. Die sozialen reiche Autos mit Bolsonaro-Aufklebern. als Modell dienen.« Er will große Teile des Medien ersetzen für ihn die traditionellen Jeden Morgen stellen sich die Kinder staatlichen Schulsystems militarisieren. TV-Spots. und Jugendlichen in der Sporthalle zum Wer unterstützt einen Mann, der solche Für das seriöse Publikum, die konser- Appell auf. Sie tragen beigefarbene Uni- Ideen vertritt? Wer wählt Bolsonaro? vative Wirtschaftselite Brasiliens, hat er formen und Barette. Die Haare der Jungen In Goiás sind es vor allem Familien der eine andere Wunderwaffe auserkoren: den sind kurz geschoren, die Mädchen müssen Mittelschicht. Leute wie João Batista Ma- Investmentbanker Paulo Guedes, der in ihre zusammenbinden. Ein Offizier kon- chado. In Anápolis, einer Großstadt zwei seinem Kabinett die Rolle eines Supermi- trolliert, ob die Schuhe geputzt sind. Autostunden von Brasília entfernt, be- nisters für Wirtschaft und Finanzen über- Später führt Schulleiter Oberst Luciano treibt er eine kleine Schreinerei. Drei sei- nehmen soll. Souza Magalhães durch die Räume. Er ist ner Kinder gehen auf eine Militärschule. Guedes gilt als ultraliberal, er hat in Chi- ein Offizier der jüngeren Generation, ein Machado schwankt noch, ob er Bolso- cago studiert, später eine Bank gegründet, Manager in Uniform. »Als mir die Leitung naro wählen soll oder einen traditionellen, er ist Multimillionär. der Schule übertragen wurde, fehlten hier konservativen Kandidaten. »Für Bolsona- Bolsonaro wurde auf Guedes aufmerk- Leute, die etwas von effizienter Verwal- ro bin ich wegen der Sicherheit«, sagt er. sam, weil der in einer Kolumne für die tung verstehen«, sagt er. Er besetzte Die Kriminalität in seinem Viertel habe Zeitung »O Globo« geschrieben hatte, Bolsonaro sei der »legitime Vertreter der brasilianischen Rechten«. Jetzt ist es die Aufgabe des Millionärs, seinem Chef einen seriösen Anstrich zu geben. Guedes sitzt an einem Tisch in seinem Büro in Rios Nobelviertel Leblon, sein Konzept klingt einfach: Nur jemand von außen könne das Geflecht aus Korruption und Staatsverschuldung zerschlagen. Je- mand wie Bolsonaro. »Ich habe ihm emp- fohlen, sämtliche Staatsfirmen zu privati- sieren«, sagt Guedes. Banken, Renten- fonds, der Ölkonzern Petrobras – alles soll auf den Markt. An der Börse von São Paulo kommen solche Sprüche an. Doch Bolsonaro hat of- fenbar unterschätzt, dass der ultraliberale Kurs seines Ministers in spe viele Mittel- schichtwähler verschreckt. Als Guedes die Neuauflage einer Steuer zur Finanzierung des defizitären Renten- systems vorschlug, sanken die Umfrage- werte Bolsonaros. Und auch seine Provo-

VINCENT CATALA / DER SPIEGEL VINCENT CATALA kationen nutzen sich ab. In den jüngsten Vizepräsidentschaftskandidat Mourão: »Ich bin sein Schwert und Schild« Umfragen ist sein Vorsprung auf sechs Pro- zentpunkte zusammengeschmolzen. Fer- nando Haddad, der Kandidat des inhaf- Schlüsselstellen mit Soldaten, die er aus dramatisch zugenommen. »Meine Tochter tierten Lula, hat in den vergangenen zwei dem Ruhestand geholt hatte. Stolz führt hatte Angst, auf eine normale Schule zu Wochen dramatisch aufgeholt. er die Videozentrale vor, sie liefert Bilder gehen, weil vor dem Tor mit Rauschgift Vielleicht kommt es in der Stichwahl aus den Klassenräumen in Hochauflösung. gedealt wird«, sagt Machado. »Uns fehlen also zu einem Duell zwischen Bolsonaro Als eine Sirene schrillt, fällt auf, wie still Disziplin und eine starke Hand.« und Haddad. Und dann könnte ausgerech- es sonst in der Schule selbst während der Bolsonaro will Schusswaffen leichter net jene Bevölkerungsgruppe, die Bolso- Pausen ist. Handys sind verboten; Jungen zugänglich machen: Eine Pistole in der naro gern in einem Atemzug mit Schwulen und Mädchen dürfen sich nicht berühren. Handtasche sei wirksamer gegen einen und Schwarzen als »Minderheit« verun- Die Lehrer tragen weiße Kittel, und wenn Vergewaltiger als neue Gesetze, hat er ein- glimpft, obwohl sie in Brasilien die Mehr- sie den Klassenraum betreten, müssen die mal gesagt. Wenn man seine Anhänger heit bildet, seinen Sieg vereiteln: Den größ- Schüler aufstehen. mit den Sprüchen konfrontiert, finden sie ten Widerstand gegen Bolsonaro gibt es »Unser Motto lautet Ordnung und Fort- meist, dass er es nicht so radikal gemeint unter den Frauen. schritt«, sagt Souza Magalhães. Die Schule habe. Vielen geht es mehr um die Rebel - Marian Blasberg, Jens Glüsing liegt im landesweiten Leistungsvergleich lion, den Aufstand gegen das politisch Kor- seit Jahren weit vorn. rekte. Der Inhalt ist abgekoppelt von der Video Auf die Frage, warum die Schule so er- Form. Der folgreich sei, antwortet eine Lehrerin: Letztlich kann Bolsonaro deshalb sa- Tropen-Trump »Die Präsenz des Militärs garantiert, dass gen, was er will, selbst wenn er sich wi- spiegel.de/sp402018brasilien die Schüler gehorchen. In den öffentlichen derspricht: Er hasst alle Linken, aber er oder in der App DER SPIEGEL Schulen gibt es keine Disziplin.« bekennt, dass er 2002 Lula gewählt hat.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 83 19.–20. NOVEMBER 2018 HAMBURG FUTURA

AUFWACHEN, EUROPA! Gelingt die digitale Aufholjagd?

Auf breiter Ebene durchlaufen Wirtschaft und Gesellschaft rasante Umbrüche und tiefgreifenden Wandel. Neben der technologischen Umsetzung gilt es sich auf die beschleunigte Dynamik der anstehenden Veränderungen einzustellen.

CHRISTOPH BORNSCHEIN BJÖRN BÖHNING MARCO BÖRRIES DR. STEFAN HEUMANN Torben, Lucie und Bundesministerium enfore Stiftung die gelbe Gefahr für Arbeit und Soziales Neue Verantwortung

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Mehr Informationen und Anmeldung unter: https://futura.spiegel.de Ausland »Er lebt wie ein Mönch«

Eritrea Eine Audienz bei Isaias Afwerki, dem seltsamen Autokraten am Horn von Afrika

uf einem kahlen Hügel 20 Kilo- meter außerhalb der eritreischen A Hauptstadt Asmara steht ein lehmverputztes Häuschen, das wie eine Bauhütte aussieht. Von hier aus regiert Präsident Isaias Afwerki sein klei- nes Land. Niemand wagt es, ihn dabei zu stören. Er zeigt sich nur selten in der Öf- fentlichkeit. Manchmal lässt er einen sei- ner Minister antanzen. Ausländische Be- sucher empfängt er fast nie. »Er lebt wie ein Mönch«, heißt es unter Vertrauten. An einem kühlen Morgen Ende August bietet sich eine der seltenen Gelegenhei- ten, diesem Mann zu begegnen, und das liegt an einem Bauernsohn aus dem All- gäu, dem er eine Audienz gewährt hat. Es ist der deutsche Minister für wirtschaft - liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller. Müller will Hilfe anbieten. Und er will verhindern, dass weiterhin Zehntausende Eritreer nach Europa flüch- / PHOTOTHEK UTE GRABOWSKY ten. Die Zeiten sind günstig. Alleinherrscher Isaias (l.), Entwicklungsminister Müller (2. v. l.): »Ich bin der Diktator« Denn Anfang Juli hat Eritrea Frieden mit dem Nachbarland Äthiopien ge- schlossen, nach 20 Jahren Feindschaft grünes Hemd. Allerdings stecken in den nem Ein-Parteien-Regime lässt er im Keim und einem Krieg, der zwischen 1998 und Brusttaschen fünf Kugelschreiber. Der ersticken. Schon als Anführer des Befrei- 2000 fast 100 000 Menschenleben ge - Kontrast zu Minister Müller in dunkel - ungskampfs gegen das äthiopische Terror- kostet hat. blauem Anzug mit Krawatte könnte schär- regime duldete er keinen Widerspruch. »Ich konnte es nicht glauben, als ich ihn fer nicht sein. Die sogenannten G-15, hochrangige Par- beim Friedensschluss zum ersten Mal in »Good morning, Mister President«, sagt teimitglieder und verdiente Kriegsvetera- meinem Leben lächeln sah«, sagt ein Leh- der Deutsche. Isaias’ Händedruck wirkt nen, die 2001 vorsichtige Kurskorrekturen rer, der anonym bleiben will, wie alle Ge- schlaff, er lächelt. vorschlugen, flohen oder verschwanden sprächspartner im Land. Sie fürchten den Der Minister und seine Delegation neh- für immer in Geheimgefängnissen. Bis heu- alten Alleinherrscher. men Platz an einem langen Arbeitstisch. te, 17 Jahre später, weiß man nicht, wie Jetzt aber hoffen viele Eritreer, dass Isai- An der Wand Geländekarten, im Bücher- viele noch leben. as endlich eine demokratische Wende ein- regal historische Werke: Churchill, Kissin- Man spürt die Angst der Untergebenen leitet, so wie es Premierminister Abiy ger, eine Serie über Hitlers Waffen-SS, ein vor ihrem Chef. Sogar der sonst so selbst- Ahmed in Äthiopien vormacht. Dass der grüner Spielzeugtraktor. Davor ein großes bewusst auftretende Außenminister Os- Staatschef ihr rückständiges Land nach Reißbrett, auf dem Isaias seine eigene Welt man Saleh wirkt in seiner Gegenwart wie Jahrzehnten der Isolation wieder zur Au- entwirft, Straßen, Wasserspeicher, Stau- ein Palastdiener. Minister Müller lässt sich ßenwelt öffnet und Aufbauhilfe von rei- dämme. Er will alles selbst gestalten, er davon wenig beeindrucken, er redet ein- chen Ländern wie Deutschland annimmt. geriert sich als Ingenieur, Techniker, Raum- einhalb Stunden mit seinem Gastgeber, Eritrea zählt zu den ärmsten Staaten der planer, Pflanzenzüchter. auch über heikle Themen. Schließlich ist Welt. Die Mehrzahl der rund fünf Millionen Die Konsultationen beginnen, der Re- er nicht nur als Samariter gekommen, son- Einwohner sind Subsistenzbauern. Nur porter muss den Raum verlassen. Später dern als Abgesandter der Bundesregie- zehn Prozent der Bevölkerung besitzen wird ein Teilnehmer der Runde erzählen, rung, und Berlin will die Einwanderung Mobiltelefone. Das Regime hat alle bürger- wie sich Isaias vorgestellt hat. aus Eritrea eindämmen. lichen Freiheiten abgeschafft, das Land »Hier bin ich, der schreckliche Dik- Nach Angaben des Bundesamts für Mi- wird deshalb oft mit Nordkorea verglichen. tator, der seine Leute foltert«, soll er ge- gration und Flüchtlinge haben in den ver- Isaias Afwerki – »Isaias« ist der Ruf - sagt haben – und die Besucher hätten da- gangenen fünf Jahren allein in Deutsch- name – tritt aus seiner Baracke. Ein hoch- bei so pflichtschuldig gelacht wie Ange- land 61000 Eritreer Asyl beantragt – das gewachsener Mann von 72 Jahren, der stellte, wenn ihr Chef einen miesen Witz ist die höchste Zahl aller afrikanischen Län- zehn Jahre jünger wirkt. Der Staatschef erzählt. der. Die meisten sind aus ihrer Heimat ge- ist gekleidet wie ein Landarbeiter: khaki- Isaias ist seit der Unabhängigkeit Eri- flohen, um dem »National Service« zu ent- farbene Kappe, Sandalen, Cargohose, oliv- treas 1993 an der Macht, jede Kritik an sei- gehen, einem drakonischen Wehr- und Ar-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 85 Ausland

Luxus und verlange von sei- nen Leuten bedingungslosen Einsatz. Urlaub machen? In ei- ner Bar in Asmara sitzen? Al- les nutzlos, bringt kein Körn- chen Hirse! Was sollten Hilfsprojekte schon bewirken? Isaias hat rei- che Verbündete auf der ande- ren Seite des Roten Meeres, vor allem die aggressive Regio- nalmacht Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die Milliardeninves- titionen angekündigt haben. Und die Chinesen möchten verstärkt in den Bergbau ein- steigen, Eritrea hat Boden- schätze: Kupfer, Gold, Phos- phat und Pottasche. Partner wie China sind willkommen, sie scheren sich nicht um Demokratie und Menschen- rechte. Eine radikale Wende wie in

UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK UTE GRABOWSKY Äthiopien sei in Eritrea nicht Geschäft in der Hauptstadt Asmara: Das Regime hat alle Freiheiten abgeschafft zu erwarten, sagt ein Diplo- mat. Präsident Isaias halte ein Mehrparteiensystem für ge- beitsdienst von unbegrenzter Dauer, den gemacht, dass er an klassischer Entwick- fährlich. Er verweise auf die abschrecken- alle Männer und Frauen ab dem Alter von lungshilfe nicht interessiert sei, sehr wohl den Fälle Südsudan und Somalia, wo die 18 Jahren ableisten müssen. aber an Investitionen deutscher Firmen. politischen Lager in Stammesgruppen und Das Regime begründete die Militarisie- Er mag keine Projekte von Helfern, die korrupte Clans zerfielen und ihre Länder rung der Gesellschaft jahrzehntelang mit am Ende auch noch sein autokratisches ins Chaos stürzten. Aber auch kleinere der Bedrohung durch das übermächtige Regime anklagen könnten. Reformschritte, etwa die Freilassung poli- Äthiopien. Nun, da der Erzfeind abhan- Isaias Afwerki hält an seiner Philo - tischer Gefangener oder die Begrenzung dengekommen ist, gibt es diese Rechtfer- sophie der »self-reliance« fest: Eritrea soll des nationalen Arbeitsdienstes, lehnt Isai- tigung nicht mehr. Und vielleicht lassen sich aus eigener Kraft entwickeln und nicht as ab. Er bleibt ein Gefangener seines sich jetzt auch die Fluchtursachen wirksa- von milden Gaben abhängig sein. Afrika- Starrsinns. mer bekämpfen. nische Staatschefs, die um Hilfe betteln, Die Minister seiner Regierung sind Das hofft jedenfalls die EU, wenn sie so- bezeichnet er als »geistige Pygmäen«; weil hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Pri- genannte Migrationspartnerschaften mit sie ihre Länder ausplünderten, könne aus vilegien zu sichern. Zu sagen haben sie afrikanischen Staaten anstrebt. Die Länder Afrika ohnehin nie etwas werden. ohnehin nichts. Isaias spielt sie gegenein - sollen als Gegenleistung für die Koopera- Dann steht der Präsident noch einmal ander aus, demütigt sie, feuert sie, wenn tion in der Flüchtlingsabwehr mehr Ent- mit dem Staatsgast aus Deutschland vor er Illoyalität wittert – und setzt sie anschlie- wicklungszuschüsse erhalten. Menschen- seiner Hütte und zeigt stolz hinunter ins ßend wieder ein. Der innerste Machtzirkel rechtsorganisationen sprechen angesichts Tal, auf Staudämme, Gewächshäuser, sau- ist ihm treu ergeben, er besteht vor allem des repressiven Regimes in Eritrea aller- ber parzellierte Äcker. Eine blühende aus hartgesottenen Militärs. dings von einem Pakt mit dem Teufel. Landschaft, die unter seinem Kommando Am Ende der Visite macht der Präsident Nach dem Treffen mit Isaias Afwerki geschaffen wurde. doch noch ein freundliches Angebot. Er sagt Minister Müller, er habe die Notwen- Isaias wirkt wie ein Asket mit soldati- sagt zu Minister Müller: »Schaut euch mei- digkeit demokratischer Reformen ange- scher Disziplin. Es heißt, er verachte jeden ne Kühe an, wenn ihr helfen wollt.« Es sprochen, die Menschenrechte, den Mili- geht um 640 Rinder, die seine Regierung tärdienst. »Die Frage war: Wie können wir 200 km SAUDI- in Deutschland gekauft hat. den Exodus stoppen?« ARABIEN Sie sind abgemagert, weil ihnen Der Präsident will dazu nichts sagen. Er SUDAN auf der 2300 Meter über dem Meer sitzt schweigend auf einer Steinmauer ne- Rotes gelegenen Hochebene von Asmara das ben seiner Bauhütte. »No! No!«, ruft er richtige Futter fehlt. Aber Minister Mül- ERITREA Meer und winkt ab, als er um ein Interview ge- ler, der Bauernsohn, hat keine Zeit beten wird. Man hätte ihn gern gefragt, Asmara JEMEN mehr, die Herde zu besichtigen, er muss warum vor drei Jahren sogar sein jüngster weiter, auf seinem Programm stehen Sohn Berhane abhauen wollte; er wurde noch sechs andere afrikanische Länder, an der Grenze zum Sudan festgenommen die er von seinem »Marshallplan mit und zurückgebracht. ÄTHIOPIEN Afrika« überzeugen will. Konkrete Vereinbarungen wurden bei AFRIKA Bartholomäus Grill dem Gespräch mit Müller nicht getroffen, DSCHIBUTI Mail: [email protected] und Isaias hat unmissverständlich klar -

86 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Integration Das tiefe Zerwürfnis der Eritreer in Deutschland weltweit zu kontrollieren«. So steht es in dem Demonstrationsaufruf gegen das Fes- tival im Juli. Auch Kibrom A. war auf der Verfeindet in der Fremde Demo, die Hände mit Eisenketten umwi- ckelt, vor dem Mund ein schwarzes Band mit einem Vorhängeschloss. In Eritrea lebe niemand frei, wollte er damit sagen. Seine Eltern hätten das kürzlich wieder Als Kibrom A. im Frühjahr 2012 am Orts- und Jugendgruppen in ganz Europa am eigenen Leib erfahren. Seine Mutter Bahnhof in Frankfurt am Main ankam, für das Regime. Jeder Flüchtling, der von habe im Sommer von Eritrea nach Dubai dachte er, es sei geschafft. Jetzt habe Schreckensherrschaft berichtet, bringt sie ausreisen dürfen, um seine Schwester zu er endlich Ruhe vor der Regierung in sei- in Erklärungsnot. Das führt immer wieder besuchen, erzählt er – eigentlich eine ner Heimat Eritrea. zu Auseinandersetzungen. gute Nachricht. Doch sein Vater habe Er hatte drei Jahre lang Militär- und Ar- In Manchester wurden neun Menschen kein Ausreisevisum erhalten. Er müsse als beitsdienst geleistet, bis es ihm gelang zu verletzt, als Demonstranten ein eritre - Reservesoldat bereitstehen, hätten ihm fliehen. Drei Jahre, in denen er mehrmals isches Festival stürmten. In Israel kam es die Beamten gesagt, mit 70 Jahren könne in ein Zwangsarbeitslager gesteckt und zu Auseinandersetzungen zwischen den er seinen Ausreiseantrag noch einmal dann gefoltert worden sei, so erzählt er es. beiden Seiten, eine Person wurde mit stellen. Um seinen Vater nicht in Gefahr Stundenlang hätten sie ihn an Armen und einem Messer verletzt. Auch vom Eritrea- zu bringen, will Kibrom A. nicht seinen Beinen an eine Stange gekettet hängen Festival in Gießen meldete die Polizei in vollen Namen veröffentlicht sehen. Aber lassen. Die Narben an seinen Unterschen- den vergangenen Jahren Pöbeleien und seine Geschichte will er erzählen, »damit keln zeugen davon. Deutschland hat ihm Randale. Offiziell handelt es sich um ein endlich was gegen diesen Diktator unter- und seiner Frau inzwischen politisches dreitägiges Kulturfestival, einige Tausend nommen wird«. Asyl gewährt, die beiden leben mit ihren Besucher aus ganz Deutschland kommen, Die Regimeunterstützer kann das nicht zwei Söhnen in einem Dorf bei Frankfurt, um eritreische Musikgruppen zu hören beeindrucken. Offiziell haben sie Ver- A. arbeitet in einer Druckerei. und Freunde und Familie zu treffen. ständnis für die Situation der Neuen. So Seit 2013 kamen 61088 eritreische Dahinter steht das Regime: Veranstalter wie Lemlem Kaleab, 60, die bis letztes Asylbewerber nach Deutschland, mehr als ist das eritreische Generalkonsulat in Jahr Vorsitzende des regimetreuen Eritre - aus jedem anderen afrikanischen Land. Frankfurt am Main. ischen Frauenvereins in Gießen war. Ein- Sie treffen auf viele Landsleute, die in den Die Gegenseite spricht deshalb von mal im Jahr fährt sie zurück in die Heimat. Siebziger- und Achtzigerjahren hierher einer Propagandaveranstaltung der Regie- Deshalb wisse sie, dass es überhaupt nicht geflüchtet waren – und die solche Ge- rung. Der gehe es darum, das »politische so schlimm sei. Sie habe aber nichts gegen schichten wie jene von Kibrom A. nicht Gedankengut in Deutschland zu imple- die, die jetzt hier seien, betont sie. Die glauben. Weil es in ihrem Heimatland an- mentieren und die eritreischen Flüchtlinge sollten bitte auch bleiben können und sich geblich keine Menschenrechtsverletzun- hier ein neues Leben aufbauen. gen gibt. Doch es gibt auch ganz andere Töne. Wer heute hierherkommt, fürchtet in März 2018, ein eritreischer Kulturverein der Regel den Präsidenten Isaias Afwerki, in Hessen feiert den Internationalen der diktatorisch herrscht. Wer früher Frauentag. Spricht man die Besucher auf kam, verehrt oft denselben Mann, der zu- die Asylbewerber aus ihrem Heimatland vor die Freiheitskämpfer im Guerillakrieg an, reagieren sie abweisend. Eine Frau gegen die äthiopische Zentralregierung um die sechzig sagt, sie verstehe nicht, angeführt hatte. So treffen Regime- »was die hier wollen«. Probleme gebe es unterstützer und -kritiker hierzulande schließlich in jedem Land. »Echte« aufeinander –und führen den Konflikt Fluchtgründe existierten nicht, da sind ihrer Heimat weiter. sie sich hier einig. Und die Berichte über In Deutschland leben ungefähr 90000 Menschenrechtsverletzungen? »Irgend- Eritreer, die Hälfte davon in Hessen, was muss man ja sagen, um Asyl zu schätzt das Felsberger Institut für Bildung bekommen«, sagt ein Deutsch-Eritreer. und Wissenschaft. In Gießen bilden Außerdem seien viele der angeblichen Eri treer die drittgrößte ausländische Be- Eritreer in Wirklichkeit Äthiopier oder völ kerungsgruppe. Dort wurden früher Somalier. schwerpunktmäßig eritreische Asylanträ- Wer die ganze und wer womöglich nur ge bearbeitet. Heute lassen die deutschen die halbe Wahrheit erzählt, ist schwer zu Behörden wenig Zweifel daran, welche sagen. Es gibt kaum unabhängige Berichte Sicht sie auf die Situation in dem abge- aus Eritrea. Hartmut Quehl vom Felsber- schotteten Land haben: Praktisch alle ger Institut ist einer der wenigen, die sich Asylanträge, die inhaltlich geprüft wer- wissenschaftlich mit eritreischen Migran- den, werden anerkannt. Die Quote lag in ten beschäftigen. Nicht jedem Asylbewer- diesem Jahr bei 94,6 Prozent. Nur bei Sy- ber sei in Eritrea etwas Schreckliches pas- rern ist sie mit 99,7 Prozent noch höher. siert, glaubt Quehl. Aber jeder kenne Die Flüchtlinge, die in den Siebziger- jemanden, der gefoltert worden oder im und Achtzigerjahren kamen, hatten mit Gefängnis gelandet sei. Eines sei sicher: Isaias’ Truppen für die Unabhängigkeit LEMRICH / DER SPIEGEL Die Gewalt könne jeden jederzeit treffen, gekämpft. Viele von ihnen unterstützen Demonstrant Kibrom A. in Gießen vollkommen willkürlich. Laura Backes seine Partei bis heute, engagieren sich in Narben an den Unterschenkeln Mail: [email protected]

87 Ausland Die große Lachnummer Russland Wladimir Putin ist als Lügner blamiert: Seine Topagenten haben sich nicht nur bei einem Giftanschlag in England erwischen lassen – jetzt kommt heraus, wie grotesk sie gestümpert haben.

s gibt Auftritte im Leben eines der anderen. Moskaus Auslandssender präsentiert Namen und Bilder der Haupt- Poli tikers, die so beschämend sind, »RT«, der früher »Russia Today« hieß, verdächtigen. Sie würden sich Alexander E dass man sie nicht mehr vergisst. streitet alles ab, Rechercheure des inter- Petrow und Ruslan Boschirow nennen und Einen solchen Augenblick hat sich nationalen Journalistennetzes »Belling- seien Offiziere des russischen Militärge- Russlands Präsident Wladimir Putin vor cat« entlarven die Lügen. heimdienstes GRU, sagt sie. zwei Wochen geleistet. Er hatte gerade zu Und was die Welt im Zuge dieses Wett- In Moskau reagiert man genauso, wie einem Minigipfel in Wladiwostok geladen. streits erfahren hat, das lässt nur einen man es schon seit März gehalten hat: Man Neben ihm saßen Chinas Präsident, die Schluss zu: Die Tore der Geheimdienst- nennt die Vorwürfe absurd. Eine Woche Premiers von Japan und Südkorea und welt, die der Kreml eigentlich dicht ver- später folgt Putins Auftritt in Wladiwostok, das Oberhaupt der Mongolei auf einem schlossen halten will, stehen in Wahrheit gewissermaßen eine Kehrtwende: Zum Podium. Man sprach über Wirtschaft und sperrangelweit offen. Hartnäckige Recher- ersten Mal gesteht Putin ein, dass es da große Politik. cheure können hereinspazieren und sehen, überhaupt einen Verdacht gibt, der es wert Aber plötzlich wechselte der russische wie grobschlächtig dort gearbeitet wird. ist, ausgeräumt zu werden. Moderator das Thema: ob Putin nicht et- Es geht in der Geschichte dieses Wett- Schon tags darauf zeigen die Kreml-Pro- was zu den britischen Vorwürfen sagen streits um jenen 4. März 2018, an dem Un- pagandisten von RT ein Interview mit wolle, zwei russische Geheimdienstoffizie- bekannte ein tödliches Nervengift auf die zwei kräftigen Männern. Sie behaupten, re hätten Sergej Skripal vergiftet? Es ging Türklinke des Hauses von Sergej Skripal tatsächlich Petrow und Boschirow zu hei- um jenen Giftanschlag im März, bei dem in Salisbury schmierten. Skripal, einst Of- ßen; sie seien keinesfalls Agenten, sondern der ehemalige britisch-russische Doppel- fizier des russischen Militärgeheimdienstes Handlungsreisende in Sachen Sportlernah- agent und seine Tochter in Salisbury GRU, hatte als Doppelagent für den briti- rung. Im Übrigen machten sie gern ge- schwer verletzt worden waren. schen Auslandsgeheimdienst MI6 spio- meinsam Urlaub. Mit steinerner Miene verfolgten die asia- niert. Er flog auf, wurde verurteilt und In Salisbury etwa hätten sie sich die be- tischen Nachbarn, wie Putin schmunzelte verbrachte sechs Jahre in russischer Haft. rühmte Kathedrale mit dem 123 Meter ho- und die offenkundig vorbereitete Antwort 2010 wurde er ausgetauscht und kam frei. hen Kirchturm angeschaut. Leider hätten abspulte: Sicherlich, man habe die Männer Das Häuschen in Salisbury war der späte sie gleich zweimal hinfahren müssen, weil gefunden, die London verdächtige. An der Lohn der Briten für seine treuen Dienste. das Wetter am ersten Tag so schlecht ge- Sache sei aber gar »nichts Besonderes und Das Gift auf der Türklinke wiederum war wesen sei. Kriminelles«, es handle sich »natürlich« der späte Lohn der Russen für seinen Ver- Der Auftritt sollte die beiden als Toll- um Zivilisten. Im Übrigen sei es am besten rat – so jedenfalls vermutet es die britische patsche und schwules Liebespaar präsen- für alle, so Putin, »wenn die selbst auftau- Regierung. Schnelle medizinische Hilfe ret- tieren, aber er missriet auf geradezu gro- chen und alles erzählen«. tete Skripal und seiner Tochter das Leben. teske Weise. Die Interviewerin – RT-Chef- Ob Putin ahnte, wie diese Worte nach- Obwohl die Briten umgehend Russland redakteurin Margarita Simonjan – war hallen würden? Es dauerte gerade einmal beschuldigten, blieben sie über Monate sichtlich bemüht, den Männern hartes zwei Tage, da hatten Journalisten ihn der hinweg konkrete Belege schuldig. Nachfragen zu ersparen. Es war eine große Lüge überführt: Die Verdächtigen aus Salis- Erst am 5. September, ein halbes Jahr Lachnummer. bury waren keine Zivilisten. Und es dau- nach dem Anschlag, tritt Premierministe- Dass Petrow in Wahrheit nicht Petrow erte nur zwei Wochen, da hatten die Re- rin Theresa May vor ihr Parlament und und Boschirow nicht Boschirow ist, das chercheure auch die tatsächliche können Journalisten von Bellingcat Identität eines der Männer ermit- und dem Moskauer Internetme - telt: Es handelt sich aller Wahr- dium »The Insider« schon am Tag scheinlichkeit nach um einen nach dem Interview belegen: In Oberst des Militärgeheimdienstes der Passdatenbank des russischen GRU (offiziell: GU), Elitekämpfer Innenministeriums – online zu- und Träger des höchsten Ordens gänglich für Mitarbeiter von Sicher- des Landes: »Held Russlands«. heitsbehörden – finden sie die Un- Und diesen Orden verleiht in aller terlagen der beiden. Darauf stehen Regel Putin persönlich. eindeutige Vermerke, dass es sich Das Fiasko für Putin erinnert in um falsche Identitäten handelt. vielem an den vergeblichen Ver- Petrow und Boschirow haben such des Kreml, die Verantwor- 2009 und 2010 ihre »Inlandspässe« tung für den Abschuss eines Pas- erhalten, das russische Pendant des sagierjets 2014 über der Ostukrai- Personalausweises. Aber die For- ne zurückzuweisen. Sogar die Pro- mulare dazu sind fast leer, als hät- tagonisten der Geschichte sind ten die Männer keine Biografien. dieselben wie damals: staatlich ge- VIA GETTY POLICE IMAGES METROPOLITAN Stattdessen enthalten die Papiere steuerte Propaganda auf der einen Verdächtige Tschepiga, »Petrow« in Salisbury gestempelte und geschriebene Hin- Seite, Online-Rechercheure auf Klarname auf der Heldenwand weise: »Streng geheim«, »Brief

88 HENRY NICHOLLS / REUTERS NICHOLLS HENRY Ermittler bei Spurensicherung in Salisbury: Eindeutige Vermerke in der Datenbank des Moskauer Innenministeriums liegt vor« und »Keine Auskünfte geben«. Journalisten ein geheimnisvoller Mann na- sondern einen Mann, den er höchstwahr- Für Nachfragen ist eine Telefonnummer mens Anatolij Tschepiga auf. Der junge scheinlich persönlich ausgezeichnet hat. angegeben. Wer sie wählt, landet im Ver- Offizier ist offenbar rasant aufgestiegen: Damit ist der Präsident selbst als Lügner teidigungsministerium, dem der Geheim- Er hat in der 14. Sondereinsatzbrigade der enttarnt. Ahnte er etwa nicht, wie nah die dienst GRU untersteht. GRU in Tschetschenien gedient und schon Rechercheure seinen Agenten auf den Fer- Aber was sind die wahren Identitäten 2014 den höchsten Orden des Landes er- sen waren? hinter den falschen? Darauf gibt es in den halten – vermutlich für Verdienste auf der »Natürlich nicht«, sagt die russische Poli- Passunterlagen keine Hinweise. Doch die Krim oder in der Ostukraine, wo Russland tikexpertin Tatjana Stanowaja. Sie sieht 2016 ausgestellten Auslandspässe von Pe- damals einen verdeckten Krieg begann. in Putins Worten eine Demonstration: »Er trow und Boschirow und ihre Buchungen Der Präsidenten-Ukas mit der Auszeich- hat öffentlich gezeigt, dass diese Männer zeigen, dass die beiden öfter ins Ausland nung ist zwar geheim. Dummerweise steht seinen vollen politischen Schutz genie- geflogen sind – erst nach Holland, Groß- Tschepigas Klarname in goldenen Buch- ßen.« Stanowaja schließt nicht aus, dass britannien und Frankreich, ab Herbst 2017 staben auf einer Gedenkwand mit den Na- der ehemalige Geheimdienstler Putin so- oft in die Schweiz, nach Genf. Im Inter- men anderer »Helden Russlands« unter gar selbst beim Erfinden der Legenden ge- view mit RT-Chefin Simonjan preist Bo- den Absolventen seiner Hochschule. Diese holfen haben könnte, die Petrow und Bo- schirow den Freizeitwert dieser Stadt an: Gedenkwand ist auf der Internetseite der schirow im Fernsehen präsentierten. Von dort komme man sehr schnell zum DWOKU zu sehen. Fotos in der Passda- Gennadij Gudkow, ehemaliger Oberst Mont Blanc. tenbank wiederum belegen, dass aus Ana- des Inlandsgeheimdienstes FSB und heute GRU-Offiziere, die so oft ins Ausland tolij Tschepiga Ruslan Boschirow wurde. Oppositionspolitiker, hat sich über Putins reisen, haben vermutlich Fremdsprachen Gerade mal zwei Wochen nach Putins Auftritt in Wladiwostok gewundert. »Ich gelernt, denken sich die Rechercheure. Auftritt in Wladiwostok ist damit seit Mitt- dachte, es wäre unter der Würde eines rus- Und auf Sprachunterricht ist unter ande- woch klar, dass Russlands Geheimdienst sischen Präsidenten, zwei Idioten aus der rem die Armeehochschule DWOKU in nicht irgendwen nach Salisbury geschickt Patsche zu helfen, die bei einer Operation Blagoweschtschensk spezialisiert. hat, sondern einen der höchstdekorierten aufgeflogen sind.« Beim Durchforsten von Bildern und Da- Geheimdienstoffiziere. Und dass Putin in Den Fernsehauftritt von Petrow und Bo- ten der DWOKU-Absolventen fällt den Wladiwostok nicht irgendwen gedeckt hat, schirow tags darauf hat er belacht. Jetzt

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 89 sagt er: »Russland steht als Staat von US-Präsident Donald Trump –, hinter dem Verbrechen von Salis- das der ehemalige Russlandchef bury. Das ist völlig offenkundig.« des MI6 Christopher Steele zusam- Das muss nicht heißen, dass Pu- mengetragen hat. tin selbst von der Operation in Sa- Hatte Skripal wirklich nichts mit lisbury wusste. Aber dass ein so dem Dossier zu tun? Das ist eine ranghoher Offizier losgeschickt spannende Frage, denn sie führt zu wurde, bestärkt den Verdacht, einer weiteren: ob nämlich Putins höchste Stellen hätten die Opera- Leute einen Mann beseitigen woll- tion abgesegnet. Und wenn Putin ten, der mit dem für Trump so ge- öffentlich diese Männer schützt, so fährlichen Dossier zu tun hatte. Just ist dies jedenfalls ein Zeichen, dass hier klafft eine große Lücke in Ur- er sich hinter den Militärgeheim- bans Erzählung. Er müsste, um die dienst stellt. Frage glaubwürdig zu beantworten, ALBERTO PEZZALI / ACTION PRESS PEZZALI / ACTION ALBERTO Diesen Schutz kann die GRU mehr über Skripals ehemaligen brauchen. Die Recherchen von Führungsoffizier beim MI6 berich- Bellingcat und der russischen Inter- ten. Dieser Pablo Miller traf Skripal net-Seite »The Insider« haben gro- regelmäßig in Salisbury – und ar- be Patzer der GRU aufgedeckt. beitete definitiv für Steele. Der Militärgeheimdienst hat nicht Davon schreibt Urban kein Wort. nur die verräterischen Vermerke in Er verschweigt auch, dass er selbst, der Passdatenbank hinterlassen, Mark Urban, ein Regimentskame- auf die Zehntausende russische rad dieses Pablo Miller war. Die Beamte zugreifen können. Er hat Frage, was Skripal seit 2010 trieb, außerdem seinen Agenten auch muss wohl doch jemand anders noch fortlaufend nummerierte Aus- beantworten. landspässe ausgestellt. Die Pass- Über Anatolij Tschepiga alias nummern von Petrow und Boschi- Ruslan Boschirow und seinen Be-

row alias Tschepiga unterscheiden / AFP GETTY IMAGES KOLESNIKOVA NATALIA gleiter Petrow kommt täglich mehr sich nur in der letzten Ziffer von - Zentralen von MI6, GRU: »Idioten in der Patsche« heraus. Am Donnerstag machte die einander. Zeitung »Kommersant« bereits Ähnlich nummeriert ist der Rei- Tschepigas ehemalige Nachbarn sepass eines GRU-Offiziers, der ausfindig. Und Roman Dobrocho- wegen eines geplanten prorussischen Um- dessen Laufbahn geführt. Er wollte ein tow, Chefredakteur von »The Insider«, ver- sturzversuchs 2016 in Montenegro aufflog. Buch über das Schattenduell der Geheim- spricht für kommende Woche eine neue Wer also einen GRU-Offizier identifiziert dienste schreiben. Es ist nun eines über Enthüllung: Es gehe um das britische Ge- hat, kann davon ausgehen, dass auch Pässe die Affäre Skripal geworden und erscheint schäftsvisum, das die beiden Agenten er- mit benachbarten Passnummern Agenten in diesen Tagen*. halten hatten. Offenbar hätten Russlands gehören. Die Petersburger Internetzeitung Skripal fühlte sich offenbar schon nach Geheimdienste nachgeholfen – mit direk- »Fontanka« hat diese Hypothese erfolg- dem Ende der Sowjetunion 1991 nicht ten Eingriffen in die Arbeit des britischen reich getestet. mehr an seinen Eid gebunden, er wollte Visazentrums. Ex-Geheimdienstler Gudkow fragt: seinen Abschied nehmen. Stattdessen Dobrochotow weiß, dass sein Job und »Wenn die GRU nicht versteht, dass On- landete er auf einem attraktiven Posten seine Internetseite in Russland in höchster line-Datenbanken heutzutage angreifbar in Madrid, wo ihn ein Agent des briti- Gefahr sind. Risiken gebe es, aber auf- sind, in welcher Welt lebt sie dann?« Nun schen Geheimdienstes MI6 anwarb. Auch geben wolle er nicht. »Wenn du den Tiger müssen die Lecks abgedichtet werden. Der nach Skripals Rückkehr nach Moskau am Schwanz gepackt hast, ist es gefährlich FSB sucht offenbar schon nach den Leuten, hielt diese Verbindung. Ab Mitte 2002 al- loszulassen«, zitiert er ein chinesisches die Petrows und Boschirows Passdaten an lerdings, so vermutet Urban, habe der Sprichwort. die Journalisten weitergaben. FSB dank eines spanischen Informanten Die russische Regierung hat die Enthül- Aber das grobschlächtige Vorgehen der Skripals Verrat erkannt. Zwei Jahre war- lungen von Bellingcat und »The Insider« GRU erklärt sich auch aus ihrer Vergan- teten die Kollegen ab, bis sie Skripal ver- auf gewohnte Weise kommentiert. Marija genheit. Sie ist nicht aus dem KGB hervor- hafteten. Sacharowa, Sprecherin des russischen Au- gegangen, sondern aus dem Militär. GRU- Urban hat Skripal zu Hause in Salisbury ßenministeriums, behauptet auf Facebook, Männer haben den Ruf, schneidig und besucht. Was er sah – Puzzlespiele, ein es handle sich um eine Kampagne, die ein draufgängerisch zu sein, so wie die »Spez- selbst gebasteltes Modell des Segelschiffs Ziel verfolge: von der Frage abzulenken, nas«-Brigaden, die dem Geheimdienst zu- HMS »Victory« –, sprach für einen Stu- was denn in Salisbury passiert sei – als wür- geordnet sind und hinter gegnerischen Li- benhocker, »der sich angewöhnt hatte, de das nicht von Tag zu Tag genau durch nien operieren können. Zeit totzuschlagen«. Urban glaubt nicht, diese Recherchen klarer. Das ist die Schule, die GRU-Agenten dass Skripal seit seinem Ruhestand ab Christian Esch durchlaufen, bevor sie ihre Zeit am 2010 besonders aktiv war. Keinesfalls habe Twitter: @Moskwitsch Schreibtisch verbringen. So wurde nicht er am sogenannten Steele-Dossier mit - nur Oberst Anatolij Tschepiga ausgebildet, gewirkt – jenem ungeheuerlichen Bericht Video sondern auch das Opfer Skripal. Das Le- über die auch intimen Russlandkontakte Thriller in ben der beiden weist viele Parallelen auf. Moskau Der BBC-Journalist Mark Urban hat im * Mark Urban: »Die Akte Skripal. Der neue Spionage- spiegel.de/sp402018skripal Sommer 2017, Monate vor dem Giftan- krieg und Russlands langer Arm in den Westen«. Droe- oder in der App DER SPIEGEL schlag, lange Gespräche mit Skripal über mer; 352 Seiten; 19,99 Euro.

90 Ausland

Als er in die Klinik eingeliefert wurde, ein: »Ich weiß, dass viele in den Sicher- »Ein anderes musste er künstlich beatmet werden. heitsbehörden meinen, diese Strafe sei an- Nun machen ihm noch seine Augen zu gesichts der weltweiten Blamage viel zu schaffen, die Pupillen sind unnatürlich ge- gering ausgefallen.« Russland« weitet, er kann schlecht lesen – genau wie Außerdem hatte er zuvor im Fall dreier an jenem 11. September in den Abendstun- russischer Journalisten recherchiert, die in Demokratie den, als alles begann: »Meine Sehfähigkeit der Zentralafrikanischen Republik ermor- Den mutmaßlichen ließ nach, es war das Erste, was ich be- det worden waren. Diese waren dort Söld- Giftanschlag hat er überlebt. merkte, bevor ich dann schnell ganz weg- nern der »Wagner«-Truppe auf der Spur, Nun bereitet Pussy-Riot-Aktivist getreten bin; jetzt ist es das letzte Symp- die auch schon in Syrien kämpfte – und tom, das geblieben ist.« die offenbar von einem alten Vertrauten Pjotr Wersilow in Berlin seine Wersilow hat keine Zweifel, wer die und Weggefährten Putins aus St. Peters- Rückkehr nach Moskau vor. Hintermänner des vermutlichen An- burg finanziert wird (SPIEGEL 39/2018). schlags waren. »Ich glaube, es waren »Einer der Toten war ein enger Freund, Leute vom Militärgeheimdienst GRU«, mit dem ich zu diesem Thema zusammen- ein Domizil in Berlin-Mitte wird sagt er – also jener Einheit, der auch die gearbeitet habe«, sagt Wersilow. S ähnlich scharf bewacht wie die Pri- beiden Verdächtigen im Fall Skripal ange- Am Abend, bevor er vergiftet wurde, vatwohnung der Bundeskanzlerin hören sollen. hatte er neue Informationen in dem Fall ein paar Straßen weiter: Am Bordstein Er ahne auch, warum es ihn jetzt traf – erhalten. »Offenbar kommen wir der Wahr- parkt ein Polizeiwagen, vor der Haustür obwohl er doch schon mehr als zehn Jahre heit näher, das macht wohl einige nervös«, wacht ein breitschultriger Beam- meint Wersilow. Er will weiter- ter mit verspiegelter Sonnenbril- recherchieren, zumal mittlerwei- le, zwei Kollegen auf Klappstüh- le sichergestellt sei, dass die len lassen ein paar Etagen weiter Ergebnisse nicht verloren gehen oben den Wohnungseingang – selbst wenn es weitere Anschlä- nicht aus den Augen. ge auf Beteiligte geben sollte. Der Mann, den sie schützen In Berlin fühle er sich sicher, sollen, wirkt angesichts der sagt Wersilow. Den Polizei- Umstände erstaunlich entspannt. schutz erhielt er, weil seine Ver- Pjotr Wersilow trägt ein graues trauten vor dem Haus verdäch- T-Shirt, Shorts, Bart und eine tige Beobachtungen machten grün schillernde Kunststoffbrille und sich verfolgt fühlten. Sobald – unten auf der Straße würde er seine Behandlung vollends abge- kaum auffallen mit seinem Look schlossen ist, will er zurück nach zwischen Hipster und Nerd. Wie Moskau, wo seine zehnjährige ein gefährlicher Staatsfeind und Tochter lebt. Landesverräter wirkt der 30-Jäh- Seine Partnerin Nikulschina rige nicht. Genau dafür halten hält eine Rückkehr für »viel zu ihn aber offenbar mächtige Krei- gefährlich«. Doch der Aktivist, se in seiner Heimat Russland. der auch mit Putin-Gegner Ale- Noch bewegt sich der politi- xej Nawalny befreundet ist, gibt sche Aktivist langsam und sich entschlossen. »Wir wollen bedächtig durch die Wohnung, ein anderes Russland, dafür zu er war lange bewusstlos und des- kämpfen ist eben mein Job.« Er orientiert, doch nun ist er wieder sei nicht naiv oder fahrlässig, völlig klar. Eloquent und mit fes- die Risiken seien ihm bewusst. ter Stimme berichtet er über das, »Ich muss jetzt dafür sorgen, was ihm in den vergangenen dass ich ihnen tot mehr schade 18 Tagen geschehen ist. Erst als lebendig«, sagt er. wenige Stunden ist es her, dass Dafür sucht er nun die inter- die Ärzte ihn aus der Berliner nationale Öffentlichkeit: Ob- Charité entließen, wo sie ihn aus wohl noch schwach, gibt er auch Sicherheitsgründen unter einem CNN und der BBC Interviews. deutschen Decknamen behan- Wersilow hat die russischen Be-

delt hatten – der steht auch MACHADO RIOS / DER SPIEGEL ISABEL hörden über seinen Anwalt auf- auf den Befunden und Arztbrie- Aktionskünstler Wersilow: »Ich lasse mich nicht einschüchtern« gefordert, im Fall seiner mut- fen, die auf dem Küchentisch maßlichen Vergiftung offiziell verstreut liegen. zu ermitteln. Hat er eine Bot- Die Mediziner bescheinigen dem poli- als politischer Aktivist und Künstler in der schaft an jene, die ihm offenbar nach dem tischen Künstler und Aktivisten der Grup- russischen Opposition tätig sei. Während Leben trachten? »Ich lasse mich nicht ein- pe Pussy Riot darin, dass er mit hoher des WM-Finales Mitte Juli in Moskau hat- schüchtern und werde weitermachen«, Wahrscheinlichkeit vergiftet wurde – mit ten er, seine Lebensgefährtin Nikulschina sagt er. »Wir haben im Russischen ein ähn- welcher Substanz genau ist weiterhin un- und einige weitere Aktivisten unter den liches Sprichwort wie ihr Deutschen«, fügt klar. Wäre seine Lebensgefährtin Weroni- Augen von Wladimir Putin das Fußballfeld er hinzu: »Was mich nicht umbringt, ka Nikulschina in Moskau nicht bei ihm gestürmt, um ein Zeichen für die Frei - macht mich stärker.« gewesen und hätte sie nicht die Ambulanz lassung politischer Gefangener zu setzen. Marcel Rosenbach gerufen, Wersilow hätte kaum überlebt. Die Aktion brachte ihnen 15 Tage Arrest

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 91 Lese-Stipendien für Studenten

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»Sie hat immer weiter ›Nein‹ gesagt, ›mach das nicht‹.« ‣S.94 Prognose 2760,0 1916,0 Prognose Einnahmen bei Fußball-Europameisterschaften in Millionen Euro 2300,0 1390,9 Fernsehrechte Werberechte Ticketverkäufe sonstige 1350,9

855,2

229,9 147,3 14,7 40,9

1988 1992 1996 2000 2004 2008 2012 2016 2020 2024 in Schweden EnglandBelgien/ Portugal Österreich/ Polen/ Frankreich europaweit Deutschland Deutschland Niederlande Schweiz Ukraine 8 8 16 16 16 16 16 24 24 24 teil- nehmende Nationen

Die Gelddruckmaschine Fußball rollt nach Deutschland. Der lung wie erwartet an, könnten die Einnahmen bei den kommen- DFB bekam am Donnerstag den Zuschlag, die Europameister- den Turnieren jeweils um rund 20 Prozent steigen. Der DFB schaft 2024 auszurichten. In den vergangenen 30 Jahren hat sich rechnet für die Euro 2024 mit Spaß und Begeisterung – einem das EM-Teilnehmerfeld verdreifacht, im selben Zeitraum haben neuen Sommermärchen. Und er hofft, auch finanziell von die- sich die Umsätze mehr als verhundertfacht. Hält diese Entwick- sem Boom zu profitieren.

Magische Momente Ich ahne, was er als Nächstes tun wird – reagiere nicht mehr auf sein Spiel, sondern »Ich fixiere den Stempel auf dem Ball« bestimme, wie der Ballwechsel verläuft. SPIEGEL: Offensichtlich hat Sie diese Timo Boll, 37, über den siebten EM-Triumph seiner Tischtenniskarriere Fähigkeit auch im März auf Platz eins der Weltrangliste geführt, vor den scheinbar SPIEGEL: Sie wurden Boll: Dass ich diese Partie noch drehen übermächtigen Konkurrenten aus China. in Alicante gerade zum konnte, hat mich selbst überrascht. In Boll: Das fühlte sich natürlich super an. siebten Mal Europa - einem solchen Moment geht es um die Als ich mich vor drei Jahren einer Knie- meister. Gibt es einen perfekte Balance. Um Ausgewogenheit operation unterzog, war ich nicht sicher, wiss enschaftlich belegten zwischen Gelassenheit und Anspannung, ob es für Siege gegen die besten Chinesen Grund für Ihre Dauer - Selbstvertrauen und Konzentration. nochmals reichen würde. dominanz? SPIEGEL: Wie erreichen Sie diesen SPIEGEL: Haben Sie nach all den Erfolgen Boll: Belegt ist nur mein außergewöhn - Zustand? noch Tischtennisträume? liches Sehvermögen. Bei einem Test Boll: Ich arbeite mit einem Mantra und mit Boll: Ich will mich für die Olympischen kam ich mal auf 280 Prozent Sehkraft der Atmung. Ich versuche, auf einen Null- Spiele in Tokio qualifizieren und dort um bei dynamischen Bewegungen. Anders punkt zu kommen, an dem ich alles um eine Einzelmedaille kämpfen. Damit hat gesagt: Ich kann Dinge, die auf mich mich herum ausblende. Wenn das gelingt, es bisher leider nicht geklappt.

XINHUA / DDP / SIPA USA / DDP SIPA XINHUA zukommen, auch bei hohem Tempo noch dann durchschaue ich sogar den Gegner. SPIEGEL: 2020 wären Sie 39. klar erkennen. Boll: Na und? Wenn mein Rücken mit- SPIEGEL: Das ist sicher von Vorteil. spielt, ist das kein Problem. Schauen Sie Boll: Klar. Ich fixiere den Stempel sich Dirk Nowitzki oder Roger Federer an. des Herstellers auf dem Tischtennisball. Ich trainiere aber auch deutlich weniger So erkenne ich den Drall und kann als früher. Die Technik ist mir ja längst in mich auf die Situation einstellen. Andere Fleisch und Blut übergegangen – Fitness Aspekte, wie mein Antizipations- und Stabilität sind wichtiger. vermögen oder Details der Feinmotorik, SPIEGEL: Wann kriegen Sie es das nächste sind schwer messbar. Mal mit den Stars aus China zu tun? SPIEGEL: Trotz Ihrer geschärften Wahr- Boll: Beim Weltcup vom 19. bis zum nehmung wären Sie im EM-Halbfinale 21. Oktober in Paris. Ich werde ausnahms- fast an Ihrem Kumpel Patrick Franziska weise meine Frau und meine Tochter mit-

gescheitert. Im entscheidenden siebten / REX/ SHUTTERSTOCK EPA-EFE nehmen. Das Turnier findet nämlich im Satz lagen Sie bereits 3:7 zurück. Boll bei der EM in Alicante Disneyland statt. PK

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 93 Sport Ihr Name ist Kathryn

Fußball Eine Amerikanerin behauptet, Cristiano Ronaldo habe sie in Las Vegas vergewaltigt. Der Superstar erkaufte vor Jahren ihr Schweigen. Jetzt tritt die Frau erstmals ans Licht und verklagt den Portugiesen. Sie besitzt ein Dokument, das für ihn äußerst gefährlich sein könnte. MARIA FECK / DER SPIEGEL MARIA FECK Klägerin Mayorga: »Ich habe ihn weggestoßen und Nein gesagt«

94 ie sollte unsichtbar sein, zum chen, Cristiano Ronaldo habe sie verge- sich nicht äußern. Sollte sie dagegen ver- Schweigen verdammt, auf ewig. waltigt. stoßen, so sieht es der Vertrag vor, muss S Niemand sollte von dieser Nacht Über das Schweigeabkommen hat der sie das Geld Ronaldo zurückzahlen und erfahren, damals, 2009 in Las SPIEGEL berichtet, erstmals vor rund an- womöglich sogar Schadensersatz leisten. Vegas, und vor allem nicht von ihrer derthalb Jahren (16/2017). Die Unterlagen Nun redet sie doch. Erstmals. Und sehr Version. dazu hat die Enthüllungsplattform Foot- ausführlich. Warum? Was hat sie dazu Sie hat einen Vertrag unterschrieben ball Leaks dem Nachrichten-Magazin bewogen? Im Wesentlichen sind es drei und Geld dafür bekommen, ihre Vorwürfe überlassen. Gründe. niemals laut auszusprechen. Der SPIEGEL hatte Kathryn Mayorga Erstens: Sie hat einen neuen Anwalt, er- Aus Angst um sich und ihre Familie, – im Artikel bekam sie das Pseudonym Su- fahren und unerschrocken, der das Schwei- sagt sie, habe sie zugestimmt. Aus Ohn- san K. – im Laufe der damaligen Recher- geabkommen als rechtswidrig bewertet macht, ihm nichts entgegensetzen zu kön- chen kontaktiert. »Kein Kommentar«, lau- und Ronaldo in Kathryn Mayorgas Namen nen. Aus Hoffnung, mit allem abschließen tete ihre Erklärung. Bei einer Begegnung verklagt. Dabei stützt er sich auch auf ein zu können. Doch das sei ihr nie gelungen, vor ihrem Wohnhaus rannte sie davon. Papier, 27 Seiten stark, das für den Fuß- sagt Kathryn Mayorga. Nach Erscheinen des ersten Artikels ver- ballprofi erhebliche Folgen haben könnte. Die Amerikanerin ist eine schlanke Frau öffentlichte Ronaldos Spielerberaterfirma Darin wird geschildert, wie Ronaldo die mit langen, dunklen Haaren und grünen Gestifute ein Statement: Die Vorwürfe sei- Nacht erlebt hat. »Sie hat mehrfach Nein Augen, 34 Jahre alt. Bis vor Kurzem hat en nichts als »journalistische Fiktion« und und Stopp gesagt«, wird der Fußballer in sie an einer Grundschule gearbeitet. Den basierten »komplett auf Dokumenten«, dem Dokument zitiert. Job, sagt sie, habe sie aber aufgegeben, die »nicht unterschrieben wurden« und in Zweitens: Die Welt hat sich verändert »weil ich jetzt all meine Kraft brauche«. denen die »Parteien nicht zu identifizie- für Frauen, die reklamieren, Opfer sexuel- Kraft, sich dem Mann entgegenzustellen, ren« seien. ler Übergriffe geworden zu sein. Vor einem von dem sie behauptet, er habe sie vor neun Diese Darstellung ist falsch. Jahr wurden erstmals Vorwürfe gegen Jahren vergewaltigt, was dieser bestreitet. den US-amerikanischen Filmproduzenten Der Mann ist nicht irgendwer. Der Harvey Weinstein bekannt. Jahrzehnte- Mann ist Cristiano Ronaldo. Ein Fußballer lang soll er Frauen belästigt, genötigt oder der Superlative, wenn es um Erfolg, Geld gar vergewaltigt haben. Weinstein be - und Beliebtheit bei den Fans geht. streitet das. Eine unbekannte Frau gegen Ronaldo – Nach Bekanntwerden des Skandals größer könnte die Asymmetrie nicht sein. ermutigte die US-Schauspielerin Alyssa Sie waren sich am 12. Juni 2009 in Milano Frauen, über Twitter den Hashtag einem Nachtklub in Las Vegas begegnet. #MeToo zu nutzen, wenn sie sexuelle Der Fußballer machte dort mit seinem Übergriffe erlebt haben. Schwager und seinem Cousin Urlaub. Es Zehntausende folgten dem Aufruf, seit- war der Sommer, in dem der damals 24- dem hat sich das gesellschaftliche Klima Jährige von Manchester United zu Real gewandelt. Weltweit ist es für Politiker, Ju- Madrid wechselte, für die damalige Re- risten und Stammtischrunden schwerer ge- kordsumme von 94 Millionen Euro. worden, sexuelle Gewalt an Frauen weich- Kathryn Mayorga, damals 25 Jahre alt, zuzeichnen – insbesondere dann, wenn arbeitete in dieser Zeit viel als Model. der mutmaßliche Täter über Geld, Macht Einer ihrer Jobs war es, sich mit anderen und Ruhm verfügt. jungen, schönen Frauen vor Bars aufzu- Die #MeToo-Bewegung hat vielen Be- halten, um Gäste anzuwerben. troffenen zu mehr Mut und Selbstbewusst- An jenem Freitag im Juni kreuzen sich sein verholfen. Auch Kathryn Mayorga die Wege des Models und des Multimil - fühlt sich dadurch bestärkt. Viele Stunden, lionärs im VIP-Bereich des »Rain«. Der sagt sie, habe sie vor ihrem Rechner ver- Nachtklub gehört zum Palms Casino Re- bracht und die Geschichten anderer Frau-

sort. Paparazzi-Fotos zeigen, wie Kathryn / IMAGEPHOTO / GRIBAUDI IMAGO en gelesen. Mayorga und Cristiano Ronaldo eng bei- Fußballprofi Ronaldo Und drittens: Sie sieht darin ihre einzige einanderstehen, sich unterhalten. Er trägt 5/7 Minuten Chance herauszufinden, ob noch andere ein weißes Hemd mit schmaler, schwarzer Frauen behaupten, von Ronaldo miss- Krawatte, sie ein hellgraues Kleid, Gold- braucht worden zu sein. »Diese Frage hat schmuck. Er gibt sich cool, sie strahlt ihn Zahlreiche Dokumente, die dem SPIEGEL mich nie losgelassen«, sagt sie. an. Nur Stunden später rätseln Boulevard- vorliegen, belegen das. Darunter solche, medien auf der ganzen Welt, wer die »mys- die Ronaldo selbst unterschrieben hat. Las Vegas, vor wenigen Wochen. Kathryn teriöse Brünette« an seiner Seite ist. Was erklären könnte, warum er entgegen Mayorga sitzt an einem langen, dunklen In den frühen Morgenstunden feiern sie seiner Ankündigung anderthalb Jahre lang Konferenztisch in der Kanzlei ihres An- in Ronaldos Penthouse im nahe gelegenen nicht juristisch gegen den SPIEGEL vorge- walts, an ihrer Seite ihre Mutter Cheryl Hotel Palms Place weiter. Was dort in gangen ist. Mayorga und ihre Therapeutin. einem der Schlafzimmer geschieht, wissen In dem öffentlichen Statement diskre- Kathryn Mayorga trägt einen schwarzen nur zwei Personen: Kathryn Mayorga und ditierte Gestifute das mutmaßliche Opfer. Overall und lange, türkise Ohrringe. Sie Cristiano Ronaldo. Sie würde sich weigern, sich »öffentlich zu hat sich sorgfältig geschminkt, doch das Fest steht, dass der Fußballstar ihr Mo- dem Vorwurf zu bekennen und ihn zu be- Make-up lenkt nicht von ihren müden Au- nate später im Zuge einer außergericht - stätigen«. gen ab. Seit mehr als einer Woche, sagt lichen Einigung 375000 US-Dollar zahlte. Eine perfide Vorhaltung. Denn genau sie, habe sie nicht mehr richtig geschlafen. Im Gegenzug unterschrieb Kathryn Ma- das ist das Herzstück der außergericht- Sie wirkt erschöpft, zugleich ist sie sehr yorga, niemals über ihren Vorwurf zu spre- lichen Einigung: Kathryn Mayorga darf aufgeregt. Ihr Blick huscht durch den

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 95 Sport

Raum, immer wieder streicht sie ihre Haa- Sie hat Journalistik an der Universität von Dann erreichte sie die Nachricht ihrer re zurück. Las Vegas studiert. Freundin Jordan*. Sie trafen sich im Rain, Kathryn Mayorga holt tief Luft. Sie will Sie berichtet von ihrer Jugend in der gingen in den VIP-Bereich. »Jordan kann- zunächst über ihre Ängste reden, Sätze amerikanischen Vergnügungsmetropole. te dort jeden, deshalb konnten wir uns frei sprudeln nur so aus ihr heraus: »Er ist so »Es war toll. Die Hotelpartys und Konzer- bewegen. Und plötzlich war er da, griff berühmt. Ich habe Angst um mein Leben, te, ich habe mit meinen Freundinnen viele meinen Arm und sagte so etwas wie: Du, um meine Familie.« Sie befürchtet, dass Nächte durchgetanzt. Klar haben wir auch komm mit mir mit.« Kathryn Mayorga man ihr etwas antun könnte, dass die Me- was getrunken. Aber ich bin jemand, der sucht nach Worten. »Das war schon merk- dien und die Ronaldo-Fans sie verfolgen immer die Kontrolle behalten muss.« würdig.« würden. »Deshalb habe ich den Vertrag Kurz nach ihrem Studium, 2008, heira- Sie wusste, wer er war und dass er an damals unterschrieben. Ich wollte damals tete sie ihren Freund, einen Barkeeper al- jenem Abend in dem Klub feierte. »Jordan keinen Prozess, es sollte niemand wissen, banischer Herkunft, der nebenbei Com- war mit einem Fußballer zusammen, sie was mir passiert ist.« puter reparierte, darunter die ihrer Eltern. kannte all die Typen. Ich hatte ihn auch Sie beginnt zu weinen, atmet schnell »Ich hatte irgendwie diesen Druck, jetzt selbst mal gegoogelt. Ich wusste, dass er und flach. Sie rollt den schweren Leder- hast du die Uni fertig, jetzt musst du auch berühmt ist.« sessel zurück, auf dem sie sitzt, schlägt die heiraten«, sagt sie. »Und es fühlte sich rich- Ronaldo habe sie ausgelacht, weil sie Hände vor ihr Gesicht. Ihre Therapeutin tig an.« nicht gleich mit ihm kommen wollte, er- sorgt sich um sie. Für eine halbe Stunde Der Richtige war er nicht. Etwa ein Jahr zählt sie. Dann habe er ihr ein Getränk be- gehen sie in einen Nebenraum. nach der Hochzeit trennte sich das Paar, sorgt, sie seinen Begleitern vorgestellt. Zurück bleibt ihre Mutter Cheryl, 66, und Kathryn Mayorga lebte fortan weiter »Der ist wie mein Bruder, der ist auch wie eine kleine Frau mit hochgesteckten, bei ihren Eltern. Deren Haus liegt in einer Familie, irgendwie so.« Sie hätten sich dunklen Haaren. Sie wählt ihre Worte be- der besseren Gegenden von Las Vegas. Ge- noch ein bisschen unterhalten, und dann dächtig. »Ja, sie hat große Angst. Aber pflegter Vorgarten, große Garage, ein schö- habe er nach ihrer Telefonnummer gefragt. andererseits findet sie keinen Frieden«, ner Pool, weiter Blick über die Stadt. »Ich habe sie ihm gegeben, und weg war sagt sie. »Wissen Sie, es gab Zeiten, da »Mein Leben war zu dieser Zeit wirklich er. Und ich dachte: okay, cool.« rief sie mich an, völlig aufgelöst, weil sein toll«, sagt Kathryn Mayorga. »Ich habe viel Kathryn Mayorga sagt, dass sie danach Gesicht mal wieder auf einem großen Pla- Sport gemacht, mich vegan ernährt, denn Jordan gesucht und sie draußen mit ein kat oder im Supermarkt auf dem Cover ich wollte noch mehr ins Modeln einstei- paar Freunden gefunden habe. In dem Mo- eines Magazins war. Er, der perfekte, ma- gen.« Sie sei viel gereist damals, was ihr ment sei eine SMS von Ronaldo gekom- kellose Fußballgott. Und sie, die an vielen auch der Job vor den Bars ermöglicht habe. men, in der sinngemäß gestanden habe: Tagen morgens nicht mal aufstehen kann. Kathryn Mayorga lehnt sich in ihrem »Hey, hier oben ist eine Party. Bring deine Seinetwegen.« Cheryl Mayorga schüttelt Stuhl vor, ihr Blick ist eindringlich. »Seine Freunde mit.« Jordan und sie seien der den Kopf. »Das ist einfach falsch. Und Anwälte haben versucht, es anders darzu- Einladung ins Palms Place, das Hotel ne- es wird nie aufhören, wenn sie nicht end- stellen. Aber es war ein Promotionjob wie benan, gefolgt. In der Lobby hätten Ro- lich Gerechtigkeit erfährt. Wir stehen hin- jeder andere. Die einzige Vorgabe, die naldo und seine Jungs gewartet, doch die ter ihr.« wir hatten, war, Gäste anzuwerben, dabei Party sei schon vorbei gewesen. »Wir« ist die Familie Mayorga. Auch Va- Spaß zu haben und einen Drink in der »Er sagte dann, wir könnten alle noch ter Larry, 64, und Bruder Jason, 37, be- Hand zu halten, was auch Wasser sein zu ihm gehen. Und wir dachten: Die Aus- richten davon, wie die Nacht vor neun Jah- konnte. Mehr nicht.« sicht dort ist atemberaubend, machen wir ren Kathryn verändert hat. Erschöpft lehnt sie sich zurück, sammelt ein paar Fotos, und dann gehen wir nach Sie ist in Las Vegas geboren und aufge- sich. Dann beginnt sie, von der Nacht zu Hause.« wachsen. Der Vater, inzwischen in Rente, erzählen. Der Nacht, von der sie sagt, sie 2009 war der Palms-Hotel- und -Casino- war 32 Jahre lang Feuerwehrmann, die habe ihr Leben zerstört. Der Nacht, die komplex die In-Adresse schlechthin in Mutter kümmerte sich um die Kinder. sie, obwohl sie so viele Jahre zurückliegt, Las Vegas. Ronaldo logierte in Apartment »Wir sind einfache, aber von Grund auf so beschreibt, als liefe ein Video vor ihrem 57306, einem der Penthäuser. Eine Nacht ehrliche Leute«, sagt Cheryl Mayorga. inneren Auge ab. darin kostet heute rund tausend Dollar. Kathryn spielte Softball und Fußball, Auch an jenem Abend hatte sie gearbei- Zur Ausstattung gehören eine Küche, war bei den Pfadfindern. »In der Schule tet, anschließend feierte sie mit Freunden. ein großes Wohnzimmer, zwei Schlafzim- hatte sie jedoch große Probleme, sie hat »Es gab Champagner, von dem ich aber mer mit angrenzenden Luxusbädern. Auf ADHS und ist lernbehindert«, sagt die nur ein bisschen getrunken habe. Wie ge- dem Balkon befindet sich ein Jacuzzi mit Mutter. Es falle ihrer Tochter schwer, sich sagt, ich war damals total auf Diät.« Blick über die Stadt. zu konzentrieren, ihre Gedanken zu sor- tieren und zu behalten. Auch deshalb spre- che sie manchmal so schnell.

Die Tür geht auf. Kathryn Mayorga kommt zurück. Sie hat sich gefangen, so scheint es. Ihre Mutter berichtet, was sie in ihrer Abwesenheit erzählt hat. »Ja, ich hatte es schwer in der Schule«, sagt Kathryn Mayorga. »Ich konnte nicht in der Gruppe lernen, hatte immer Extra- zeit und Nachhilfe. Aber trotzdem habe ich am Ende meinen College-Abschluss ge- schafft. Dafür habe ich hart gearbeitet.« MATRIXPHOTOS.COM

* Name geändert. Feiernde Ronaldo, Mayorga im Nachtklub Rain 2009: »Ich dachte: okay, cool«

96 ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL ROBERT Penthouse 57306 im Hotel Palms Place: Rund tausend Dollar pro Nacht

In der Suite angekommen, erinnert sich an mir runter und wollte mich überall küs- Knie irgendwie und sagte: ›Zu 99 Prozent Kathryn, seien die anderen plötzlich in sen. Ich habe ihn weggestoßen und wieder bin ich ein guter Kerl, ich weiß nicht, was den Whirlpool gestiegen, Jordan habe sich Nein gesagt.« mit diesem einen Prozent ist.‹« auf den Rand gesetzt. »Wir fanden die In diesem Moment sei einer seiner In diesem Moment habe sie erst verstan- Jungs süß, sie sahen gut aus, keine Frage, Freunde reingekommen und habe gefragt: den, was passiert sei. »Das ging alles so aber ich wollte los, ich hatte am nächsten Was macht ihr da? »Ich habe die Gelegen- schnell. Und ich war so konfus, es war, als Tag ein Fotoshooting. Ich stand deshalb heit genutzt, schnell mein Kleid wieder an- würde ich schweben, wie in Trance, ich nur daneben und sagte, dass ich mein zuziehen, und meinte: Wir kommen raus. kann das gar nicht beschreiben. Mein Kleid nicht ruinieren wolle.« Und auch er meinte: Ja, wir kommen.« nächster Gedanke war: was, wenn er jetzt Ronaldo habe ihr Badesachen angebo- Aids hat? Oder irgendeine andere Krank- ten. »Ich sah, dass Jordan Spaß hatte, sie Kathryn Mayorga sitzt nun still da. heit? Ich habe ihn dann gefragt. Und er war nur noch selten in der Stadt, deshalb Dann fährt sie fort: »Ich dachte, damit sagte: ›Ich bin Profisportler, ich werde alle dachte ich: was soll’s.« wäre das jetzt vorbei. Doch stattdessen drei Monate getestet. Wenn ich krank Sie sei dann zum Umziehen ins Bad hat er mich ins Schlafzimmer gezogen. wäre, könnte ich gar nicht spielen.‹« gegangen, das an eines der Schlafzim mer Auch da hatte ich eigentlich noch keine Für einen Moment ist es ganz ruhig in angrenzte. Als sie nur in Shorts dastand, Angst. Ich dachte nur, das gibt es doch gar dem Konferenzraum in Las Vegas. Kath- sei plötzlich Ronaldo reingekommen, sein nicht, wie hartnäckig dieser Typ ist. Ich ryn Mayorga fixiert die Tischplatte vor sich. Geschlechtsteil aus der Hose hängend. habe ihm dann noch mal gesagt, dass Inzwischen ist auch ihr Vater Larry hinzu- Kathryn Mayorga macht eine kurze Pau- nichts zwischen uns passieren werde.« gekommen, hat sich leise auf einen Stuhl se, reißt ihre Augen auf, das Weiße um ihre Doch Ronaldo habe nicht aufgegeben. gesetzt. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und Pupillen wird sichtbar. »Er stand neben »Ich habe ihn wieder von mir gestoßen. Er ein schwarzes Baseballcap. Er ist ein Mann, mir und wollte, dass ich seinen Penis an- hat versucht, meine Unterwäsche auszu- der gern lacht, aber je länger er seiner Toch- fasse. Er hat mich angebettelt: nur für ziehen, was ihm aber nicht gelang. Ich ter zuhört, desto mehr Wut und Hilflosig- 30 Sekunden! Ich habe Nein gesagt. Und habe mich dann wie ein Ball zusammen- keit spiegelt sein Gesichtsausdruck. Seine dann sagte er, ich solle ihn in den Mund gerollt und versucht, meine Vagina mit bei- Tochter habe sich nie zuvor so geöffnet, nehmen. Ich meine, was für ein Idiot! Ich den Händen zu schützen. Und dann ist er wird er später sagen. habe gelacht und gedacht, das gibt es doch auf mich drauf.« Dabei habe sie »no, no, Dann spricht Kathryn Mayorga weiter: gar nicht. Dieser Typ, der so berühmt ist no, no« gesagt. »Ich habe dann zu ihm gesagt: Niemand und so gut aussieht, ist ein Widerling.« Ronaldo habe sie anal vergewaltigt, be- wird davon erfahren. Und als wir dann Doch Ronaldo habe keine Ruhe gegeben. hauptet Kathryn Mayorga. Ohne Kondom, endlich aus dem Zimmer rausgingen, mein- »Irgendwann meinte er dann so etwas wie: ohne Gleitmittel. te er so was wie ›bleib cool‹ oder so. Das Ich lasse dich gehen, wenn du mir einen »Als er fertig war, wollte er mich immer weiß ich aber nicht mehr ganz genau.« Kuss gibst. Und ich sagte: okay. Ich küsse noch nicht gehen lassen. Er sah mich Es gibt eine Person, die sich bis heute dich, aber ich fasse dich nicht an.« Kathryn schuldbewusst an und fing plötzlich an, genau erinnern will, wie Kathryn Mayorga Mayorga sagt, sie schwöre, ihn nur geküsst, mich ›Baby‹ zu nennen. ›Baby, baby.‹ Ich aus dem Zimmer kam: ihre Freundin Jor- nie angerührt zu haben. weiß den Wortlaut nicht mehr genau, aber dan. »Kathryn sah völlig durcheinander Der Kuss habe ihn dann weiter ange- er sagte auch ›sorry‹ und fragte mich, ob aus, ihre Haare waren zerzaust, ihr Make- törnt. »Er hat mich überall angefasst, ist ich Schmerzen habe. Dabei ging er auf die up verschmiert«, sagt Jordan. Sie habe

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 97 Sport

Ronaldo dann immer wieder gefragt: »Was Fußballer haben so viel Macht. In diesen tan Police Departement festhält. Datum: hast du mit meiner Freundin gemacht?« Fällen gibt es keine Gerechtigkeit. 13. Juni 2009. Uhrzeit: 14.16 Uhr. In dem Auch Kathryn Mayorga gibt diese Szene Als die Schmerzen nicht aufhörten, sei sogenannten CAD-Report, der dem so wieder. Auf Jordans Frage, so sagen es sie panisch geworden, sagt Kathryn Mayor- SPIEGEL vorliegt, hat der Fall ein Akten- beide Frauen, habe Ronaldo nur geantwor- ga, »dass da irgendwas ernsthaft kaputt zeichen, das sich später auch in dem Settle - tet: »Alles okay. Wir sind Freunde.« sei«. Sie habe eine Freundin aus Kinder- ment, der außergerichtlichen Einigung »Ich bin dann wie ferngesteuert auf den tagen angerufen, ihr erzählt, was passiert zwischen Kathryn Mayorga und Cristiano Jacuzzi zu und habe mich an den Rand ge- sei. Die habe ihr geraten, anonym bei der Ronaldo, wiederfindet. setzt. Er hat sich neben mich gesetzt, und Polizei anzurufen. Im CAD-Report ist in der Rubrik ich bin ein Stück weggerutscht. Ich konnte »Ich habe mich dann erst geweigert, den »Type« der Anlass des Anrufs verzeichnet: ihn nicht nah bei mir ertragen«, sagt Kath- Polizisten meinen Namen zu sagen. Ich 426. Der Code für ein gemeldetes Sexual- ryn Mayorga, »Jordan hat mir später gesagt, habe den Beamten gesagt, dass ich verge- delikt. ich hätte nur aufs Wasser gestarrt. Ich erin- waltigt wurde, aber nicht, von wem. Ich Der Polizist, der mit Kathryn Mayorga nere das nicht. Ich weiß nur, dass es plötz- habe gesagt, dass ich in ein Krankenhaus spricht, notiert, dass die Anruferin auf- lich unangenehm still war, keiner mehr was wolle, auch um meine Verletzungen zu do- gelöst sei, weine und nicht den Namen des gesagt hat. Er ist dann aufgestanden und kumentieren. Und kurz darauf standen mutmaßlichen Täters angeben wolle. Es gegangen. Und ich bin in den Jacuzzi gefal- Polizeiwagen vor unserem Haus.« handle sich um eine »öffentliche Figur«, len. Wie das passiert ist, weiß ich nicht.« Gemeinsam mit ihren Eltern versucht einen »Athleten«. Der Beamte vermerkt, Kathryn Mayorga beugt sich nun weit Kathryn Mayorga zu rekonstruieren, wel- dass sie sich nicht gewaschen habe. auf ihrem Stuhl nach vorn. Es scheint, als cher Polizist damals wann was zu wem ge- Und auch das ist dokumentiert: Um hätte sie ein Gedanke ereilt: dass der Sturz sagt hat. Die Erinnerungen gehen ein we- kurz nach halb drei an jenem Samstag fah- in den Whirlpool sie schlecht aussehen las- nig auseinander. Am Ende ist nur unstrit- ren die Polizisten vor dem Haus der Ma- sen könnte. Wieder spricht sie sehr schnell: tig: Die Polizei war da. Und dass jemand yorgas vor. Sie melden sich mehrfach per »Ich hatte ein Glas Wein bei der Arbeit Funk in der Zentrale. Dort notiert ein und habe danach mal an dem einen oder Beamter, das mutmaßliche Opfer wolle ins anderen Champagner genippt. Das war es. Krankenhaus, um sich einem »rape-kit« Ich war nüchtern in dieser Nacht.« zu unterziehen. Damit ist eine spezielle Durch den Sturz ins Wasser sei sie wie- Untersuchung von Opfern sexueller Ge- der etwas zu sich gekommen. »Ich habe walt gemeint, bei der Spuren gesichert und mir gesagt: Du musst jetzt cool sein, ganz Verletzungen fotografiert werden. cool. Jordan hörte auch nicht auf zu fragen, Um kurz vor 16 Uhr bringen die Poli- ob alles okay sei. Und dann habe ich an- zisten Kathryn Mayorga ins University Me- gefangen zu lachen und zu scherzen und dical Center. Um 17.15 Uhr wird im CAD- Dinge zu sagen wie: Gott, unglaublich, die- Report festgehalten, dass sie nun doch se Aussicht!« Sie zuckt mit den Schultern, vage Angaben zum mutmaßlichen Tatort aber es wirkt nicht gleichgültig, eher ratlos. gemacht habe. Es handle sich um ein Hotel »Und irgendwann sind wir dann los. Seine »in der Nähe« der Flamingo Road, dort Freunde haben mir noch ein Handtuch ge- wo das Hotel Palms Place liegt. geben, weil ich komplett nass war.« »Die Beamten haben mich immer wie- Auf dem Weg zum Fahrstuhl habe sie der gedrängt, seinen Namen zu sagen und dann zu Jordan gesagt: was für eine Nacht, wo genau es passiert ist, aber ich habe was für ein Spaß! Irgendwann hätten sie mich nicht getraut«, sagt Kathryn Mayorga. sich verabschiedet. Einzig die Krankenschwester, die sie un-

Als sie an ihrem Auto angekommen sei, / DER SPIEGEL MARIA FECK tersucht habe, sei verständnisvoll gewesen. seien zum ersten Mal »diese entsetzlichen Anwalt Stovall »Sie sagte, ich solle mich erst mal nur auf Schmerzen da gewesen. Bei jedem Herz- »Es gibt keinen gültigen Vertrag« mich konzentrieren. Dadurch, dass ja alles schlag.« Sie sei zu einem Krankenhaus dokumentiert werde, könne ich ihn auch gefahren, habe aber Angst gehabt reinzu- noch zu einem späteren Zeitpunkt an - gehen. Sie habe sich dann zu Hause ins ihr Kleid und ihre Unterwäsche in einem zeigen.« Bett gelegt und versucht zu schlafen. Ver- Plastikbeutel aus dem Haus getragen hat. Aus ihrem Untersuchungsbericht geht gebens. Irgendwann, jedoch erst später an die- hervor, dass Kathryn Mayorga zwei Stun- Nur wenige Stunden später erreichte sie sem Tag, hat Kathryn Mayorga dem Drän- den lang in der Klinik behandelt wurde. ein Anruf. Jordan. »Sie sagte: ›Mensch, gen ihrer Mutter nachgegeben und ihr ge- Es wird notiert, dass sie »ängstlich, koope- wir sind überall in den Nachrichten.‹« Pa- sagt, was passiert ist. rativ und freundlich« sei. Sie gibt an, gele- rallel dazu, sagt Kathryn Mayorga, habe Larry Mayorga ergreift das Wort: »Ich gentlich Alkohol zu trinken, wird auf Dro- sie merkwürdige SMS bekommen: Datest weiß noch, wie ich in meiner Feuerwehr- gen getestet. Das Ergebnis ist negativ. du diesen berühmten Fußballtypen? »Erst uniform vor dem Haus stand und einer In einer Checkliste kreuzt die Kranken- dann habe ich die Fotos gesehen, sie waren der Polizisten zu mir kam und sagte: Ihre schwester an, was Kathryn Mayorga nach überall.« Die Fotos zeigen sie flirtend mit Tochter muss uns sagen, wer der Typ war. der mutmaßlichen Tat gemacht hat: sich Ronaldo im VIP-Bereich des Rain. Unbedingt.« Er schaut seine Tochter an: umgezogen, Zähne geputzt, uriniert, ge- Sie habe dann nur zu Jordan gesagt: Das »Aber du bist völlig außer dir gewesen und gessen, getrunken. Bei der Art des Über- ist nicht gut, das ist nicht gut. Doch Jordan hast immer nur gesagt: ›Nein, nein, nein, griffs vermerkt sie unter anderem »Rek- habe gar nicht verstanden, was sie meinte, nein. Das verstehst du nicht, Papa, du hast tum penetriert von Penis« und »Ejakula- bis sie ihr schließlich gestanden hätte: »Er keine Ahnung. Du hast keine Ahnung.‹« tion: in die Hände des Angreifers«. hat mich vergewaltigt.« Kathryn Mayorga wird auf Geschlechts- Jordan sei völlig konsterniert gewesen, Es gibt ein Protokoll, das Kathryn Ma- krankheiten getestet, zudem werden Ab- habe ihr aber sofort geraten: Sei vorsichtig, yorgas Anruf beim Las Vegas Metropoli- striche auf mögliche DNA-Spuren in

98 dass der Fall unter Pseudonym verhandelt wird, dennoch ist er öffentlich, und natür- lich gibt es dann keine Sicherheit, dass die Anonymität gewahrt bleibt. Gerade deshalb entscheiden sich viele Opfer dafür, den Fall außergerichtlich zu klären, etwa im Rahmen einer Mediation, bei der eine neutrale Person vermittelt. Am Ende steht eine Vergleichsvereinba- rung, ein Settlement. Ein solches Prozedere kann vorteilhaft sein, für beide Seiten. Sowohl die Identität des Opfers als auch des Täters kann ge- schützt werden. Das Ganze dauert nicht so lange wie ein Prozess. Die belastenden Details der Vergewaltigung müssen nicht zwingend vorgetragen werden. Diese Argumente leuchteten Kathryn Mayorga ein. »Ich wollte ihm eine Lektion erteilen. Und dass er meine Therapien,

MARIA FECK / DER SPIEGEL MARIA FECK von denen ich sicher war, dass ich sie brau- Familie Mayorga in ihrem Haus in Las Vegas: »Raus! Raus!« chen würde, bezahlt. Ich wollte mich nie bereichern. Und außerdem wollte ich ihm ins Gesicht schauen und sagen, was er mir Mund und Rektum genommen. Ihre Ver- bleme kriegen, da werden wir Probleme angetan hat.« letzungen dort, eine umlaufende Schwel- kriegen!‹ Er sagte auch, dass es einen Aus den Football-Leaks-Dokumenten lung, ein Bluterguss, eine Risswunde, wer- schlechten Eindruck machen würde, dass geht hervor: Mitte Juli 2009 meldet sich den auch per Foto dokumentiert. Sie ver- ich mir einen Anwalt genommen hätte«, die Juristin Smith bei einem Anwalt von abreichen ihr Zithromax und Rocephin, erinnert sich Kathryn Mayorga. »Ich habe Ronaldo in England. Sie vertrete einen zwei Antibiotika, dann wird sie entlassen. ihm gesagt, dass meine Eltern die An- Kläger in Las Vegas in einer Sache gegen Die folgenden Tage habe sie auf ihrem wältin wollten. Dass ich am liebsten alles den Fußballer. Der Jurist leitet die Mail Zimmer verbracht, berichtet Kathryn Ma- begraben würde.« weiter an Ronaldos portugiesischen An- yorga. »Ich war komplett emotionslos, Am Ende habe sie den Polizisten an- walt Carlos Osório de Castro, der den Fuß- fühlte mich wie krank, wollte niemanden gefleht, nichts mit der Aussage zu machen, baller seit Jahren in allen rechtlichen Fra- sehen. Es hat ungefähr drei Monate gedau- dass sie noch Zeit brauche, sie emotional gen berät. ert, bis ich endlich mal geweint habe.« nicht stabil sei. Er habe ihr versprochen »Um was könnte es hier gehen?« Ihre Mutter Cheryl schaltet sich ein: zu warten, bis sie so weit sei. Osório de Castro antwortet: »No idea.« »Ich wollte für sie da sein, sie in den Arm Fortan lebte Kathryn Mayorga in die- Ende Juli ist klar, dass es sich um etwas nehmen, ihr helfen, aber wann immer ich sem Dilemma: Einerseits wollte sie ihren Brisantes handelt. Inzwischen sind meh- das Zimmer betreten habe, hat sie nur ge- und seinen Namen nicht publik machen, rere Anwälte mit dem Fall befasst, darun- schrien: ›Raus! Raus!‹« Sie hätten ihr dann andererseits wollte sie Gerechtigkeit. Ihre ter einer aus Kalifornien, der schon viele eine Anwältin besorgt. »Die Polizei sagte, Anwältin habe dann vorgeschlagen, die Prominente vor Gericht vertreten hat. Die dass Kathryn die Krankenhausrechnung ganze Sache außergerichtlich zu klären. Anwälte Ronaldos tauschen sich aus, wie bezahlen muss, wenn sie seinen Namen sie am besten vorgehen. nicht sagt«, sagt Cheryl Mayorga. In den USA werden bis heute Fälle sexu- Es wird ein Katalog mit Hunderten Fra- Ein Freund habe ihnen Mary Smith* eller Gewalt oft durch Settlements bei - gen an Ronaldo, seinen Schwager und sei- empfohlen. Die Juristin hatte zu diesem gelegt. Opfer und Täter einigen sich, ohne nen Cousin erstellt. Ronaldo bekommt das Zeitpunkt eine kleine Kanzlei in Las Vegas. dass es zu einem Prozess kommt. Kürzel »X« in dem Manuskript, Kathryn Die Mayorgas beschreiben sie als freund- Nach Mord ist Vergewaltigung im US- Mayorga ist »Ms. C«. lich und warmherzig. Rückblickend wer- Bundesstaat Nevada das schwerste Ver- Den Fragebogen gibt es in mehreren ten sie es als großen Fehler, dass sie keinen brechen. Bei einer Verurteilung droht Ausführungen. Die Fragen bleiben ähnlich, versierteren Anwalt kontaktiert haben. lebenslange Haft. Dafür muss die Schuld nicht so die Antworten. Die Anwältin habe zu einer umfas- allerdings mit an Sicherheit grenzender In einer Version aus dem Dezember senden Aussage bei der Polizei geraten. Wahrscheinlichkeit feststehen – und das 2009 spricht Ronaldo von einvernehm- Etwa zwei, drei Wochen später, schätzt ist gerade bei Sexualdelikten schwierig. lichem Sex. Und dass es keine Anzeichen Kathryn Mayorga, sei ein Polizist gekom- Oft steht Aussage gegen Aussage. gegeben habe, dass es ihr damit oder an- men und habe ihre Aussage auf Band auf- Viele Opfer strengen deshalb statt eines schließend nicht gut gegangen sei. genommen. Strafverfahrens ein Zivilverfahren an. Da- Aber es gibt noch eine andere, deutlich Im Zuge dieser Aussage habe sie auch bei geht es nicht darum, den mutmaß- frühere Version. Es ist das Dokument, Ronaldos Namen genannt. »Ich habe dem lichen Täter zu verurteilen, sondern das das für Ronaldo erhebliche Folgen haben Beamten sogar Fotos von ihm ausgedruckt, Opfer finanziell zu entschädigen. Die Be- könnte. Es wurde im September 2009 in den USA ist Fußball nicht so groß, des- weislast ist in so einem Prozess deutlich per Mail verschickt. Absender: ein An- halb kennt ihn nicht jeder.« geringer. Es muss nur zu mehr als 50 Pro- walt aus Osório de Castros Kanzlei. Emp- Der Polizist sei ein älterer Mann gewe- zent wahrscheinlich sein, dass der mut- fänger: dieser selbst und ein weiterer sen. Als sie ihm gesagt habe, dass sie Ro- maßliche Täter die Tat begangen hat. Kollege. naldo im Bad geküsst habe, sei seine Re- Ein Zivilverfahren hat aber auch Nach- Auf die Frage, ob Ms. C jemals ihre aktion gewesen: »›Oh, da werden wir Pro- teile. Zwar kann das Opfer beantragen, Stimme erhoben, geschrien oder gerufen

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 99 Sport habe, antwortet X in dem Papier: »Sie hat fen sich am Ende auf viele Zehntausend Angelegenheit nicht interessiert und du mehrfach Nein und Stopp gesagt.« Dollar. Das Ergebnis stellt Ronaldos An- ganz woanders bist. Bisher wurde nicht Sie habe auf der Seite gelegen. »Ich kam wälte nicht zufrieden. Einer drängt in einer über Geld geredet, aber das wird kommen.« von hinten in sie rein. Auf die brutale Tour. Mail darauf, einen zweiten Detektiv ein- Ronaldo antwortet: »Okay«. Wir haben die Position nicht verändert. zusetzen, um so die Behauptung des 47 Minuten nach der ersten SMS be- 5/7 Minuten. Sie hat gesagt, dass sie nicht mutmaßlichen Opfers zu widerlegen, sie kommt Ronaldo eine weitere Mitteilung will, aber sich bereitgestellt.« Und weiter: leide psychisch unter den Folgen der Tat: aus Las Vegas. Diesmal ist es nur ein Be- »Aber sie hat immer weiter ›Nein‹ gesagt. »Hoffentlich erleben wir Momente, in de- trag: »950000 Dollar«. Es ist offenbar die ›Mach das nicht.‹ ›Ich bin nicht so wie die nen sie ausgeht und das Nachtleben und Summe, die sich die Gegenseite als Aus- anderen.‹ Hinterher habe ich mich ent- die Männer von Las Vegas genießt.« gleich vorstellt. Ronaldo schreibt zurück: schuldigt.« Sie habe aber nicht geschrien Ronaldos Anwälte überlegen offenbar »Das ist der Betrag?« und auch niemanden gerufen. auch, Kathryn Mayorga wegen Erpressung Osório de Castro antwortet: »Das ist Frage: Hat Ms. C danach etwas darüber anzuzeigen. Problem: Sie nennt keine ihre erste Forderung: Das sind 660000 gesagt, dass der Sex zu brutal gewesen sei? Summe. Und fordert auch sonst nichts. Euro. Wir akzeptieren nicht. Die Verhand- X: »Sie hat sich nicht beklagt, dass es lung geht weiter.« brutal war. Sie hat sich darüber beklagt, Am 12. Januar 2010 kommt es zu einem Ronaldo fragt nach: »Ist das zu viel?« dass ich sie gezwungen habe. Sie hat nichts Treffen der Parteien in Las Vegas. Ein er- Osório de Castro schreibt: »Ich glaube, ja. davon gesagt, zur Polizei gehen zu wollen.« fahrener Mediator ist anwesend. Ronaldos Ich glaube, wir schließen für weniger ab.« Ronaldo bestätigt in diesem Fragebogen Anwälte fahren in einer Limousine vor. Ronaldo verlangt: »Es muss weniger die Version von Kathryn Mayorga in die- Als die Mediation beginnt, befinden werden!« Sein Anwalt antwortet: »Okay«. sen Punkten: Sie hat mehrfach Nein gesagt. sich in einem Raum Kathryn Mayorga und Vor der Tür sitzt Kathryns Familie. Sie Und er hat sich danach bei ihr entschuldigt. ihre Anwältin, im Nebenraum Ronaldos hätten ihre Tochter weinen und schreien Widersprüche gibt es unter anderem zu der Frage, ob Kathryn Mayorga ihn mit der Hand befriedigt hat. Er sagt: Ja. Sie sagt: Nein. Er berichtet zudem von einem Vor- spiel im Bad. Auch das Treffen zuvor im Club wird von ihm anders geschildert: Die Frauen hätten um Einlass in den VIP-Be- reich gebeten, dort gut getrunken. Man habe keine Nummern ausgetauscht, sie schon dort zu sich ins Hotel eingeladen. Kathryn Ma- yorga, so erinnern es Ronaldos Begleiter, habe auch nicht verstört gewirkt, als sie spä- ter aus dem Zimmer gekommen sei. Im Dezember 2009 drängt Ronaldos An- walt Osório de Castro seine US-Kollegen: »Die Uhr tickt, wir müssen entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Und wir müssen uns auf eine Schlacht vorbereiten, so oder so.« In der Zwischenzeit hatten Ronaldos US-Anwälte einen Detektiv auf Kathryn Mayorga angesetzt. Er sammelte Details Mandant Ronaldo, Anwalt Osório de Castro 2016: »No idea« zu ihrem Lebenslauf, Informationen zu Strafzetteln fürs Falschparken, observierte ihr Haus, beschattete sie stundenlang. Anwälte. Im Flur davor nehmen Kathryn hören, sagen sie rückblickend. »Sie haben Einmal notierte er in einem Protokoll: Mayorgas Eltern und ihr Bruder Platz. versucht, mir Sachen anzuhängen. Mich »Sie hat das Haus gestern Abend um kurz »Ich war mit den Nerven am Ende«, sagt als eine Art Prostituierte darzustellen. Ich vor 20 Uhr verlassen, fuhr zum MGM-Ho- Kathryn Mayorga über jenen Tag. Ihr weiß nicht, wie seine Anwälte am Abend tel, parkte ihr Auto und traf sich mit einem Blick ist leer, die Finger ihrer rechten Hand noch in den Spiegel schauen konnten«, jungen Mann, den sie am Fahrstuhl umarm- streichen über ihre türkisen Ohrringe, sagt Kathryn Mayorga. te.« An einem anderen Tag beobachtete er »und völlig außer mir, dass er nicht erschie- »Ich bin fast wahnsinnig geworden«, sie in einem Restaurant: »Sie trank Rotwein. nen ist. Dass ich nicht die Gelegenheit hat- sagt Kathryns Vater. »Ich wäre am liebsten Sie hatte mehr als (3) drei Gläser Wein.« te, ihm ins Gesicht zu sagen, was ich von reingestürmt und hätte gesagt: Schluss hier Kathryn Mayorga hat gemerkt, dass ihr ihm halte, wie es mir geht«. jetzt, das war es, und hätte sie mitgenom- jemand im Dunkeln im Auto folgte. »Manch- Es sei dann so gewesen, dass der Me- men. Aber Kathryn wollte diese Verhand- mal war es noch offensichtlicher: Einmal diator zwischen beiden Räumen hin- und lung. Sie wollte keine Öffentlichkeit. Ich habe ich mit Freunden zusammen gegessen, hergelaufen sei. Um zu übermitteln, was musste das respektieren.« und da stand ein Mann mit einem Block, in die Gegenseite an Argumenten vorbringt, Auch Kathryns Bruder Jason will sich Sichtweite, und hat augenscheinlich alles und letztlich um eine Summe auszu- noch sehr genau an den Tag der Mediation aufgeschrieben, was ich gemacht habe.« handeln. erinnern können. »Es war der blanke Hor- Ihr Vater Larry sagt: »Ich habe sie in Ronaldos Anwalt Osório de Castro ist ei- ror«, sagt er. »Ronaldos Raum war voller dieser Zeit zum Kickboxen mitgenommen. gens aus Portugal zu dem Treffen angereist. Anwälte, die lachten und scherzten. Und Ich wollte, dass sie lernt, sich zu verteidi- Während der Verhandlung simst er mit sei- nebenan war meine Schwester, am Boden gen. Wir hatten viel Angst um sie.« nem Klienten Ronaldo: »Der Mediator sagt zerstört.« Die Rechnungen für den Detektiv, das jetzt, dass sie in Tränen aufgelöst und er- Wie seine Eltern, sagt Jason Mayorga, geht aus den Dokumenten hervor, belau- schüttert ist, weil sie glaubt, dass dich diese habe auch er ein schlechtes Gefühl gehabt.

100 KONFERENZEN »Kathryns Anwältin wirkte überfordert. Die finale außergerichtliche Einigung Und der Mediator …«, er sucht nach Wor- umfasst am Ende elf Klauseln. Die wich- ten, »wenn er bei Ronaldos Anwälten rein- tigste ist, dass Kathryn Mayorga niemals ging, riss er Sprüche wie: ›Hey Jungs, ich über das Geschehen sprechen darf. Dass bin zurück!‹ Es war widerlich.« sie sich verpflichtet, alle Tatvorwürfe Irgendwann habe sie nur noch auf dem fallen zu lassen, und »alle elektronischen Boden gelegen, schildert Kathryn Mayor- und schriftlichen Aufzeichnungen« dazu ga. »Ich war hysterisch, ich konnte nicht »unwiderruflich zerstört hat«. mal mehr reden.« Ihre Anwältin habe Dazu zählt auch ein Brief. Da Ronaldo 24. OKTOBER 2018 dann dazu geraten, die Mediation zu stop- nicht zu dem Treffen gekommen war, be- pen. »Ich war eigentlich nicht in der Lage, stand Kathryn Mayorga darauf, ihm einen Humboldt Carré das Papier zu unterschreiben. Aber ich Brief schreiben zu können, der ihm inner- wusste, noch mal würde ich das nicht halb von zwei Wochen vorgelesen werden durchstehen. Ich wollte einfach, dass das musste. So hält es der Vertrag fest. Berlin alles vorbei ist.« Der Brief, fast sechs Seiten lang, liegt Am Ende des Tages schreibt Osório de dem SPIEGEL vor. Er ist verstörend, gleicht Castro an seinen Mandanten: »Wir schlie- einem langen, gellenden Aufschrei: ßen endlich nach 12 Stunden ab, für »Ich habe immer wieder Nein, Nein, ZUKUNFT 260000 Euro. Dazu kommen die Kosten Nein, Nein geschrien und dich angefleht der Mediation, von denen ich dir schon aufzuhören.« erzählt hatte, plus einige Zahlungen an die »Du sprangst von hinten auf mich«, Anwälte, die jetzt versuchen, den Ab- schreibt sie, »mit einem weißen Rosen- AFRIKA schluss zu formalisieren. Ich weiß, dass das kranz um deinen Hals!! Was würde Gott viel Geld ist, aber ich glaube, es war der darüber denken!! Was würde Gott über beste Ausweg und übrigens überhaupt dich denken!!« Wie kann wirtschaftliche nicht einfach zu bekommen.« »Ich hoffe, dass du aus diesem schreck- Die Summe, die Ronaldo an Kathryn lichen Fehler lernst!! Nimm nie wieder ei- Zusammenarbeit künftig Mayorga bezahlen sollte, wurde in einer ner Frau ihr Leben, so wie du meines ge- funktionieren? sogenannten »Settlement Memorializa- nommen hast!!« tion« eingetragen: 375000 Dollar. So viel »Ich mache mir nichts aus deinem Geld. verdiente Ronaldo damals bei Real Madrid Ich wollte Gerechtigkeit. Aber da ist keine in einer Woche. Gerechtigkeit in dieser Sache.« Im Gespräch mit der Die Einigung unterzeichneten neben SPIEGEL-Redaktion treffen Sie u.a.: Bis in die Sommermonate hinein verfei- Kathryn Mayorga mehrere Juristen, für nerten die Anwälte die Einigung, feilschten Cristiano Ronaldo unterschrieb sein por- um Absätze und Formulierungen. Es ging tugiesischer Anwalt Osório de Castro. etwa darum, wie sich Kathryn Mayorga zu Ronaldo selbst taucht in dem Dokument verhalten habe. Die Ronaldo-Anwälte dräng- unter dem Namen »Topher« auf. In einer ten darauf, dass sie selbst Therapeuten seinen vertraulichen Zusatzvereinbarung, einem Namen nicht offenbaren dürfe. Nicht einmal »Confidential Side Letter Agreement«, über ihn schimpfen, so forderten es die An- steht, dass sich hinter jenem Pseudonym wälte, dürfe Kathryn Mayorga. Und sie solle der Fußballer verbirgt. Und: Dieses Papier auch nicht im Kreis ihrer Familie über ihn ist von Ronaldo selbst unterschrieben. Michael Gottschalk/photothek.net sprechen. »Dem Ärger Luft zu machen und Der Fall Las Vegas war für Cristiano zu lästern«, schrieb einer der Anwälte in ei- Ronaldo damit erledigt. ner Mail, würde eine schwer zu kontrollie- Für sie, sagt Kathryn Mayorga, war es Dr. Gerd Müller Gerald Knaus rende Stimmung erzeugen. der Beginn eines langen Leidens. Bundesminister Vorsitzender Ronaldos Vertreter waren darauf be- Ihre Mutter sagt: »Die ersten Jahre wa- für wirtschaftliche der Europäischen dacht, jede Möglichkeit des Geheimnisver- ren schlimm. Sie hat sich komplett zurück- Zusammenarbeit Stabilitätsinitiative rats auszuschließen. So ging es auch um gezogen, war plötzlich ein so unsicherer und Entwicklung die Frage, wie Kathryn Mayorga die Eini- Mensch. Es gab Zeiten, da dachte sie an gungssumme versteuern könnte. Falls sie Selbstmord …« Ihr bricht die Stimme weg. es nämlich nicht tun würde, fürchteten die Ihr Vater sagt: »Sie ist nicht mehr die- Juristen, könnte sich die US-Steuerbehör- selbe Person. Ich hatte gedacht, sie würde de für die Geldsumme auf ihrem Konto in- es eines Tages überwinden. Aber ich habe teressieren, und sie müsste erklären, wofür mich getäuscht.« sie das Geld erhalten habe. Ihr Bruder sagt: »Wir hatten ein enges Nach den Recherchen des SPIEGEL Verhältnis, sind zusammen ins Kino oder wählten Ronaldos Anwälte für die 375000- essen gegangen. Aber seitdem, da ist so Dollar-Überweisung ein Konto einer Firma viel Trauer und Wut in ihr. Sie ist oft ag- namens Tollin im Steuerparadies British gressiv, einfach so.« Virgin Islands, die jahrelang Werbe- und Kurz nachdem der Polizist ihre Aussage Sponsoreneinnahmen Ronaldos bunkerte. aufgenommen hatte, begann Kathryn Es sieht demnach so aus, als habe Ronaldo Mayorga mit einer Therapie. »Ich durfte den Fall Las Vegas mit Sponsorengeldern selbst in der Einzeltherapie seinen Namen bezahlt. Eine Anfrage des SPIEGEL dazu nicht erwähnen, habe immer nur von dem blieb unbeantwortet. Sportler gesprochen«, sagt Kathryn Ma-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 101 Tickets unter: https://konferenzen.spiegel.de Sport yorga. »Ich musste immer aufpassen, was Anwalt Johannes Kreile: »Die Anschuldi- eine falsche Steuererklärung abgegeben, ich sage. Wegen meines Vertrags.« gungen, die Ihre Fragen nahelegen, sind offenbart er beim ersten Treffen mit dem Nur ein paarmal habe sie an Gruppen- aufs Schärfste als unzutreffend zurückzu- SPIEGEL. Für zwei Jahre wurde ihm die therapien für Vergewaltigungsopfer teil - weisen.« Sein Mandant werde »gegen jede Zulassung entzogen. »Das kann ich nicht genommen. Es ist einer der Momente, in unwahre Tatsachenbehauptung sowie ge- beschönigen«, sagt er. Stovall will der Ge- dem sich Kathryn Mayorgas Augen mit gen jede Verletzung seiner Persönlichkeits- genseite keine Angriffspunkte liefern. Tränen füllen. »Ich habe nur dagesessen rechte vorgehen«. Der Jurist forderte den Monatelang hat er Kathryn Mayorgas und zugehört. Aber irgendwann wurden SPIEGEL auf, »eine Berichterstattung zu Fall studiert, um die Zivilklage gegen Ro- die anderen Frauen sauer, weil ich meine dem Komplex zu unterlassen«. naldo vorzubereiten. »Mein Ziel ist es, die Geschichte nicht erzählt habe …« Am Tag des Erscheinens schlug der Ar- außergerichtliche Einigung außer Kraft zu In den ersten fünf Jahren sei sie wie be- tikel international Wellen. Doch ebenso setzen. Denn Kathryn Mayorga war zu sessen gewesen, erzählt sie dann. »Karma, häufig wurde das Gestifute-Statement zi- dem Zeitpunkt der Verhandlungen nicht alles drehte sich bei mir um Karma.« Jeden tiert, die Geschichte sei »journalistische geschäftsfähig«, argumentiert Stovall. »In- Tag habe sie im Internet nachgeschaut, ob Fiktion«. sofern gibt es keinen gültigen Vertrag und Ronaldo irgendetwas widerfahren sei, ei - Vier Tage später schoss Ronaldo drei somit auch keine Schweigeklausel.« ne Strafe Gottes sozusagen, für das, was Tore in der Champions League gegen Bay- Laut Stovall sei Ronaldos Anwälten die er ihr angetan habe. ern München und später noch mal drei ge- psychische Verfassung von Kathryn Ma- Sie hätte ihren Job aufgeben müssen. Al- gen Atlético Madrid. Die Geschichte über yorga bewusst gewesen, und nicht nur das: lein das Hotel mit seinen leuchtenden Let- Kathryn Mayorga war beerdigt. »Sie haben diese für sich genutzt.« tern zu sehen sei für sie unerträglich gewesen. Mit Erscheinen eines zweiten SPIEGEL- Der labile Zustand Kathryn Mayorgas Aus ihrem Studium etwas zu machen habe Artikels (17/2017) postete Ronaldo auf wird auch in E-Mails von Ronaldos An- auch außer Frage gestanden. Und immer wälten thematisiert. wieder seien da Selbstmordgedanken gewe- Stovall veranlasste im April dieses Jah- sen. Nur auf Reisen, sagt sie, hätte sie sich res, dass Kathryn Mayorga von einem fo- frei gefühlt, weit weg von allem. »Bis auf rensischen Psychiater begutachtet wird. das eine Mal, als ich in Italien war und über- Der Professor diagnostizierte bei ihr eine all die kleinen Jungs in Ronaldo-Trikots rum- posttraumatische Belastungsstörung und liefen.« Mühsam ringt sie sich ein Lachen ab. eine Depression als »direkte und exklusive Im ersten Jahr habe sie viel Alkohol ge- Konsequenz von Mr. Ronaldos Übergriff«. trunken, gesteht sie dann. »Jeden Tag, um Darüber hinaus konstatierte er, dass ihre ehrlich zu sein. Es war der einzige Weg, Lernbehinderung bei der Mediation nicht um mich zu entspannen.« Gegenüber ih- berücksichtigt worden sei, sie die Bedeu- ren Freunden und auf Facebook habe sie tung der Vereinbarung und der darin ent- versucht, so zu tun, als sei alles wie bisher. haltenen Begrifflichkeiten deshalb nicht Erst nach fünf Jahren, sagt Kathryn habe überblicken können und letztlich Mayorga, sei es ihr ein wenig besser ge- nicht die erforderliche Kompetenz gehabt gangen. Nicht, dass sie etwa eine normale habe, das Dokument zu unterschreiben. Beziehung hätte führen können, »aber das Stovall bewertet die außergerichtliche Leben war mehr oder weniger okay«. Einigung aber auch noch aus einem ande- Im Wesentlichen habe dies mit ihrem neu- ren Grund für ungültig. Sie habe »die ille- en Job zusammengehangen. »Ich habe an ei- gale Absicht verfolgt, polizeiliche Ermitt- ner Grundschule gearbeitet, unter anderem lungen zu verhindern«.

mit den Kindern Sport gemacht. Den gan- / DER SPIEGEL MARIA FECK Stovall geht nun noch einen Schritt wei- zen Tag das Kinderlachen um mich herum, Hotel Palms Place in Las Vegas ter: »Jeder, der ein Verbrechen begangen das hat mir gutgetan«, sagt Kathryn Mayorga. Er wartete in der Lobby hat, muss sich verteidigen können, ohne Richtig glücklich sei sie aber nie gewe- Frage. Aber es gibt eine rote Linie: Ein sen. »Ich habe nie aufgehört, ihn und mich Verbrechen verbergen zu wollen, das ist innerlich anzuklagen. Ihn für die Tat und Instagram ein Video seines ältesten Soh- auch ein Verbrechen. Deshalb bin ich der mich dafür, dass ich dieses Ding unter- nes, Cristiano junior. Der damals Sechs- Meinung, dass auch gegen Ronaldos An- schrieben habe.« jährige schoss einen Freistoß, ganz in der wälte ermittelt werden sollte.« Und dann, im Frühjahr 2017, sei dieser Manier seines Vaters. Das Video wurde Er verweist auf Harvey Weinstein und Artikel im SPIEGEL erschienen. »Wo alles zwölf Millionen Mal aufgerufen. Ronaldo den US-Schauspieler Bill Cosby. »Für mich drinstand, was niemand wissen durfte. Ich hat allein auf Facebook 121 Millionen sind die auch deshalb Serientäter, weil es habe die Kommentare der Leute gele- Follower. Juristen gibt, die ihnen immer wieder er- sen …« Kathryn Mayorga presst die Lippen Auch aus Angst, Ronaldo könnte sie als möglicht haben, diese Taten ohne Konse- aufeinander. »Mir ist nicht egal, was man Quelle der Informationen für die SPIEGEL- quenzen zu begehen.« über mich sagt.« Zu den Kommentaren Artikel verdächtigen, suchte sich Kathryn Eine Anklage gegen Ronaldos Anwälte, zählten auch solche wie: »CR7 hätte es gar Mayorga einen neuen Anwalt. so Stovall, hätte womöglich einen nach- nicht nötig, eine Frau zu vergewaltigen.« haltigen Effekt: »Ich glaube nicht, dass sich »Das hätte ich auch gedacht«, sagt Ka- Leslie Mark Stovall, 65, weiße Haare, ein Anwalt künftig noch dem Risiko aus- thryn Mayorga leise. Pferdeschwanz, ist ein anderes Kaliber als setzen würde, sich an solchen Verträgen Der SPIEGEL hatte Ronaldo vor Er- ihre erste Anwältin. Seit mehr als 30 Jah- zu beteiligen, wenn er damit rechnen muss, scheinen des Artikels im vergangenen Jahr ren ist er Jurist in Las Vegas, es gibt Leute, dafür angeklagt zu werden.« Gelegenheit gegeben, sich zu den Vorwür- die haben ihn schon in Jeans und Cowboy- Noch dazu gibt es Anlass zu vermuten, fen zu äußern. Am 10. April 2017 wurde stiefeln vor Gericht gesehen. dass Ronaldos Seite selbst gegen eine ihm eine Liste von Fragen zugemailt. An Stovall hat viel Prozesserfahrung, ein- Klausel der außergerichtlichen Einigung seiner Stelle antwortete sein Münchner mal auch in eigener Sache. 2001 habe er verstoßen haben könnte: In der außer-

102 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 gerichtlichen Einigung zwischen Kathryn Mayorga und Ronaldo wurde festgelegt, dass sein Anwalt Osório de Castro seinem Klienten ihren Brief innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung vorlesen müsse. Und genau daran erinnern die US-An- wälte Ende September 2010 auch Ronal- dos Juristen Osório de Castro in Portugal. »Nach meiner Berechnung«, so schreibt Jetzt im eine Juristin an den Kollegen, »sind mor- gen zwei Wochen vergangen, seitdem du den Brief erhalten hast. Bitte bestätige mir, Handel dass der Brief vorgelesen wurde.« Nur gut eine Stunde später antwortet Osório de Castro: »Ich bestätige, dass ich Topher den Brief vorgelesen habe.« Mit Topher ist Ronaldo gemeint. Diese Mail sendete Osório de Castro auch in Kopie an einen Anwaltskollegen in Portugal. In dessen Antwortmail stand jedoch nur ein Wort: »Pinocchio«. Auch die Agentur Gestifute bestätigte in dem Statement, in dem sie die Anschul- digungen gegen Ronaldo zurückwies, die- ses »angebliche« Schreiben des »sogenann- ten Opfers« habe Ronaldo »nie erreicht«. Für Kathryn Mayorga gehe es jetzt nur noch um eines, sagt sie: sich bestmöglich gegen das zu wappnen, was nun vermut- lich auf sie zukommt. Sie hat ihren Job an der Grundschule aufgegeben. Sie ist abge- taucht, auf unbestimmte Zeit, an einem unbekannten Ort, will unerreichbar sein. Unerreichbar war auch Cristiano Ronal- do. In den vergangenen anderthalb Jahren hat der SPIEGEL ihm wiederholt Möglich- keit gegeben, sich zu dem vermeintlichen Vorfall von 2009 zu äußern. Nicht nur in sogenannten presserechtlichen Konfron - tationen, es wurde auch mehrfach um per- www.spiegel-geschichte.de sönliche Treffen gebeten. Alle Versuche mündeten in Absagen, auch eine aktuelle Anfrage des SPIEGEL. Jegliche Bericht- erstattung in diesem Zusammenhang sei rechtswidrig, teilte ein Anwalt Ronaldos lediglich mit. X Auch als App für iPad, Android Dabei sieht es inzwischen so aus, als sowie für PC/Mac. Hier testen: müsse sich dieser doch noch zu dem äu- ßern, was in jener Nacht vor neun Jahren geschichte.spiegel.de/digital in Las Vegas vorgefallen ist. Die Polizei hat in den vergangenen Wochen mehrfach Kontakt mit Kathryn Mayorga gehabt, sie erneut befragt. In Nevada gilt dieses Gesetz: Ist ein se- xueller Übergriff rechtzeitig polizeilich dokumentiert, verjährt er nie. Rafael Buschmann, Andreas Meyhoff, Nicola Naber, Gerhard Pfeil, Antje Windmann, Christoph Winterbach, Lesen Sie in diesem Heft: Michael Wulzinger Richard Löwenherz Duell mit Sultan Saladin Video »Eine traumatische psychische Verletzung« Alltag in Jerusalem Begegnung der Religionen spiegel.de/sp402018vegas oder in der App DER SPIEGEL Kaiser Friedrich II. Toleranz und Diplomatie

103 Wissenschaft+Technik

»Man hat uns betrogen. Wir können nicht mehr. Niemand hilft uns.« ‣S.106 2018 MELTIN MMI / AVATAR X PROGRAM / ANA HOLDINGS INC. / JAXA / ANA HOLDINGS INC. X PROGRAM MMI / AVATAR MELTIN 2018

Gestatten, Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt: Wozu noch echte Menschen ins All schicken? Die japanische Raumfahrtbehörde Jaxa lässt dafür Maschinenwesen entwickeln. Ferngesteuert sollen die mit Tastsinn und kräftigem Händedruck ausgestatteten Roboter Raumstationen reparieren, Marssiedlungen erbauen oder Experimente im All durchführen. Der Vorteil: Niemand stirbt, wenn die Raumstation mal leckschlägt. Nach- teil: der Reiz der bemannten Raumfahrt, der Nervenkitzel, das Drama? Dahin.

Einwurf Fit für die nächste Schicht

Ist selbst schuld, wer unter Dauerstress und individueller Überforderung leidet?

Es naht der »Welttag der Seelischen Gesundheit«. Auch in Berlin wird auch die Fabrikarbeiterin schnell wieder fit für die nächste sollen aus diesem Anlass zahlreiche Veranstaltungen darauf Schicht. aufmerksam machen, wie sehr Dauerstress und individuelle Ernsthaft jetzt, Frau Kolat? Dass ausgerechnet eine Sozialdemo- Überforderung in unserer Gesellschaft um sich greifen. kratin derart zynischen Blödsinn verbreitet, überrascht. War Den Ton für diesen Infomarathon hat die Berliner Gesund- die SPD nicht mal die Partei der Ausgebeuteten und Rechtlosen? heitssenatorin Dilek Kolat (SPD) gesetzt. Sie verweist auf die Man muss kein Gesellschaftskritiker sein, um zu konstatieren: Verantwortung des Einzelnen, sich vom Stress zu befreien, etwa Viele Menschen in Deutschland leiden unter menschenfeindlichen durch »bewusste langfristige Verhaltensänderungen, erlernbare Arbeitsbedingungen. Hinzu kommt die stete Sorge, den Arbeits- kleinere oder auch ausgefeiltere Entspannungstechniken, mehr platz und damit das lebenswichtige Einkommen zu verlieren. Bewegung und Sport oder einfach nur einen gesünderen Schlaf«. Diese deprimierende Art von Stress gehört für einen großen Teil Tausend Dank für diese wunderbaren Ratschläge, möchte unserer Gesellschaft zur Lebenswirklichkeit. Die Betroffenen sind man der Politikerin zurufen. Mit ein paar Yogaübungen wird die daran am allerwenigsten schuld. Auch die besten Entspannungs- ausgelaugte Altenpflegerin sicher flugs ihre Überarbeitung aus techniken helfen da nicht. Und wenn man ganz redlich argumen- den Knochen schütteln. Eine Mütze voll gesunden Schlafs am tiert, wird man zugeben müssen: Dass die Kassiererin aus dem Sonntag macht müde Müllmänner wieder munter. Und mit etwas Supermarkt oder der Gerüstbauer nach der Arbeit nicht noch die mehr Salat und den richtigen Entspannungsübungen am Abend Laufschuhe schnürt, ist irgendwie verständlich. Frank Thadeusz

104 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Hygiene Filter (Hepa bedeutet »high efficiency pumpt. Dadurch entsteht eine gleichmäßi- particulate air«) werden nahezu hundert ge Strömung, die von oben nach unten »Steig als Letzter Prozent aller Keime in der Atemluft verläuft. Es gibt dadurch weder in Seit- in den Flieger!« beseitigt. wärts- noch in Längsrichtung einen nen- SPIEGEL: Dennoch werden doch beim nenswerten horizontalen Luftstrom. Markus Egert, 46, Niesen Erreger mit einer ungeheuren SPIEGEL: Und warum fühlen so viele Professor für Mikro - Wucht und Schnelligkeit ausgestoßen. Reisende insbesondere nach einem Lang- biologie an der Hoch- Wie soll man da als Passagier sicher sein? streckenflug Erkältungssymptome? schule Furtwangen Egert: Wenn einem nicht direkt ins Egert: Sehr trockene Luft in klimatisierten am Campus Schwen- Gesicht geschnaubt wird, ist man tat- Räumen trocknet die Schleimhäute aus. ningen, über die sächlich erstaunlich sicher. Tests haben Die Atemwege bilden dann ein wunder - Keimbelastung bei ergeben, dass alle Passagiere mit einem bares Einfallstor für Krankheitserreger.

BRITT SCHILLING Flugreisen Abstand von mehr als einem Meter zu Dieses Problem kommt allerdings erst auf, einem Infizierten vor einem Keimangriff wenn sie das Flugzeug wieder verlassen SPIEGEL: Forscher aus Großbritannien ziemlich sicher waren. Grund dafür ist haben. Denn in der trockenen Luft an und Finnland haben bei Proben am Flug- die geniale Art, wie Luftströme in einem Bord haben Keime nur eine recht kurze hafen von Helsinki in Gepäckwannen Flugzeug geleitet werden. Die Luft wird Überlebensdauer. RED des Sicherheits-Check-in Viren gefunden, mit einer Geschwindigkeit von weniger als die Infekte der Atemwege auslösen kön- einem Meter pro Sekunde durch die Markus Egert: »Ein Keim kommt selten allein. Wie nen. Wie groß ist die Gefahr? Decke in die Kabine gepumpt. Unterhalb Mikroben unser Leben bestimmen und wir uns vor Egert: Aus mikrobiologischer Sicht muss der Fenstersitze wird sie wieder abge- ihnen schützen«. Ullstein extra; 256 Seiten; 15 Euro. man das durchaus ernst nehmen. Kollegen haben auch auf Klapptischen im Flugzeug vergleichsweise hohe Keimdichten gemes- sen. Man muss allerdings wissen: In ab- soluten Zahlen ist das nicht so furchtbar viel. Jedenfalls nichts, was mir Angst macht. Die größte Gefahr geht sicher nicht von solchen Oberflächen aus. SPIEGEL: Sondern? Egert: Von uns Menschen! Wenn beim Check-in jemand mit einer Grippe in der Schlange steht und Ihnen beim Niesen Millionen seiner Influenzapartikel ins Gesicht pustet, dann hat das schon eine fulminante Wirkung. Deshalb rate ich jedem: Meide Menschenansammlungen am Flughafen, und steig ruhig als Letzter in den Flieger, wenn du gesund bleiben willst! SPIEGEL: Aber wenn so eine menschliche Keimschleuder dann erst mal im Flug- zeug sitzt, verbreiten sich ihre Bazillen trotzdem im Nu. Egert: Das ist ein weitverbreiteter Irrtum! Was viele Reisende nicht wissen: Die Luft in einem Flugzeug ist in der Regel ähnlich keimarm wie in einem Ope- rationssaal. Die Kabinenluft wird in modernen Flugzeugen etwa alle zwei

Minuten ausgetauscht. Durch Hepa- PRESS / ACTION / TASS MARINA LYSTSEVA

Internet vernichten. Wer dahintersteckt, ist Fußnote unklar, weil die Attacken über Bot-Netze Hacker gegen Grüne aus gekaperten Computern liefen. Die Drei deutsche Nichtregierungsorganisa- Betroffenen vermuten aufgrund der Inter- 1000 tionen sind Opfer von Internetattacken netadresse eines Bekennerschreibens, geworden: die Heinrich-Böll-Stiftung der dass die Initiatoren Verbindungen nach Grünen, die mit Syrien be fasste Initiative Russland haben. »Es wird nicht der letzte Follower braucht ein Wissenschaftler Adopt a Revolution sowie der Deutsch- Angriff gewesen sein«, fürchtet Michael mindestens auf Twitter, damit seine Russische Austausch (DRA). Die Angrei- Alvarez von der Böll-Stiftung, »wir rut- Erkenntnisse nicht vorwiegend von fer legten im Juni tagelang die Website schen in eine fundamentale Auseinander- Kollegen, sondern auch vermehrt von der Böll-Stiftung lahm durch massenhafte setzung hinein, die hierzulande ausge - Laien wahrgenommen und weitergege- Zugriffe (»DDos-Attacken«) und versuch- tragen wird.« Das Berliner LKA und die ben werden – das berichten kanadische ten, Datenbestände im Netz des DRA zu Staatsanwaltschaft ermitteln. CRE Forscherinnen im Fachblatt »Facets«.

105 Wissenschaft

Adoptiveltern Schmidt-EhlingJULIA UNKEL / DER SPIEGEL Adoptivmutter Peukert FOTOS: Auslöschung einer Familie Medizin Jedes Jahr kommen Tausende Babys mit körperlichen und geistigen Schäden zur Welt, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft Alkohol tranken. Die Adoptiveltern verzweifeln an ihren Kindern, die kaum erziehbar sind – und fühlen sich von den Jugendämtern hintergangen.

bends blinkte der Anrufbeantwor- Albtraum verwandeln würde. Heute, 20 Jah- Ab der Pubertät schwankt Anna-Lena ter der Familie Peukert. »Rufen re später, sagt Andrea Peukert: »Die haben immer heftiger zwischen Impulsivität und A Sie uns bitte zurück, hier ist ein unser Leben zerstört.« Ihr Mann Ralf klagt: völliger Hilflosigkeit. Ihre Eltern schnauzt Mädchen, das Eltern braucht«, »Die haben unser Vertrauen missbraucht; sie aus nichtigem Grund an. Im Bus fassen hatte eine Mitarbeiterin des Jugendamts die haben uns verarscht.« Die, das sind die fremde Männer dem Mädchen an die Paderborn auf das Band gesprochen. Mitarbeiter des Jugendamts Paderborn. Brust, weil sie in ihr das perfekte Opfer Es war ein Anruf, der Euphorie auslöste. Denn Töchterchen Anna-Lena, die im erkennen. Wie eine Demenzkranke irrt sie Ein lange gehegter Traum sollte für die Alter von fünf Wochen zu den Peukerts als junge Frau orientierungslos durch die Peukerts* in Erfüllung gehen. Endlich kommt, ist anders als andere Kinder. Als Innenstadt von Paderborn, obwohl sie konnten sie ein Kind adoptieren. Säugling plagen sie erhebliche Schlaf - dort schon so oft durchgelaufen ist. Sie ahnten nicht, dass sich dieser Traum störungen; im Kleinkindalter wächst das Dann setzt sie per Handy einen Notruf alsbald in einen nicht enden wollenden Mädchen nicht richtig. Sie nässt viel länger ab: »Mama, ich weiß nicht mehr, wo ich als normal ein, ihr Sprachvermögen ent- bin!« Andrea Peukert rät ihrer Tochter * Name geändert. wickelt sich nur schleppend. dann: »Guck doch mal, wo der Dom ist.«

106 der mit einem möglichen Hirnschaden zur Welt, weil deren Mütter ihren unge - borenen Nachwuchs um den Verstand trinken – und dazu genügen vermutlich bereits wenige Gläser Wein. In den ersten beiden Wochen nach der Empfängnis kann ein Rausch der Mutter noch glimpflich ausgehen: Geschädigte Zel- len können entweder repariert werden oder die Frucht stirbt ab, und es kommt zu einer Fehlgeburt. Doch mit der Bildung des Embryos und seiner Organe ab der dritten Woche kann jeder Tropfen Alkohol für das heranwachsende Kind einer zu viel sein. Inzwischen mühen sich Ärzte, Wissen- schaftler und Erziehungsberechtigte von Betroffenen, das Schicksal der FAS-Kinder und das ihrer Eltern ins öffentliche Be- wusstsein zu bringen, etwa auf zwei FAS- Konferenzen diese Woche in Berlin. Bundesweit haben sich inzwischen Selbst- hilfegruppen ausgelaugter Adoptiveltern gegründet, die mit ihren Zöglingen ringen, als wären sie nicht von dieser Welt. Ihre Botschaft: »Man hat uns betrogen. Wir können nicht mehr. Niemand hilft uns.« Und schlimmer noch: Häufig müssen sich die Eltern für ihren aufopferungs- vollen Einsatz auch noch vom Jugendamt verhöhnen lassen. Als die Lehrerin Andrea Peukert dem Jugendamt von ihren Schwierigkeiten mit Anna-Lena berichtet, sei sie von einer Sachbearbeiterin zurechtgewiesen wor- den, berichtet Andrea Peukert: »Sie sind doch Pädagogin, Sie müssen das doch wis- sen. Sie sind nicht erziehungsfähig!« Adoptivvater Backhaus Immer mehr Adoptiveltern klagen ge- gen die zuständigen Jugendämter, von de- nen sie sich hintergangen fühlen. So auch Familie Peukert, die sogar bis vor den Bun- Seit Kurzem lebt die heute 20-Jährige in des Mädchens durch Alkohol im Mutter- desgerichtshof gezogen ist. Ihre Beschwer- einem kleinen Ort nahe Paderborn, wo sie leib schwer geschädigt wurde. de wurde von den Richtern in Karlsruhe in einer sozialen Einrichtung betreut wird. Bei Kenntnis der Sachlage hätte das Ju- jedoch zurückgewiesen. Begründung unter Das Ehepaar Peukert ist darüber froh und gendamt die Peukerts darüber aufklären anderem: Die Rechtssache habe keine erleichtert. Nach 20 Jahren Betreuung von müssen, dass Anna-Lena an Fetalem Al- grundsätzliche Bedeutung. Anna-Lena sind ihre Kräfte erschöpft. Ihre koholsyndrom (FAS) leidet, einer schlim- Eine krassere Fehleinschätzung der Ju- Bilanz fällt bitter aus: »Das war nicht das Le- men, aber leicht vermeidbaren Erkran- risten lässt sich kaum denken. Nach Hoch- ben, das wir wollten«, sagt Andrea Peukert. kung, die aus dem sehnlich herbeige- rechnung von Experten wie Spohr leben Was ist nur schiefgelaufen? wünschten Ziehkind für immer ein kaum in Deutschland bis zu drei Millionen Men- Von ihrem ersten Tag als Embryo an be- erziehbares Mündel macht. Stattdessen, schen, die noch vor ihrer Geburt durch findet sich Anna-Lena in einer Falle, aus so erinnern sich die Adoptiveltern, habe den Alkoholkonsum der Mutter einen Ge- der sie nicht entkommen kann: Ihre Mut- das Jugendamt angesichts des sichtbar hirnschaden erlitten haben – wenn auch ter spritzt nicht nur regelmäßig Heroin, sie zurückgebliebenen Kindes beschwichtigt: in unterschiedlich schwerer Ausprägung. hängt auch an der Flasche. Bis zu ihrer »Das verwächst sich bis zur Pubertät.« »Untragbar« nennt Helmut Ismar, der An- Geburt wird Anna-Lenas Denkvermögen Die bloße Nennung der Diagnose FAS walt der Peukerts, die Ignoranz der BGH- durch die ständige Alkoholzufuhr über die hätte Andrea und Ralf Peukert allerdings Richter. Der Jurist ist einer vorschnellen Nabelschnur geschädigt. vermutlich kaum schlauer gemacht. Denn Verurteilung des deutschen Rechtssystems Als das Jugendamt Paderborn Anna- im Jahr 1998 wissen in Deutschland nur unverdächtig. Beinahe 25 Jahre lang war er Lena 1998 in die Obhut der Peukerts gibt, Experten, welches Verhängnis sich hinter Direktor des Amtsgerichts in Soest. Nach klärt eine Mitarbeiterin die neuen Eltern diesen drei Buchstaben verbirgt. Und seiner Pensionierung im Jahr 2012 arbeitete zwar wahrheitsgemäß darüber auf, dass daran hat sich auch im Jahr 2018 nicht er als Anwalt in der Kanzlei seines Sohnes. die leibliche Mutter ein Junkie ist – der wesentlich viel geändert. Er wurde zum juristischen Fürsprecher von Säugling muss unmittelbar nach der Ge- Nach einer Schätzung des Kinderarztes Eltern FAS-geschädigter Kinder, die sich burt auf die Intensivstation zum Drogen - Hans-Ludwig Spohr, der seit Jahren um von den Jugendämtern getäuscht sehen. entzug. Was die Behörde nach Meinung Aufklärung kämpft, kommen allein in Die Eltern leiden darunter gleich dop- der Peukerts verschweigt: dass das Gehirn Deutschland jedes Jahr bis zu 4000 Kin- pelt: Nicht nur, dass sie von dem ihnen

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 107 Was passiert, vermittelten Nachwuchs heillos überfor- Auch das Ehepaar Elke und Edmund dert sind; sie müssen einen Gutteil der Schmidt-Ehling aus Bornheim bei Bonn wenn ein zahlreichen Zusatzkosten selbst tragen, die hat auf eigene Faust ermitteln müssen, was durch eine Unterbringung in adäquaten der wahre Grund für den befremdlichen Betreuungs- und Fördereinrichtungen an- Zustand ihrer Adoptivtochter Vivien ist. ganzes Land in fallen. Oftmals summieren sich diese Be- Schon ein Jahr nachdem die Anderthalb- träge auf mehrere Huntertausend Euro. jährige im Jahr 2004 zu ihnen gekommen »Die Jugendämter wälzen ihre finanzielle war, sei sie mit ihren Kräften am Ende ge- Verantwortung auf die Adoptiveltern ab«, wesen, gibt Elke Schmidt-Ehling zu. RENTE sagt Ismar. Ihre Adoptivtochter kann als Kleinkind In den vergangenen sechs Jahren erleb- lange nur »Hasi« sagen und lehnt ihre te der Jurist nur einen einzigen Fall, in Ziehmutter von Herzen ab. Doch die wah- GEHT dem ein Jugendamt zu Zugeständnissen ren Probleme beginnen erst später. Schon an die betroffenen Adoptiveltern bereit mit elf Jahren fordert sie von dem Betreuer war. »Es darf nicht wahr sein, was in unse- einer Jugendeinrichtung Sex. Bekommt rer Justiz möglich ist«, empört er sich über sie ihren Willen nicht, verfällt sie entweder die meist abschlägigen Urteile. in einen Tobsuchtsanfall – oder schneidet Die Sachbearbeiter in den Jugendäm- sich die Arme mit Rasierklingen auf. tern behaupten zumeist, dass sie von den Immer wieder beschuldigt sie außerdem weitreichenden Folgen, die der Alkohol- ihre Eltern, sie körperlich schwer zu miss- missbrauch der Mutter während der handeln. Diverse Male findet sich deshalb Schwangerschaft für die Kinder haben die Polizei oder das Jugendamt bei den kann, selbst nichts gewusst hätten. Schmidt-Ehlings ein. Die wissen zu diesem Derweil sammeln die Adoptiveltern von Zeitpunkt nicht, dass notorisches Lügen FAS-Kindern Belege, die zeigen sollen, und manipulatives Verhalten zu den typi- dass Jugendämter sehr wohl seit Langem schen Symptomen von FAS gehören – sie über das Ausmaß dieser vorgeburtlichen hatten von dem Leiden noch nie gehört. Schädigungen Bescheid wissen. Schon »Wenn wir das alles gewusst hätten, hät- Anfang der Neunzigerjahre tourte der Kin- ten wir doch den Adoptionsvertrag niemals derarzt Herrmann Löser, ehedem Profes- unterschrieben« sagt Edmund Schmidt- sor an der Universität Münster, durch Ehling, der inzwischen an Bluthochdruck Nordrhein-Westfalen, um in den Jugend- leidet. Sie könne sich nur noch durch die ämtern über die Schrecken der »Alkohol- Einnahme von Antidepressiva und ande- embryopathie« aufzuklären. rer Tabletten auf den Beinen halten, sagt Und bereits 1990 erkannte die Pädago- Elke Schmidt-Ehling. gin Irene Huber hellsichtig, die Chancen von Kindern mit FAS, eine Pflege- oder Adoptivfamilie zu finden, seien gering. Eine Einschätzung, zu der womöglich auch viele Sachbearbeiter in den Jugendämtern gelangten. »Wer will denn angesichts sol- 256 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D) cher Zustände noch das Risiko einer Adop- Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich tion eingehen?«, fragt Anwalt Ismar. In mühevoller Recherchearbeit gelingt es manchen betroffenen Adoptiveltern, den Jugendämtern nachzuweisen, dass Japans Wirtschaft ist seit Jahrzehnten sie mehr wussten, als sie zugeben wollen. in einer Abstiegsspirale gefangen, Die Peukerts beispielsweise gelangten auch weil Japans Bevölkerung so durch Zufall an ein Schreiben des Pader- JULIA UNKEL / DER SPIEGEL borner St. Vincenz-Krankenhauses vom Spielsachen bei Schmidt-Ehlings schnell altert wie kaum eine andere. 13. Oktober 1998 an das Jugendamt Pa- Todesangst vor der Ziehtochter Wieland Wagner, langjähriger Asien- derborn. Korrespondent des SPIEGEL, Darin heißt es unter anderem: »Frau Je älter Vivien wird, desto öfter kommt Müller vom Diakonischen Werk ermahnte es zu Dramen. Irgendwann finden die El- beschreibt eindrucksvoll, wie sich in gegen Ende des Gesprächs Frau S. (die leib- tern heraus, dass die 16-Jährige ihre kind- der vergreisenden Wohlstandsnation liche Mutter von Anna-Lena), doch bitte, lichen materiellen Wünsche, etwa nach wenn sie das Krankenhaus und Anna-Lena Süßigkeiten, durch Prostitution finanziert. Leben und Arbeiten verändern – besuchen würde, nüchtern hier zu erschei- Anfang dieses Jahres lernt Vivien im und was andere Länder am Beispiel nen.« Anwalt Ismar wertet es als »arglis - Internet einen Fernfahrer kennen, den sie Japans lernen können. tige Täuschung«, dass das Jugendamt die- als »große Liebe« bezeichnet und der of- ses Schreiben unterschlagen hat. fenbar ihr Interesse erwidert. Sie fordert Gebracht hat den Peukerts dieser viel- diesen Mann auf, ihre Adoptiveltern, die sagende Fund bisher dennoch nichts. sich angeblich gegen sie verschworen Das Jugendamt Paderborn argumentiert, hätten, »fertigzumachen«. Von da ab lebt es habe nicht »über frühere oder wei- Elke Schmidt-Ehling in Todesangst vor ih- tere Kenntnisse hinsichtlich eines FAS« rer unberechenbaren Ziehtochter, die ihr verfügt. körperlich ohnehin längst überlegen ist. www.dva.de 108 Wissenschaft

Vor wenigen Wochen konnten die El- Frau nicht, dass sie sich hoffnungslos tern ihre Tochter deshalb in einer Einrich- überfordern. SPIEGEL TV WISSEN tung unterbringen. Es soll eine dauerhafte 2004 fällt Peter Backhaus’ Frau in der SONNTAG, 30. 9., 21.55–22.50 UHR | SKY UND Lösung sein. 2000 Euro kostet die Unter- Küche einfach um. Sieben Wochen lang BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN bringung dort monatlich – eine Belastung, liegt sie im Koma, dann stirbt sie, im Alter First Class über den Wolken die die Schmidt-Ehlings auf Dauer in den von 43 Jahren. Peter Backhaus ist von da Ruin treiben würde. Sie wollen durchset- an allein mit drei Kindern; bei allen dreien Nicht nur bei Billigfliegern, sondern zen, dass das Jugendamt diese finanzielle wird später FAS diagnostiziert. auch im Luxussegment gibt es Bürde übernimmt. In seiner medizinischen Ausbildung in einen Wettstreit um den ersten Platz Durch eigene Nachforschungen machte den Achtzigerjahren habe FAS noch kei- das Ehepaar den leiblichen Vater aus- nerlei Rolle gespielt, sagt er. Dass seine findig. Der gab bereitwillig darüber Aus- Ziehkinder betroffen sein könnten, ver- kunft, dass Viviens Mutter auch während drängt er, bis es nicht mehr geht. Und dann der Schwangerschaft keinen Tag auf beschert Backhaus der Öffentlichkeit ei- ihr Lieblingsgetränk Wodka verzichten nen Moment der Wahrheit über die immer mochte. Dass ausgerechnet das zustän- noch tabuisierte Behinderung. dige Jugendamt in einer niederrheini- Im Mai 2014 wird der Kinderarzt in schen Großstadt davon nichts gewusst einem Prozess gegen eine junge Frau, die haben will, halten die Schmidt-Ehlings seine Patientin war, als Zeuge geladen. für ausgeschlossen. Die 22-Jährige hatte ihr knapp vier Mo- Ähnlich wie die Peukerts haben sie erst nate altes Baby allein in ihrer Soester nach vielen Jahren herausbekommen, was Wohnung zurückgelassen, um eine Party ihrer Tochter wirklich fehlt. Dabei kann in Münster zu besuchen. Als die Mutter ein kundiger Arzt die Diagnose FAS an- erst nach Tagen zurückkehrt, ist der Säug- hand körperlicher Auffälligkeiten in Ver- ling verdurstet. Eine entsetzliche Tat. bindung mit der intellektuellen Entwick- Ein psychiatrisches Gutachten attestiert lung des Kindes innerhalb relativ kurzer der Frau niedere Motive; das Kind habe Zeit stellen. der Mutter im Weg gestanden, argumen- »Ich hätte als Fachmann früher drauf tiert der Gutachter. Doch Peter Backhaus kommen können«, ärgert sich Peter Back- erkennt in der mit normalen Maß stäben haus*, ein Kinderarzt aus dem westfä - nicht zu erklärenden Tat die gleiche Unfä- lischen Lippstadt. 1990 adoptiert er mit higkeit, einfachste Abläufe zu planen, wie seiner damaligen Frau einen Jungen. Das er sie zigfach auch bei seinen Kindern be-

Ehepaar wollte »eine heile, eine perfekte obachtet hat. Selbst normal intelligente AIRLINES / DPA SINGAPORE Familie« aufbauen, so Backhaus. FAS-Kinder scheitern in der Regel am All- Luxuskabine im Airbus A380 Doch trotz größter Bemühungen um tag, weil sie kaum weiter denken als bis Nestwärme und Zuwendung will das Kind zur nächsten Bedürfnis befriedigung. über den Wolken. Singapore Airlines nicht gedeihen. Das Ehepaar Backhaus »Sie sind der Erste, der mir nachvoll- fliegt seit Jahren ganz vorn mit denkt sich »jetzt erst recht« und adoptiert ziehbar erklärt, wie jemand zu so etwas und will auch oben bleiben: mit kom - 1993 noch ein Mädchen. Auch dieses Kind fähig ist«, erklärt der Richter und bestellt fortablen Suiten für Superreiche fordert das Ehepaar mit seiner ungewöhn- Backhaus daraufhin vom Zeugen zum Gut- und Sterneküche im Himmel, dem lich abweisenden Art immer wieder über achter. Einsatz jugendlicher Blogger und die Grenzen des Leistbaren heraus. Auch Backhaus’ Kinder sind nicht zur Flugbegleiterinnen, die ihr Haar In ihrer Not überschütten die Adoptiv- Empathie fähig. Sie trauern nicht, als die nach einer Norm knoten. eltern ihre Kinder mit Zuneigung. »Sie soll- Mutter stirbt; und sie zeigen keinerlei tie- ten es gut haben. Wir hatten schließlich fere Bindung zu ihrem Vater. Inzwischen was gutzumachen«, sagt Backhaus. Der hat er keinen Kontakt mehr zu den beiden SPIEGEL TV Junge war laut Jugendamt schon als Säug- älteren Kindern. Der jüngere Sohn lebt in MONTAG, 1. 10., 23.25–0.00 UHR | RTL ling von seinen Eltern misshandelt worden; einem Heim. Sein einstiges Leben ist aus- bei dem Mädchen stand der Verdacht gelöscht. »Von unserer Familie ist nichts Grenzenloser Rausch – Deutsch-nie- eines sexuellen Missbrauchs im Raum. mehr übrig geblieben. Ich sehe mich als derländisches Ermittlungsteam »Wir schaffen das«, sagen sich die Back- gescheitert«, sagt er. jagt Drogendealer; Politische Chaos- haus’ trotz aller Schwierigkeiten und fas- Peter Backhaus hat wieder geheiratet. tage – Unterwegs mit CDU- sen einen Entschluss, der für Außenstehen- Seine neue Frau brachte drei Kinder mit Nachwuchshoffnung . de kaum nachvollziehbar erscheint: Sie in die Ehe, die schon erwachsen sind. Er bitten das Jugendamt um die Adoption sagt: »Die Kinder von meiner Frau nennen eines dritten Kindes. »Gerade als Kinder- mich zwar nicht Papa; aber wenn deren SPIEGEL GESCHICHTE arzt wollte ich beweisen: Ich bekomme Kinder mich eines Tages Opa nennen, MITTWOCH, 3. 10., 20.15–21.45 UHR | SKY das in den Griff, ich kann gut mit Kindern kann ich meinen Frieden schließen.« Erich Mielke – Meister der Angst umgehen«, sagt Backhaus. Frank Thadeusz So kommt 1997 ein weiterer Junge in Der Minister für Staatssicherheit die Familie, der neben einer Verhaltens- war gefürchtet wie kein anderer Poli- auffälligkeit auch eine geistige Behinde- Video tiker der DDR. Das dokumentari- Der Fall Vivien rung aufweist. Im Nachhinein attestiert sche Drama versucht, den Menschen sich Peter Backhaus eine ausgeprägte spiegel.de/sp402018alkohol Mielke hinter dem totalitären Verweigerungshaltung. Im Bemühen um oder in der App DER SPIEGEL Apparat zu zeigen: seine Motivation, eine heile Familienwelt sehen er und seine seinen Glauben, seine Macht.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 109 Technik

Neue Talstation am Klein Matterhorn in der Schweiz AIRCAM ZERMATT GMBH ZERMATT AIRCAM Kreuzfahrt am Himmel

Verkehr Die neue Seilbahn aufs Klein Matterhorn führt zur höchsten Bergstation Europas. Nun fehlt nur noch ein Lückenschluss für eine kühne Vision – die Überquerung der Alpen mit Gondeln.

ie Sitze einer Seilbahnkabine mit Betrieb aufnehmen soll. Steil führt sie ponenten in der eingehaltenen Bauzeit Glitzersteinchen von Swarovski hinauf zur höchsten Bergstation Europas – von knapp drei Jahren hinaufzuschaffen D zu verzieren ist sicher nicht die und kann mehr als dreimal so viele Men- und zu installieren war ein industrieller geschmackvollste Idee in der Ge- schen auf den Berg befördern wie die be- und handwerklicher Kraftakt. schichte des alpinen Personentransports. stehende kleine Anlage daneben. Ein Hubschrauber verliert beim Einsatz Und auch im schweizerischen Zermatt Einen Personenbagger modernsten Zu- in der dünnen Hochgebirgsluft etwa ein wird es eine Ausnahme bleiben. schnitts hat der Südtiroler Produzent Leit- Drittel seiner Tragkraft, ein Mensch je Vier von 25 Gondeln der neuen Bahn ner dafür in die Südschweiz geliefert. Er nach Konstitution bis zur Hälfte seiner aufs Klein Matterhorn werden insgesamt funktioniert nach dem Dreiseil-Umlauf- physischen Leistungsfähigkeit. Beton lässt 280 000 Kristalle tragen – schillernde Or- prinzip, der modernsten Bauart von Luft- sich in der Kälte der Höhe nicht herstellen. namente eines Verkehrsmittels, das der Be- seilbahnen. Die Rollenlaufwerke der Gon- 7000 Kubikmeter Beton mussten vorge- treiber eine »Bahn der Superlative« nennt. deln fahren auf zwei Tragseilen und wer- wärmt aus dem Tal angeliefert werden, Die Talstation Trockener Steg liegt den von einem Zugseil bewegt. Das bringt zunächst mit Hubschraubern, später mit 2923 Meter über dem Meer, fast so hoch hohe Stabilität, auch bei starken Winden, einer eigens installierten Lastenseilbahn. wie die Zugspitze, Deutschlands höchster und erlaubt enorme Transportleistungen: Das schwierigste Transportgut aber war Gipfel; die Bergstation liegt mit 3821 Me- 25 Kabinen zu 28 Sitzplätzen werden bis das Seil. Jedes der vier Tragseile ist knapp tern höher als der Großglockner, der zu 2000 Menschen pro Stunde aufs Klein vier Kilometer lang, fünfeinhalb Zenti - höchste Gipfel Österreichs. Die Luft ist Matterhorn schweben lassen. Zusammen meter dick und wiegt etwa 80 Tonnen. dünn, die Landschaft schroff. Wie vergilbte mit dem Fördervolumen der Bestands - Auf Rollen gewickelt, kamen sie mit Schlagsahne liegt der Gletscher unter der anlage ergibt sich die Kapazität einer dicht Schwertransportern nach Cervinia im süd- Schwebekabine und schmilzt in der getakteten Buslinie. lich angrenzenden Italien. Doch über den Herbstsonne. Dreiseil-Umlaufbahnen dieser Dimen- Bergkamm zum Ziel kann kein Transport- 55 Millionen Franken hat die Zermatt sion sind keine Seltenheit mehr im Ski- gerät der Welt solche Trommeln wuchten. Bergbahnen AG in die neue Seilbahn in- zirkus. In dieser Höhe aber ist es das erste So wurden die Seile ausgerollt und wie vestiert, die an diesem Wochenende den Exemplar der Welt. Seine schweren Kom- stählerne Riesenschlangen mit Hilfslauf-

110 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 werken über den Furggsattel nordwärts nachhaltige Maßnahme bezeichnen wür- für eines der teuersten Skigebiete der Welt. gezogen. Sie am Ende auf die Masten zu den, wohl aber effektiv genug, um noch Hasler räumt ein, dass die wohlhabenden ziehen war eine Prozedur von einigen für lange Zeit als Pistenflicker herzuhalten. Touristen nicht zwingend zu den Gleich- Monaten. Eine Anlage dieser Dimension Derzeit, sagt Hasler, reichten wenige Wo- mütigen zählen: »Manchmal haben wir auch noch halbwegs landschaftsschonend chen Dauerbetrieb im Jahr, um die weiße Wildwest auf Trockener Steg.« an den Berghang zu pflanzen – ein from- Grundlage zu sichern. Der stärkste Widersacher der Zermatt mer Wunsch. Das zweite Problem des Bergbahn - Bergbahnen AG ist ein fast 50-jähriger In- Markus Hasler ist froh, dass alles ge- managers ergibt sich unmittelbar aus dem teressenverband in Bern. Jahrelang pro- schafft ist. In kurzen Hosen sitzt der Chef Erfolg seiner schon bestehenden Liftanla- testierte die Stiftung Landschaftsschutz der Zermatt Bergbahnen AG am Konfe- gen: Es herrscht Überfüllung im Gletscher- Schweiz gegen den Bau der ersten Matter- renztisch, über den sich eine Schnur mit paradies, vor allem an der Station Trocke- hornseilbahn. Am Ende erlaubte der Bun- neckischen Modellgondeln spannt. Der ner Steg, von wo es zum Klein Matterhorn desrat die touristische Erschließung des Mann ist gelernter Bergretter und ein hei- hinaufgeht. Die vor 40 Jahren eröffnete Gletscherparadieses. terer Mensch. Drei Viertel der Aktionäre Pendelbahn mit zwei Großkabinen war »Es ist da oben widerlich geworden«, sind Einwohner der Gemeinde, und Hasler für einen überschaubaren Touristenstrom sagt Raimund Rodewald, Geschäftsführer kann ihnen jährlich Kapitalausschüttungen ausgelegt worden. Sie läuft im gemäch - der Stiftung. Er beklagt die »Entzauberung um acht Prozent überweisen. lichen Zehnminutentakt wie der Perpen- des Hochgebirges«, den »Turnschuhtouris- Aber wird das auch in Zukunft so blei- dikel eines überdimensionalen Metro- mus«, die »Pommes-frites-Atmosphäre« ben? Mit zwei Problemen hat Hasler zu noms. Maximal 600 Menschen pro Stunde in der einsamen Höhe. Tatsächlich ist der kämpfen. Einmal ist da der Klimawandel. und Richtung bringt sie ans Ziel. Gipfel des Klein Matterhorn kein maleri- »2003«, sagt er, »war ein Schock.« Der Sa- Heute treffen sich an stark frequentier- scher Ort mehr. Von der Bergstation führt harasommer ließ den Gletscher schrump- ten Wintertagen 6000 Skifahrer auf dem ein grauer Stollen durch den Fels zur Piste. fen wie ein Speiseeis am Strand von Rimi- Gelände, etwa die Hälfte kommt aus Rechts vor dem Ausgang liegt ein spärlich ni. 2018 war wohl weniger schlimm, weil Zermatt und will morgens hinauf auf den möbliertes Schnellrestaurant, das als Film- es kaum Gewitterregen gab. Solche war- Gletscher. Die Berggemeinde im Kanton kulisse die Kantine einer Weltraumstation men Duschen, sagt Hasler, seien die übels - Wallis hat 5500 Einwohner und 30 000 abbilden könnte. ten Gletscherkiller. Gästebetten. Ein Wiener Schnitzel kostet Zeitweise spukte gar die Vision eines Inzwischen bekämpft die Zermatt Berg- 40 Franken, eine Berg-und-Tal-Fahrt 100. kolossalen Hotelturms durchs Schweizer bahnen AG den Hitzetod ihrer Eismassen Und doch herrscht rastloser Betrieb. Hochgebirge. Er sollte 117 Meter hoch mit einer veritablen Industrieanlage: Eine Die andere Hälfte der Besucher reist über das Klein Matterhorn aufragen und Kunstschneefabrik aus der Bergbauin- von der italienischen Seite in das Gebiet damit den Berg haarscharf zum Viertau- dustrie, geplant und errichtet von einem und braucht abends die Matterhornbahn, sender machen. Die Landschaftsschützer israelischen Hersteller, spuckt 44 Kubik- um wieder Richtung Süden abfahren zu waren alarmiert, doch das Projekt verlief meter Gletscherersatz pro Stunde aus. können. In Phasen der alpinen Rushhour aus verschiedenen Gründen im Sande. Der Apparat vom Format einer kleinen steigt die Wartezeit schon mal auf andert- Gegen den Bau der zweiten Seilbahn- Berghütte ist nicht das, was Ökologen als halb Stunden – eine ernste Misslichkeit linie hat sich Rodewald nicht in Stellung

Skigebiet am Matterhorn Zermatt 2 km SCHWEIZ

bestehende Seilbahn Kartenausschnitt

Matterhorn 4478 m Trockener Steg 2939 m Furggen 3492 m

Klein Matterhorn 3883 m Dufourspitze Cervinia SCHWEIZ 4634 m Testa Grigia 3479 m geplante Seilbahn ITALIEN gebracht. Die Aussichten waren gering, derer, die den Weg nach Zermatt finden. Fällt sie zugunsten des »Alpine Crossing« der Korridor ist bereits erschlossen. Käme ein Seilbahnverbund von Nord - aus, könnte in zwei Jahren die große Kir- Mit aller Kraft bekämpft der Land- italien über die Berge hierher, könnte dies mes über Europas Zentralgebirge starten. schaftshüter nun ein anderes Projekt der eine ganz neue Urlaubsattraktion sein – So schnell sind diese Bahnen gebaut. Zermatter Bergbahnen. Es geht um eine eine Art Kreuzfahrt am Himmel. Das Panorama wird vortrefflich sein: Erweiterung des Streckennetzes, die einen Der Seilbahnchef hat schon einen Mar- zur einen Seite die ewig schneebedeckten Brückenschlag von enormer touristischer ketingcode ersonnen: »Alpine Crossing«. Giganten um die Dufourspitze, deren Na- Tragweite ermöglichen könnte. Nur 1,7 Ki- Die Sause übers Gletscherparadies könnte men kaum jemand kennt, obwohl es der lometer sind es schnurstracks durch die ein Checklistenpunkt werden auf der Jagd höchste Gipfel der Schweiz ist; zur ande- Luft nach Italien – auf den Felskopf der ren diese unfassbar akkurate Felsforma - Testa Grigia (siehe Grafik Seite 111). tion, mit 4478 Meter Höhe kein Rekord- Dorthin führt bereits eine Seilbahn von Wer auf den Gipfel des halter und doch der bekannteste Berg der Süden her. Diesen Ort mit dem Klein Mat- großen Matterhorns will, Alpen. Wer auf den Gipfel des großen und terhorn zu verbinden ist derzeit der größte einzigen Matterhorns will, der muss zu Wunsch des Zermatter Bergbahnchefs muss gut trainiert sein Fuß gehen, sehr gut trainiert sein und frei Hasler. Das Baugesuch ist bereits beim und frei von Höhenangst. von Höhenangst. Bundesamt für Verkehr in Bern einge- Ein früher Vorschlag, hier eine Seilbahn reicht, und der Seilbahnhersteller Leitner hinaufzulegen, wurde vor über hundert hat das Projekt geplant und kalkuliert. nach Highlights: Kolosseum, Mailänder Jahren auf eine Petition von Heimat- 25 Millionen Euro würde es kosten, weni- Dom, Matterhorn und Eiffelturm. Es sei schützern hin abgewiesen. Unter ihnen ger als die Hälfte der neuen Klein-Matter- die Süd-Nord-Passage, auf der der kauf- war der Literat Charles Gos. »Die Berge«, horn-Bahn; nicht mal ein Mast wäre nötig, kräftige Fremdenverkehr wachse, sagt Has- schrieb er damals, »sind das Gut von drei nur ein Seil von Station zu Station. ler: »Doch der Strom zieht an uns vorbei. Millionen Schweizern und nicht nur von Hasler hat sich lange genug mit Touris- Wir müssen da den Fuß reinkriegen.« Touristen.« Christian Wüst tenströmen beschäftigt, um weit über Zer- Aus Sicht des Naturschützers Rodewald matt hinauszublicken. Er sieht immer führen diese Ideen in einen raumplaneri- Video mehr Asiaten einfliegen, sehr wohlhaben- schen Abgrund. In seinem Einspruchsschrei- Testfahrt mit der de Menschen. In Zermatt stellen sie inzwi- ben ans Bundesamt für Verkehr warnt er Matterhornseilbahn schen etwa zehn Prozent der Urlaubsgäste. vor einer »Disneylandisierung der höchsten spiegel.de/sp402018seilbahn Doch es könnten viel mehr sein. Bisher Alpengipfel«. Eine Entscheidung der Behör- oder in der App DER SPIEGEL sind es vorwiegend Skifahrer und Wan- de wird noch in diesem Jahr erwartet.

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Ihren Anfang nahm die Stoa etwa 300 seit je ein großer Kritikpunkt an der Leben im vor Christus. Ein Phönizier namens Zenon Denkschule der Stoa. lehrte damals in einer Säulenhalle (Stoa) Der britische Philosoph und Nobelpreis- auf dem Marktplatz von Athen. Zenon war träger Bertrand Russell warf in den Fünf- Limit überzeugt davon, dass man durch die Kon- zigerjahren des 20. Jahrhunderts ihrer trolle der eigenen Affekte, durch Gleich- ethischen Theorie ernsthafte Fehler vor: mut gegen die äußeren Verhältnisse zum »Wenn die Welt nach festgelegten Gesetzen Philosophie Seit 2000 Jahren richtigen und guten Leben gelangt. Mit See- gelenkt wird, nützt es wenig, die Überle- streben die Anhänger des lenruhe und Gelassenheit findet der Stoi- genheit der Tugend zu predigen«, schrieb ker seinen Platz in der Welt. Der Weg da- er in seinem Werk »Denker des Abend - Stoizismus nach Gelassenheit. hin führt über die Selbstbeherrschung. landes«. Das Ideal des leidenschaftslosen Eine weltweite Bewegung gibt Der römische Politiker Seneca, der ehe- Weisen erschien ihm als »etwas farblose nun Tipps zum Leben in Ruhe. malige Sklave und Philosoph Epiktet und und strenge Disziplin«. der römische Kaiser Mark Aurel entwickel- In unserer heutigen Zeit jedoch sieht ten die Gedanken der frühen griechischen Pigliucci, dass immer mehr Menschen enn sich der Philosophieprofessor Stoiker weiter und bündelten ihre Über - nach einer solchen Disziplin und Struktur W Massimo Pigliucci morgens auf legungen in einer Vielzahl von Schriften – für ihr Leben suchen: »Nur wollen sie sie seinen Tag vorbereitet, sucht er allesamt sehr lebensnah. Die Philosophie nicht mehr in der Religion finden.« sich eine ruhige Ecke, schließt kurz die der Stoa versteht sich nicht als Schatz, den Pigliucci begann seine Karriere als Evo- Augen und stellt sich vor, welch miss - man in tausendseitigen Abhandlungen lutionsbiologe. Er erzählt, dass ihn eine liche Dinge ihm heute widerfahren Art Midlife-Crisis zur Philosophie könnten. gebracht habe. Im Stoizismus hat Pigliucci, 54, lebt in New York. er einen Leitfaden für sein Leben Eine der ersten Unannehmlichkei- gefunden. ten wird wie immer seine Fahrt zur Neben den vier Tugenden, er- Arbeit sein. Die U-Bahn-Züge sind zählt Pigliucci, gibt es noch ein wei- überfüllt und selten pünktlich. In teres wichtiges Prinzip: »Wir müs- der Universität stehen Treffen mit sen lernen zu trennen, was unter Kollegen an. Wird er erreichen, unserer Kontrolle liegt und was was er sich vornimmt? Geduldig nicht.« Über all die Dinge, die nicht bleiben? in der eigenen Hand liegen, braucht Pigliucci ist bekennender Stoi- man sich gemäß der stoischen Phi- ker. Seine morgendliche Routine losophie keinen Kopf zu machen. nennt sich frei nach dem antiken »Ob man beispielsweise im Job Philosophen Seneca »praemedita- befördert wird«, sagt Pigliucci, tio malorum«, eine Vorstellung des »steht nicht in der eigenen Kraft.« Bösen. Unter Anleitung des alten Der Chef könnte einen schlechten Römers härtet sich Pigliucci so ge- Tag haben, Kollegen könnten intri- gen Widriges ab. gieren. Der Rat der Stoiker würde Aus der antiken Denkschule lauten: »Gib dein Bestes. Dann sieh stammt auch die Lösung für Pi- dem Ergebnis mit Gleichmut entge- gliuccis mögliche Probleme: Stoi- gen. Mehr als das, was du machen ker wie Seneca, Epiktet oder Mark kannst, kannst du nicht machen.« Aurel beschrieben schon vor rund Die Denkschule ist derzeit auch 2000 Jahren, wie man mithilfe im Silicon Valley beliebt. Start-up- von vier Tugenden ein aufrichtiges Berater und Autoren wie Tim Fer- und standhaftes Leben führt. Sie riss oder Ryan Holiday rühren die lauten: Weisheit, Gerechtigkeit, Trommeln für die philosophische Mut und Mäßigung. All das hilft Gelassenheitslehre. Die eigene auch, einen nervigen Sitznachbarn in der über den Weltgeist hebt; sondern als an- Selbstoptimierung mit dem Glanz der rö- U-Bahn zu ertragen. gewandte Praxis von geistigen Überzeu- mischen Antike zu verbinden – da funkeln Pigliucci ist Mitglied im Team der »Stoic gungen, die über tägliche Routinen trai- die eigenen Sterne gleich ein wenig heller. Week«, der stoischen Woche, die am 1. Ok - niert werden. Gegen allzu viel Vereinnahmung der tober beginnt. Dafür stellt ein weltweiter »Epiktet rät zu einer Art philosophi- Stoiker durch die Selbstoptimierungs - Verbund aus Philosophen und Psychologen schem Tagebuch«, sagt Pigliucci. Darin industrie aber wehrt sich Pigliucci. Er ein kostenloses Internetseminar zusam- fragt man sich allabendlich: Was habe ich mahnt, dass man mit dem tugendhaften men, in dem man sieben Tage lang Anlei- heute falsch gemacht? Was richtig? Und: Handeln der Stoiker keinen Egoismus tung und Übungen für das stoische Leben Was muss noch getan werden? rechtfertigen könne. auf den heimischen Rechner erhält. Die Stoiker glauben an die Kausalität »Für die Stoiker war das Beste für den Wer mitmacht, wird sich wie Seneca die der Ereignisse. Was geschieht, wird durch Einzelnen, in einer gut funktionierenden Frage stellen: Was ist ein glückliches Le- eine alles durchdringende Urkraft be- Gesellschaft zu leben«, sagt Pigliucci. ben? Die Antwort, die der Philosoph für stimmt. Die größte Tugend bedeutet des- »Wenn in einem sozialen Kontext etwas sich wohl im Jahr 64 nach Christus fand, halb ein Leben in Einklang mit dem Kos- schieflag, war es auch im Interesse des Ein- lautet: »Furchtlosigkeit und bleibende See- mos. Weltliche Güter zählen dabei nicht zelnen, es zu reparieren – gleich ob man lenruhe. Diese wird gewonnen, wenn die viel. Dass dem Einzelnen in diesem davon persönlich profitierte oder nicht.« Seele erhaben denkt und beharrlich fest- Gedankenkonstrukt kaum noch freier Kerstin Kullmann hält, was sie für gut erkannt hat.« Wille und Handlungsspielraum bleibt, ist

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an, wo liegen sie genau, gibt es Begleitpro- App statt bleme? Am Ende steht eine Art Diagnose, die aber nicht so heißen darf, denn Dia - gnosen dürfen nur Ärzte stellen. Arzt Das Smartphone dient als Schnittstelle zu Computerservern, auf denen mithilfe Gesundheit künstlicher Intelligenz ermittelt wird, was Patienten nutzen dem Patienten fehlen könnte. Ada setzt zunehmend Software, um heraus - auf Ärzte und Medizinstudenten, um die zufinden, was ihnen fehlt. Eine Algorithmen schlauer zu machen. Für jede Krankheit wird ein Dokument gebaut – Berliner Firma macht Medizinern dafür wühlen sich Experten durch Lehr- Konkurrenz bei Diagnosen. bücher, Aufsätze, Leitlinien oder Wiki- pedia-Artikel. Mehrere Tausend Beschwer- den kann Ada schon verarbeiten. er zum Arzt geht, braucht vor »Wir wählen den gleichen Ansatz wie W allem eines: Glück. Es hat auch die echte Intelligenz: Ein Arzt geht zur Uni, etwas von einer Lotterie, in gute lernt in der Klinik und wendet sein Wissen Hände zu geraten. Mediziner, die ihre dann für einzelne Fälle an.« Man brauche Patienten ausführlich zu deren Problemen ein Grundgerüst, aus dem sich die richtigen befragen, sind rar. Mancher arbeitet lieber Fragen ergäben. Das wolle er keiner Ma- flott durchs sogenannte Kassendreieck, bei schine überlassen, sagt Hirsch. Heraus dem das Hemd nur leicht geöffnet und das kommt ein Entscheidungsbaum mit Wahr- Herz durch den auseinandergezogenen scheinlichkeitsangaben; so macht die Soft- Kragen abgehört wird. Kaum hat der Pa- ware transparent, wie sie zu der Annahme tient seinen Namen gesagt, ist er schon kommt, dass die Bauchschmerzen etwa wieder raus aus dem Sprechzimmer. von einer Entzündung des Wurmfortsatzes Die Mehrzahl der Deutschen setzt ohne - herrühren. Der Patient kann die »Diagno- hin auf Do-it-yourself-Befunde. 58 Pro- se« ausdrucken oder einem Arzt mailen. zent googeln ihre Symptome, bevor sie Ada ersetzt längst noch nicht den Arzt- einen Arzt aufsuchen. Nach dem Praxis- besuch. Denn so wichtig die Befragung von besuch sind es sogar 62 Prozent. Kranken für die Diagnose ist, so sehr hat Komfortabler und nicht selten präziser ??? sie Grenzen. Ada sieht nicht, ob die Haut als Suchmaschinen sind medizinische Chat- des Patienten verfärbt ist, kann nicht den bots – Software, die automatisiert einen Bauch abtasten. Und dann ist da noch die Dialog führt. Eine der erfolgreichsten Sache mit dem Datenschutz: Ärzte unter- Diagnose-Apps kommt aus Berlin, seit liegen der Schweigepflicht, Tech-Unterneh- Monaten ist das Start-up Ada Health Ge- men muss man vertrauen. Doch Ada lernt sprächsthema unter Ärzten und Investoren. dazu. Denkbar sei, künftig weitere Infor- Das System kann heute schon in Teilen den mationen einzubeziehen, etwa Kamera - Arzt ersetzen – kostenlos. Alle drei Sekun- bilder der Haut, Sensordaten, Aufzeichnun- den wird es irgendwo auf der Welt befragt. gen anderer Apps und sogar Gendaten, sagt Gründer Martin Hirsch erinnert an das Hirsch. Er will Tests oder Blutdruckmess- Klischee eines verwirrten Professors: zer- geräte verkaufen, wenn es ins Profil des An- zauste Haare, Brille, Freizeithemd, gemus- wenders passt, um den Dienst zu finanzieren. tert wie Küchenkrepp, und Kugelschreiber Ada ist weltweit verfügbar. Das ergibt in der Brusttasche. Er hat Humanbiologie wie nebenbei interessante Einblicke in studiert, verschiedene Start-ups gegründet, regionale Unter schiede, etwa bei Ge- darunter eine erfolglose Suchmaschine. Ada-Nutzer schlechtskrankheiten. »Wir merken sofort, Sein Großvater war der Nobelpreisträger Die zehn häufigsten ob es in den jeweiligen Ländern eine ärzt- Werner Heisenberg. Sechs Jahre lang tüf- »Diagnosen« der Medizin-App liche Schweigepflicht gibt. Aus arabischen telte Hirsch, bis die erste Ada-Version Staaten kommen viele Anfragen aus die- veröffentlicht wurde. »Es geht schließlich 1. Grippaler Infekt sem Bereich, weil sich Patienten lieber einer nicht um irgendwas, sondern um die 2. Spannungskopfschmerzen App anvertrauen als einem Arzt.« Oder die Gesundheit von Menschen«, sagt Hirsch. 3. Nebenhöhlenentzündung Sache mit den Gutverdiener-Stadtteilen in Konkurrenten wie Google sei das Lachen London und Berlin. Von dort erreichten über die lange Entwicklungszeit vergan- 4. Migräne Ada Abfragen im Dauerfeuer. »Hypochon- gen. »Die sehen, dass es funktioniert.« 5. Depressive Phase der«, sagt Hirsch. Martin U. Müller In der Ada-App gibt es kein Wartezim- 6. Burnout Mail: [email protected], mer, herrscht kein Zeitdruck. Die Software, Twitter: @MartinUMueller benannt nach dem Firmensitz in der Kreuz- 7. Grippe berger Adalbertstraße, funktioniert leicht 8. Prämenstruelles Syndrom Video verständlich. Tippt man in die App ein 9. Generalisierte Angststörung Dr. Chatbot Symptom ein, etwa Bauchschmerzen, leitet 10. Clusterkopfschmerz im Test einen die Software durch einen umfang- spiegel.de/sp402018ada reichen Frageprozess, einem Arztgespräch oder in der App DER SPIEGEL ähnlich: Wie lange dauern die Schmerzen

114 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 DER SPIEGEL im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse Sven Jaax Urban Zintel Wilfried Gerharz Wilfried

Aladin El-Mafaalani Dörte Hansen Helene Hegemann Sara ArnaldSara Peter von Felbert von Peter Cristopher Civitillo Cristopher

Jonas Jonasson Timur Vermes Juli Zeh

DER SPIEGEL erwartet mehr als 40 Autorinnen und Autoren zu Gesprächen über ihre aktuellen Bücher, darunter Aladin El-Mafaalani, Dörte Hansen, Helene Hegemann, Jonas Jonasson, Timur Vermes und Juli Zeh.

Mittwoch bis Sonntag, 10. bis 14. Oktober 2018 SPIEGEL-Stand, Halle 3.0, D56, und auf spiegel-live.de Kultur

»Form folgt nicht nur der Funktion, sondern auch der Fiktion.« ‣S.124 FOTOS: INSTAGRAM FOTOS:

Kommentar #hotdudesreading Sie sind schön, und sie lesen Bücher, und sie sind auf Instagram.

Der Instagram-Account Hot Dudes Reading zeigt Fotos von wie Frauen nicht nur schlau, sondern auch schön sein müssen, Männern, die häufig Oberarme vom Umfang jung gefällter gilt allerdings erst seit Kurzem (Barack Obama? Trendsetter!). Bäume haben, auch als Models arbeiten könnten – und sogar Be deutet also Gleichberechtigung, dass für alle die gleichen noch Tiefe suggerieren: Sie alle halten ein Buch in der Hand. miesen Regelkorsetts gelten? Na ja. Wer behauptet, es mache Es klingt meschugge, aber dieser von Frauen und Männern keinen Unterschied, ob ein Mann eine Frau objektifiziert gegründete Account hat rund eine Million Follower. oder umgekehrt, sollte sich auf Instagram einmal die Bilder Hot Dudes Reading offenbart einen interessanten Wider- an schauen, die der Hashtag #hotgirlsreading zutage fördert. spruch aktueller Genderdebatten: Der Unterhaltungswert Zu sehen sind en masse: Frauen mit wenig Klamotten und liegt in der Objektifizierung. Dass Intelligenz bei Männern mit operierten Brüsten. Die lesen vielleicht auch alle gern. als attraktiv gilt, ist kein neues Stereotyp. Dass Männer genau Aber ein Buch ist selten zu sehen. Eva Thöne

Fernsehen de die Serie, die auf den Romanen von Land her.« Rezensenten in den USA sehen Globales Babylon Volker Kutscher basiert, oft politischer »Babylon Berlin« als Parabel zur Wahl eines wahrgenommen als in Deutschland, sagt hochstaplerischen Präsidenten, dem briti- Die Fernsehserie »Babylon Berlin« läuft Henk Handloegten, neben Tom Tykwer schen »Spectator« gilt sie als Lehrstück zum ein Jahr nach ihrer Premiere auf dem Pri- und Achim von Borries einer der drei Regis- Brexit. Möglicherweise funktioniere die vatsender Sky nun im Ersten, vom seure von »Babylon Berlin«. »Vor allem Serie auch deshalb weltweit so überra- 30. September bis zum 8. November. Das dort, wo der Rechtspopulismus auf dem schend gut als Parabel, weil die Stadt Berlin 16 Folgen umfassende Sittengemälde Vormarsch ist, in den USA oder in Holland für alle großen politischen Umbrüche des über das Berlin der späten Zwanzigerjahre etwa, stellen die Kritiker und Zuschauer 20. Jahrhunderts stehe, sagt Borries. Im ist ein Welterfolg und verkaufte sich in Vergleiche zwischen der Weimarer Repu- November beginnen die Regisseure mit den mehr als hundert Länder. Im Ausland wer- blik und der Situation in ihrem eigenen Dreharbeiten der dritten Staffel. LOB

116 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Literatur Ehe haben, erzählen sich Anna und Max Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht Würgereflex nicht. Außerdem: Achtung bei der Ver- hütung, da darf nichts schiefgehen, denn Moti mokant Anna liebt Max, seit sie 18 Jahre alt ist. »dann hat man den Salat«. Über offene Aber aus Gründen, die das Buch »In man- Beziehungen denken recht viele Men- Unter dem Titel »Mad Boy, chen Nächten hab ich einen anderen« schen recht ernsthaft nach, und es Lord Berners, meine Groß- zu erklären versucht, will sie mit anderen wäre vielleicht aufschlussreicher mutter und ich« hat die Männern schlafen. Anna findet das »wahn- gewesen, wenn Anna Zimt weniger Londoner Künstlerin Sofka sinnig aufregend«, Max macht das mit. von Ben, Tim, Jan, Sabberspuren Zinovieff ein fabelhaftes Geht das gut? Anna Zimt, Jahrgang 1985, und Würgereflexen berichtet hätte. Familienalbum veröffentlicht, die im wahren Leben anders heißt, be- Stattdessen verkommt ihr Buch über ein in dem unter anderem ein Ara- schreibt das Dilemma offener Beziehun- vermeintlich reizendes Thema, das Ex - ber namens Moti Tee aus einer Unter- gen, die weitaus vertrackter sind, periment offene Beziehung, zu tasse trinkt. Moti gehörte einer Nach - als man das annehmen würde. Es einer langen Sexkolumne und barin, die mit ihm in Indien Schakale geht um die Frage, was erlaubt ist bleibt dadurch leider wahnsinnig gejagt hatte, galt als freundlichstes Teil und ab wann es wehtut. Zimt stellt unaufregend. RED einer Ehe zu dritt und trug »so gut wie dafür Regeln auf. Die eigene Woh- immer Lippenstiftspuren am Hals«. Das Anna Zimt: »In manchen Nächten hab ich nung etwa ist »ein affären freier einen anderen. Mein sinnliches Leben in Pferd wurde von Lord Berners, einem Raum«, der Freundeskreis auch. einer offenen Beziehung«. Knaur; 208 Seiten; Diplomaten mit sehr kurzer Laufbahn, Wie genau sie Sex außerhalb ihrer 9,99 Euro. der vor allem komponierte und Gesell- schaftsromane schrieb, in einem seiner Salons auch in Öl porträtiert (die zwei- farbigen Schuhe auf einem Perser, die Kinderbücher SPIEGEL: Was war Ihre erste Idee, als Hufe allerdings auf dem Parkett). »Ich wollte fliehen« Sie begannen, »Die Mitternachtstür« Die fröhliche Dekadenz der britischen zu schreiben? Upperclass zwischen den Kriegen, mit Der US-Autor Dave Eggers, 48 (»Der Circle«), Eggers: Mein erstes Bild im Kopf war leicht angewiderter Faszination begleitet hat seinen ersten Kinderroman ge schrieben. ein Kind, das eine Tür in einem grünen von wohlgeborenen Sozialisten wie Vir- »Die Mitternachtstür« handelt von unter- Hügel öffnete. Seit Jahrzehnten komme ginia Woolf, sieht uns aus einem unfass- irdischen Mächten, die eine amerikanische ich hier in San Francisco an einem Hügel baren Abstand an: Das waren Leute, die Kleinstadt bedrohen. Doch zwei Kinder vorbei, und jedes Mal stelle ich mir vor, von Fair Trade und Plastik im Meer noch verschaffen sich Zutritt zur Unterwelt, um ich öffne da eine Tür und spaziere hinein. nichts gewusst haben, sondern die Mes- den Einsturz ihrer Welt zu verhindern. So fing es an. Dann war mir klar, dass serbänkchen hochhielten. Sie beköstig- es da unten ein Tunnelsystem geben ten eher ein Pferd als einen Arbeiter in SPIEGEL: Mr Eggers, was waren Ihre muss und dass hier oben alles einstürzen ihren Gesellschaftsräumen, demonstrie- ersten, prä genden Leseerlebnisse? wird, wenn nicht einige Kinder es auf - ren aber als Begünstigte des Schicksals Eggers: Ich erinnere mich vor allem halten. im Poesiealbum der Menschheit, wie viel an Bücher von J.R.R. Tolkien und SPIEGEL: Wie war Ihr Leben, als Sie Schalk sich in uns rühren kann, wenn Frank Herbert, die eine ganz andere klein waren? Wie haben Sie sich vor Ein- Hedonismus sich mit Bildung paart. Welt als unsere erschufen. Ich denke, samkeit und Verzweiflung geschützt? Das heutige Oligarchenwesen, soweit ich wollte fliehen. Eggers: Ach, ich war zunächst ein ganz bekannt aus der Jachtberichterstattung, SPIEGEL: Macht Lesen junge Menschen glückliches Kind, bis die problematische stärker? Teenagerzeit begann. Dann bekam ich Eggers: Klar. Bücher vertreiben uns Anregungen und Bestätigung von meinen aus unserer eigenen Haut und versetzen Kunst- und Englischlehrern. Und von lan- uns in das Leben anderer hinein. Das gen Fahrradtouren durch die Nacht und öffnet unser Hirn für Komplexität und Morrissey-Hören auf dem Walkman. macht uns misstrauisch gegenüber Ver - SPIEGEL: Inspirieren Sie Ihre Schüler? einfachungen. Und ich habe noch kei- Eggers: Total. Mit jungen Menschen nen jungen Leser getroffen, der kein zusammen zu sein und zu erleben, wie empathischer, mitfühlender Mensch ist. sie groß werden und entdecken – das ist SPIEGEL: Sie haben vor vielen Jahren das beste Gegengift gegen Zynismus. in San Francisco eine Schreibschule ge - Wir hatten jetzt gerade einen »Kongress gründet, 826 Valencia. Was war Ihre Idee? der jungen Stimmen«, da sprach ein Foto aus dem Familienalbum Eggers: Es ging mir darum, Kindern Teenager, der vor drei Jahren aus Syrien einen Ort zum Schreiben zu geben und geflohen war, vor 1200 Leuten und nimmt sich gegen diese Flamboyanz ihnen zu ermöglichen, die Macht des hat uns alle elektrisiert. Er spricht flie- bitterlich öde aus. Aber auch für uns geschriebenen Wortes zu erleben. Die ßend Englisch, hat keine Angst, über globalisierte Mittelstandsbürger, die im meisten unserer Schüler sind Einwan - sein Land zu reden oder über unseres, Ressourcenverbrauch kaum beschei - derer. Und mit dem Schreiben und Ver - und beginnt in diesem Herbst mit dener sind als Berners & Co., scheint öffentlichen eigener Texte kann dem College. Seine Hoffnung und deren spleenige Lebenslust so weit ein Schüler einen großen Sprung seine Kraft könnten eine ganze entfernt wie die Kostümbälle am Hof machen: vom Gefühl, in der neu- Stadt mit Energie versorgen. VW Marie Antoinettes. Obwohl wir alle en Gesellschaft marginalisiert zu Tage Kuchen essen. sein, hin zu dem Gefühl, gefeiert Dave Eggers: »Die Mitternachtstür«. Aus zu werden. Das Gefühl, durch dem Englischen von Ilse Layer. Sauerländer; An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und SOFKA ZINOVIEFF, AUS IHREM BUCH _MAD BOY, LORD BERNERS, MEINE GROSSMUTTER UND ICH_ (DTV, 2017) UND ICH_ (DTV, BERNERS, MEINE GROSSMUTTER LORD IHREM BUCH _MAD BOY, AUS SOFKA ZINOVIEFF, Sprache echte Macht zu besitzen. / LAIF / REDUX CHAVARRIA C. 368 Seiten; 17 Euro. Nils Minkmar im Wechsel.

117 Kultur

Sechs Millionen Gründe Zeitgeist Der jüdische Comedian Oliver Polak hat ein Buch geschrieben, das »Gegen Judenhass« heißt – und er meint es ernst. Eine Annäherung an den deutschen Antisemitismus von New York aus. Von Philipp Oehmke

un komme der einzige jüdische Ein jüdischer Comedian ist für Amerika- Junge sah er aus, in bunten Sportschuhen, deutsche Comedian, den es auf ner nichts Besonderes, Groucho Marx, bunter Adidas-Trainingshose und einem N der Welt gebe, rief der Ansager, Woody Allen, Jerry Seinfeld oder Larry geringelten Pullover. Auf seinen dichten und jeder könne mal kurz über- David, alles jüdische Komiker, so what? schwarzen Locken trug er ein Käppi mit legen, warum das wohl so sei. Dann betrat Der Mann, den sie dann auf der Bühne der Aufschrift »Yonah Schimmel Knishes«, Oliver Polak in New York die Bühne. sehen, wirkte allerdings doch merkwürdig das sich auf eine New Yorker Bäckerei be- Das Publikum begriff nicht sofort. Was genug, um das Interesse der meisten Zu- zieht, die berühmt für ihre Knishes ist, ein sollte denn das für eine Ankündigung sein? schauer zu wecken. Wie ein großer, dicker koscheres jüdisches Gebäck.

118 Und dann mit diesen Witzen, die manch- kenhäusern trafen Polaks Vater Wilhelm, mal mit dem Holocaust zu tun haben und damals 22 Jahre, und dessen Schwester die in Deutschland einige geschmacklos Ilse, damals 20, wieder in ihrem Heimatort finden. »Ich darf das, ich bin Jude« heißt Papenburg im Emsland zusammen. Die ein Buch, das Polak vor zehn Jahren ver- Eltern waren tot, die Nazis aber noch da. öffentlicht hat. Darf man als deutscher Eine Nazifamilie wohnte sogar immer Jude Witze über den Holocaust machen? noch in ihrem Elternhaus und musste erst Polak stellte sich mal bei dem berühm- rausgeschmissen werden. ten amerikanischen Stand-up-Comedian Wilhelm und Ilse Polak beschlossen, Dave Attell vor, der zu Polaks Programm sofort in die Vereinigten Staaten von nur gesagt hatte: »Deutsch, jüdisch und Co- Amerika auszuwandern, in Deutschland median? Ich nenne dir sechs Millionen Grün- würde man nicht bleiben können. Doch de, warum das nicht funktionieren kann.« Polaks Vater hatte sich im Konzentrati- Stand-up-Comedy im amerikanischen onslager mit Tuberkulose infiziert, deren Sinne gibt es in Deutschland kaum. Ihr Ziel Folgen auf dem Röntgenbild beim Ge- ist es, den Humor an die Grenze des Er- sund heits check für die Ausreise in die träglichen heranzuführen, diese Grenze im- USA noch zu sehen waren. Er würde die mer wieder neu zu vermessen und zu ver- Krankheit auskurieren müssen, bevor die schieben. Die Themen von Stand-up sind amerikanischen Behörden ihn ins Land die neuralgischen Punkte des gesellschaft- ließen. Wilhelm würde nach New York lichen Diskurses und seiner Tabus, Rassis- nachkommen. mus, Feminismus, neuerdings #MeToo, Doch er kam nie. Er fasste wieder Fuß auch Pädophilie – oder eben der Holocaust. in seinem Heimatort. Er begann, mit Tex- Polak beginnt mit einem seiner Klassiker, tilien zu handeln, eröffnete bald ein Be- mit dem er auch häufig in Deutschland sein kleidungsgeschäft, das er »Haus der klei- Programm eröffnet. Er erzählt, dass er am nen Preise« nannte (und wahrscheinlich Abend zuvor aus Deutschland angekom- der Grund ist, warum Polak nur offensicht- men ist, mit dem Flugzeug diesmal, was für liche Markenklamotten trägt). Er heiratete ihn ein bisschen ungewohnt gewesen sei. spät eine Jüdin aus Russland, bekam mit »In Deutschland reise ich normalerweise ihr in den Siebzigerjahren zwei Kinder, mit dem Zug – eine alte jüdische Familien - Oliver und seine Schwester, und fuhr bald tradition.« Das Publikum braucht eine Se- in einem goldfarbenen Mercedes-Benz kunde, dann bricht es in anhaltendes, im- durchs Land der Täter. mer stärker werdendes Lachen aus. Polak Und so wuchs Oliver Polak als Sohn wartet, dann setzt er noch einen drauf: eines Holocaust-Survivors im Emsland der »Die Abfahrtszeit kann man sich nicht aus- Siebziger- und Achtzigerjahre auf. Davon suchen, aber die Tickets sind kostenlos. handelt, unter anderem, ein Buch, das Das Problem: Alle Züge fahren nach Polen.« kommende Woche von ihm erscheint und Glückliches Publikum. Was ist das denn den Titel »Gegen Judenhass« trägt*. für ein Vogel? Es ist Polaks drittes Buch. Das erste ist Die Leute hier in New York fragten ihn, das erwähnte »Ich darf das, ich bin Jude«, setzt Polak wieder an, ob er sich Sorgen eine weitgehend lustige Geschichte über mache angesichts des neuen Antisemitis- seine Kindheit als Jude in Papenburg. Das Autor Oliver Polak, mus in Deutschland. Seine Antwort sei zweite heißt »Der jüdische Patient« und Holocaust-Überlebende Ilse Polak Nein. erzählt davon, wie er durch sein Jüdisch-

BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL BÉATRICE »Ich habe diese neue App, ich weiß sein in Deutschland Depressionen bekom- nicht, ob ihr die schon runtergeladen habt, men habe. sie heißt Anne-Frank-App und zeigt dir Nun also »Gegen Judenhass«. Das Buch Es ist vielleicht das härteste Publikum die besten Verstecke in Europa.« ist sehr kurz, fast ein Essay. Und es ist kein der Welt oder das leichteste, wie man Das ist eine Art, mit wachsendem Anti- Comedy-Buch, so viel vorweg. Es erzählt es nimmt: Die Leute erwarten viel, kön- semitismus in Deutschland umzugehen, er von den Schattenseiten einer jüdischen nen aber auch viel aushalten. Hier haben passt hier nach New York, weit weg von Existenz in Deutschland. Von antisemiti- fast alle großen Comedians und Fern - Chemnitz und all den anderen Düster- schen Witzen, Beleidigungen oder auch seh-Late-Night-Talker anfangen, hier orten, und bedeutet für Polak auch eine nur wohlgemeinten Gesten, die sich trotz- kommen sie auch immer noch hin als Erleichterung, denn in Wirklichkeit macht dem ausgrenzend anfühlten, erst in der längst hochbezahlte Stars, spätnachts er sich Sorgen. Kindheit, auf dem Schulhof oder bei meist, unangekündigt, um neuen Stoff Sein Vater Wilhelm sei als junger Mann Freunden zu Hause, wo der zum Abend- auszutesten. »ungefähr in sieben verschiedenen Kon- essen Bier trinkende Vater des Schul- Oliver Polak tritt hier zum ersten Mal zentrationslagern« gewesen, wie Polak freunds dem siebenjährigen Oliver vorhält, auf. Dementsprechend fühlt er sich. In sagt, und habe überlebt (es waren drei). dass »ihr Juden am Tod von Jesus die volle Deutschland hat er ein Standing. Für seine Auch die Schwester seines Vaters, Polaks Schuld tragt«. Und später im Beruf als Late-Night-Show »Applaus oder Raus« Tante Ilse, die in New York lebt, hat die Comedian, wo ein deutscher Satiriker mit hat er vergangenes Jahr den Grimme-Preis KZ-Haft wie durch ein Wunder überstan- einem Desinfektionsspray herumsprüht, gewonnen, er schreibt Bücher, nimmt für den. Alle anderen in Polaks Familie wur- als wollte er sich vom Juden säubern, oder Amazon Podcasts auf, und zu seinen den von den Deutschen umgebracht. Shows kommen häufig mehr als tausend Nach der Befreiung aus den Lagern und * Oliver Polak: »Gegen Judenhass«. Suhrkamp; Zuschauer. Aber hier? zwei weiteren Jahren in russischen Kran- 128 Seiten; 8 Euro. Erscheint am 2. Oktober.

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 119 Kultur ihm ein Veranstalter sagt, wenn er heute (auch wenn die Figur verfremdet war). Polak sagt, es habe keinen Spaß ge- nicht lustig sei, lande Polak im Aschen - Polak wechselte zum Suhrkamp-Verlag. macht, »Gegen Judenhass« zu schreiben. becher. In New York ist alles einfacher. Polak Schließlich sei er Comedian und kein Mah- Ausländerhass, Türkenhass, Sinti-und- kommt oft hierher und besucht Tante Ilse, ner. Aber es sei nicht mehr gegangen: Ju- Roma-Hass, Schwulenfeindlichkeit, Wald- die inzwischen 91 Jahre alt ist und auf der den, die in Berlin auf der Straße angegriffen sterben, Atomenergie, Auslandseinsätze Upper West Side lebt. Wie hätte Olivers würden, deutsche Hip-Hopper, die über der Bundeswehr, Polizeigewalt, Filz waren Leben ausgesehen, wenn sein Vater, wie Auschwitz-Insassen rappten und dafür den die Themen, mit denen sich die Bundes- vor 70 Jahren fest verabredet, Tante Ilse Musikpreis Echo gewinnen sollen; ein ko- deutschen im Lauf der Nachkriegsjahr- in die USA gefolgt wäre? Oliver wäre scheres Restaurant in Chemnitz, das von zehnte intensiv beschäftigten. Nur Antise- einer von rund einer Million Juden in New einem rechtsradikalen Mob angegriffen mitismus gehörte nie dazu, so schien es. York, wo Schulen und Behörden an jü - werde, Israelflaggen, die auf dem Kurfürs- Andererseits wusste man ja, dass min- dischen Feiertagen geschlossen sind, er tendamm verbrannt würden, deutschtür- destens bis in die Sechzigerjahre hinein hätte ganze Stadtviertel zur Auswahl, in kische Taxifahrer, die etwas von »jüdi- die Nazis in den Parteien und Behörden denen nicht Englisch oder Spanisch, son- schem Kapital« erzählten: Polak hat das saßen, und immer mal wieder schmierte dern Jiddisch gesprochen wird, und könn- Gefühl, dass das alles in Ordnung gefunden in idyllischen westdeutschen Städten plötz- te jeden Tag in seinen geliebten Pastrami- werde, dass kaum jemand widerspreche. lich irgendjemand verkehrt he rum gemalte Läden rumsitzen. Und die AfD ist seit Neuestem in Umfragen Hakenkreuze auf jüdische Grabsteine. die zweitstärkste Partei in Deutschland. Polak beschreibt die Vorfälle, die er er- Zum ersten Mal seit Langem gibt das lebt hat, sachlich in kurzen Episoden, lose Vielleicht müssen wir Innenministerium bekannt, steige die An- aneinandergereiht ohne chronologische den Gedanken zahl antisemitischer Straftaten. Arabische Ordnung. Keine der Polak begegnenden Flüchtlinge und Einwanderer bringen ih- Figuren wird mit Namen bloßgestellt, zulassen, dass nicht ren Judenhass mit nach Deutschland, hieß manche sind aber erkennbar, wie zum Bei- alles in Ordnung ist. es bald, es handle sich um einen »impor- spiel der Rapper Haftbefehl, der Polak tierten Antisemitismus«. Tatsächlich gibt vor laufenden Kameras in rührender es ja die Fälle wie die Prügelattacke dreier Tumbheit fragt, ob Polaks Eltern sehr Wenn Oliver Polak in New York an- arabischer Jugendlicher auf zwei Kippa reich seien, weil sie doch Juden seien. kommt, zieht es ihn als Erstes zu Katz’s tragende Juden in Prenzlauer Berg. Sie Oder ein SPIEGEL- Kolumnist, der zwar Delicatessen, ein ursprünglich jüdisches stürzen Polak in einen Gewissenskonflikt, als heftiger Israelkritiker gilt, aber auf Pastrami-Geschäft, heute eines der denn er möchte ja eigentlich für Flüchtlin- Polaks Nachfrage zugibt, noch nie dort ge- bekanntesten Restaurants der Stadt, die ge sein. Zugleich hat der neue Antisemi- wesen zu sein. Andere, die mit Schlimme- berühmte Orgasmus-Szene aus »Harry tismus Polak daran erinnert, dass der alte rem zitiert werden, sind nicht zu identifi- und Sally« wurde hier gedreht. Polak ja schon immer da war, sein ganzes Leben zieren. Trotzdem hat es vor Erscheinen ist glücklich in dem Neonlicht und mit lang, auch zu einer Zeit, als in Papenburg des Buchs schon Zerwürfnisse gegeben. dem fettigen Essen, das nicht einmal im Emsland kein einziger Araber in Sicht Polaks ursprünglicher Verlag Kiepen - koscher ist. Der Kellner spricht Polak war: »Ich renne über den Schulhof, ich ren- heuer &Witsch hat die Veröffentlichung sehr zu seiner Befriedigung auf sein ne und renne, sie rennen hinter mir her. zurück gezogen, als Polak sich weigerte, Käppi an, das von Yonah Schimmel und Sie schreien und grölen: ›Hast du ihn an- eine Episode zu streichen, in der der Ver- seinen Knishes, die besten der Stadt, gefasst?‹ – ›Hast du ihn berührt?‹ ›Ihhhh‹, lag eine öffentliche Person zu Unrecht in wie auch der Kellner findet: jüdische schreien andere, ›du hast Juden-Aids.‹ Ich die Nähe des Antisemitismus gerückt sah Nor malität. stolpere über meine eigenen Füße, stürze, die Hose reißt auf, Blut, ich kann mich nicht mehr bewegen.« So war das bereits im Emsland Mitte der Achtzigerjahre, da war eine Type wie Farid Bang, der heute rappt, sein Körper sei »definierter als der von Auschwitz- Insassen« gerade erst geboren. Polak hat mit niemandem über diese Vorfälle gesprochen. Seinem Vater wollte er diese Belastung nicht zumuten, er hatte sich nie komplett von den Jahren im Kon- zentrationslager erholt und blieb ein ängst- licher Mensch. Am besten sei es, fand er, keinen »Risches« zu machen, keinen Är- ger, und das Jüdische nicht an die große Glocke zu hängen. Das erste Wort, das Oli- ver gesprochen haben soll, war »Angst«. Seine Mutter hingegen hielt Polak für zu impulsiv. Sie hätte, befürchtete er, zu viel Ärger gemacht. Also behielt er alles für sich und bekam als Erwachsener eine or- dentliche Depression. An dem Abend im Comedy Cellar tritt Polak im Vorprogramm eines New Yorker BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL BÉATRICE Stand-up-Comedians namens Godfrey auf, Comedians Polak, Godfrey: Persönliche Verletzung als Grundlage den Polak sehr verehrt. Godfrey ist in vie-

120 lerlei Hinsicht das Gegenteil Polaks. Er ist schwarz, muskelbepackt und trägt eine Art Irokesenhaarschnitt. Die beiden ergeben ein komisches Duo, der deutsche Jude und der Amerikaner nigerianischer Abstam- mung, doch Polak fühlt sich mit Godfrey verbunden, weil dieser ebenfalls eine per- sönliche Verletzung zur Grundlage seiner Comedy gemacht hat. Während sich Polak über Züge nach Auschwitz gekonnt um Kopf und Kragen redet, sind es bei God- frey die Polizeiwagen der weißen Cops, die die Schwarzen in den USA in ganzen Kolonnen in die Gefängnisse abführen, bis diese aus allen Nähten platzen. In den USA gibt es nämlich vielleicht in den großen Städten ein normales jüdi- sches Leben, umso schwerer tut sich die weiße Mehrheit der Bevölkerung im Um- gang mit den 13 Prozent Afroamerikanern. Noch spät in der Nacht sitzen Polak und

Godfrey in der Kneipe des Comedy Cellar. DE GÉA / DER SPIEGEL BÉATRICE »Meine Arbeit als Comedian«, erklärt Tante, Neffe Polak: Sie spricht lieber auf Englisch über das Konzentrationslager Godfrey Polak, »basiert komplett auf Ras- sismus und den Erfahrungen, die ich damit gemacht habe. Ich rede immer darüber, auch als Jude zu leben. Wer Polaks Buch gele- Sie hatte von einem ehemaligen Aufse- wenn Leute es nicht mögen. Ist mir egal.« sen hat, den überfällt diese Erkenntnis. her in Stutthof gehört, der behauptet hatte, Polak freut sich, das zu hören. Es ver- Und es fallen einem die wenigen anderen in Stutthof seien keine Juden umgebracht schafft ihm Erleichterung bei einem Punkt, Juden im öffentlichen kulturellen Leben worden. Ilse Polak aber hatte es selbst ge- über den er auch in seinem Buch über den der Bundesrepublik ein, von Marcel Reich- sehen. Sie war dabei, als sie sich von ihrem Judenhass nachdenkt. Seine Beschwerde, Ranicki über Maxim Biller, den früheren Vater verabschieden musste. »Er sagte zu dass er nicht ständig auf seine Religion SPIEGEL-Autor Henryk M. Broder bis hin mir: Wir werden uns nie wiedersehen. angesprochen oder reduziert werden zu Michel Friedman (Gag von Polak: »Wir Und so war es.« möchte – das würden ja schließlich andere verzeihen euch den Holocaust, ihr uns da- Oliver Polak kennt die Geschichten, auch nicht –, lässt sich auf den ersten Blick für Michel Friedman«). Wenn man ehrlich trotzdem muss er seine Tränen zurückhal- schlecht vereinbaren mit der Tatsache, dass ist, erschien deren Verhalten vielen Deut- ten. In Ilses Wohnung hängen viele Foto- zum Beispiel im Titel jedes seiner drei schen immer auch ein wenig rätselhaft, zu grafien von Oliver. Sie hat, als sie nach Bücher das Wort »Jude« oder »jüdisch« laut, zu extrovertiert, zu neurotisch, zu be- New York kam, als Kinderfrau bei einer vorkommt. Oder dass er hier im Comedy leidigt, zu aggressiv. Wem das so vorkam, jüdischen Familie angefangen, aber selbst Cellar bewusst als »German Jewish Come- der sollte Polaks Buch zur Hand nehmen. hat sie nie Kinder gehabt. Auch geheiratet dian« auftritt. Oder dass seine jüdische Her- Danach wird man sich dieser Gedanken hat sie nie. Oliver ist wie ein Sohn. Er solle kunft ihm als Comedian ein in Deutschland schämen. »Und außerdem«, sagt Polak, für das Foto seine Kappe abnehmen. Sie einzigartiges Narrativ verschafft. »was ist mit Hans Rosenthal?« findet es gut, dass er ein Buch über Juden- Als Polak einmal in einem Vorgespräch Natürlich habe man nicht in Deutsch- hass geschrieben hat. zu einer Talkshow, an der er teilnehmen land bleiben können, sagt Ilse Polak, Oli- Er fragt sie, ob sie in ihrem Leben in sollte, vorschlug, dass vielleicht nicht das vers 91-jährige Tante. Sie sitzt mit Oliver New York jemals antisemitische Ressenti- gesamte Gespräch auf sein Jüdischsein ver- in einem koscheren Restaurant auf Man- ments gespürt habe. wendet würde, entgegnete ihm der Mode- hattans Upper West Side, einem der ältes- Ilse Polak überlegt einen Moment, dann rator: »Sorry, aber dein Judentum ist dein ten der Stadt. Hier geht sie seit 40 Jahren sagt sie: »Nein. Eigentlich nie. In den bei- Unique Selling Point, da musst du jetzt fast jede Woche hin. Der Laden habe den nahe 70 Jahren, die ich nun in New York durch.« besten Krautsalat. Allerdings musste er lebe, kein einziges Mal.« Ist das so? In seinem Buch nennt Polak auch, wie sich im Nachhinein herausstellt, Ein paar Tage später, als er aus New seine Vorbilder der amerikanischen Stand- kürzlich für einige Zeit schließen, nach- York schon wieder abgereist und zurück up-Comedy, Louis C.K. oder Trevor Noah. dem das Gesundheitsamt Mäuse in der in Berlin ist, ruft Oliver Polak noch einmal Auch sie legen ihre Biografien als Basis Küche entdeckt hatte. Polak weiß noch an. In diesem Text solle nicht stehen, wo ihrer Comedy aus, genauso wie Godfrey. nicht, wie er es seiner Tante bei bringen seine Tante wohne, sagt er. Er erinnert an Doch die Tatsache, dass er die Entschei- soll. »Erst der Holocaust, und dann das!« Mireille Knoll, eine Holocaust-Überleben- dung treffe, dieses persönliche Material Es ist noch nicht lange her, dass Ilse de, die im März dieses Jahres 85-jährig in künstlerisch zu verarbeiten, sagt Godfrey, Polak angefangen hat, über ihre Jahre im Paris von Antisemiten ermordet wurde. gebe niemand anderem das Recht, darüber Getto in Riga und im Konzentrationslager Polak hat Knoll sein Buch gewidmet. abfällig zu reden. »Ich bestehe darauf, Herr Stutthof bei Danzig zu sprechen. Da war über meine eigene Geschichte zu bleiben.« sie schon weit über achtzig. Ein halbes Es ist derselbe Kampf, den Oliver Polak Jahrhundert hat sie nicht darüber reden Video »Der Antisemitismus in seinem Buch führt. können. Warum nun? war nie weg« Vielleicht müssen wir den Gedanken zu- »Ich wollte, dass man Bescheid weiß, spiegel.de/sp402018polak lassen, dass nicht alles in Ordnung ist und was passiert ist.« Sie spricht lieber auf Eng- oder in der App DER SPIEGEL es immer noch komisch ist, in Deutschland lisch darüber als auf Deutsch.

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Stuttgart Metropol www.deinkinoticket.de/a-star-is-born Bolzstraße 10 /WarnerBrosDrama Beginn: 20.00 Uhr Kultur »Wir brauchen mehr Hochhäuser«

SPIEGEL-Gespräch Der international gefragte deutsche Architekt Ole Scheeren über die Zukunft des Wohnens, die Vorteile der städtischen Verdichtung und über die Verlockungen der Höhe

Scheeren, Jahrgang 1971, stammt aus ung. Wir lassen dazu den normalen Typ Deutschland, hat sich aber vor allem mit Hochhaus hinter uns, der eine bloße Sta- Großbauten in Asien einen Namen ge- pelung des immer gleichen Flächenmoduls macht. Noch für das Büro des Niederlän- und letztlich auch der Bewohner vorsieht. ders Rem Koolhaas realisierte er 2012 eines Wir betonen die Qualitäten, vor allem der markantesten Bauwerke der Gegen- Licht, Luft und Ausblick. wart: das Hauptquartier des chinesischen SPIEGEL: Diese Vorteile haben schon Staatsfernsehens CCTV, 234 Meter hoch die Architekten der frühen Moderne be- und in der Form einer komplex verwinkel- schworen. ten Endlosschleife. An diesem viel disku- Scheeren: Aber sie haben nicht ausrei- tierten Entwurf war er maßgeblich betei- chend erkannt, dass ein Hochhaus in sei- ligt. 2010 eröffnete er ein eigenes Büro in ner klassischen Machweise zur Isolation Peking. In China, Singapur, aber auch au- des Einzelnen führen kann. Wir wollen, ßerhalb Asiens gehört er zu den gefragten dass sich die Bewohner eben auch als Nut- Leuten seiner Branche. zer einer geteilten Sphäre begreifen, einer Gemeinschaft, wenn Sie so wollen.

SPIEGEL: Herr Scheeren, ein Architekt, so MAI / DER SPIEGEL MARTIN SPIEGEL: Wie lässt sich das erreichen? stellt man es sich vor, hält sich gern in Bau- Architekt Scheeren Scheeren: Viele Wohntürme, oder Hoch- werken auf. Sie scheinen die meiste Zeit »Die Mobilität ist mein Zuhause« häuser allgemein, sind sozusagen stumme in Flugzeugen zu verbringen… Gebäude, wir wollen sie sprechen lassen, Scheeren: …und bisher gestalten Archi- Ort lebt, brauche ich nicht. Ein Auto zum nach innen, nach außen. Man muss einer tekten leider keine Flugzeuge. Beispiel, ich hätte so gut wie nie Zeit, es solchen Architektur auch ansehen, dass SPIEGEL: Sollten sie? zu nutzen. Naheliegenderweise schließt Leben in ihr stattfindet, sie soll mit dieser Scheeren: Ja, weil man mehr und mehr man sich einer größeren Gruppe an, die Lebendigkeit auf die gesamte Umgebung tatsächlich auch darin lebt. Architekten ent- sich ein Auto teilt. Ein Hotel ist auch ein ausstrahlen. werfen oft genug Flughäfen, sie könnten geteilter Wohnraum, der immer noch wich- SPIEGEL: Aber wie? auch den nächsten Schritt gehen. Der Über- tiger wird. Man denkt also neu über Besitz, Scheeren: Das fängt mit der Gestaltung gang des Raums zwischen dem Statischen über Raum, übers Leben nach. der Architektur an. Wir haben geschoss- auf der Erde und dem Mobilen in der Luft SPIEGEL: Kann jemand wie Sie die Bedürf- übergreifende Verzahnungen und schaffen wird immer fließender. Die Realitäten des nisse eines durchschnittlichen Immobilien- auch räumliche Verbindungen in den Lebens ändern sich, und das gehört dazu. nutzers noch nachvollziehen? Stadtraum hinein. Manche Gebäudeteile SPIEGEL: Die Weltbevölkerung wächst, Scheeren: Mein Zustand entspricht natür- scheinen regelrecht aus den Türmen he- und der Anteil der Menschen, die in Städ- lich nicht dem, wie die meisten Menschen rauszutreten in den Stadtraum – das ist ten leben wollen, auch. Wie blickt ein Ar- leben oder leben wollen. Obwohl es wohl eine wirklich dramatische Verbindung. chitekt auf die Verdichtung unten in den für immer mehr Leute tendenziell in diese SPIEGEL: Aber was hat die mit dem Zu- Metropolen, wenn er selbst ständig in der extremere Richtung geht. Aber keine Sor- sammenleben oder dem Leben in der ver- Luft ist? ge, ich habe noch eine Vorstellung davon, dichteten Stadt zu tun? Scheeren: Der Abstand hilft, den Blick zu wie es ist, irgendwo zu wohnen. Wenn ich Scheeren: Wenn Sie in den Räumen ste- schärfen, die Mobilität übrigens auch. Es eine Wohnung entwerfe, dann überlege hen und 270 Grad Stadtpanorama betrach- wird einem klar, dass die Verdichtung nicht ich auch, wo Platz für den Handtuchhalter ten können, entwickeln Sie ein besonderes nur innerhalb der Städte stattfindet, son- sein sollte. Das ist etwas, für das sich ande - Verhältnis zur Stadt. Wenn Sie die Außen- dern außerdem zwischen den Städten. Die re Architekten weniger interessieren. flächen betreten, treten Sie sozusagen ins Bewegung zwischen den Städten wird in SPIEGEL: In unserer Epoche der Verdich- Panorama hinein. Zukunft genauso wichtig wie die klassische tung stellt sich die Frage, wie vergleichs- SPIEGEL: Sie sehen das alles als ästhetische stationäre Behausung. Für mich ist Mobi- weise viele Menschen auf vergleichsweise Erfahrung? lität mein Zuhause, ich lebe darin und da- kleinem Stadtraum gut miteinander aus- Scheeren: Mehr als das. Wir wollen Raum- mit, für mich ist ein Zuhause also kein klar kommen. Sie bauen von Asien bis Kanada strukturen schaffen, die ein neues und tiefes definierter, abgegrenzter Raum mehr. Das und sprechen von neuen Typologien des Erleben von Architektur und Umgebung führt zu weiteren Konsequenzen. Zusammenlebens. Was meinen Sie damit? ermöglichen. Und die es den Menschen in SPIEGEL: Welchen? Scheeren: Uns geht es um das Wohnen der Umgebung ermöglichen, diese Archi- Scheeren: Viele Dinge, die man klassi- im Hochhaus. Wir, mein Team und ich, tektur auch als ihre wahrzunehmen, auch scherweise besitzt, wenn man an einem sehen in der Vertikalität sogar eine Befrei- wenn sie dort nicht wohnen. Mein Anliegen

124 OLAF SCHÜLKE / SZ PHOTO / PICTURE ALLIANCE / PICTURE OLAF PHOTO SCHÜLKE / SZ Scheeren-Projekt The Interlace in Singapur: »Nicht nur in Asien machbar«

ist es nicht, bloße architektonische Figuren Scheeren: Nehmen wir Vancouver, da ha- Scheeren: Manches, was wir machen, zu schaffen, weil sie gut aussehen, Silhou- ben wir zwei Projekte. Eines wird an einer reicht ins Luxussegment. Aber sicher nicht etten als Selbstzweck interessieren mich wichtigen Stelle in der Stadt angesiedelt alles. 30 Prozent der Wohnfläche in den nicht. Architektur macht etwas mit Men- sein, dort öffnet sich das übliche Straßen- Zwillingstürmen wird sozialer Wohnungs- schen, sie kann ihnen etwas geben, und raster, und Downtown beginnt. Wir haben bau sein. Viele weitere Einheiten darüber dieser Gedanke ist der Ursprung meiner, 43 Stockwerke und – für Hochhäuser un- hinaus werden erschwinglich sein. In Sin- unserer Entwürfe. Ich habe also nicht erst gewöhnlich – vor allem die Mitte des Ge- gapur haben wir mit der Anlage The Inter - ein Bild vor Augen und zwänge das Ge- bäudes betont, ästhetisch und weithin sicht- lace 1040 Wohneinheiten geschaffen, deren bäude in diese Form. bar, aber genauso innen durch Restau rants Preisniveau nicht weit über dem des dor- SPIEGEL: Die Väter der modernen Archi- und Lounges, die dort auch untergebracht tigen sozialen Wohnungsbaus liegt. tektur haben den Leitspruch »Die Form sein werden. Diese Mitte wird die öffentli- SPIEGEL: Wer lebt dort? folgt der Funktion« erfunden. Folgen Sie che Erweiterung des Wohnzimmers. Das Scheeren: Die unterschiedlichsten Leute, ihm? andere Vorhaben umfasst Zwillingstürme. mehrere Generationen, auch junge Fami- Scheeren: Ich erweitere ihn lieber zu: Sie werden zwischen zwei historischen lien können sich das leisten. Die Anlage »Form folgt nicht nur der Funktion, son- Vierteln stehen, die Umgebung ist geprägt wurde vor fünf Jahren eingeweiht, und wir dern auch der Fiktion.« von alten Straßenzügen mit kleinteiliger sehen heute, dass das Miteinander dort SPIEGEL: Sie wehren sich vor allem gegen Bebauung – und die ist von Bedeutung. noch besser funktioniert, als wir uns das die Uniformität vieler Wolkenkratzer und SPIEGEL: Warum? hätten vorstellen können. Es ist in Singa- anderer Großbauten? Scheeren: Wir übernehmen diese Idee pur üblich, dass Bewohner eines Komple- Scheeren: Auch. Aber wir sind nicht nur der Kleinteiligkeit und falten sie in die xes vieles in Eigeninitiative verwalten. Die darauf aus, anders zu sein oder anders aus- Höhe. Wir integrieren sogar, in der Verti- Bewohner unseres Ensembles gelten als zusehen, wir wollen ein anderes Lebens- kalen, zwölf Pocket Parks. So nennt man besonders aktiv. Wir haben viele Räume gefühl ermöglichen. Ich baue für das Emp- die kleinen Grünflächen, die typisch sind und Plätze für den Austausch ermöglicht, finden der Menschen. Ich selbst hatte für die Gegend. Lebens- und Freiräume. und nun ist da wirklich immer etwas los. schon als Kind das Gefühl, dass Räume Manche Grünbereiche in den Türmen Diese Leute können Kontakt haben, sie etwas mit einem machen. Architektur ist werden wohl öffentlich sein, andere der können sich ebenso zurückziehen, das mehr als gebaute Materie, sie hat so viel Gemeinschaft der Bewohner vorbehalten gehört zur Freiheit dazu. mit unserem Leben zu tun. bleiben. SPIEGEL: Zur Freiheit gehört ebenso die SPIEGEL: Aber reicht das alles wirklich, SPIEGEL: Sie wollen mit Ihren Hochhäu- Freifläche, der unbebaute Raum zum um auch innerhalb eines Gebäudes ein sern ein angenehmes urbanes Lebens- Durchatmen, für den weiten Blick. Im echtes Miteinander zu ermöglichen, sozu- gefühl erzeugen – und das vor allem für Zuge der Verdichtung in vielen Städten sagen ein WG-Gefühl im großen Maßstab? Besserverdienende? fällt dieser Raum weg. Jede Baulücke wird

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Zeitalter erlaubt vielen von uns, überall zu arbeiten. Auch dort, wo wir wohnen. SPIEGEL: In Frankfurt bauen Sie einen 93 Meter hohen Büroturm des Architekten Albert Speer junior zum Wohnturm um. Scheeren: Mit einem bestehenden Gebäu- de zu arbeiten ist für uns neu. Wichtig ist: Wir arbeiten wirklich damit. Wir kleben nicht einfach außen ein neues Fassaden- material dran, sondern haben das Gebäu- de entkernt und neu strukturiert. Der Turm stammt aus den Siebzigerjahren, den Stil bezeichnet man heute als Bruta- lismus. Eigentlich war es ein sehr schweres und verschlossenes Gebäude. Doch dieses Haus weist etwas sehr Interessantes auf: Es hat vier Megastützen an den Ecken und einen Gebäudekern, und sonst nichts. Ich habe dadurch enorme Freiheiten, kann Pa-

BURO-OS noramafenster einplanen, die ich in einem Entwurf eines umgebauten Büroturms in Frankfurt: »Blicke zelebrieren« normalen neuen Gebäude aus statischen Gründen, aus Kostengründen gar nicht erst in Erwägung ziehen könnte. Wir wer- geschlossen. Wie viel Platz innerhalb und Scheeren: Mit Sicherheit. Und es wird den die Blicke da regelrecht zelebrieren. außerhalb seiner Wohnung, seines Hauses eine Generation kommen, die sich von SPIEGEL: Die Welt ist vollgestellt mit Hoch- braucht der Mensch? dem alten Wohntrauma überhaupt nicht häusern, die als veraltet gelten und manch- Scheeren: Die vertikalen Gebäude brin- mehr abschrecken lässt. Vielleicht wird es mal sogar gefährlich marode sind. Wie gen doch sogar mehr Platz für den Einzel- sogar einmal die große Sehnsucht darstel- gehen wir mit ihnen um, wenn die Städte nen, auch mehr Platz für Grünanlagen. Im len, in einem Wohnkomplex und damit in lebenswerter werden sollen? Interlace in Singapur haben wir, ausge- einer Gemeinschaft zu leben. Wenn es Scheeren: Wir müssen uns ihnen mit Mut hend von der Grundstücksgröße, 112 Pro- denn eine gute Anlage ist. widmen, außerdem mit einer positiven zent Grünfläche eingefügt. SPIEGEL: Wann ist sie gut? Einstellung. Manchmal haben diese Ge- SPIEGEL: In Deutschland, aber nicht nur Scheeren: Wenn sie nicht mehr den Kli- bäude Qualitäten, die so erst einmal nicht dort, genießen Wohnhochhäuser keinen schees entspricht, sondern den Bedürfnis- sichtbar sind, die sich heute auch kaum guten Ruf. Die entsprechenden Anlagen sen. Ein Klischee lautet, Orte zum Arbei- jemand leisten würde, wenn er neu baut. aus der Nachkriegszeit sind heute eher ten und Orte zum Wohnen dürfen sich So ist es eben auch in Frankfurt. Ich glaube, Wohngettos, soziale Brennpunkte. sozusagen nicht in die Quere kommen, es ist immer sehr viel mehr möglich, als Scheeren: Die sozialen Ideale der Moder- müssten voneinander getrennt sein. Zur- man zuerst denkt. ne wurden früh geopfert, und es ging plötz- zeit entwickeln wir in Südchina einen SPIEGEL: In London ist 2017 ein Wohn- lich genau um das, was wir heute hinter Komplex, in dem eine Forschungseinrich- turm ausgebrannt, eingeweiht 1974, sa- uns lassen wollen: Bauten, in denen viele tung und Büros untergebracht sein wer- niert vor wenigen Jahren. Diese Sanierung Menschen bloß übereinandergestapelt wer- den, zu dem aber auch Wohnungen ge - hatte das Gebäude zu einer Gefahr werden den, so effektiv und günstig wie möglich. hören, die kurz-, mittel- und langfristig lassen, so waren an der Fassade die fal- Es fehlte lange das Verständnis für Raum gemietet werden können. Wir haben schen Materialien verbaut worden. und auch das Verständnis für die Bedürf- Wohnraum für ältere Leute vorgesehen Scheeren: Die Sanierung, die so katastro- nisse der Menschen. Stattdessen wurden ebenso wie für Familien mit Kindern. Wir phale Folgen hatte, war als reine Kosmetik solche Gebäude eher zum Ausdruck einer halten auch die Vorstellung für überholt, gedacht. Keiner hatte das Große und Gan- Klassengesellschaft, eines Milieudenkens. Menschen müssten ihr gesamtes Erwach- ze im Auge, keiner hat offenbar eine kriti- So ist das in Europa. In Asien dagegen wird senenleben zwischen denselben vier Wän- sche Untersuchung des Bestands und der das Wohnen in Hochhäusern dagegen nicht den oder auf derselben Quadratmeter- Maßnahmen zur Voraussetzung gemacht. pauschal mit Upperclass oder Lowerclass fläche verbringen. Das darf nicht sein. Aber eines würde ich gleichgesetzt. Dort ist es normal, so zu le- SPIEGEL: In Deutschland sind reine Wohn- auch zu Bedenken geben. ben. Und wir finden, dass es toll sein kann. viertel üblich, die Distanz von Wohn- und SPIEGEL: Was? SPIEGEL: Wohnhochhäuser wären auch in Arbeitsstätte gilt als Selbstverständlichkeit. Deutschland ein Mittel gegen das Ausfran- Warum sollte es anders besser sein? sen der Metropolen und die Zersiedelung Scheeren: Bei mir selbst sind Arbeit und der Landschaft. Sollte dieses Land also Leben eins geworden, ich sehe Arbeit eines der vielen Wohntürme werden? nicht als etwas, von dem ich mich befreien Scheeren: Das muss es ja nicht. Nur ist muss. Das wäre ja auch schade, denn wir auch diese Polemik gegen Wohnhochhäu- verbringen die meiste Zeit doch damit zu ser überflüssig. Ich kann der Verdichtung arbeiten. Das ist meine Perspektive, und viel Gutes abgewinnen, für mich ist eine die bringt mich dazu, auch die räumliche Stadt ein Versprechen, vielleicht sogar ein Polarität von Arbeiten und Wohnen auf - Abenteuer. Wie gesagt, das heißt nicht, heben zu wollen. Und im Grunde passiert dass jeder im Hochhaus wohnen sollte. das auch ohne die Architektur, das digitale MAI / DER SPIEGEL MARTIN SPIEGEL: Brauchen wir dennoch mehr Scheeren beim SPIEGEL-Gespräch* davon? * Mit der Redakteurin Ulrike Knöfel in Berlin. »Architekten sollten Optimisten sein«

126 Scheeren: Natürlich gibt es auf der Welt viele Gebäude, die noch nicht so alt sind, dass wir sie schon wieder für toll halten. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Aber auch in ihnen kommt die Geschichte nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller der Städte zum Ausdruck, auch sie können unverzichtbar sein, weil sie eine Stadt, ein Belletristik Sachbuch Viertel prägen und so Teil einer städtischen Identität sind. 1 (–) Rita Falk 1 (–) Kollegah SPIEGEL: Vor bald hundert Jahren wurde Eberhofer, Zefix! dtv; 8 Euro Das ist Alpha! Riva; 22 Euro das Bauhaus eröffnet, spätestens seitdem gehört es zum Berufsverständnis der Ar- 2 (2) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, 2 (1) Thilo Sarrazin Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro chitekten, Utopien zu entwickeln, Visio- der zurückkam, um die Welt zu retten C. Bertelsmann; 20 Euro nen zu haben. Sehen Sie sich auch so, als 3 (11) Eckart von Hirschhausen/Tobias Esch Visionär? 3 (1) Juli Zeh Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro Scheeren: Mir reicht es, wenn Architek- Neujahr Luchterhand; 20 Euro ten Optimisten sind und durchaus daran 4 (5) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für 4 Carmen Korn das 21. Jahrhundert C.H. Beck; 24,95 Euro glauben, etwas an einem Istzustand zu (–) Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro verbessern. Gingen sie mit Zynismus an 5 (2) Dirk Müller die Arbeit heran, wäre das fatal. Es ist 5 (4) Maxim Leo/Jochen Gutsch Machtbeben Heyne; 22 Euro auch wichtig, wenn einige Architekten Es ist nur eine Phase, Hase 6 (3) Bas Kast Der Ernährungskompass große Ideen entwickeln, aber mir ist es Ullstein; 12 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro noch wichtiger, Ideen zu haben, die man 6 (3) Robert Seethaler 7 (–) Harald Lesch/Klaus Kamphausen umsetzen kann. Die Umsetzung ist – wie Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro auf fast jedem Feld – stets viel komplizier- Wenn nicht jetzt, wann dann? ter als die Idee. 7 (7) Frank Schätzing Penguin; 29 Euro SPIEGEL: Die Tyrannei des Schmetterlings Viele Ihrer Bauten sind entstan- 8 (7) Bob Woodward den in einem politisch heiklen Umfeld, in Kiepenheuer&Witsch; 26 Euro Fear China, in Singapur. Das sind autoritäre 8 (–) Jussi Adler-Olsen Simon&Schuster Staaten. Miese kleine Morde dtv; 10 Euro Scheeren: Und es wurde immer wieder 9 Isabel Allende Ein unvergänglicher In den USA verkaufte der Eindruck erweckt, als könnte man (8) sich dieses Buch gewisse Projekte nur dort realisieren, sie Sommer Suhrkamp; 24 Euro 750000-mal am ersten wären woanders nicht machbar. So als Verkaufstag: Der 10 (5) Timur Vermes Die Hungrigen King der Enthüller knöpft müsste man sich in Asien an keine Vor- und die Satten Eichborn; 22 Euro sich Trump vor schriften halten. Jetzt bauen wir aber auch in Kanada, Deutschland, in anderen west- 11 (6) Stephen King 9 (8) Christopher Schacht lichen Demokratien. Wir haben bewiesen, Der Outsider Heyne; 26 Euro Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro dass unsere Gebäude für die Menschen, 12 (11) Mariana Leky Was man von hier 10 (6) Peter Hahne die darin wohnen, die sie nutzen, eine Be- aus sehen kann DuMont; 20 Euro Schluss mit euren ewigen reicherung sind. Und das ist offenbar eine Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro Qualität, die nun auch woanders nachge- 13 (10) Nicholas Sparks Wo wir uns finden Heyne; 20 Euro fragt wird. 11 (9) Richard David Precht SPIEGEL: Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro Ist Deutschland ein schwieriger 14 (9) Jo Nesbø Markt? Macbeth Penguin; 24 Euro 12 (4) Dietrich Grönemeyer Scheeren: Gibt es einen einfachen? Be- Weltmedizin S. Fischer; 20 Euro stimmte Dinge müssen sich hier noch 15 (–) Wolf Haas entwickeln, dazu gehört eben das Über- Junger Mann Hoffmann und Campe; 22 Euro 13 (18) Margot Käßmann Schöne Aussichten auf die besten Jahre bene; 18,99 Euro winden des Traumas Wohnhochhaus. Ein 16 (12) Benedict Wells Die Wahrheit über echter Diskurs über Architektur wäre gut, das Lügen 14 (–) Wolfgang Engler/Jana Hensel eine Öffnung des Denkens. Diogenes; 22 Euro Wer wir sind Aufbau; 20 Euro SPIEGEL: Um auf den Anfang unseres Ge- sprächs zurückzukommen. Sie reisen viel, 15 (17) Peter Wohlleben Das geheime Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro aber wenn Sie doch wohnen – wo tun Sie Ein Erzählungsband, der sich allein schon das dann? In einem Hochhaus? Im Zen- wegen eines einzigen der 16 (20) Ahmad Mansour trum einer Stadt? In welcher eigentlich? gesammelten Texte Klartext zur Integration S.Fischer; 20 Euro Sie haben Niederlassungen in Peking, lohnt: »Die Muse«, leicht, traurig, wunderbar 17 (14) Dalai Lama/Sofia Stril-Rever Hongkong, Bangkok, Berlin, Sie haben Der neue Appell des Dalai Lama Projekte in Asien, Europa, Nordamerika. 17 (–) Karen Duve Fräulein Nettes an die Welt benevento; 7 Euro Scheeren: Ich wohne, wie gesagt, zum Teil kurzer Sommer Galiani; 25 Euro eben auch gar nicht. Alles ist dadurch mög- 18 (12) Alexander von Schönburg Die Kunst lich, Kurzzeit-Apartments, Hotels. 18 (14) Lukas Rietzschel Mit der Faust in die des lässigen Anstands Piper; 20 Euro SPIEGEL: Aber Sie haben noch irgendwo Welt schlagen Ullstein; 20 Euro 19 Franziska Schreiber eine feste Adresse? (13) 19 (13) Wladimir Kaminer Inside AfD Europa; 18 Euro Scheeren: Nur auf dem Papier. Die Kreuzfahrer Wunderraum; 20 Euro SPIEGEL: Herr Scheeren, wir danken Ih- 20 (16) Frank Thelen nen für dieses Gespräch. 20 (–) Annette Hess Startup-DNA. Die Autobiografie Deutsches Haus Ullstein; 20 Euro Murmann; 22 Euro

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nirgends, gleichzeitig allwissend und ah- nungslos. Das sei ja das Tolle beim Schrei- Es ist was passiert ben, sagt Haas, »dass man aus Problemen heraus etwas macht, das dann einen Effekt hat – und nicht, weil man einen Effekt Autoren Wolf Haas, bekannt geworden mit Krimis über den haben will«. österreichischen Privatdetektiv Brenner, hat eine Beim Schreiben der Brenner-Romane Geschichte über das Erwachsenwerden geschrieben: »Junger Mann«. lässt sich Haas von der eigens erdachten Sprache des Erzählers treiben, so wie diese später den Leser treiben wird. Auch bei er junge Mann ist verliebt. Er muss 2014 mit »Brennerova« seinen achten der Arbeit an Büchern, die nicht von Bren- jetzt abnehmen, weil: Dann liebt Brenner-Krimi vorgelegt, einen weiteren ner handeln, hat der studierte Linguist D ihn ganz bestimmt auch diese Frau. Fall aus der geradlinig erfolglosen Karriere stets eine ziemlich irrwitzige Form ge- So einfach ist das, muss funktionieren, ob- des Ex-Polizisten Simon Brenner, einer funden, die er dann mit gelösten Erzähl- wohl sie ja eigentlich die Frau vom Tscho höchst liebenswerten verkrachten Exis- problemen befüllen konnte. »Das Wetter ist, und der Tscho schon seit frühester Ju- tenz. Mit den Brenner-Geschichten ist vor 15 Jahren« (2006) ist als Interview gend dem jungen Mann in allem voraus Haas bekannt geworden, vier sind bisher aufgeschrieben, das eine fiktive Journa- war: Cooler war er immer, größer, stärker, verfilmt, immer mit dem österreichischen listin mit dem fiktiven Autor Wolf Haas älter sowieso, einschüchternd, schon als Kabarettisten und Schauspieler Josef Ha- über dessen fiktiven Roman führt. In der Bub ein ganzer Kerl, während der junge der, der den Brenner so überzeugend ver- »Verteidigung der Missionarsstellung« Mann, obschon übergewichtig, immer eine körpert, dass Haas, hat er einmal erzählt, (2012) streut Haas typografische Experi- halbe Portion war in den Augen vom mittlerweile schon selbst an Hader denken mente ein und bedient sich einer hochkom- Tscho – und in den eigenen Augen auch. müsse, wenn er den Brenner schreibe. plexen, mehrfach verschachtelten Erzähl- Darum radelt der junge Mann jetzt wie Das Erfolgsgeheimnis der Brenner-Kri- struktur. Mit Verve hat er immer wieder blöde durch sein Heimatdorf in den öster- mis ist aber nicht der Brenner, es ist viel- versucht, die Romanform aufzumischen. reichischen Alpen, immer wieder dieselbe mehr der Erzähler, ein allwissendes, dabei Schon aus purer Notwendigkeit: um sich Strecke, und dann platzt ihm der Reifen, aber höchst unzuverlässiges Plappermaul, abzulenken von der Sinnlosigkeit seines ausgerechnet vor dem Haus, wo der Tscho das den Leser von Beginn an mit seinem Unterfangens. mit seiner Elsa wohnt, reiner Zufall, und Tratsch und seiner eigentümlichen, ver- »Ich baue mir immer eine große Hürde, der Tscho, der jetzt Fernfahrer ist, ist ge- knappten Umgangssprache hypnotisiert über die ich dann springen muss«, sagt rade mal wieder unterwegs für Wochen, und von Seite zu Seite durch das Buch Haas über seine Arbeit. »Irgendwann ent- reiner Zufall, aber hilft ja nichts, da muss jagt, bis es viel zu schnell schon wieder steht dann eine kindische Begeisterung der Fahrradschlauch eben geflickt werden vorbei ist. beim Schreiben, aber bis die da ist, brau- direkt vor dem Haus, in dem die Frau al- che ich immer wahnsinnig lange.« Oft sei lein ist, langwierige Sache, heiß ist es auch er in dieser Zeit geradezu angeödet von noch, und sie kommt tatsächlich heraus »Ich baue mir immer seinen vergeblichen Versuchen und auch und bietet ihm etwas zu trinken an. eine große Hürde, von der Anmaßung, überhaupt zu schrei- Selbstverständlich kein Zufall, man muss ben. Es kann Jahre dauern, bis sein Gefühl wahrscheinlich nur oft genug vorbeiradeln, über die ich dann für den Stoff endlich stimmt, bis Form und bis etwas passiert, und vielleicht ist ja doch springen muss.« Inhalt so zueinanderpassen, dass er weiß: eigentlich gar nichts am Reifen, vielleicht Diese Geschichte kann man nur auf genau wurde auch nachgeholfen, mag sein, aber diese Weise erzählen. das erfahren wir nicht, denn die Geschichte »Jetzt ist schon wieder was passiert«, Schon mehr als einmal hat er daran ge- erzählt der junge Mann, und es ist seine dieser Satz ist zum Markenzeichen des Er- dacht, die Schriftstellerei aufzugeben, und Geschichte, seine eigene Wahrheit, also die zählers geworden, und auch zum Marken- hat sich schon umgeschaut nach Weiterbil- ganze Wahrheit, die Wahrheit von einem, zeichen von Wolf Haas, der in einem frü- dungsangeboten, damit er etwas ganz an- der sich ewig wie 13 fühlen wird. heren Leben einmal Werbetexter gewesen deres im Leben machen kann – nur um »Für mich als Zivilperson ist das womög- ist. Da sitzt er zum Beispiel vor ein paar dann am nächsten Tag aufzuwachen mit lich schwierig, aber als Autor von Vorteil: Tagen in Wien draußen in einem Lokal, der Idee, nach der er so lange krampfhaft Ich habe mich eigentlich seit diesem Alter um etwas zu trinken, und an einem Ne- und vergebens gesucht hat. Sie kam immer nicht mehr viel weiterentwickelt«, sagt bentisch bricht eine Sonnenblume ab und dann, wenn er sie schon abgeschrieben Wolf Haas, 57 Jahre alt, an einem Sommer- fällt einer Dame auf den Kopf, und so- hatte, wenn es schon egal war, ob sie noch tag Ende August im Café am Neuen See in fort heißt es, denn man hat Haas gesehen kommt oder nicht. Berlin. Er ist in der Stadt, weil ein Freund und erkannt: »Jetzt ist schon wieder was Wolf Haas sagt, er müsse sich immer Geburtstag gefeiert hat am Vorabend und passiert.« wieder selbst überlisten: »Es geht ja weil er gern verreist, denn sonst würde er Aber das sei auch interessant, sagt Haas, nur darum, dass man sich kurz vor sich womöglich nur daheim in seiner Wiener dieser Satz sei ihm eigentlich nur einge - selbst so dumm stellt, dass man diese Sinn- Wohnung herumsitzen, und das berge die fallen, weil er ein Problem zu lösen gehabt losigkeit daran nicht mehr sieht und es Gefahr, sagt Haas, dass man wegschlafe, an- habe: Die Brenner-Geschichten spielen an einfach macht. Das eigentliche Schreiben statt zu schreiben, oder den Müll herunter- unterschiedlichen Orten, aber der Erzäh- dauert ja sowieso nur eine lächerlich bringe, und dann rufe schon wieder jemand ler gibt sich stets außerordentlich ortskun- kurze Zeit.« Dann kann es auch sehr an, es seien einfach zu viele Ablenkungen. dig, tut so, als wäre er alteingesessen, einer schnell gehen. »Junger Mann« erscheint nach einer von dort, doch das kann ja gar nicht sein, Einmal, als er noch unerfahren genug vierjährigen Pause*. Zuletzt hatte Haas dass der überall daheim ist, dachte sich war, mit dem Verlag einen festen Abgabe- Haas, und so ist er auf die Idee gekommen, termin zu vereinbaren, war er nach Japan * Wolf Haas: »Junger Mann«. Hoffmann und Campe; diesen irrlichternden Geist zu erfinden, eingeladen, um dort zu lesen. Dummer- 240 Seiten; 22 Euro. der dann eben überall zu Hause ist und weise kollidierte die Reise mit der Dead-

128 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 MICHAEL APPELT / DER SPIEGEL MICHAEL APPELT Schriftsteller Haas in Wien: Einfach zu viele Ablenkungen

line, das Manuskript war noch nicht fertig, selbe Schule wie Haas besucht, sie arbeitet kindischer Freude und in Lkw-Geschwin- aber verpassen wollte er Japan auf keinen in den Sommerferien in einer Tankstelle, digkeit. Fall. Also hackte Wolf Haas auf dem Flug wie Haas es getan hat, sie kämpft gegen Es passiert dann doch gar nicht so viel, Seite um Seite in seinen Computer, bis die das eigene Übergewicht und die Unsicher- und gleichzeitig passiert alles, aber das Flugbegleiterin nach vielen Stunden be- heit des Erwachsenwerdens, für die erste kann man hier nicht aufschreiben, denn sorgt nachfragte, ob er nicht auch einmal Liebe und den richtigen Platz in der Welt. diese Geschichte kann man nur genau so schlafen wolle wie alle anderen Passagiere. »Dass man sich in diese interessante, bei erzählen, wie Wolf Haas es tut. »Junger Er schrieb weiter. den meisten Menschen wohlverdrängte Mann« ist, das muss hier reichen, ein sehr Die Herausforderung, die sich Haas Pubertätszeit begibt, das verlangt schon schönes, versöhnliches Buch, voll mit die- in »Junger Mann« gestellt hat, unter - eine gewisse psychische Stabilität«, sagt sen Wolf-Haas-Sätzen, die in ihrer Wahr- scheidet sich von den Hürden seiner Haas. »Ich ertrage die Peinlichkeit daran heit und Klarheit so hell leuchten, dass vorherigen Bücher grundlegend. Da gibt gerade noch.« man gar keine Leselampe braucht, wenn es kein bahnbrechendes Konzept, keine Die Figur, sagt Haas, sei sehr nahe an man es in der Nacht sowieso nicht weg - ungewöhnliche Struktur, keinen irrlich- dem jungen Mann, der er selbst gewesen legen kann. Bis es viel zu schnell schon ternden Erzähler. Die Herausforderung sei. Und doch ist es eine erfundene Ge- wieder vorbei ist. war, bewusst auf all das zu verzichten: schichte, die Haas selbst einige Über- Eines muss man Haas aber doch noch »Diesmal wollte ich ein gelassenes Buch raschungen bereitet hat. Geplant war fragen, wenn man ihm schon mal gegen- schreiben, das nicht so spektakulär sein eigentlich zunächst nur diese erste Ver- übersitzt, für alle, die darauf warten: Wird muss.« Er wollte ohne die Hindernisse liebtheit und dass Tscho, der Fernfahrer, es danach, wo er doch jetzt erwachsen ist, auskommen, die er sich für die anderen irgendwann doch wieder heimkehrt. Aber einen weiteren Brenner-Krimi geben? Man Bücher aufgebaut hatte und die ja was passiert, nachdem der junge Mann würde ja schon gern wissen, wie es mit dem gleichzeitig Gerüste waren, an denen er überraschend und nur halb willentlich den weitergeht. Wird er noch einen schreiben? sich entlanghangeln konnte. Mit der Ar- Tscho auf seiner nächsten Fahrt begleiten Geplant sei keiner, antwortet Haas, aber beit an »Junger Mann« sei er in gewisser soll, das wusste Haas vorher auch nicht. ausgeschlossen sei es auch nicht. Weise als Schriftsteller erwachsen ge- Will der Tscho den jungen Nebenbuhler »Soll ich noch einen schreiben?«, fragt worden. womöglich umbringen? Als dann eine er. Um das zu erreichen, hat sich Wolf Haas Pistole ins Spiel kommt, weiß Haas beim Sagen wir mal so: Man möge Wolf Haas in seine eigene Kindheit und Jugend Schreiben erst einmal genauso wenig wie eine Deadline geben und ihn sodann in versetzt. »Junger Mann« ist in großen der junge Mann, auf wen geschossen wer- ein Flugzeug nach Japan setzen. Teilen autobiografisch, die Hauptfigur den soll. Wolf Haas erzählt, er sei dann Stefan Kuzmany stammt aus demselben Alpendorf, hat die- einfach mitgefahren in seinem Roman, mit

129 Im Zusammenhang wird alles klarer.

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Ruhm für sie einsetzt und dann die eigene Karriere ruiniert. Mit ihrem Triumph kommt er nicht klar. 1937 spielten Janet Musik für die Augen Gaynor und Fredric March das Katastrophenpaar; 1954 Judy Garland und James Mason, 1976 Barbra Streisand und Kris Filmkritik »A Star Is Born« zeigt Kristofferson. Die Lovestory zwischen Letzteren habe sie »nicht eine Sekunde lang überzeugend« gefunden, schrieb die Lady Gaga und Bradley Cooper als Liebende – große US-Filmkritikerin Pauline Kael. Ein Publikumshit wurde und Konkurrenten im Showgeschäft. der Film trotzdem, einen Oscar für Streisands zentralen Song gab es obendrauf. Kinostart: 4. Oktober Auch von Lady Gagas und Bradley Coopers Film heißt es nun, dass er und Songs wie das Duett »Music To My Eyes« ady Gaga hat eine der merkwürdigsten Popkarrieren bei den Oscars groß herauskommen würden, allerdings ist L des vergangenen Jahrzehnts. Sie kam aus dem schein- das fünf Monate vor der Preisverleihung in Los Angeles schie- baren Nichts, wurde über Nacht zu einem der größten re Spekulation. Schon jetzt dagegen lässt sich sagen: Als Stars des Planeten, verkaufte über hundert Millionen Ton- Liebespaar in »A Star Is Born« sind Lady Gaga und Cooper träger und wurde gerade von intellektuellen Kritikern hym- jederzeit überzeugend und ziemlich umwerfend. Die körper- nisch angebetet, um dann – ja was eigentlich? – wegzusinken liche Intensität, mit der Ally und Maine aufeinanderprallen, in den Halbschatten vergangener Prominenz. ist spektakulär. Umstandslos setzt der Film gar nicht erst auf Dass die ehemals schrillste Person des Planeten nun in ein Spiel aus Anziehung und Abstoßung, sondern beschwört ihrer ersten Kinohauptrolle das kumpelig-unscheinbare Mäd- praktisch von der ersten Begegnung an die melodramatische chen von nebenan spielt, hat da seinen ganz eigenen Charme. Gewissheit, dass sich hier zwei Verlorene gefunden haben, Wurde doch der Popdiva Gaga oft genug beschieden, sie ver- die keinen Zweifel kennen. füge über viel Oberflächenzauber und wenig musikalische Zum Reiz des Films gehört es, dass sich die idealtypische Originalität. Nun verkörpert sie also ein begnadet kreatives Story von Aufstieg und Fall im Showgeschäft immer wieder Aschenputtel. Aus diesem Gegensatz entstehen der Witz und auf Lady Gagas Karriere münzen lässt – und auf den Wandel der Charme von »A Star Is Born«. der Musikwelt. Der Unterschied zwischen dem Rockdino- Zu Beginn des Films präsentiert sich die Frau, die einstmals saurier Maine im Film und der modernen Popkünstlerin Lady zu den MTV Video Music Awards im spektakulären Kleid Gaga besteht etwa darin, dass der fiktive Altstar unfähig ist, aus rohem Rindfleisch erschien, mit sympathischem Schlurfgang und schiefem Lächeln in der Rolle einer Allerweltsfrau namens Ally. Sie sitzt mitten in der Nacht auf einem regennassen Parkplatz he- rum und schildert ihr Los: »Fast alle sagen mir, dass ihnen gefällt, wie ich singe, aber nicht, wie ich aussehe.« Das spiegelt die Vor - behalte, die Lady Gaga zum Start ihrer Karriere zu hören bekam. Für den männlichen Helden des Films kann es nur eine Antwort darauf geben: »Ich finde dich wunder- schön.«

»A Star Is Born« ist ein Rock- BROS. WARNER musikdrama. Der Countryrocker Darsteller Cooper, Lady Gaga: Spektakulärer Zusammenprall zweier Verlorener Jackson Maine (Bradley Cooper) ist bereits ordentlich betrunken, als er nach einem Konzertauftritt vor großem Publikum auf der über Traurigkeit und physischen Schmerz zu sprechen, wäh- Suche nach mehr Alkohol in eine Drag-Bar stolpert. Dort rend die reale Entertainerin ihren seelischen wie körperlichen tritt die in ihrem Working-Class-Alltag eingesperrte, aber Verschleiß stets als öffentliches Thema begriff. hochbegabte Ally als Sängerin auf. Sie wird angehimmelt Tatsächlich ist Lady Gaga Ehrfurcht gebietend großartig von einer Freundesschar aus lustig diversen Frauen und Män- in »A Star Is Born« – und daraus, dass Bradley Cooper das nern, sie singt im roten Schummerlicht »La vie en rose«, ihre offenbar erkannt hat, entsteht die einzige Schwäche dieses Stimme ist eine Sensation. Maine ist hingerissen. Also zollt Films. Als hätte ihn die Angst gepackt vor der Strahlkraft sei- er Ally professionellen Respekt und verliebt sich in sie, in ner Heldin, donnert der Regisseur Cooper den Schauspieler dieser Reihenfolge. Maine macht Ally zu seinem Projekt und Cooper auf schwer begreifliche Weise in den Vordergrund. holt sie auf die große Bühne – als könnte er sich so selbst Vom Kampf der Sängerin Ally gegen die Zerstörungswut retten vor dem Suff, dem Alter und dem Überdruss des eines Suchtkranken, gegen den Neid und das Selbstmitleid Publikums. ihres Partners, zeigt er viel zu wenig. Vom Leiden des Musi- Der Schauspieler Bradley Cooper, bekannt durch Filme wie kers Maine, seiner Selbstentblößung und seinem Selbsthass »Hangover« und »American Sniper«, ist 43 Jahre alt und hat viel zu viel. Nicht die für ihre Ideen alle Barrikaden stürmen- nun in »A Star Is Born« zum ersten Mal Regie geführt. Der de Künstlerfrau steht im Zentrum von »A Star Is Born«, son- Titel und der Stoff sind Hollywoodgeschichte. Es gibt »A Star dern der sich selbst erniedrigende und beschmutzende, an Is Born«-Filme aus den Jahren 1937, 1954 und 1976. Alle er- seiner Genialität verzweifelnde Künstlerkerl. Gefühlskino zählen sie die Story vom Aufstieg einer Frau aus dem Nichts muss schamlos sein. Der Regisseur dieses Films treibt es damit ins Rampenlicht und vom Abstieg des Mannes, der erst seinen eine Spur zu weit. Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 131 Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail [email protected] www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966 Mail: [email protected] Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir Impressum DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke, MADRID Apartado Postal Número 100 64, auch gern per Mail entgegen: [email protected] Bettina Stiebel. Redaktion: Antonia Bauer, 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 HERAUSGEBER Rudolf Augstein Claudia Beckschebe, Patrick Blume, (1923–2002) Alexandra Schulz, Marco Wedig MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Hinweise für Informanten CHEF VOM DIENST Anke Jensen, Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und CHEFREDAKTEUR Thomas Schäfer Tel. +7 495 22849-61, Fax 22849-62 Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen Klaus Brinkbäumer (V.i.S.d.P.) 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Redaktion Politik und Wirtschaft: wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus Produktion: Petra Thormann, Reinhard PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können. Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, Der dazugehörende Fingerprint lautet: Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Fax 65325453 Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC Christoph Schult, Anne Seith, Gerald Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg, RIO DE JANEIRO Traufetter. 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Loebel, Leon Lothschütz, Sebastian Raulf, Fax 3473194 Autoren, Reporter: Hauke Goos, Armin Florian Rauschenberger, Barbara Rödiger Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche Mahler, Michaela Schießl TITELBILD Leitung: Katja Kollmann, DOKUMENTATION Leitung: Dr. Hauke Blindenstudienanstalt e.V. Telefon: 06421 606265 AUSLAND Leitung: Britta Sandberg, Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett, Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu Iris Kuhlmann Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr. Susmita Telefon: 069 9551240 von Rohr (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg, Katrin Kuntz, Jan Puhl, Raniah Salloum, REDAKTIONSVERTRETUNGEN Abonnementspreise Samiha Shafy, Helene Zuber. 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Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Bangalore – 560 038 Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Windmann, Christoph Winterbach BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 72 INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch - 02138 Cambridge, Massachusetts, vom 1. Januar 2018 mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Tel. +1 857 9197115 Mediaunterlagen und Tarife: Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ BRÜSSEL Peter Müller, www.spiegel.media Name, Vorname des neuen Abonnenten spiegel.de). Dokumentation: Nicola Naber, rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, Koordination SPIEGEL ONLINE: Jörg Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436 Verantwortlich für Vertrieb: Christoph Hauschild Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Roman ISTANBUL Maximilian Popp, Lehberger Straße, Hausnummer oder Postfach Tel. +90 5413971567 Verantwortlich für Herstellung: SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne KAPSTADT Bartholomäus Grill, Silke Kassuba Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr (stellv.). P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Redaktion: Markus Deggerich, Uwe Tel. +27 21 4261191 PLZ, Ort Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Druck: Dr. Johannes Saltzwedel, Sandra Schulz. KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Stark Druck, Autorin: Marianne Wellershoff 01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Pforzheim LONDON Jörg Schindler, Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht) KOORDINATION MEINUNG Markus 26 Hanbury Street, London E1 6QR, Feldenkirchen, Christiane Hoffmann Tel. +44 203 4180610, VERLAGSLEITUNG Jesper Doub Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher Fax +44 207 0929055 GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass AGB, Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter www.spiegel.de/agb

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132 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel Marceline frischen. Ein Mitarbeiter Nachrufe Loridan-Ivens, 90 passte nicht auf: 26 Bienen- Das Mädchen überlebte schwärme entfleuchten in Auschwitz, Bergen-Belsen, die Freiheit. Die Afrika- Theresienstadt, und als nisierte Biene breitete sich Marceline Rozenberg 1945 aus – und war schnell nach Hause kam, dachte berüchtigt als »Killerbiene«: sie, es wäre besser, ihr Vater Die aggressiven Insekten stünde an ihrer Stelle. Er griffen Pferde und Hunde war in Auschwitz ermordet an, und auch die Imker, die worden. Die Französin hei- die Bienen wegen ihrer ratete zweimal, wurde hohen Produktivität schätz- Schau spielerin, Dokumen- ten, lebten gefährlicher. Die tarfilmerin und Autorin. Zahl der Bienentoten stieg »Und du bist nicht zurückge- in Brasilien von jährlich kommen« heißt ihr Buch 25 auf knapp 200, denn Kil- von 2015, in dem sie sich in lerbienen greifen meist im Briefform an den geliebten Schwarm an und verfolgen Vater wendet. Loridan- ihre Opfer hartnäckig. Ivens erzählt darin, wie Auf Konferenzen, erinnerte Josef Mengele sie als Teen- sich Kerr, »zeigten die Ehe- ager untersuchte, wie sie frauen der Imker mit dem

THE KURTZ/JOINER ARCHIVE THE KURTZ/JOINER Gräber im KZ schaufelte, Finger auf mich und sagten wie sie »erfriert von innen ihren Kindern, das ist Gary Kurtz, 78 her, um nicht zu sterben«. der böse Mann, der die Kil- Wenn es stimmt, dass Geschichte von Siegern geschrieben lerbienen gezüchtet hat«. wird, dann gehört der Hollywoodproduzent Gary Kurtz zu Warwick Estevam Kerr den Verlierern. Sein Name ist fast vergessen, obwohl es starb am 15. September in auch sein Verdienst war, dass 1977 ein Science-Fiction-Film São Paulo. JKO namens »Star Wars« zu einem der größten Erfolge der Kinogeschichte wurde. Ein »furchtbares Geschwafel« sei Tran Dai Quang, 61 das Drehbuch von »Star Wars«-Erfinder George Lucas Seine Aufgabe war es, bei gewesen, erzählte Kurtz später, bis er zwei neue Co-Autoren Staatsempfängen Hände anheuerte, die Humor und Leichtigkeit ins Skript brachten. zu schütteln und freundlich Weil Lucas im Umgang mit Schauspielern fremdelte – seine zu lächeln. Als ehemaliger Regieanweisungen beschränkten sich auf Kommandos Polizeigeneral war Quang

wie »noch mal, aber schneller« –, übernahm Kurtz bei eini- / LAIF SORIANO / LE FIGARO SEBASTIEN innerhalb der Kommunisti- gen Szenen auch selbst die Regie. »Star Wars« machte schen Partei aber als Hard - den Produzenten reich, rund 25 Millionen Dollar soll er Aber auch das mangelnde liner bekannt. Bevor er vor allein in den ersten zwei Jahren nach dem Kinostart Mitgefühl nach der Heim- gut zwei Jahren zum Präsi- verdient haben. Doch als bei den Dreharbeiten zur »Star kehr seitens ihrer Mutter, denten gewählt wurde, leite- Wars«-Fortsetzung »Das Imperium schlägt zurück« (1980), die Selbstmorde zweier te er das Sicherheitsministe- die Lucas weitgehend aus eigener Tasche finanzierte, Geschwister, das Schweigen rium, stand der Polizei vor die Kosten explodierten, verkrachten sich die beiden. Beim über die Schuld und den und verantwortete das Aus- dritten Film »Die Rückkehr der Jedi-Ritter« war Kurtz kaum verhohlenen Antise- spähen von Zivilisten. Et- nicht mehr dabei: Ihn habe gestört, dass Lucas sich mehr mitismus in Frankreich the- liche politische Dissidenten für die Vermarktung des »Star Wars«-Spielzeugs interes- matisierte sie. Trotz al lem, wanderten unter Quang ins siert habe als für den Film selbst. Das Handwerk hatte so schrieb sie, sei sie ein Gefängnis. Im Juni dieses Kurtz in den Sechzigerjahren bei Billigproduktionen wie fröhlicher Mensch. Marce - Jahres arbeitete er an einem »Queen of Blood« gelernt, zwei Western drehte er mit line Loridan-Ivens starb am Gesetzesentwurf mit, der einem gewissen Jack Nicholson, damals ein unbekannter 18. September in Paris. KS von Facebook forderte, als Nachwuchsschauspieler. 1966 musste Kurtz seine Karriere »wichtig« eingestufte Nutzer- in Hollywood unterbrechen, um als Soldat im Vietnam- Warwick Estevam Kerr, 96 daten auf lokalen Servern krieg zu dienen. »Ich habe nie eine Waffe getragen«, sagte Verdienste erwarb sich zu speichern – so hätte man er, stattdessen arbeitete er drei Jahre lang bei den Marines der studierte Agraringe- Kritiker noch leichter identi- als Kameramann für Dokumentationen. In den Achtzigern nieur durch seine Forschun- fizieren können. Als Mitglied verließ ihn nach der Trennung von George Lucas das gen zur Genetik von des 19-köpfigen Politbüros Glück: Zwei Flops und eine teure Scheidung später musste Bienen, bekannt wurde er machte Quang Vietnam, Kurtz 1986 Privatinsolvenz anmelden. In Interviews klagte durch eine folgenschwere trotz der guten Wirtschafts- er über die Kommerzialisierung der Branche. Lucas gilt Unachtsamkeit. Kerr brach- entwicklung, in den ver - heute als reichster Filmemacher der Galaxis, zurzeit lässt er te von einer Forschungsreise gangenen beiden Jahren zu in Los Angeles ein Museum für seine Kunstsammlung bauen. nach Afrika 170 Bienen- einem immer repressiveren Kurtz arbeitete zuletzt an einem Film über den Dramatiker königinnen in seine Heimat Staat. Tran Dai Quang, Christopher Marlowe – einen Mann, der immer im Schat- Brasilien mit. Die Tiere der an einer seltenen Virus - ten des berühmten Kollegen Shakespeare stand. Gary sollten den Genpool der hei- erkrankung litt, starb am Kurtz starb am 23. September in London an Krebs. MWO mischen Honigbienen auf - 21. September in Hanoi. KKU

DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 133 Personalien

Alle Jahre wieder G Nach einem Jahr Schweigen – und Tan- zen – erklärt die Primaballerina Laurretta Summerscales, 27, warum sie ihre prestige- trächtige Stelle am English National Ballet in London aufgegeben hat: Das Repertoire der renommierten Kompanie in London war ihr zu langweilig, sie hatte in den acht Jahren ihres Engagements offenbar zu wenig Abwechslung. Die findet die Britin in München an der Bayerischen Staatsoper reichlich: In den vergangenen zwölf Mona- ten musste Summerscales zehn verschiede- ne Ballette einstudieren, eine Herausforde- rung für die preisgekrönte Tänzerin, die sie genoss: »Ich bin eher der Typ, der angetrie- ben werden will«, sagte sie dem »Sunday Telegraph«. Das Wort »langweilig« kommt in Summerscales Erklärung nicht vor, sie sprach vom »sich wiederholenden Reper- toire«, »Der Nussknacker« beispielsweise, und dass sie »etwas leben« wolle. Ein Spre- cher des English National Ballet reagierte leicht verschnupft auf die Einlassungen der ehemaligen Mitarbeiterin: Die alljährliche Aufführung vom »Nussknacker« während der Feiertage im Dezember sei nicht nur eine schöne Tradition für Liebhaber des klassischen Balletts, sondern auch eine »wundervolle Einführung fürs junge Publi- kum«. »Der Nussknacker« wird übrigens auch in München dieses Jahr wieder auf die Bühne kommen; Summerscales komme dabei »sicherlich zum Einsatz«, heißt es, in KS welcher Rolle, sei noch nicht entschieden. PRESS PRESS / PICTURE / CAMERA NIGEL NORRINGTON

oder 62, da schwanken die ersten Roman »Ausweitung Weiter Weg Angaben, hat am vergange- der Kampfzone« geschrieben. G Ein bisschen sieht er so nen Wochenende in Paris In seinem letzten (»Unter- aus, als hätte ihn eine fremde Qianyum Lysis Li aus Shang- werfung«) wird im islamisch Macht in diesen grauen Frack hai geheiratet. Es ist seine regierten Frankreich die Viel- hineingesteckt, eine Melone dritte Ehe. Zuletzt sah der ehe eingeführt. Der schmäch- mit Federchen auf den Kopf Dichter auf Fotos so zerrupft tige Held François ist begeis- gestülpt und ihm dazu eine aus, dass mancher sicher war, tert. Drei herrliche Frauen, rosa Dame an die Seite er habe sich auf ein Leben versichert ihm der Präsident, gestellt, als Accessoire. allein eingerichtet. Houelle- seien für ihn vorgesehen. Immerhin darf er in der ande- becq ist in seinem dichte - Man glaubte als Leser, den ren Hand eine kleine Tüte rischen Werk einen weiten Dichter Houellebecq bei die- tragen. Vielleicht steckt ein romantischen Weg gegangen: ser Fantasie kichern zu hören. Buch darin. Man weiß ja nie, »Zwischenmenschliche Bezie- Zwei Frauen fehlen noch zum ob die Party langweilig wird. hungen werden zunehmend Glück. Dann lächelt der Bräu-

VIA TWITTER Michel Houellebecq, 60 unmöglich« hatte er in seinem tigam vielleicht sogar. VW

134 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Bis aufs Blut Autor Terry Southern in einem Büro, der Mann sei G Die amerikanische Journa- ein »absolut netter Typ« listin und Feministin Gloria gewesen. Plötzlich packte er Steinem, 84, wehrte sich als ihr Handgelenk und versuch- junge Frau mit Zähnen (und te, sie zu küssen. Sie biss Klauen) gegen einen sexuel- ihm in die Wange, er blutete. len Übergriff. Nach ihrem Immer wenn sie sich später #MeToo-Erlebnis befragt, trafen, zeigte Southern ihr erzählte sie der »New York eine kleine Narbe auf seiner Times« von einer Begeben- Wange, böse sei er ihr aber heit in den Sechzigerjahren, nicht gewesen. Gloria Stei- bevor sie als Frauenrecht - nem weiß, dass sie sich un- lerin berühmt wurde. Sie typisch verhalten hat: Sich wartete gemeinsam mit dem physisch zu wehren sei ein

Reflex, keine bewusste LANFRANCHI / LAIF NICOLO Entscheidung gewesen. Sie glaubt, Mädchen würden Der Augenzeuge eher dazu erzogen, ihre Instinkte zu unterdrücken. »Wir sind die Letzten« Steinem erfährt im Moment besondere Aufmerksamkeit: Zwei Filme über ihr Leben Nick Romaniuk, 33, koordiniert das Such- und Ret- werden gerade gedreht, ein tungsteam auf der »Aquarius«. Sie ist inzwischen als Theaterstück mit dem - einziges privates Schiff vor Libyen unterwegs, um selben Thema feiert schon Flüchtlingen in Seenot zu helfen. Nun will Panama ihr am 2. Oktober in New York die Flagge entziehen, was die Mission beenden würde. LAURA PANNACK / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS PRESS / PICTURE / CAMERA PANNACK LAURA Premiere. KS

G »Ich bin ein einfacher Mann. Seit ich 15 Jahre alt bin, fah- Herz und Milz ten Lippenberührung wid- re ich zur See. Wind und Wellen bestimmen meine Arbeit. met, unterscheidet diverse Mich öffentlich dazu äußern, was politisch um mich herum G Ja, sie haben es getan. Unterformen. Doch wie bei passiert, wollte ich deshalb nie. Auch wenn ich mittlerweile Pornografie hin, Tinder- Gesten üblich, wissen nur für eine Nichtregierungsorganisation arbeite: Politik hat auf Dating her: Der Kuss zwi- die Beteiligten genau, was dem Meer nichts verloren. schen Fußballbundestrainer sie bedeuten, und selbst die Seitdem die Behörden in Panama nun angekündigt haben, Jogi Löw, 58, und der Schau- können sich täuschen. Oder die ›Aquarius‹ aus ihrem Schiffsregister zu streichen, will spielerin Jeanette Hain, 49, überrascht sein von der ich nicht mehr schweigen. Bleibt Panama dabei, werden wir von dem es mindestens ein Wirkung, die sich einstellt unsere Flagge verlieren, sobald wir in den Hafen von Mar- Belegfoto gibt, erregt das zwischen Herz und Milz, seille einlaufen. Sollte dann kein anderer Staat bereit öffentliche Gemüt in all ganz unabhängig von der sein, uns unter seiner Flagge in See stechen zu lassen, werden seiner vielversprechenden Absicht. Von dieser Viel- wir das letzte private Rettungsschiff sein, das in der Zone vor Keuschheit. Todes-, Judas- und Fehldeutigkeit leben die Libyen aktiv gewesen ist. Dabei sind wir nur hier, um Men- und sozialistischer Bruder- Hälfte der Weltliteratur, schenleben zu retten. Wie man das sabotieren kann, ist mir kuss, Ehrerbietung, Ehe- zwei Drittel der Filmindus- unbegreiflich. 1260 Menschen sind allein in diesem Jahr versprechen, französischer trie und die ganze Klatsch- bei dem Versuch ertrunken, das zentrale Mittelmeer zu über- Gruß oder sogar so etwas presse. Nach dem ersten queren. Ohne uns wären es noch mehr gewesen. wie Liebe: Die Philematolo- Kuss, so viel ist gewiss, ist Dabei ist Panamas Entscheidung, die nur auf Druck von gie, die sich der wissenschaft- nichts mehr, wie es vorher Italien zustande kam, bloß eines unserer Probleme. Ein Bei- lichen Erforschung dieser war – bei Prominenten zu - spiel: Am vergangenen Wochenende registrierte ein Flug- keineswegs weltweit goutier- mindest für das Publikum. ES zeug zwei Boote in Seenot und meldete dies der Küstenwa- che in Italien. Das Prozedere will, dass Italien den Notruf an die libysche Küstenwache weiterleitet, unseren offiziellen Ansprechpartner. Theoretisch könnten wir uns auch selbst an die Libyer wenden, wir kennen alle drei Telefonnummern der Zuständigen vor Ort. Praktisch ist uns die Kontaktauf- nahme aber noch nie geglückt. Von dem verunglückten Boot erfuhren wir erst Stunden später. Von den 100 Menschen, die sich darauf befanden, konnten wir nur 58 retten. Möglich macht das alles eine europäische Politik, die vor ihrer Verantwortung davonläuft, statt sich endlich zu überle- gen, wie sie diesem Sterben ein Ende setzen kann. Anzuer- kennen, dass Libyen kein sicherer Hafen ist, wäre dabei ein Anfang. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat das erkannt, warum nicht die EU?«

STEFFENS / DDP IMAGES STEFFENS Aufgezeichnet von Katharina Meyer zu Eppendorf

135 »Als Gott am letzten Wochenende den SPIEGEL las, ist er aus der katholischen Kirche ausgetreten.« Norman Schmitt, Erkrath (NRW)

Weg mit dem Zölibat Zwar sind die Missbräuche unverzeihlich Den kausalen Zusammenhang zwischen und müssen Konsequenzen, auch straf- dem Besuch einer Schwulenbar und sexu- Nr.39/2018 Du sollst nicht lügen – Der Papst und die katholische Kirche rechtliche, haben. Aber zu folgern, dass ellem Missbrauch kann ich nicht feststel- in ihrer größten Krise das »Licht des Christentums … am Verlö- len. Selbst wenn den Autoren, wie ich schen ist«, ist Unsinn! Die katholische Kir- stark hoffe, nicht daran lag, Homosexuelle Das Lesen dieses Artikels wird für mich che ist nicht das Christentum. Die christ - als Kinderschänder zu titulieren, ist dies als Katholiken von Seite zu Seite immer liche Gemeinde verändert sich, nur leider durch die enge und wiederholte Assozia- unerträglicher. Was predigt uns die katho- anscheinend ohne die Landeskirchen. Viel- tion im Artikel geschehen. lische Kirche, und was leben uns die obe- leicht sollten Sie mal die »neuen Kirchen« Katrin Oginski, Frankfurt am Main ren Prediger vor? Unglaublich, unfassbar, vorstellen. Oder die Gemeinden in Afrika! unerträglich. Ich kann nicht mit meinem Die sind quicklebendig! Und wachsen! Welch ein Wahnsinn Gewissen vereinbaren, weiterhin dieser Matthias Jäger, Minden (NRW) Nr.38/2018 Die Union ist bereit, sich in Glaubensrichtung anzugehören. Syrien stärker militärisch zu engagieren Lorenz Gülker, Lathen (Nieders.) Den Kindern wurden Höllenqualen im Jen- seits angedroht, falls sie irgendwem etwas Wie sehr die Debattenkultur in Deutsch- Markus, Kapitel 9, Vers 42: Und wer einen erzählen sollten. Daher das lange Schwei- land in den letzten Jahren gelitten hat, er- dieser Kleinen, die an mich glauben, zum gen der Betroffenen bis ins Erwachsenen- kennt man schon an der Fragestellung des Bösen verführt, für den wäre es besser, alter. In unserer Pfarrei gab es mehrere sol- Artikels. Bis 1995 wäre nicht mal ernsthaft dass ihm ein Mühlstein um den Hals ge- cher Fälle. Einer davon hat vor Jahren trau- diskutiert worden, ob sich Deutschland an hängt und er ins Meer geworfen würde. rige Berühmtheit erlangt, weil er in einem einem völkerrechtswidrigen (!) »Vergel- Heribert Hühne, Ratingen (NRW) größeren SPIEGEL-Artikel Platz fand. Da- tungsschlag« beteiligt, schon gar nicht mals schon fiel auf, dass der Trierer Bischof ohne Uno-Mandat. Nach 2001 wäre dis- Irgendwie steht die katholische Welt schon Ackermann als oberster Aufklärer der ka- kutiert worden, ob man an einer »Koali- etwas kopf. Da werden Priester, die Kinder tholischen Bischöfe entgegen öffentlichen tion der Willigen« teilnehmen könnte, so- missbraucht haben, von deren Vorgesetz- Ankündigungen es mit der Aufklärung fern eine Vetomacht ein Uno-Mandat ak- ten gedeckt und schlimmstenfalls auch mal nicht so genau nahm und Täter deckte. tiv verhindert, siehe Kosovo und Irak. versetzt, damit sie am neuen Tätigkeitsort Harald Arweiler, Dillingen (Saarl.) Heute spielt die offenkundige Illegalität dann weitermachen können. Und ein Chef- wohl keine Rolle mehr. arzt an einer katholisch geführten Klinik Wie sagt Johannes der Täufer: »Es ist Philipp-Henning von Bruchhausen, Buldern (NRW) sollte gefeuert werden, weil er noch mal schon die Axt den Bäumen an die Wurzel geheiratet hat. Dass die Kirche ein Staat gelegt. Jeder Baum, der nicht gute Frucht Auch 1914 meinte Deutschland, mitspielen im Staate ist, passt nicht mehr in unsere bringt, wird abgehauen und ins Feuer ge- zu müssen, obwohl Sarajewo das Deutsche Zeit. Weg mit dem Zölibat und Trennung worfen.« (Matthäus, Kapitel 3, Vers 10) Reich überhaupt nichts anging. Und jetzt von pädophilen Geistlichen, wenn die Dieter Hirschberg, Bad Sulza (Thür.) meint die Regierung, doch »bei den Gro- Tat(en) erwiesen sind, könnte der Anfang ßen mitspielen« zu müssen? Welch ein einer reformierten katholischen Kirche Wahnsinn, zumal es in Syrien keine Fron- sein. Dann wäre Zeit, auch mal darüber ten gibt und jeder gegen jeden kämpft. nachzudenken, warum der Staat immer Und wenn Deutschland mitmachen sollte, noch als Kassierer für die Mitgliedsbei- wissen wir doch alle, dass es vor allem die träge (Kirchensteuer) agiert. Zivilbevölkerung ist, die leiden wird. Enno Sandner, Mörfelden-Walldorf (Hessen) Lutz Caspers, Neustadt (Nieders.)

Es gibt im 21. Jahrhundert immense Pro- Unüberlegte, vorschnelle, der Parteipolitik

bleme, zukunftsorientierte Herausforde- / AAP IMAGES SCAVUZZO PIERPAOLO entsprechende Festlegungen, und die auch rungen zu meistern. Das Recht, dabei mit- Papst Franziskus noch vom Außenamt, werden zwar teil- zuwirken, hat die katholische Kirche gna- weise durch das Verteidigungsministerium denlos verloren. Pfui Teufel! Der skandalöse weltweite sexuelle Miss- relativiert, dennoch bedarf es einer klaren Bettina Schirmer, Halle (Saale) brauch Minderjähriger durch katholische Kanzlerbotschaft. Die Richtlinien der Poli- Priester wird nur dann aus den Schlagzei- tik können nicht von einer Fraktionsvor- Scheinheilige, verlogene Himmelskomiker len kommen, wenn zwei Bedingungen er- sitzenden bestimmt werden. Bei allem Ver- und ihre tumbe, blind folgende, einfältige füllt werden: Die Missbrauchsopfer müs- ständnis für die zum Beispiel mit der fran- Heerschar! Aber, wie bei vielen Religio- sen angemessen finanziell entschädigt wer- zösischen nicht vergleichbare Rechtslage: nen: Glaube ist nichts Böses und kann dem den; Almosen reichen nicht aus. Und der Die Bundesrepublik muss ihre grundsätz- Menschen in vielen Lagen sehr helfen. Nur widernatürliche Zwangszölibat, der die liche Bereitschaft zur Unterstützung im Kirchen und die angeblichen Vertreter des Hauptursache des sexuellen Missbrauchs Fall des Verstoßes gegen die Genfer Kon- Glaubens braucht wirklich niemand! darstellt, muss endlich abgeschafft werden. vention durch Syrien erklären. Erhard Huth, Winsen/Luhe (Nieders.) Prof. Dr. Claus Werning, Frechen (NRW) Lothar Schulz, Berlin

136 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Briefe

Im Stich gelassen Als SPD-Mitglied (seit 1976) beantrage ich Mitten im Weltgeschehen hiermit, dass dieser Artikel jedem Funk - Nr.38/2018 Das Establishment der SPD tionsträger sowie jedem Neumitglied zu- Nr.38/2018 Wirecard-Chef Braun über den grenzt einen unliebsamen Kritiker aus zweifelhaften Ruf des Dax-Neulings gänglich gemacht wird. Es hat selten zuvor Dass sich der junge Denker Heisterhagen in der Geschichte der SPD so eine Distanz Man kann nicht auf der einen Seite – mit Wagenknecht gut versteht, verwun- zwischen Parteimitglied/Sympathisant wenn’s um Wohnungen geht – den Run dert nicht. Und das sollte der Linken unter und der Führungselite gegeben. Diese SPD auf die Städte beklagen und andererseits der Führung um Kipping zu denken geben. steht außerdem vor der Gefahr, dass nur einen Firmenchef fragen, ob München Sie wird von vielen Anhängern in Fragen noch Berufspolitiker die wichtigen Funk- nicht als Sitz angemessener wäre. Zudem der Migrations- und längst gescheiterten tionen in der Partei ausfüllen. Diese haben ist Aschheim als Exempel untauglich, weil Integrationspolitik immer mehr als dem aber keinen Draht zur Realität. Sie wissen praktisch München. Der Wirecard-Sitz ist hippen, städtischen »Bio-Bürgertum« zu- nicht, wie eine Kassiererin tickt oder eine 60 Meter von der Stadtgrenze entfernt, gehörig wahrgenommen – mit dem Ergeb- Krankenschwester oder eine Erzieherin. zur Messe München (Top Ten weltweit) nis, dass auch diese Partei von einstigen Uwe Grunenberg, Hannover ist es ein Kilometer Luftlinie. Stammwählern abgestraft wird. Rüdiger Zwarg, Kirchheim (Bayern) Dr. Dieter Weber, Oy-Mittelberg (Bayern) Schlag ins Gesicht Unerträglich die Arroganz, mit der Asch- Nr.38/2018 In Glashütte stellt sich ein Uhrenhersteller gegen die AfD heim als Kaff abgetan wird. Jedem, der in der digitalen Welt zu Hause ist, sollte be- Frau Borowski setzt sich für die Einhaltung wusst sein, dass ländlich geprägte Gemein- der Werte und gegen die AfD ein. Das ist den heute nicht mehr vom Weltgeschehen auch einfach, denn die Opfer der Wucher- abgeschnitten sind und mit Blick auf eine mieten und Empfänger von Hungerlöhnen, vernünftige Work-Life-Balance durchaus viele AfD-Wähler, sind keine Kunden von Vorteile gegenüber urbanen Standorten Nomos. Ihre Kunden kommen oft aus men- haben können. Da haben wir es mit einem

CHRISTIAN PROTTE / DER SPIEGEL PROTTE CHRISTIAN schenverachtenden Diktaturen, in vielen Unternehmen in Deutschland zu tun, das Sozialdemokrat Heisterhagen gibt es die Todesstrafe und Folter. Kein Kun- auf der technologischen Höhe der digita- de wird nach seiner Gesinnung gefragt oder len Finanzwirtschaft operiert, und anstatt Da braucht sich kein Mensch zu wundern, danach, wie viel Blut an seinem Geld klebt. die neuartigen Methoden des Zahlungs- wenn die Umfragewerte weiter im Sturz- Gustav Pekarsky, Bruchsal (Bad.-Württ.) verkehrs zu erklären, schießt sich Herr flug sind. Gerade nicht stromlinienförmige Bartz auf die Zahl der Geschäftsführer ein. Menschen wie Nils Heisterhagen sind für Diese Dame positioniert sich gegen rechts, Maria Hammerich-Maier, Leupoldsgrün (Bayern) die (ehemalige?) Volkspartei und ihre wei- was ihr gutes Recht ist. Will sie jetzt alle tere Entwicklung wichtiger denn je. Nazis aus ihrem Unternehmen entlassen? Sofort einschlafen Hubert Kurowski, Gelsenkirchen Wie will sie in Erfahrung bringen, wer wel- Nr.38/2018 Ideen und Visionen gegen ches Gedankengut hegt? Will sie Gesin- die Langeweile in der Formel 1 Auch ich fühle mich seit Jahren von der nungsprüfungen einführen? Hat sie über- SPD im Stich gelassen und habe mich von haupt genug qualifizierte Fachkräfte, die Das ist die exzellenteste Einschätzung der ihr abgewendet – gesellschaftspolitisch wie die Jobs übernehmen können? Oder sollen derzeitigen Lage bei der Formel 1, die ich sozialpolitisch. Es ist höchste Zeit, dass die Beschäftigten einfach nur erzogen wer- bis jetzt gelesen habe. Einen Punkt hätte jemand wie Herr Heisterhagen offen wagt, den und die Klappe halten? Für mich ist ich noch ergänzt: Warum kann das Fernse- den Finger in die Wunde zu legen. diese Dame so wie viele Leute ihres Schla- Klaus-J. Schröter, Weißenburg (Bayern) ges, die auch fast 30 Jahre nach der Wie- dervereinigung Deutschlands immer noch Der Vorgang ist in Wirklichkeit viel banaler permanent den Besserwessi raushängen als dargestellt. Stellen Sie sich bloß mal vor, lassen, Teil des Problems, das wir mit einer Ihrer Redaktionsassistenten würde rechts in manchen Regionen Ostdeutsch- in der »Welt« einen forschen Artikel über lands haben, und nicht die Lösung. Ihnen die richtige Geschäftspolitik des SPIEGEL- als SPIEGEL-Redaktion stünde es auch bes- Verlags veröffentlichen. Das würde ver- ser zu Gesicht, die wirklichen Probleme,

mutlich auch nicht in vollem Umfang be- die es in unserem Land gibt, aufzudecken MARK THOMPSON / GETTY IMAGES grüßt werden. Dementsprechend erwarten und anzugehen, als eine profilierungssüch- Mechaniker in Ferrari-Box die SPD und ihre MandatsträgerInnen, tige Unternehmerin zu beklatschen. dass ihre Mitarbeiter für sie arbeiten und Monika Fasshauer, Brehme (Thür.) hen, wenn schon zwei Teams dominieren, nicht gegen sie. Also alles ganz normal. nicht mehr die sportlichen Zweikämpfe der Jens Lüttge, Braunschweig Der Artikel ist ein Schlag ins Gesicht für übrigen Teams kommentieren und zeigen? jene, die den DDR-Alltag noch nicht ver- Hanno Schmitz-Le Hanne, Berlin Die SPD muss sich trotz ihrer »Ökonomie- gessen haben, wo es »Gewerkschaftslehr- ferne« die Förderung der Wirtschaft zur jahr« und »Schule der sozialistischen Ar- Es gibt kein besseres Mittel, um am Sonn- Wohlstandssicherung zum Ziel setzen und beit« gab. Dass eine Frau Borowski hier tagnachmittag sofort einzuschlafen! den Fokus nicht nur auf Ungleichheit und eine ganze Seite Reklame bekommt, ist Werner Messerli, Ebersecken (Schweiz) Umverteilung legen. Zur Verbesserung der mir egal, ich würde mir ohnehin nie eine Lebenslage der ärmeren Bürger wäre eine solche Uhr kaufen, aber dieser Beitrag Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe Evaluierung angebracht, warum die bishe- zu »gelebter Demokratie« über die »neue ([email protected]) gekürzt rigen Maßnahmen der Großen Koalition Arbeitskultur« im Osten ist Grund, den sowie digital zu veröffent lichen und unter hier nicht spürbar gegriffen haben. SPIEGEL nun endgültig abzubestellen. www.spiegel.de zu archivieren. David Both, Troisdorf (NRW) Wolfgang Mehlhausen, Berlin

137 Hohlspiegel Rückspiegel

JETZT IM HANDEL: Zitat

Die »Berliner Morgenpost« zum SPIEGEL- PROJEKT- Bericht »Liba mit Fibl« (Nr. 39/2018) Aus der »Lippischen Landes-Zeitung« über den Streit um gute Schreibdidaktik:

MANAGEMENT Eine aktuelle Studie der Universität Bonn Aus der »Süddeutschen Zeitung«: bestätigt die Überlegenheit der klassischen »Seit 2013 Jahren läuft er die Fibel-Methode gegenüber dem »Lesen Marathondistanz und startet wie fast alle durch Schreiben« und der »Rechtschreib- Top-Athleten in dieser Disziplin werkstatt«, bei der die Kinder verschie- nur zu etwa zwei Rennen im Jahr.« dene Lernbereiche selbstständig abarbei- ten sollen. Zu diesem Ergebnis waren Be- obachter bereits ohne Studie gekommen. Für durch »kreative« Orthografie geschä- digte Kinder kommt diese Einsicht zu spät. Der SPIEGEL zitiert die Lehrerin Gisela Dorst mit der Einschätzung: »Eigentlich müssten sich die Verfechter dieser unseli- gen Methode bei einer ganzen Schüler - Aus dem »Main-Echo« generation entschuldigen.«

Aus den »Stuttgarter Nachrichten«: Der SPIEGEL berichtete … »In Baden-Württemberg hat jede Frau im vergangenen Jahr im Schnitt 1,57 Kinder … in »Unser täglich Plastik« (Nr. 23/2018) bekommen – das ist die zweithöchste über die Praxis, nicht mehr haltbare Geburtenrate seit mehr als 40 Jahren.« Lebensmittel samt Verpackung Weitere Themen: zu schreddern, sodass über die in Biogasanlagen vergorenen SCHWERPUNKT Reste Kunststoffpartikel auf Felder Brauchen Start-ups und in Gewässer gelangen. eine Strategie? Vorvergangenen Freitag hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, dafür zu sorgen, dass nur vollständig entpackte Aus dem »Wochenblatt Bamberg« VERTRIEB Lebensmittel in die Bioabfallverwertung Die ganze Wahrheit gelangen dürfen. Aus der »WAZ«: über Omnichannel … in »Das Schlupfloch« (Nr. 18/2018) »Einige Tote und Verletzte waren in über den Verdacht, dass in der Bremer zwei geführten Gruppen unterwegs.« SELBSTMANAGEMENT Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Hunderte So wehren Sie sich gegen Migranten an Vorschriften und Gesetzen Aus der Programmzeitschrift »rtv«: zu viel Teamarbeit vorbei Schutz erhielten. »Wie viele Schläger braucht Oberbürgermeister Dieter Reiter, um Am Montag zog der neue Bamf-Präsident das Fass anzustechen?« Hans-Eckhard Sommer im Bundestags- innenausschuss ein Fazit der Affäre: »Es gibt überhaupt keinen Grund, die Fehl - leistungen, die in Bremen erfolgt sind, die Verfehlungen, zu banalisieren … Es war schlimm, und so darf es nicht sein.«

… in »Britischer Geheimdienst attackiert Belgacom« (Nr. 39/2013) über einen Hackerangriff des britischen Geheim- ! dienstes GCHQ auf Netze des belgischen Telekommunikationskonzerns, Aus der »Waldeckischen Landeszeitung« Auch als digitale Ausgabe erhältlich: der auch EU-Institutionen versorgte – harvardbusinessmanager.de basierend auf Material des US-Whistleblowers Edward Snowden. Aus Gabor Steingarts »Morning Briefing«: »Gestern Nachmittag unterlag er gegen Die belgische Staatsanwaltschaft hat jetzt Herausforderer Ralph Brinkhaus, in einer geheimen Untersuchung die der mit 112 zu 125 Stimmen die Unions- SPIEGEL-Enthüllung belgischen Medien- Fraktion hinter sich versammelte.« berichten zufolge bestätigt.

138 DER SPIEGEL Nr. 40 / 29. 9. 2018 Mit SPIEGEL+ nutzen Sie die ganze digitale Welt des SPIEGEL.

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OKTOBER 2018

Ein Heft zur Buchmesse

Die Zeit verstehen dern dermenschlichenPsyche sind. Eigenschaftenderkünstlichen Intelligenz, son- abnehmen, weilRachsucht undHass keine kann,dassKriegsverbrechensequenz haben fliktfallbeispielsweise die zutunist–was Kon- Kampfrobotern entscheidendiese,wasimKon- rungBei selbstfahrenden treffen. bei Autoswie scheidungen imRahmenihrer Programmie- nur Ent- dieaber weitübersteigt, lichen Geist tun, deren Verarbeitungskapazität denmensch- wir esaufabsehbare ZeitmitComputernzu die Voraussetzung ist,haben für Bewusstsein nichtgeklärt ist,oborganischenoch Biochemie wissenschaftlich Prognose unentschieden:Da einigen kann.Was Letzteresoistseine betrifft, künstlicher Intelligenz aufethischeStandards Umgang mit Information, Technologie und in derSorge, obdieWeltgemeinschaft sichim &Co.gerade sammeln, umgehen, dieGoogle ge, wiewirmitdenimmensenDatenmengen Sicht inderunmittelbaren Zukunft:inderFra- unwiderruflich ausgemustert. gional explosiv, vonderWeltgeschichte doch lismus. Lokalgefährlich,unterUmständen re- Nationa-xie, Ressentiment,überkommenem vonOrthodo- sammengeflickt ausRestposten ganze Völker sicheinfinden,sondernzu- keine fliegenden Teppiche mehr, aufdenen nungsformen inUngarn auchRussland oder Historie undauchinihren neuerlichenErschei- blamiertinder zu EndeerzählteGeschichten, klassischer Liberaler. ches imKonsens denneristein besprechen, zeugung Hararis). keit desIndividuums istaucheineGrundüber- Trump, bisherjedenfalls, nicht(dieLernfähig- raschung, dassObamaihnempfiehltund es weitergehen soll.Insofern isteskeineÜber- nachzudenken,wie gen, umsinnvolldarüber sind für ihnselbstverständliche Voraussetzun- nismus, ökologischesDenkenundVeganismus ne klare Orientierung: Femi- politisch-ethische Plädoyer für dieMeditation –,andererseits sei- letzte seinerLektionenisteinautobiografisches scheidet, isteinerseits seineNahbarkeit –die dung, vonseinenGroßdenkerkollegen unter- geklärt wissenwollen. inkurzerZeitdieletztenFragen aber haben, die möglicherweisegarnichtszuentscheiden Nachttischen derPräsidenten undderer liegen, blicksintellektuellen, deren Bücheraufden nen, vorwiegendmännlichenKreis derDurch- tologe Francis Fukuyama gehörterzudemklei- der Präsidenten Y 24,95Euro.460 Seiten; H.Beck; Andreas Wirthensohn. C. Aus demEnglischenvon Yuval Noah Harari: Morris rikers istderganzweiteWurf; wiederBriteIan im 43.Lebensjahr. dran;tion istdieGegenwart eristjaauchschon te unddieZukunftdermenschlichenZivilisa- für das21.Jahrhundert. für Die wirklichenProbleme wartenausseiner Kommunismus wieFaschismus sindfür ihn könnteHarariDennoch mitTrump man- Was Harari, quaGeneration undEntschei- Die Spezialdisziplin desisraelischenDie Spezialdisziplin Histo- Für denNachttisch Nach seinen Bestsellern über dieGeschich- Nach über seinenBestsellern UVAL NOAH HARARI (Wer regiert dieWelt?) 21 Lektionen und derUS-Poli- ist wiederda. »Sie hatkeineZeit,sichanseinennacktenMän- »Was einfällt:AllesinihristBe- mirspontan im Jahr 1958 meingültigen verklärt. wird Privatestes mitkühlemPathos zumAllge- schen Erzählensetabliert.In ihrem Schreiben des zugleichautobiografischen und soziologi- 2017 Furore gemachthat,eineganzeigeneArt erst2008 undinderdeutschenÜbersetzung empfehlen. depressivum ohnesedierende Wirkung sehrzu gener dennje.Insgesamt also:alsklugesAnti- gesetzt, unddamitistdieMenschheit homo derVersorgungwie bei ihrer Wunden. rationaler Wissenschaft Kampfhandlungen bei selbstverständlich aufdieErgebnissesich aber die Taliban zerstören verlassen zwarSchulen, religiösenschen oder Verfasstheit. Und selbst jenseitsihrer Gruppen, ethni- aller politischen die weltweitanerkannteOrganisationsform fast le zuorganisieren? Inzwischen istdieNation Jahren derVersuch verlaufen, OlympischeSpie- Wie, fragt er, wäre voreinigenHundert noch baren ZusammenwachsensderWeltgesellschaft. sind für einesunumkehr- ihnerfreuliche Belege mate, indenenwirinternationallängstagieren, sichtlicher Globalisierungsverteidiger: DieFor- alarmiert. Zugleichisterkulturell einzuver- Sichtweise dertechnologischenEntwicklung Desasters isteindeutigunddramatisch, seine desökologischen Darstellung herstellt: Seine Gleichgewicht vonSchreckenundOptimismus dem gern,daermitgroßer Zuverlässigkeitein mitreißend argumentiert. Man liestihnaußer- auch indemSinne,dasserverständlich, auch konischen Buch schiebt.« schen dieSchenkel Größe undHärte seinesGlieds, daserihrzwi- zu gewöhnen,sofortnerkörper spürtsiedie rei aufderTanzfläche inihrZimmerdrängt: jährigen Mannes, dersienacheinerKnutsche- gehren dieGrobheit undStolz.«Über des22- sichselbstschreibtMann hat.Über sie: Sex miteinemanderengleich amnächstenAbend dieerste erlebt Liebesnacht –und Chefbetreuer einem Ferienlager inder Normandie mitdem Bilderdavon,wiesiealsKinderbetreuerinin Die Bilderexistieren alleininihrem Kopf. einer18-Jährigensie indiesemSommer zeigt. springe, voneinerSzenezurnächsten.« indemichvoneinemBildzumnächsten ben, nologische Reihenfolge kannichnurbeschrei- xuellen Erwachens,demJahr 1958:»Diechro- ihresnähert siesichdemSommer eigenense- rungen inihrem Ruckelnd,zögerlich Gehirn. Abstoßung, alsordnete einMagnet dieErinne- einSpielausAnnäherungErnaux betreibt und W 20 Euro. Finck. Sonja 163Seiten; Suhrkamp; Aus demFranzösischen von Annie Ernaux: eines Mädchens. Die Aufklärung hatsichpragmatisch durch-Die Aufklärung Harari isteingrunddemokratischer Autor Annie Ernauxhatspätestensmitihrem la- keineeinzigeFotografie,Ernaux besitzt die Sexuelles Erwachen Gedächtnis? Die Schriftstellerin Annie DieSchriftstellerin Gedächtnis? IE FUNKTIONIERT DAS Ein Heft zurBuchmesse Erscheint am2.Oktober. Die Zeitverstehen Die Jahre, Erinnerung das inFrankreich Elke Schmitter biografische - – so wie er die Sache verstand, also:tödlich, – sowieerdieSache kompromisslos undentschlossen. Jesu undführte seinVolk imchristlichenSinne erfuhr, erkannteersichselbstalsspätenBruder worden. Nachdem ervonderchristlichenLehre war früh vonmessianischenTräumen erfasst giöse Zügetrug. DerAnführer Hong Xiuquan Volksaufstand aus,derschonbaldauchreli chinesischen Reichesundweitetesichzueinem alsBauernaufstand des Sie begann imSüden zwischen 20und30Millionen Menschenleben. 19. Jahrhunderts inChinastattundforderte gewinnen. preises undhatguteChancen,ihnauchzu steht nunaufderShortlistdesDeutschenBuch- Der geschrieben. Romandarüber 700-seitigen wohnhaft inTaiwan, sagt:Ja –undhateinen kümmern? ging es?Muss ichmichdarum jetztauchnoch Niebellion? gehört.Was wardalos?Worum die meistenvonunsgarnichts.Taiping-Re ten Bürgerkrieg derWeltgeschichte wissen U 25Euro. 720Seiten; Suhrkamp; Stephan Thome: struktionsarbeit in struktionsarbeit ten des Schreibens.« ten desSchreibens.« seltsamen Buchs,»ver dieAutorindiesesgroßartiglebt«, behauptet Erlebten indemMoment, indemmaneser- Lehrerinnenexistenz ein.»DieSinnlosigkeitdes Jahre späterbrav indiegeordnete Bahneiner keit zurgeächtetenPerson einpaar –undbog rung undihre für Sex vorgebliche Schamlosig- machte sichals18-Jährige durch ihre Begeiste- einereinstjungenFrau.ten desBerichts Die hier nureinevonmehreren möglichenVarian- chern vonPatrick wird Modiano. Geschildert chens Proust verglichen, in verlebendigt undunsnahegebracht.verlebendigt fernliegendes erzählerischgeordnet, Geschehen liches, historischundgeografisch unendlich kämpfen. Und gegenBarbaren alsoauch überzeugt, zu überzeugt. und militärischenÜberlegenheit Krieg, jedePartei vondereigenenmoralischen undeineuralteScheinchristen Dynastieim Reich alsMarkt wollten.Christen, erschließen lem mitbritischenTruppen, diedaschinesische mischte sichschonbaldderWesten ein, voral- denten Kaiserdynastie. In diesenBürgerkrieg Barbaren. Sein Ziel:Sturzderalten,müden,deka Sein Die Taiping-Rebellion fand Mitte des Stephan Thome,46,geboren inBiedenkopf, Kluge Rezensenten haben Ernaux’Rekon- Kluge Rezensentenhaben genug. ist echt schon irre Die Geschichte klar. und sachlich Thome schreibt Stephan Thomehateinvölligunübersicht- Die Barbaren sindwir anzufangen: Vom blutigsten,opferreichs- M MALGLEICH ähnelt ihrErzählverfahren mehrdenBü- Die Jahre Gott der Gott vielfacht die Möglichkei- Erinnerungen einesMäd- mit demVerrücktesten mit dervonMarcel Wolfgang Höbel 2 - - -

Alle Illustrationen im Heft: Joni Majer / Wildfox Running für LITERATUR SPIEGEL 3 Am Anfang mag sein Stil ein wenig bieder, deshalb gebe es so heftige Debatten wie zur- Auch Täter kommen sachlich, vielleicht auch etwas zu heutig erschei- zeit. Klingt paradox, ist aber überzeugend. nen. Er hat keinen so souveränen, ironischen Und obendrein sehr gut verständlich: El- zu Wort, nichts Zugriff auf sein historisches Personal wie Daniel Mafaalanis Tochter, 15 Jahre alt, hat das Buch Kehlmann in Tyll und in der Vermessung der Welt, ihres Vater vorlektoriert und für einfache Spra- Menschliches ist der und er fühlt sich auch nicht so chinesisch-blu- che gesorgt. Horst Seehofer sollte wirklich mal Epoche fremd. mig in eine fernöstliche Sprachfantasie hinein, reinschauen. Tobias Becker wie es Christoph Ransmayr zuletzt in seinem China-Roman Cox versucht hat. Aber eigentlich ist das ein Glück. Je länger Thome erzählt, mel sieht, bloß ein Scheunenbrand oder das umso dankbarer ist man für seine Sachlichkeit Werk herannahender, feindlicher Truppen? und Klarheit. Die Geschichte ist echt schon irre Das Schweigen bleibt, Geht das vorüber, oder ist es das Ende der genug. Welt? Thome erzählt aus drei Perspektiven: aus die Zuversicht fehlt Der Dreißigjährige Krieg ist insofern ein der des chinesischen Generals Zeng Guofan, paradoxes Thema, als es sich für große, lange des hochmütigen, selbstgewissen Verteidigers; Lukas Rietzschel: Mit der Faust Werke eignet, die die Diplomatie- und Militär- aus der des britischen Sonderbotschafters in geschichte Europas nachzeichnen. Aber solche China, Lord Elgin; und aus der des deutschen in die Welt schlagen. Arbeiten verfehlen stets das Besondere dieses Missionars Philipp Johann Neukamp. Ullstein; 320 Seiten; 20 Euro. Krieges, nämlich seine provinzielle, häusliche Zeng Guofan und Lord Elgin hat es tat- und familiäre Dimension. Über die Hälfte ihrer sächlich gegeben, sodass Thome auf histori- AN WÄCHST SO MIT mit diesem Zeit verbrachten die Soldaten in privaten Quar- sches Material, Tagebücher, Briefe zurückgrei- M Buch und den zwei Jungs, die da im Zen- tieren, nicht in Kasernen oder auf Märschen, fen konnte. Den deutschen Missionar hingegen trum stehen. Vielleicht ist das das Schönste: sondern in Häusern und Höfen von Zivilisten. hat Thome erfunden. Das war vielleicht die wie er den Blick langsam weitet, der junge Au- Insofern war die Gewalt keineswegs auf schlechteste Idee, die er hatte: ein komplett tor Lukas Rietzschel, wie die Perspektive lang- Schlachtfelder beschränkt, es war vielmehr eine ausgedachtes, wenn auch plausibles Element sam von unten emporwächst. Anfangs stehen flächendeckende häusliche Gewalterfahrung. in das historische Romangeschehen einzubau- wir staunend und etwas ängstlich vor der Welt, Die Gewalt ging nicht nur von den Soldaten en. Die Wirklichkeit ist doch schon dramatisch von der Rietzschel erzählt, der Neid der Nach- aus, sondern ebenso von bewaffneten Bauern, genug. barn und der Schulkameraden, ein schweigen- die sich zur Wehr setzten oder Wege ersannen, Doch das ist nur ein kleiner Einwand gegen der Uwe, der ins Haus kommt, und erst viele die fremden Truppen auszunehmen. ein gewaltiges Buch, das von historischen Un- Seiten später erfahren wir, warum er schweigt. Medick versammelt hier Zeugnisse aus allen geheuerlichkeiten in einer Weise berichtet, dass Weil er früher geredet und gelauscht hat im Phasen und Situationen des Krieges und ordnet wir, die wir von diesem frühen Grauen nichts Dienst des Staates. Dann versenkt er sich mit sie thematisch und chronologisch ein. So ge- wussten und eigentlich auch nichts wissen woll- seinem Auto im See, aber sein Schweigen hat lingt eine meisterliche Synthese aus historischer ten, mitgerissen werden – und die Parallelen er dagelassen. Deutung und behutsamer Quellenpräsentation. zu unserer Welt von heute, in der immer die Lukas Rietzschel, 24, hat ein starkes Debüt Man ist immer wieder überrascht von der Resi- anderen die Barbaren sind, ganz von selbst geschrieben. Darüber, wie tiefes Misstrauen die lienz der Zeitgenossen des Krieges, von ihrer ziehen. Volker Weidermann Menschen über Generationen vergiften kann. Improvisationsgabe und berührenden Huma- Dass man Kraft braucht als junger Mensch. nität. Dabei wird hier nicht in moralischer Kraft und Zuversicht und die Ahnung einer Absicht nur der Opfer gedacht, auch Täter kom- Richtung wenigstens, in die das Leben gehen men zu Wort, nichts Menschliches ist der Epo- könnte. Die beiden Jungs werden groß, ihr che fremd, und das Buch spiegelt diese Vielfalt Blick und der Blick des Lesers weitet sich – wider. Hans Medick, der als Vordenker der his- Das Gute-Laune-Buch doch sie bleiben wie am Boden festgetackert. torischen Anthropologie und einer der seltenen Der eine erstarrt in Trägheit, der andere in Hass. Intellektuellen der Zunft ganze Generationen des Jahres Lukas Rietzschel erhebt sich nicht über die bei- deutscher Historiker inspiriert hat, legt hier ein den Steckenbleiber. Er versteht sie und be- Meisterwerk vor. Nils Minkmar Aladin El-Mafaalani: Das Inte grations- schreibt sie mitfühlend und klug. Volker Weidermann Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch; 240 Seiten; Gegen die Zeit 15 Euro. Der Krieg, der Inger-Maria Mahlke: Archipel. Rowohlt; 432 Seiten; 20 Euro. LS DER INNEN- UND Heimatminister in die Höfe A Horst Seehofer sich vor einigen Wochen zu der Aussage verstieg, die Migration sei die von Zivilisten einzog »Mutter aller Probleme«, schickte der Verlag I NGER-MARIA MAHLKE hat ein Buch Kiepenheuer & Witsch ihm dieses Buch. Soll- Hans Medick: über ihre zweite Heimat Teneriffa geschrie- te Seehofer es tatsächlich lesen, besteht künf- ben. Ihre Mutter kommt von dort, Mahlke hat tig Hoffnung auf eine klügere Politik. Bis da- Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse ihre halbe Kindheit auf der Insel verbracht. Ihr hin macht das Buch alle anderen klug – und vom Leben mit Gewalt. umfangreiches Wissen über die Geschichte und glücklich. Wallstein; 450 Seiten; 29,90 Euro. Kultur Teneriffas fließt in eine faszinierende Der Soziologe Aladin El-Mafaalani, 1978 im Anordnung von Erzählungssplittern ein, die Ruhrpott geborener Sohn syrischer Einwande- zusammengehören, aber in diesem Roman nie rer, schreibt über die Schlechte-Laune-Themen ER 1939 GEBORENE Hans Medick er- zusammenfinden. Das liegt auch daran, dass des Jahres: Integration, Islamismus, Rechts- D lebte als Kind im Juni 1943 die Bombar- Mahlke die Geschichten rückwärts erzählt, also populismus und Rassismus, Political Correct- dierung von Wuppertal. Diese Erfahrung er- heute beginnt und vor hundert Jahren endet. ness. Dies aber nicht im miesepetrigen, vergif- wähnt er im Nachwort dieses bemerkenswerten Die Figuren leben alle auf Teneriffa und sind teten, apokalyptischen Ton, der die Debatten Buches, das einem ganz anderen Krieg gewid- unter anderen: ein saufender Adeliger, eine Poli - so oft beherrscht, sondern zuversichtlich. Und met ist und doch einer solchen Perspektive treu tikerin, eine junge Frau, die irgendwas mit so ist Das Integrations-Paradox das Gute-Laune- bleibt: der eines ahnungslosen, potenziellen Kunst macht, ein kiffender Dude, eine Frau, Buch des Jahres. Opfers, das sich fragt, wie die ganze Sache wohl die »Katze« genannt wird, ein Soldat. Es geht El-Mafaalanis These: Die deutsche Gesell- ausgehen wird, und über keine Mittel verfügt, ein wenig um alles: Sex, Liebe, Krieg, Eltern, schaft wachse immer mehr zusammen, die In- den Ausgang zu beeinflussen. Altern, Kunst, die Suche nach dem Glück und tegration funktioniere besser denn je, Diskri- Solche Stimmen kommen hier in großer das Scheitern desselben. Kein leichtes Buch, minierungen und Rassismus nähmen ab. Eben Zahl vor: Ist ein Brand, den man am Nachthim- aber ein kluges. Takis Würger

Die Zeit verstehen Ein Heft zur Buchmesse Die taz bestand noch nie nur aus Papier.

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$%2.72%(5,01(8(15('$.7,216*(%¡8'(7$=9(5/$*681'9(575,(%6*0%+)5,('5,&+675$66(%(5/,1 5 hat. Anfangs macht sie Fehler, das Wort »ver- zwischen völkischem Denken und allzu ideolo- Wie übersetzt man gast« verwechselt sie mit dem Wort »erleuchtet«. gisch ausgelegtem Laisser-faire bei der Zuwan- Doch gegen den Willen ihrer Familie und um derung, zeigt das Buch des Psychologen Ah- das Grauen? den Preis, ihren Verlobten zu verlieren, ent - mad Mansour, einem arabischen Israeli, der scheidet sich Eva, die Aufgabe zu übernehmen schon länger in Berlin lebt. Mansour plädiert Annette Hess: Deutsches Haus. und im Auschwitz-Prozess als Übersetzerin auf- für klare, konsequent umgesetzte Regeln im zutreten. Dabei gewinnt sie Erkenntnisse von Umgang mit Einwanderern. Ein Leitfaden für Ullstein; 368 Seiten; 20 Euro. Gut und Böse, die ihre biedere Welt sprengen einen selbstbewussten Verfassungspatriotismus, werden. erschienen im richtigen Moment. IE STIMMEN VIELER Zeugen klangen Deutsches Haus ist zwar der erste Roman von Sebastian Hammelehle D erstaunlich fest und ruhig. Und die Höf- Annette Hess, doch als Autorin ist sie längst lichkeit, die manche an den Tag legten, war fast bekannt: Hess hat unter anderem die Fernseh- schon beschämend. Über hundert Männer und serien »Weißensee« und »Ku’damm 56« ge- Frauen, die die Lagerhaft in Auschwitz überlebt schrieben, sie ist ein Profi darin, Figuren zu hatten, legten zwischen 1963 und 1965 vor ei- erfinden, die den Zuschauer, den Leser an sich Raymond Chandler nem Frankfurter Gericht Zeugnis ab. Hier fand heranlassen und doch exemplarisch für die Zeit das größte NS-Verfahren der bundesrepublika- stehen, in der sie leben. Dabei arbeitet Hess in Hamburg nischen Geschichte statt, der »Auschwitz-Pro- ganz bewusst mit den idealisierten Vorstel - zess«, ein Wendepunkt in der Auseinanderset- lungen von Vergangenheit, sie entwirft ein über- Simone Buchholz: Mexikoring. zung mit den Verbrechen der NS-Zeit. Die zuckertes Gestern, um dann die Lügen und das Überlebenden hatten es auf sich genommen, Schweigen aufzuzeigen, die es zusammen - Suhrkamp; 252 Seiten; 14,95 Euro. dafür nach Deutschland zu reisen, sie kamen halten. aus Israel, Ungarn, Frankreich oder Griechen- Hess kann klar und lebendig schreiben, es M 13. SEPTEMBER wurde in Berlin Ni- land, die meisten aus Polen. ist nichts Kunstvolles an ihrer Sprache, aber A dal R. beerdigt, ein Großereignis, auch Vor fünf Jahren wurden die Tonbandmit- ihr gelingen Momente, die unverbraucht wir- für die Polizei. Zur Trauerfeier kamen 2000 schnitte des Auschwitz-Prozesses als Audiodatei ken. Ihre Figuren gewinnen an Konturen, weil Menschen – R.s Freunde, Verwandte und Kol- ins Netz gestellt. Über 150 Tonbandprotokolle sie durch Szenen und nicht durch Behauptun- legen. R. war ein stadtbekannter Gangster. Ein sind zu hören, darunter nicht nur die Stimmen gen charakterisiert sind. Der Zahnarztbesuch paar Tage zuvor war er im Stadtteil Neukölln ehemaliger Häftlinge, sondern auch von jenen, von Evas Mutter zum Beispiel, bei dem sie er- vor einem Eiswagen erschossen worden. Seit- die als Fahrer, als Köche oder Wächter in dem fährt, dass sie bald ein Gebiss brauchen wird, dem fürchten Ermittler, dass die Gewalt zwi- Lager gearbeitet hatten. Die Rechtsanwälte und und still zu weinen beginnt. Oder der Tod des schen den mafiaähnlich organisierten arabi- Ehefrauen der Angeklagten sprechen, die Familienhundes, der später wieder ausgegraben schen Familienclans weiter eskalieren könnte. Staatsanwälte und schließlich der Vorsitzende werden muss, weil Evas kleiner Bruder ihm Der Zufall wollte es, dass am 13. September Richter, dem bei der Urteilsbegründung die etwas ins Grab gelegt hat, das er doch wieder- auch die Hamburger Schriftstellerin Simone Stimme bricht. Ein ungeheures Dokument. haben will. Buchholz ihren neuen Kriminalroman vorstell- Im Mittelpunkt des Romans Deutsches Haus Schon nach den ersten Seiten von Deutsches te: In Mexikoring stirbt gleich auf den ersten steht eine Vielzahl jener Menschen, die bei Haus entsteht ein Film im Kopf des Lesers, und Seiten ein junger Mann aus einer arabischen diesem Prozess das Wort ergriffen. Die Autorin der reißt nicht ab bis zum letzten Kapitel. Es Gangsterfamilie. Nouri Saroukhan sitzt leblos Annette Hess wird sich die Protokolle angehört ist ein Unterhaltungsroman mit Bildungsauf- am Steuer eines brennenden Autos, das in einem haben, und dann hat sie eine Figur geschaffen, trag. Hier schreibt jemand gegen das Vergessen abgerockten Bürohausviertel in Hamburg parkt. die ein Unterhaltungsroman zu diesem Thema an, gegen das Langsam-ist-auch-mal-gut-Ge - Die Saroukhans – im Laufe des Romans lernt unbedingt braucht: eine Übersetzerin. Nicht rede, gegen den Vergleich der Nazizeit mit der Leser die halbe Familie kennen – sind fiktiv. zufällig heißt die Figur Eva. einem »Vogelschiss« – und will damit möglichst Doch ihre Lebensläufe, ihre Vorstrafenregister Am Anfang der Geschichte lebt Eva noch viele Menschen erreichen. ähneln denen eines real existierenden Clans aus unschuldig inmitten ihrer Familie, die Eltern Anders als die Originalprotokolle aus dem Bremen. Buchholz hat für ihr Buch gründlich betreiben eine Gaststätte, die dem Buch ihren Auschwitz-Prozess bewegt sich das Buch aller- recherchiert, unter anderem bei verschiedenen Titel gibt, Deutsches Haus. dings nie entlang einer Schmerzgrenze. Die Le- Landeskriminalämtern. So sind die vermeint- Eva ist fast erwachsen, sie will bald heiraten, ser von Deutsches Haus können sich auf ein Hap- lichen Araber in Wahrheit Mhallamiye, eine ihr Bräutigam kommt an einem Sonntag zum py End verlassen. Die Autorin Hess agiert bei Volksgruppe, die ursprünglich aus dem Süd- ersten Mal auf Besuch zu den Eltern. Die Stim- diesem Projekt selbst als eine Art Übersetzerin: osten der Türkei stammt und später vor dem mung ist etwas angespannt, frühe Sechziger- Sie hat die historischen Zeugnisse, die ein hes- Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland floh. jahre, die Frage, ob der Heiratsantrag erfolgen sischer Justizminister 1965 vor dem Schredder »Wir haben es mit einer verhältnismäßig jungen wird, liegt in der Luft. Als das Telefon klingelt bewahrte, in eine Fiktion eingefügt. Bereits vor und schlichten kriminellen Struktur zu tun«, und Eva, die in einem Übersetzungsbüro ar- seinem Erscheinen in Deutschland wurde der sagt ein Polizist im Roman. beitet, zu einem dringenden Auftrag gebeten Roman in 14 andere Länder verkauft. Doch zum Glück hat die Autorin kein Sach- wird, verdirbt das den Nachmittag. Ein Fahrer Claudia Voigt buch geschrieben; im Gegensatz zu den Ma- bringt sie zu einem Gebäude in der Frankfurter chern der deutschen Fernsehserie »4 Blocks« Innenstadt, sie betritt ein Büro, in dem drei neigt sie auch nicht dazu, Verbrecher zu glori- fizieren. Vielmehr perfektioniert Simone Buch- holz seit ihrem Debüt Revolverherz (2009) ein Leitfaden für eigenes Genre, das man »Hamburg Noir« Anfangs macht sie nennen könnte, Raymond Chandler auf St. Verfassungspatrioten Pauli, rotzige Melancholie mit grimmigem Hu- Fehler, das Wort mor. Jeder Satz sitzt. »Früher, als ich noch ein »vergast« Ahmad Mansour: Klartext zur glattes Gesicht hatte, war ich manchmal hier, um an einem kaputten Gesicht zu arbeiten«, Integration. Gegen falsche Integration verwechselt sie mit sagt die Icherzählerin, die Staatsanwältin Chas- und Panikmache. tity Riley, zum Beispiel über das Le Fonque, »erleuchtet«. S. Fischer; 304 Seiten; 20 Euro. einen Klub im Hamburger Schanzenviertel, den Buchholz nicht erfinden musste, weil es ÄHREND SICH in ihn tatsächlich gibt. Mit Rileys Kodderschnau- Männer auf sie warten. »Einer von ihnen, ein W Fantasien über eine Revolution gegen ze (»Wir trinken was Langsames«) erzählt die älterer, kleiner Herr, saß kerzengerade in der das System Merkel ergeht, hysterisiert sich auf Autorin von Einsamkeit, von Kaffee und Ziga - Mitte des Raumes auf einem Stuhl, als sei das der anderen Seite die Linke, Schulz poltert im retten, von gescheiterter Integration und ge- ganze Zimmer, das ganze Haus nur um ihn he- Bundestag, beschwört die Gefahr des Fa- scheiterten Liebesbeziehungen; die Krimihand- rum gebaut worden. Vielleicht sogar die ganze schismus – dazwischen, relativ sprach- und rat- lung läuft in Mexikoring eher nebenbei. Simone Stadt.« Er heißt Josef Gabor, und Eva versucht los: die bundesdeutsche Mitte, die dieses Land Buchholz liebt ihre Figuren, sie liebt ihre zu übersetzen, was er auf Polnisch zu erzählen immer getragen hat. Dass es einen Weg gibt Stadt – je kaputter, desto besser. Martin Wolf

Die Zeit verstehen Ein Heft zur Buchmesse 6

lang wie zwischenstaatliche Konflikte, und sie ße Revolution (die Amerikanische und die Kampf ohne Feind neigen dazu, immer wieder aufzuflammen, Französische bilden keine Ausnahme) auch ein denn »die wahrscheinlichste Folge eines Bür- Bürgerkrieg. und ohne Grenzen gerkriegs ist ein weiterer Bürgerkrieg«. Schlim- Die Geschichte der Bürgerkriege sei des- mer noch: Bürgerkriege respektieren keine halb immer auch eine Geschichte, die sich in David Armitage: Bürgerkrieg. Grenzen, schlagen Millionen in die Flucht und Ideen bewegt, meint Armitage. Bürgerkrieg ist verleiten fremde Mächte zur Intervention. Im ihm zufolge kein deskriptiver, sondern ein poli- Vom Wesen innerstaatlicher Konflikte. Jahr 2015 waren 20 der gezählten 50 inneren tisch-normativer und deshalb umstrittener Be- Aus dem Englischen von Konflikte von Afghanistan bis zum Jemen so- griff. Sein Gebrauch beinhaltet Werturteile und Sebastian Vogel. Klett-Cotta; genannte internationalisierte Bürgerkriege. Deutungen, er hat symbolisches und politisches 396 Seiten; 25 Euro. Umso erstaunlicher scheint es, dass Bürger- Gewicht, weil er Legitimität verleihen oder ab- kriege ein weitgehend brachliegendes For- sprechen, Interventionen rechtfertigen oder schungsgebiet der Sozialwissenschaften geblie- nach dem Prinzip der Nichteinmischung in in- D ER UNHEIL VERKÜNDENDE Begriff, nere Angelegenheiten eines souveränen Staats den die Römer im ersten Jahrhundert vor verbieten kann. unserer Zeit erfanden, ist ein Paradox, sogar ein Der Befund, dass ein Bürgerkrieg tobe, be- Widerspruch in sich: »bellum civile«, Bürger- Was ein Bürgerkrieg stimmt unter anderem darüber, welche Grund- krieg. Was kann an einem Krieg schon bürger- ist, liegt im Auge sätze des Kriegsrechts und des humanitären lich oder zivil sein? »Keinem fremden Schwert«, Völkerrechts angewandt werden können – und klagte der Dichter Marcus Annaeus Lucanus, des Betrachters. Es am Ende auch darüber, Schuldige zu identifi- ein Neffe des Philosophen Seneca, »gelang es, zieren und Kriegsverbrecher zu verurteilen. so tief in die Eingeweide einzudringen: Römer- hängt davon ab, Deshalb ist schon die Verwendung des Begriffs hände schlugen diese Wunden.« Der Bürger- stets Teil des Konflikts. krieg ist ein verfluchtes Unding, es dürfte ihn ob man Herrscher »Unseren Vorstellungen vom Bürgerkrieg gar nicht geben, er müsste ein universelles Tabu oder Rebell ist, sind die Schmerzen von 2000 Jahren einge- sein wie der Inzest, denn er verweist auf eine schrieben«, lautet das Fazit des Historikers. Ursünde der Menschheit: den Brudermord, der Sieger oder Besiegter. Umso beunruhigender ist der Gedanke, dass am Anfang aller Brüderlichkeit steht. im 21. Jahrhundert alle Kriege Bürgerkriege Für die Römer hatte der Begriff »Krieg« tra- sein könnten. Und umso verzweifelter die Hoff- ditionell eine ganz bestimmte Bedeutung. Sie ben sind. Wie Armitage anmerkt, gibt es kein nung, dass zumindest in Europa die Demokra- meinten damit einen bewaffneten Konflikt, der großes Werk mit dem Titel »Vom Bürgerkriege«, tie uns schützen werde. Denn was ist Demokra- im Namen einer gerechten Sache – üblicher- das neben dem von Carl von Clausewitz über tie anderes, um Clausewitz zu variieren, als die weise der Selbstverteidigung – gegen einen äu- den Krieg oder dem von Hannah Arendt über Austragung von Bürgerkrieg mit friedlichen ßeren Feind ausgefochten wurde. Der Bürger- die Revolution stehen würde. Ja, es gibt noch Mitteln? Romain Leick krieg war etwas, das alle Regeln und Gesetze nicht einmal »eine allgemein akzeptierte Defi- verletzte, denn auf der Gegenseite standen nition dafür, die man ohne Fragen oder unbe- »cives«, Mitbürger. Die Feinde waren nicht die stritten hätte benutzen können«. anderen, sondern die eigenen, oft genug sogar In jedem Krieg, so auch im Bürgerkrieg, Familienangehörige. Und einen Kampf gegen werden Worte und Begriffe zu Schlagwörtern Katzenjammer sie konnte man schwerlich als gerecht bezeich- der Propaganda. Was ein Bürgerkrieg ist, liegt nen, denn ein solcher setzte sowohl einen legi- im Auge des Betrachters; es kann davon abhän- Nino Haratischwili: Die Katze timen Feind als auch einen angemessenen gen, ob man Herrscher oder Rebell ist, Sieger Grund zur Selbstverteidigung voraus. oder Besiegter. und der General. »Die Vorstellung vom Bürgerkrieg, die da - Etablierte Regierungen betrachten Bürger- Frankfurter Verlagsanstalt; raus erwuchs, war absichtlich widersprüchlich: kriege stets als Aufstände oder illegale Unruhen, 750 Seiten; 30 Euro. ein Krieg, der kein Krieg sein konnte, gegen gar als terroristische Aktivitäten, die sich gegen Feinde, die eigentlich keine Feinde waren«, die legitime Autorität richten. Nicht anders ver- schreibt der britische, an der Harvard Univer- fahren der syrische Präsident Baschar al-Assad E IGENTLICH HÄTTE Nino Haratischwili sity lehrende Historiker David Armitage. Sein und sein russischer Verbündeter Wladimir Pu- den Grund für das Scheitern ihres neuen neues Buch ist eine ideengeschichtliche Ausein- tin, während die Opposition den Anspruch er- Romans Die Katze und der General schon im andersetzung mit dem Bürgerkrieg, eine »intel- hebt, einen Widerstands- oder Freiheitskampf Schicksal der von ihr erfundenen Heldin er- lektuelle Genealogie«, die von der griechisch- zu führen. kennen können: Eine junge Frau, Georgierin römischen Antike bis in die Gegenwart führt. Analog dazu weigerte sich die US-Regie- in Deutschland, gut integriert, aber mit dieser Eine allumfassende Theorie des Bürgerkriegs rung nach dem Irakkrieg 2003 lange, das Heimatsehnsucht im Herzen, soll sich für viel will der Autor ausdrücklich nicht entwickeln, Chaos, das sich nach dem amerikanischen Ein- Geld in eine Tschetschenin verwandeln, die wohl aber »die Ursachen unseres derzeitigen marsch in das Land entwickelte, als Bürgerkrieg Opfer eines Verbrechens wurde. Nur für einen Unbehagens« angesichts der wuchernden Viel- zu bezeichnen. Terrorismus? Aufstand? Viel- Moment. Nur für die Dauer eines Kunstwerks. falt innerstaatlicher Kriege aufdecken und er- leicht. Aber ein Bürgerkrieg? Ganz sicher nicht. Nur für die Dauer eines Videodrehs. Nur klären, »warum wir im Zusammenhang mit dem Sonst hätte die US-Regierung ja zugeben müs- äußere Ähnlichkeit als Voraussetzung für die Bürgerkrieg immer noch so verwirrt sind und sen, dass die von ihr unterstützte irakische Re- Ineinssetzung? Nur Geld als Motiv, um es zu es ablehnen, ihm ins Gesicht zu sehen«. gierung ihre Autorität verloren hatte – und die tun? Wegschauen ist kaum noch möglich. Seit US-Streitkräfte Teil und Partei eines Bürger- Die in Georgien geborene, deutsche Auto- 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetherr- kriegs geworden waren. Sie hätte entweder auf rin Nino Haratischwili, die das georgische Jahr- schaft haben sich weltweit nur fünf Prozent al- den Sieg der einen Seite setzen oder einen wür- hundertepos Das achte Leben (Für Brilka) schrieb, ler Kriege zwischen Staaten abgespielt. Dafür delosen Rückzug antreten müssen, um sich hat sich für ihr neues Buch eine Welt anverwan- waren zu jedem Zeitpunkt durchschnittlich 20 nicht immer tiefer in das selbst gemachte Di- delt, die nicht die ihre ist. Es ist mühsam kon- innerstaatliche Kriege im Gang. lemma hineinziehen zu lassen. struiert, die Figuren wirken ausgedacht, in all Die Bilanz ist niederschmetternd. Bürger- Behalten Rebellen dagegen die Oberhand, ihren Eigenschaften grell übertrieben. Die kriege, die »nach und nach zu der am meisten verklären sie ihren Kampf häufig als Revolu- Autorin vertraut ihrer Geschichte selbst nicht, verbreiteten, charakteristischen Form organi- tion. Armitage zeigt, wie seit der Aufklärung deshalb stattet sie den Roman mit zu vielen sierter Gewaltanwendung durch Menschen« ge- die Begriffsfelder von Bürgerkrieg und Revo- Adjektiven und zu viel Drama aus. Wenn das worden seien, forderten in jüngster Zeit an die lution gezielt zu Gegensätzen mit unterschied- Buch dann – Achtung, Super-Spoiler – allen 25 Millionen Todesopfer. Ihr jährlicher Preis lichen moralischen, politischen und rechtlichen Ernstes nach 750 Seiten um »fünf vor zwölf« liegt bei rund 123 Milliarden Dollar, ungefähr Folgen erklärt wurden. Bürgerkriege wirkten mit »Russisch-Roulette« in einem Spiegelkabi- ebenso viel, wie der Norden jedes Jahr an Wirt- in dieser Interpretation rückwärtsgewandt und nett endet, hofft man, dass durch irgendein schaftshilfe für den Süden gibt. Bürgerkriege destruktiv, Revolutionen fruchtbar und pro- Wunder die eine Kugel im Revolver alle ver- suchen meistens die ärmsten Länder der Welt gressiv. So einfach ist die Geschichte aber bliebenen Romanfiguren niederstreckt. heim, sie dauern in der Regel etwa viermal so nie; in Wirklichkeit, so der Autor, sei jede gro - Volker Weidermann

Die Zeit verstehen Ein Heft zur Buchmesse 7

tentreff Wissenschaftliche Schule Basilio. Das »Ausfahrt freihalten« Personal, das sich an diesen Orten trifft, ist einigermaßen unübersichtlich. Bäcker, Kiosk- oder »Freiheit aushalten«? verkäufer, Mechaniker kommen vor, jede Men- ge Nonnen und Schülerinnen, Streifenpolizis- María Cecilia Barbetta: ten und eine Anwaltsfamilie. Manche Figur, die gerade anfing, das Interesse zu wecken, ver- Nachtleuchten. schwindet für mehrere Hundert Seiten wieder. S. Fischer; 528 Seiten; 24 Euro. Eine Art Hauptfigur gibt es dennoch, sie ist kein Mensch, sondern eine Madonna, eine Plas- tiknachbildung der berühmtesten Marienstatue K ANN MAN UNSERE Zeit besser verste- des Landes. hen, wenn man einen Roman über Argen- Die »Madonna von Ballester«, die im Dun- tinien während der Siebzigerjahre liest? Diese keln »in einem dezenten, fluoreszierenden Frage ist schon deshalb mit Ja zu beantworten, Grün« leuchtet, wird von der Klosterschülerin weil das Deutschland der Gegenwart ein Ein- Teresa Gianelli von Haus zu Haus getragen. wanderungsland ist und ein wachsender Anteil Damit will die herrlich altkluge Teresa – theo- der Menschen, die hier leben, Kindheitserinne- logisch so sattelfest wie kaum eine Elfjährige – rungen hat, in denen kein Wirtschaftswunder ihren Beitrag leisten zur Öffnung der katholi- Der Mann, der mit und kein autofreier Sonntag vorkommen, kein schen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Boris Becker, kein »Wetten, dass..?«, keine Love Konzil. Am Ende ist es die Plastik-Madonna, 77 Jahren die Bundes - Parade. Wir sollten uns die verschiedenen Über- die die vielen, vielen Fäden über Zeit und Raum lieferungen unserer Familien gegenseitig er - hinweg zusammenführt. republik herausfordert zählen, nicht nur, aber erst recht, wenn sie so Viel zu lernen gibt es über die Rolle der kunstvoll erzählt sind wie die von María Cecilia Kirche in der argentinischen Gesellschaft, zwi- Olaf Sundermeyer: Gauland. Barbetta. schen Befreiungstheologie und Kollaboration Die Love Parade könnte Barbetta gerade mit der sich ankündigenden Militärjunta. Auch Die Rache des alten Mannes. schon mitbekommen haben, sie kam 1996 mit das Bild des gegenwärtigen Papstes – er kommt C. H. Beck; 176 Seiten; 14,95 Euro. einem Stipendium des Deutschen Akademi- im Roman nicht direkt vor, leitete zu dessen schen Austauschdienstes von Buenos Aires, wo Handlungszeit aber den argentinischen Teil des sie 1972 geboren wurde, nach Berlin. In ihrem Jesuitenordens – wird für den Leser plastisch; D ER AFD-VORSITZENDE Alexander zweiten Roman Nachtleuchten kommen auch das Zusammenspiel von dogmatischen Ansich- Gauland ist ein rätselhafter Mann. Viele, Sportler vor, aber es sind die Fußballer der ten und sozialem Engagement durchzieht auch die ihn noch als hessischen CDU-Politiker ken- Boca Juniors; es kommt Popkultur vor, aber es den Roman. nen, der konservativ war, sich aber mit der ist ein Auftritt des Filmmusikkomponisten Lalo Die weitaus größere Stärke von Nachtleuch- Frankfurter Linken traf und ein Buch im Suhr- Schifrin (»Mission: Impossible«); und natürlich ten ist jedoch die Sprache: María Cecilia Bar- kamp Verlag veröffentlichte, stehen fassungslos geht es um Politik: Das Schicksal des Präsiden- betta besuchte zwar in jener Vorstadt Ballester vor seinem Wandel zum Chef einer rechtsradi- ten Juan Domingo Perón, seiner verstorbenen einen deutschen Kindergarten, sprach zu Hau- kalen Partei, die meisten haben den Kontakt Frau Evita und seiner Witwe und Nachfolgerin se aber Spanisch. Dennoch schrieb sie schon abgebrochen. Ähnlich geht es den Menschen, Isabel geistert immer wieder durch die Dialoge ihr literarisches Debüt Änderungsschneiderei Los die ihn in Potsdam als Herausgeber der »Mär- des Buches, wird in Wandsprüchen kommen- Milagros (2008) auf Deutsch. Vielleicht ist es kischen Allgemeinen« erlebten. tiert, bildet dessen Gerüst. so, dass eine Sprache, die nicht die Mutter - Der Journalist Olaf Sundermeyer, der schon sprache ist, einem beim spielerischen Umgang mehrere Bücher über die radikale Rechte in weniger Zurückhaltung abverlangt. Brillant, Deutschland geschrieben hat und der Gauland Hinter jeder kleinen wie Barbetta in drei Sätzen von einer »kleinen seit Jahren kennt, hat nun ein bemerkenswertes Wasserpfütze«, die ein Hund hinterlässt, über Buch über ihn geschrieben: über den Mann, Sinnverschiebung eine Figur, die sich »längst verpisst hat« zum der mit 77 Jahren die Bundesrepublik Deutsch- herrlichen Meckerstatement gelangt: »Mir land herausfordert, den wütenden alten Mann. könnte eine andere, stinkt’s. Wir werden von der Regierung und Sundermeyer beschreibt einen Politiker, gefährliche ihren rechten Handlangern angepinkelt, und dessen strategische Klugheit, politische Erfah- die Zeitungen wollen uns glauben lassen, es rung und Skrupellosigkeit zu den Hauptgrün- Wahrheit stecken – regnet.« den für den Aufstieg der AfD zählen. Schon Wortspiele sind einfach ihre Leidenschaft, unter Helmut Kohl habe Gauland gemerkt, an diese Tradition sonst würde die Wäscherei nicht Clean East- dass die CDU konservative Positionen preis- wood heißen; deren Betreiber bereuen die Na- gebe, und die Kränkung, von seiner Partei nicht der argentinischen menswahl allerdings, nachdem die erfolgreichs - mehr gebraucht zu werden, habe ihn dann zur Literatur knüpft te Rolle des Schauspielers ausgerechnet die des AfD geführt. Bei den hessischen Grünen habe »Dirty Harry« wurde. Bei den Kindern in der er sich abgeschaut, wie eine moderne Partei Barbetta an. Nachbarschaft wiederum herrscht Verwirrung, sich immer wieder politische Bewegungen zu- was man eigentlich in einer Kirche darf, wenn nutze machen könne, um zu wachsen; dank Pe- man »noch nicht Erstkommunist« ist. gida in Dresden habe er verstanden, wie wichtig Dies ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen, Hinter jeder kleinen Sinnverschiebung die ostdeutsche rechte Unzufriedenheit für die denn dass der Roman aus drei Teilen mit jeweils könnte eine andere, große, vielleicht gefährli- AfD sein könne. Gauland war es, der ein Netz- 33 Kapiteln besteht (und einem resümierenden che Wahrheit stecken – an diese Tradition der werk initiierte, das die AfD überall in Deutsch- hundertsten), ist eine Hommage an Evita Perón, argentinischen Literatur von Borges oder Cor- land in die Lage versetzt, Straßenproteste los- die 1952 mit 33 Jahren starb, und zur Zeit der tázar knüpft Barbetta an. Aus »Ausfahrt frei- zutreten. Handlung 1974/75 die Argentinier noch immer halten« wird ganz leicht »Freiheit aushalten«. Eines von Gaulands Vorbildern, schreibt polarisierte. Auch in der Vorstadt Ballester, die Doch sie lässt auch einen »nicht ausgereiften Sundermeyer, sei der französische Fürst Talley- der Schauplatz von Nachtleuchten ist. Friseur Prototyp von E. T. auf eine E.-T.-A.-Hoffmann- rand, ein skrupelloser Techniker der Macht. Celio schlägt für die dortige Lokalzeitung zum Figur« treffen, fügt spielerisch internationale Gauland hasse nicht selbst, mache »sich aber Beispiel eine biografische Evita-Studie anhand Science-Fiction und deutsche Schauerromantik den Hass der Enthemmten zunutze«. Deshalb ihrer wechselnden Frisuren vor, bis hin zur Pha- hinzu. sei er so gefährlich. Gauland will die AfD zu se des »strengen Dutts, der zu ihrem Marken- Nachtleuchten steht auf der Shortlist für den einer Volkspartei machen, die mit einer orien- zeichen wurde und nun dreist kopiert wird«. Deutschen Buchpreis, Barbetta ist eine der drei tierungslosen CDU nach dem Ende der Ära Im Mittelpunkt des Romans steht zunächst von sechs Nominierten, die nicht in Deutsch- Merkel auf Augenhöhe über die Macht verhan- die katholische Privatschule Instituto Santa land geboren sind. Sonst hätte sie diese Ge- deln können soll. Bislang sind seine Pläne noch Ana, im zweiten Teil dann eine Kfz-Werkstatt schichte nicht so erzählen können. Gut, dass alle aufgegangen. Tobias Rapp namens Autopia und schließlich der Spiritis- sie es getan hat. Felix Bayer

Die Zeit verstehen Ein Heft zur Buchmesse 8 Ein Leben auf der Flucht, ein Leben im Legenden Stillstand – Jennifer Clement beschreibt es aus der Perspektive der Tochter, die eine erstaunlich einer Sexualität hohe Toleranz für die Entbehrungen und die Gewalt in ihrer Welt hat. Ihre Imaginationskraft Bodo Kirchhoff: Dämmer und mag ihr dabei helfen. Eines Tages entdecken die Trailerpark- Aufruhr. Roman der frühen Jahre. Bewohner am Sumpfrand frisch geschlüpfte FVA; 480 Seiten; 28 Euro. siamesische Alligatorenzwillinge. Reporter kommen von überallher, das Trailerpark-Nichts wird auf einmal zu einem Punkt auf der Land- ER SCHRIFTSTELLER Bodo Kirchhoff, karte. Das allerdings gefällt nur wenigen der D 70, ist als Schüler von einem Internats- Bewohner, eines Morgens sind von den Repti- lehrer missbraucht worden: eine Erfahrung, die lienbabys nur noch Fleischreste übrig, jemand sich in vielen seiner Bücher niedergeschlagen hat sie in der Nacht erschossen. Eine Schuss- hat, aber noch in keinem so direkt und deutlich, waffe besitzt jeder. so unverfremdet wie in diesem. Dämmer und Vor Gun Love hat die US-Amerikanerin Erektion des gesunden Aufruhr ist ein Roman, lässt sich in weiten Tei- Clement den Mexiko-Roman Gebete für die len aber auch als Autobiografie lesen. Vermissten herausgebracht, ebenfalls eine Mut- Menschenverstands Kirchhoff, der Buchpreisträger des Jahres ter-Tochter-Geschichte voller Gewalt: Die Alte 2016, findet eine literarische Sprache für das, versteckte die Junge in einer Erdhöhle, damit Steven Pinker: Aufklärung Jetzt. was ihm geschehen ist: eine Sprache, die es ihm sie nicht von der Mafia zur Prostitution gezwun- erlaubt, Kontrolle über das Geschehen zu ge- Für Vernunft, Wissenschaft, winnen, eine Distanz zu ihm, die aber trotzdem Humanismus und Fortschritt. Raum lässt für Zwischentöne und Fragezeichen. Eine Verteidigung. Manche der Sätze sind lang, atemlos drängen Eine Welt, in der Aus dem Amerikanischen von Martina sie vorwärts, fast keuchend, als überfluteten ihn Wiese. S. Fischer; 736 Seiten; 26 Euro. die Erinnerungen, als risse ihn die Kraft der Männer überwiegend Sexualität noch heute davon. In anderen Pas- sagen tastet er sich voran, Detail für Detail, lie- als Bedrohung O STEHEN WIR, und wo geht es hin? fert mehr Bildbeschreibung als Erzählung. In W Wie sein Bestsellerkollege Yuval Noah der Erinnerung zerfällt unsere Geschichte ja vorkommen. Harari ist auch der US-Psychologe und Har- meist in Bilder, nicht in Geschichten. vard-Professor Steven Pinker ein Mann, der Der junge Kirchhoff wirkt in den Erinnerun- weder Angst vor großen Fragen hat noch vor gen des alten Kirchhoff nicht wie ein Opfer, er gen werden konnte. Wie in dem Vorgänger - deren Beantwortung. Er ist bekannt als Vertei- wirkt allenfalls überwältigt, verstört – und das roman beschreibt Clement nun auch in Gun diger der faktengestützten Zuversicht: Nach- ist vielleicht das Beste, das Wichtigste, was sich Love mit lakonischer Präzision das Überleben weislich sind deutlich weniger Menschen arm über das Buch sagen lässt. Es erzählt keine ein- in einer Welt, in der Männer überwiegend als als noch vor 20 Jahren, nehmen Gewalttaten fache Geschichte, weil es die ganze Geschichte Bedrohung vorkommen; die Fantasie dient der wie Kriege kontinuierlich ab, wird die Land- erzählt. Kirchhoff gelingt das, was den Opfern Rettung aus dem Elend. Trailerpark-Poesie. wirtschaft effizienter; die Gesundheitsvorsorge und vor allem den Klägern in der #MeToo- Christian Buß erreicht inzwischen fast jeden Zipfel der Erde, Debatte allzu oft nicht gelang: den Blick offen- die Ökologie ist, wie die Durchsetzung der zuhalten für die Widersprüchlichkeiten mensch- Menschenrechte, auf der internationalen Agen- lichen Empfindens. Zum Beispiel dafür, dass wir da … Dies alles ist nicht von selbst geschehen; uns automatisch aufgewertet fühlen, mitunter die Aufklärung, der kantsche »Ausgang aus der gar erregt, wenn wir ein sexuelles Interesse an Große europäische selbst verschuldeten Unmündigkeit« machte uns spüren. den Weg frei für die Naturwissenschaft, der Hu- Dämmer und Aufruhr ist ein rücksichtsloses Gesprächstherapie manismus konnte sich praktisch als wertvoll er- Buch. Rücksichtslos vor allem seinem Autor Tobias Becker weisen – so weit, so bekannt und grosso modo gegenüber. Andreas Rödder: Wer hat Angst auch unbestritten. Die Wahl von Donald Trump, der Aufstieg vor Deutschland? Geschichte eines des Populismus, die Leugnung des Klimawan- europäischen Problems. dels sind da aktuelle Störfelder, die Pinker zu S. Fischer; 368 Seiten; 20 Euro. seiner Verteidigungsschrift veranlassten: Zum Die Fantasie als Zurücklehnen, so seine Bilanz, gibt es keine Veranlassung, zum Optimismus aber durchaus. Rettungsschirm AHRHUNDERTELANG machte Deutsch- Die Probleme lassen sich lösen, Fatalismus gilt J land seinen Nachbarn Angst. Es war zu groß es zu bekämpfen, und je mehr man weiß, umso Jennifer Clement: Gun Love. für das europäische Mächtegleichgewicht, es zufriedener darf man, vom Hochstand des pri- galt als militaristisch und unberechenbar. vilegierten freien Bürgers aus, auch sein. Aus dem Amerikanischen von Deutschland wiederum fühlte sich von seinen Es ist, auch bei allergrößter Sympathie für Nicolai von Schweder-Schreiner. Nachbarn missverstanden, viel weniger mächtig diese Haltung, kein Vergnügen, dieses Buch zu Suhrkamp; 252 Seiten; 22 Euro. als angenommen, um seinen Ort an der Sonne lesen. Pinkers Redseligkeit erinnert fatal an die betrogen. Der Mainzer Historiker Andreas letzten Reden des Commandante Fidel Castro, Rödder, 51, hat aus der Geschichte dieser Miss- er fängt bei Adam an und hört bei Urban noch ER BRAUCHT SCHON Freundinnen, verständnisse, die bis in die heutige Zeit hinein- lange nicht auf. Die Geschichte der Philosophie W Puppen oder ein Kinderzimmer, wenn reichen, ein kluges Buch gemacht. Wer hat Angst ist bei ihm eine Erektion des gesunden Men- er eine Mutter hat, deren Atem nach fünf Sor- vor Deutschland? beschreibt, wie sich Deutsch- schenverstands, und seine Liebe zur Statistik ten Fruchtbonbons riecht? Man könnte sagen, land und seine Nachbarn in den vergangenen kennt keine natürliche Erschöpfung. Es wäre Pearl lebt ein glückliches Leben, zumindest 200 Jahren gegenseitig gesehen haben. Das hat außerdem nicht von Schaden gewesen, der deut- kommt es ihr so vor, sie hat ja keinen Vergleich. etwas von einer großen Gruppentherapie der schen Ausgabe im Lektorat eine letzte Durch- Als Pearl vor 14 Jahren geboren wurde, war ihre europäischen Familie – auch da ist ja das Wich- sicht zu gönnen, das hätte dem Leser Kalauer Mutter noch minderjährig und floh aus ihrem tigste, die Perspektive des anderen als gleich- wie »die Epoche war ein Füllhorn« und Sätze gewalttätigen Elternhaus. Seitdem wohnen berechtigt wahrnehmen zu können. Was bei wie diesen erspart: »Am Anfang des Buches Pearl und ihre Mutter in einem alten Ford allen Schwierigkeiten, vor denen Europa gera- stand eine nichtmystische, nicht can-doistische, Mercury, der auf dem Besucherparkplatz eines de steht, am Ende zuversichtlich stimmt: Pro- nicht panglossische Erklärung, warum Fort- Trailerparks im sumpfigen Nirgendwo Floridas bleme, über die man reden kann, können auch schritt möglich ist.« Parbleu! Elke Schmitter steht. bewältigt werden. Tobias Rapp Music Universal / Getty Images; Portfolio Mondadori / / Electa Bardazzi Remo Fotos:

Die Zeit verstehen Ein Heft zur Buchmesse Kulturprogramm ihn langeden Bauern-Bruegel, washarm- Vogeldieb aufdemBaum. Man nannte Spielen,der Küssen, dieKinderbeim Tanz, beim Arbeit, Trinken beim und bei der Sinnbildliches dazu.DieDörfler undausdemAlltag,viel zu Babel«) Motive (wieden»Turmbau ausderBibel nete Landschaften,kleineOrte,wählte ein, inseineZeitzuversinken. Erzeich- – lädtdazu nungen, dieDruckgrafiken dazudieZeich- die Gemälde, Bruegels – eigens entwickeltenGerät. Jedes Bild –miteinem hochauflösend fotografiert (undihrennen Arbeiten Detailreichtum) alleeige- dieExperten außerdem haben der KHM-Bilderwurde restauriert, noch mehr alsjedesandere Museum. Eines 12davonunddamit KHM alleinbesitzt überdauert,das haben seinerGemälde er starbvorbald450Jahren. Etwa40 lebte im16.Jahrhundert,in Antwerpen, weise ineinemOrtnamensBruegel oder Bruegel,trieben. geboren möglicher- und kunsthistorischeForschungen be- wurden intensivenaturwissenschaftliche JahreSechs langwurde sievorbereitet, erste monografischeSchau überhaupt. sationell umfassende Ausstellung,die ler PieterBruegel dem Älteren einesen- Ruf undAnspruch angemessen, demMa- ten seinerArt.Nun widmetes,seinem KHM) inWien isteinesderbekanntes- ● Kunst |Jazz |Klassik |Theater |Serien |Pop |Games |Kino Kunst Das KunsthistorischeMuseum (kurz: Das Wien feiert Museum, 2.Oktober bis 13. Januar Menschenkenner. Älteren als Malerlegende und Pieter Bruegel den Jgri cne o itrBugld Ä.(1565)»Jäger imSchnee« von Pieter Bruegel d. Kunsthistorisches . (Hautkrebs). (löst Rachitis aus) und auch vor zuviel ▼ Shine onme: Wir unddieSonne. Lee Bul:Crash. wiederineinigenJahrhunderten. wieder vorkommen.Vielleicht erst wird indiesemUmfang soschnellnicht geschickt werden, und istspektakulär York. aufReisen diealtenSchätze Dass Rom,MadridAntwerpen, undNew dem Auslanderhalten,etwaausBerlin, KHMwirdaus Leihgaben Das gehoben. hervor- dermenschlichenSpezies« gabe der, seine»scharfsinnige Beobachtungs- sollte).In Wien wird, sehrvielzutreffen- malenden Nachkommen abgrenzen los klingt(undihnvonseinenebenfalls 28. September bis 18. August. schaftler vor zuwenig Sonnengenuss man Sonnengötter, heute warnen Wissen- denden Himmelskörper. Früher erfand Verhältnis derMenschen zumLicht spen- kulturhistorische Ausstellung überdas in dennächsten Sommer hinein) eine gute Idee: imdeutschen Herbst (und bis bis 13. Januar. vorstellten. der Vergangenheit ihre utopische Zukunft derem derFrage gelten, wie sich Leute in Installationen und Performances unter an- geborenen Koreanerin Lee Bul,deren von ihrkuratierte Ausstellung giltder1964 der Spitze des Gropius Baus. Die erste Kunsthistorikerin Stephanie Rosenthal an

Ulrike Knöfel DRESDEN Weitere Ausstellungen BERLIN Gropius Bau, 29. September Deutsches Hygienemuseum, Seit Februar steht die Eine »50 Years MPS«wiederfinden,dernun ● ahenmVrerufl.nach einemVerkehrsunfall. HGBSstarb2004 umph nichterleben. spielt werden. Erselbstwird diesenTri- einge- Musik derSechziger imSound gehenundaktuelle wieder inBetrieb sogar Brunner-Schwers originalesStudio Musiker verpflichtete. soll Dezember Im nahm, wiederveröffentlichte undneue 2014 denumfangreichen Katalog über- Edelzuverdanken, das ist demLabel 50Jahre MPSüberhaupt altwurde,Dass von ChinaMoses, Malia RolfKühn. oder Angereichert mitaktuellenAufnahmen erscheint. desLabels zum 50.Geburtstag sich auchaufdemJubiläumssampler Musiker, alles die Monty Alexander– Henderson, George Duke,BadenPowell, vonJoe EswarderSound bestimmten. indenKellernPlatten, diedenSound Jazz hipwurde, waren esvorallemMPS- Als indenNeunzigerjahren derAcid- Freunden genanntwurde, zahltesichaus. von mut vonHGBS,wieBrunner-Schwer Verveschen Label loszueisen.DerLang- Peterson vomrenommierten amerikani- gelangesMPSsogar, Schließlich toben. konnten sichdieMusiker kreativ soaus- runter, keinemanderen dennbei Label ten nachVillingen, vieledeutscheda Zahlreiche MusikerGewohnten. pilger- bundesrepublikanische Nachkriegsohren dagegen sprengte alleRahmendesfür DieMusikProduktion Schwarzwald«. zel steht,herrlichspießig,für »Musik gegründeten Jazzlabels MPS. Kür- Das Konzert wurde dieKeimzelle seines1968 Saba. derRadiofirma inhaber Petersons Hans Georg Brunner-Schwer, Mit war.damals zuhaben DerJazzfan war mit demprofessionellsten Gerät auf, das zuundzeichnetejedeNoteoberhalb da. DerhörteverzücktzweiStockwerke stimmte. Nur derIndustrielle warnicht nach zweiUhrmorgens. dieGage Aber des Privatkonzertsweit Beginn Sets, des mervilla nachMitternacht, Aufbau nach Villingen, AnkunftinderUnterneh- dieFahrtdanach noch dieBerge über vor inZürichdauertelängeralsgeplant, Umstände waren widrig,dasKonzert zu- Wohnzimmer auftreten lassenwollte.Die wald erzählte,derPeterson sichim bei ge einesIndustriellen ausdemSchwarz- als ihmseinManager 1963vonderAnfra- nist OscarPeterson kaumwiderstehen, Rolle. Und sokonntederkanadischePia- spieltschonaucheine Geld siasmus. Das auch Jazzer spielennichtnurausEnthu- Jazz Man musssichnichtsvormachen, alt und feiert das miteinem Sampler. legendäre Wie derkanadische Pianist Peterson Pianist Oscar Peterson in denSchwarzwald kam: Das Label MPS wird 50 Jahre Oscar Janko Tietz - - 9 10 Klassik Serien / DVDs

Mozart, ganz wach: Dan Ettinger Die Thrillerserie Deutschland 86 feiert (Hänssler Classic)und Gordan Nikolić die Achtzigerjahre. Ab 19. Oktober bei (Tacet) entdecken Sinfonien neu. Amazon Prime Video.

● Technisch schwer sind sie selten, ● Woran erkennt man einen guten bekannt obendrein – aber gerade das Spion? Daran, dass er diese Fragen rich- macht die Sinfonien von Wolfgang Ama- tig beantworten kann: Wer ist der größte deus Mozart zur Prüfung für Orchester. deutschsprachige Popstar? Wer Bundes- Denn die Balance zwischen galantem trainer? Und wie heißt die beliebteste Rokoko, Melancholie und harmonischen US-Serie in der Bundesrepublik? Wir Kühnheiten zu halten ist schwierig. Dan sind im Jahr 1986, der Kalte Krieg geht Ettinger, seit 2015 Generalmusikdirektor in seine Endphase, aber das ahnt natür- in Stuttgart, zeigt mit seinen Philharmo- lich noch niemand. Und deshalb muss nikern, wie es geht: Pulsierend und wie der ostdeutsche Stasi-Agent Martin neu erfunden präsentiert er die »kleine« Rauch (Jonas Nay) erneut überzeugend und »große« g-Moll-Sinfonie; dazwischen Thomas-Melle-Maske für »Unheimliches Tal« einen Westdeutschen imitieren können. glänzt er als Pia nist. Ebenso fesselnd, Am Ende von »Deutschland 83«, der aber mit ganz anderem Ansatz gehen ersten Staffel der Thrillerserie, hatte Mar- Gordan Nikolić und das Netherlands ▼ Weitere Premieren tin fliehen müssen. In der Fortsetzung Chamber Orchestra zu Werk: Anstelle Theater taucht er wieder auf: im Exil in Mosam- der üblichen Hierarchie saßen die Musi- BERLIN bik, wo er jungen Afrikanern Deutsch ker bei Proben und Aufnahmen in einem In der Performance Eine griechische Trilogie. »Im- beibringt. Mit gutem Willen und öffent- großen Kreis. Verblüffend trennscharf Unheimliches Tal wird der mer, wenn Caroline Peters mit lich-rechtlichem Gebührengeld hätte und mit wunderbar warmem Klang ent- Autor Thomas Melle durch Simon Stone zusammenarbei- man vielleicht auch darüber eine schöne falten sich so »Linzer«- und »Haffner«- einen Roboter ersetzt. Ur- tet, wird sie zur Schauspielerin Serie drehen können, eine Mischung aus Sinfonie. Wohl dem Klassiker, der so aufführung am 4.10. in den des Jahres gewählt«, schrieb »Unser Lehrer Doktor Specht« und »Jen- wache, engagierte Interpreten findet. Münchner Kammerspielen. das Fachblatt »Theater heute«. seits von Afrika«. Aber »Deutschland 86« Johannes Saltzwedel Ob’s auch beim dritten Mal ist eine Krimireihe für den Weltmarkt. ● Mensch oder Maschine – klappt? Uraufführung am 11.10. Also muss der Lehrer zurück ins Agen- wie lange wird es die Grenze im Berliner Ensemble. tengeschäft. Seine Chefin Lenora (Maria noch geben? Der Theater- Schrader), die mittlerweile in Kapstadt macher Stefan Kaegi und der Grundgesetz. Am Tag der für die Stasi arbeitet, braucht Hilfe. Es Schriftsteller Thomas Melle Deutschen Einheit unterzieht geht um Waffendeals mit Südafrikas wei- loten die Linie in ihrer Perfor- die Regisseurin Marta Górnicka ßem Apartheidregime, zum Wohle des mance »Unheimliches Tal« unsere Verfassung mit einem Sozialismus. Die DDR »ist pleite«, sagt neu aus: Kaegi hat einen hu- vielstimmigen Ensemble einem Lenora, bei der Auswahl von Geschäfts- manoiden Roboter konstruie- »chorischen Stresstest«. Das partnern dürfe man daher nicht zimper- ren lassen, eine »animatroni- Gorki Theater eröffnet damit lich sein. Martin soll eine westdeutsche sche Kopie« von Thomas sein internationales Festival Diplomatengattin (Lavinia Wilson) Melle. Die soll nun statt des »War or Peace – Crossroads of verführen. Zur Tarnung kleidet er sich Autors, dem solche Auftritte History 1918/2018«. Am 3.10. wie Boris Becker in seinen besten Zeiten. eher lästig sind, auf Vortrags- vor dem Brandenburger Tor. Mit sanfter Ironie blicken die Serien - reise gehen; Start ist an den macher Anna und Jörg Winger auf die Münchner Kammerspielen. HAMBURG Alltagskultur der Achtziger und ver- Dirigent und Pianist Dan Ettinger In den Werkstätten des Thea- König Lear. Unter Gender - knüpfen dabei reale Ereignisse der ters und in einem Spezial - verdacht: Drei Töchter hat Zeitgeschichte mit einer fiktiven Krimi- studio am Rande Berlins, das Shakespeares alter König, auf handlung. In Moskau regiert Michail ▼ CD-Empfehlungen sonst vor allem im Horror- dem Besetzungszettel stehen Gorbatschow, in Libyen planen radikale filmgewerbe tätig ist, wurde aber nur zwei Frauen. Die Titel- Wüstenkrieger einen Bombenanschlag, Andrea Kauten spielt Klavierkonzerte. das Melle-Double in monate- rolle spielt Edgar Selge, so viel vergleichbar mit dem Attentat auf die Neben Brahms’ erstem erklingt das langer akribischer Arbeit steht immerhin fest. Und Karin Diskothek La Belle in West-Berlin 1986. sehr entdeckenswerte B-Dur-Konzert von gebaut. »Uncanny Valley«, zu Beier inszeniert. Premiere am Und in der DDR streiten Hardliner und Hermann Goetz. Solo Musica. Deutsch »Unheimliches Tal«, 19.10. im Schauspielhaus. Reformbürokraten: Szenen von absurder nennt Kaegi, Mitglied des Komik mit der großartigen Anke Engel- Hildegard von Bingen: Ordo Virtutum. bekannten Theaterkollektivs MANNHEIM ke als Expertin für »Kommerzielle Edle Gregorianik, leuchtend schön zele- Rimini Protokoll, das Projekt. Der Elefantengeist. Der Dra- Koordinierung«. »Deutschland 86« bietet briert von Ars Choralis Coeln. Raumklang. Der Begriff stammt aus der matiker Lukas Bärfuss fragt perfekte Unterhaltung, auch für Robotik und bezeichnet das sich, wie künftige Menschen Zuschauer, die die Achtziger nicht selbst Samuel Hasselhorn: Dichterliebe². Neben Phänomen, dass sich Men- auf Helmut Kohl blicken wer- erlebt haben. Der Agententest könnte Schumann singt der Bariton weitere Heine- schen von künstlichen Wesen den. Könnte sein, dass sich der für diese Zielgruppe allerdings schwierig Vertonungen – faszinierend. GWK Records. eher abgestoßen fühlen, wenn neue Schauspielchef Christian werden. Größter Popstar? Falco. Bun - diese ihnen zu ähnlich sind, Holtzhauer damit gleich Ärger destrainer? Beckenbauer. Und die popu- ▼ Premieren und Konzerte aber eben doch wahrnehmbar einhandelt. Uraufführung lärste US-Serie? Natürlich »Dallas«. anders. Auf seine Art kennt am 29.9. im Schauspielhaus. Oder war es doch »Der Denver-Clan«? BERLIN auch Melle diesen Effekt: Der Die Stasi hätte es gewusst. Martin Wolf E. W. Korngold: Die tote Stadt. Ainārs Schriftsteller ist bipolar und MÜNCHEN Rubiķis dirigiert, Robert Carsen hat in seinem Roman »Die Der nackte Wahnsinn. Das inszeniert das Traumstück von 1920. Welt im Rücken« sehr ein- Ende kommt schneller, als man Komische Oper, 30.9. drücklich beschrieben, wie denkt: Martin Kušej, künftiger sein Verhalten seine Umge- Chef des Wiener Burgtheaters, FRANKFURT/MAIN bung befremdet. Sein Double ist noch bis zum Sommer In- Aris Quartett. Bach, Beethoven, Schosta- wird – mit Melles Stimme tendant am »Resi«, präsentiert kowitsch, profund gedeutet. Alte Oper, 17. 10. natürlich – auch darüber spre- aber schon jetzt seine Ab- chen. Und dem Publikum schiedsinszenierung – Michael HAMBURG zudem die Frage stellen: Eine Frayns durchgedrehte Komö- R. Schumann: Szenen aus Goethes Faust. Bühne ohne lebendige Akteu- die über den Theaterbetrieb. Achim Freyer gibt dem konzertanten Werk re – ist das überhaupt noch Premiere am 19.10. im Resi- szenische Gestalt. Staatsoper, 28.10. Theater? Anke Dürr denztheater. Szene aus »Deutschland 86« Fotos: Stuttgarter Philharmoniker; Dorothea Tuch; Anika Molnar / Amazon Prime; Jo Hale / Redferns / Getty Images / Redferns / Jo Hale Prime; Amazon / Molnar Anika Tuch; Dorothea Philharmoniker; Stuttgarter Fotos: 11

nur mit einem einzigen Kon- Pop / Live zert, was schade ist, weil ihre Shows (genau wie die Videos) Was hat Günter Grass Wie moderner Tanz der zeigen, dass etwa Michael Jack- queeren Französin Christine son sie nicht nur musikalisch, and the Queens geholfen sondern auch tänzerisch beein- nicht gemacht? hat, zum internationalen Pop- flusst hat. Selten sieht man Pop- star zu werden. Berlin, 15.10. konzerte, bei denen der Tanz den Inhalt so gleichberechtigt ● Kürzlich hatte es Héloïse mit der Musik transportiert und a Komponiert Letissier mit einem Plagiatsvor- nicht bloß ornamentales, akro- wurf zu tun: Jemand hatte ent- batisches Showelement ist. b Getanzt deckt, dass ihr Song »Girl- Insofern sah Letissier einen an- c friend« auf dem Preset-Sound deren, älteren Plagiatsvorwurf Gemalt aus einer Musikproduktions- kritischer – als ihre Kollegin d Geschrieben software basiert. Die Französin Beyoncé sich mit der Behaup- reagierte cool: Alles sei zur tung auseinandersetzen musste, Nutzung freigegeben gewesen, eine Videochoreografie von der außerdem habe ja auch keiner Tanzkünstlerin Anne Teresa gemeckert, als Serge Gains- de Keersmaeker abgekupfert bourg sich Chopin-Melodien zu haben. Von der ist Letissier geliehen habe. Gerade dafür alias Christine and the Queens liebe sie Pop, diesen »unreinen nämlich ein Fan, wie auch von Bereich«, deshalb gebe es Pina Bausch. Hoffentlich gibt ihr Projekt Christine and the es bald noch mehr Konzerte Queens ja. Mit dem hat die von ihr, bei denen zu sehen ist, 30-jährige Französin gerade wie gut moderner Tanz, Pop das zweite Album veröffent- aus den Achtzigern und queere Taschenbuch. € (D) 6,–. Verfügbar auch als E-Book licht, »Chris«. In Deutschland Identitätsverschiebungen Felix Bayer präsentiert sie es live zunächst zusammenpassen. Wer gilt als Erfi nder der Kriminalliteratur? Wogegen hat Michael Endes Romanfi gur Momo zu kämpfen? Und wie viele Verse hat ein Sonett? Testen Sie Ihr Wissen mit dem großen SPIEGEL-Wissenstest Literatur: 150 Fragen aus allen Genres und quer durch die Geschichte – kniffl ig, überraschend, lehrreich und immer unterhaltsam.

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der den intimen, von Folk und Pop / Alben Blues beeinflussten Anfängen aus den Neunzigern, oft beglei- Zurück zur Intimität und tet nur eine Gitarre oder ein doch mit großer Wirkung: Klavier Marshalls Stimme. Auf Wanderer ist Cat Power Einer dieser Songs entpuppt sich auf dem Höhepunkt ihres als karge Version von Rihannas Schaffens. Domino, erscheint Popballade »Stay«, auf diese am 5.10. Art coverte sie auch schon »Satisfaction« von den Rolling ● Seit 2012, als sie zuletzt un- Stones. Für die Vorabsingle ter dem Namen Cat Power ein »Woman« holte sich Marshall Album veröffentlichte, ist viel Unterstützung von Lana Del geschehen im Leben von Chan Rey. Mit ihren Gospelanklän- Marshall: eine schwere Krank- gen passt die Selbstvergewisse- heit, die Geburt ihres ersten rungshymne zu ihren soul - Kindes, der Tod einer Freundin, beeinflussten Nullerjahrealben der Wechsel zu einer anderen wie »The Greatest«. Und die Plattenfirma. Bei Cat Power Auto-Tune-Spielerei bei »Hori- fühlt man sich immer ein wenig zon« ist ein Überbleibsel ihrer verpflichtet, die persönliche Ausflüge ins Elektronische von Befindlichkeit der Sängerin zu 2012. Wer so souverän mit überprüfen. Hat sie Einfluss seinen Mitteln umgeht, hat ein Die Auswahl an neuen Büchern, Hörbüchern und DVDs scheint auf die Musik? Oft schien es so, Bewusstsein fürs eigene Werk. grenzen los. Egal ob Belletristik oder Sachbuch: buch aktuell präsentiert es gab erratische Livekonzerte, Das wollten diejenigen, die aus- Ihnen im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter die jeweiligen Highlights. aber auch triumphale Momen- schließlich auf die Befindlich- te. Auf »Wanderer«, ihrem keit schauten, Cat Power immer Auf unserer Internetseite finden Sie aktu elle Nachrichten aus der Welt zehnten Studioalbum, fügt die absprechen. Aber auf »Wande- der Bücher, alle SPIEGEL- Bestsellerlisten sowie Online-Gewinnspiele! 46-jährige Amerikanerin nun rer« ist deutlich zu hören, dass zusammen, was ihr Repertoire die Musikerin ihre Gefühle zu trotz aller Enttäuschungsgefahr kanalisieren weiß. Sie macht so verfolgenswert macht: Die daraus Kunst. www.buchaktuell.de Grundstimmung entspricht wie- Felix Bayer 12

er seine Wirkung am besten unter einer Games Virtual-Reality-Brille, funktioniert aber auch hervorragend auf dem normalen Bild- Der Schauspieler Elijah Wood hat den schirm. Als Spieler schlüpft man in die Thriller Transference miterdacht: eine vir- Perspektive eines der drei Protagonisten, tuelle Welt in der virtuellen Welt (Ubisoft). wechselt per Knopfdruck aus einer kind- lichen Sichtweise voller Spielzeug und Sü- ● Ein Spiel, drei Perspektiven: ein Kind, ßigkeiten zur Frau, die sich hinter Gefäng- dem vieles unheimlich ist; eine Mutter, die nistüren sieht, um dann in einem Haus vol- sich eingesperrt fühlt; ein Vater, der seine ler Computer zu landen, in dem sich der Familie für Experimente benutzt. Schließ- Mann bewegt. In den Gedanken jeder Per- lich sperrt er das Bewusstsein seiner Frau son verstecken sich neue Räume, die über und seines Sohnes in einer virtuellen Welt Rätsel erschlossen werden müssen. Was ein, die voller Fehler und Ungenauigkei- anfangs fragmentarisch wirkt, setzt sich ten steckt. Der vom Schauspieler Elijah mit der Zeit zu einer Geschichte zusam- Wood (»Der Herr der Ringe«) miterdachte men, in der menschliche Abgründe und und produzierte Thriller »Transference« Abhängigkeiten verhandelt werden. Im (»Übertragung«, ein Begriff von Freud) Lauf des Spiels wird sie immer dichter, spielt in ebendieser Welt. Deshalb entfaltet beklemmender und gruseliger. Carsten Görig Ungekürzte Lesung mit Johann von Bülow 1 mp3-CD ∙ ca. 12 h ∙ 22,00 € (UVP) erfüllten Sehnsüchte. Goller und sein Kino Drehbuchautor Oliver Ziegenbalg eröffnen ihren Hauptdarstellern immer wieder In seinem Roadmovie 25 km/h schickt neues Terrain für Duelle oder Duette. Es ist der Regisseur Markus Goller zwei Brüder ein Vergnügen, Eidinger und Mädel dabei DER ABSCHLUSS DER auf Reisen. Ab 31. Oktober. zuzusehen, wie sie sich zusammenraufen und aus dem Film ein amüsantes, gefühl- ● Wer mit dem Mofa durch Deutschland volles Roadmovie machen. Lars-Olav Beier BESTSELLER- fährt, kommt nicht umhin, sein Leben zu entschleunigen. Ständig rasen die anderen Weitere Filmstarts an einem vorbei, sogar Radler sind schnel- ler. Der Regisseur Markus Goller schickt AB 4. OKTOBER TRILOGIE die Helden seiner Geschichten gern auf A Star Is Born. Für sein Regiedebüt hat eine Odyssee, mal durch die USA (wie in sich Bradley Cooper eine schon mehrfach »Friendship!«), mal durch Deutschland verfilmte Liebestragödie ausgesucht. Er (wie in »Simpel«). In seinem neuen Film spielt einen alkoholkranken Countrystar, »25 km/h« knattern die Brüder Christian Lady Gaga eine aufstrebende Sängerin. und Georg (Lars Eidinger und Bjarne Mä- del) vom Schwarzwald bis an die Ostsee. AB 18. OKTOBER Nach dem Tod ihres Vaters machen sie eine Der Vorname. Sönke Wortmanns Remake Reise, die sie schon als Jugendliche ge- einer französischen Komödie: Die Frage, plant hatten. Sie führt ins Innenleben der ob man seinen Sohn Adolf nennen darf, zwei, hinein in ihre nie geklärten Konflikte, macht aus einem Abendessen unter Freun- ihre gescheiterten Beziehungen und un - den und Verwandten ein Gemetzel.

Gebunden · 416 Seiten »25 km/h«-Hauptdarsteller Bjarne Mädel, Lars Eidinger Deutsch von Claudia Steinitz 22,00 € ∙ Verfügbar auch als E-Book

SPIELFILME

1 (-) Die kleine Hexe 6 (8) Loving Vincent Studiocanal, FSK: ohne Altersbeschränkung Universum Film, FSK: ab 6 Jahren 2 (-) Avengers. Infinity War 7 (-) Lady Bird www.kiwi-verlag.de Walt Disney, FSK: ab 12 Jahren Universal Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung 3 (-) Peter Hase 8 (13) Die Sch’tis in Paris. Eine Familie … Sony Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung Concorde, FSK: ab 6 Jahren 4 (2) Dieses bescheuerte Herz 9 (3) Shape of Water Universal Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung 20th Century Fox, FSK: ab 16 Jahren 5 (-) Midnight Sun 10 (9) Wunder Universum Film, FSK: ohne Altersbeschränkung Studiocanal, FSK: ohne Altersbeschränkung

www.der-audio-verlag.de Entertainment Sony Foto: 8 »Pink Cadillac« darf natürlich auch nicht fehlen. Methusalem Leg dich nicht mit Burke, der inzwischen 81-jährige Großmeister des US-Kriminalromans, beginnt seine Ge- im Heißluftballon den Jungs von der schichte als neonbunte Retro-Orgie, erzählt von einer großen, eigentlich unmöglichen Lie- Jonas Jonasson: Der Hunder t jährige, falschen Straßenseite an be, von Eifersucht und Raufereien zwischen »rich kids« und den Jungs von der »dark side der zurückkam, um die Welt zu retten. James Lee Burke: Dunkler Sommer. of the street«, der falschen Straßenseite. Aus dem Schwedischen von Zunächst wirkt das wie reine Hollywood- Wibke Kuhn. C. Bertelsmann; Aus dem Amerikanischen von Daniel Nostalgie, Burke evoziert die Klischees der Fif- 448 Seiten; 20 Euro. Müller. Heyne; 560 Seiten; 18 Euro. ties – und beginnt dann, sie zu demontieren. Die heile, saubere amerikanische Welt, wie sie ER DIE USA verstehen will, muss in sich auch ein Donald Trump erträumen mag, IE TATSACHE, dass man gerade hundert- W Texas gewesen sein, sagt man. Vielleicht, war immer schon eine Illusion: Rassismus, Se- D undeins geworden ist und einem das Geld weil hier alles im XXL-Format vorliegt, die xismus und Gewalt sind allgegenwärtig in langsam ausgeht, ist noch lange kein Grund, Kerle kerliger sind, die Frauen kurviger und Dunkler Sommer, und das Hintergrundrauschen sich zu langweilen. Oder auf Abenteuer zu ver- die Waffen großkalibriger. Don’t mess with Te- liefern die Nachrichten vom Koreakrieg. zichten. Oder sich aus der Welt zurückzuziehen xas, leg dich nicht mit Texas an, so lautet das Burkes 17-jähriger Icherzähler Aaron Hol- und ihr beim Untergang zuzusehen. Nein, man inoffizielle Motto des »Lone Star State«. land Broussard muss sich in einer Welt zurecht- kann da immer noch was drehen, mit guter Lau- Auch in James Lee Burkes neuem Roman finden, die er immer weniger versteht, je besser ne, zwingendem Optimismus und Trinkfreudig- Dunkler Sommer, Anfang der Fünfzigerjahre in er sie kennenlernt. Und er macht sich Feinde. keit. Wie unser Freund Allan, der im ersten Band Houston und Umgebung angesiedelt, wirkt an- Viele und mächtige. Darunter der Ex-Liebhaber der Hundertjährigen-Saga so viel Geld und Freun- fänglich vieles überdimensioniert: die Guten von Aarons großer Liebe Valerie, Sohn eines de einsammelte, dass sich auch die Leser beim ein wenig zu edel, die Bösen wirklich finster, erfolgreichen Geschäftsmanns mit Mafia-Ver- Lesen vermögend fühlten. Jetzt hängt er auf Bali die Cherry Coke zu süß, und der viel besungene bindungen. Was als Rivalität zwischen Teen - rum, der Luxushotelier, bei dem er wohnt, wird agern beginnt, weitet sich bald zu einer Fehde langsam unruhig, es droht schon wieder eine aus, die nicht nur Aaron, sondern auch seine Geburtstagsparty. Doch ein Heißluftballon weht James Lee Burke Familie und Freunde zu zerstören droht. ihn neuen Abenteuern entgegen. Nach Nord- Burke ist überzeugter Katholik, alle seine korea, ins Reich Trumps, nach Afrika – mit beginnt seinen Romane erzählen vom ewigen Kampf zwischen Rückenwind der heiligen deutschen Kanzlerin. neuen Krimi als den Mächten des Lichts und der Dunkelheit. Schöner, menschenfreundlicher Polit-Kitsch in Und davon, dass in jedem von uns (vor allem einer Sprache der Zuversicht. Das »Sorge dich neonbunte Retro- in den Männern) ein Monster schlummert. Ob nicht, lebe« für unsere Zeit. Ein Entgiftungs- es gelingt, dieses im Zaum zu halten, daran ent- buch. Könnte wirken. Volker Weidermann Orgie. scheidet sich, wer ein guter Mensch ist. In der Literatur wie im Leben. Marcus Müntefering

HARDCOVER-VERKÄUFE IM SEPTEMBER TASCHENBUCH-VERKÄUFE IM SEPTEMBER

1 Jonas Jonasson: 6 Stephen King: Der Outsider 1 Dan Brown: Origin 6 Chris Carter: Der Hundertjährige, Heyne; 26 Euro Bastei Lübbe; 12 Euro Blutrausch. Er muss töten der zurückkam … Ullstein; 10,90 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro 7 Isabel Allende: Ein Renate Bergmann: 2 Carmen Korn: unvergänglicher Sommer Ich habe gar keine Enkel 7 Töchter einer neuen Zeit Maxim Leo, Jochen Gutsch: Suhrkamp; 24 Euro 2 Rowohlt; 9,99 Euro Es ist nur eine Phase, Hase Rowohlt; 10,99 Euro Ullstein; 12 Euro Timur Vermes: 8 Corina Bomann: Carmen Korn: Die Hungrigen und 3 8 Robert Seethaler: Die Frauen vom Löwenhof. Zeiten des Aufbruchs 3 die Satten Das Feld Mathildas Geheimnis Rowohlt; 10,99 Euro Eichborn; 22 Euro Hanser, Berlin; 22 Euro Ullstein; 10 Euro 9 Rosie Walsh: Juli Zeh: Neujahr 9 Mariana Leky: Was man von Ohne ein einziges Wort 4 hier aus sehen kann A. Franz, D. Holbe: Blutwette Luchterhand; 20 Euro 4 Goldmann; 9,99 Euro DuMont; 20 Euro Knaur; 10,99 Euro 5 Frank Schätzing: Die 10 Andreas Winkelmann: Tyrannei des Schmetterlings 10 Jo Nesbø: Macbeth 5 Jo Nesbø: Durst Das Haus der Mädchen Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro Penguin; 24 Euro Ullstein; 12 Euro Rowohlt; 9,99 Euro

PAPERBACK-VERKÄUFE IM SEPTEMBER

HARDCOVER-VERKÄUFE IM SEPTEMBER 1 Mona Kasten: 6 Ursula Poznanski: Thalamus Save Us Loewe; 16,95 Euro lyx; 12,90 Euro 1 Thilo Sarrazin: 6 Richard David Precht: 7 Mona Kasten: Feindliche Übernahme Jäger, Hirten, Kritiker 2 Dora Heldt: Save You Finanzbuch; 24,99 Euro Goldmann; 20 Euro Drei Frauen am See lyx; 12,90 Euro Peter Hahne: Schluss mit dtv; 16,90 Euro 2 Bas Kast: 7 Der Ernährungskompass euren ewigen Mogel … Michelle Marly: 8 Bastei Lübbe; 10 Euro 3 Jean-Luc Bannalec: Mademoiselle Coco und C. Bertelsmann; 20 Euro der Duft der Liebe Bretonische Geheimnisse Ahmad Mansour: Dirk Müller: Machtbeben 8 Kiepenheuer & Witsch; 16 Euro Aufbau; 12,99 Euro 3 Klartext zur Integration Heyne; 22 Euro S. Fischer; 20 Euro Mona Kasten: Arne Dahl: 4 9 Dietrich Grönemeyer: Save Me Fünf plus drei 4 9 Franziska Schreiber: Weltmedizin Inside AfD lyx; 12,90 Euro Piper; 16,99 Euro S. Fischer; 20 Euro Europa Verlag; 18 Euro 5 Jens Henrik Jensen: 10 Melanie Raabe: 5 Christopher Schacht: 10 Peter Wohlleben: Das Oxen. Gefrorene Flammen Der Schatten Mit 50 Euro um die Welt geheime Leben der Bäume dtv; 16,90 Euro btb; 16 Euro adeo; 20 Euro Ludwig; 19,99 Euro 7 tige Alkoholzausel, den die junge Blonde dorrens und Verschrumpelns. »Ein zerkrü- LANG in der Hotelbar nicht mal ansieht, als sie meltes Gespenst, das hin und wieder aus ihm schon vor seinem ersten Satz mit seinem Loch gekrochen kommt, um bei al- einem gebrüllten »Bitte nicht!« eine Abfuhr len möglichen unpassenden Gelegenheiten, erteilt. Da ist der onaniesüchtige junge zu unpassenden Zeiten und an unpassen- ERWARTET Kerl, der selbst beim Fahrradfahren nicht den Orten herumzukäfern«, so beschreibt von seiner Obsession lassen kann und sich Strunk eine seiner wunderbar abscheu- im Sturz das Genital zerschmettert. Da ist lichen Männerkreaturen. das neue Meisterwerk der das Drogenwrack »mit charakteristischem Der Gerechtigkeit halber gilt aber: Die Heroin-Totenschädel«, das ein letztes Mal durch dieses Buch stolpernden Frauen preisgekrönten Autorin spuckend und brüllend die Nachbarschaft sind, weil ihr Erfinder für nichts und nie- terrorisiert, bevor es aus dem fünften Stock- manden Gnade kennt, zum gleichen öden werk seiner Elendsbehausung auf den As- Käferleben verdammt wie alles Männer- phalt klatscht. pack. Wolfgang Höbel Wie in seinem Serienmörderroman Der goldene Handschuh und in seiner »Titanic«- Kolumne Intimschatulle beweist Heinz Strunk auch in diesem Erzählband eine be- schreibungsvirtuose Vorliebe für niedrige Instinkte und eklige Momente, für Siff und Suff, ranzige Geschlechtsorgane und stin- kendes Gekröse. Das hat viel komischen Unterhaltungswert und hält in seiner exis- tenziellen Schäbigkeit doch wenig Trost bereit. Anders als der schneidend gemeine Mi- chel Houellebecq oder der höhnisch klar- sichtige Thomas Bernhard scheint sich der Misanthrop Strunk allerdings nie über seine Figuren zu erheben. Stattdessen wirkt es, als suhle er sich auf wohlig verzweifelte Art mit ihnen im Schmutz. Ganz selten lässt der Autor das Surreale hereinbrechen über die Helden seines schwarzen Kasperle- theaters. Sie taumeln ahnungslos ins Leben und versinken bald im Grauen des Ver - Ungekürzte Lesung | Laufzeit: 23 Stunden, 29 Minuten | € 30,00

HÖRBUCH-BESTSELLER

BELLETRISTIK / SACHBUCH Ein spannungsgeladener, psychologisch

1 (1) Marc-Uwe Kling: 11 (14) Maxim Leo, Jochen Gutsch: tiefenscharfer Schuld-und-Sühne-Roman, Die Känguru-Chroniken Es ist nur eine Phase, Hase gelesen von Peter Kaempfe, Torben Kessler, Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Hendrik Duryn. 3 CDs. Hörbuch Hamburg Hörbuch Hamburg Valery Tscheplanowa und Luana Velis. 2 (2) Marc-Uwe Kling: 12 (7) Jean-Luc Bannalec: QualityLand Bretonische Geheimnisse. Sprecher: Marc-Uwe Kling. 7 CDs. Kommissar Dupins siebter Fall Hörbuch Hamburg Sprecher: Gerd Wameling. 9 CDs. Der Audio Verlag 3 (3) Hape Kerkeling: Frisch hapeziert 13 (-) Jens Henrik Jensen: Sprecher: Hape Kerkeling. 3 CDs. Oxen. Gefrorene Flammen Osterwoldaudio Sprecher: Dietmar Wunder. 2 MP3-CDs. Der Audio Verlag (-) Timur Vermes: 4 (-) Die Hungrigen und die Satten 14 Wladimir Kaminer: Die Kreuzfahrer Sprecher: Christoph Maria Herbst. 8 CDs. Lübbe Audio Sprecher: Wladimir Kaminer. 2 CDs. Random House Audio (5) Eckart von Hirschhausen: 5 (-) Alex Capus: Endlich! 15 Königskinder Sprecher: Eckart von Hirschhausen. 1 CD. Der Hörverlag Sprecher: Ulrich Noethen. 4 CDs. Der Hörverlag (4) Marc-Uwe Kling: 6 (10) Das Känguru-Manifest 16 Rita Falk: Kaiserschmarrndrama. Valery Tscheplanowa Peter Kaempfe Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Ein Provinzkrimi Hörbuch Hamburg Sprecher: Christian Tramitz. 6 CDs. Der Audio Verlag 7 (6) Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Offenbarung 17 (-) Dora Heldt: Drei Frauen am See Sprecher: Marc-Uwe Kling. 6 CDs. Knabe Hörbuch Hamburg Sprecherin: Anneke K. Sarnau. 7 CDs. Jumbo Neue Medien (-) Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, 8 (-) HR/Ben der zurückkam, um die Welt … 18 Stephen King: Der Outsider Sprecher: Dieter Hallervorden. 8 CDs. Der Hörverlag Sprecher: David Nathan. 3 MP3-CDs. Random House Audio (-) Renate Bergmann: Ich habe gar keine 9 (-) Andreas Franz, Daniel Holbe: Torben Kessler Luana Velis Enkel. Die Online-Omi räumt auf 19 Sprecherfotos: © Blutwette Sprecherin: Carmen-Maja Antoni. 3 CDs. Sprecherin: Julia Fischer. 6 CDs. Der Audio Verlag Audio Media 10 (8) Jürgen von der Lippe: 20 (12) Petra Hülsmann: Wenn’s einfach wär, Der witzigste Vorleseabend der Welt würd’s jeder machen Sprecher: J. v. d. Lippe, C. Kebekus, Sprecherin: Nana Spier. 6 CDs. J. Malmsheimer. 2 CDs. Lübbe Audio Lübbe Audio

www.hoerbuch-hamburg.de 6

ist-Krieg-Lektion verlässt er seine römische Malerfürst und Familie und zieht nach New York, wo er mit anderen Frauen und anderen Kindern Monstervater sein Glamourleben fortführt. Der Teenager Pinch aber zeichnet und malt eifrig los und Tom Rachman: Die Gesichter. hofft auf die Anerkennung des Vaters. Als er ihn Jahre später endlich in den USA be- Aus dem Englischen von sucht, zeigt er ihm eines seiner Bilder. Die Bernhard Robben. dtv; 412 Seiten; Reaktion ist vernichtend. »Ich halte große 22 Euro. Stücke auf dich, mein Sohn«, sagt der Alte, »aber ich muss dir sagen, Kiddo, ein Maler B ERÜHMT GEWORDEN ist der 1974 bist du nicht, und du wirst auch nie einer in London geborene und in Kanada werden.« aufgewachsene Autor Tom Rachman durch Man merkt schon: Auch Rachmans den Journalistenroman Die Unperfekten, der Roman Die Gesichter setzt auf deutliche, im Original 2010 erschien. Das Buch spielt manchmal grobianische Effekte. Der Autor zum großen Teil in Rom und erzählt von verzichtet auf poetische Finessen und allzu der Arbeit einer Zeitungsredaktion, die filigrane Figurenzeichnung. Sein Künst- starke Ähnlichkeit mit dem Team der lerheld Bear Bavinsky ist ein zwar lieben- »International Herald Tribune« hat, für der, aber zu jeder Einfühlung unfähiger die Rachman in jungen Jahren arbeitete. Monstervater, der das zarte Ego des Sohns Die Unperfekten ist etwas hölzern konstruiert zertrampelt. Der arme Pinch verbrennt und nicht besonders elegant geschrieben, seine Bilder und fristet später ein Lang- dafür voller Leidenschaft. Ein gutes Buch weilerleben als Italienischlehrer in London, über die Arbeit von Zeitungsjournalisten The Italian Teacher heißt Rachmans Roman Das Festival der Frankfurter Buchmesse und Reportern, sehr viel anschaulicher, ein- im Original. dringlicher und charmanter als zum Bei- Der große Bavinsky aber stapft weiter spiel die Angeberromane der amerikani- im Glorienschein seines Weltruhms, er lässt schen Reporterdarsteller Hunter S. Thomp- sich von Fans und Frauen umschmeicheln son und Tom Wolfe. und hasst keinen anderen Künstler so wie Nun hat Rachman einen Künstler- den Supernarziss und Supermaler Picasso. / Lesungen, Konzerte, Performances, roman geschrieben. Er handelt von einem Dieser Hass hat natürlich damit zu tun, Poetry Slams, Food-Events – in der unfassbar erfolgreichen Maler und seinem dass Bavinsky und Picasso einander ähneln Stadt und auf dem Messegelände nicht ganz so erfolgreichen Sohn. Wieder wie Zwillinge. Offensichtlich hat Rachman setzt die Romanhandlung in Rom ein, wo seinen Künstlerstar nach Picassos Vorbild / Ben Kingsley, Juli Zeh, Otto Waalkes, der rauchende, saufende Maler Bear Bavins- gemeißelt. ky in den Fünfziger- und frühen Sechziger- Die Gesichter ist ein Roman über die Deniz Yücel, Håkan Nesser, Meg Wolitzer, jahren ein schön verschlamptes Großkünst- Kunstwelt, der kein Klischee über die Paul Beatty, Dörte Hansen, Eckart von lerdasein mit seiner jungen Gattin Natalie Kunstwelt scheut, so wie der Journalisten- Hirschhausen und viele mehr – es ist seine dritte oder vierte Ehefrau – roman Die Unperfekten schamlos mit den und dem gemeinsamen Sohn Pinch zele- Klischees über den Journalistenzirkus briert. Bavinskys Atelier ist in einem schö- jonglierte. Es wird getrunken und gehurt, bookfest.de spekuliert und abkassiert, intrigiert und gelogen, dass sich die Atelierbalken biegen. Es wird getrunken Über das Wesen der Malerei Bavinskys, die Argumente der Kritik oder gar die Regeln buchmesse.de und gehurt, der Kunsttheorie erfährt der Leser wenig. Das Genie des übermächtigen Vaters mit #fbm18 intrigiert und dem sprechenden Namen Bear wird nicht gelogen, dass angezweifelt. Unterhaltsam ist Rachmans Roman, gerade weil er sich an die Ober - sich die Atelier- flächen hält, weil er die Sinnkrisen und Seelenkatastrophen der Künstlermenschen balken biegen. mit der Zurückhaltung eines neutralen Beobachters schildert – man könnte auch sagen: aus der beschränkten Perspektive Unsere Partner: eines neugierigen, gewitzten Journalisten. nen alten Gemäuer untergebracht, das frü- Wolfgang Höbel her mal als Kornkammer diente. Halbherzig unterstützt er den künstlerischen Ehrgeiz seiner Frau. Natalie töpfert, vermag mit ihren Arbeiten aber keinen der um Bavinsky schwärmenden Kritiker und Kulturbarone Toxische Die Locations: zu begeistern. Seinen Sohn Pinch, der ei- gentlich Charles heißt, verhätschelt der Ma- Menschenbrut ler Bavinsky als Liebling unter seinen vielen mit diversen Frauen gezeugten Kindern und Heinz Strunk: animiert ihn dazu, selbst mit Griffel und Das Teemännchen. Pinsel zu hantieren. »Nicht jeder kann ein Künstler sein«, belehrt der Vater den Sohn, Erzählungen. Rowohlt; »aber für jene von uns, die Künstler sind, 208 Seiten; 20 Euro. ist es ein Krieg.« Der Krieg, von dem der Roman erzählt, M ÄNNER OHNE NERVEN und vol- ist allerdings nicht der um wahrhaftigen ler Geilheit sind in fast allen dieser Besuchen Sie uns am buchreport-Stand Ausdruck auf der Leinwand, sondern der kurzen und sehr kurzen Geschichten die in Halle 3.1, L 158. zwischen Sohn und Vater. Der Malerfürst Hauptdarsteller. Sie sind stumpf und ge- Bavinsky tritt als Narziss und böse funkeln- mein, immer auf der Jagd nach irgendeiner der Verführer auf. Kurz nach seiner Kunst- Sorte Lustgewinn. Da ist der liebesbedürf-

Die Zeit vergessen Ein Heft zur Buchmesse 5 aber auch abhängig von der Bestätigung durch des historischen Geschehens – und erlebt ihrer - Klüger, als es andere, vor allem Männer. Ihre erste Ehe und seits ein nicht mehr erwartetes Glück, das die ihre Karriere scheitern, ihre Sinnsuche führt Düsternis der Vergangenheit auch für den Leser die Zeit erlaubte ins Leere. Irgendwann, allein in einer Bar, ausbalanciert. schaut sie in den Spiegel, sieht dort »eine Frau, Die Autorin entwickelt ihre Geschichte dra- Katharina Adler: Ida. die ein wenig ihrer Mutter ähnelte, ein wenig maturgisch geschickt und sprachlich bewun- auch ihr selbst, und die durch und durch ver- dernswert nuanciert, die Übersetzung ist sou- Rowohlt; 512 Seiten; 25 Euro. verän und schwingungsreich. Zumal für das deutsche Publikum macht Gesterns äußerst ASS SIGMUND FREUD so berühmt spannender Roman erschütternd deutlich, wa- D werden würde, konnte Ida Bauer wirklich Ein Thriller ohne rum der Erste Weltkrieg in Frankreich als die nicht ahnen. Dieser seltsame Arzt mit dem un- Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gegenwär- gepflegten Vollbart, bei dem sie sich auf einen Serienkiller oder tiger ist als hierzulande. Elke Schmitter Diwan legen musste und reden sollte. Nach ein Massenmörder, der paar Wochen hatte sie genug, sie brach die Be- handlung ab. Es war das Jahr 1901, Ida Bauer von den Abgründen war gerade 18 Jahre alt. Ihr Leben begann erst: Sie heiratete, sie bekam einen Sohn, sie wurde in uns allen erzählt. Where is Eckhart? zur wichtigen Gesprächspartnerin ihres sozial- Ein Solitär. demokratischen Bruders Otto Bauer. Nach dem Eckhart Nickel: Hysteria. Tod ihres Mannes verdiente Ida Geld als Bridgelehrerin; als Jüdin wurde sie in der Nazi- Piper; 240 Seiten; 22 Euro. zeit zur Verfolgten, sie flüchtete in die USA. ängstigt schien«. Zu sich finden wird sie erst Ein Frauenleben. Doch weil Sigmund Freud später, als ihre Welt in Trümmern liegt. IE SCHÖNSTEN ROMANE sind ja über sie geschrieben hatte, wurde sie zu einem Lehane geht ein erzählerisches Risiko ein: D nicht die, die wichtig sein wollen, sondern Fall. Der Fall Dora, das Paradebeispiel einer Weil er den Plot den Seelenzuständen seiner die unwichtigen, nebensächlichen. Und so sind Hysterikerin. Heldin nachordnet, wirkt die Dramaturgie zu- nicht die selbst ernannten Hauptdarsteller, die Die Autorin Katharina Adler ist die Ur - nächst etwas fahrig. Doch wer sich darauf ein- Spitzentitelschreiber und Großpreiswürdigen enkelin Ida Bauers, in ihrem Roman erzählt sie lässt, entdeckt einen Thriller, der ein Solitär mit ihrem Netzwerk aus gut ausgesuchten das ganze Leben der Urgroßmutter. Dabei wird dieses Genres ist, der vom Abgrund in uns allen Freunden und Feinden diejenigen, die Literatur eine Frau sichtbar, die klüger und talentierter erzählt, von unseren tiefsten Ängsten. Nicht zu einer Kunstform machen, sondern die Über- war, als Frauen es zu ihrer Zeit sein durften. von Serienkillern oder Massenmördern. Son- sehenen, die Sonderlinge, die Schattenexisten- Ida beharrte auf ihren Standpunkten; das fiel dern davon, nicht wirklich anzukommen in zen. Gäbe es einen Oscar für die beste Neben- besonders negativ auf, als sie alt und arm war. diesem Leben. Marcus Müntefering rolle des Literaturbetriebs, Eckhart Nickel hätte Bemerkenswert ist, wie unvoreingenommen ihn längst verdient. Er pflegte sich mal mit einer Adler sich ihrer Heldin nähert, wie gut sich Visitenkarte vorzustellen, auf der als Berufs - das liest. Claudia Voigt bezeichnung das Wort »Bourgeois« stand; schrieb als eine Art Privatsekretär an Christian Feldpost Krachts Reisebuch Ferien für immer mit, und dann ist da noch diese Buchmessenanekdote, Hélène Gestern: Der Duft in der er als Drogenbeschaffer des Schrift- Steil hinab stellers Bret Easton Ellis auftritt. »Where is des Waldes. Eckhart?«, soll Easton Ellis irgendwann ent- Aus dem Französischen von Brigitte Dennis Lehane: Der Abgrund in dir. nervt gebrüllt haben, weil er den Verdacht hatte, Große und Patricia Klobusiczky. Nickel sei mit dem Einkaufsgeld durch - Aus dem Amerikanischen von S. Fischer; 704 Seiten; 26 Euro. gebrannt. Ein Ausruf, der auch das literarische Steffen Jacobs und Peter Torberg. Schaffen des Eckhart Nickel charakterisiert. Er Diogenes; 528 Seiten; 25 Euro. ist vor allem ein großer abgetauchter, un - RINGEN WIR ES GLEICH hinter uns: gedruckter Schriftsteller. Nun ist mal wieder ein UCH WENN SIE KEINE Blondine ist, B Sowohl der Titel, obgleich getreu aus dem Buch von ihm erschienen, Hysteria, ein Roman A darf man sich Rachel Childs als klassische Französischen übersetzt, als auch die Cover- über gesteigerte Wahrnehmung, es geht um Hitchcock-Heldin vorstellen. Kühl und schön gestaltung führen in die süßliche Irre. Hélène Fruchtaromen, die Farben von Lippenstiften wie Grace Kelly in »Über den Dächern von Niz- Gestern, in Lothringen geboren und an der und eine nahe Zukunft, in der eine Naturpartei za«, beschädigt wie Tipi Hedren als »Marnie«. Universität in Nancy Professorin für Literatur, Deutschland regiert. Das wichtigste Buch des Und gefährlich. Gleich zu Beginn erschießt sie hat einen historischen Roman abgeliefert, der Herbstes? Gewiss nicht. ihren Ehemann. Wie es dazu kommen konnte, in beide Weltkriege führt – mit allen makabren Könnte sich fast schon um Literatur han- wie sich eine scheinbare Idylle als Chimäre ent- Schrecken des endlosen Stellungskrieges wie deln. Sebastian Hammelehle puppt, davon erzählt Dennis Lehane in der ers - der deutschen Besatzungszeit und den verzwei- ten Hälfte von Der Abgrund in dir. Er lässt sich felten Kämpfen der Résistance. viel Zeit dabei, macht Umwege, die erst später Gesterns Erzählerin Elisabeth ist Historike - Sinn ergeben, wenn die Geschichte immer neue rin, Spezialistin für Postkarten, also detailfreu- Volten schlägt, sich aus dem Psychogramm ein dig, archivkundig und zäh in der Recherche. Psychothriller herausschält. Ein unerwarteter Fund in einem vermoderten Lehane gehört zur goldenen Generation Gartenhaus (hier und da kommt der Roman amerikanischer Krimiautoren. Wie George Pe- nicht ohne sehr bewährte Muster aus) beschert lecanos und Richard Price hatte er seinen ihr die Briefe eines sensiblen und sprachbegab- Durchbruch vor rund 25 Jahren, alle drei brach- ten jungen Mannes von der Front, aus jenem ten später mit der Serie »The Wire« den Sound schmalen Streifen Land, in dem deutsche und der Straße ins Fernsehen. Mit seinen Romanen, französische Soldaten sich über vier Jahre ohne darunter Mystic River und Shutter Island, bewies strategischen Gewinn für die eine oder andere Lehane, dass er auch ein Ohr für die Sprache Seite die Gedärme aus den Leibern fetzten, so der Verlorenheit hat. Seine Figuren stellen sich stupide wie erbarmungslos verheizt von ihren existenziellen Fragen: Wer bin ich? Und warum Generälen. Eine gewundene Liebes geschichte tut das Leben oft so verdammt weh? und die komplizierte Freundschaft ihres Helden Auch seine Heldin Rachel sucht ihren Platz mit einem symbolistischen Dichter werden von in einer Welt, die ihr so fremd ist wie sie sich der Erzählerin nach und nach entschlüsselt; sie selbst. Ohne Vater bei einer gefühlskalten Mut- vergleicht (fiktive und historische) Dokumente, ter aufgewachsen, intelligent und ehrgeizig, spricht mit Angehörigen, sie reist zu den Orten

Die Zeit vergessen Ein Heft zur Buchmesse DER SPIEGEL im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse Sven Jaax Kerstin Ahlrichs Wilfried Gerharz Dennis Williamson Dennis

Karen Duve Aladin El-Mafaalani Robert Habeck Dörte Hansen Sara ArnaldSara Urban Zintel Peter von Felbert Cristopher Civitillo Cristopher

Helene Hegemann Jonas Jonasson Timur Vermes Juli Zeh

DER SPIEGEL erwartet mehr als 40 Autorinnen und Autoren zu Gesprächen über ihre aktuellen Bücher, darunter Karen Duve, Aladin El-Mafaalani, Robert Habeck, Dörte Hansen, Helene Hegemann, Jonas Jonasson, Timur Vermes und Juli Zeh.

Mittwoch bis Sonntag, 10. bis 14. Oktober 2018 SPIEGEL-Stand, Halle 3.0, D56, und auf spiegel-live.de klang zuschreiben.Neben demMutter-Sohn- schen Ton, undes istihmgelungen,imDrei- tesken, einemrealistischen undeinemtragi- unablässig redet, kannerihnnichtverstehen. Thomasaber etwassagen.Da und Schmerzen alternderKörperKrämpfeSein willihmüber lässig inSituationenvonextremer Peinlichkeit. andere erbugsiertsichzuver- Themen–aber hält gernVorträge viele undauchüber darüber zumeistern,er seinLeben der Überzeugung, urologisch herausgeforderte Figur. Eristschon auchanalund eben ist hiereinekomische,aber befragt wird.und peinlich Reisetasche, biseramFlughafen aufgehalten leidenden Mutter irgendwie ineinerdefekten mas verstaut dasDing auf demWeg zuseiner Tho- tennisball, BatterieundSteuerungsbox. eineArtSchnorchel mitTisch-bodenmassage, ist dieserStab–einGerät für dieanaleBecken- rend mitzuteilen,dennda einesAbendessens diesesBuchetwawäh- über seine Begeisterung hemmen denerfreuten Leservon ohne Mord undohneTodesstrafe vonstatten. gehtdasohneDrama,parkschen Gegenwart Milde der frontiert. inderpostmodernen Aber wirdSuche ermitdemTod seinerMutter kon- wiederansLichtzufinden. Liebe Während der undder dem LabyrinthdesAlltags,derArbeit nacheinemFadenten imLeben sucht,umaus wir auchindiesemBucheinemMann, dermit- nig geizigisterauch.Wie Camusfolgen bei Hotelzimmer suchtersicheines,einwe- noch Buchs, istkeingroßer Planer. Erhatwederein schmunzeln, dennThomas,derProtagonist des so elendgesehenzuwerden. rückkehren, dennsiewünschenicht,vonihm ihn ausdemZimmer, ersolleinseinHotel zu- Willenskraftten ihrverbliebenen scheuchtsie lich, dasssieihnnichtsehenwill.Mit derletz- Tod. etwassagen–näm- kannsieihmnoch So Hospiz an, imZwischenreich und vonLeben betagte zeug nehmenundtrifftdie Mutter im Mailper undSMSangezeigt,erkanndasFlug- ler: DieVerschlechterung desZustandswird In Tim Parks’ neuem Romangehtallesschnel- und pünktlichzurTotenwache zuerscheinen. zu ihrem Altersheim imFernbus zurückzulegen dann mussersichsputen,umdie80Kilometer Ein Telegramm informiert ihren ihnüber Tod, rechtzeitig seinerMutter. zurBeerdigung noch easgfret Mann heraus geforderte I 24Euro.400 Seiten; von UlrikeBecker. Kunstmann; Aus demEnglischen Tim Parks: schafft esderProtagonist Meursault gerade N ALBERT CAMUS’ Parks hattedieWahl zwischeneinemgro- alsMann JahrenDer Sohn indenbesten Es gibtHerausforderungen anderer Art.Sie allemHorrorDer Lesermussbei derSzene und tragisch. grotesk, realistisch im Dreiklang: Parks schreibt Der urologisch In Extremis. Klassiker In Extremis, Der Fremde »Als ging es im Leben nurdarum,»Als gingesimLeben nichtsum Fortgeschrittene autorin. In diesem Herbst erscheint ihrzweiter ihrem Debütroman te, weranetwasschuldwar.« für sie,weilDora Koopmann immergerneklär- Nova«: Liedwarwiegemacht der Bossa »Das warnur und ihre zudemLied»Schuld Liebe desDorfladens dieBesitzerin spiel diesenüber ZumBei- man manchmalauchnureinenSatz. zählerin wieDörteHansen ist,dannbraucht gehen. Und wennmansoeinegroßartige Er- die Findlinge aufdemFeld, dieJahre, diever- braucht denWind, derumdieHäuser weht, Weggezogenen unddieRückkehrer. Man Manmen undenttäuschteLieben. braucht die Untergang glaubt.Man braucht Familiendra- ret, dietoteTiere sammeltundandenbaldigen schenkt. Man braucht dieVerrückten wieMar- aus- risten unddenLandvermessernSchnaps ke Feddersen stehtunddenTrinkern, denTou- hinterdemeinerwiederalteSön- Dorfkneipe, bus warten.Man braucht einenTresen ineiner unter Kapuzen, diefrühmorgens aufdenSchul- flachem Landund undKindern Kartoffelroden nach nordfriesischen Regentagenklingt,nach einenwieBrinkebüll, derjaschon türlich. So Dörte Hansen: sentlich bessererLaune. treffend wie mitwe- Michel aber Houellebecq, schicht gelesen,esistliterarische Soziologie, dereuropäischeneinen Zustandsbericht Mittel- isteinsozialerOrt. piz –auchdasSterbebett gemeinsam gelebt undgestaltet,selbstimHos- Tonlagen wird Leben eben undDialekte.Das erst imStimmengewirr, inderVielzahl der die OhrenDieHumanität zuhaben?« entsteht hörtersichzuundbefragt sich: Ohren«. Dann derten Tochter sagt,siehättenja»vielumdie behin- flektiert, etwawennerdenElterneiner stile erprobt, seineeigeneAusdrucksweise re- tor, gefällter, ambesten wennerdiverse Sprach- verkrampfte Individuum besichtigen. Egoismus kannmanhierdasüberforderte und roman. Literatur. Subversive Nach Dekadendes DimensionindiesenGesellschafts politische und derWelt kommtleiseaucheine entwirft.So kers untergräbt dasBild,dieservonsich anderer kannalsseineeigene. beurteilen sentimental: einMann, dieLage derweitbesser mas erweistsichalsegozentrisch,schadenfroh, Protagonisten verlangteinigenLangmut.Tho- auch nötig,denndieintimeSelbstreflexiondes Parks, Humor zubewahren.Deristallerdings gelingtes nen KindernundKollegen. Dabei Familien, vonFreunden, Ex-Frauen, erwachse- spielerisch vonanderen Zeitgenossenundihren schere erscheint, erzähltParks beinahe noch sche Mutter baldalsdiewesentlichsympathi- fromme, bibelfeste undextrem philanthropi- Verhältnis, diesehr indessenBeschreibung W Erscheint am15.Oktober. Penguin; 22Euro. 324Seiten; Vor mehralsdrei Jahren wurde Hansen mit Selten hatmansopräzise heiter Selten unddoch Thomas istSprachwissenschaftler undAu- schonungslosePorträtDas einesEgozentri- Landlust für Leben zuerwecken?EinenNamenLeben na- AS BRAUCHT MAN, Ein Heft zur Buchmesse Die Zeitvergessen Mittagsstunde. Altes Land um einDorfzum zur Bestseller zur Bestseller Nils Minkmar - - auf Lanzarote zu Ottomanen wurden drio! staunlich stilleBuch.Meistens zumindest.Hol- huschte Zimmerlautstärkereicht vollkommen.« Material braucht hinge- keinegroße Schnauze, eigeneUngeschicklichkeit »Gutes begleitete. seine die ermiteinemhilflosenLachenüber witz vorallem,seinefreiwilligen Ausrutscher, hardt wareinVorbild für Waalkes, seinWort- Heinz Erhardt. Trottel Derliebenswerte Er- Komikerkollegen analysiert,Loriot,Jerry Lewis, Passagen, indenen erdenUnernst berühmter nun inseinerAutobiografie,besonders inden Deutschen wurden einVolk vonOttomanen.« Zeiten, wurde zumKingofComedy, unddie Reetdach-Haar, dieserlustigsteVeitstänzer aller D Otto Waalkes: mit verschränkten Zweigen.« Milchkannen, Pfützen aufdenHöfen, Ulmen Dinge einzufallen, dieverschwunden waren, Dorf ging«,heißtesaneinerStelle,»nurnoch sen ist.»Ingwer schienen,wennerdurch das tun mitdemBrinkebüll, indemeraufgewach- ses Brinkebüll, indaserheimkehrt,nichtszu Großeltern zukümmern.Und natürlichhatdie- sen zurückkehren lässt,umsichseinealten das siedenGeschichtsprofessor Ingwer Fedder- indemerfundenenDorfBrinkebüll, in aber Roman. Wieder spielteraufdemLand,diesmal W 20 Euro. Luchterhand; 190Seiten; Juli Zeh: Lachmann derNation« unddichteteimHeft Titelgeschichte, schrieb vorndrauf: »Otto– SPIEGEL widmetedemHelden damalseine indieKinos:»Otto–derFilm«. Der kam 1985 ihre Figuren indemGesellschaftsroman anders. Wiedoch vielTiefe hatten undLeben blass undsehr, kannsiees sehr platt. Dabei frisch ausderBlumenpresse befreit.Bisschen Heyne; 416 Seiten; 22Euro. Nach einerwahren Geschichte. – Die große Ottobiografie Gedanken dortzuverbringen. Gedanken in wenigstens einpaarherbstlicheLeseabende schen, dieinkeinemdavonaufgewachsen sind, da draußen. Und für alleMen- dieGelegenheit Buch eineLiebeserklärung analldieBrinkebülls trifft esnichtganz.Dennin istdas Wahrheit das undElla.Doch und dieGroßeltern Sönke milienroman Ingwer, über seineMutter Marret inneren: mitdemblonden »Otto,derZappelmann Das giltauchfür diesesselbstironische,Das er- er Ottoauchernsthaftkann,beweist Dass Mittagsstunde Killermutti Wie dieDeutschen mit mehrals14Millionen Zuschauern, er bisheuteerfolgreichste deutscheFilm, ben, dannwirkenihre Romanfigurenben, wie ENN JULIZEH Neujahr. ist aufdenersten BlickeinFa- Kleinhirn analle. es eilig hat beim Schrei- es eilighatbeim Tobias Becker Tobias Maren Keller Unter- 2 -

Alle Illustrationen im Heft: Joni Majer / Wildfox Running für LITERATUR SPIEGEL