MATERIALIEN

Bernd Hüttner/Christoph Jünke (Hrsg.) VON DEN CHANCEN DER BEFREIUNG DER 8. MAI 1945 UND SEINE FOLGEN

INHALT

Vorwort 2

Gerd-Rainer Horn Ein historischer Moment der Befreiung 4 Antifaschismus im Niemandsland des befreiten ­Westeuropas

Christoph Jünke Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie 19 Die moralische Ökonomie der unmittelbaren ­Nachkriegszeit

Keno Ingwersen und Johanna Kornell Um die Mitbestimmung 26 Die westdeutsche Arbeiterbewegung nach 1945

Gisela Notz Schulter an Schulter mit den Genossen 32 Die Schwierigkeiten des (Wieder-)Aufbaus ­sozialistischer Frauenarbeit nach 1945

Julia Lis Zwischen Vergangenheitsbewältigung­ und Zukunftsvisionen 38 Linkskatholische und linksprotestantische Positionen in der Nachkriegszeit

Arno Klönne Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern 45 Der Wunsch nach «Jugendeinheit» und die deutschlandpolitische Wirklichkeit

Jörg Wollenberg Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945 52

Zum Weiterlesen 59

Die Autor*innen 62 2 Vorwort

VORWORT

Der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslo- vergleichsweise loyal zum Regime. Viele Deut- sen Kapitulation der deutschen Wehrmacht sche erleben den 8. Mai deshalb auch nicht und des Endes des deutschen Nationalsozia- als Befreiung, sondern als Niederlage. Die lismus, gehört zu den wenigen Jahrestagen, demokratischen Kräfte sind vergleichsweise die in der Bundesrepublik Deutschland nicht schwach, Deutschland und Österreich haben nur von Staats wegen, sondern von all jenen sich nicht von innen «befreit», sondern sind gewürdigt und begangen werden, denen ein von außen «befreit» worden bzw. entstanden. wie auch immer geartetes politisches oder Die Planungen vieler gewerkschaftlicher, so- historisches Bewusstsein eigen ist. Das heißt zialdemokratischer und sozialistischer, christ- natürlich nicht, dass dieser Tag von allen Men- licher und auch demokratischer Gruppen vor schen und Institutionen gleich gesehen wur- allem im Exil, aber auch innerhalb Deutsch- de oder wird. Das erinnerungspolitische Inte- lands, sahen tief greifende Maßnahmen vor. resse nahm durchaus verschiedene Formen Konsens war, dass eine soziale Demokra- an und setzte unterschiedliche Akzente – im tie und auch ein sozialer Rechtsstaat ökono- Osten oder im Westen Deutschlands, in regie- mische Strukturveränderungen erfordern. renden oder regierten, in herrschenden oder Ähnliche Ziele verfolgten anfangs auch pro- oppositionellen Kreisen, rechts oder links, in gressive Kräfte unter den Alliierten, die sich verschiedenen Schichten oder zu verschiede- bekanntlich auf den Nenner der vier großen nen Zeiten. Das lange – und sicherlich nicht D’s bringen lassen: Demilitarisierung, Dena- nur im Westen Deutschlands – vorherrschen- zifizierung, Dezentralisierung und Demokrati- de Gefühl einer Niederlage ist schon seit Län- sierung. gerem einem breit geteilten Gefühl und Ver- All diese Ideen stießen aber auf ein unüber- ständnis von Befreiung gewichen. Doch noch sichtliches Kräftefeld und große materiel - immer wird über die deutsche Schuld, ihre Ur- le Not. Vor Ort musste das Leben organisiert sachen und Folgen ebenso intensiv geschrie- werden. Die linken Akteur*innen2 trugen die ben und gestritten wie über den Charakter des politischen Hypotheken der alten (Weimarer) NS-Regimes und sein vermeintliches Nach- Spaltung und noch mehr der Niederlage der leben in der westdeutschen Demokratie und Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus der ostdeutschen Republik. Die nicht ganz un- mit sich; und sehr bald traten die außen- und wichtige Zeit vom Mai 1945 bis zur doppelten sicherheitspolitischen Interessen der Sie- Staatsgründung 1949 jedoch, jene «eigenar- germächte stärker in den Vordergrund: Ost- tige Latenz-Periode der ‹Nicht-Geschichte›»,1 West-Konflikt und Kalter Krieg begannen. wird bei solchen Diskussionen im Allgemei- Die machtpolitische Vereinnahmung der bei- nen ausgespart. den Teile Deutschlands durch die zwei «Su- Am 8. Mai 1945 ist Europa eine schwer zer- permächte» und die prinzipielle Beibehaltung störte Region, voller Flüchtlinge und trauma- der mentalen und ökonomischen Strukturen, tisierter Menschen. Was soll nun geschehen, die auch den Nationalsozialismus ermöglicht wie soll die Zeit nach dem Ende des Natio - hatten, inklusive der dazugehörigen Eliten nalsozialismus gestaltet werden? In Europa in Staat und Wirtschaft, verunmöglichten in haben sich in etlichen Ländern Widerstands- Westdeutschland weitergehende Reformen. bewegungen organisiert, in Deutschland hin- Die SPD bewegte sich bis mindestens Ende gegen steht die Bevölkerung bis zum Schluss der 1940er Jahre auf einem Linkskurs, pass- Vorwort 3

te sich dann jedoch zunehmend an den neu- sich diesen Anfängen eines zumeist vergesse- en Geist an und transformierte sich in den nen Arbeiterprotests, während Gisela Notz die 1950er Jahren von der Arbeiterpartei zu einer Schwierigkeiten des Wiederaufbaus einer ex- Volkspartei. Eine enge Zusammenarbeit mit plizit sozialistischen Frauenpolitik darstellt. Ju- der KPD lehnte sie von Beginn an ab. Die KPD lia Lis wirft einen zumeist auch von Linken ver- wiederum war wegen ihres Ende der 1940er gessenen Blick auf die gerade in diesen frühen Jahre wieder deutlich engeren Verhältnisses nachfaschistischen Jahren so wichtige Rolle zur russischen Besatzungsmacht nicht nur in der christlichen Linken, vor allem in Form des der späteren DDR kompromittiert (Demonta- sogenannten Linkskatholizismus. Am Beispiel gen, Vergewaltigungen). Vom Kriegsende bis der interzonalen Auseinandersetzungen einer 1947/48 stand ein kleines Fenster für Refor- gesamtdeutschen Jugendpolitik verdeutlicht men offen, danach begann die Restauration, Arno Klönne die schon 1947/48 manifesten insbesondere gegen die Frauen und gegen die innerdeutschen Spaltungen, Jörg Wollenberg Linke. erinnert an die Blockaden einer Erneuerung Gerade diese Zeit bis 1948 steht deswegen des deutschen Bildungswesens nach 1945. im Zentrum der vorliegenden Broschüre, die Hinweise auf wichtige und/oder empfehlens- den gesellschaftspolitischen Hoffnungen und werte Literatur für interessierte Leser*innen Sehnsüchten der damaligen Zeitgenoss*in- beschließen diese Broschüre. nen nachspürt. Gerd-Rainer Horn erinnert in Wir wünschen eine anregende Lektüre! seinem Beitrag an den europäischen Kontext auch der deutschen antifaschistischen Dis- Bernd Hüttner und Christoph Jünke kussionen und Aktionen des Jahres 1945. Bremen/Bochum, im März 2020 Christoph Jünke beschreibt den Übergang dieser «Antifa»-Komitees in den vor allem 1 Hoffmann, Jürgen: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen 1946/47 drängenden Versuch einer antifa- Geschichte, Münster 2009, S. 506. 2 Zur Verwendung des Gen- schistisch gesinnten und das System des pri- der-Sternchens in der vorliegenden Broschüre: Für Bezeichnungen von Gruppen, in denen Männer deutlich dominieren, wird nur die vatwirtschaftlichen «Monopol»-Kapitalismus männliche Schreibweise verwendet, was nicht heißen soll, dass nicht transzendierenden Wirtschaftsdemokratie. auch zahlreiche Frauen zu den Mitgliedern gehörten. Häufig fehlen zudem die historischen Angaben zur geschlechterbezogenen Zusam- Keno Ingwersen und Johanna Kornell widmen mensetzung dieser Gruppen. 4 Ein historischer Moment der Befreiung

Gerd-Rainer Horn EIN HISTORISCHER MOMENT DER BEFREIUNG ANTIFASCHISMUS IM NIEMANDSLAND DES BEFREITEN ­WESTEUROPAS

Es ist eine noch immer ungeklärte Frage, wa- US-amerikanischen Seite geschlossene Ver- rum es dazu kam. Doch buchstäblich in den einbarung über die Aufteilung der von ihnen letzten Momenten des Zweiten Weltkriegs, eroberten mitteldeutschen Gebiete langsam als die US-amerikanische und die sowjetische begannen, Präsenz zu zeigen. Die Bewoh- Armee in Mitteldeutschland aufeinandertra- ner*innen1 dieses Niemandslandes waren da- fen, geschah das Undenkbare: Mehr als fünf her dazu gezwungen, die administrativen und Wochen, zum Teil bis zu sieben Wochen lang politischen Herausforderungen der ersten Ta- blieb ein von etwa 500.000 Menschen be- ge und Wochen nach der Kapitulation allein wohnter Teil des deutschen Territoriums im anzugehen. Südwesten Sachsens von der US-amerikani- Dieser merkwürdige Fall eines Niemands- schen und der sowjetischen Armee unbesetzt: landes bietet also eine verlockende Fallstu- Vom 8. Mai 1945 bis Mitte Juni 1945, zum die darüber, was eine Bevölkerung zu tun be- Teil noch länger, wurden zwei Landkreise und schließt, wenn sie gezwungen ist, ihr Leben zwei Städte (Aue und Schneeberg) – das Ge- selbst aufzubauen, wenn keine höhere Auto- biet am Fuße des relativ industrialisierten Erz- rität anwesend ist, die ihnen sagt, was sie tun gebirges bis zur tschechoslowakischen Gren- soll. ze, etwa auf halbem Weg zwischen Chemnitz und Karlsbad – sich selbst überlassen. Nahezu Die Republik Schwarzenberg jede einzelne Gemeinde dieses Niemandslan- Etwa sieben Wochen lang wurde die Verwal- des hatte gleich zu Beginn dieses ungewöhn- tung des Niemandslandes zu einem Laborver- lichen Moments eines militärischen und poli- such der Selbstverwaltung. Natürlich waren tischen Vakuums bei den Kommandeuren der die Umstände dieser erzwungenen Selbstver- westlich stationierten US-amerikanischen Ein- waltung nicht gerade günstig. Paul Korb, das heiten darum gebeten, die Landkreise Stoll- letzte überlebende Mitglied der neuen provi- berg und Schwarzenberg in die US-amerika- sorischen Gemeindeverwaltung von Schwar- nische Besatzungszone aufzunehmen, doch zenberg, erinnerte sich 1995: «Im Schloss ohne Erfolg. und in mehreren Schulen lagen etwa 1.000 Faktisch waren einige Teile dieses halb ländli- verwundete deutsche Soldaten. In Gast - chen, halb industrialisierten Niemandslandes stätten und Fabrikräumen hatten ungefähr von US-amerikanischen Truppen befreit wor- 6.000 Flüchtlinge und Bombengeschädigte den, die sich allerdings anschließend zurück- [wegen der Bombenangriffe auf das nur 60 Ki- gezogen und die verwirrte Bevölkerung sich lometer entfernte Dresden, Anm. d. A.] ihre selbst überlassen hatten. Auch die weiter öst- Massenunterkünfte: Mehrere tausend Kriegs- lich stationierten Einheiten der Roten Armee gefangene und Zwangsarbeiter waren in den enthielten sich jeder Beteiligung an den Zivil­ [Zwangsarbeiter-]Lagern […] zusammengep- angelegenheiten des Niemandslandes – bis fercht.»2 Die Zerstörung von Häusern, öffentli- Mitte Juni, als sie im Anschluss an die mit der chen Gebäuden und die damit zusammenhän- Ein historischer Moment der Befreiung 5

genden Beeinträchtigungen des Zivillebens zenberger NS-Bürgermeister in den letzten im Niemandsland waren zwar vergleichswei- Stunden des «Tausendjährigen Reichs» ge- se begrenzt, aber die Herausforderungen der schaffenen Truppe. Am nächsten Tag, dem Organisation des täglichen Lebens und des 12. Mai, wandte sich ein 15-köpfiger Aktions- Überlebens einer halben Million Menschen ausschuss, der schließlich als Antifaschisti- waren, wie man sich leicht vorstellen kann, scher Aktionsausschuss bezeichnet wurde, nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und in einem offenen Brief an die Bevölkerung der sechs Jahren totalem Krieg vielfältig. Vor al- Stadt. lem war die lokale NS-Verwaltung zunächst In den meisten größeren Orten des Nie- noch weitgehend intakt: «Noch am 9., 10. und mandslandes wurden zwischen dem 8. und 11. Mai marschierten geschlossene Einheiten 15. Mai ähnliche antifaschistische Aktionsko- der Wehrmacht in voller Bewaffnung durch mitees gebildet. Gekrönt wurde dieses Sys- Schwarzenberg. Die Macht der Nazis war hier tem einer gleichsam erzwungenen spontanen nicht gebrochen. Doch begann die staatliche Selbstverwaltung von dem am 23. Mai mit Ordnung sich aufzulösen. Es gab keine Le- Sitz in Schwarzenberg gebildeten zentralen bensmittelversorgung mehr. Diebstähle und Re­gional-­Aktionsausschuss. Von Bedeutung Plünderungen häuften sich. Abgelegenen ist, dass dieser Bezirks-Aktionsausschuss Häusern und Bauernhöfen galten die Raubzü- von den lokalen Aktionsausschüssen gewählt ge vor allem.»3 wurde und dass diese Selbstverwaltungsba- In früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten sisorgane das statuarische Recht behielten, hatte das Gebiet eine gewisse Industrialisie- den Schwarzenberger Koordinierungsaus- rung durchlaufen. Entsprechend war die Ar- schuss zu kontrollieren und neu zu wählen. 5 beiterbewegung in der Gegend, die im Mai/ Die antifaschistische öffentliche Meinung vor Juni 1945 zum Niemandsland geworden war, Ort wurde von den Mitgliedern der verschie- bis 1933 relativ gut vertreten. Paul Korb fährt denen lokalen Aktionskomitees vertreten, und fort: «Was konnten wir Antifaschisten tun? Mit dies waren vor allem Sozialdemokraten, Kom- zwei Genossen sprach ich darüber am Vormit- munisten, Liberaldemokraten und Personen tag des 11. Mai im [Schwarzenberger] Stadt- ohne parteipolitische Zugehörigkeit. Häufig teil Wildenau. Für den Nachmittag verabre- wurde mit großer Sorgfalt darauf geachtet, deten wir eine Beratung im größeren Kreis. dass eine ausgewogene Vertretung durch lo- Im Wald bei Bermsgrün fanden wir uns dann kal präsente und aktive politische Organisa- zusammen, sechs Männer und zwei Frauen tionen gewährleistet war. Im wichtigen Bal- aus Schwarzenberg», zwei Sozialdemokra- lungszentrum Aue erhielten Kommunisten, ten, die anderen Kommunisten. «Unsere Be- Sozialdemokraten und Liberaldemokraten bis ratung dauerte kaum eine halbe Stunde. Das Juni 1945 jeweils genau zehn Sitze im lokalen Ergebnis hieß: Zurück in die Stadt! Weitere Aktionsausschuss. Antifaschisten mobilisieren und bewaffnen! Wo immer möglich versuchten die Aktions- Am Abend das Rathaus besetzen, die Ge- ausschüsse zunächst, mit den «alten» Stadt- stapo-Dienststelle, das Wehrkreiskommando verwaltungen zusammenzuarbeiten, um sich und das ‹Braune Haus› der NSDAP! Die Nazis der vielfältigen und drängenden Neuausrich- entwaffnen und die führenden verhaften!»4 Et- tung der öffentlichen Ordnung und den da- wa 100 bewaffnete Arbeiter drangen in dieser mit verbundenen, scheinbar kaum zu bewäl- Nacht, gegen 22 Uhr, in das Rathaus ein und tigenden Aufgaben zu stellen. Dennoch sahen verhafteten die Polizisten und Mitglieder der sich die Komitees nach etwa zwei Wochen ge- bewaffneten Zivilgarde, einer vom Schwar- zwungen, die meisten der alten Kommunal- 6 Ein historischer Moment der Befreiung

beamten von ihren wichtigen Machtpositio- waren nicht viel geneigter als ihre westlichen nen abzulösen. Schon von Anfang an hatten Verbündeten, die die traditionellen Strukturen die Aktionskomitees Exekutivbefugnisse in politischer und administrativer Hierarchien Bezug auf politische Entscheidungsfindung, umgehenden und ihnen widersprechenden Entnazifizierung und die Ersetzung kompro- Experimente demokratischer Selbstverwal- mittierter Personen übernommen, sodass all- tung über das notwendige Minimum hinaus mählich immer mehr Schlüsselpositionen von zu fördern oder auch nur zu tolerieren. Ab den neuen Behörden kontrolliert wurden. Der Mitte Juni 1945 wurden die Aktionskomi- ehemalige (und zukünftige) sächsische Lan- tees ausgegrenzt und marginalisiert, wenn desminister, der Sozialdemokrat Alfred Fel- nicht sogar ganz aufgelöst. Führende Aktivis- lisch, beschrieb die politische Situation im ten wurden in die neu belebten traditionellen Niemandsland gegen Ende Mai 1945 mit fol- Verwaltungsstrukturen ihrer Orte integriert – genden präzisen Worten: «In Ermangelung meist in beratender Funktion. Einige Über- jeder Reichsregierung und oberer Behörden reste ehemaliger Aktionskomitees überlebten sind heute die Landratsämter oder die Bürger- noch mehr als ein Jahr lang. Doch nirgendwo meister in bezirksfreien Städten die einzigen haben sich die Aktionsausschüsse des Nie- autoritativen Behörden»; aber diese Behörden mandslandes aktiv gegen ihre faktische Auflö- erhalten nun ihre «Verordnungs- und gesetz- sung gewehrt,8 nicht zuletzt und ohne Zweifel gebende Gewalt, bis zu einer später durch die wegen des klaren Bewusstseins ihrer völligen Interalliierte Kommission bestimmten einheit- Isolation in einem Nachkriegsdeutschland, in lichen Verwaltung Deutschlands, durch die dem die vier Alliierten die Macht innehatten. Aktionsausschüsse, die an die Stelle der frü- heren Bezirks- und Kreisausschüsse getreten Antifa-Ausschüsse sind. Der Aktionsausschuss ist jetzt der Trä- in Deutschland ger der öffentlichen Gewalt, der Polizei und Das spontane Entstehen solcher Aktions- des verwaltenden Rechts. Seine Anordnun- komitees war keineswegs eine Besonder- gen verpflichten zum unbedingten Gehorsam. heit des Niemandslandes. Der einzige Unter- Seine Beschlüsse sind auch für den Landrat schied und das entscheidende Merkmal der bindend.»6 Die Nähe dieses dichten Netzes sich auf Schwarzenberg konzentrierenden von Aktionskomitees zu den Formen direk- antifaschistischen Aktionskomitees im Erz- ter Demokratie, die selbst nach zwölf Jahren gebirge waren, dass sie sozusagen aufgrund des Nazi-Terrors aus dem noch lebendigen versehentlicher Vernachlässigung wirkliche Gedächtnis früherer Traditionen der Arbeiter- lokale und regionale Machtpositionen ein- bewegung aufgerufen wurden, wird noch un- nahmen. Auch anderswo in Deutschland ent- terstrichen durch den an vielen Orten des Nie- standen zum Zeitpunkt der Kapitulation bzw. mandslandes vorgenommenen Rückgriff auf Befreiung mit einer erstaunlichen und überra- General- und Vollversammlungen, auf denen schenden Gleichmäßigkeit ähnliche Organe. zum Teil wichtige Entscheidungen gefällt wur- Ihre Selbstbezeichnung unterschied sich von den – wie beispielsweise die geheime Wahl ei- Fall zu Fall, doch genannt wurden und wer- nes neuen Bürgermeisters im Dorf Erla.7 den sie in der Regel «Antifaschistische Aus- Als die Alliierten Mitte Juni 1945 beschlossen, schüsse» oder «Antifa-Ausschüsse». Ohne das Niemandsland der sowjetischen Besat- deren damals zumeist marginale Rolle bei der zungszone zuzuordnen, war jedoch die Zeit Befreiung Deutschlands übertreiben zu wol- der Aktionsausschüsse abgelaufen. Die so- len, war doch ihre Präsenz in unzähligen gro- wjetischen politischen Entscheidungsträger ßen und kleinen Städten bemerkbar. Und das Ein historischer Moment der Befreiung 7

politische Spektrum ihrer Mitgliedschaft war ren. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die dem der Niemandsland-Ausschüsse vollkom- Antifas in München, Frankfurt oder Stuttgart men vergleichbar. Vertreten war das gesamte daran interessiert waren, die gesamte Stadt- Spektrum des antifaschistischen Untergrunds verwaltung zu übernehmen oder als Sowjets mit einem bemerkenswerten Übergewicht an oder Räte nach dem russischen oder deut- Aktivisten, die zu den ehemaligen Volkspar- schen Vorbild von 1917 zu fungieren.»10 Laut teien der Arbeiterbewegung, der Sozialdemo- Boehling operierten die Antifa-Ausschüsse kratie und des Kommunismus vor 1933, ge- in diesen Großstädten also ohne große ge- hörten. Immer wieder spielten dabei jedoch sellschaftspolitische Ambitionen, was sicher- Personen aus der eher kleinen linkssozialisti- lich auf ihren Realitätssinn hinsichtlich des schen und dissidenten kommunistischen Tra- dort Möglichen verweist. In der Regel wurden dition eine überproportional wichtige Rolle bei diese Komitees buchstäblich in der Hitze der der Etablierung solcher Antifa-Ausschüsse. Schlacht des Moments der Befreiung/Kapitu- Ihre wirkliche Rolle beim Wiederaufbau des lation gegründet. Ihre Initiator*innen kannten öffentlichen Lebens und der öffentlichen sich oft aus informellen Kontakten während Ordnung war fast immer marginal. Mit we- des nationalsozialistischen Jochs, wenn nicht nigen Ausnahmen – und abgesehen vom bereits aus gemeinsamen Aktivitäten in den «Niemandsland» – gingen ihre Entwürfe und Tagen der Weimarer Republik. Doch nur sel- manchmal weitgesteckten Ziele für den Mo- ten, zumeist in den größeren Städten, entstan- ment der Befreiung/Kapitulation in allen vier den solche Ausschüsse aus bereits vor der Be- Besatzungszonen des besiegten Deutschland freiung bestehenden formalen Verbindungen weit über die engen Grenzen der politischen ihrer führenden Mitglieder. Ihre Rolle im Vor- und militärischen Umstände hinaus. So be- lauf zur Befreiung war daher bestenfalls ver- tont Jeannette Michelmann die Ausnahme- nachlässigbar. fälle der kleinen oder mittleren Städte Pirna, Dennoch lohnt es sich, einige außergewöhn- Schmiedeberg, Meißen und Waren als Orte, liche Erfahrungen hervorzuheben, die mehr an denen die Antifa-Ausschüsse, wenn auch auf ungewöhnliche Umstände als auf be- nur für kurze Zeit, traditionelle lokale Regie- wusstes Design zurückzuführen sind und die rungsstrukturen effektiv ersetzt haben.9 Re- ein schwaches Echo ähnlicher Aktionen ver- becca Boehling weist in ihrer wichtigen Stu- gleichbarer Ausschüsse in anderen Ländern die über Frankfurt, Stuttgart und München darstellen. In Frankreich und Italien (und noch im Moment der Befreiung insbesondere auf mehr in Griechenland und Jugoslawien) ha- die Arbeit der dortigen Antifa-Ausschüsse ben ähnliche Ausschüsse schon viele Mona- hin, mit tendenziell vergleichbaren Beobach- te, ja sogar Jahre vor der Befreiung mit einer tungen zu Ursprung, Bedeutung und Nieder- unvergleichlich stärkeren lokalen und sozia- gang solch embryonaler Regierungsformen, len Verankerung in ihrer jeweiligen Bevölke- und schließt: «In allen drei Städten wurden die rung den Kampf gegen die nationalsozialisti- formalen Strukturen der Antifas ebenso spon- sche Besetzung und lokale Quislinge geführt tan wie informell geschaffen. In keiner der drei [«Quislinge» wurden im Zweiten Weltkrieg Städte waren sie tatsächlich als Kommunal- jene «Verräter» genannt, die, wie der norwe- verwaltungen tätig, obwohl sie gelegentlich gische Politiker Vidkun Quisling, mit der deut- als Bezirksverwaltungen in Randgebieten wie schen faschistischen Besatzungsmacht kol- Höchst, am Stadtrand von Frankfurt, Alte Hai- laborierten]. Große Teile Frankreichs südlich de in München, Gaisberg, Zuffenhausen oder der Loire und westlich der Rhône sowie der Unter- und Obertürkheim in Stuttgart tätig wa- größte Teil Mittel- und Norditaliens, nördlich 8 Ein historischer Moment der Befreiung

von Florenz, wurden buchstäblich von Par- ergriff. Im Laufe des Monats April 1945 war tisaneneinheiten befreit, die unter der politi- ein lokaler «Heimatschutz» von schließlich schen Führung von Befreiungskomitees (und 200 Zivilist*innen neu geschaffen worden, der im Gefolge der alliierten Siege anderswo) ope- auch eine Reihe von dort stationierten deut- rierten. In Deutschland, wo es die politischen schen Soldaten umfasste. In der Nacht vom Umstände ebenso wie die Beschaffenheit des 30. April auf den 1. Mai 1945 besetzte dieser geografischen Geländes nicht zuließen, dass Heimatschutz wichtige strategische Punkte in eine Situation aufkam, die den im Untergrund Oberstdorf, verhaftete führende NS-Vertreter, agierenden Widerstandsbewegungen jenseits nahm dann Kontakt zu langsam herannahen- des Rheins und der Alpen auch nur entfernt den französischen Militäreinheiten auf und ähnelte, konnten die schwachen Verbindun- organisierte den kampflosen Einzug alliierter gen des Widerstands fast nie selbst auch nur Truppen nach Oberstdorf im Laufe des 1. Mai davon träumen, eine effektive Rolle bei der mi- 1945. Rebecca Boehling macht auf eine ähn- litärischen Befreiung Deutschlands zu spielen. lich spektakuläre Aktion aufmerksam, nicht im Es gibt jedoch einige Ausnahmen, die eine provinziellen Oberstdorf, sondern in der bay- kurze Diskussion verdienen, da sie das Ziehen erischen Landeshauptstadt München – eine bestimmter Parallelen zwischen den antifa- Aktion jedoch, die nicht von Erfolg gekrönt schistischen Aktionskomitees und ihren we- war: In München übernahm eine Gruppierung sentlich mächtigeren und einflussreicheren verschiedener ziviler und militärischer Krei- Schwesterorganisationen im Süden ermögli- se, die Freiheits-Aktion-Bayern (FAB), in der chen. Die Literatur deutet darauf hin, dass sol- Nacht vom 27. auf den 28. April 1945 die Ra- che Ausschüsse (oder das funktionale Äquiva- diosender im Münchner Raum und erklärte für lent solcher Ausschüsse) in einigen wenigen die zwölf Stunden, die sie als FAB die Äther- Einzelfällen eine wirkliche Rolle bei der Be- wellen im Raum München kontrollierte, die freiung einiger deutscher Städte gespielt ha- Jagdsaison auf Nazi-Funktionäre für eröffnet. ben. Peter Bukvič verweist auf die militärische Zeitgleich mit der Befreiung des KZ Dachau Selbstbefreiung von Stollberg, einer der wich- führte die FAB-Agitation zu sympathisieren- tigen Bevölkerungszentren im Niemandsland, den Aufstandsaktionen in einigen Münchner durch die gemeinsamen Bemühungen zweier Vororten, wurde schließlich jedoch brutal un- bereits bestehender Widerstandsgruppen in terdrückt. Doch schlug selbst diese fehlge- der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1945, wobei schlagene Aktion Wellen. So betonte der Ar- die beiden Gruppen ihre Kräfte anschließend tikel eines Starjournalisten im einflussreichen im Stollberger Aktionskomitee bündelten. US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Und natürlich kann die bereits beschriebene The New Yorker die FAB-Aktion und berich- Machtübernahme durch das Schwarzenber- tete über die für ihn fast unglaubliche Tatsa- ger Aktionskomitee am 11. Mai als ein ähnlich che, dass er irgendwo in Deutschland tatsäch- mutiger Akt betrachtet werden. Ulrich Schrö- lich Deutsche gesehen habe, die ihr Leben im der verweist in einer anregenden Diskussion Kampf gegen die Nazis riskiert hatten. über die, wie er sie nennt, «regionalen Befrei- Die erstaunlichste Selbstbefreiung einer ungsbewegungen» in Südbayern und Öster- deutschsprachigen Stadt fand jedoch in Inns- reich auf den spektakulären Erfolg eines loka- bruck in Tirol statt. Der zunächst euphorisch len Untergrundnetzes in Oberstdorf im Allgäu von unzähligen Tiroler*innen unterstütz - (besser bekannt als beliebtes Tourismusziel te «Anschluss» 1938 hatte gegen Kriegsen- der Nachkriegszeit), das die lokale Macht be- de viel von seinem Glanz verloren, und Ende reits vor der Ankunft der alliierten Streitkräfte ­April/Anfang Mai 1945 kam das Pech hinzu, Ein historischer Moment der Befreiung 9

dass sich die letzten Paroxysmen der national- Heym die Geschichte der erfolgreichen Grün- sozialistischen Militärmacht in den Tiroler und dung einer demokratischen sozialistischen Salzburger Alpen ereigneten. Von der Sinn- Republik in der von ihm bezeichneten «Repu- losigkeit militärischer Einsätze gegen alliierte blik Schwarzenberg» – ein augenzwinkerndes Streitkräfte nur wenige Tage vor Kriegsende Märchen von einem dynamischen Beispiel für zunehmend überzeugt, zeigten immer mehr Selbstverwaltung und partizipative Demokra- Tiroler*innen Sympathien mit einer Reihe von tie, das auf die immanenten Möglichkeiten im Laufe der Zeit entstandenen Widerstands- hinweisen soll, die das kurze Experiment des gruppen. Am 2. Mai 1945 übernahmen militä- Niemandslandes veranschaulichen.12 rische und zivile Mitglieder von Widerstands­ Stefan Heym wusste nur zu gut, dass sich die organisationen in einer Gemeinschaftsaktion tatsächliche Geschichte von seinem utopi- die wichtigste Garnison der militärisch zentra- schen Gleichnis deutlich unterschied. Doch len Stadt Innsbruck. Die regionalen national- in anderen Teilen Europas, in Frankreich und sozialistischen Kommandostrukturen wurden Italien (auch in Griechenland und in Jugosla- effektiv abgebaut und die führenden Offiziere wien), erlebte dieser historische Moment der verhaftet. Die lokale Polizei wurde ebenfalls Befreiung weitaus bedeutendere Fälle loka- unter das Kommando von Widerstandsakti- ler Selbstverwaltung. Die mit den Antifa-Aus- visten gestellt. Am 3. Mai 1945 gab es noch schüssen vergleichbaren Befreiungskomi- einige tödliche Gefechte mit SS-Einheiten in tees bildeten für einige Zeit – Tage, Wochen den Straßen der Stadt, aber bis 17 Uhr war und manchmal sogar mehrere Monate – die die Stadt Innsbruck befreit, die größte Stadt wirksamen Organe einer Lokalregierung. im westlichen Drittel Österreichs. Als noch An vielen Orten, in vielen Städten und sogar am selben Abend US-amerikanische Trup- in französischen Großstädten wie Toulouse pen nach Innsbruck einmarschierten, wur- oder Marseille oder in den meisten großen den die Straßen der Stadt mit Fahnen in den Bevölkerungszentren in Norditalien (vor al- österreichischen Nationalfarben rot-weiß-rot lem in Turin, Genua und Mailand) arbeiteten geschmückt. Der offizielle Bericht der US-In- die traditionellen lokalen und regionalen Ver- fanteriedivision bringt die Überraschung und waltungsstrukturen oft Seite an Seite mit den große Freude der alliierten Soldaten und Kom- dort agierenden Befreiungskomitees und den mandanten zum Ausdruck: «Es war wie die damit zusammenhängenden neu geschaffe- Befreiung von Paris.»11 nen Institutionen, wie die in Frankreich sehr einflussreichen «Republikanischen Kommis- Stefan Heym sare». Die Bürgermeister und Gemeinderäte, Der merkwürdige Fall des Niemandslandes sogar Präfekten wurden anfangs zumeist von an den Nordwesthängen des Erzgebirges er- Befreiungskomitees ernannt (genau wie im langte einen gewissen Bekanntheitsgrad aber nicht-fiktiven Fall des deutschen Niemands- erst, als der bedeutende deutsche Schriftstel- landes). Und so wurden, bis zu einem gewis- ler Stefan Heym, dessen Romane wichtige sen Punkt, selbst die Regionalregierungen im Aspekte der deutschen und europäischen Ge- Moment der Befreiung weitaus mehr von den schichte des 20. Jahrhunderts aufgreifen, im neuen Selbstverwaltungsorganen geleitet Jahr 1984 den utopischen Roman «Schwar- und kontrolliert als umgekehrt. zenberg» veröffentlichte: In diesem fiktiven Die ersten drei Romane Stefan Heyms wa- Bericht über die besonderen Lokalereignis- ren ursprünglich in englischer Sprache ge- se in jenem kurzen Frühjahr überraschender schrieben und veröffentlicht worden: Der Möglichkeiten des Jahres 1945 schildert junge Antifaschist Heym hatte Deutschland 10 Ein historischer Moment der Befreiung

Ende März 1933 hastig verlassen, auf Skiern US-amerikanischen Truppen zwischen dem im schneebedeckten Riesengebirge illegal 10. Juli und dem 17. August 1943, die deut- die Grenze zur Tschechoslowakei überquert sche Armee über die Straße von Messina aufs und schließlich in den Vereinigten Staaten ei- italienische Festland zu vertreiben. Am 3. Sep- ne neue Heimat gefunden. Als Mitglied einer tember 1943 begannen britische und kanadi- Einheit der alliierten psychologischen Kriegs- sche Streitkräfte von Sizilien aus ihre Invasion führung beteiligte er sich an der Invasion in Kalabriens. Am 9. September fanden zwei wei- der Normandie, der Befreiung von Paris und tere alliierte Landungen statt: eine relativ klei- der Ardennenschlacht und erlebte den Tag ne alliierte Truppe in Apulien und die Hauptin- der Befreiung an der Elbe. Anschließend ar- vasionstruppe in Salerno, südlich von Neapel. beitete Heym in der Redaktion der deutsch- Die anschließende Befreiung des südlichen sprachigen Publikationen der Alliierten Mili- italienischen Festlandes wurde zu einem lan- tärregierung im Ruhrgebiet und in München. gen und kostspieligen Feldzug. Als die deut- Sein dritter Roman «The Crusaders. A Novel schen Truppen am Abend des 17. September of Only Yesterday» (dt. «Kreuzfahrer von heu- 1943 den sardischen Boden in Richtung Kor- te und/oder Der bittere Lorbeer») wurde sein sika verließen, wurde Sardinien die zweite be- erster internationaler Erfolg. In «The Crusa- freite Insel. Hatte die alliierte Invasion Siziliens ders» greift Heym auf seine Erfahrungen aus begonnen, als Mussolini noch an der Macht erster Hand in der US-amerikanischen Armee war, stimmte der Große Faschistische Rat am 1944/45 zurück und verdeutlicht die Wider- 25. Juli 1943 – im Bewusstsein, dass die Tage sprüche einer Befreiungsarmee, die dazu be- der italienischen faschistischen Macht gezählt stimmt sei, fremde Länder zu besetzen. Und er waren – dafür, Mussolini zu entlassen und zu haucht dabei den unterschiedlichsten Charak- verhaften, die Macht an König Victor Emma- teren und Charakterfehlern von Offizieren und nuel III. und die effektive Kontrolle an General Soldaten, von kühnen und mutigen Soldaten Pietro Badoglio zu übergeben. Vordergründig bis zu Schwarzmarkt-Profiteuren Blut und Le- noch mit Deutschland verbündet, fanden nun ben ein. Damit war Heym bestens vorberei- Geheimverhandlungen mit den Alliierten statt, tet und gut gerüstet, seinen utopischen Ro- die in einem Waffenstillstandsabkommen en- man über jenes Niemandsland zu schreiben, deten, das am 3. September 1943 heimlich das zu einer demokratischen sozialistischen unterzeichnet wurde. Am 8. September wur- Kommune wurde. Obwohl ausdrücklich als de der Waffenstillstand öffentlich verkündet, Kommentar zur deutschen Geschichte – und was unmittelbar, mit Ausnahme der bereits keineswegs nur zur ostdeutschen Geschich- von alliierten Truppen befreiten Teile, zur so- te – konzipiert, kann dieser Roman (und sollte fortigen Übernahme Italiens durch deutsche dies vielleicht auch) als eine Parabel auch für Truppen führte, die die plötzlich neutralisier- die ebenso bemerkenswerten wie wenig be- ten italienischen Streitkräfte ersetzten. Diese kannten Geschehnisse des südlichen Europas «Operation Achse» war ein erstaunlicher mi- gelesen werden. litärischer Erfolg. Außer Teilen Kalabriens und Apuliens war Sardinien das einzige bedeuten- Die frühen Phasen de Territorium Italiens, in dem sich die italie- der Befreiung in Europa nischen Truppen offen auf die Seite der Alli- Der erste bedeutende Teil Westeuropas, der ierten stellten, gegen die deutsche Präsenz von den Diktaturen der Achsenmächte be- kämpften und es so schafften, die Insel bis freit wurde, war Sizilien. Im Anschluss an zum zum 17. September 1943 von der nationalso- Teil heftige Kämpfe gelang es britischen und zialistischen Kontrolle zu befreien. Ein historischer Moment der Befreiung 11

Der erste Teil französischen Territoriums in Eu- sikas beitrugen, als die letzten deutschen Sol- ropa, der von der nationalsozialistischen Herr- daten in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober schaft befreit wurde, war, wie man manchmal 1943 mit dem Boot von Bastia im Nordosten vergisst, Korsika. Die Insel der Schönheit (Ile Korsikas aufbrachen. Ohne Zweifel spielte de Beauté) war, wie weite Teile Südostfrank- auch die militärische Aktivität der korsischen reichs, seit November 1942 von Mussolinis Widerstandseinheiten eine wichtige Rolle bei Italien besetzt und verwaltet worden, und so der Befreiung des ersten Territoriums des fran- wurde Korsika unter der Anwesenheit von zösischen Mutterlandes. Die Eröffnungssalve nicht weniger als 85.000 italienischen Besat- der korsischen Befreiung stellte am 9. Sep- zungssoldaten aufgerieben, verstärkt ab ­Juli tember 1943 die Übernahme der Präfektur 1943 durch eine 12.000 Mann starke deut- Ajaccio, der am Westufer gelegenen Haupt- sche Truppe. Obwohl die Kommandeure der stadt Korsikas, dar. Die Organisation, die italienischen Truppen auf Korsika den Befehl für den Angriff auf die Präfektur verantwort- erteilten, die deutschen Truppen nach der Ab- lich war, war das lokale Befreiungskomitee. setzung Mussolinis als ihren Feind zu betrach- Im Beisein ihrer Vertreter unterzeichnete der ten, wurde die Befreiung Korsikas vor allem Präfekt von Vichy eine Vereinbarung über die von französischen Truppen durchgeführt. Sich Übergabe Korsikas an die CFLN. Seite an Sei- über die Opposition General de Gaulles hin- te mit den regulären Truppen der AFL nahmen wegsetzend, der auf die Ankunft der alliierten die Widerstandseinheiten an dem vierwöchi- Truppen warten wollte, führte General Henri gen blutigen Kampf um die Befreiung Korsi- Giraud, von Juni bis November 1943 Vizeprä- kas teil. Ajaccio war damit das erste bedeuten- sident des französischen Komitees für Natio- de Bevölkerungszentrum in Westeuropa, das nale Befreiung (CFLN), die Truppen der franzö- von Widerstandskämpfern befreit wurde, die sischen Befreiungsarmee (AFL) in den Kampf sich in einem lokalen Dachverband, dem Co- gegen die Nazi-Truppen auf Korsika. Die AFL mité de Libération (Befreiungskomitee), orga- bestand aus französischen Truppen, deren nisierten. Kommandanten sich in Nord- und Westafri- Eine vergleichbare Schlacht zur Befreiung ei- ka geweigert hatten, dem Vichy-Regime die nes bedeutenden Bevölkerungszentrums Treue zu schwören. Unter Mitwirkung der führten italienische Widerstandskämpfer noch immer auf korsischem Boden stationier- vier heftige Tage lang, zwischen dem 27. und ten zahlreichen italienischen Soldaten führten 30. September 1943, mit Nazi-Truppen in den die Truppen Girauds, darunter 6.600 Soldaten engen Straßen und Hügelbezirken der dritt- einer marokkanischen Infanteriedivision, vom größten Stadt Italiens, in Neapel. Die von alli- 9. September bis zum 4. Oktober 1943 einen ierten Soldaten nach Norden zurückgedräng- durch alliierte Luftangriffe unterstützten vier- ten deutschen Truppen waren von keinem wöchigen Militärkampf gegen die deutschen Geringeren als Adolf Hitler selbst angewiesen Streitkräfte auf Korsika durch. worden, Neapel vor dem deutschen Rückzug War Sizilien von alliierten Truppen befreit wor- und der Ankunft der alliierten Befreier voll- den, waren es auf Sardinien italienische Trup- ständig zu zerstören. Die verzweifelten und pen, deren Kommandanten gerade die Seiten heldenhaften Aktionen bewaffneter ziviler gewechselt hatten, die die Insel befreiten. So Aufständischer Ende September machten es trat nun auf Korsika ein völlig neues Phäno- aber unmöglich, den Plan der gezielten Zer- men auf: Die regulären Truppen der AFL unter störung Neapels durchzuführen. Die «vier der politischen Führung der CFLN waren nicht Tage von Neapel» wurden (vergleichbar dem die einzigen Streitkräfte, die zur Befreiung Kor- durch AFL und korsische Widerstandskämp- 12 Ein historischer Moment der Befreiung

fer gemeinsam vorgenommen Feldzug zur rischer) Bewegungen und Ideologien in vielen Befreiung Korsikas) ein machtvolles und sym- anderen europäischen (und auch außereuro- bolisches Omen für die restlichen zwölf bzw. päischen) Kontexten.15 20 Monate des Befreiungskampfes der beiden Nichtsdestotrotz konzentrierten sich Beob- Länder, die im Mittelpunkt dieses Buches ste- achter und/oder Aktivisten für einige Zeit vor hen: Italien und Frankreich. […]13 allem auf verschiedene nationale Einzelereig- nisse, Prozesse und Konflikte. Die politischen Antifaschismen Entscheidungsträger in den beiden einfluss- Antifaschismus hat sich in vielen Farben mani- reichsten internationalen Verbänden der Ar- festiert. Als Realität und Begriff zuerst entstan- beiterklasse, der (sozialdemokratischen) So- den im Italien der 1920er Jahre, führte die be- zialistischen Arbeiterinternationale und der schränkte Reichweite dieses bis dahin einzig Kommunistischen Internationale, schauten wirklichen Falls dazu, dass Antifaschismus – aus internationaler und internationalistischer und Faschismus! – für einige Jahre ein eher Sicht recht genau auf die zunehmende fa - marginales Phänomen für Beobachter*innen schistische Bedrohung. Doch außerhalb die- jenseits der Grenzen des italienischen Staates ser relativ geschlossenen Kreise der sozial- blieben. In den Worten eines scharfsinnigen, demokratischen und kommunistischen Welt zeitgenössischen Analytikers, des österrei- haben sich Beobachter kaum ernsthaft mit chischen Sozialdemokraten Adolf Sturmthal: dem Faschismus als einer mächtigen trans- «Solange der Faschismus als rein italienische nationalen Herausforderung beschäftigt. Entwicklung angesehen wurde, neigten aus- Erst im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) ländische Sozialisten dazu, die Schwarz-Hem- kam es zu einem internationalen antifaschis- den so zu betrachten wie neugierige Zuschau- tischen Bewusstsein. Die fast völlige Isolation er seltsame Tiere eines Zoos betrachten: als antifaschistischer Kämpfer auf den brutalen interessante Exemplare, aber nicht als We- Schlachtfeldern der iberischen Hochebenen – sen, die das eigene Leben beeinflussen könn- die einzigen Länder, die sich offen auf die Sei- ten. Sie zu studieren könnte die menschliche te der republikanischen antifaschistischen Neugier befriedigen, würde aber wenig prak- Kräfte stellten und sie mit Waffen versorg- tisches Wissen bringen».14 Außerhalb Itali- ten, waren die Sowjet­union (unter bestimm- ens waren es italienische Auswanderer, oft ten Bedingungen, die sie an ihre Hilfe knüpf- antifaschistische Flüchtlinge, die die ersten ten) und Mexiko – sorgte allerdings dafür, zaghaften Diskussionen über die Bedeutung dass der Antifaschismus im größeren euro- von Faschismus und Antifaschismus in die päischen Theater der Militärkräfte weiterhin politischen Debatten ihrer Gastländer hinein­ ein Nebenschauplatz blieb. Von vielen wur- trugen. Dieses Bild änderte sich erst mit dem de der Spanische Bürgerkrieg letztlich nur als anscheinend unaufhaltsamen Machtzuwachs die jüngste Fortsetzung einer Serie von innen- der NSDAP zu Beginn der 1930er Jahre. Aus politischen Konflikten betrachtet, bei denen einer unbedeutenden Fußnote der Weltge- Antifaschisten gegen Faschisten und die mit schichte wurden Faschismus und Antifaschis- diesen verbundenen Hilfstruppen kämpften. mus in vielen Ländern fast über Nacht zum Eine solche politische Kurzsichtigkeit machte Stadtgespräch. Was die Entschlossenheit an- es den traditionellen politischen Eliten in Euro- tifaschistischer Analytiker und Aktivisten wei- pa und der ganzen Welt viel leichter, sich von ter stärkte, diesem Phänomen ernsthafte Auf- diesem Konflikt fernzuhalten. Die einzige wirk- merksamkeit zu schenken, war der parallele liche Neuerung des Spanischen Bürgerkriegs Aufstieg faschistischer (oder anderer diktato- war die aktive Beteiligung von Zehntausen- Ein historischer Moment der Befreiung 13

den nicht-spanischen Antifaschisten an einem zu beseitigen seien. Die nationale Befreiung Bürgerkrieg, der bis heute tiefe Spuren in der wurde zum notwendigen Schritt ihres Befrei- spanischen Gesellschaft und Kultur hinterlas- ungskampfes, aber nicht mehr zum einzigen sen hat. Ziel. Auch die Macht der Trusts und Konzerne, All dies änderte sich mit den Blitzsiegen der der Hochfinanz und der traditionellen, durch deutschen Streitkräfte gegen die Nachbar- die Vorteile der Kollaboration in Versuchung staaten östlich und westlich von Oder und geführten politischen Eliten, wurden zum Rhein. Als das erschreckende Echo der keh- Aussterben verurteilt – natürlich nicht von je- ligen deutschen Kommandos zu einem fes- dem einzelnen antifaschistischen Aktivisten, ten Bestandteil eines Großteils der kontinen- aber von immer umfassenderen Kreisen der taleuropäischen «Kulturlandschaft» wurde, betroffenen Menschen. Der Antifaschismus wurde die nationale Befreiung vom Nazi-Joch nahm die zusätzliche Färbung der «sozialen zu einer transnationalen antifaschistischen Befreiung» von den Übeln der Vorkriegsge- Forderung. In den meisten Fällen war die an- sellschaften und -wirtschaften an. Langjährige fängliche Motivation für den zivilen und be- strukturelle Machtungleichgewichte wurden waffneten Widerstand gegen den Na- zi-Terror und die Besatzung in ganz Europa ohne Zweifel der Wunsch, die Die nationale Befreiung wurde Kontrolle über das eigene tägliche Leben zum notwendigen Schritt ihres wiederzuerlangen und sein Bestes zu Befreiungskampfes, aber nicht tun, um eine weniger konfliktreiche und mehr zum einzigen Ziel. schreckliche Zukunft für sein Dorf, sei- ne Stadt, seine Region oder sein Land zu si- nun zunehmend für die Entstehung des Chaos chern. Doch im Laufe der Jahre, in denen die verantwortlich gemacht, das zu Faschismus, bedrückende und allgegenwärtige Nazi-Prä- totalem Krieg und Besatzung geführt hatte. senz anhielt, begann sich die Einstellung vie- 1944 und 1945 waren Antikapitalismus und ler Antifaschisten allmählich, fast unmerklich Antifaschismus für viele zwei Seiten dersel- zu ändern. Nachdem sie ihr Leben in gefahr- ben Medaille, was sich auch darin ausdrück- vollen Kämpfen gegen die Mächte der Unter- te, dass und wie kritische Einstellungen zur drückung und des Terrors eingesetzt hatten, Macht der Trusts und Hochfinanz in die post- begann sich der Wunsch, die nationalsozia- faschistischen Wahlprogramme selbst der tra- listischen Lehnsherren loszuwerden, in den ditionell konservativen politischen Gruppen Wunsch zu verwandeln, auch dafür zu sor- Eingang fanden – selbst in Ländern, die von gen, dass solche Katastrophen ihre Gemein- den verheerenden Auswirkungen des totalen schaften und Länder nie wieder treffen wür- Krieges weitgehend unberührt blieben. den. Antifaschistische Aktivisten wollten nun So begann beispielsweise der politische Ka- nicht mehr nur Nazi-Truppen aus ihrem Hei- tholizismus in vielen Ländern, die Hoffnungen matgebiet vertreiben. In zunehmendem Ma- und Pläne eines «christlichen Sozialismus» ße begannen sie vielmehr, ihren dringenden plötzlich sehr ernst zu nehmen. Oft nahmen Wunsch und ihre feste Überzeugung zum die frühen Triebe der Christdemokratie solch Ausdruck zu bringen, dass der innenpolitische hybride Ideologien offen an, obwohl diese Ein- und wirtschaftliche Unterstützungsapparat flüsse als wirkmächtig organisierte Minder- und die ideologischen und strukturellen Vor- heitstendenzen nur bis zum Ende der 1940er bedingungen der nationalsozialistischen Vor- Jahre andauern sollten.16 Selbst in Großbritan- herrschaft im besetzten Europa ein für alle Mal nien, wo keine deutschen Soldaten jemals Fuß 14 Ein historischer Moment der Befreiung

fassen konnten, errang die [sozialdemokrati- Ein außergewöhnlicher sche] Labour Party im Juli 1945 einen Über- Moment der Krise und raschungssieg über die Tories und Winston der Chancen Churchill. Labour beförderte dann eine Reihe Tatsächlich kann man den historischen Mo- von Gesetzgebungsakten (die Einführung des ment der Befreiung Westeuropas Mitte der nationalen Gesundheitssystems, des National 1940er Jahre als jenen Moment betrachten, Health Service, war nur ein Aspekt), die sozi- in dem die sozialen und politischen Konturen alstaatliche Programme zu einem integralen der jeweiligen Zivilgesellschaften und der öf- Teil der britischen Gesellschaftslandschaft der fentlichen Meinung so weit links angesiedelt kommenden Jahrzehnte werden ließen. Ähn- waren wie zu keinem anderen Zeitpunkt in der lich radikale, reformistische Sozialgesetze ent- europäischen Geschichte des 20. Jahrhun- standen nach 1945 auch in anderen Ländern, derts. Die Zeit vor und nach dem Ende des beispielsweise der viel gepriesene und wich- Ersten Weltkriegs – mit zwei russischen Re- tige belgische Sozialpakt. Fast alle der in den volutionen und einer Reihe davon inspirier- europäischen Staaten nach der Überwindung ter mitteleuropäischer Revolutionen, vor al- des Nazi-Jochs und der Wiedererlangung der lem in Deutschland, Österreich, Ungarn und Souveränität erlassenen neuen Verfassun- Bayern – mag turbulenter gewesen sein. Und gen verlagerten die politischen Parameter der tatsächlich nahm die Welle der politischen Nachkriegsgesellschaft ebenfalls entschieden Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg dra- nach links. «Italien ist eine demokratische, auf matische Konturen an, auch jenseits der mit- die Arbeit gegründete Republik.» Dieser etwas teleuropäischen Grenzen des Aktivismus. verwirrende erste Artikel der italienischen Ver- Fabrikbesetzungen zerrissen die italienische fassung von 1948 wurde gezielt gewählt, um Gesellschaft 1919 und 1920 und auch in ande- damit die zentrale Rolle des «gemeinen Man- ren westeuropäischen Ländern kam es zu an- nes» in den Angelegenheiten der italienischen haltenden sozialen und politischen Unruhen, Republik nach 1945 zu unterstreichen. Nach wenn auch zumeist in geringerem Ausmaß. der Befreiung ganz Westeuropas wurden bür- Die zweite Nachkriegszeit mag deswegen, auf gerliche Freiheiten und demokratische Rechte den ersten Blick, als ein im historischen Ver- in den politischen und gesellschaftlichen Ins- gleich weniger konfliktträchtiger Moment des titutionen qualitativ ausgebaut. Mit Ausnah- 20. Jahrhunderts erscheinen: Nach dem Zwei- me der Schweiz erhielten die Frauen auch dort ten Weltkrieg gab es keine westeuropäische das volle Wahlrecht, wo sie ein Vierteljahrhun- Revolutionswelle. Sicher gab es damals in den dert zuvor noch nicht von der ersten großen Balkanstaaten große politische Umwälzun- Frauenrechtswelle profitiert hatten. Der ge- gen, die zu Revolutionen in Jugoslawien und waltige Beitrag der Frauen zur Befreiung Eu- in Albanien führten. Und nur die konzertierten ropas, insbesondere als Mitglieder ziviler und Bemühungen der britischen und (später) der bewaffneter Widerstandsverbände, hatte ihre US-amerikanischen Militärintervention haben fortgesetzte Entrechtung politisch inakzepta- dafür gesorgt, dass Griechenland nicht den bel und moralisch verwerflich gemacht. Beispielen seiner nördlichen Nachbarn folgte.

Der eigentliche Grund für das Fehlen einer offen revolutionären Herausforderung im Westeuropa der Jahre 1943 bis 1948 war das Fehlen quantitativ relevanter, offen revolutionärer politischer Kräfte. Ein historischer Moment der Befreiung 15

Doch die Balkanstaaten verströmten nicht die renten – von hybriden Formationen wie der gleiche, international inspirierende Ausstrah- italienischen Aktionspartei mal abgesehen. lung auf westeuropäische Radikal­aktivisten Diese Politik der Mäßigung wurde durch die wie Russland, Deutschland oder Italien et- den Parteiführern in westeuropäischen Staa- was mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor. ten anvertrauten Missionen kraftvoll verstärkt. Mehr noch wog das Gewicht des Stalinismus Palmiro Togliatti und Maurice Thorez waren in schwer, das in den Fällen Jugoslawien, Alba- dieser Hinsicht nur die Spitze des Eisbergs. nien und Griechenland von großer Bedeutung Die kommunistischen Parteiführer erhielten war und bei vielen radikalisierten europäi- die Aufgabe, die radikalen Strömungen und schen Antifaschisten als zusätzliches Element Meinungen innerhalb ihrer Parteien – locker der Vorsicht und Sorge diente. Gleichermaßen organisierte Tendenzen, die in der vorange- wirkte das negative und zunehmend verab- gangenen Periode einer unter strenger natio­ scheuungswürdige Beispiel des Stalinismus nalsozialistischer Herrschaft erzwungenen in weiten Teilen des unter sowjetischer Kon- lokalen Autonomie stark an Bedeutung und trolle stehenden Osteuropas als starke Ab- Popularität gewonnen hatten – einzudämmen. schreckung gegen einen weitreichenden Sys- Und dass die Gefühle an der Basis nicht unbe- temwandel. dingt im Einklang standen mit dieser von oben Der eigentliche Grund für das Fehlen einer of- vorgeschriebenen Politik einer Bremsung so- fen revolutionären Herausforderung im West- zialer Bewegungen, wurde in den vorange- europa der Jahre 1943 bis 1948 war jedoch gangenen Kapiteln dieses Buches17 mehr als das Fehlen quantitativ relevanter, offen revo- einmal angedeutet. lutionärer politischer Kräfte. Die ohne Zwei- Zwei Traditionsstränge der kommunistischen fel einflussreichsten transnationalen Kräfte Bewegung haben dazu beigetragen, den über- eines solchen radikalen Wandels im antifa- raschend glatten Weg zu einer umfassenden, schistischen Lager, die verschiedenen kom- wenn auch zunächst eher zögerlichen Akzep- munistischen Parteien, operierten damals un- tanz der vom Kreml vorgegebenen mäßigen- ter der strengen Aufsicht des sowjetischen den Ratschläge zu ebnen. Von Beginn an war Kontrollzentrums. Und die Sowjetunion hat- der demokratische Zentralismus ein Merkmal te bekanntlich und mit aller Konsequenz, zu- der kommunistischen Politik nach dem Ersten mindest seit dem Sieg des Stalinismus in den Weltkrieg. Waren auch die «demokratischen» 1920er Jahren, als das oberste Ziel das Überle- Impulse zunächst genauso ausgeprägt wie ben des Sowjetstaates und nicht die Weltrevo- die «zentralistischen» Restriktionen, so wur- lution ausgerufen. Seit dem nationalsozialisti- de der «demokratische Zentralismus» seit Be- schen Bruch des Molotow-Ribbentrop-Paktes ginn der 1920er Jahre praktisch zunehmend am 22. Juni 1941 war sie Teil der alliierten mit einem großen Z statt mit dem großen D Kriegskoalition und vermied frontale Heraus- angewandt. Die kommunistischen Mitglieder, forderungen ihrer Kriegspartner auch, als es auch ihre radikalsten Basisaktivisten, wurden zu Streitigkeiten über die Konturen der Nach- so in einer Form von Kommunismus erzogen, kriegsgesellschaften in den auf der Konferenz der auf Konformität mit vermeintlich kommu- von Jalta vorgenommenen Einflusssphären nistischen Entscheidungen setzte. Unnötig zu kam. Tatsächlich haben sich, im Westeuropa erwähnen, dass die Vorherrschaft der stalinis- der Jahre 1944/45, auch die an Moskau ori- tischen Version von «demokratischem Zentra- entierten kommunistischen Parteien oft mo- lismus» von Beginn an, spätestens jedoch ab derateren Positionen verschrieben als ihre Ende der 1920er Jahre, die Verwandlung der sozialdemokratisch-sozialistischen Konkur- Kommunistischen Internationale von einer 16 Ein historischer Moment der Befreiung

ehemals internationalen Vereinigung nonkon- der Aufgabe nicht wirklich gewachsen, West- formistischer Revolutionäre in eine neue, zu- europa von den Zwängen und Gefahren einer nehmend klosterähnliche Einheit weiter ver- Neuausrichtung auf freie Marktwirtschaft und stärkte. Privatinitiative zu befreien. Und doch gab es Die zweite, die Akzeptanz einer gemäßigten auf dem ganzen Kontinent machtvolle sozia- Vorgehensweise durch kommunistische Par- le Basisbewegungen, die eine real existieren- teien in ganz Westeuropa erleichternde Tra- de Herausforderung für das Fortbestehen des dition des kommunistischen Aktivismus war privatwirtschaftlichen Marktprinzips als einer die kommunistische Erfolgsgeschichte eines vermeintlich magischen Lösung auch für die in jenen Jahren (annähernd) konsequenten Dekadenz und die Turbulenzen der moder- und entschlossenen antifaschistischem En- nen Politik in der zweiten Nachkriegszeit des gagements – im Falle Italiens immerhin zwei 20. Jahrhundert darstellten. Jahrzehnte der Illegalität und des Exils. Un- Bislang jedoch gibt es keine bedeutenden ge- ter unzähligen Umständen und selbst in den schichtswissenschaftlichen Werke, die ver- dunkelsten Stunden faschistischer Herrschaft suchen, die in der europäischen Gesellschaft und Terrors hatten Kommunisten ihre antifa- während der Befreiung tatsächlich bestehen- schistische Legitimität bewiesen. Als der Mo- den sozialen Auseinandersetzungen auf trans- nationaler Ebene nachzu- vollziehen. Meiner Meinung Es gab auf dem ganzen Kontinent nach gibt es nur eine einzige machtvolle soziale Basisbewegungen, Publikation in Buchlänge, die die eine Herausforderung für das Fort­ bisher versucht hat, auf das bestehen des privatwirtschaftlichen immanente Potenzial und das Marktprinzips darstellten. Versprechen des kontinenta- len, ja globalen Moments von ment der Befreiung in Sichtweite kam, war es 1944/45 hinzuweisen: Doch trotz all seiner vie- deswegen für kommunistische Aktivisten fast len Verdienste beschränkt Fernando Claudin unmöglich, sich radikale antifaschistische seine kritische Sicht in seinem in den 1970er ­Aktionen außerhalb jener Strukturen kommu­ Jahren veröffentlichten Meilenstein über die nistischer Parteien vorzustellen, für die sie kommunistische Bewegung von der Komin- sich so lange mit großem Aufwand eingesetzt tern zur Kominform fast ausschließlich auf ­hatten. den politischen Bereich.18 Für Claudin ist es Zusammengenommen haben diese beiden vor allem der «Verrat» der politischen Führung Muttermale kommunistischer Politik im Zwei- des kommunistischen Lagers, mit dem eine ten Weltkrieg, im Kontext der 1944/45 von Chance zur grundlegenden Neuausrichtung Moskau verordneten Orientierung der kom- der europäischen Gesellschaft und Politik ver- munistischen Parteien auf Kompromisse mit tan worden ist. Was er jedoch weitgehend un- den Alliierten und bürgerlichen Kräften in den thematisiert lässt, sind die Voraussetzungen jeweiligen befreiten Ländern, dafür gesorgt, eines solchen radikalen Wandels. Dass die dass der Moment der Befreiung nicht zu aus europäischen Gesellschaften zu einer grund- dem kommunistischen Lager kommenden legenden Kurskorrektur «objektiv» bereit wa- frontalen Herausforderungen für die Wieder- ren, betrachtet er als Glaubensartikel. Die- herstellung der Vorkriegssozialordnung in se wichtige Frage wird auf den Seiten seines Westeuropa führte. Im Moment der Befreiung Buches – das bis heute, 50 Jahre nach seiner waren die politischen Parteien ganz allgemein ersten Veröffentlichung, die umfassendste Ein historischer Moment der Befreiung 17

kritische Globaldarstellung des historischen den mit ihnen verbundenen Prozessen und Moments der Befreiung Mitte der 1940er politischen Kräften. Jahre ist – kaum wirklich angesprochen oder Natürlich sind die Befreiungskomitees kein mit Belegen untermauert. Über den sich auf Zauberstab: Sie waren voller Widersprüche die hohe Politik konzentrierenden Claudin hi- und Beschränkungen, und sie arbeiteten un- nausgehend habe ich deswegen versucht, ter mehrfachen Restriktionen – was letztlich die Durchgängigkeit radikaler Gefühle auf der auch dafür sorgte, dass sich ihre Bemühun- Ebene des europäischen Basisaktivismus am gen scheinbar in Luft auflösten. Doch meiner Ende des Zweiten Weltkrieges und in der un- Meinung nach sind die in ihrer täglichen Arbeit mittelbaren Nachkriegszeit bildhaft zu unter- zum Ausdruck kommenden Stimmungen – streichen. Die Parteipolitik, obwohl eindeutig und dies nicht nur in den außergewöhnlichen von entscheidender Bedeutung, geriet konse- Momenten einsetzender Revolten, beispiels- quenterweise in den Hintergrund meiner Un- weise der Versammlungen von Vizille und Va- tersuchung jener beiden westeuropäischen lence oder in den Operationen der unzähligen Fälle, in denen solche massiven Verschiebun- Befreiungskomitees norditalienischer Fabri- gen nach links am deutlichsten sichtbar und ken – der Grund für meine Überzeugung, dass spürbar waren: Italien und Frankreich. Nach- die zweite Nachkriegszeit in Westeuropa min- dem ich mich zunehmend von der letzten En- destens potenziell ebenso subversiv (oder, je des vorrangigen Rolle massenbasierter sozi- nach Sichtweise, vielversprechend) war wie aler Bewegungen und ihrer manchmal eher die Revolutionszeit der Jahre 1917 bis 1923. Es ephemeren Strukturen überzeugt hatte, hielt wäre deswegen ausgesprochen lehrreich und ich es für notwendiger, konkrete Einblicke in ergiebig für eine transnational vergleichende die radikalen Basis-Tendenzen und -Empfin- Forschung, die Mechanismen und Dynami- dungen zu geben, anstatt noch eine weitere ken zu untersuchen, die sich aus den instituti- Geschichte des «Verrats» und des «Rückzugs» onellen Innovationen der beiden radikalen Pe- politischer Akteure zu erzählen. Mehr als an- rioden von 1917 bis 1923 und 1943 bis 1948 dere verkörperten die Befreiungskomitees in ergeben. Meiner Meinung nach kommen die der historischen, von 1943 bis 1948 andauern- Befreiungskomitees in vielerlei Hinsicht (und den Phase der Befreiung in Westeuropa die trotz der unverkennbaren Unterschiede) dem Versprechen dieses besonderen historischen in der früheren Phase allgegenwärtigen Phä- Moments von Krisen und Chancen. Befrei- nomen der Räte (oder «Sowjets») sehr nahe. ungskomitees waren die wichtigsten instituti- onellen Instrumente für tief greifende soziale Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um den Prolog und das Schlusskapitel von Gerd-Rainer Horn: und politische Veränderungen, und wenn es «The Moment of Liberation in Western Europe. Power eine radikale, den Moment der Befreiung un- Struggles and Rebellions, 1943–1948», Oxford University termauernde Dynamik gab, dann lag ein sol- Press, Oxford 2020. Wir danken Oxford University Press für die freundliche Erlaubnis der Übersetzung und Veröffentli- cher Mechanismus in diesen auffällig wenig chung. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte erforschten institutionellen Innovationen und Christoph Jünke. 18 Ein historischer Moment der Befreiung

1 Zur Verwendung des Gender-Sternchens in dieser Broschüre sie- Priorities: Democratic Reform and Economic Recovery in Postwar he Fußnote 2 auf S. 3. 2 Korb, Paul: Der Antifaschistische Aktions- , New York 1996, S. 165. 11 Schröder, Ulrich: Die regiona- ausschuss in Schwarzenberg, in Czerny, Jochen (Hrsg.): Repu­blik len Befreiungsbewegungen in Südbayern und Österreich, in: Niet- im Niemandsland. Ein Schwarzenberg-Lesebuch, hrsg. von der hammer, Lutz/Borsdorf, Ulrich/Brandt, Peter (Hrsg.): Arbeiterinitiative Rosa-Luxem­ burg-Stiftung­ Sachsen, Leipzig 1997, S. 28. 3 Ebd., 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiter- S. 32. 4 Ebd., S. 32 f. 5 Bukvič, Peter: Antifaschistische Selbsthilfe bewegung in Deutschland, Wuppertal 1976, S. 609. 12 Heym, Ste- im Westerzgebirge, in: Czerny (Hrsg.): Republik im Niemandsland, fan: Schwarzenberg, München 1984. Auch Volker Braun, ein anderer S. 93 u. S. 108. Vgl. auch Michelmann, Jeannette: Aktivisten der ers- bekannter literarischer Dissident Ostdeutschlands, veröffentlichte ten Stunde. Die Antifa in der Sowjetischen Besatzungszone, Köln einen weiteren fiktiven Bericht über diesen Fall: Braun, Volker: Das 2002, S. 250. Die detaillierteste Studie über das Niemandsland bie- unbesetzte Gebiet, Frankfurt a. M. 2004. 13 Horn, Gerd-Rainer: The tet Pritchard, Gareth: Niemandsland: A History of Unoccupied Ger- Moment of Liberation in Western Europe. Power Struggles and Re- many 1944/45, Cambridge 2012, Kapitel 2. Das empirisch wertvolle bellions, 1943–1948, Oxford 2020. Bei dem hier veröffentlichten Text Buch wird allerdings durch die weder begründete noch belegte Be- handelt es sich um den Prolog (der Text bis hierhin) sowie (folgend) hauptung beeinträchtigt, dass «die Antifas weder demokratisch wa- das Schlusskapitel dieses Buches. 14 Sturmthal, Adolf: The Tragedy ren noch auf einem echten Maß an bürgerschaftlichem Engagement of European Labor 1918–1939, New York 1943, S.180. 15 Vgl. Horn, der Bevölkerung beruhten» (S. 217), eine Behauptung, die auch bei Gerd-Rainer: European Socialists Respond to Fascism: Ideology, Ac- anderen Fällen solcher Selbstverwaltung von Pritchard gern wieder- tivism and Contingency in the 1930s, Oxford 1996. Eine neue Paper- holt wird. 6 Zit. nach: Schwarzenberger Zeitung, 2.6.1945, in: Czerny backausgabe erscheint 2020 bei Oxford University Press. 16 Vgl. (Hrsg.): Republik im Niemandsland, S. 302 f. 7 Gross, Werner: Von Horn, Gerd-Rainer: Western European Liberation Theology, 1924– den Anfängen der Forschung, in: Czerny (Hrsg.): Republik im Nie - 1959: The First Wave, Oxford 2008, v. a. Kapitel 3: «The Politics of mandsland, S. 70. 8 Czerny, Jochen: Ein (un-)passendes Beispiel. Left Catholicism in the 1940s’», S. 110–174. 17 Horn: The Moment Die DDR-Geschichtsschreibung über das Antifa-Regime, in: Czerny of Liberation in Western Europe. 18 Claudin, Fernando: Die Krise (Hrsg.): Republik im Niemandsland, S. 207. 9 Michelmann: Aktivis- der Kommunistischen Bewegung. Von der Komintern zur Kominform ten der ersten Stunde, S. 250. 10 Boehling, Rebecca: A Question of [1970], 2 Bde., 1977. Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie 19

Christoph Jünke ANTIFASCHISTISCHE ­WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE DIE MORALISCHE ÖKONOMIE DER UNMITTELBAREN ­NACHKRIEGSZEIT

Mit der Kriegswende bei Stalingrad 1943 bra- scher Opposition geworden, in vielen westeu- chen sich auch die politischen Hoffnungen ropäischen Ländern erlebte die Sozialdemo- und Sehnsüchte großer Bevölkerungsteile kratie einen neuen Aufstieg. Kommunistische Europas auf ein Ende des Faschismus Bahn. Mehrheiten zeichneten sich nicht nur in der In ganz Europa stritt man bald für eine mora- Tschechoslowakei, in Jugoslawien, Albanien, lische Erneuerung, für eine neue moralische Bulgarien und Griechenland ab, sondern auch Ökonomie, die auf Vollbeschäftigung und so- in Frankreich und Italien. Sozialdemokratische zialer Sicherheit, auf einer demokratisch ge- Mehrheiten existierten in den skandinavi- planten Ökonomie und auf neuen Formen von schen Ländern, in Belgien, den Niederlanden sozialer Demokratie fußen sollte. Und geprägt und vor allem in Großbritannien – wo die so- wurden diese Hoffnungen und Sehnsüchte zialdemokratische Labour Party im Juli 1945 von einem allgemein vorherrschenden, sozi- die britischen Unterhauswahlen mit einem auf alistisch anmutenden aufklärerischen Huma- umfangreiche gemeinwirtschaftliche Verge- nismus. Allgemein sozialistisch war dieser sellschaftung und einen umfassenden Sozial- Geist, weil die bürgerliche Klasse mitverant- staat setzenden Programm erstmals in einem wortlich gemacht wurde für den Faschismus, hoch entwickelten Industrieland die Mehrheit weil die Tradition der Arbeiterbewegung als der Wahlbevölkerung gewonnen hatte. antifaschistisch anerkannt wurde und weil Selbst in Deutschland, wo der Nazi-Faschis- der Kampf um die Erneuerung der Demokratie mus gründliche Arbeit geleistet und die einst- wesentlich als ein Kampf um die soziale Aus- mals mächtige deutsche Arbeiterbewegung weitung und Vertiefung der Demokratie ver- nachhaltig zerschlagen und desorientiert standen wurde. Allgemein humanistisch war hatte, wo die Arbeiterschaft bis in die letzten dieser Geist, weil solcher Sozialismus nicht als Wochen und Tage der Nazi-Herrschaft ohn- klassenkämpferischer nur des Proletariats da- mächtig, zersplittert und bewegungsunfähig herkam, sondern als klassenübergreifender, geblieben war, finden sich vergleichbar weit- aufklärerisch-humanistischer verstanden wur- reichende Tendenzen. Im Übergang von der de – weil er auf ein Bündnis mit wesentlichen Zusammenbruchskrise zur Besatzungspolitik, Teilen des Bürgertums abzielte. das heißt in den Monaten März bis Mai 1945, Die kommunistischen Parteien in Europa hat- bildeten sich in ganz Deutschland lokale und ten im antifaschistischen Kampf Respekt und betriebliche Organisationszusammenhänge, neuen Zulauf erfahren, die Sozialdemokratie in denen alte Kader der Arbeiterbewegung – war nach links gerückt und nicht selten kam Kommunisten, Linkssozialisten, Sozialdemo- es zu Formen direkter Zusammenarbeit zwi- kraten und Gewerkschafter – Ausschüsse schen beiden – ebenso wie mit bürgerlichen und Komitees unterschiedlicher Größe und Parteien. In vielen osteuropäischen Ländern Bedeutung formierten. Sie ergriffen Sicher- und in manchen westeuropäischen waren die heitsmaßnahmen gegen die Nazi-Politik der Kommunisten1 zur dominierenden Kraft politi- verbrannten Erde, kollaborierten mit dem mi- 20 Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie

litärischen Feind und gingen in Betrieben und der die Zusammenbruchskrise gemeinschaft- Verwaltungen gegen bekannte Nazis vor – in lich statt individualistisch oder klientelistisch der Regel in Form von Enteignungs- und Straf­ zu lösen versuchte».2 Sie formten eine spon- arbeitsaktionen. Sodann begannen sie mit tane Selbsthilfe- und Demokratisierungsbe- Aufräumarbeiten, beispielsweise mit der Ber- wegung, die improvisiert, selbsttätig und ba- gung und Bestattung von Toten, und mit Re- sisdemokratisch aktiv wurde und dabei eine paraturarbeiten an Wohn- und Produktions- dezentrale, flexible Struktur aufwies sowie stätten. Sie schützten diese vor Plünderungen Politik und Ökonomie untrennbar vermischte. und organisierten die Verteilung von Lebens- Doch einmal mehr in deutschen Landen wur- mitteln und Brennmaterial, von Wohnraum de dem kräftigen Demokratieimpuls von un- und Kleidung und versuchten darüber hinaus, ten kein Raum gegeben. Schon im Frühsom- Einfluss auf die noch bestehende kommunal- mer 1945 waren die meisten der Ausschüsse politische Verwaltung zu nehmen. Und wie durch die jeweiligen Besatzungsmächte – selbstverständlich stellten sie die Kommando- West wie Ost – wieder aufgelöst «oder doch gewalt der Unternehmenseigentümer und Be- ihrer Wirkungsmöglichkeiten weitgehend triebsführer partiell infrage und setzten den al- enthoben, und ihr Absterben hinterließ kaum ten Achtstundentag, die Fünftagewoche und Spuren».3

Die Hoffnungen auf einen umfassenden gesellschaftlichen Neubeginn versandeten allerdings nicht sofort. Sie übertrugen sich in die sogenannte zweite Phase des Wiederaufbaus. andere soziale Verbesserungen wieder durch. Es waren ihre gesellschaftliche Marginalität Diese antifaschistischen Komitees – oder «An- und ihre politisch-strategische Konzeptions- tifa-Ausschüsse», wie sie zumeist genannt losigkeit – auch dies Folgen nicht zuletzt von wurden – organisierten in der Regel kaum zwölf Jahren faschistischer Diktatur –, die sie «Bürgerliche» und schon gar keine breiten zur Ohnmacht verdammten. Ausschlagge- Volksmassen. Es waren vielmehr erste origi- bend waren allerdings die neuen Besatzungs- näre Vertretungsformen der Arbeiterschaft mächte, die aus Angst vor unkontrollierba- (mit zum Teil durchaus Tausenden Mitglie- ren Arbeiterinitiativen die Antifa-Aktivitäten dern und Zehntausenden Anhänger*innen), massiv beschränkten und innerhalb weniger getragen und geführt von einer qualifizierten Wochen entweder zu rein untergeordneten Minderheit der alten Arbeiterbewegung – von Hilfskräften der eigenen Mängelverwaltung Leuten also, die zumeist noch in der Weima- degradierten oder ganz verboten – «Revolu- rer Zeit politisch und gewerkschaftlich sozia­ tion wird nicht geduldet!», so ein britischer lisiert worden waren und die den Nazi-Fa- Major im April 1945 zu einem Zechenvertreter schismus überlebt hatten, ob im Zuchthaus der Gelsenkirchener Bergwerks-AG.4 Entspre- oder KZ, ob im Widerstand oder im privaten chend wurde es ein kurzer Frühling deutscher Rückzug. In diesen Antifa-Gruppen organi- Selbsttätigkeit, und einmal mehr blamierte sierte sich, wie es einer ihrer Historiker for- sich die Idee, wo sie von den Verhältnissen mulierte, «der am wenigsten demoralisierte, und vom Interesse geschieden war, denn: der sozial aktivste und der am entschiedens- «Aus der Sicht der Westmächte drohte jede ten demokratische Teil des deutschen Volkes, revolutionäre Bewegung eine antikapitalisti- Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie 21

sche Richtung zu nehmen, so dass die Gefahr und seine So­zial­demokraten damals noch einer national-dirigistischen Wirtschaftspo- die Überwindung des vorwiegend privatwirt- litik und der Wiedererrichtung einer gesamt- schaftlichen Systems durch eine umfassen- deutschen Staatsgewalt in außenpolitischer de gemeinwirtschaftliche Neuordnung. Und Anlehnung an die Sowjetunion bestand. Aus wie dies aussehen konnte und sollte, das hat der Perspektive der UdSSR gefährdete ei- Viktor Agartz, der nach Schumacher zweite ne potentielle deutsche Revolution die Ein- Mann der westdeutschen Sozialdemokratie, heit zwischen den Siegermächten und damit im Übergang der Jahre 1945/46 ausgearbeitet nicht nur die durch den Krieg erworbene Ein- und öffentlichkeitswirksam propagiert. flusssphäre in Osteuropa, sondern auch den Auf dem ersten SPD-Parteitag im Mai 1946 für die ­UdSSR lebenswichtigen Frieden, stell- begründete Agartz seine von der SPD breit ge- te die Reparationsentnahmen in Frage und tragene Forderung nach einer «Sozialistischen schwächte die Führungsrolle der Sowjetuni- Planwirtschaft im demokratischen Rechts- on innerhalb des internationalen kommunisti- staat». Sein Neuordnungskonzept knüpfte schen Lagers.»5 zwar an die alten Weimarer Forderungen nach Die sich in den «Antifas» machtvoll ausdrü- einer sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen ckenden – und vom kollektiven Gedächtnis Wirtschaftsdemokratie an, ging aber nicht nur wie der Geschichtswissenschaft lange Zeit quantitativ, sondern auch qualitativ über diese vernachlässigten – Hoffnungen und Sehn- mit dem Namen Fritz Naphtali verbundenen süchte auf einen umfassenden gesellschaft- Programmdiskussionen hinaus. Anders als lichen Neubeginn nach der Katastrophe des einstmals angedacht, wollten Agartz und die Faschismus versandeten allerdings nicht so- SPD nun nicht nur die praktische Verfügungs- fort. Sie übertrugen sich vielmehr – und auch gewalt über das Privateigentum an gesell- dies ist bis heute nur unzureichend aufgear- schaftlichen Produktionsmitteln schrittwei- beitet worden – in die sogenannte zweite Pha- se angreifen, sondern dieses Privateigentum se des Wiederaufbaus, in den langsamen und selbst, zumindest in den modernen Schlüs- von den Alliierten kontrollierten Wiederauf- selindustrien, aufheben – und zwar unmittel- bau der alten Arbeiterparteien und Gewerk- bar. Die neue Sozialdemokratie, so Agartz, schaftsorganisationen, und prägten deren lehne die alte sozialdemokratische Ansicht politisch-programmatische Vorstellungen bis von 1918 ab, «dass ein Scherbenhaufen nicht Ende der 1940er Jahre, zum Teil noch bis weit sozialisiert werden könne».6 Entsprechend in die 1950er Jahre hinein. fasste er solcherart «neue Wirtschaftsdemo- Hatten sich die deutschen (und europäischen) kratie» nicht nur arbeitsrechtlich und sozial- Kommunisten 1944/45 betont gemäßigt ge- politisch, sondern auch und vor allem als eine geben und vor allem eine antifaschistische gesellschaftspolitische Aufgabe, die auf eine (Volksfront-)Demokratie gefordert, waren sofortige und vollständige formale Gleichbe- die Sozialdemokraten weiter gegangen und rechtigung von Lohnarbeit und Kapital in allen sprachen offen vom Sozialismus als einer wirtschaftspolitischen Selbstverwaltungsor- unmittelbaren Tagesaufgabe. Kurt Schuma- ganen abzielte und einen unmittelbaren, sofor- cher, der unbestrittene Führer der westdeut- tigen Prozess umfassender Sozialisierung und schen So­zialdemokratie,­ wurde nicht müde einen expliziten Bruch mit den Prinzipien ka- zu betonen, dass die Demokratie erst in ei- pitalistischer Gewinnmaximierung zugunsten nem wirklich sozialistischen Deutschland ge- eines Primats gesellschaftlicher Bedürfnisbe- sichert sei. Der Sozialismus als eine unmittel- friedigung einleiten sollte. Bedeutete die auf bare Tagesaufgabe, das hieß für Schumacher eine originelle Mischung aus Verstaatlichung 22 Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie

und Vergesellschaftung setzende Sozialisie- staat einerseits und durch paritätisch besetz- rung der ökonomischen Schlüsselindustri- te Vorstände, Aufsichtsräte und Selbstver- en einen wirklichen Bruch mit der privatwirt- waltungsorgane (vor allem die Industrie- und schaftlichen Form des modernen Finanz- und Handelskammern) andererseits vonstatten- Monopolkapitals, sollte das kleine und mittle- zugehen habe. Gerade dieser zweite Aspekt, re Eigentum an Produktionsmitteln zwar auf- die Sozialisierung weniger in Form einer Ver- rechterhalten, aber durch neue Formen der staatlichung als vielmehr in Form einer die Mitbestimmung und Arbeiterkontrolle in sei- Unternehmerschaft korporativ einbinden- nem kapitalistischen Charakter nachhaltig den Sozialpartnerschaft anzugehen, grenzte entschärft werden. sich nachhaltig vom kommunistischen Ost- Eine solche die Gesamtgesellschaft durch öf- blocksystem ab, von jenem, wie es bei Agartz fentliche Planung und Lenkung (vor allem der heißt, zentralistischen Staatskapitalismus in Preis-, Lohn- und Steuerpolitik) regulierende Form einer marktlosen Wirtschaft.8 «Sozialistische Planwirtschaft im demokra- Dass die von Agartz propagierte und in die so- tischen Rechtsstaat» brach zwar mit dem al- zialdemokratische Nachkriegsprogramma- ten reformistischen Gradualismus, mit der tik nachhaltig eingegangene Idee einer wirt- alten sozialdemokratischen Strategie eines schaftspolitischen Neuordnung mehr war als langsamen «In-den-Sozialismus-Hineinwach- nur unverbindliche Programmatik oder das üb- sens». Sie brach jedoch nicht mit der klassen- liche sozialdemokratische Sonntagsgerede, übergreifenden Strategie des Reformismus, das verdeutlichte Agartz, nachdem er Anfang der im organisierten Kapitalismus auf die Zu- 1946 von der britischen Besatzungsmacht sammenarbeit mit bürgerlich-liberalen Kräf- zum Leiter des in Minden ansässigen Zent - ten setzte. Diese widersprüchliche Originali- ralamtes für Wirtschaft, zum sozusagen ers- tät der damaligen wirtschaftsdemokratischen ten deutschen Nachkriegswirtschaftsminister Vorstellungen ist weder damals noch später gemacht worden war und diese Ideen in die wirklich verstanden worden. Auch die vom Tat umzusetzen versuchte. Um die Produkti- klassenübergreifenden antifaschistischen on wieder anzukurbeln und die hungernde und Geist getragenen linken Sozialdemokraten sa- frierende Bevölkerung wenigstens mit dem hen im unternehmerischen Management und Nötigsten zu versorgen, experimentierte man in den bürgerlich-liberalen Politikern gleich- in Minden mit einschneidenden Planungs- und sam natürliche Bundesgenossen einer mo- Lenkungsmethoden und versuchte, Ernst zu dernen Wirtschaftsdemokratie «jenseits des machen mit einer paritätischen Umwandlung Kapitalismus» (Paul Sering).7 Entsprechend der bis dahin von der Unternehmerschaft ge- wollten sie im aufklärerisch-humanistischen tragenen Industrie- und Handelskammern, de- Gestus und zum Wohle der gemeinsamen Na- nen damals eine führende Rolle bei der Rekon- tion auch hier zu einer sozialpartnerschaftli- struktion der Wirtschaft zukam. chen Versöhnung von Lohnarbeit und Kapital Da dies einem direkten Angriff auf die wirt- bzw. zu einem neuartigen technokratischen schaftspolitischen Selbstverwaltungsorga- Management kommen. Dies unterschied sie ne der westdeutschen Unternehmerschaft ebenso nachhaltig von den Kommunisten wie gleichkam, gingen Agartz‘ wirtschaftslibe- ihre Vorstellung, dass eine solche gemeinwirt- rale Freunde aus Handel und Industrie, mit schaftliche Planwirtschaft nicht in Form einer denen er in diesen ersten Nachkriegsjahren Planwirtschaft bürokratischer Eliten, sondern nachweislich eng zusammengearbeitet hat- in der Form einer öffentlichen Planung und te, abrupt auf Distanz zu dem nun öffentlich Lenkung durch den demokratischen Rechts- angefeindeten ranghöchsten westdeutschen Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie 23

Wirtschaftspolitiker. SPD und Gewerkschaf- chen Lage. Wir fordern das deutsche Volk ten antworteten darauf im Herbst 1946 mit ei- auf, sich zu entscheiden: gegen einen neuen ner massiven Politisierung der ersten (regional kapitalistischen Umweg, der zu neuen Kri- abgehaltenen) Wahlkämpfe der Nachkriegs- sen, Katastrophen und Kriegen führen wird – zeit, in denen die SPD offen vor der Rückkehr für einen sozialistischen und demokrati- der alten prokapitalistischen Kräfte warnte. schen Neuaufbau Deutschlands.»9 Sie machte ihre weitere politische Mitarbeit In den folgenden Wochen und Monaten kam von verbindlichen Zusagen hinsichtlich einer es zu einer (von den Besatzungsmächten me- Reihe von Forderungen abhängig, unter ande- diatisierten) Auseinandersetzung zwischen rem davon, den innenpolitischen und sozialen Antagonis- «dass ein gerechter Lastenausgleich erfolgt, ten, die eine zum Teil spontane, zum Teil or- der die Sachwerte im gleichen Umfange her- ganisierte Sozialbewegung zur Folge hatten, anzieht wie den Geldbesitz; die auf Streikbewegungen und Hungermär- dass die Sozialisierung der Grundstoff-In- sche, auf öffentliche Mobilisierungen und dustrien, der Energiewirtschaft, der Ver- Verhandlungen setzte und sich im anschwel- kehrsunternehmen, der Banken und der lenden Hungerwinter von 1946/47 noch zu- Versicherungsgesellschaften und eine sätzlich verschärfte. Hatten die sozialdemo- durchgreifende und produktionsfördernde kratischen Gewerkschafter den Briten noch Agrarreform durchgeführt werden; im Herbst 1946 weitgehende Zugeständnisse dass die deutsche Wirtschaftsverwaltung an in Sachen Sozialisierung und Mitbestimmung der über die Kohlenwirtschaft und Eisenin- in der Eisen- und Stahlindustrie abgetrotzt, dustrie verhängten Kontrolle maßgebend machte die US-amerikanische Besatzungs- beteiligt wird; macht ihre gestiegene Bedeutung geltend, als dass das Sozialprodukt gerechter verteilt sie sich im Januar 1947 offen gegen den Min- wird, wozu es einer Neuordnung der Löhne dener Verwaltungsamtsleiter Agartz stellte. und Preise bedarf; Lucius Clay, der stellvertretende Militärgou- dass den Sozialrentnern, Kriegsopfern und verneur der US-amerikanischen Besatzungs- Opfern des Nationalsozialismus eine ausrei- zone, stellte öffentlich klar, dass man es dem chende Rente gesetzlich gesichert und das zweiten Mann der deutschen Sozialdemokra- unsagbare Flüchtlingselend gemildert wird; tie nicht erlauben werde, seine sozialistischen dass die Besatzungsmächte mit der Politik Pläne in der westdeutschen Industriewirt- der Demontage und der Zerstörung von Ma- schaft durchzusetzen: «Dr. Agartz will not be terial und Anlagen aufhören, aus denen eine allowed to use his office for the purpose of in- Friedensindustrie aufgebaut werden könnte; troducing socialism», zitierte ihn die New York dass eine ausreichende Ernährung gesichert Herald Tribune und ergänzte, dass Agartz der und ein Ausgleich der Ernährung zwischen Zeitung gegenüber bestätigt habe, dass seine Stadt und Land durchgesetzt wird […]; Wahl dem Zweck der Durchsetzung der Sozia­ ­ dass über die bisherigen Ankündigungen hi- lisierung­ der Schwerindustrie diene. Zur glei- naus das hungernde Volk vor der Kälte durch chen Zeit verabschiedete die CDU gerade ihr verstärkte Hausbrandversorgung geschützt berühmt-berüchtigtes Ahlener Programm, in wird; dem sich selbst die Konservativen, aus christ- dass alle zentralen Verwaltungen demokra- licher Verantwortung, zu einem gemeinwirt- tisch kontrolliert werden. […] schaftlichen Antikapitalismus bekannten. Diese Forderungen sind die Voraussetzun- Auch hier gingen nationale und internatio­nale gen für eine Änderung unserer unerträgli- Zuspitzung weitgehend parallel. Zu Beginn 24 Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie

des Jahres 1947 standen die griechischen West- und Ostdeutschland entschieden für ei- Kommunisten vor dem Sieg im Bürgerkrieg, nen demokratischen und gemeinwirtschaftli- und die Lage in Italien und Frankreich, wo chen Sozialismus ein und forderten zu diesem es ebenfalls starke kommunistische Parteien Zweck die sofortige Umsetzung folgender gab, radikalisierte sich. Selbst die britischen Maßnahmen: Labour-Linken machten damals gegen die «1. Die Wiederherstellung der wirtschaftli- Rückschläge ihrer sozialdemokratischen Par- chen Einheit Deutschlands, der baldigst die teiführung mobil. Die Reaktion der Herrschen- politische folgen muss. den, allen voran der neuen Weltmacht USA, 2. Der Aufbau eines Systems geplanter und ist bekannt: Die Verkündung der sogenann- gelenkter Wirtschaft, Vergesellschaftung ten Truman-Doktrin im März 1947 bedeute- der für die Lenkung der Gesamtwirtschaft te die politisch-militärische Kampfansage der wichtigen Schlüsselindustrien, Kredit- und «freien Welt» gegen die «kommunistische Versicherungsinstitute. Gefahr», während die im Mai erstmals ange- 3. Die Errichtung eines zentralen deutschen kündigte Marshallplan-Hilfe diesen Kampf Amtes für Wirtschaftsplanung und -lenkung auch wirtschaftspolitisch und finanziell un- und Aufbau eines Systems von Organen der terstützen sollte. So kam es zur endgültigen wirtschaftlichen Selbstverwaltung. In diesen Polarisierung der ehemaligen Alliierten, zum Organen sowie bei der Kontrolle des zen­tra­ «Kalten Krieg» der Supermächte und zur Spal- len Amtes müssen die Gewerkschaften in tung der europäischen Politik. Die kommu- voller Gleichberechtigung vertreten sein. nistischen Parteien Italiens, Frankreichs und 4. Die Erhöhung der Industrieproduktion Belgiens wurden im Frühjahr 1947 aus ihren Deutschlands für den friedlichen Bedarf über einflussreichen Regierungspositionen ver- den vom Kontrollrat vorgesehenen Umfang drängt, Agartz‘ Mindener Verwaltungspolitik hinaus, um die Versorgung des deutschen von der bizonalen Militärregierung juristisch Volkes zu verbessern und die Wiedergutma- ausgebremst, er selbst im Mai aus dem Amt chungsansprüche erfüllen zu können. Die gedrängt. Die Gewerkschaftsbewegung spal- Demontage von Industrieanlagen, die hierzu tete sich in den folgenden Monaten sowohl in- dienen können, muss eingestellt werden. ternational als auch in Deutschland – wo die 5. Die Aufstellung und Durchführung eines gesamtdeutschen gewerkschaftlichen Inter- Export- und Importplanes sowie die Einglie- zonenkonferenzen 1948 endgültig scheitern derung Deutschlands in die Weltwirtschaft sollten. mit dem Ziele, die wirtschaftliche Selbst- Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzun- ständigkeit Deutschlands wiederherzustel- gen und kurz bevor Agartz sich gesundheits- len. Größere Auslandskredite für Rohstoffe bedingt zurückziehen musste, einigte sich die und Lebensmittel sind auf absehbare Zeit da- postfaschistische deutsche Arbeiterbewe- zu notwendig. gung auf der vierten gesamtdeutschen Inter- 6. Die Durchführung einer Bodenreform in zonenkonferenz aller Gewerkschaftsorganisa- Verbindung mit der Aufstellung eines ein- tionen am 8. Mai 1947 (anlässlich des zweiten heitlichen Landwirtschaftsplanes zur restlo- Jahrestages der deutschen Kapitulation) auf sen Bebauung und besseren Ausnützung der eine programmatische Erklärung. In dieser landwirtschaftlichen Nutzflächen. Die Mit- letzten gesamtdeutschen und strömungs- wirkung von Selbstverwaltungsorganen der übergreifenden Erklärung traten die sozial- Landwirtschaft unter angemessener Betei- demokratischen und christlichen ebenso wie ligung der Gewerkschaften ist dabei sicher- die kommunistischen Gewerkschafter aus zustellen. Die Erfassung der für die Volkser- Antifaschistische ­Wirtschaftsdemokratie 25

nährung notwendigen Agrarprodukte muss satzungsmächten ebenso wie an den Behar- nach einem einheitlichen Ablieferungsplan rungskräften des deutschen Konservatismus mit einer durchgreifenden Kontrolle der und der politischen Schwäche und Spaltung Durchführung gewährleistet werden. der deutschen Linken gescheitert. In den Jah- 7. Die Durchführung einer einheitlichen ren 1950 und 1951 versuchten Hans Böckler Währungs- und Finanzreform für ganz und die Gewerkschaften noch, wenigstens die Deutschland nach erfolgter wirtschaftlicher ihnen Ende 1946 zugestandene paritätische Einheit. Mit der Reform muss ein gerechter Mitbestimmung im Montanbereich zu retten Lastenausgleich unter besonderer Berück- und auf die Gesamtwirtschaft auszudehnen. sichtigung der wirtschaftlich Schwachen Doch während sie mit dem ersten Aspekt, der sowie eine tiefgreifende progressive Vermö- Verteidigung des bis dahin Erreichten, erfolg- gensabgabe verbunden werden. Sachwerte reich waren, scheiterten sie mit dem zweiten und Geldvermögen sind dabei sicherzustel- Aspekt, der Ausdehnung dieser Form von Mit- len.»10 bestimmung auf andere Wirtschaftszweige, Dies waren die zentralen programmatischen nachhaltig. Die alten Hoffnungen und Sehn- Vorstellungen nicht nur der Antifa-Bewegun- süchte hatten sich nun endgültig an den Rea- gen des Jahres 1945 gewesen, sondern auch litäten des neuen, gespaltenen Deutschlands die der SPD, der Gewerkschaften und der zerschlagen. Und mit dem Tod Hans Böcklers meisten Kommunisten und Christlich-Sozia- 1951 und Kurt Schumachers 1952 endete, wie len bis 1947/48. Sie können nicht nur als der es einer der Chronisten jener Zeit einmal so letzte gesamtdeutsche Versuch eines gemein- treffend formulierte, symbolisch eine Zeit, «in wirtschaftlich-sozialistischen Übergangpro- der alles möglich schien und in der tatsächlich gramms, sondern geradezu als Quintessenz so wenig möglich war».11 der moralischen Ökonomie der postfaschisti- 1 Zur Verwendung des Gender-Sternchens in dieser Broschüre sie- schen Arbeiterbewegung betrachtet werden – he Fußnote 2 auf S. 3. 2 Brandt, Peter: Die Antifaschistischen Aus- einer moralischen Ökonomie, die zuerst nach- schüsse, in: Brusis, Ilse (Hrsg.): Die Niederlage, die eine Befreiung war. Das Lesebuch zum 8. Mai 1945, Köln 1985, S. 218. 3 Klönne, haltig behindert und schließlich erfolgreich Arno: Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte, Ziele, Wirkungen verhindert wurde durch die sich mit den west- [1980], München 1989, S. 281. 4 Zit. n. Steininger, Rolf: Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden [1996], Bd. 1, lichen Besatzungsmächten verbündende poli- Frankfurt a. M. 2002, S. 108. 5 Peter Brandt zit. n. Niethammer, Lutz/ Borsdorf, Ulrich/Brandt, Peter (Hrsg.): Arbeiterinitiative 1945. Antifa- tische Ökonomie der sich in schistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung und verkörpernden Konserva- in Deutschland, Wuppertal 1976, S. 635 f. 6 Agartz, Viktor: Sozialisti- sche Wirtschaftspolitik (Rede auf dem SPD-Parteitag 1946), in: ders.: tiven und Liberalen. Wirtschaft, Lohn, Gewerkschaft. Ausgewählte Schriften, Berlin 1982, Waren also die großen Weichen der Nach- S. 11–39. 7 Sering, Paul (d. i. Richard Löwenthal): Jenseits des Kapita- lismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung [1946], Nürn- kriegszeit mit dem Sommer/Herbst 1947 zwar berg 1948. 8 Ausführlicher dazu vgl. Jünke, Christoph: Wirtschafts- gestellt, sollte es doch noch ein bis zwei Jah- demokratische Neuordnungskonzepte nach dem Faschismus am Beispiel von Viktor Agartz, in: Berger, Stefan (Hrsg.): Gewerkschafts- re dauern, bis sie – mit der Währungsreform geschichte als Erinnerungsgeschichte, Essen 2015, S. 79–89, sowie Jünke, Christoph: Hoffnung in Trümmern. Viktor Agartz’ neue Wirt- und dem Scheitern des Generalstreiks vom schaftsdemokratie nach 1945, in: Beutin, Heidi/Beutin, Wolfgang/ November 1948, mit der Westintegra­tion Bleicher-Nagelsmann, Heinrich/Schmidt, Herbert/Wörmann-Adam, Claudia (Hrsg.): «Endlich unsrer Kraft zu trauen und sein schönes Le- und dem Wahlsieg Adenauers 1949 – auch ben aufzubauen». Hoffnung, Sehnsüchte und politische Vorstellun- für alle sichtbar wurden. Der sozialdemokra- gen zum Mai 1945, Mössingen-Talheim 2016, S. 57–74. Allgemein zu Agartz Jünke, Christoph: Vom linken Sozialdemokraten zum heimat- tisch-gewerkschaftliche Versuch, das neue losen Linken: Viktor Agartz 1897–1964, in: Kinner, Klaus (Hrsg.): Die Deutschland auf planwirtschaftlich-sozialisti- Linke – Erbe und Tradition, Bd. 2: Wurzeln des Linkssozialismus, Berlin 2010, S. 201–222. 9 Zit. n. Pirker, Theo: Die SPD nach Hitler. Die Ge- scher Basis neu zu ordnen, war einmal mehr schichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1945–1964 an der berühmt-berüchtigten Machtfrage, an [1964], Berlin 1977, S. 63 f. 10 Quellen zur Gewerkschaftsgeschich- te, Bd. 14: Die Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften den britischen und US-amerikanischen Be- 1946–1948, Bonn 2007, S. 245 f. 11 Pirker: Die SPD nach Hitler, S. 10. 26 Um die Mitbestimmung

Keno Ingwersen und Johanna Kornell UM DIE MITBESTIMMUNG DIE WESTDEUTSCHE ARBEITERBEWEGUNG NACH 19451

Nach Kriegsende war die politische Situation zeigten, zum anderen aber auch die Furcht vor im ehemaligen Dritten Reich zunächst von et- zu viel Macht ihrer Basis. lichen Variablen beeinflusst und dementspre- Vonseiten der Besatzungsmächte gab es keine chend unklar. Die Alliierten entwickelten ein Unterstützung beim Aufbau der Gewerkschaf- Konzept zur Neuordnung Deutschlands, das ten, eher wurden sie durch Maßnahmen der maßgeblich durch den Ost-West-Konflikt be- Besatzungsmächte in ihrer Arbeit behindert. einflusst war. Zeitgleich regte sich auch in der Auf betrieblicher Ebene wurden den Betriebs- Bevölkerung der alliierten Besatzungszonen räten nur unzureichende Handlungsspielräu- ein entschiedener Wunsch nach Mitbestim- me zugebilligt.4 Dies scheint darin begründet mung über die Neuordnung der Gesellschaft. zu sein, dass die Besatzungsmächte eine zu Im Folgenden soll gezeigt werden, welchen große Dominanz der sich schnell formieren- Anspruch die Arbeiterbewegung hierbei for- den Organisationen der Arbeiterbewegung mulierte und wie sie diesem Ausdruck ver- verhindern wollten. Jene waren besonders lieh. daran interessiert, etwaige kommunistische Um die Situation der Arbeiter2 zu verstehen, Bestrebungen im Keim zu ersticken.5 Der Sys- sollen vorab einige Punkte betrachtet wer- temkonflikt mit der Sowjetunion, dessen Zu- den. Die Arbeiterbewegung, die im National- spitzung bereits 1945 absehbar war, führte sozialismus zerschlagen worden war, formier- auch dazu, dass in der US-amerikanischen Be- te sich nach dem Mai 1945 neu, und auch die satzungszone diejenigen Gewerkschaften und Gewerkschaften begannen schnell, sich wie- Funktionäre, die sich der USA gegenüber als der zu organisieren, um handlungsfähig zu loyal erwiesen, schnell mehr Macht erlangen werden. Da es keine zentralen Instanzen mehr konnten als solche, die dies nicht taten. gab, waren lokale Initiativen, in denen sich die Nicht zuletzt ist auf die prekäre soziale La- Arbeiter zusammenfanden, zunächst relativ ge in der Nachkriegszeit hinzuweisen: Es einflussreich. herrschten Ernährungsschwierigkeiten, Koh- Die sich neu formierenden Gewerkschaften lenmangel und Wohnungsnot. Eine schlecht waren in ihrer Ausrichtung oft noch nicht ein- funktionierende Bewirtschaftung ließ den deutig bestimmt. Es herrschten rege Diskus­ Schwarzmarkt blühen. Die unzureichende sionen um die eigene politische Orientierung.3 Versorgungslage war bis in die 1950er Jahre So hatten zwar Basis und Leitung der Gewerk- hinein immer wieder Anlass zu größeren und schaften dieselben Ziele, allerdings war der kleineren Protesten.6 Weg dahin nicht eindeutig. Auch das allge- meine Verständnis von Politik ging bei diesen Konflikte um die Betriebs- beiden Gruppen auseinander. Die Gewerk- vereinbarungen schaftsleitung zeigte kein Interesse an sozia- Trotz aller Konflikte, die zwischen den Besat- ler Aktivierung ihrer Basis und verfolgte ihre zungsmächten, den Gewerkschaften und ih- Ziele lediglich über Verhandlungen. Dahinter rer Basis heranwuchsen, wurden die Arbeiter verbarg sich zum einen eine lange Tradition bald aktiv. Sie zeigten sehr früh ihren Willen, der deutschen Gewerkschaften, die eher eine an der wirtschaftspolitischen Neuordnung der permanente Passivität und Streikunwilligkeit westlichen Besatzungszonen mitzuwirken. Um die Mitbestimmung 27

Das Bestreben der Arbeiterbewegung, die die Belegschaft mit ihren Forderungen weit- wirtschaftspolitische Neuordnung zu ihren gehend durchsetzen konnte.12 Dieser Streik Gunsten einzurichten, zeigt sich zunächst im gilt als «erster organisierter Streik»13 seit 1933 Kampf um die sogenannten Betriebsverein- und wurde durch die IG Metall Bezirk Han- barungen. Diese sollten eine Beteiligung der nover unterstützt. Diesen Moment des po- Belegschaften an Entscheidungen sicherstel- litischen Erfolgs nutzten die Hannoveraner len, die ihre jeweiligen Unternehmen betrafen. Metaller aus, um in weiteren Betrieben erfolg- Als zentrale Interessenvertretung der Arbeiter reich auf Betriebsvereinbarungen zu drängen. sollten die Betriebsräte an solchen Entschei- In mindestens 14 niedersächsischen Groß- dungsprozessen beteiligt werden. betrieben wurden infolgedessen Betriebs- Am 10. April 1946 trat das alliierte Kontroll- vereinbarungen geschlossen, die im Sinne ratsgesetz (KRG) Nr. 22, das Betriebsräte- der Gewerkschaften als Erfolg zu sehen sind. gesetz, in Kraft. Dies formulierte erste Be- Teilweise konnten Vereinbarungen für ganze fugnisse der Betriebsräte. In den allgemeinen Bestimmungen, die das Gesetz festschrieb, blieben ei- In einigen Fällen zeigte sich nige Fragen unklar. So wurde das der Wille nach Mitbestimmung Verhältnis der Betriebsräte zu den auch darin, dass Belegschaften Gewerkschaften nicht explizit be- gegen ihre nationalsozialistisch stimmt und auch der Einfluss, den belasteten Vorgesetzten eintraten. die Belegschaft auf betriebliche Entscheidungen hatte, wurde hierin nicht Industriezweige geschlossen werden.14 Ab deutlich. Insbesondere die Betriebsräte und Mitte Februar 1947 wurden von dem gewerk- die Gewerkschaften kritisierten, dass das Ge- schaftlichen Zonenausschuss der Britischen setz die Rechte der Belegschaft nicht klar for- Besatzungszone bzw. den Landesgewerk- mulierte, wie es in dem Betriebsrätegesetz schaften der US-amerikanischen Besatzungs- von 1920 noch der Fall gewesen war.7 Um ein- zone Musterbetriebsvereinbarungen veröf- deutigere Bestimmungen zu finden, wurden fentlicht,15 worauf die Arbeitgeber mit eigenen vor wie auch nach dem Erlass des KRG Nr. 22 Mustervereinbarungen reagierten.16 Diese in den Unternehmen einzelne «Betriebsver- Veröffentlichungen führten zwar zu etlichen einbarungen» getroffen.8 Diese wurden in den Verhandlungen, die allerdings von den Ge- Betrieben erkämpft, wobei Streiks zum zen­ werkschaften nicht weiter begleitet wurden. tralen Druckmittel wurden.9 Beispielhaft hier- Dies scheint zu einer «prinzipiell[en] Streik­ für steht die Auseinandersetzung in der Pan- unwilligkeit der Gewerkschaftsführung»17 zerschrankfirma Bode-Panzer: Hier traten die sowie der Befürchtung der Gewerkschaf- Arbeiter geschlossen in den Vollstreik, nach- ten, dass die Betriebsräte zu mächtig werden dem die Unternehmensleitung ein Ultima- könnten, zu passen.18 Trotzdem kam es zu et- tum des Betriebsrats unter Vorsitz von Fritz lichen Streiks,19 die aber aufgrund von fehlen- Wilharm (KPD) hatte verstreichen lassen. 10 der Breite nicht die erhoffte Wirkung entfalten Vorangegangen war diesem Schritt, dass der konnten. So wurden in der Folge nur wenige Leitung eine Musterbetriebsvereinbarung Betriebsvereinbarungen abgeschlossen, die, der Gewerkschaften ein halbes Jahr lang vor- mit einigen Ausnahmen, die Stellung der Be- lag, ohne dass es zu zielführenden Verhand- triebsräte nicht wesentlich verbesserten.20 lungen kam.11 Am 14. Dezember 1946 wurde In einigen Betrieben streikte die Belegschaft der Streik nach 23 Tagen beendet, wobei sich aber trotz mangelnder gewerkschaftlicher Un- 28 Um die Mitbestimmung

terstützung konsequent für mehr Mitbestim- Waffen-SS gelegt hatten,25 reagierten die Ar- mung. In diesen Fällen wurden auch Erfolge beiter mit politischen Streiks. erzielt. So bei Miele,21 den Schmidding-Wer- Auch in Salzgitter führten die Verstrickun- ken in Hannover,22 aber auch bei mehreren Be- gen eines Betriebsdirektors in den Tod trieben im Bereich Württemberg-Baden.23 von 18 KZ-Häftlingen zu einem Streik von 3.500 Stahlarbeitern.26 Noch 1947 lassen Entnazifizierung als sich ähnliche Forderungen und Streiks in Es- Personal­politik im Betrieb sen,27 in einem Nürnberger MAN-Werk28 und Doch der Arbeiterbewegung ging es nicht al- in einer Werkzeugfabrik in -Altona29 lein um die Beteiligung an innerbetrieblichen nachweisen. In Essen war insbesondere der Entscheidungen. In einigen Fällen zeigte sich Betriebsrat tätig, während in Nürnberg und Al- der Wille nach Mitbestimmung auch darin, tona die Arbeiter selbst handelten. Im selben dass Belegschaften gegen ihre nationalsozia- Jahr begannen die Arbeiter, ihren Forderun- listisch belasteten Vorgesetzten eintraten. gen auch außerhalb der Betriebe Nachdruck Nach dem Ende der nationalsozialistischen zu verleihen und die politischen Führungs- Herrschaft bemühten sich die Besatzungs- kräfte für die Entnazifizierungspolitik inner- mächte der westlichen Zonen vor allem um ei- halb der Betriebe verantwortlich zu machen. ne politische und wirtschaftliche Anbindung So breiteten sich Streiks bei der AG Weser ge- des besetzten Deutschlands an den westlichen gen die unzureichende Verurteilung von an- Teil der neuen Weltordnung. Damit einherge- tisemitischen Mördern zu einer stadtweiten hend wurden die Aufarbeitung des Na­tio­nal­ fünfminütigen Arbeitsniederlegung und einer sozialismus und auch die Entnazifizierung in- am nächsten Tag abgehaltenen öffentlichen nerhalb der Betriebe zu einem zweitrangigen Kundgebung aus.30 Auch in Düsseldorf führ- Thema. Die Belegschaften drängten aber ver- ten im März 1947 die Bemühungen, ehemali- mehrt darauf, alte Nationalsozialisten in den je- ge Nationalsozialisten aus ihren betrieblichen weiligen Betrieben zu entlassen. Weil die Ar- Stellungen zu entlassen, zu einer öffentlichen beiter auch hierbei unter anderem Streiks als Demonstration, an der 80.000 Menschen teil- Druckmittel einsetzten, mussten sich die Be- nahmen.31 In den Schmidding-Werken wurde satzungsmächte ebenso wie die Arbeitgeber neben der Mitbestimmung in der Entnazifizie- den Forderungen oftmals beugen.24 rung des Betriebes auch für mehr Rechte der

Es ist bemerkenswert, wie massiv die Arbeiterbewegung, speziell im Ruhrgebiet, den öffentlichen Raum als Ort der politischen Auseinandersetzung wiederbelebte.

Beispielsweise veröffentlichten die «Groß-­ Belegschaft gestreikt.32 Mindestens bis Ende Stuttgarter Betriebsräte» 1946 eine Entschlie- November 1948 lässt sich zeigen, dass so- ßung zur mangelhaften Entnazifizierung, in wohl in den Betrieben als auch in der Arbei- der sie forderten, Gegner des Nationalsozia- terbewegung außerhalb einzelner Betriebe die lismus in die Entscheidung über NS-belastete Entnazifizierungspolitik und die Möglichkei- Personen einzubeziehen. Als es daraufhin zur ten, diesen Prozess zu beeinflussen und vor- Explosion von Sprengkörpern in drei Städten anzutreiben, zum Thema gemacht wurden.33 vor den Büros der Entnazifizierungs-Spruch- Zwar ist noch nicht untersucht worden, inwie- kammern kam, die ehemalige Angehörige der fern diese Phänomene flächendeckend auf- Um die Mitbestimmung 29

traten, aber deutlich wird in Betrachtung der Aachen statt, es beteiligten sich über 300.000 Geschehnisse, dass die Arbeiterbewegung bzw. 13.000 Arbeiter. Dies war der erste grö- einen neuen Anspruch auf Teilhabe an politi- ßere Generalstreik seit 1932.39 schen Entscheidungen in der Neuordnung der Im selben Zeitraum regte sich auch in der deutschen wirtschaftlichen-politischen Lage amerikanischen Besatzungszone Protest, in den westlichen Gebieten stellte. auch dort kam es Ende März 1947 zu Betriebs- räteversammlungen, Streiks und öffentlichen Rückkehr auf die Straße: die Kundgebungen. Ganz ähnlich wie in der bri- ersten Massenproteste 1947 tischen Besatzungszone beschränkten sich Die politischen Auseinandersetzungen be- auch dort die Forderungen nicht auf konkre- schränkten sich allerdings nicht nur auf die te Maßnahmen zur Verbesserung der Versor- Betriebe. Die Unzufriedenheit über die sozia- gungslage, vielmehr wurden weitreichende le Lage trieb die Menschen ab Februar 1947 Mitbestimmungsrechte der Arbeiterschaft an auch auf die Straße, zunächst vor allem im wirtschaftspolitischen Entscheidungen gefor- Ruhrgebiet. So kam es in Essen am 3. Febru- dert.40 ar 1947 zur ersten Massendemonstration in Insgesamt wird die Zahl der von November Deutschland seit Ende des Krieges. Ein De- 1946 bis November 1947 in der britischen Zo- monstrationszug von bis zu 17.000 Menschen ne an Streiks Beteiligten auf 2,5 Millionen ge- zog von den Krupp-Werken zum Hauptquar- schätzt.41 Zur Einordnung dieser Zahlen ist zu tier der Militärverwaltung. In den folgenden bedenken, dass sich alle Parteien (mit Ausnah- Tagen kam es in verschiedenen Städten des me der KPD), die Besatzungsmacht und auch Ruhrgebiets zu weiteren Streiks und Demons- die Gewerkschaften eindeutig gegen jegliche trationen.34 Die Proteste wurden durch die ka- Streiks positionierten. Die Besatzungsbehör- tastrophale Versorgungslage ausgelöst. Al- den bestraften die Rädelsführer der Streiks lerdings erstreckten sich die Forderungen der mit einer Reduzierung der Lebensmittelzu- Betriebsräte, Belegschaften und Demonstrie- teilung.42 Daher ist es besonders bemerkens- renden neben einer Reihe konkreter Forderun- wert, wie massiv die Arbeiterbewegung, spe- gen zur Verbesserung der Versorgungslage ziell im Ruhrgebiet, den öffentlichen Raum als auch auf die Verstaatlichung wichtiger Teile Ort der politischen Auseinandersetzung wie- der Industrie.35 derbelebte. Nicht nur in Essen gingen die Menschen auf Die Forderungen der Streikenden folgten kei- die Straße: So kam es Ende März bzw. Anfang ner einheitlichen Linie, sondern wurden von April 1947 im gesamten Ruhrgebiet zu Protes- den jeweiligen Akteuren vor Ort formuliert. ten, an denen sich Hunderttausende beteilig- Meist wurden zunächst praktische Maßnah- ten.36 Auch in anderen Teilen der britischen men zur Bewältigung der Versorgungskri- Besatzungszone regte sich Widerstand: Eine se verlangt. Vielfach ging es dabei um ei- Streikkundgebung in Braunschweig richte- ne Reform der Zonenverwaltung, konkret te sich gegen die Behörde für Ernährung und um die bürokratische und von ehemaligen Landwirtschaft, auch aufgrund ihrer Rolle in ­NSDAP-Mitgliedern durchsetzte Verwaltung der Zeit des Nationalsozialismus.37 In der Fol- für Ernährung und Landwirtschaft. Diese aku- ge kam es zu heftigen Ausschreitungen, Ver- ten Anliegen wurden allerdings mit weitrei- letzten, zerstörten Fensterscheiben, Plünde- chenderen Forderungen verknüpft, wie zum rungen und Angriffen auf Polizeibeamte.38 Am Beispiel mit der nach Verstaatlichung. 3. April fand ein eintägiger (General-)Streik in Die Reform der Verwaltung war eine kurzfris- den Schachtanlagen des Ruhrgebiets und in tige und die Verstaatlichung der Schlüsselin- 30 Um die Mitbestimmung

dustrien eine politisch langfristig konzipierte des öffentlichen Raums. Es war die Arbeiter- Antwort der Arbeiterbewegung auf die Er- bewegung, die demokratische Partizipation nährungskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. und kollektive Interessenvertretung durch De- Im Frühjahr 1947 verbanden sich diese und monstrationen, Entschließungen und Streiks andere Forderungen und die konkrete Notla- wiederbelebte. Die Auseinandersetzungen ge zu einer starken Bewegung, in der sich «Hungerdemonstration und po- litischer Protest eng miteinander ver- Die passive Haltung der Gewerk­ zahnten».43 schaftsleitungen machte es der Dass sich die auffälligen Proteste vor Arbeiter­bewegung schwer, ihre allem in der britischen Zone abspiel- potenzielle Macht auszuspielen. ten, lag zum einen an der an Ruhr und Rhein traditionell starken linken Arbeiterbe- konzentrierten sich auf politische Konflik- wegung, zum anderen an der dortigen Ver- te, insbesondere auf das Feld der Mitbestim- sorgungslage, die besonders schlecht war. mung. Es gelang der Arbeiterbewegung nicht, Proteste an anderen Orten erreichten immer während der historischen Ausnahmesitua­ dann ein ähnliches Ausmaß, wenn dort diese tion bei Mitbestimmung und Verstaatlichung beiden Faktoren ebenfalls zusammenkamen. nachhaltige Erfolge zu erzielen. Dies lag zum So kam es Anfang des Jahres 1948 auch in einen daran, dass die Grenzen des Erreich- der US-amerikanischen Besatzungszone zu baren zu diesem Zeitpunkt durch die Besat- massiven Protesten, nachdem sich die dort zungssituation und die zunehmende Zuspit- anfänglich bessere Versorgungslage ver- zung des Kalten Krieges gesetzt waren. Zum schlechtert hatte. Ein Beispiel dafür ist der Ge- anderen machte die passive Haltung der Ge- neralstreik in Bayern am 23. Januar 1948, an werkschaftsleitung es der Arbeiterbewegung dem sich weit über eine Million Beschäftigte schwer, ihre potenzielle Macht auszuspielen. beteiligten.44 Die oben angeführten Beispiele bezüglich der Kämpfe um die Betriebsvereinbarungen, der Zusammenfassung Protest gegen die schlechte Versorgungs- Nach dem Kriegsende hatten sich in den Aus- lage und nationalsozialistisch belastete Vor- einandersetzungen um die Betriebsverein- gesetzte zeigen allerdings, dass die Arbeiter- barungen die ersten demokratischen Bewe- bewegung durchaus klare Vorstellungen im gungen auf der Betriebsebene bemerkbar Hinblick auf die Neugestaltung Nachkriegs- gemacht, ab 1947 erreichten mit den Pro- deutschlands formulierte und für diese auch testen gegen die schlechte Versorgungsla- immer wieder entschlossen – und bisweilen ge ganz ähnliche Themen auch die Sphäre auch erfolgreich – kämpfte. Um die Mitbestimmung 31

1 Der Artikel basiert auf dem Kapitel «Um eine neue Gesellschaft» und Betriebsloyalität, in: Broszat, Martin/Henke, Klaus-Dietmar/Woller, in Uwe Fuhrmanns Buch «Die Entstehung der ‹Sozialen Marktwirt - Hans (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschich- schaft› 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse» (Konstanz 2017). te des Umbruchs in Deutschland, München 1989, S. 469–549, hier: S. Mit freundlichem Einverständnis von Uwe Fuhrmann. 2 Zur Verwen- 533–542. 24 Zum Beispiel auf einer Zeche in Marl, wo über 20 Natio- dung des Gender-Sternchens in dieser Broschüre siehe Fußnote 2 nalsozialisten gegen den Willen der Konzernleitung entlassen werden auf S. 3. 3 Vgl. Angster, Julia: Konsenskapitalismus und Sozialde- mussten, vgl. Milert/Tschirbs: Die andere Demokratie, S. 344 f. 25 Vgl. mokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, Ernst, Albrecht: Terroranschläge gegen Spruchkammern in Stuttgart S. 14. 4 Vgl. Milert, Werner/Tschirbs, Rudolf: Die andere Demokratie. und Umgebung. Der Fall Kabus, in: Archivnachrichten des Landes - Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Es- archivs Baden-Württemberg 36, März 2008, S. 10 f. 26 Vgl. Hude- sen 2012, S. 340 f. 5 Vgl. Zink, Harold: The United States in Germany mann, Rainer u. a.: Statistik der Arbeitskämpfe, St. Katharinen 1992, 1944–1955, Princeton, NJ 1957, S. 282. 6 Exemplarisch Kocka, Jür- S. 149 f. 27 Vgl. Kleßmann/Friedemann: Streiks und Hungermärsche, gen: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in: Stern, Carola/Kocka, S. 46. 28 Vgl. Bähr, Johannes: GHH und MAN in der Weimarer Repu- Jürgen (Hrsg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848–1945, blik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1920–1960), Frankfurt a. M. 1979, S.141–168. 7 Vgl. Milert/Tschirbs: Die andere in: ders. u. a. (Hrsg.): Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, Demokratie, S. 360–364. 8 Vgl. ebd., S. 365. 9 Beispielhafte Auszü- München 2008, S. 231–374, hier: S. 356; Schmidt: Die verhinderte ge aus drei Betriebsvereinbarungen bei Kleßmann, Christoph/Friede- Neuordnung, S. 136. 29 Vgl. Hudemann u. a.: Statistik der Arbeits- mann, Peter: Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946–1948, kämpfe, S. 141 u. 146. 30 Ebd., S. 201 f. 31 Vgl. Kleßmann/Friede- Frankfurt a. M. 1977, S. 109 f. 10 Vgl. Hartmann, Franz u. a.: 40 Jah- mann: Streiks und Hungermärsche, S. 46 f. 32 Vgl. Droege u. a.: Bo- re DGB-Niedersachsen, Hannover 1987, S. 19. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. de-Panzer wird geknackt, S. 120. 33 Vgl. Hudemann u. a.: Statistik Kleßmann/Friedemann: Streiks und Hungermärsche, S. 36 f. 13 Milert/ der Arbeitskämpfe, S. 155: Am 3. November 1948 verhinderte eine Ar- Tschirbs: Die andere Demokratie, S. 367. 14 Vgl. Hartmann u. a.: 40 beitsniederlegung von über 10.000 Arbeitern der Continental-Gummi- Jahre DGB-Niedersachsen, S. 23 f. 15 Vgl. Milert/Tschirbs: Die ande- werke in Hannover die Rückkehr eines politisch belasteten Aufsichts- re Demokratie, S. 368 f. 16 Vgl. Müller-List, Gabriele: Neubeginn bei rates. 34 Vgl. «Essens Streik», in: Der Spiegel, 8.2.1947 und Fichter, Eisen und Stahl im Ruhrgebiet. Die Beziehungen zwischen Arbeitge- Tilman/Schmidt, Ute: Der erzwungene Kapitalismus. Klassenkämpfe in bern und Arbeitnehmern in der nordrhein-westfälischen Eisen- und den Westzonen 1945–48, Berlin 1971, S. 26. 35 Zum Beispiel die Es- Stahlindustrie 1945–1948, Düsseldorf 1990, S. 89–91. 17 Schmidt, sener Betriebsräte, vgl. Kleßmann/Friedmann: Streiks und Hungermär- Eberhardt: Die verhinderte Neuordnung 1945–1952. Zur Auseinan- sche, S. 46. 36 Vgl. , 2.4.1947, S. 2; Kleßmann/ dersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Friedmann: Streiks und Hungermärsche, S. 47 f.; Mannschatz, Ger- Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt hard/Seider, Josef: Zum Kampf der KPD im Ruhrgebiet für die Einigung a. M. 1970, S. 92–94, hier: S. 92. 18 Vgl. Milert/Tschirbs: Die andere der Arbeiterklasse und die Entmachtung der Monopolherren 1945– Demokratie, S. 371–374. 19 Vgl. Müller, Gloria: Mitbestimmung in 1947, Berlin 1962, S. 221 ff. 37 Vgl. Fichter/Schmidt: Der erzwun- der Nachkriegszeit. Britische Besatzungsmacht – Unternehmer – Ge- gene Kapitalismus, S. 28. 38 Vgl. Boll, Friedhelm: Hungerstreiks und werkschaften, Düsseldorf 1987, S. 163–178. 20 Vgl. Milert/Tschirbs: Jugendunruhen 1947/48, in: Pollmann, Birgit (Hrsg.): Schicht, Protest, Die andere Demokratie, S. 378 f. Es ist anzumerken, dass es anschei- Revolution in Braunschweig 1292 bis 1947/48, Braunschweig 1995, nend keine systematische Forschung zu lokalen Vereinbarungen gibt S. 197–224, hier: S. 208. 39 Vgl. Generalstreik im Ruhrgebiet. Gegen und diese Aussagen daher unter Vorbehalt stehen müssen. 21 Vgl. die Saboteure der Wirtschaft und der Ernährung, in: Neues Deutsch- Schmidt: Die verhinderte Neuordnung, S. 94 und «Entschließung land, 4.4.1947. 40 Vgl. Seifert, Christfried: Entstehung und Entwick- des DGB (BBZ) zum Miele-Streik», in: Mielke, Siegfried/Rütters, Peter lung des Gewerkschaftsbundes Württemberg-Baden bis zur Gründung (Hrsg.): Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1945– des DGB 1945–1949, Marburg 1980, S. 224 u. 456. 41 Vgl. Müller: 1949, Köln 1991, S. 202 f. 22 Vgl. Droege, Heinrich/Behrens, Otto: Mitbestimmung in der Nachkriegszeit, S. 174. 42 Vgl. Schmidt: Die Bode-Panzer wird geknackt. Die ersten Mitbestimmungsstreiks nach verhinderte Neuordnung, S. 137 f. 43 Milert/Tschirbs: Die andere De- 1945, in: Schöfer, Erasmus (Hrsg.): Die Kinder des roten Großvaters mokratie, S. 372. 44 Vgl. Gerstenberg, Günther: Hungermärsche – erzählen. Berichte zur Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Hungerstreiks. Materialien 1948, in: ders. (Hrsg.): Protest in München Deutschland, Frankfurt a. M. 1976, S. 110–121. 23 Vgl. Fichter, Micha- 1945 bis in die Gegenwart, Onlinepublikation, unter: protest-muen- el: Aufbau und Neuordnung. Betriebsräte zwischen Klassensolidarität chen.sub-.de. 32 Schulter an Schulter mit den Genossen

Gisela Notz SCHULTER AN SCHULTER MIT DEN GENOSSEN DIE SCHWIERIGKEITEN DES (WIEDER-)AUFBAUS ­SOZIALISTISCHER FRAUENARBEIT NACH 1945

Die sozialistische Frauenbewegung erleb- läuferinnen und viel zu viele Heldenbewun- te mit Clara Zetkin, Ottilie Baader und vielen derinnen. Freilich gab es auch Frauen, die Wi- anderen ihre Hochzeit in den Jahren vor dem derstand geleistet hatten. Ihre Aktionsformen Ersten Weltkrieg und war wegweisend für den waren unterschiedlich und vielfältig, ihre Mo- Kampf und die Durchsetzung von Frauenrech- tive waren weltanschaulich oder politisch ge- ten. Von dem unversöhnlichen Bruch, der mit prägt. Viele Sozialistinnen wurden ebenso wie dem Beginn des Ersten Weltkrieges einher- viele ihrer Genossen wegen ihrer Unterstüt- ging, sich während der unvollendeten Revo- zung des Widerstands hingerichtet oder in lution von 1918 fortsetzte und zur Spaltung Konzentrationslagern ermordet. Nicht nur die der Sozialdemokratie führte, erholte sich auch «Trümmerfrauen» machten sich unmittelbar die sozialistische Frauenbewegung nicht. nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in al- Zwar hatte sie mit dem erkämpften Frauen- len Besatzungszonen ans Werk, auch wenn sie wahlrecht nach dem Ersten Weltkrieg einen es waren, denen Denkmäler gesetzt wurden.3 großen Sieg errungen, als Frauenbewegung Frauen waren es auch, die, wie schon in den verlor sie während der Zeit der Weimarer Re- Kriegsjahren, die Überlebensarbeit (Haushalt, publik jedoch an Bedeutung. Die aktiven Frau- Erziehung etc.) und die Arbeit in Industrie und en kämpften in den Parlamenten gegen die Landwirtschaft weitgehend leisteten, denn in Politik der konservativen Parteien oder wurden Deutschland lebten nach 1945 über sieben in der 1919 gegründeten Arbeiterwohlfahrt Millionen mehr Frauen als Männer; 3,5 Millio- aktiv, die hauptsächlich durch Frauen getra- nen waren Kriegerwitwen mit Kindern.4 gen wurde. Versuche, die 1907 gegründete Im Folgenden soll es vor allem um die Rolle Sozialistische Fraueninternationale wieder- der Frauen beim politischen Wiederaufbau zubeleben, waren von wenig Erfolg gekrönt.1 gehen, in den sie ihre während der NS-Zeit Noch viel gravierender war der Einschnitt, der gemachten Erfahrungen einbrachten oder/ durch den Nazi-Faschismus und den Zwei- und an ihre während der Zeit der Weimarer ten Weltkrieg erfolgte. Die Organisationen Republik­ geleistete Arbeit anknüpften. Auch der proletarischen Frauenbewegung waren, Sozialistinnen schlossen sich zunächst den wie auch die sozialistischen und sozialdemo- überparteilichen Frauenausschüssen an, auf kratischen Verbände, mit dem Beginn der Na- die ich zuerst eingehen werde. Dass die Aus- zi-Herrschaft verboten worden. Neue Struktu- schüsse Klassen- und Schichtzugehörigkeit ren wurden notwendig. und politische Vorstellungen als trennen- Nach Kriegsende hatten Frauen wie Männer de Kategorien neben der Geschlechtszuge- unterschiedliche Erfahrungen zu verarbeiten. hörigkeit vernachlässigten, rief den Wider- Zu viele waren bemüht, die NS-Zeit und die stand der SPD-Spitze hervor und erschwerte Rolle, die sie darin spielten, zu verdrängen. 2 die Arbeit. Dagegen wurde der Einfluss auf Frauen waren während des Nazi-Faschismus die Durchsetzung des Gleichstellungspara- Opfer und Täterinnen, es gab unzählige Mit- grafen im Grundgesetz möglich, indem Klas- Schulter an Schulter mit den Genossen 33

sen- und Parteigrenzen bei der Mobilisierung Frauenbewegungen während der Weima- übergangen wurden, wie in den folgenden rer Zeit an, die mit der Machtübernahme der beiden Abschnitten deutlich wird. Der lange Nazi-Faschisten ihr Ende gefunden hatten. Weg, der erst viel später zu einer eigenständi- Gleichberechtigte Geschlechterverhältnisse gen Arbeitsgemeinschaft in der SPD der Bun- sahen sie als selbstverständliche Menschen- desrepublik führte, auf die ich mich nach der rechte an. Teilweise unterstützt durch die Mi- doppelten Staatsgründung im Wesentlichen litärregierungen entwickelten sie eine speziell beziehe, wird im letzten Abschnitt dargestellt. an die Frauen gerichtete und auf ihre Bedürf- nisse zugeschnittene politische Bildungsar- Über- und außerparteiliche beit, vermittelten staatsbürgerliche Kennt- Frauenpolitik nisse und informierten über demokratische Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrie- Verfahren. ges formierten sich in allen vier Besatzungs- zonen mehr als 5.000 überparteiliche und Die Bedeutung der Frauen- überkonfessionelle Frauenausschüsse als ausschüsse für Basisorganisationen für Frauen, die am Auf- die SPD-Frauenarbeit bau einer demokratischen Republik auf an- Die Ausschüsse waren den Parteien, vor al- tifaschistischer Grundlage arbeiten wollten. lem der CDU, ein Dorn im Auge. Aber auch Mit viel Energie waren Frauen aus allen Klas- die SPD-Politikerinnen der drei westlichen Zo- sen und Schichten, mit verschiedenen Welt­ nen wurden mit Appellen konfrontiert, dass anschauungen, aus allen Parteien und par- ihr Platz allein in der SPD sei. Schließlich galt teiunabhängige Frauen in den Ausschüssen es, unter den noch wenig organisierten Frau- tätig. Sie wollten – über parteipolitische und en Parteimitglieder zu werben oder zumindest ideologische Grenzen hinweg – helfen, die Wählerinnenstimmen zu gewinnen. Durch Not der Nachkriegszeit zu lindern, und protes- Funktionsträger wurde immer wieder vor der tierten und demonstrierten gegen die katas­ Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen, die trophale Ernährungs- und Wohnungslage. Die schließlich aufgrund ihrer Klassenherkunft an- Sozialistinnen in den Ausschüssen waren es dere Interessen als Sozialistinnen hätten, ge- vor allem, die für den (Wieder-)Aufbau einer warnt. friedlichen, sozialistischen, demokratischen Ganz unbegründet war das nicht, denn die Gesellschaft von gleichberechtigten Individu- Frauenausschüsse beabsichtigten offensicht- en arbeiten wollten. Sie ergriffen die Initiative, lich eine Wiederbelebung des 1894 gegründe- um für mehr «Fraueneinfluss» in Politik, Ver- ten bürgerlichen Bundes Deutscher Frauen- waltung und Wirtschaft zu sorgen. «Eine poli- vereine (BDF), der sich mit dem Argument, sie tisch einwandfreie Vergangenheit im Hinblick sei politisch, stets deutlich von der proletari- auf den Nationalsozialismus» war Vorausset- schen Frauenbewegung abgegrenzt hatte und zung für die Teilnahme.5 Die in den Ausschüs- sich 1933, ohne Widerstand zu leisten, selbst sen aktiven Frauen schafften sich damit Struk- auflöste. Als sich 1947 die Frauenausschüsse turen, durch die es ihnen möglich werden institutionalisierten und überregional zusam- sollte, sich nicht in traditionelle weibliche Rol- menschlossen sowie eine festere Struktur von len zurückweisen zu lassen, sondern schritt- Frauenverbänden annahmen, waren nur noch weise die politische Handlungsfähigkeit im wenige Vertreterinnen der SPD-Frauen dabei. Gemeinwesen zu gewinnen. Es war die KPD, die sich als einzige Partei ei- Partiell knüpften sie zunächst an die Erfahrun- ne Verstärkung ihrer Wählerbasis durch die gen der bürgerlichen und der sozialistischen Mitarbeit in den Ausschüssen erhoffte. In 34 Schulter an Schulter mit den Genossen

der sowjetisch besetzten Zone wurde bereits konferenz, die vom 20. bis 23. Mai 1947 in Bad am 8. März 1947 auf dem «Deutschen Frau- Boll mit rund 240 Vertreterinnen von 42 über- enkongress für den Frieden» der Demokrati- parteilichen und überkonfessionellen Frauen- sche Frauenbund Deutschlands (DFD) ge- ausschüssen stattfand. Lisa Albrecht wurde gründet, der aus den Frauenausschüssen als Vertreterin der SPD in Bayern zur Vorsitzen- hervorgegangen war. Unter den 400 Gästen den des Kongresses gewählt. Die Frauen dis- waren auch 104 Frauen aus den westlichen kutierten über Perspektiven, Organisationsfor- Besatzungszonen.6 In Westberlin entwickelte men und Ziele ihrer Arbeit. Unter dem Motto sich aus den DFD-Kreisverbänden der Demo- «Friedensbewegung, Völkerversöhnung als kratische Frauenbund Berlin (DFB). Aus den Aufgabe der Frau»8 wollten sie sich vor allem DFD-Landesverbänden in der Bundesrepublik über eine gemeinsame Friedensarbeit verstän- Deutschland wurde am 8. März 1951 ein ei- digen. Ziel der Konferenz sollte ein Verband al- genständiger Verband, der 1957 im Zuge des ler Frauenverbände der Westzonen auf über- KPD-Verbots ebenfalls verboten wurde. parteilicher und überkonfessioneller Basis Auch der DFD bezog sich auf die Geschichte sein. Nach einigen Auseinandersetzungen und der deutschen Frauenbewegung, sah seine gefördert durch die westlichen Besatzungs- Vorbilder in den Sozialistinnen um Clara Zet- mächte, kam dieser erst nach dem Zusam - kin, der Friedenskämpferin Bertha von Suttner menschluss der drei Westzonen zur Bundes- und in der Gründerin des bereits 1865 entstan- republik Deutschland im Oktober 1949 in denen bürgerlichen Allgemeinen Deutschen Form des heute noch bestehenden Deutschen Frauenvereins (ADF) Louise Otto-Peters, der Frauenrings (DFR) in Bad Pyrmont zustande. sich für Berufsausbildung und gleiche Löh- Vorsitzende wurde Theanolte Bähnisch, nie- ne der Arbeiterinnen eingesetzt und sich dersächsische Regierungspräsidentin, Vorsit- ebenfalls 1933 selbst aufgelöst hatte, um der zende des überparteilichen Frauenrings der durch die Nazis zu entgehen. britischen Zone und einzige anwesende SPD- 1950 erfolgte die Gründung westdeutscher Frau. Sie vertrat die Meinung, dass die Majo- Landesverbände des DFD und am 8. März rität der Frauen allein gelassen würde, wenn 1951 ein bundesweiter Zusammenschluss. man ausschließlich auf Agitation für Parteiar- Laut Entscheidung des Parteivorstands der beit baue.9 Damit setzte sie sich bewusst von SPD von 1948 war eine gleichzeitige Mitglied- den offiziellen Parteiverlautbarungen ab. schaft und Mitarbeit im DFD und in der SPD Der SPD ging es nicht mehr allein um das Ver- schon vor dem KPD-Verbot ausgeschlossen. bot der Zusammenarbeit mit den bürgerlichen In dem entsprechenden Beschluss heißt es: Frauen, den «Madames», in denen «noch der «Die Mitgliedschaft im Deutschen Demokrati- Geist der früheren Vaterländischen Frauenver- schen Frauenbund sowie die Anwesenheit auf eine» stecke. Im Zeichen des Kalten Krieges Kongressen, die vom Deutschen Demokra- ging es auch um die Ablehnung der Mitarbeit tischen Frauenbund einberufen sind, ist un- von Frauen, in denen «der kommunistische vereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD».7 Eroberungswille» vermutet wurde, wie aus Das war ein eindeutiger Unvereinbarkeitsbe- einer Stellungnahme des Parteivorsitzenden schluss. In der DDR wurde der DFD 1952 als bei der Sitzung des Partei- einheitlicher, überparteilicher und überkonfes- vorstands vom 2. Juni 1947 hervorgeht.10 Da- sioneller Frauenverband als Teil der SED zur rin hieß es auch: «Die Zugehörigkeit zu einer Massenorganisation. selbständigen Frauenpartei oder zu einer ein- Die Frauen der drei westlichen Besatzungszo- deutig von der Politik einer gegnerischen Par- nen trafen sich zur ersten interzonalen Frauen- tei bestimmten Organisation lässt sich mit der Schulter an Schulter mit den Genossen 35

Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen «Männer und Frauen sind Partei nicht vereinbaren.»11 Er betonte, dass gleichberechtigt» «die sozialdemokratische Frau in erster Linie Unterdessen waren am 1. September 1948 in Sozialdemokratin ist und daß die Aufgaben Bonn vier Frauen und 61 Männer – darunter der Partei niemals beeinträchtigt werden dür- 25 Sozialdemokraten und zwei Sozialdemo- fen».12 Die Stellungnahme war eine Antwort kratinnen – zum Parlamentarischen Rat (PR) auf die Position zur überparteilichen Frauen- zusammengetreten: die Väter und Mütter des arbeit, die Bähnisch auf derselben Sitzung Grundgesetzes.17 Sie mussten nicht nur par- dargelegt hatte, in der sie besonders den an- teipolitische Grenzen überwinden, sondern tikommunistischen Charakter ihrer Arbeit be- auch die «richtigen» Lehren aus der Vergan- tont hatte. Die Mitglieder des Parteivorstands genheit ziehen. Dass es seit dem 23. Juni bekräftigten jedoch dessen Frankfurter Be- 1949 im Grundgesetz (GG Art. 3 Abs. 2) für die schluss: die «Entschließung zur Frauenfrage» Bundesrepublik Deutschland eindeutig heißt: vom August 1946, in der es um die «kamerad- «Männer und Frauen sind gleichberechtigt», schaftliche Zusammenarbeit von Männern war der Zusammenarbeit zwischen den bei- und Frauen», also gegen die Geschlechter- den Sozialdemokratinnen Elisabeth Selbert trennung in der Partei ging und «jede Form und mit Frauen aus Gewerk- einer Frauenpartei und sogenannter unpoli- schaften und Parteien, unorganisierten Frau- tischer Frauenvereine» abgelehnt wurde. 13 en und den überparlamentarischen Frauen- Deshalb konnte es auch dann nicht zu partiel­ verbänden zu verdanken. Zunächst mussten len Bündnissen kommen, wenn es um die sie ihre eigenen Parteigenossen überzeugen, gemeinsame Zielsetzung der Erhaltung des dann die männlichen Abgeordneten aus den Friedens ging. Herta Gotthelf, Leiterin des zen- konservativen Parteien und schließlich setzten tralen Frauensekretariats, betonte immer wie- sie sich auch gegen ihre Geschlechtsgenos- der, wie schädlich die Teilnahme an «diesen sinnen im Parlamentarischen Rat durch. Nach Friedenskundgebungen» für die Partei sei.14 zweimaliger Ablehnung des beabsichtigten Auch die westdeutschen Frauenverbände, die Verfassungstextes mobilisierten sie Frauen bis dahin ihre Überparteilichkeit so hochge- in Stadt und Land. Es regnete Eingaben einer halten hatten, schlossen nun ihre kommunis- breiten Frauenöffentlichkeit. tischen Mitglieder aus. Die Zusammenarbeit Elisabeth Selbert war über die Mitarbeit im zwischen den Frauen verschiedener partei- Überparteilichen Ausschuss der Stadt Kas- politischer Ausrichtungen brach damit ausei- sel am politischen Aufbau der zu gründenden nander und die Blockbildung fand auch in der Bundesrepublik beteiligt. Seit Juni 1946 war Frauenbewegung infolge des zunehmenden sie Mitglied der Verfassungberatenden Lan- Ost-West-Konflikts ihren Ausdruck. 1951 wur- desversammlung für das Land Hessen, deren de in der Tradition des bürgerlich-gemäßigten Inhalt sie wesentlich mitprägte. Obwohl sie BDF der «Informationsdienst für Frauenfragen gegenüber den überparteilichen Frauenorga- e. V.» als Interessenvertretung und Vorläufer nisationen zwischenzeitlich eine strikt ableh- des Deutschen Frauenrates von 1969 gegrün- nende Haltung vertreten hatte, weil sie – wie det.15 Dass die Frauenvertretungen des Deut- die Spitze der SPD – der Meinung war, «dass schen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der in einem demokratischen Staat die politische Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) Willensbildung des Volkes in den und durch dabei waren, galt damals als Versöhnung zwi- die politischen Parteien erfolgt»,18 war sie nun schen liberal-bürgerlicher und sozialistischer stolz darauf, dass «auch die Frauenausschüs- Frauenbewegung.16 se und die überparteilichen Frauenverbände» 36 Schulter an Schulter mit den Genossen

das Anliegen unterstützten.19 Der massenhaf- nossen dafür arbeiten, dass ein sozialistisches te Protest war sensationell und einmalig in der und demokratisches Deutschland geschaffen bundesdeutschen Geschichte – und hatte Er- werde, in dem Unrecht, Ungerechtigkeit, Fa- folg. Am 18. Januar 1949 wurde der Gleich- schismus und Krieg ein für alle Mal der Boden heitsgrundsatz einstimmig gebilligt und im entzogen werde.21 Ihr Einfluss auf politische Mai im Grundgesetz verankert. Entscheidungsprozesse in ihrer Partei war je- Das Ziel der faktischen Gleichberechtigung doch gering, denn in den meisten Macht- und von Frauen und Männern war in der Bundes- Entscheidungspositionen saßen, wie in den republik allerdings noch nicht einmal de jure anderen Parteien auch, schon wieder Männer. erreicht, denn die Ungleichheit blieb, insbe- Der Parteivorsitzende Kurt Schumacher mach- sondere durch das Bürgerlichen Gesetzbuch te dafür die Frauen selbst verantwortlich, (BGB) und hier vor allem das Ehe- und Fami- denn er hatte ihnen bereits bei der Bezirksfrau- lienrecht bis 1977 festgeschrieben. Faktisch enkonferenz der SPD 1946 in Fürth zugerufen: dauert die Umsetzung des Rechts auf Gleich- «Ihr seid, wenn Ihr wollt, diejenigen, die alle berechtigung bis heute an. Arbeit in der Partei machen können, Ihr seid der Machtfaktor.»22 Von einer eigenständigen Wie ging es mit der Frauenarbeit wollte er jedoch nichts wissen. SPD-Frauenpolitik weiter? Die Frauensekretärin Herta Gotthelf betonte Obwohl die Berechtigung und Verpflichtung immer wieder, «dass Frauen, deren politisches der Frauen zur Teilung der Verantwortung mit Interesse wir erst wachrufen wollen»,23 nicht den Männern im Grundgesetz stand, befanden ohne Weiteres bereit seien, zu allgemeinen sich im ersten von 1949 nur sie- politischen Veranstaltungen zu gehen. Sie sei- ben Prozent Frauen. Auch wenn die SPD mit en durch besondere Frauenzusammenkünfte 9,6 Prozent der weiblichen Abgeordneten am leichter zu bewegen, sich an der politischen stärksten vertreten war, war das ein Armuts- Arbeit zu beteiligen. Allerdings ging es auch zeugnis. Viele der SPD-Abgeordneten kamen Gotthelf weniger darum, die bestehende Be- aus der Arbeiterklasse, kannten die Proble- nachteiligung von Frauen in einem geschütz- me der ärmeren Schichten und sorgten da - ten Raum unter Frauen zu diskutieren und für, dass die «soziale Frage» öffentlich disku- Strategien zu entwickeln, um ihre Beteiligung tiert wurde. Das war nicht immer leicht, denn an Entscheidungsprozessen innerhalb der nach der Sternstunde der Gleichberechtigung Partei zu stärken, sondern darum, das «ande- folgten während der Kanzlerschaft von Konrad re Geschlecht» zu gewinnen, um das Mitglie- Adenauer (CDU) erst einmal bleierne Zeiten ei- der- und Wählerinnenpotenzial der Partei zu ner restaurativen Familien- und Geschlechter- vergrößern. Die Liste «dauernder Aufgaben ei- politik.20 Mit dem Wiederaufbau der Parteien ner Frauengruppe», die in allen größeren Orts- verschwanden die Frauenausschüsse in der gruppe gebildet werden sollten, reichte von Bundesrepublik oder schlossen sich dem DFD der Teilnahme an allen Veranstaltungen der an, der bis zu seinem Verbot 1957 gegen Fa- Ortsvereine, für die die Frauen selbstverständ- schismus und Militarismus, für Frieden und für lich die «würdige Ausgestaltung des Raumes» die Gleichberechtigung der Frauen kämpfte. übernehmen sollten, bis hin zur Zusammen- Nicht alle Genossinnen sahen die Notwendig- arbeit mit den gewerkschaftlichen und ande- keit einer besonderen Frauenarbeit innerhalb ren Frauengruppen. Alles mehr oder weniger der SPD. Sie vertraten den Standpunkt, Frau- «typisch weibliche» Aufgaben, die zudem zu en sollten sich am Leben der Gesamtpartei be- einer Überlastung der wenigen aktiven Frauen teiligen und Schulter an Schulter mit den Ge- führen mussten. Kein Wunder, dass die prak- Schulter an Schulter mit den Genossen 37

zungen, denen ein Beschluss Das «letzte Ziel» der Arbeit sei des Parteivorstandes folgte – schließlich, «auch die letzte Frau für die Arbeitsgemeinschaft so- unsere Bewegung zu gewinnen». Mit zialdemokratischer Frauen «unsere Bewegung» war die (männer­ (AsF) als Frauenorganisation dominierte) Gesamtpartei gemeint. der SPD. Die damalige Vorsit- zende Elfriede Eilers skizzier- tische Frauengruppenarbeit zögerlich anlief te deren Auftrag mit den Worten: «Die Arbeits- und nur von wenigen älteren Frauen getragen gemeinschaft sozialdemokratischer Frauen wurde. Manche Frauengruppen verkamen hat die Aufgabe, sich selbst überflüssig zu ma- auch zu einer Versammlung der weiblichen chen.»26 Darauf, dass sie davon weit entfernt Parteimitglieder unter männlicher Leitung. ist, weisen SPD-Frauen bis heute immer wie- Trotz des enormen organisatorischen Auf- der hin. wands blieb der gewünschte Erfolg aus. An- statt der Stärkung der Frauenarbeit in der 1 Notz, Gisela: «Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!» Die internationale sozialistische Frauenbewe- Gesamtpartei mit ihren eigenen inhaltlichen gung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frau- Forderungen stärkeres Gewicht zu verleihen enwahlrecht, Bonn 2008, S. 48–51. 2 Hoffmann, Christa: Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945–1989, Bonn oder diese selbst zu übernehmen, beklagten 1992, S. 17. 3 Kritisch dazu: Treber, Leonie: Mythos Trümmerfrau- die Genossinnen immer wieder die mangel- en. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegs- zeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes, Essen hafte Unterstützung durch «ihre» SPD-Män- 2014. 4 Kuhn, Annette (Hrsg.): Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992, S. 520. 5 Vgl. das Beispiel des Frankfurter Frauenausschus- ner, während die Männer nicht müde wurden, ses in: Schüller, Elke/Wolff, Kerstin: Fini Pfannes. Protagonistin und darauf hinzuweisen, dass sie die Sache der Paradiesvogel der Nachkriegsfrauenbewegung, Königstein 2000, S. 102. 6 Bundesvorstand des Demokratischen Frauenbundes Frauen schon entsprechend mitvertreten wür- Deutschland (Hrsg.): Geschichte des DFD, Leipzig 1989, S. 8. 7 Zi- den. «Die Frau» müsse allerdings erst einmal tiert nach einem Brief der späteren Bundestagsabgeordneten Lui- se Herklotz an die Mitglieder des Bezirksfrauenausschusses vom «im politischen Leben geschult und heran- 28.2.1948, in: SPD-Bezirk Pfalz (Hrsg.): Luise Herklotz, eine pfälzi- gebildet werden, damit sie die Aufgaben, die sche Sozialdemokratin in der Nachkriegszeit, o. O., o. J., o. S. 8 Frau- en fordern Frieden. Interzonale Tagung – Gäste aus den USA und ihr gestellt werden, auch erfüllen kann». Das England, in: Neue Zeitung (NZ), 26.5.1947. 9 Brief von Theanolde «letzte Ziel» der Arbeit sei schließlich, «auch Bähnisch an Herta Gotthelf, 29.4.1947, in: Archiv der sozialen Demo- kratie (AdsD), Nachlass Albrecht, unverzeichnet. 10 Veröffentlicht in: die letzte Frau für unsere Bewegung zu gewin- Albrecht, Willy: Die SPD unter Kurt Schumacher und 24 1946 bis 1963, Bonn 1999, Bd. 1, S. 231. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., nen». Mit «unsere Bewegung» war die (män- S. 79. 14 Brief von Herta Gotthelf an Lisa Albrecht, 24.10.1949, in: nerdominierte) Gesamtpartei gemeint. AdsD, Nachlass Albrecht. 15 Icken, Angelika: Der deutsche Frau- enrat. Etablierte Frauenverbandsarbeit im gesellschaftlichen Wan- Es dauerte lange, bis den Sozialdemokra- del, Wiesbaden 2002. 16 Die historischen Wurzeln des Deutschen tinnen der Geduldsfaden riss. Als Ende der Frauenrats, unter: www.frauenrat.de/verband/geschichte/. 17 Notz, Gisela/Wickert, Christl: Die geglückte Verfassung. Sozialdemokrati- 1960er Jahre die Frauen des Sozialistischen sche Handschrift des Grundgesetzes, Bonn 2009. 18 Selbert, Elisa- Deutschen Studentenbunds (SDS) als «neue» beth: Zur Frage der Frauenausschüsse, hektografiertes Papier o. D., in: AdsD, Sammlung Personalia Elisabeth Selbert. 19 Notz, Gisela: Frauenbewegung mit dem Slogan «Das Pri- Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003, S. 95. 20 Notz, Gisela: Kri- tik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen vate ist politisch» an die Öffentlichkeit traten, Gemäldes, Stuttgart 2015, S. 80 f. 21 Vgl. zur SPD-Frauenpolitik im weil sie im gemischt-geschlechtlichen Ver- Nachkriegsdeutschland auch: Notz, Gisela: «Ihr seid, wenn ihr wollt, diejenigen, die alle Arbeit in der Partei machen können.» Sozialde- band mit ihren Anliegen kein Gehör fanden, mokratische Frauenpolitik im Nachkriegsdeutschland, in: Ariadne. wollten auch die SPD-Frauen die «unruhige Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 40, November 2001, S. 58–63. 22 Zit. nach Lisa Albrecht in einer Rede vom 8.3.1948 zum 25 Generation junger Frauen» einbinden. Wenn Thema: «Die Spekulation mit der Not». Manuskript, in: AdsD, Nach- sie auch nicht mit Tomaten warfen, wie die lass Albrecht. 23 Gotthelf, Herta: Liebe Genossinnen!, in: Vorstand der SPD (Hrsg.): Handbuch für Frauengruppenleiterinnen, Bonn o. J., Frauen des SDS, die bereits 1961 aus der SPD S. 5 f. 24 Ebd. 25 Thömer, Heinz: «Wenn Frauen aktiv sind, sind sie’s ausgeschlossen worden waren, so gründeten meistens länger als Männer». Elfriede Eilers – Lebensbilder, Marburg 1996, S. 82. 26 SPD Eisenach: Arbeitsgemeinschaft sozialdemokra- sie doch 1973 – nach langen Auseinanderset- tischer Frauen, unter: https://spd-eisenach.de/asf/. 38 Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen

Julia Lis ZWISCHEN VERGANGENHEITS­ BEWÄLTIGUNG UND ZUKUNFTSVISIONEN LINKSKATHOLISCHE UND LINKSPROTESTANTISCHE POSITIONEN IN DER NACHKRIEGSZEIT

Um die Bedeutung der linkschristlichen Auf- aus einer Außenperspektive erfolgte: Die Kir- brüche der Nachkriegszeit zu verstehen, ist chen als moralische Instanzen sollten die Ge- es notwendig, kurz das gesamtkirchliche Be- sellschaft christlich prägen und ausrichten. In wusstsein in der Nachkriegszeit zu skizzieren, einer solchen Sichtweise ist wohl auch der ho- mit dem sich linkschristliche Kreise kritisch he Stellenwert begründet, den die christlichen auseinandersetzten, von dem sie sich abzu- Kirchen in dieser Zeit ihrem Einfluss auf das grenzen und auf das sie zu reagieren suchten. Bildungswesen beimaßen, den sie nach dem Das gesamtkirchliche Bewusstsein jener Zeit Nationalsozialismus nun wiederzugewinnen war dabei vor allem von der Frage geprägt, versuchten. wie sich kirchliche Organisationsstrukturen Eine zweite Neuentwicklung hinsichtlich des und ein kirchliches Milieu nach 1945 rekons- Verhältnisses zwischen Kirche und Politik war tituieren ließen. die Zustimmung der katholischen Bischofs- Durch den Nationalsozialismus fanden sich konferenz zur Bildung der Unionsparteien, wo- die Kirchen 1945 in einer sehr veränderten mit die Idee einer eigenen katholischen Partei, Lage wieder, die sich von der Situation in der in der auch Geistliche Ämter und Aufgaben Weimarer Republik erheblich unterschied. So übernehmen, wie es das Zentrum im Kaiser- war etwa das Verbandswesen, das bis 1933 reich und in der Weimarer Republik gewesen einen wesentlichen Beitrag zur Organisa­ war, verschwand. Eine solche Entwicklung er- tion kirchlicher Milieus geleistet hatte, nach- öffnete zum einen die Chance einer größeren haltig zerstört worden. Der Niedergang der Autonomie der politischen Sphäre, weil damit Verbände, in denen sich seit dem 19. Jahr- die Bindung des katholischen Milieus an eine hundert Christ*innen1 organisiert hatten, um eigene Partei aufgeweicht und die direkte Ein- gemeinsam meist soziale oder caritative Auf- mischung des Klerus in die Politik zurückge- gaben zu verfolgen, bewirkte einen Rückzug drängt wurde. Zum anderen entstand mit der in die Kirchen und Pfarrhäuser und damit ei- Bildung der Unionsparteien erneut eine Anbin- ne veränderte Situation, was die Öffnung hin dung der christlichen Kirchen – und zwar nicht zu säkularen Strukturen anbelangte. Dies hat- nur der katholischen, sondern auch der protes- te entscheidende Auswirkungen auf die Au- tantischen – an eine konservative Partei, deren tonomie der Verbände: Als diese nach 1945 politisches Programm einer kapitalistischen wiedergegründet wurden, standen sie viel Ausrichtung der Nachkriegswirtschaft sowie stärker unter Kontrolle der kirchlichen Struktu- der Wiederaufrüstung und Westinte­gration ren als zur Zeit der Weimarer Republik. Diese der neu entstehenden Bundesrepublik vonsei- Entwicklung macht eine gewisse Verengung ten der Kirchen ideologisch mitgetragen und im kirchlichen Milieu deutlich, die das kirchli- legitimiert werden sollte. In Absetzung von che Bewusstsein weiter Teile der Christ*innen diesem Kurs der Kirchenleitungen und großer wieder stärker binnenkirchlich orientierte, in- Teile der kirchlichen Milieus waren es linkska- dem der kirchliche Blick auf die Gesellschaft tholische und linksprotestantische Stimmen, Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen 39

die auch nach der Entstehung der Bundesre- lismus und den Möglichkeiten einer neuen publik gegen eine solche politische Ausrich- Wirtschaftsordnung im Nachkriegsdeutsch- tung Protest einlegten. land im Sinne eines «christlichen Sozialismus» Obwohl man historisch von einem Versagen sollen im Folgenden zwei Interventionen, die der Kirchen als Institutionen und weiter Teile versucht haben, den Diskurs der Kirchen nach der Christ*innen während der Zeit des Natio- links zu verschieben, exemplarisch vorgestellt nalsozialismus sprechen muss, was die Ver- werden. teidigung fundamentaler Menschenrech- Beide Diskussionen waren dabei auch or- te und den Protest gegen die Shoah wie den ganisatorisch in Kreisen situiert, die für den brutalen Vernichtungskrieg angeht, war das Linkskatholizismus bzw. Linksprotestantis- kirchliche Selbstbewusstsein der Nachkriegs- mus jener Zeit eine bedeutende Rolle spiel- zeit ein diametral anderes: Nach dem Ende ten: auf katholischer Seite das Milieu um die des Nationalsozialismus erhofften sich die Zeitschrift Frankfurter Hefte und deren He- Kirchen, dass das Scheitern dieser aus ihrer rausgeber Walter Dirks, auf evangelischer Sicht antichristlichen Ideologie nun auch im der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Gegenzug zur Rechristianisierung der Gesell- Deutschland mit Martin Niemöller als promi- schaft, ja zu einer «Renaissance des christli- nentem Mitglied. chen Abendlandes»2 führen könnte. Man ging davon aus, dass sich nicht die Kirchen, son- Diskussion um dern die säkularisierten Ideologien und Heils- die ­Schuldfrage versprechen als gescheitert erwiesen hätten, Eine der ersten und drängendsten Herausfor- sodass das christliche Sinndeutungsangebot derungen, die sich den Kirchen in der unmit- nun wieder gefragt sei. Die eigene Rolle im telbaren Nachkriegszeit stellte, war die Frage Nationalsozialismus wurde als widerständig nach dem Umgang mit der eigenen Rolle im heroisiert. Man habe sich nicht durch Kolla- Nationalsozialismus: Inwieweit lässt sich von boration mit den Nazis diskreditiert. Bestimm- einer (Mit-)Schuld der Kirchen und Christ*in- te gesellschaftliche Entwicklungen schienen nen an den während der NS-Zeit begangenen einer solchen Hoffnung der Kirchen auf Ge- Verbrechen sprechen und wie sollten sich die winn an gesellschaftlicher Bedeutung zu- Kirchen zu ihrer eigenen Rolle in der NS-Zeit nächst recht zu geben: Tatsächlich lässt sich positionieren? für die Jahre 1947/48 eine solche Wiederbe- Die katholischen Bischöfe nahmen im August lebung insbesondere katholischer Frömmig- 1945 bereits in einem Hirtenwort zur Schuld- keitsformen beobachten, die jedoch ein kurz- frage Stellung: Sie lobten die Katholiken, die lebiges Phänomen blieben und in eine lang integer geblieben waren und zum Beispiel in anhaltende Phase übergingen, in der ein zu- vorbildhafter Weise Juden versteckt hätten, nehmender Verlust von kirchlichen Bindun- und beklagten, dass es andere gegeben ha- gen zu beobachten war. Diesen Hoffnungen be, die gegenüber den Verbrechen gleichgül- auf Rechristianisierung lag die Wahrnehmung tig geblieben oder gar selbst zu Verbrechern zugrunde, dass die Bundesrepublik ein bereits geworden seien. Über ein Versagen der Kir- weitgehend säkularisiertes «Missionsland» che als Organisation und Institution oder ei- sei,3 das nun, in Absetzung zum nationalsozia- ne konkrete Beurteilung des eigenen Verhal- listischen, wieder ein christliches Deutschland tens durch die Bischöfe schweigt sich das werden sollte. Hirtenwort aus. Die Abwehr der These von Anhand der Diskussionen um die Frage nach der Kollektivschuld der Deutschen blieb in den dem Versagen der Kirchen im Nationalsozia- 1940er und 1950er Jahren die Einheitsmei- 40 Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen

nung der Bischofskonferenz und damit auch ten4 und große Teile des protestantischen Mi- weiter Teile des deutschen Katholizismus. lieus gespielt hatten, die mit dem Nationalso- Die protestantische Kirche sah sich durch das zialismus sympathisiert hatten. Es waren nur katholische Schuldbekenntnis ebenfalls zu ei- wenige, die sich wie Martin Niemöller, ehe- maliger Konzentrationslagerhäft- ling und Repräsentant der Beken- Das «Darmstädter Wort», nenden Kirche, dagegen wandten, stellt eine linksprotestantische dass Menschen, die selbst in der Intervention in den Diskurs dar, NSDAP gewesen oder diese poli- der ansonsten von der Abwehr der tisch und ideologisch unterstützt Kollektivschuldthese geprägt war. und gefördert hatten, nun wieder leitende Funktionen in den Kirchen ner eigenen Positionierung herausgefordert, einnahmen. Niemöller sah darin einen erhebli- auch aus Sorge um die eigene Glaubwürdig- chen Schaden für die kirchliche Glaubwürdig- keit in der weltweiten Ökumene der protes- keit. Es blieb hier jedoch bei Appellen, die aus tantischen Kirchen. Das «Stuttgarter Schuld- machtpolitisch Gründen innerhalb der Kirche bekenntnis» vom Oktober 1945 blieb an vielen folgenlos blieben. Die Evangelische Kirche in Stellen vage, klagte vor allem den mangeln- Deutschland konnte sich auf kein klares Vor- den Widerstand an, ohne den Antisemitismus gehen in dieser Frage einigen und so blieb der und die Mitschuld insbesondere an der Sho- Umgang mit diesem Thema dem Ermessen ah zu thematisieren. In den Diskussionen um der Kirchenleitungen selbst überlassen. die Bewertung des Verhaltens der Kirchen in Das «Darmstädter Wort», ein Text von 1947, der Zeit des Nationalsozialismus setzten sich in dem sich der Bruderrat der Evangelischen die Spannungen unter den unterschiedlichen Kirche in Deutschland zur Mitschuld der Kir- Fraktionen innerhalb der evangelischen Kir- che an den Ursachen und Folgen des Natio- che weiter fort, weit weniger als die katholi- nalsozialismus bekannte, stellt eine linkspro- sche Kirche erschien die evangelische Kirche testantische Intervention in den Diskurs dar, im Nationalsozialismus als ein monolithischer der ansonsten von der Abwehr der Kollektiv- Block. So war der Flügel der Bekennenden Kir- schuldthese und dem Ruf nach Versöhnung che der Überzeugung, als Einziger einen Weg über die unterschiedlichen kirchlichen Frak- aus den NS-Organisationsstrukturen heraus- tionen hinweg geprägt war. Es thematisiert gefunden und somit seine moralische Inte­ im Unterschied zur allgemeinen Tendenz der grität bewahrt zu haben, während von vielen Schuldverdrängung und Schuldrelativierung landeskirchlichen Vertretern dieser Weg als ei- eine Reihe von politischen Fehlentwicklun- ner galt, der die kirchlichen Strukturen letztlich gen innerhalb der Kirche, die die breite Zu- geschwächt habe, sodass sie auch im Nach- stimmung zum Nationalsozialismus und das hinein ihre Position der Neutralität gegenüber Ausbleiben eines deutlichen kirchlichen Pro- dem NS-Staat als eine legitime ansahen. Die- tests erst möglich gemacht hatten. Als solche se sich als neutral verstehenden landeskirch- benennt das «Darmstädter Wort» die Zustim- lichen Vertreter versuchten auf diese Weise, mung der Kirchen zu einer auch militärischen auch nach 1945 wieder Einfluss innerhalb der Machtentfaltung des deutschen Staates, Evangelischen Kirche in Deutschland zu er- das Bündnis der Kirche mit den konservati- langen und deren alte Strukturen wieder zu ven Kräften, eine weltanschauliche Frontbil- errichten. Was aber weitgehend unsichtbar dung der Kirche und ihren Verrat an der Sa- blieb, war die Rolle, die die Deutschen Chris- che der Armen und Entrechteten. Allerdings Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen 41

fehlte auch hier eine Stellungnahme zum An- gleitete. Er war somit eines der wichtigsten tisemitismus, zum Verbrechen der Shoah und organisatorischen Gremien des Linksprotes- dem Schweigen der Kirchen. Im «Darmstäd- tantismus, der sich gegen restaurative Ten- ter Wort» kommt bereits ein Linksprotestan- denzen in der Nachkriegsgesellschaft wie in tismus zum Ausdruck, der kritisch nicht nur der Kirche wandte, legitimiert durch die eige- mit der Haltung der Kirchen im Nationalsozia­ ne Geschichte des Widerstands gegen den lismus umgeht, sondern diese auch in eine Nationalsozialismus. Verbindung zum Antikommunismus und Nati- So wies Martin Niemöller, der innerhalb des onalismus weiter Teile der Kirchen setzt – und Bruderrates eine treibende Kraft war und auch somit entsprechend kontextualisiert. Dies er- an der Entstehung des «Darmstädter Wortes» kannten auch die Kritiker der Erklärung, die wichtigen Anteil hatte, bereits im Juli 1945 vor einem Eindringen des Sozialismus in die darauf hin, dass die sogenannten neutralen Kirchen warnten. Keine Kirchenleitung oder Kräfte innerhalb der Kirchen und Kirchen- Landessynode stellte sich hinter das «Darm- leitungen, die also nicht zu den Deutschen städter Wort». Es blieb das Manifest einer klei- Christen gehört hatten, sich aber in der Zeit nen Gruppe, die die Entwicklungen kritisch des Nationalsozialismus stets loyal und herr- kommentieren, nicht aber maßgeblich be- schaftskonform verhalten hatten, nun wieder stimmen konnte. die führenden Positionen in der Kirche besetz- Das «Darmstädter Wort» ist aus dem Bru- ten. Niemöller wollte den Geist der Bekennen- derrat hervorgegangen, einer der kirchlichen den Kirche erhalten, statt die unterschiedli- Strukturen, die ihre Wurzeln in der Beken- chen Fraktionen einfach zu befrieden und den nenden Kirche hatte. Der Reichsbruderrat Konflikt innerhalb der Evangelischen Kirche der Deutschen Evangelischen Kirche war in während des Nationalsozialismus vergessen Zeiten des Nationalsozialismus als Organ der zu machen. Die Gründung der Evangelischen Opposition gegen die Kirchenleitungen in Kirche in Deutschland im August 1945 stellte den Händen der Deutschen Christen entstan- dennoch einen Kompromiss zwischen den un- den. In der Nachkriegszeit wollte die Beken- terschiedlichen kirchlichen Fraktionen her und nende Kirche dieses Organ nicht aufgeben, führte somit zu einer Schwächung der Organe aus dem Reichsbruderrat wurde der Bruder- der Bekennenden Kirche. rat der Evangelischen Kirche. Das Konzept ei- nes Bruderrates setzte zugleich ein bestimm- Die Gründung der CDU und tes Verständnis von Kirche voraus, die sich als der Traum vom christlichen Gemeinde von Brüdern konstituierte und so- Sozialismus mit in einer gewissen, für das klassische lan- Auf katholischer Seite hatte es zur Zeit des Na- deskirchliche Verständnis unüblichen welt­ tionalsozialismus keine vergleichbare Frak- anschaulichen Distanz zum Staat und den tionierung gegeben. Allerdings lässt sich die herrschenden politischen und weltanschau- Frage, die das «Darmstädter Wort» aufwerfen lichen Überzeugungen gesehen wurde. Der wollte – nämlich auf welcher Seite sich Kir- Bruderrat stellte also eine Form von Kirchen- chen und Christ*innen in den gesellschaftli- leitung dar, die weniger als die traditionellen chen und politischen Fragen ihrer Zeit zu posi- evangelischen Kirchenleitungen am Konzept tionieren hätten –, in den Diskussionen um die der staatlichen Verwaltung orientiert war. Er Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozial- sollte in der Nachkriegszeit zu einer Instanz ordnung in der Nachkriegszeit und der Suche werden, die die Entwicklung der jungen Evan- nach einer entsprechenden christlichen Posi­ gelischen Kirche in Deutschland kritisch be- tion wiederentdecken. 42 Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen

In der Gründungsphase der CDU gab es Walter Dirks, der für die Gründung einer So- durchaus linke katholische Stimmen, die für zialistischen Einheitspartei (SED) votiert hat- eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Geiste te, die sich aus den Resten von KPD, SPD und der christlichen Soziallehre eintraten und da- linkem Zentrum bilden sollte. Nachdem KPD mit eine Alternative zu einer rein kapitalistisch und SPD sich aber zu Walter Dirks Enttäu - ausgerichteten Wirtschaftsweise im Sinn hat- schung dazu entschieden, sich in alter Form ten. Nach dem Nationalsozialismus, so ihre neu zu konstituieren, hatte Dirks die Vision Auffassung, konnte eine bloße Restauration von der CDU als dritter sozialistischer Partei, kapitalistischer Verhältnisse nicht der richtige die auf eine Koalition mit der SPD ausgerichtet Weg sein. Den meisten Vertretern der katholi- sein sollte. Es ging darum, jene Schichten, die schen Soziallehre ging es dabei um eine Ver- bislang nicht sozialistisch engagiert und nicht mittlung der Interessen der Arbeiter*innen mit in der Arbeiterbewegung verwurzelt waren, den Kapitalinteressen, um so eine Befriedung durch die Anknüpfung an christliche soziale sozialer Konflikte zu erreichen. So wurde im Motive für einen «demokratischen Sozialis- «Ahlener Programm» der CDU von 1947 eine mus» zu gewinnen. Dieser linkskatholischen Umgestaltung der Wirtschaft im Sinne einer Vision nach sollte die CDU einen Mittelweg Bindung der Privatwirtschaft an die Bedarfs- zwischen Staatssozialismus und Staatskapita- deckung gefordert. Von einem solchen christ- lismus anstreben und eine Demokratisierung lichen Sozialismus, der sich an den Grundide- der Wirtschaft einläuten. Dirks’ Ideen, formu- en der katholischen Soziallehre ausrichten liert in den «Frankfurter Leitsätzen», sahen das sollte, erhoffte man sich, dass er helfen könn- Bekenntnis zu einem wirtschaftlichen Sozialis- te, einen marxistisch inspirierten Sozialismus mus auf demokratischer Grundlage vor. Dies abzuwehren. Denn eine Rezeption marxisti- sollte die Überführung von großen Industri- scher Ideen war bei den meisten Vertretern ei- en und Banken in Gemeineigentum und eine nes «christlichen Sozialismus» weder vorhan- planvolle Lenkung der Wirtschaft einschlie- den noch erwünscht, vielmehr ging es darum, ßen. Die Parteinahme von Walter Dirks für den den Marxismus erfolgreich zu überwinden. Sozialismus beruhte auch auf den Schlüssen, Obwohl also insbesondere der Materialismus die er aus dem Scheitern der Weimarer Repu- und die Idee des Klassenkampfes entschie- blik gezogen hatte. Sie implizierte zudem eine den abgelehnt wurden, forderte man dennoch Kritik am Bürgertum, das an diesem Scheitern das Ende des kapitalistischen Gewinn- und einen entscheidenden Anteil hatte. Für Dirks Machtstrebens und eine Mitbestimmung der und den linkskatholischen Kreis um die Frank- Arbeitnehmer*innen in den Fragen der wirt- furter Hefte bedeutete dies das Ende der bür- schaftlichen Planung und sozialen Gestaltung. gerlichen Republik, auf das die Katholik*innen Ziemlich deutlich wurde damit von weiten Tei- mit einem Eintreten für eine sozialistische Ge- len der sich gründenden CDU die Hoffnung sellschaft reagieren müssten. Dirks verfolgte auf einen Sozialismus in der Wirtschafts- und damit ein anderes Konzept des christlichen Sozialpolitik formuliert, eine Diskussion frei- Sozialismus als dasjenige, das etwa von dem lich, die nach 1947 in der CDU vollständig Dominikanerpater Eberhard Welty vertreten zum Erliegen kam, als sich der Adenauer-Kurs wurde und das für die Diskussionen innerhalb durchsetzte. der sich neu gründenden CDU bedeutsamer Der am weitesten gehende Vorschlag in punc­ war. Gemeinsam war beiden die Forderung to christlicher Sozialismus aus dem linkska- nach einer Umverteilung, die den Interessen tholischen Milieu kam im Mai 1945 von dem der Besitzlosen dienen sollte, sowie die Auf- katholischen Publizisten und Intellektuellen hebung der Klassenspaltung durch eine De- Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen 43

mokratisierung der Wirtschaft, die die Interes- einfach um die Übernahme des gesellschaft- sen aller vertreten und sich am Gemeinwohl lich Gegebenen, sondern um die Nachfolge orientieren sollte. Uneins war man sich darü- Jesu in der praktischen Solidarität mit den Ar- ber, wie das Verhältnis zur marxistischen Ar- men und den an den Rand Gedrängten und beiterbewegung zu bestimmen sei: Während Ausgegrenzten, die sich in einer entsprechen- Welty hier auf deutliche Abgrenzung setzte den Positionierung innerhalb der Gesellschaft und jede Anknüpfung an einen marxistischen erst bewähren muss. Das katholische Milieu Sozialismus ausschloss, plädierten Walter wurde dabei als Engführung und damit auch

Erst eine Auseinandersetzung und Annäherung an sozialistische Gewerkschaften und Parteien könne zu einer Rück­besinnung des Christentums auf die eigenen Wurzeln führen.

Dirks und die anderen Frankfurter Linkskatho- als Verzerrung der ursprünglichen Intentionen liken für ein praktisches Zusammengehen von des Christentums kritisiert. Dieses Milieu ha- Christ*innen und Arbeiterbewegung, um so- be sich in eine Frontstellung gegen die Mo- zialistische Forderungen durchzusetzen, wo- derne und den Sozialismus begeben, die dazu bei auch sie von einer prinzipiellen Unverein- führe, dass eine Rückbesinnung auf die bi­bli­ barkeit des christlichen und des marxistischen sche Botschaft, die den sozialistischen Ideen Welt- und Menschenbildes ausgingen. Aller- durchaus nahestehe, nicht mehr möglich sei. dings war Dirks durchaus auch der Überzeu- Erst eine Auseinandersetzung und Annähe- gung, dass es wichtige Elemente gäbe, die rung an sozialistische Gewerkschaften und Christ*innen vom Marxismus lernen und über- Parteien könne zu einer Rückbesinnung des nehmen könnten. Ein weiterer Unterschied Christentums auf die eigenen Wurzeln führen. war die Frage des Vorgehens bei der Bildung Für den Linkskatholizismus war die Besinnung von Gemeineigentum: Welty plädierte für Ent- auf die kommunitären und egalitären Ideale schädigungen an die ehemaligen Eigentü- des Christentums entscheidend, aus der he- mer*innen, auf die die Frankfurter verzichten raus auch Demokratiedefizite, dogmatische wollten. Verhärtungen und der Verlust utopischer und Die von Walter Dirks und Eugen Kogon im internationalistischer Perspektiven innerhalb ­April 1946 gegründeten Frankfurter Hefte der politischen Linken kritisiert wurden. Sei- stellten mit einer Auflage zwischen 50.000 ne politische und gesellschaftliche Ausrich- und 70.000 Exemplaren ein wichtiges Publi- tung auf den Raum jenseits der Kirche unter- kationsorgan des Linkskatholizismus in die- scheidet den Linkskatholizismus von anderen ser Zeit dar und ermöglichten so die publizisti- katholischen Reform- und Erneuerungsbe- sche Verbreitung linkskatholischer Positionen. wegungen der Zeit. Während diese auf inner­ Wie sich am Beispiel der Auseinandersetzung kirchliche Fragen konzentriert blieben, be- um die Ausrichtung der CDU und des politi- anspruchte die linkskatholische Botschaft, schen Katholizismus aufzeigen lässt, war für klar an den gesellschaftlichen Verhältnissen den Linkskatholizismus die Ausrichtung auf ausgerichtet zu sein. An Fragen der Kirchen- die Welt und damit die Überwindung eines reform war sie nur dann interessiert, wenn kirchlichen Binnenraums ein entscheidendes durch sie ein neues politisches Verständnis Anliegen. Es ging in dieser Hinwendung nicht des Christentums deutlich und möglich wur- 44 Zwischen Vergangenheits­bewältigung und Zukunftsvisionen

de. Die Wirkung des Linkskatholizismus jener ihrer Kritik der Bindung der Kirchen an den po- Jahre auf die politische Gegenwart war letzt- litischen Konservatismus ein Möglichkeitsfeld lich gering: Hier setzten sich im katholischen eröffneten. Sie griffen damit auf die christliche Milieu weitgehend die restaurativen und kon- Botschaft selbst und die hier angelegten Tradi- servativen Positionen durch, der linke Katholi- tionen des Einsatzes für die Armen und Unter- zismus blieb marginal. drückten sowie der Herrschaftskritik zurück. Diese egalitäre Botschaft des Christentums Kritik an alten Bindungen war durch den kirchlichen Antikommunismus und Versuche einer gesell- sowie die Feindschaft gegenüber der Moder- schaftlichen Neuausrichtung ne und dem Sozialismus im 19. und 20. Jahr- Linkskatholizismus wie Linksprotestantismus hundert verstellt worden und spielte damit im der Nachkriegszeit teilten miteinander die kirchlichen Bewusstsein kaum eine Rolle. Sie Erfahrung gesellschaftlicher wie kirchlicher wieder hervorgehoben zu haben und damit Marginalität. Es gelang ihnen zwar durch die den Weg einer gesellschaftlichen und politi- Präsenz ihrer bedeutenden Repräsentanten, schen Neuausrichtung des Christentums er- wie Walter Dirks und Martin Niemöller, öffent- öffnet zu haben ist sicherlich ein Verdienst des lich wahrnehmbar zu sein und mit ihren Ver- Linkskatholizismus wie des Linksprotestantis- öffentlichungen in den Diskurs zu intervenie- mus der Nachkriegszeit. ren, ihre Positionen blieben jedoch kritische Durch ihre publizistischen und kirchlichen Po- Kommentare in einer Zeit, die politisch wie sitionierungen wurde ein Bündnis zwischen kirchlich vor allem auf Restauration setzte. Im Kirche und gesellschaftlicher Linker denkbar, kirchlichen wie gesellschaftlichen Leben ihrer auch wenn diese Positionierung kaum prakti- Zeit konnten linkschristliche Positionen kaum sche Folgen hatte. Die Möglichkeiten und Not- Wirkung entfalteten, es fehlte hierzu ein brei- wendigkeiten einer Allianz zwischen Christ*in- tes Milieu, das diese aufgegriffen hätte. Dies nen und Linken theologisch zu durchdenken hat sicher auch damit zu tun, dass die Bereit- wie politisch im Zusammengehen mit sozia- schaft zu einer echten Vergangenheitsbewäl- len Bewegungen und linken Gewerkschaften tigung im Sinne einer Auseinandersetzung und Parteien umzusetzen sollte jedoch den mit der Entstehung und dem Aufstieg des Fa- befreiungstheologischen und politisch-theo- schismus und seinen Gründen sowie auch der logischen Aufbrüchen und Reflexionen ab den Rolle gesellschaftlicher Institutionen wie der 1960er Jahren vorbehalten bleiben. Kirchen darin weder in der Kirche noch in der Gesellschaft gegeben war. 1 Zur Verwendung de s Gender-Sternchens in dieser Broschüre siehe Fußnote 2 auf S. 3. 2 Walter, Franz: Katholizismus in der Bundesre- Linkskatholizismus wie Linksprotestantismus publik. Von der Staatskirche zur Säkularisierung, in: Blätter für deut- der Nachkriegszeit waren also keine sozialen sche und internationale Politik 9/1996, S. 1103. 3 Ziemann, Benjamin: Säkularisierung und Neuformierung des Religiösen. Religion und Ge- Bewegungen, auch keine kirchlichen Reform- sellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Archiv für So- bewegungen, sondern blieben ein Anliegen zialgeschichte 51, 2011, S. 13. 4 Die «Deutschen Christen» waren eine Strömung in der evangelischen Kirche während der NS-Zeit. Ihr kleiner Zirkel und Gruppen, die allerdings ge- Hauptziel war eine Angleichung des Christentums an die NS-Ideolo- rade durch ihr Nachdenken über mögliche Al- gie. So forderten sie etwa den Ausschluss von Christ*innen jüdischer Herkunft aus der Kirche, was zum Kirchenkampf mit anderen evan- lianzen zwischen Christ*innen und Linken und gelischen Christ*innen führte. Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern 45

Arno Klönne DIE GESAMTDEUTSCHEN INTERNATIO- NALEN JUGENDTREFFEN 1946/47 UND IHR SCHEITERN1 DER WUNSCH NACH «JUGENDEINHEIT» UND DIE ­DEUTSCHLANDPOLITISCHE WIRKLICHKEIT

Anfang November 1947 konferierten in Haus der Jugendverbände. Auch war noch nicht Altenberg bei Köln Repräsentanten der deut- endgültig klar, welche Organisationstrukturen schen Jugendverbände quer durch die Be- die Jugendarbeit bestimmen würden. Wenige satzungszonen, um Möglichkeiten einer Jahre später hatten diese Fragen ihre Antwor- interzonalen Zusammenarbeit und eines ge- ten gefunden: in der Bundesrepublik mit der samtdeutschen «Jugendringes» zu prüfen. Durchsetzung der großen Jugendverbände Es war vor allem die Freie Deutsche Jugend und deren Konföderation im Deutschen Bun- (FDJ), die auf eine solche interzonale Jugend- desjugendring (von dem die westdeutsche konferenz hingedrängt hatte, der spätere FDJ ausgeschlossen blieb); in der DDR mit Staatsratsvorsitzende war in dem langfristigen Monopol der FDJ im Feld Haus Altenberg deren Wortführer für die So- der Jugendarbeit und der Homogenisierung wjetische Besatzungszone. Heinz Westphal, dieses Verbandes im Sinne der SED-Politik. später Vizepräsident des Deutschen Bundes- Die ersten Versuche zur Bildung eines Deut- tages, war bei der Altenberger Konferenz ei- schen Jugendrings kamen nicht aus dem ner der Sprecher der Sozialistischen Jugend Raum der großen Jugendverbände, sondern «Die Falken», und der Bund der Deutschen aus dem Terrain parteipolitisch oder konfessio­ Katholischen Jugend wurde durch Josef nell nicht festgelegter, an die «freie» Jugend- Rommerskirchen vertreten, der später Erster bewegung anknüpfender Gruppierungen. Den Vorsitzender des (west-) Deutschen Bundes- Anstoß gab hier der Historiker Ulrich Noack. jugendringes und Bundestagsabgeordneter Als persönlicher politischer Referent des hes- der CDU wurde. sischen Ministerpräsidenten Karl Geiler rief Das gesamtdeutsche Treffen von Jugendver- Noack im Frühjahr 1946 eine verbandsunab- bandsvertretern im November 1947 war der hängige Gruppierung ins Leben, die sich «Tag Höhepunkt der Versuche, in den ersten Nach- der jungen Generation» nannte. Der «Bund der kriegsjahren eine umfassende Vertretung der Bünde», demokratisch und gesamtdeutsch «jungen Generation» einschließlich der Ju- orientiert, war als «Bewegung politisch aktiv gendverbände und Jugendbünde zustande zu denkender junger Deutscher» gedacht. bringen; es verband sich damit der Gedanke, dass in der Jugendgeneration in besonders Oktober 1946: intensiver Weise der politische Wille zur Er- «Tag der jungen Generation» haltung der deutschen Einheit existiere. Die auf dem Hohen Meißner damaligen Versuche, einen interzonalen Ju- Die Veranstaltungen des «Tags der jungen gendring zu bilden, waren einerseits den po- Generation» hatten zeitweise durchaus öf- litischen Bedingungen der Teilung Deutsch- fentlichen Erfolg; das Spektrum der Betei- lands unterworfen, andererseits bestand doch ligten zeigt die zu dieser Zeit noch mögliche ein gewisser Spielraum für eigene Initiativen politische Spannweite an. Noack suchte be- 46 Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern

wusst die symbolische Verbindung seines dagogen Hermann Schafft über, der aus der Vorhabens mit dem Aufbruch der deutschen Jugendbewegung vor 1933 kam und Vorsit- Jugendbewegung bzw. der Freideutschen zender des Kurhessischen Jugendrings war. Jugend vor dem Ersten Weltkrieg. Für den Ebenso übernahm der Bayerische Jugendring 12./13. Oktober 1946 rief der «Tag der jungen eine Art Mittlerfunktion für den erstrebten ge- Generation» zu einem Jugendtreffen auf dem samtdeutschen Jugendring, dies insbesonde- Hohen Meißner auf, dem «historischen Ort» re im Hinblick auf Kontakte zur FDJ in der So- der deutschen Jugendbewegung. Das Tref- wjetischen Besatzungszone. fen sollte ein Signal sein für eine «neue Einheit Die Kasseler «Mittelstelle des Deutschen Ju- Deutschlands durch den neuen Bund seiner gendrings» vertrat das Konzept eines «Auf- jungen Generation». baus von unten her»; aus vielen lokalen und Immerhin kamen trotz aller zeitbedingten regionalen Jugendringen und aus größeren Schwierigkeiten im Oktober 1946 auf dem Treffen von Jugendgruppen sollte ein interzo- Hohen Meißner mehr als 1.000 Jugendliche nales «Dach» entstehen. Mit einem Flugblatt und Jugendleiter zusammen; freilich fand «Was will der Deutsche Jugendring?» wand- Ulrich Noack mit seinen Vorschlägen zum te sich die Mittelstelle gegen «die Gefahr der «Hochbund» mehrheitlich keine Zustimmung. politischen Gleichgültigkeit der Jugend», aber Zu stark waren die Romantizismen seiner Kon- auch gegen «die Gefahr der Politisierung der zeption. Am Treffen nahmen Gruppen aus den Jugend von Seiten der Parteien» und gegen je- verschiedensten Jugendverbänden – auch de «neue Einheits- oder Staatsjugend». Publi- aus der FDJ – teil, und man einigte sich auf die zistische Unterstützung fand das Konzept des folgende Proklamation: Meißner-Treffens und der Kasseler «Mittelstel- «Die vom Tag der jungen Generation zum le» bei einigen einflussreichen unabhängigen 13. Oktober 1946 auf den Hohen Meißner Jugendzeitschriften in den Westzonen, so bei eingeladene deutsche Jugend ruft einmü- der in Stuttgart erscheinenden Zeitschrift Das tig dazu auf, überall in Deutschland, in Stadt junge Wort, die sich ebenfalls auf die Tradi­ und Land und allen Zonen, sich zu Jugendrin- tion der Jugendbewegung berief. Hier wur- gen in demokratischem Geiste zusammen- den «die Einheit Deutschlands über alle tren- zuschließen zu gemeinsamer Arbeit mit dem nenden Zonengrenzen hinweg, der friedliche Ziele der Bildung des deutschen Jugendrings. Austausch mit der Jugend aller friedliebenden Die deutsche Jugend bekennt sich aus höchs- Völker und die Überwindung des Naziungeis- ter menschlicher und politischer Verantwor- tes durch einen neuen Lebensstil der deut- tung der Jugend aller Völker gegenüber zum schen Jugend» als politische Perspektiven des Gedanken der Demokratie, sozialen Gerech- Deutschen Jugendrings herausgestellt. tigkeit und Völkergemeinschaft. Mit innerer Sollte der auf dem Hohen Meißner angezielte Wahrhaftigkeit will sie damit dem Völkerfrie- Weg zu einem gesamtdeutschen Jugendring den dienen.» gangbar sein, so setzte dies allerdings eine Ein weiteres interzonales Jugendtreffen sollte Billigung durch die Besatzungsverwaltungen Pfingsten 1947 auf dem Hohen Meißner statt- und zumindest die Toleranz der deutschen po- finden; der Kurhessische Jugendring über- litischen Institutionen voraus. Dazu hätte auch nahm es, eine «Mittelstelle des Deutschen die Bereitschaft der damals politisch entschei- Jugendringes» mit dem Sitz in Kassel-Wil- denden Instanzen gehört, im Feld der Jugend- helmshöhe einzurichten. Die Rolle des Ini­tia­ arbeit oder Jugendbewegung einen Raum für tors gesamtdeutscher Jugendkontakte ging die Kommunikation zwischen den Westzonen damit von Ulrich Noack an den Pfarrer und Pä- und der Ostzone offenzuhalten. Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern 47

Die Hoffnung auf eine gesamtdeutsche «Be- land spielte in den politischen Verlautbarun- weglichkeit» der jungen Generation erwies gen der frühen FDJ eine zentrale Rolle. Das sich jedoch als utopisch angesichts der dama- 1. Parlament der FDJ Pfingsten 1946 in Bran- ligen machtpolitischen Konstellationen; da- denburg an der Havel hatte die «Erhaltung der mit verlor auch das Konzept eines Deutschen Einheit Deutschlands» zum obersten Leitsatz Jugendrings als Ausdruck einer «synthetisie- der Jugendorganisation erklärt; Erich Hone- renden» Jugendbewegung seinen Boden. Of- cker zitierte in seinem Referat dort das na - fen blieb zunächst noch, ob wenigstens ein tionale «Bekenntnis» der Studenten auf der gesamtdeutscher Jugendring im Sinne eines Wartburg 1817: Arrangements «von oben her», also im Wege «Die Lehre von der Spaltung in Norddeutsch- einer taktisch ausbalancierten Repräsentation land und Süddeutschland ist irrig, falsch und der Hauptrichtungen der Jugendverbände zu- verrucht. Es ist eine Lehre von dem bösen stande käme. Geist ausgegangen […] Deutschland ist eins Die FDJ in der sowjetischen Zone und die Lei- und soll nur einen Sinn und ein Herz haben.» tungen der großen Jugendverbände in den Das zweite Parlament der FDJ Pfingsten 1947 Westzonen hatten jene Bemühungen um ei- in Meißen verkündete eine «Botschaft an die nen Deutschen Jugendring, die von Noack deutsche Jugend», die an erster Stelle die «un- und dann von Schafft ausgingen, mit Unbeha- teilbare deutsche Republik» als Zielsetzung gen beobachtet. Der FDJ in der Sowjetischen nannte; in Meißen wurde auch ein «Aufruf an Besatzungszone musste eine Jugendring-Be- die demokratischen Jugendorganisationen in wegung «von unten her» als mögliche Ge- Deutschland» herausgebracht, mit dem nun fährdung einer politisch kontrollierten Ent- die FDJ offiziell die Bildung eines gesamtdeut- wicklung der Jugendarbeit erscheinen; den schen Jugendrings vorschlug. großen Jugendverbänden in den Westzo- Schon vor dem Parlament in Meißen hatte die nen erschien eine Jugendringentwicklung im FDJ-Leitung in der FDJ-Hochschule Bogen- «Meißner»-Stil als lästige Konkurrenz zu der see Gespräche mit Vertretern westdeutscher von ihnen angestrebten gemeinsamen Re- Jugendorganisationen (darunter Erich Lind- präsentation der jugendverbandlichen Lei- staedt für die Falken, Hans Mertens für die Ka- tungen. Zudem sahen die FDJ und die west- tholische Jugend, Michael Jovy für die Bündi- zonalen großen Jugendorganisationen die sche Jugend) geführt, um die Möglichkeiten Meißner-Initiativen als zu sehr von der Tradi­ einer institutionalisierten Zusammenarbeit tion der Jugendbewegung geprägt an. Im auszuloten. In der Folge dieser Kontakte kam Frühjahr und Sommer 1947 wechselte das es zu Verabredungen, wonach der Jugendhof Thema «Deutscher Jugendring» von der Seite Vlotho (damaliger Leiter: Klaus von Bismarck) des Kurhessischen und Bayerischen Jugend­ der Treffpunkt für weitere Bemühungen um rings hinüber zu den Jugendverbandszent- einen Deutschen Jugendring sein sollte. Die- ralen. Gleichzeitig entwickelte die FDJ in der ses Vorhaben stieß aber auf Einwände der Bri- Sowjetischen Besatzungszone den größten tischen Militärregierung, bei der die Kontrol- Öffentlichkeitsdruck in Richtung auf eine «Ein- le über die Tätigkeiten des Jugendhofs Vlotho heit der deutschen Jugend», was sich durch- lag. Die Briten fürchteten, dass es zu hochpo- aus in die damalige deutschlandpolitische Ar- litischen gesamtdeutschen Jugendkontakten gumentation der SED und der Sowjetunion kommen könnte. Nun übernahm es die Ka- einfügte. tholische Jugend, zu einer gesamtdeutschen Die Betonung einer «gesamtdeutschen Missi- Konferenz in ihre Zentralstelle Haus Altenberg on» der jungen Generation im Zonen-Deutsch- einzuladen. Der Britischen Militärregierung er- 48 Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern

schien ein solches Treffen «auf dem Boden» brecherischen Bande von Abenteurern zu dem eines konfessionellen Verbandes, noch da- Versuch ausgenutzt wurde, andere Völker zu zu als «Gedankenaustausch» deklariert, nicht unterwerfen. So wenig jemand auf den Gedan- so problematisch wie eine Zusammenkunft ken kommt, die deutsche Sprache zu verbie- in einer Stätte der öffentlichen Jugendarbeit. ten, weil sich ihrer einst die Nazis bedienten, Im Sommer und Frühherbst 1947 warb die so wenig kann man die Zusammengehörigkeit FDJ-Zeitung Junge Welt auf ihren Titelsei- eines Volkes aufheben, weil es sich auf einem ten für ein Zustandekommen und Gelingen verhängnisvollen Weg befand.» der gesamtdeutschen Jugendkonferenz im Die emphatische Forderung nach der Einheit Haus der Katholischen Jugend. Kennzeich- Deutschlands vertrat Erich Honecker damals nend für die damalige Stimmung: Der Baye- gewiss nicht nur, weil sie zu diesem Zeitpunkt rische Jugendring sah in dem FDJ-Aufruf zur dem deutschlandpolitischen Konzept der So- Vorbereitung eines Deutschen Jugendrings wjetunion entsprach; gesamtdeutsches Den- «einen neuen, entscheidenden Schritt zur ken war in den Jahren nach 1945 sicherlich Überwindung der Schranken», die wegen der Teil des politischen Weltbildes, dass jemand Zoneneinteilung auch zwischen der Jugend wie Honecker aus dem Widerstand und aus der verschiedenen deutschen Gebiete aufge- dem Zuchthaus mitbrachte. Bemerkens- stellt seien. Und der Bund der Deutschen Ka- wert ist, dass die deutsche Nation im Sinne tholischen Jugend lehnte zwar eine Einladung des Deutschen Reiches von 1871 in Hone- zum FDJ-Parlament 1947 in Meißen ab (unter ckers Denken 1947 offensichtlich als «natür- Hinweis auf den Ausschluss des jungen Ka- liche», überhistorische Größe begriffen und tholiken Manfred Klein aus dem Zentralrat der das «Dritte Reich» als Werk einer «Bande von FDJ), erkannte aber «Positives» in der Arbeit Abenteurern» charakterisiert wurde; da wur- des FDJ-Parlaments «mit Freude an» und er- den geschichtspolitische Vereinfachungen klärte: «Dazu arbeiten wir gern in der gesamt- von links her sichtbar. deutschen Jugend mit.» Zur Konferenz in Haus Altenberg brachte ­Erich Als es im November 1947 zur Konferenz von Honecker einen Satzungsentwurf für den Jugendverbandsvertretern aus ganz Deutsch- erstrebten Deutschen Jugendring mit, der land in Haus Altenberg kam, verbanden sich sich an das Statut des bis 1933 bestehenden jugendpolitische Probleme mit den nun rasch «Reichsausschusses der deutschen Jugend- zur Entscheidung drängenden Fragen der verbände» anlehnte, ferner den Entwurf einer «großen» Deutschlandpolitik; es stand die Au- Erklärung der deutschen Jugendverbände an ßenministerkonferenz in London an, die über die Londoner Außenministerkonferenz. Die- die künftigen deutschlandpolitischen Vorge- ser Text, als historische Quelle zumeist kaum hensweisen der Besatzungsmächte befinden beachtet, wird im Folgenden vollständig wie- sollte. dergegeben: In der FDJ-Führungszeitschrift Junge Ge- «Entwurf: Erklärung der deutschen Ju- neration (Berlin) hatte Erich Honecker in ei - gendverbände zur Londoner Konferenz nem Beitrag unter dem Titel «London und die In tiefer Sorge um die Zukunft unseres Vol- deutsche Jugend» folgende Position formu- kes und erfüllt von hoher sittlicher Verpflich- liert: «Es gibt für jeden vernünftig denkenden tung, blickt die deutsche Jugend mit großen Menschen keinen irgendwie gearteten Grund, Erwartungen auf die bevorstehende Konfe- dem deutschen Volk in der schwersten Perio- renz der Außenminister in London. Die jun- de seiner Geschichte deshalb seine nationale ge Generation will durch tätige Mitarbeit zur Einheit vorzuenthalten, weil es von einer ver- Festigung der Grundlagen der Demokratie Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern 49

und des Friedens beitragen. Darum erwar- bände versichern, von sich aus mitzuhelfen, tet die deutsche Jugend Entscheidungen, Deutschland entsprechend den Grundsätzen die den augenblicklichen Zustand der Zer- der Demokratie, des Friedens und der Völ- rissenheit Deutschlands beenden und durch kerfreundschaft aufzubauen.» die Schaffung eines Friedensvertrages mit Die von Honecker vorgeschlagene gemeinsa- Deutschland eine neue Periode friedlicher me Erklärung an die Londoner Konferenz kam Beziehungen zwischen den Völkern einlei- in Haus Altenberg nicht zustande; insbeson- ten. Das deutsche Volk und seine Jugend dere die Vertreter der Falken und des Bundes würden damit die Gewißheit erhalten, daß der Katholischen Jugend waren nicht bereit, ungeachtet der schweren Belastungen bei zusammen mit der FDJ eine politische Dekla- der demokratischen Neugestaltung des Le- ration zu unterzeichnen, solange in der Sowje- bens der Weg in eine bessere Zukunft führt. tischen Besatzungszone die freie Betätigung Die deutsche Jugend als die künftige Träge- für alle Jugendverbände nicht zugestanden rin eines einheitlichen, unabhängigen, de- war. Allerdings gab es bei der Diskussion in Al- mokratischen Deutschlands unterbreitet da- tenberg keine Äußerungen, die zu dem Hone- her folgende Vorschläge der Konferenz der cker’schen Satz, dass «die junge Generation Außenminister: sich mit einer Zerreißung Deutschlands nie- Aufhebung der Zonengrenzen und Schaf- mals abfinden» könne, Widerspruch kundta- fung einer einheitlichen demokratischen Re- ten. publik. Schaffung einer deutschen Zen­tral­ Gegensätzliche Meinungen standen sich bei verwaltung, Bildung einer provisorischen der Altenberger Konferenz in der Frage nach deutschen Regierung und Vorbereitung von der Struktur der Jugendarbeit und im Demo- Wahlen für ganz Deutschland. kratieverständnis gegenüber. Insbesondere Ausarbeitung des Entwurfes einer deut- Josef Rommerskirchen und Heinz Westphal schen demokratischen Verfassung. Durch- kritisierten scharf, dass in der Sowjetischen führung einer Volksabstimmung über den Besatzungszone als Jugendverband nur die Verfassungsentwurf. Schnelle Zurückfüh- FDJ zugelassen war; angesichts dessen sei rung aller Kriegsgefangenen. die Bildung eines gesamtdeutschen Jugend­ Endgültige Festsetzung der deutschen Wie- rings vorerst nicht denkbar. Erich Honecker dergutmachungsverpflichtungen. schlug daraufhin vor, dass sich alle Jugendor- Die unterzeichneten demokratischen Ju- ganisationen, die in Altenberg vertreten wa- gendverbände sind sich der großen Bedeu- ren, an den Alliierten Kontrollrat wenden und tung dieser Vorschläge bewusst, die für sie ihre Zulassung auf gesamtdeutscher Ebene gleichzeitig auch Verpflichtung sind. Es beantragen sollten; er beklagte, dass die FDJ geht vor allem um die Sicherung der Einheit in den Westzonen keine volle Entfaltungs- Deutschlands. Eine Teilung Deutschlands freiheit habe. Die Vertreter der Falken und widerspricht den Lebensinteressen des des Bundes der Katholischen Jugend erklär- deutschen Volkes und seiner Jugend. In ei- ten, für gesamtdeutsche Zulassungsanträge nem geteilten und zerrissenen Deutschland beim Kontrollrat sei die Situation in der Sow- werden selbst die größten Anstrengungen jetischen Besatzungszone noch nicht reif; eine zur Beseitigung des Militarismus und Fa- Jugendarbeit «frei von Furcht» sei dort zurzeit schismus ohne Erfolg bleiben. Die junge Ge- nicht möglich, was sich unter anderem in den neration kann sich deshalb niemals mit einer Verhaftungen nonkonformer, politisch aktiver Zerreißung Deutschlands abfinden. junger Menschen durch die sowjetische Be- Die deutschen demokratischen Jugendver- satzungsmacht erweise. 50 Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern

Interessant ist, dass die Vertreter der FDJ in beit für die Interessen der gesamtdeutschen Haus Altenberg zwar alle Vorwürfe zurück- Jugend versammelt. Ausgehend von dem wiesen, in der Sowjetischen Besatzungszo- Wunsch der deutschen Jugend zur Schaf- ne etabliere sich eine neue Diktatur, dass sie fung eines einheitlichen und unabhängigen aber die konkrete Kritik an Maßnahmen der Deutschlands, wurde die grundsätzliche Be- Sowjetischen Militärverwaltung nicht völlig reitschaft zu solcher Zusammenarbeit von ablehnten. Helmut Heins (Vertreter der West- allen Verbandsvertretern ausgesprochen. zonen-FDJ) betonte, die FDJ sei nicht mit der Es ist Voraussetzung für die erfolgreiche Zu- sowjetischen Besatzungsadministration iden- sammenarbeit, daß die freie demokratische tisch. Edith Baumann (die in Altenberg ne- Entwicklung und Arbeit der Jugendverbän- ben Honecker die FDJ der Sowjetischen Be- de in allen Zonen Deutschlands gleicherma- satzungszone vertrat) stellte heraus, dass die ßen verwirklicht wird.» FDJ sich bei der Sowjetischen Militärverwal- Intern wurde ferner vereinbart, den einzelnen tung für verhaftete Jugendliche eingesetzt ha- Jugendverbänden zu empfehlen, sich mit Ap- be; die Sowjets «ließen sich aber ebenso we- pellen an die Londoner Außenministerkonfe- nig wie die Engländer und Amerikaner von renz für die Einheit Deutschlands einzusetzen. den Deutschen etwas vorschreiben». In einer Der Zusammenkunft in Haus Altenberg sollte gemeinsamen Stellungnahme der FDJ-Dele- ein weiteres Treffen in derselben Zusammen- gation hieß es: «Die ‹Falken› mögen vom Ge- setzung im Frühjahr 1948 folgen, wo über sichtspunkt der Entfaltung ihrer Organisation Grundrechte der jungen Generation als mög- berechtigte Klagen haben [gemeint: im Hin- liche gemeinsame Leitlinien der Jugendver- blick auf die Sowjetische Besatzungszone], bände diskutiert werden könne. wahrscheinlich sind diese Klagen genauso be- Die gemeinsame Presseerklärung wurde rechtigt wie die unsrigen hinsichtlich der Ent- von der FDJ zunächst publizistisch als Er - wicklung in den westlichen Zonen.» Vorran- folg bewertet, obwohl eine der beiden da- gig, so argumentierten die FDJ-Vertreter, sei rin enthaltenen Aussagen sich als Kritik an in der gegebenen Situation das gemeinsame der Jugendpolitik der Sowjetischen Besat- öffentliche Eintreten der Jugendverbände für zungszone verstehen ließ. Ein gesamtdeut- die Einheit der Nation. scher Jugendring war zwar in Haus Altenberg Eine vermittelnde Rolle spielten in Haus Al- nicht gegründet worden, aber die Türen im tenberg die Repräsentanten der Bündischen ost-westlichen Umgang der Jugendverbände Jugend. Sie schlugen vor, die gesamtdeut- miteinander waren nicht zugeschlagen wor- sche Verständigung der Jugendorganisatio- den – noch nicht. nen «von unten her» zu befördern durch den Erst im Frühjahr 1948, als die anderen Jugend- Ost-West-Austausch von Fahrtengruppen, ein verbände nicht mehr bereit waren, zu dem in Gedanke, dem Erich Honecker zustimmte, der Haus Altenberg verabredeten nächsten Treffen aber in der Folgezeit nicht mehr zur Realisie- mit der FDJ zusammenzukommen, rückte die rung kam. Kompromissvorschläge der Ver- FDJ von der positiven Wertung der Altenberger treter der Bündischen Jugend ermöglichten Konferenz ab; Erich Honecker schrieb nun, die- dann die folgende gemeinsame Presseerklä- se habe «unter einem ungünstigen Stern ge- rung der in Haus Altenberg Versammelten: standen». Gemeint war damit, die westlichen «In Haus Altenberg bei Köln waren vom Besatzungsverwaltungen hätten hinter den 3. bis 5.11.1947 Vertreter deutscher Ju- Kulissen die in Haus Altenberg geplante Kon- gendverbände zu einem Gespräch über die stituierung einer gesamtdeutschen Jugendver- Möglichkeiten interzonaler Zusammenar- tretung verhindert; Vertreter der westlichen Mi- Die gesamtdeutschen internationalen Jugendtreffen 1946/47 und ihr Scheitern 51

Dass die westalliierten Kontrollorgane 1947 einen Deutschen Jugendring als zonenübergreifende Repräsentation einer unabhängigen Politik der jungen Generation in Deutschland nicht wünschten, liegt nahe. litärregierungen hätten dann, so Honecker, in Die großen westdeutschen Jugendverbän- den folgenden Monaten in Kooperation mit den de bereiteten ihren Bundesjugendring vor. Er Falken und der Katholischen Jugend die ge- wurde im Oktober 1949 in Haus Altenberg samtdeutschen Jugendverbandskontakte ge- konstituiert, unter Ausschluss der westdeut- nerell zum Erliegen gebracht. Plausibel ist dar- schen FDJ. Immer mehr wurde sie in ihren an, dass den politischen Entscheidungen auch Ideen und Formen auf sowjetische Muster der der Jugendverbände in den Westzonen damals Jugendarbeit ausgerichtet. Abweichler in der durch die Interessen der Besatzungsmächte Leitung der FDJ wurden verdrängt, es kam bestimmte Grenzen vorgegeben waren. Dass weiter zu Verhaftungen politisch kritischer die westalliierten Kontrollorgane 1947 einen junger Leute. In der Bundesrepublik wurde die Deutschen Jugendring als zonenübergreifen- FDJ im Jahr 1951 verboten. Hier setzten nun de Repräsentation einer unabhängigen Politik darüber hinaus umfangreiche Repressionen der jungen Generation in Deutschland nicht des Staates gegen politisch aktive Bürger ein, wünschten, liegt nahe. die sich in die Fronten des Kalten Krieges nicht Andererseits scheiterte das Projekt eines einordnen wollten und der «Ostorientierung» Deutschen Jugendrings 1947 auch – wie Ver- verdächtigt wurden. treter der Katholischen Jugend und der Fal- Dass die deutsche Jugend «sich mit der Zer- ken später zu Recht festgestellt haben – an der reißung Deutschlands niemals abfinden» wer- Weigerung der FDJ, für die Koalitionsfreiheit de, erwies sich, was die jungen Generationen der Jugend in der Sowjetischen Besatzungs- in und nach den Trümmerjahren angeht, als zone einzutreten. Ob die FDJ-Führung hier historische Fiktion. Die machtpolitischen Ge- gegenüber der Sowjetischen Militäradminis- gebenheiten waren stärker als alle gesamt- tration Spielraum für eine andere Politik hät- deutschen Hoffnungen. Für die große Mehr- te erreichen können, lässt sich nachträglich heit der jungen Menschen im Osten wie im nicht klären. In jedem Falle hatte der Wunsch Westen Deutschlands ging es vorrangig erst nach einem gesamtdeutschen Jugendring nur einmal darum, unmittelbare Lebensbedürf- so lange eine Chance, als die staatliche Auftei- nisse realisieren zu können, sich zu «behei- lung Deutschlands noch nicht vollzogen war. maten», Wege zu Ausbildung und Beruf zu Die in raschem Tempo verlaufende deutsche finden. Das geschah unter den Bedingungen Nachkriegsgeschichte ging über alle Versu- der jeweiligen Besatzungszonen. Die Trennun- che «gesamtdeutscher Jugendverständi- gen im deutschen Territorium gewöhnten sich gung» hinweg; die Jahre 1948/49 ließen die alltagspraktisch ein. Vier Jahrzehnte hindurch Trennung der politischen Entwicklungen in war nun auch die Jugendphase im Lebenslauf Deutschland (Ost) und Deutschland (West) der Deutschen teilstaatlich geformt. perfekt werden. Mit der Währungsreform 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen 1 Bei diesem Text handelt es sich um ein Kapitel («Der Wunsch nach ‹Jugendeinheit› und die deutschlandpolitische Wirklichkeit») aus Arno war die westdeutsche Staatsgründung vorbe- Klönne: Hoffnung in Trümmerjahren. Die junge Generation in Deutsch- reitet, die dann 1949 erfolgte; danach wurde land 1945–1949, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 2015. Wir danken der Landeszentrale für die freundliche Geneh- rasch die DDR gegründet. migung zur Veröffentlichung. 52 Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945

Jörg Wollenberg ZUR VERHINDERTEN NEUORDNUNG IM BILDUNGSWESEN NACH 1945

Für Friedrich Meinecke, den damals 83-jäh- Wiederaufbau zur Verfügung. Auch Teile der rigen Kathederfürsten der deutschen His- konservativen Wissenschaftler*innen waren torikerzunft, war die Welt nach 1945 schnell bereit, die Zweite Republik mit aufzubauen. wieder in Ordnung: «Wir bedürfen keiner ra- Ihrem Verständnis nach waren sie als «eh- dikalen Umschulung, um wieder als Glied der renhafte Kollaborateure» von 1933 bis 1945 abendländischen Kulturgemeinschaft wirk- nur dabei gewesen, um das Schlimmste zu sam zu werden. Radikal verschwinden muss verhüten. Diese Nachkriegsgewinner nutz- nur der nazistische Größenwahn mit seiner ten die sogenannte Gnade der Stunde null, Un- und Afterkultur.»1 Um den «Betriebsun- die unter dem Signum emphatischen Neu- fall Hitler» aufzuarbeiten, empfahl er die Bil- beginns in Wahrheit die Kontinuität konser- dung von Gemeinschaften gleichgerichteter vativ bis reaktionär geprägter kultureller He- Kulturfreunde «in jeder deutschen Stadt und gemonie bewahrte. Mit Zustimmung auch größeren Ortschaft», denen er «am liebsten der Gründungsväter der Bundesrepublik er- den Namen ‹Goethegemeinde› geben» woll- wiesen sich deshalb die westdeutschen Bil- te und denen «die Aufgabe zufallen [würde], dungseinrichtungen spätestens nach 1948 die lebendigsten Zeugnisse des großen deut- wieder als ein Instrument ideologischer Sta- schen Geistes durch den Klang der Stim- bilisierung, die vorgab, den Weg einer «neu- me den Hörern ins Herz zu tragen». 2 Geisti- en geistigen Gemeinschaft» (Eugen Rosen- ge und politisch-moralische Erneuerung der stock-Huessy) vorzubereiten. Weder war die Deutschen durch eine Restauration der in der Vergangenheit aufgearbeitet und zu Ende NS-Zeit konfliktlos instrumentalisierten deut- noch schien die Zukunft derart verheißungs- schen Größen der abendländischen Kultur? voll, dass man zu dem zunächst von den Al- Auf jeden Fall: «Goethe wurde der Mann für liierten verordneten Neuanfang hätte auf- die stillen Stunden, unter der mit dem Schirm brechen können oder wollen. Nicht wenige bedeckten Lampe […] und daher so oft die Zu- waren jedoch nach 1945 bereit, moralische flucht für die moralischen Drückeberger», ur- Selbstkritik zu üben. Aber diese Einsicht war teilte 1951 der Rabbiner Leo Baeck, der The- in der Regel mit einem Festhalten an tradier- resienstadt überlebt hatte, in einem Brief an ten Wertungen verknüpft und erklärt zugleich den Bundespräsidenten . 3 den widerspruchsvollen Weg «vom hilflosen Und er fuhr fort: «Es ist bezeichnend, dass ein Antifaschismus zur Gnade der späten Ge- jämmerliches Buch eines bedeutenden Man- burt», wie es Wolfgang Fritz Haug formulier- nes, die ‹Deutsche Katastrophe› von Meine- te.5 cke, mit dem Aufruf zum ‹Goethe-Kränzchen› Doch wer stand denn überhaupt für ein schließt.» Schuldbekenntnis und für einen demokra- Als es nach der Kapitulation von 1945 dar- tischen Neuanfang zur Verfügung und wer um ging, die Deutschen das zweite Mal nach wagte es, mit Alfred Weber zu fragen, ob wir 1918 zu Demokrat*innen4 umzuerziehen, Deutschen nach 1945 nicht erneut versagt ha- stellten sich nicht nur die liberalen «Vernunft­ ben, weil es uns nicht gelang, «Abschied von republikaner» der Weimarer Republik dem der bisherigen Geschichte» zu nehmen?6 Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945 53

Emigrant*innen Katastrophen» durch die «noch immer mäch- ­unerwünscht tigen Kriegsgewinnler und Kriegshetzer, die Noch vor Ende des Krieges hatten Melvin Las- Hass säen, indem sie Misstrauen predigen». ky und Jürgen Kuczynski als linke jüdische «Wer nicht über 1918 redet, kann 1933 nicht Intellektuelle im Rang eines Obersten der verstehen!», urteilte der mit der französischen US-Armee den Vormarsch der US-amerikani- Militärregierung nach Deutschland zurückge- schen Truppen von Frankreich nach Deutsch- kehrte Schriftsteller Alfred Döblin und fügte land durch Ruinenstädte begleitet und in ihrer hinzu: Das «Sperren gegen die Schuldfrage» alten Universitätsstadt Heidelberg das Ge- sei auch darauf zurückzuführen, dass die Ok- spräch mit Karl Jaspers und Marianne und kupationen von 1945 eine neue Dolchstoßle- Alfred Weber gesucht. Ihr Sonderauftrag be- gende ermöglichten.9 Döblin sah sich 1953 stand darin, die Möglichkeiten des Wieder- aus Enttäuschung über den kulturellen Nie- aufbaus wie auch der Demontage zu prüfen. dergang in der französischen Besatzungszo- Dabei mussten sie schnell feststellten, dass ne gezwungen, das zweite Mal ins Exil nach die «Besatzungsmächte überall mit Befehlen Frankreich zu gehen. herrschten: Wir hatten vier Militärdiktaturen, die wie so viele andere, von zivilen Kräften, na- Umerziehung als türlich auch in diesem Fall ausländischen, di- «mitbürger­licher Auftrag» rigiert wurden», so Jürgen Kuczynski.7 Auch Für nicht wenige der die Entwicklungen kri- die für den US-amerikanischen Geheimdienst tisch beurteilenden Deutschen war die Ver- OSS (Office of Strategic Services) und das gangenheit weder aufgearbeitet oder zu Ende, US-Außenministerium arbeitenden Exilvertre- noch schien die Zukunft derart verheißungs- ter aus den Kreisen der Gewerkschaften und voll, dass man zu dem zunächst von den Al- der Frankfurter Schule um Franz Leopold Neu- liierten verordneten Neuanfang hätte aufbre- mann, Ernst Fraenkel, Otto Kirchheimer und chen können oder wollen. Ganz zu schweigen Herbert Marcuse mussten sich weitgehend von dem verweigerten Rückruf an die Exi- darauf beschränken, die politische Situati- lant*innen. Und nicht wenige von ihnen sahen on in Deutschland nach der Befreiung einzu- die Einheit der Volksbildung nach 1945 durch schätzen und Vorschläge zur Demokratisie- die Vielfalt der konkurrierenden Organisatio- rung für die Militärregierung vorzulegen. Und nen gefährdet. Der 1948 vorgelegte Bericht das auf der Grundlage der vier großen D’s der einer US-Erziehungskommission hatte dazu ­anglo-­amerikanischen Siegermächte: Demi- aufgefordert, die Erwachsenenbildung nicht litarisierung, Denazifizierung, Dezentralisie- allein auf die Volkshochschulen zu beschrän- rung und Demokratisierung. ken. Auch Gewerkschaften, Kirchen, Jugend- Einige der nach Ende des Krieges zurückge- gruppen und andere Organisationen sollten kehrten Emigrant*innen erstickten dann auch mit einbezogen werden. In der britischen Be- «an Luftmangel, auch wenn man gewohnt ist satzungszone griff Kultusminister Adolf Grim- an die immerhin schon recht filtrierte Nach- me diese Initiativen auf und hoffte 1948, den richtenfreiheit der nicht militärisch okkupier- traditionellen Gegensatz von bürgerlicher und ten Länder» – so die in Zürich vergeblich auf sozialistischer Bildung durch die Gründung ei- einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaf- ner Kooperation von Volkshochschulen und ten an der Universität Hamburg wartende ent- Gewerkschaften in der Arbeitsgemeinschaft schiedene Schulreformerin Anna Siemsen.8 «Arbeit und Leben» überwinden zu können. Und sie fährt mahnend fort: «Wir sind be- Doch die Mehrheit erwartete von den wie- drängt von Not, wir sind bedroht von neuen dereröffneten Volkshochschulen eine sittliche 54 Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945

Erneuerung der Deutschen, keine politische litik rechtfertigte. Seine nach 1945 vollzogene Aufklärung und kein Schuldeingeständnis. Reue und Umkehr qualifizierte ihn zum ein- Ohne wirksame Gegensteuerung von Ge- flussreichen Theoretiker einer «gesinnungs- werkschaften und Arbeiterparteien konnten ethischen Erziehung zur mitbürgerlichen Ge- sich so auch die Erziehungswissenschaften sittung». Diese neue Karriere bereitete er als in Westdeutschland rekonstruieren – auf der Leiter des Hamburger Verlags für Wirtschaft Grundlage ihres «mitbürgerlichen Auftrags». und Sozialpolitik vor, indem er nach 1945 die Ihr Ziel war es, die ökonomischen und gesell- Schriften verfolgter Sozia­list*innen­ heraus- schaftlichen Verhältnisse politisch und päda- gab, unter anderem Anna Siemsens «Einfüh- gogisch zu stabilisieren. Das von den West-Al- rung in den Sozialismus» und August Hennigs «Kulturkrise». Nach 1970 dann verkündete er mit sei- Die Mehrheit erwartete von den nem alten Namen Theodor wieder­eröffneten Volkshochschulen Wilhelm und als entschie- eine sittliche Erneuerung der dener Propagandist der Deutschen, keine politische Aufklärung CDU-Kampagne gegen die und kein Schuldeingeständnis. Bildungsreform den «Mut zur Erziehung». Still, aber liierten vorgegebene Motiv der Reeducation wirkungsvoll trug er so erneut dazu bei, die erlebte in dem Selbstverständnis der Pädago- Bonner Republik nach rechts – in die, wie er gik eine Umwandlung: aus den Untertanen es nannte, «radikale Mitte» – zu rücken: mit- des totalen Staates zuverlässige Bürger*in- bürgerliche Erziehung nicht mehr als Medi- nen einer demokratischen Gesellschaft zu ma- um eines Kampfes, sondern als Einübung in chen und sie an die Macht- und Herrschafts- die Partnerschaft, die im sozialen Gründungs- verhältnisse einer kapitalistisch verfassten kompromiss der Bundesrepublik mit der So- Gesellschaftsformation anzupassen und alle zialpartnerschaft politisch abgesichert wurde. sozialistischen Neuordnungsvorstellungen Jüngere Mitarbeiter*innen im Bildungsbe- aufzugeben. So wurde auch die Erwachse- reich dagegen versuchten zusammen mit nenbildung ein Instrument ideologischer Sta- den älteren, an demokratischen Reformen bilisierung. Als «Lebenshilfe» sollte sie den interessierten Repräsentant*innen um Adolf Menschen fähig machen, seine Zeit zu verste- Grimme und Heinz J. Heydorn, einen neu- hen und sein Schicksal zu meistern. Wilhelm en Weg jenseits der verhängnisvollen Folgen Flitner hatte 1947 als erster diesen Begriff für der Gemeinschaftsorientierung und der star- ein «neues Lehrfach» propagiert: «Lebensleh- ken Staatsfixierung der Weimarer Volksbil- re» als «Utopie nach dem Debakel» und als dung zu finden, der 1933 in der Gleichschal- Anknüpfung an das Lebenskundekonzept von tung der Kultur- und Bildungseinrichtungen Weimar.10 Den theoretischen Untergrund lie- kulminiert war. Sie setzten dabei weniger auf ferte das Konzept des Kieler Pädagogen Fried- das von den alliierten Besatzungsmächten rich Oetinger, der half, die mitbürgerliche Er- von oben verordnete Reeducationprogramm, ziehung in den Schulen durchzusetzen. Vor sondern kooperierten mit den Kräften, die an 1933 und nach 1933 publizierte Oetinger un- der Seite der ehemaligen Buchenwald-Häft- ter dem Namen Theodor Wilhelm, wurde nach linge und Eugen Kogon für die 1933 Herausgeber der Internationalen Zeit- Erziehung und Bildung der Menschen zu po- schrift für Erziehung, die Hitler verherrlichte litisch mündigen Mitbürger*innen plädierten. und die Bücherverbrennung und die Judenpo- Sie regten jenen bildungspolitischen Prozess Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945 55

an, der – auch unter dem Eindruck des soge- nente jüdische Reichstagsabgeordnete der nannten Sputnikschocks11 von 1957 – in den SPD oder Gewerkschafter wie Siegfried Auf- 1960er Jahren in der von Georg Picht und häuser, der den Allgemeinen freien Angestell- Hellmut Becker geprägten Diskussion über ten-Bund (AfA) bis 1933 geleitet hatte, warte- die «Bildungskatastrophe» gipfelte. Becker, ten lange auf ein Angebot. Auch Willy Brandts der 1956 zum Präsidenten des Deutschen temporäre Rückkehr war 1946 nur in norwe- Volkshochschulverbandes (DVV) gewählt gischer Uniform als Journalist möglich. Kurt worden war und später, 1963, Direktor des Schumacher war in Hannover an einer ra- Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung schen Mitarbeit der «Sappler», der Genossen wurde, dessen Gründung auf seine Initia­tive aus der Sozialistische Arbeiterpartei Deutsch- zurückging, plädierte für ein fundamentales lands (SAP), die 1931 aus der SPD ausge- Umdenken in bildungspolitischen Fragen. So schlossen worden waren, wenig interessiert. hatte er zum Beispiel Theodor W. Adorno ein- «Fritz Heine, der mit Ollenhauer aus London geladen, den «Zweiten Deutschen Volkshoch- zurückgekehrt (und jetzt für die Pressear - schultag» in Frankfurt am Main im Oktober beit) zuständig war, meinte, Leute wie ich – 1956 mit einem Vortrag über «Erziehung zur er nannte auch Richard Löwenthal – könn- Mündigkeit» zu eröffnen. Becker stieß damit ten sich zunächst draußen nützlich machen», auf den Widerstand des DVV-Vorstands und berichtete Brandt über seine Rückkehr. 13 war nicht in der Lage, Adornos Auftritt auf Auch Gustav Dahrendorf, der ehemalige dem Volkshochschultag durchzusetzen. Nicht SPD-Reichstagsabgeordnete und, nach 1945, verhindern konnte der Vorstand aber, dass die Mitinitiator der Sozialistischen Einheitspartei geplante Adorno-Rede in der Wochenzeitung (SED), teilte offen diese Meinung und glaubte Die Zeit publiziert wurde. Trotzdem behielt als Sprecher des Zentralausschusses der SPD die konsensstiftende «mitbürgerliche Erzie- am 12. Juni 1945 in Berlin darauf hinweisen hung» zunächst Vorfahrt vor der «Erziehung zu müssen, dass die neu erstandene SPD «mit zur Entbarbarisierung» bzw. der «Erziehung gewissen Erscheinungen der Emigranten-Po- zur Mündigkeit nach Auschwitz», wie sie die litik» nichts zu tun habe: Niemand im Ausland Frankfurter Schule nannte. Nachdem 1964 sei berechtigt, für sie zu sprechen.14 die deutsche Bildungskatastrophe ausgerufen Noch konsequenter gestaltete sich die Ab - worden war,12 konnte man nicht mehr verhin- wehrhaltung der Gewerkschaftsführung: dern, dass auch im Bildungsbereich mehr De- Als es um die hauptamtliche Besetzung mokratie gewagt wurde. des gewerkschaftlichen Zonensekretariats ging – dem Vorläufer des späteren Bundes- Mehr Demokratie wagen vorstands –, verweigerten mehrere Mitglie- Aus heutiger Sicht muss es erstaunen, dass der des gewerkschaftlichen Zonenausschus- viele der im Dienst der westlichen Sieger - ses der britischen Zone ihre Zustimmung mächte stehenden Sozialist*innen, Kommu- dazu, den jüdischen Emigranten und späteren nist*innen und Gewerkschafter*innen äußerst DGB-Bundesvorsitzenden Ludwig Rosenberg selten einen Rückruf nach Deutschland erhiel- einzustellen. Albin Karl erklärte als stellvertre- ten – insbesondere die jüdischen Emigrant*in- tender Vorsitzender der Gewerkschaften der nen, die das Versagen der Arbeiterbewegung britischen Zone auf der zweiten Tagung des von 1933 früh zum Thema gemacht hatten gewerkschaftlichen Zonenausschusses am oder Opfer des Anpassungs- und Selbst - 30. Mai 1946 in Bielefeld, «dass es seiner Auf- gleichschaltungskurses der Gewerkschaften fassung nach nicht richtig ist, die Kollegen aus und der SPD geworden waren. Selbst promi- der Emigration sofort in führende Stellungen 56 Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945

zu bringen […]. Es kann und darf uns nicht dar- Bildungssystem in den Westzonen durch die an gelegen sein, einen Mann, der eben 12 Jah- Einführung der Einheitsschule grundsätz- re lang die Verhältnisse hier nicht verfolgt hat, lich zu reformieren, um die bürgerlichen Bil- in eine so wichtige Funktion zu bringen.»15 dungsprivilegien, in denen sie das entschei- Konkretisieren wir diesen Zusammenhang an dende kulturelle Hemmnis zur Überwindung jüdischen Intellektuellen aus Berlin, die 1945 des deutschen Autoritarismus sahen, abzu- als Emigranten im Dienst des US-amerika- schaffen. Die Sozialdemokraten Deiters und nischen Außenministeriums nach Deutsch- Robert Alt nahmen deshalb das Angebot an, land und Japan reisten und vor 1933 teilweise den Kampf gegen das Bildungsmonopol in wichtige Funktionen in der Arbeiterbewegung der Sowjetischen Besatzungszone fortzuset- innehatten: Die Starjuristen der Gewerk- zen. Nachdem weitere Versuche, durch De- schaften vor 1933, Ernst Fraenkel und Franz mokratieerziehung «der Linken zum Erfolg L. Neumann, und der zu verhelfen», durch die entschiedene Berliner ins Leere laufende Ent- Schulreformer Fritz Kar- Dieser frühe Restau­ nazifizierung und das sen, der ehemalige Lei- rations­prozess ist unzulängliche Interes- ter der Karl-Marx-Schule ohne die Mitwirkung se der Gewerkschaften in Neukölln. von Teilen der Gewerk­ verhindert wurden, ver- Neumann und Fraen- schaftsführung nicht stärkte Franz Neumann kel hatten im Exil zwei zu erklären. seine Kritik am Reformis- bis heute grundlegende mus der SPD und an der Faschismusanalysen vorgelegt. Ernst Fraen- Moskauorientierung der KPD. Er konnte nicht kels «Der Doppelstaat» erschien 1940, Franz verhindern, dass die Entnazifizierung als Re- L. Neumanns «Behemoth» 1942 bzw. 1944. habilitierungsmaschine funktionierte, die Na- Deutsche Übersetzungen dieser Standard- zi-Sympathisant*innen und politische Geg- werke wurden erst 1974 bzw.1977 veröffent- ner*innen von einst in wichtige Funktionen licht. Beide warteten wie viele andere darauf, brachte. Westdeutschland entwickelte sich von den Universitäten oder der Gewerkschaft zu einer «Mitläuferfabrik» (Niethammer), ein zurück nach Deutschland gerufen zu werden. in der Bundesrepublik lange tabuisierter zeit- Erst 1953 erreichte Fraenkel ein Ruf als Profes- geschichtlicher Skandal, der die Unzuläng- sor an die Deutsche Hochschule für Politik der lichkeiten der Reeducation und die Kontinuität Freien Universität Berlin. Neumann, der 1943 nationalistischer Denkweisen offenbart. 1947 die Leitung der Deutschland-Forschungsab- eskalierte der Kalte Krieg und die westdeut- teilung im US-amerikanischen Geheimdienst sche Arbeiterbewegung stimmte, vertreten OSS übernommen hatte, setzte 1959 als bil- durch den Bundesvorstand des DGB und ge- dungspolitischer Beauftragter des US-ame- gen das Votum des SPD-Vorstands, dem Mar- rikanischen Außenministeriums nach 1945 shall-Plan und der Truman-Doktrin zu. Kurt die Einrichtung des Otto-Suhr-Instituts, als Schumacher sprach fortan von Adenauer als Nachfolge der Deutschen Hochschule für Po- «Kanzler der Alliierten». Neumann, Fraenkel litik, an der Freien Universität in Berlin durch. und Karsen zogen sich resigniert auf ihre Lehr- Er scheiterte jedoch zusammen mit anderen stühle in die USA zurück und kritisierten den prominenten Repräsentant*innen des Bundes sozialdemokratischen Traditionalismus, der Entschiedener Schulreformer (Anna Siem- ein weiteres Mal in Gefahr geriet, das zu unter- sen, Fritz Karsen, Heinrich Deiters und Paul graben, was die Weimarer Arbeiterbewegung Oestreich) mit dem Auftrag, das deutsche einst erreicht hatte. Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945 57

Otto Brenner, der spätere Vorsitzende der rechtlichen Instituts in Wilhelmshaven-Rüs- IG Metall, hatte diese Entwicklung schon Ende tersiel wurde. Auch ein Vertreter des öffentli- 1947 kritisiert: Enttäuscht über den erneuten chen Rechts wie Ernst Rudolf Huber gehörte Niedergang der «marxistisch-wissenschaftli- dazu, ein Musterschüler von Carl Schmitt, der chen Grundhaltung» in der SPD und den Ge- zunächst mit Berufsverbot belegt worden war. werkschaften schrieb der damalige Bezirkslei- Auch die Karriere des Freyer- und Geh - ter in Hannover an seine SAP-Freunde in den len-Schülers Helmut Schelsky, des Gaustu- USA, die auf einen Rückruf warteten: «Die dentenführers, darf nicht vergessen werden: marxistische Richtung, die, gestützt auf die Ab 1935 im «Amt Rosenberg» als «Beauftrag- wissenschaftliche Begründung des Sozialis- ter des Führers zur Überwachung der gesam- mus von Marx und Engels, aus der SPD eine ten geistigen und weltanschaulichen Erzie- revolutionäre Partei machen wollen […], befin- hung der NSDAP» zuständig, konnte Schelsky det sich zur Zeit in der Defensive […]. An den 1948 seine Tätigkeit an der von den Konsum- ‹Karl-Marx-Schulen› der Partei unterrichten genossenschaften und den Gewerkschaften Nicht-Marxisten […]. Eine konsequente Schul- initiierten Hamburger Hochschule für Arbeit politik ist nicht möglich, weil die Kulturpolitik und Wirtschaft (später Akademie für Gemein- von kirchenhörigen Parteimitgliedern gemacht wirtschaft, dann Hamburger Universität für wird […]. Heute erkennt man mit Entsetzen, Wirtschaft und Politik, HWP) fortsetzen. Mit welche Kräfte durch die Farblosigkeit der Par- seiner Theorie von der «nivellierten Mittel - teiführung und durch das Fehlen eines klaren standsgesellschaft» lieferte er die ideologische Programms in den Vordergrund getreten sind. Begründung dafür, dass die Gewerkschaften Nicht zuletzt ist die Vertrauenskrise, der Partei auf jeden Klassenkampf zu verzichten hätten und Gewerkschaften ausgesetzt sind, auf die- und Sozialpartnerschaft anstatt Neuordnung se Umstände zurückzuführen.»16 angesagt sei. Die empirischen Materialien für Dieser frühe Restaurationsprozess ist ohne diese Untersuchung, wie auch für sein Gut- die Mitwirkung von Teilen der Gewerkschafts- achten über Arbeitslosigkeit und Berufsnot führung nicht zu erklären, was sich an dem der Jugend von 1952, stellte er im Auftrag des bislang viel zu wenig aufgearbeiteten Kapi- DGB-Bundesvorstands zusammen. Der Rück- tel der Arbeiterhochschulen in Westdeutsch- griff auf das theoretische Konstrukt einer an- land nach 1945 konkretisieren lässt. Es muss geblich nivellierten Mittelstandsgesellschaft verwundern, dass nach 1945 auch von ei- konnte sich nicht nur auf den Klassenkompro- nem Kultusminister und Widerstandskämp- miss der Weimarer Republik berufen, sondern fer wie dem religiösen Sozialisten Adolf Grim- sah in der Bonner Demokratie seine Vollen- me belastete Professoren an die (Reform-) dung. Der «Abschied vom Proletariat» erlaub- Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft te den Verzicht auf Traditionen der Arbeiterbe- in Wilhelmshaven-Rüstersiel berufen wur- wegung und Arbeiterkultur und begünstigte den, und dies unter dem Rektorat des Juris- die Kooperation mit großen Teilen des Bürger- ten, Antifaschisten und Sozialisten Wolfgang tums. So ist es sicher kein Zufall, dass Schelsky Abend­roth, der kurz zuvor aus der Sowjeti- in den 1960er Jahren, unter der sozialliberalen schen Besatzungszone nach Westdeutsch- Koalition in Nordrhein-Westfalen, zum Grün- land geflohen war. Zu den Berufenen gehör- dungsrektor der Reformuniversität Bielefeld te unter anderem Walter Bogs, der von 1933 aufstieg und eng mit dem damaligen Staats- an ständiges Mitglied und später Senatsprä- sekretär Hermann Lübbe (SPD) kooperierte, ei- sident an der Reichsversicherungsanstalt war nem Bewunderer von Carl ­Schmitt, der jedoch und der 1949 Professor und Leiter des arbeits- immer Distanz zu den Anhängern der Konser- 58 Zur verhinderten Neuordnung im Bildungswesen nach 1945

vativen Revolution wahrte und sich selbst als Erst Mitte der 1960er Jahre begann auf Anre- «ausgemachten Liberalen» kennzeichnete. gungen linker Studentengruppen in der Bun- Beide gehörten mit Fritz Borinski und Richard desrepublik die Aufarbeitung des «deutschen Löwenthal zu den Mitbegründern des konser- Geisteslebens im Nationalsozialismus». Zur vativen Bundes Freiheit der Wissenschaften, gleichen Zeit erschienen in der Europäischen der die notwendige demokratische Reform im Verlagsanstalt, mit Unterstützung der IG Me- Hochschulwesen seit den 1970er Jahren be- tall, unter dem Titel «Politische Texte» un- kämpfte und sich für Berufsverbote einsetzte. ter anderem Nachdrucke der Werke von Ro- Überhaupt haben die Soziologen, neben den sa Luxemburg, Karl Korsch, Franz Leopold Historikern, am stärksten dazu beigetragen, Neumann, August Thalheimer und Hermann dass lange Zeit keine systematischen Versu- Duncker (herausgegeben von Abendroth, che unternommen wurden, die Entstehung Oertzen, Fetscher, Gerlach, Flechtheim und und den Sieg des Nationalsozialismus aus anderen), die einen linken Neuordnungsver- den gesellschaftlichen Strukturen und Prozes- such in der Arbeiterbildung mit einleiteten. sen der Weimarer Republik zu erklären. Das 1 Meinecke, Friedrich: Die deutsche Katastrophe [1946], 3. Aufl., blieb Emigrant*innen wie Franz L. Neumann Wiesbaden 1947, S. 173 ff. 2 Ebd., S. 174. 3 Leo Baeck am überlassen. Dagegen dekretierte Leopold 26.9.1959, zit. n. Meinecke, Stefan: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin von Wiese, nach 1945 der erste Präsident der 1995, S. 32. 4 Zur Verwendung des Gender-Sternchens in dieser Bro- Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in sei- schüre siehe Fußnote 2 auf S. 3. 5 Haug, Wolfgang Fritz: Vom hilflo- sen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt, Berlin 1987. 6 We- nem Vortrag zur Eröffnung des «8. Deutschen ber, Alfred: Abschied von der bisherigen Geschichte [1946]. Alfred Weber Gesamtausgabe, Bd. 3, Marburg 1997. 7 Kuczynski, Jürgen: Soziologentages» von 1946: «Und doch kam Reisen durch Deutschland. Ein unveröffentlichter Briefwechsel mit die Pest über die Menschen von außen, un- Anna Seghers, in: Wollenberg, Jörg (Hrsg.): Von der Hoffnung aller Deutschen. Wie die BRD entstand, Köln 1991, S. 64. 8 Siemsen, An- vorbereitet, als ein heimtückischer Überfall. na: Vorwort, in: Siemsen, August: Die Tragödie Deutschlands und die Das metaphysische Geheimnis, an dem der Zukunft der Welt, Hamburg 1948. 9 Fiedeler, Hans [d. i. Alfred Döb- lin]: Der Nürnberger Lehrprozess, Baden-Baden 1946. 10 Flitner, Wil- 17 Soziologe nicht zu rühren vermag.» Eine sol- helm: Schriften, Bd. 1, Hamburg 1982, S. 215 ff. 11 Als Sputnikschock che programmatische Gesinnung erleichterte lassen sich die Reaktionen der westlichen Staaten auf den ersten Start eines künstlichen Erdsatelliten Anfang Oktober 1957 durch die So- die Wiedereingliederung der Schuldigen und wjetunion beschreiben. 12 Georg Picht mahnte als Urheber dieses Begriffs 1964 in einer Artikelserie in der Zeitschrift Christ und Welt vor Belasteten wie Karlheinz Pfeffer, der wie der den Folgen der Defizite im Schul- und Bildungsbereich und plädierte spätere Staatssekretär von Kanzler Konrad für «Bildung als Bürgerrecht». 13 Brandt, Willy: Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982, S. 422. 14 Gustav Dahrendorf zit. Adenauer, Hans Globke, bei der Propagierung n. Merseburger, Peter: Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, des Antisemitismus intensiv mitgewirkt hat- Stuttgart 1995, S. 250 f. 15 Albin Karl zit. n. Weber, Hermann (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im te, unter anderem durch Beiträge in Theodor 20. Jahrhundert, Bd. 6, Köln 1987, S. 379–383. Gemeint ist Ludwig Fritschs «Handbuch der Judenfrage» und der Rosenberg, der spätere Bundesvorsitzende des DGB. 16 Otto Bren- ner zit. n. Grebing, Helga (Hrsg.): Lehrstücke der Solidarität. Briefe Kommentierung der «Nürnberger Gesetze» und Biographien deutscher Sozialisten 1945–1949, Stuttgart 1983, von 1935. Schelsky verhalf ihm 1962 zu einer S.155. 17 Leopold von Wiese zit. n. Sauermann, Heinz (Hrsg.): Ver- handlungen des 8. Deutschen Soziologentages, 19.–21. September Berufung an die Universität Münster. 1946 in Frankfurt am Main, Tübingen 1948. Zum Weiterlesen 59

ZUM WEITERLESEN (NACH ERSCHEINUNGSJAHR SORTIERT)

Zum europäischen Kontext Niethammer, Lutz/Borsdorf, Ulrich/Brandt, der Nachkriegszeit Peter (Hrsg.): Arbeiterinitiative 1945: Antifa- Sassoon, Donald: One Hundred Years of schistische Ausschüsse und Reorganisation ­Socialism. The West European Left in the der Arbeiterbewegung in Deutschland, Wup- Twentieth Century [1996], London/New York pertal 1976. 2014. Pirker, Theo: Die verordnete Demokratie. Loth, Wilfried: Die Teilung der Welt. Ge- Grundlagen und Erscheinungen der «Restau- schichte des Kalten Krieges 1941–1955, Mün- ration», Berlin 1977. chen 2000. Deutscher, Isaac: Reportagen aus Nach- Eley, Geoff: Forging Democracy. The Histo- kriegsdeutschland, Hamburg 1980. ry of the Left in Europe, 1850–2000, Oxford Heydorn, Heinz J.: Konsequenzen der Ge- 2002. schichte. Politische Beiträge 1946–1974, Lowe, Keith: Der wilde Kontinent: Europa in Frankfurt a. M. 1981. den Jahren der Anarchie 1943–1950, Stutt- Söllner, Alfons (Hrsg.): Zur Archäologie der gart 2014. Demokratie in Deutschland, Bd. 1: Analysen Buruma, Ian: ’45. Die Welt am Wendepunkt, von politischen Emigranten im amerikani- München 2015. schen Geheimdienst 1943–1945; Bd. 2: Ana- lysen von politischen Emigranten im ameri- Klassische Werke zur kanischen Außenministerium 1946–1949, ­deutschen Nachkriegszeit Frankfurt a. M. 1982. Schmidt, Eberhard: Die verhinderte Neuord- Brusis, Ilse (Hrsg.): Die Niederlage, die ei- nung 1945–1952, Frankfurt a. M. 1970. ne Befreiung war. Das Lesebuch zum 8. Mai Schmidt, Ute/Fichter, Tilman: Der erzwun- 1945, Köln 1985. gene Kapitalismus. Klassenkämpfe in den Wollenberg, Jörg: 8. Mai 1945. Neugeord- Westzonen 1945–1948, Westberlin 1971. neter Wiederaufbau oder verhinderte Neuord- Huster, Ernst-Ulrich/Kraiker, Gerhard/Sche- nung? Eine Materialsammlung, hrsg. von der rer, Burkhard/Schlotmann, Friedrich-Karl/ Universität Bremen, Fachbereich 12, Bremen Welteke, Marianne: Determinanten der 1985. westdeutschen Restauration 1945–1949, Hermand, Jost: Kultur und Wiederaufbau. Frankfurt a. M. 1972. Die BRD 1945–1965, München 1986. Badstübner, Rolf/Thomas, Siegfried: Res- Broszat, Martin/Henke, Klaus-Dietmar/ tauration und Spaltung. Entstehung und Ent- Woller, Hans (Hrsg): Von Stalingrad zur Wäh- wicklung der BRD 1945–1955, Köln 1975. rungsreform. Zur Sozialgeschichte des Um- Borsdorf, Ulrich/Niethammer, Lutz (Hrsg.): bruchs in Deutschland, Berlin/Boston 1990. Zwischen Befreiung und Besatzung: Analy- Kleßmann, Christoph: Doppelte Staatsgrün- sen des US-Geheimdienstes über Positionen dung, Göttingen 1991. und Strukturen deutscher Politik 1945 [1976], Wollenberg, Jörg (Hrsg.): Von der Hoffnung 2. Aufl., Wuppertal 1995. aller Deutschen. Wie die BRD entstand 1945– 1949, Köln 1991. 60 Zum Weiterlesen

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Boebel, Chaja/Heidenreich, Frank/Wentzel, Wollenberg, Jörg: Mehr Demokratie wagen, Lothar (Hrsg.): Neuanfang 1945. Belegschaf- Kultur und Bildung wagen. Ein kritischer Blick ten und Betriebsräte setzen die Produktion in auf 100 Jahre Volkshochschulen, Bremen Gang, Hamburg 2019. 2019. Winkler, Willi: Das braune Nest. Wie die Bun- Aus Politik und Zeitgeschichte 4–5/2020: desrepublik von früheren Nazis zum Erfolg ge- 1945, unter: www.bpb.de/apuz/303635/1945. führt wurde, Berlin 2019. 62 Die Autor*innen

DIE AUTOR*INNEN

Gerd-Rainer Horn ist Professor für die Ge- Christoph Jünke lebt und arbeitet als frei- schichte des 20. Jahrhunderts am Institut schaffender Historiker in Bochum. Er ist Au- d’Études Politiques de Paris (Sciences Po). Er tor und Herausgeber zahlreicher Bücher, u. a. forscht zur transnationalen Geschichte sozia- «Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert» ler Bewegungen im Kontinentalwesteuropa (Hamburg 2014) und «Leo Koflers Philosophie des 20. Jahrhunderts und hat Werke zur Ge- der Praxis. Eine Einführung» (Hamburg 2015). schichte der Arbeiterbewegung, zum linken 2017 gab er die Anthologie «Marxistische Sta- Katholizismus und zu «1968» veröffentlicht, linismus-Kritik im 20. Jahrhundert» heraus, zuletzt «The Moment of Liberation in Wes- zurzeit arbeitet er an einer Biografie über Vik- tern Europe. Power Struggles and Rebellions, tor Agartz. Kontakt: Christoph.Juenke@ruhr- 1943–1948» (Oxford 2020). Auf Deutsch er- uni-bochum.de schienen ist das von ihm und Bernd Gehrke 2007 im Hamburger VSA-Verlag herausge- Arno Klönne (1931–2015) war Professor für gebene Buch «1968 und die Arbeiter. Studien Sozialwissenschaften an der Universität Pa- zum ‹proletarischen Mai› in Europa» (Neuauf- derborn und ist bekannt geworden durch lage 2018). Kontakt: gerdrainer.horn@scien- seine Forschungen und Publikationen zur cespo.fr Geschichte der sozialen Bewegungen und politischen Kultur der Bundesrepublik sowie Bernd Hüttner ist 1966 geboren. Er ist Poli­ durch seine Arbeiten zur deutschen Jugend tikwissenschaftler und arbeitet als Referent vor, während und nach dem «Dritten Reich». für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik Zuletzt erschien von ihm «Hoffnung in Trüm- am Historischen Zentrum der Rosa-Luxem- merjahren. Die junge Generation in Deutsch- burg-Stiftung. Er publiziert zu Geschichte und land 1945–1949» (Erfurt 2015). Geschichtsschreibung der neuen sozialen Be- wegungen und der undogmatischen Linken, Johanna Kornell hat Geschichte in Ham- freien Archiven der sozialen Bewegungen, burg studiert und engagiert sich geschichts- künstlerischen Avantgarden und Netzwer- politisch u. a. in der Initiative Dessauer Ufer in ken vor 1933. Er ist zudem Mitglied des Vor- Hamburg. stands der German Labour History Associa- tion (GLHA), der Historischen Kommission Julia Lis, studierte Katholische Theologie, beim Parteivorstand DIE LINKE und des Inter- Deutsche Philologie und Osteuropäische Ge- nationalen wissenschaftlichen Beirates der schichte in Münster, Jerusalem und Krakau ITH – International Conference of Labour and und arbeitet zurzeit als Geschäftsführerin am Social History. Mehr zur Person unter www. Institut für Theologie und Politik in Münster. bernd-huettner.de. Forschungsschwerpunkte sind Politische Theologie, Befreiungstheologie, Feministi- Keno Ingwersen ist 1994 geboren und stu- sche Theologie und Schnittstellen zwischen diert Lehramt in Hamburg. Kirche und sozialen Bewegungen. Die Autor*innen 63

Gisela Notz lebt und arbeitet freiberuflich u. a. Gründungsmitglied der Gedenkstätte in Berlin. Sie ist Autorin und Herausgeberin Ahrensbök, Mitarbeiter und Referent in ge- zahlreicher Bücher, u. a. «Wegbereiterinnen. werkschaftlichen Bildungseinrichtungen und Berühmte, bekannte und zu Unrecht verges- Volkshochschulen. Autor zahlreicher Ver- sene Frauen aus der Geschichte» (Neu-Ulm öffentlichungen u. a, «Die andere Erinne- 2018); «Kritik des Familismus» (Stuttgart rung. Spurensicherung eines widerständigen 2015), «Theo­rien alternativen Wirtschaftens» Grenzgängers» (Bremen 2017) – mit ergän- (2. Aufl., Stuttgart 2012). zender DVD u. a. über Ausstellungen zur Ge- schichte der Arbeiterbewegung, zum NS-Wi- Jörg Wollenberg ist 1937 geboren; ab 1957 derstand mit Videos von Zeitzeugen, auch zur studierte er an den Universitäten Hamburg, verhinderten Neuordnung nach 1945. Göttingen und Paris. Ab 1965 war er pädago- gischer Leiter bei «Arbeit und Leben» in Göt- Christoph Jünke und Gisela Notz sind Mit- tingen (bis 1971) und Leiter der Volkshoch- glieder des Gesprächskreises Geschichte der schule der Stadt Bielefeld (1971–1978) und Rosa-Luxemburg-Stiftung, der seit seiner des Bildungszentrums der Stadt Nürnberg Gründung 2006 von Bernd Hüttner koordi- (1985–1992). Seit 1978 ist er Professor für niert wird. Weiterbildung an der Universität Bremen – Weitere Informationen unter www.rosalux.de/ bis zum Ruhestand am 1. Mai 2002. Danach themen/geschichte. Impressum

MATERIALIEN Nr. 32 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Gabriele Nintemann Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2199-7713 · Redaktionsschluss: März 2020 Titelbild: Freudenfeier in den Straßen von Marseille am 9. Mai 1945, am Tage nach dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa Copyright: Fonds Julia Pirotte, Musée de la Photographie, Charleroi (Belgien) Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Gedruckt auf: Circleoffset Premium White, 100 % Recycling

«Der eigentliche Grund für das Fehlen einer offen revolutionä- ren Herausforderung im West- europa der Jahre 1943 bis 1948 war das Fehlen quantitativ ­relevanter, offen revolutionärer politischer ­Kräfte. Und doch gab es auf dem ­ganzen Konti- nent machtvolle soziale Basis- bewegungen, die eine Heraus- forderung für das Fortbestehen des privatwirtschaftlichen Marktprinzips darstellten.»

GERD-RAINER HORN

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