Von Den Chancen Der Befreiung Der 8
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
MATERIALIEN Bernd Hüttner/Christoph Jünke (Hrsg.) VON DEN CHANCEN DER BEFREIUNG DER 8. MAI 1945 UND SEINE FOLGEN INHALT Vorwort 2 Gerd-Rainer Horn EinhistorischerMomentderBefreiung 4 Antifaschismus im Niemandsland des befreiten Westeuropas Christoph Jünke Antifaschistische Wirtschaftsdemokratie 19 Die moralische Ökonomie der unmittelbaren Nachkriegszeit Keno Ingwersen und Johanna Kornell UmdieMitbestimmung 26 Die westdeutsche Arbeiterbewegung nach 1945 Gisela Notz SchulteranSchultermitdenGenossen 32 Die Schwierigkeiten des (Wieder-)Aufbaus sozialistischer Frauenarbeit nach 1945 Julia Lis ZwischenVergangenheitsbewältigungundZukunftsvisionen 38 Linkskatholische und linksprotestantische Positionen in der Nachkriegszeit Arno Klönne DiegesamtdeutscheninternationalenJugendtreffen1946/47undihrScheitern 45 Der Wunsch nach «Jugendeinheit» und die deutschlandpolitische Wirklichkeit Jörg Wollenberg ZurverhindertenNeuordnungimBildungswesennach1945 52 ZumWeiterlesen 59 DieAutor*innen 62 2 Vorwort VORWORT Der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslo- vergleichsweise loyal zum Regime. Viele Deut- sen Kapitulation der deutschen Wehrmacht sche erleben den 8. Mai deshalb auch nicht und des Endes des deutschen Nationalsozia- als Befreiung, sondern als Niederlage. Die lismus, gehört zu den wenigen Jahrestagen, demokratischen Kräfte sind vergleichsweise die in der Bundesrepublik Deutschland nicht schwach, Deutschland und Österreich haben nur von Staats wegen, sondern von all jenen sich nicht von innen «befreit», sondern sind gewürdigt und begangen werden, denen ein von außen «befreit» worden bzw. entstanden. wie auch immer geartetes politisches oder Die Planungen vieler gewerkschaftlicher, so- historisches Bewusstsein eigen ist. Das heißt zialdemokratischer und sozialistischer, christ- natürlich nicht, dass dieser Tag von allen Men- licher und auch demokratischer Gruppen vor schen und Institutionen gleich gesehen wur- allem im Exil, aber auch innerhalb Deutsch- de oder wird. Das erinnerungspolitische Inte- lands, sahen tief greifende Maßnahmen vor. resse nahm durchaus verschiedene Formen Konsens war, dass eine soziale Demokra- an und setzte unterschiedliche Akzente – im tie und auch ein sozialer Rechtsstaat ökono- Osten oder im Westen Deutschlands, in regie- mische Strukturveränderungen erfordern. renden oder regierten, in herrschenden oder Ähnliche Ziele verfolgten anfangs auch pro- oppositionellen Kreisen, rechts oder links, in gressive Kräfte unter den Alliierten, die sich verschiedenen Schichten oder zu verschiede- bekanntlich auf den Nenner der vier großen nen Zeiten. Das lange – und sicherlich nicht D’s bringen lassen: Demilitarisierung, Dena- nur im Westen Deutschlands – vorherrschen- zifizierung, Dezentralisierung und Demokrati- de Gefühl einer Niederlage ist schon seit Län- sierung. gerem einem breit geteilten Gefühl und Ver- All diese Ideen stießen aber auf ein unüber- ständnis von Befreiung gewichen. Doch noch sichtliches Kräftefeld und große materiel - immer wird über die deutsche Schuld, ihre Ur- le Not. Vor Ort musste das Leben organisiert sachen und Folgen ebenso intensiv geschrie- werden. Die linken Akteur*innen2 trugen die ben und gestritten wie über den Charakter des politischen Hypotheken der alten (Weimarer) NS-Regimes und sein vermeintliches Nach- Spaltung und noch mehr der Niederlage der leben in der westdeutschen Demokratie und Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus der ostdeutschen Republik. Die nicht ganz un- mit sich; und sehr bald traten die außen- und wichtige Zeit vom Mai 1945 bis zur doppelten sicherheitspolitischen Interessen der Sie- Staatsgründung 1949 jedoch, jene «eigenar- germächte stärker in den Vordergrund: Ost- tige Latenz-Periode der ‹Nicht-Geschichte›»,1 West-Konflikt und Kalter Krieg begannen. wird bei solchen Diskussionen im Allgemei- Die machtpolitische Vereinnahmung der bei- nen ausgespart. den Teile Deutschlands durch die zwei «Su- Am 8. Mai 1945 ist Europa eine schwer zer- permächte» und die prinzipielle Beibehaltung störte Region, voller Flüchtlinge und trauma- der mentalen und ökonomischen Strukturen, tisierter Menschen. Was soll nun geschehen, die auch den Nationalsozialismus ermöglicht wie soll die Zeit nach dem Ende des Natio - hatten, inklusive der dazugehörigen Eliten nalsozialismus gestaltet werden? In Europa in Staat und Wirtschaft, verunmöglichten in haben sich in etlichen Ländern Widerstands- Westdeutschland weitergehende Reformen. bewegungen organisiert, in Deutschland hin- Die SPD bewegte sich bis mindestens Ende gegen steht die Bevölkerung bis zum Schluss der 1940er Jahre auf einem Linkskurs, pass- Vorwort 3 te sich dann jedoch zunehmend an den neu- sich diesen Anfängen eines zumeist vergesse- en Geist an und transformierte sich in den nen Arbeiterprotests, während Gisela Notz die 1950er Jahren von der Arbeiterpartei zu einer Schwierigkeiten des Wiederaufbaus einer ex- Volkspartei. Eine enge Zusammenarbeit mit plizit sozialistischen Frauenpolitik darstellt. Ju- der KPD lehnte sie von Beginn an ab. Die KPD lia Lis wirft einen zumeist auch von Linken ver- wiederum war wegen ihres Ende der 1940er gessenen Blick auf die gerade in diesen frühen Jahre wieder deutlich engeren Verhältnisses nachfaschistischen Jahren so wichtige Rolle zur russischen Besatzungsmacht nicht nur in der christlichen Linken, vor allem in Form des der späteren DDR kompromittiert (Demonta- sogenannten Linkskatholizismus. Am Beispiel gen, Vergewaltigungen). Vom Kriegsende bis der interzonalen Auseinandersetzungen einer 1947/48 stand ein kleines Fenster für Refor- gesamtdeutschen Jugendpolitik verdeutlicht men offen, danach begann die Restauration, Arno Klönne die schon 1947/48 manifesten insbesondere gegen die Frauen und gegen die innerdeutschen Spaltungen, Jörg Wollenberg Linke. erinnert an die Blockaden einer Erneuerung Gerade diese Zeit bis 1948 steht deswegen des deutschen Bildungswesens nach 1945. im Zentrum der vorliegenden Broschüre, die Hinweise auf wichtige und/oder empfehlens- den gesellschaftspolitischen Hoffnungen und werte Literatur für interessierte Leser*innen Sehnsüchten der damaligen Zeitgenoss*in- beschließen diese Broschüre. nen nachspürt. Gerd-Rainer Horn erinnert in Wir wünschen eine anregende Lektüre! seinem Beitrag an den europäischen Kontext auch der deutschen antifaschistischen Dis- BerndHüttnerundChristophJünke kussionen und Aktionen des Jahres 1945. Bremen/Bochum, im März 2020 Christoph Jünke beschreibt den Übergang dieser «Antifa»-Komitees in den vor allem 1 Hoffmann, Jürgen: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen 1946/47 drängenden Versuch einer antifa- Geschichte, Münster 2009, S. 506. 2 Zur Verwendung des Gen- schistisch gesinnten und das System des pri- der-Sternchens in der vorliegenden Broschüre: Für Bezeichnungen von Gruppen, in denen Männer deutlich dominieren, wird nur die vatwirtschaftlichen «Monopol»-Kapitalismus männliche Schreibweise verwendet, was nicht heißen soll, dass nicht transzendierenden Wirtschaftsdemokratie. auch zahlreiche Frauen zu den Mitgliedern gehörten. Häufig fehlen zudem die historischen Angaben zur geschlechterbezogenen Zusam- Keno Ingwersen und Johanna Kornell widmen mensetzung dieser Gruppen. 4 Ein historischEr Moment dEr BEfrEiung Gerd-Rainer Horn EIN HISTORISCHER MOMENT DER BEFREIUNG ANTIFASCHISMUS IM NIEMANDSLAND DES BEFREITEN WESTEUROPAS Es ist eine noch immer ungeklärte Frage, wa- US-amerikanischen Seite geschlossene Ver- rum es dazu kam. Doch buchstäblich in den einbarung über die Aufteilung der von ihnen letzten Momenten des Zweiten Weltkriegs, eroberten mitteldeutschen Gebiete langsam als die US-amerikanische und die sowjetische begannen, Präsenz zu zeigen. Die Bewoh- Armee in Mitteldeutschland aufeinandertra- ner*innen1 dieses Niemandslandes waren da- fen, geschah das Undenkbare: Mehr als fünf her dazu gezwungen, die administrativen und Wochen, zum Teil bis zu sieben Wochen lang politischen Herausforderungen der ersten Ta- blieb ein von etwa 500.000 Menschen be- ge und Wochen nach der Kapitulation allein wohnter Teil des deutschen Territoriums im anzugehen. Südwesten Sachsens von der US-amerikani- Dieser merkwürdige Fall eines Niemands- schen und der sowjetischen Armee unbesetzt: landes bietet also eine verlockende Fallstu- Vom 8. Mai 1945 bis Mitte Juni 1945, zum die darüber, was eine Bevölkerung zu tun be- Teil noch länger, wurden zwei Landkreise und schließt, wenn sie gezwungen ist, ihr Leben zwei Städte (Aue und Schneeberg) – das Ge- selbst aufzubauen, wenn keine höhere Auto- biet am Fuße des relativ industrialisierten Erz- rität anwesend ist, die ihnen sagt, was sie tun gebirges bis zur tschechoslowakischen Gren- soll. ze, etwa auf halbem Weg zwischen Chemnitz und Karlsbad – sich selbst überlassen. Nahezu Die Republik Schwarzenberg jede einzelne Gemeinde dieses Niemandslan- Etwa sieben Wochen lang wurde die Verwal- des hatte gleich zu Beginn dieses ungewöhn- tung des Niemandslandes zu einem Laborver- lichen Moments eines militärischen und poli- such der Selbstverwaltung. Natürlich waren tischen Vakuums bei den Kommandeuren der die Umstände dieser erzwungenen Selbstver- westlich stationierten US-amerikanischen Ein- waltung nicht gerade günstig. Paul Korb, das heiten darum gebeten, die Landkreise Stoll- letzte überlebende Mitglied der neuen provi- berg und Schwarzenberg in die US-amerika- sorischen Gemeindeverwaltung von Schwar- nische Besatzungszone aufzunehmen, doch zenberg, erinnerte sich 1995: «Im Schloss ohne Erfolg. und in mehreren Schulen lagen etwa 1.000 Faktisch