BERLINER SPAZIERGÄNGE

BERLINER SPAZIERGÄNGE

VOLKER WAGNER im Dritten Reich

3 INHALT

Vom Anhalter Bahnhof zum 6 Boulevard Unter den Linden Spreebogen 23 und Brandenburger Tor

Östlich des 37 Brandenburger Tors

Vom 48 zum Scheunenviertel

Vom Messe- zum 59 Olympiagelände

5 Vom Anhalter Bahnhof zum Boulevard Unter den Linden

Der Anhalter Der Anhalter Bahnhof war der „Regierungsbahnhof“ Bahnhof in der deutschen Hauptstadt. Nur noch der Portalrest und der erinnert heute an eine große Eisenbahngeschichte. Die Askanische Bahnhofsruine wurde bis 1962 gesprengt. Platz, um Am 6. Juli 1940 hatte kurz nach der Kapitulation 1935 Frankreichs hatte Adolf Hitler hier seinen feierlichen Einzug gehalten und ließ sich frenetisch feiern. In der „Berliner Morgenpost“ heißt es ei- nen Tag später: „Der Führer in seiner feldgrauen Uniform dankt lächelnd zu allen Seiten und tritt dann seine Fahrt zur Reichskanzlei an.“ Ein Jahr später berichtete die „Berliner Morgenpost“ allerdings nichts über die Abfahrt der ersten von fast 10 000 Berliner Juden, die vom Anhalter Bahnhof ab dem 2. Juni 1942 auf insgesamt 116 Transporten in das Vernichtungslager Theresienstadt deportiert wurden. Zu dieser Zeit wurden die zunächst älteren Berliner Juden in augenscheinlich normalem Reisebetrieb in regulären Personenzü- gen in den Tod geschickt. Gegenüber der Portalruine des Anhalter Bahnhofs er- hebt sich das 1966–68 errichtete Excelsior-Haus auf den ehemaligen und einzeln parzellierten Grundstücken Stre- semannstraße 68 bis 78. Heute erinnert nichts mehr an

6 VOM ANHALTER BAHNHOF ZUM BOULEVARD UNTER DEN LINDEN die allesamt im Krieg zerstörten Ho- tels. Auf dem Grundstück Nr. 74 befand das Hotel Hospiz, in dem wichtige Gespräche der Berliner Mitglieder der Bekennenden Kir- che stattgefunden hatten. Die Bekennende Kirche war u. a. von den Berliner Pfarrern Mar- tin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer ge- gründet worden, um den Einfluss des NS-Führ- erstaates auf die evangelische Kir- che weitmöglich zu begrenzen und ihm zu begegnen. Der ehemali- ge Leipziger Oberbürger- meister Carl Goerdeler, der als Mitglied der Widerstandsbe- wegung um Claus Graf Schenk von Stauffenberg in Berlin-Plötzensee am 2. Fe- bruar 1945 hingerichtet wurde, gehörte zu den aktiven Hospiz am Gesprächsteilnehmern. Askanischen In der Stresemannstraße steht an der Ecke zur An- Platz, halter Straße ein denkmalgeschütztes Gebäude, das aus Postkarte zwei sehr unterschiedlichen Teilen besteht. Direkt an von 1939 der Straßenecke befindet sich das „Deutschlandhaus“ von 1926/27. Kurz zuvor war mit dem Bau des benach- barten elfgeschossigen „Europa-Hauses“ begonnen

VOM ANHALTER BAHNHOF ZUM BOULEVARD UNTER DEN LINDEN 7 worden, in das Dienststellen des erweiterten Reichsarbeits- ministeriums eingezogen waren. Heute sind hier das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit untergebracht. Nachbar wird die Bundesstiftung für Flucht, Ver- treibung und Ver- söhnung. In den Erdge- schosszonen gab es trotz der be- hördlichen Nutzung einige Bierlokale. Ungezählt sind die Ort und Aktionen, an und bei denen die restrik- tiven Sicherheitsorgane des NS-Staates überfallartige Razzi- en durchgeführt hatten – nicht nur gegen Juden, Kommunisten und Sozialde- Blick auf das mokraten, sondern auch gegen eine linke Abspaltung der Deutschland- SPD, die 1931 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei haus, ca. 1940 SAP. In Berlin führte Edith Baumann, die erste Frau des späteren DDR-Staatsratsvorsitzenden , die nach 1933 verbotene Partei. Der Potsdamer Platz war nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit die größte innerstädtische Bau- stelle Europas. Bis zur Jahrtausendwende entstand hier u. a. mit dem Sony-Center ein neues Stück Berlin. Die heute kaum noch erkennbare Bellevuestraße ist mit dem

8 VOM ANHALTER BAHNHOF ZUM BOULEVARD UNTER DEN LINDEN Center überbaut. Auf einem Teilgrundstück befand sich das (Königliche) Wilhelmsgymnasium. In das schon 1924 aufgegebene Gymnasium war der am 24. April 1934 gegründete Volksgerichtshof eingezogen. Blick über Als einzige Instanz in Sachen von Hoch- und Landesver- den Leipziger rat kennzeichnete dieses Tribunal in besonderer Weise Platz auf den die einer bis dahin freien Justiz. Bis 1945 Potsdamer wurden etwa 18 000 Personen abgeurteilt, 5200 davon Platz, 1938 zum Tode. Nach der Ausbombung des ehemali- gen Schulgebäudes 1943 war das Gericht an den Schöneberger Kleistpark in das ehemalige Preußische Kam- mergerichtsgebäude verlegt worden. Das im April 1993 vom Berliner Abgeordne- tenhaus bezogene Preußische Ab- geordnetenhaus wurde am 16. Januar 1899 eröffnet. Fünf Wochen nach dem Macht- antritt von Adolf Hitler hatte es im Deutschen Reich und parallel dazu in Preußen noch einmal Wahlen gegeben. Bei der – nicht mehr demo- kratischen – Landtagswahl hatte die NSDAP mit 217 von 476 Mandaten wie auch im Reich die absolute Mehrheit verfehlt. Am 22. März wurden bereits in der ersten, konsti- tuierenden Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses

VOM ANHALTER BAHNHOF ZUM BOULEVARD UNTER DEN LINDEN 9 Im ehe- die 63 Mandate für die KPD als unwirksam erklärt. Die maligen zweite und zugleich schon letzte Sitzung des Parlaments Preußischen fand am 18. Mai 1933 statt. Das Haus war von der SS und Abgeord- der SA demonstrativ besetzt, die NSDAP-Abgeordneten netenhaus waren demonstrativ und provozierend bewaffnet. befindet sich Nachdem das Parlament endgültig im Oktober 1933 heute das aufgelöst worden war, bemächtigte sich eine NS-Stiftung Abgeordne- des repräsentativen Gebäudes. Nach Plänen des Archi- tenhaus von tekten Ernst Sagebiel wurde das Haus umgebaut und im Berlin. November 1935 als „Haus der Flieger“ neu eröffnet. Hier konnte Hermann Göring repräsentieren. Am 9. April 1935 gab Göring am Vorabend seiner Hochzeit im Festsaal im drit- ten Obergeschoss einen Hoch- zeitsempfang für sich und seine zweite Frau, Emmy Sonne- mann. Bälle und Empfän- ge zu den Olympischen Spielen im August 1936 fanden hier ebenso statt wie eine Weihnachtsfei- er für die Angestellten der Reichskanzlei, bei der im Dezember 1938 auch Hitler zu Gast war. Unweit des Abge- ordnetenhauses, an der Wilhelmstraße, befindet sich die „Topographie des Terrors“. Die Geschichte des Grundstücks reicht 200 Jahre zurück: Prinz Albrecht von Preußen, jüngster Bruder des ersten deutschen Kaisers Wilhelm I., gelangte 1830 in den Besitz Grundstücks mit einem barocken Palais aus dem 18. Jahrhundert.

10 VOM ANHALTER BAHNHOF ZUM BOULEVARD UNTER DEN LINDEN Hier lag die ehemalige Kunst- gewerbeschule, in die nach 1933 die Geheime Staat- spolizei () und das Reichssicher- heitshauptamt ein- gezogen waren. In dem Gebäude war auch das Büro des berüchtigten SD-Chefs Rein- hard Heydrich. Die Ruine wur- de nach schwe- ren Kriegsschä- den im Juni 1956 gesprengt. In den Kellern dieses Verwaltungssitzes des NS-Terrors wur- den mehrere tausend Gegner des NS-Staates verhört und gefoltert. Der Naturwissenschaftler Robert Havemann (1910–82) schreibt: „Die Verhöre fanden in der Prinz-Albrecht-Straße statt, wo ich auch einsaß – in der Zelle 24 im Keller –, und dauerten ... etwa Das Reichs- zweieinhalb Monate … Anfangs wurden wir natürlich sicherheits- mißhandelt, damit probiert man es immer zuerst … Von hauptamt in anderen habe ich später gehört, daß die auf Mißhandlun- der Prinz- gen reagiert hätten, nur noch mehr mißhandelt wurden ... Albrecht- Überhaupt glaube ich, war es sehr wichtig, gegenüber den Straße, Verhörern der Gestapo so aufzutreten: Ich musste ihnen 1933 furchtlos erscheinen…“ Der bereits zum Tode Verurteilte konnte später mit Hilfe von Freunden gerettet werden.

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