Wie gedacht ~so vollbracht?

Berichte_vom 8. Louise-Otto-Peters-Tag 2000

m it den Themen: Allgemeiner deutscher Frauenverein Henriette Goldschmidt zum 17 5. Geburtstag Louise Otto-Peters als Erzahlerin und Lyrikerin Ottilie v. Steyber, Auguste Schmidt, Edith Mendelssohn Bartholdy Situation der Joumalistinnen damals und jetzt Gleichstellungsprobleme heute: Gesetze, Abtreibung, Wahmehmung

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LOUISEum 14

Sammlungen und Veroffentlichungen der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. Leipzig 3

Herausgegeben von der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. Leipzig

Redaktion: Dr. Uta Schlegel und Johanna Ludwig. Unter Mitarbeit von Elvira Pradel

c/o Johanna Ludwig Fritz-Siemon-Str. 26/011 0434 7 Leipzig 5

In halt

Ein Wort zuvor 6 Begriif3ung Johanna Ludwig 8 Gruf3wort Ruth Stachorra 11 Zur Griindung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins vor 135 Jahren in Leipzig. Annaherung an ein Erbe Dr. Susanne Schotz 14 Der Allgemeine deutsche Frauenverein: sein Weg zur juristischen Personlichkeit und zur bedeutsamen Anderung des § 5 Stefanie Bietz . 26 Zur Situation von Louise Otto als Joumalistin im deutschen Vormarz und zur Situation von Joumalistinnen heute Katrin StrajJer 31 Die Rebellion in Louise Ottos Erzahlung ,Ein Bauemsohn" Dr. Carol Diethe 39 Zur Rezeption der Lyrikerin Louise Otto-Peters heute Dr. Ingrid Muller 45 Louise Otto-Peters in meinem Leben Renate Schroder 48 Frauen- und Madchenbildung war ihr Bestreben: Die Lehrerinnen Ottilie v. Steyber und Auguste Schmidt Dr. Asfl·id Franzke 52 Zum 175. Geburtstag der Frobelpadagogin und Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt Annerose Kemp 61 Vom Umgang rnit dem Erbe Henriette Goldschmidts Annett GrojJe 70 Die Henriette-Goldschrnidt-Kindertagesstatte Spittastraf3e in der Tradition ihrer Griinderin Renate Schiller 78 Der Leipziger Schriftstellerinnenverein. Die Generation der Erbinnen. Oder: Wider den weiblichen Dilettantismus?! Prof Dr. Ilse Nagelschmidt 80 Sozialpolitisch engagiert: Edith Mendelssohn Bartholdy RitaJorek 87 Der Gleichberechtigungsparagraph in beiden deutschen Verfassungen - Start in eine neue Frauenwelt? (Subjektive Reflexionen und Erfahrungen iiber objektive Tatbestande I oder: iiber einen sozialen Prozess) Prof Dr. Herta Kuhrig 94 ,Dokumente des Ungliicks und der Vemunft": Die erste qualitative Untersuchung zu Abtreibungsmotiven von Frauen 1966 in der BRD - Eine Hommage an Helge Pross Ursula F. Scheid-Schroder 105 Wie und warum ostdeutsche Frauen heute ihre gesellschaftliche Stellung (nicht) reflektieren Dr. Uta Schlegel 116 FrauenOrte- eine Moglichkeit in Sachsen-Anhalt, Frauengeschichte heute prasent zu machen Dr. Elke Stolze 131 Feme Schwestem Bulgariens: Zur Frauenvereinigung MAIKA Lisa Albrecht'-Dimitrowa 134 •!• Ober die Autorinnen 140 •!• Anhang 142 6

Ein Wort zuvor

Der 8. Louise-Otto-Peters-Tag vom 24. bis 26. November 2000 im Leipziger Heinrich-Budde-Haus, an den die Vorsitzende des Landesfrauenrates Sachsen, Ruth Stachorra, ein Grul3wort richtete, stand unter dem Motto ,Wie gedacht- so vollbracht?" und hatte 5 inhaltliche Schwerpunkte: Den Auftakt der Veranstaltung bildete ein Henriette-Goldschmidt-Abend, der dem 175. Geburtstag der narnhaften Leipziger Frobelpadagogin und Frauenrechtlerin gewidmet war. 1 Vortrage von An­ nerose Kemp (Leipzig), Annett Grol3e (Erfurt) und Renate Schiller (Leipzig) erinnerten an Leben und Werk der Jubilarin und berichteten tiber den heutigen Umgang rnit ihrem Erbe. Angesichts des Abrisses des Henriette-Goldschrnidt-Hauses in der Leipziger Friedrich-Ebert-Stral3e im Frtihjahr 2000, das trotz massiver Proteste einer hochst fraglichen Verkehrsplanung zum Opfer fiel, bot dieser Punkt viel Diskussionsstoff Verabschiedet wurde schliel3lich eine gemeinsame Erklarung an den Leipziger Oberbtirgermeister Wolfgang Tiefensee, die den Abriss des Henriette-Goldschmidt-Hauses noch einmal verurteilt, zugleich aber die Bereitstellung eines anderen Hauses aus der Henri­ Hinrichsen-Stiftung fur die Arbeit Leipziger Frauenvereine und -initiativen anmahnt. Am Sonnabend wurde die Tagung mit einem Schwerpunkt zur Situation der Frauen in der jii.ngeren Geschichte und Gegenwart fortgesetzt. Hier standen vorrnittags Vortrage von Prof. Dr. Herta Kuh­ rig () zu den Gleichberechtigungsparagraphen in beiden deutschen Verfassungen, von Ursula Schroder () zur Geschichte des§ 218 in der BRD und von Dr. Uta ·Schlegel (Leipzig) zum

Thema ,Wie und warum ostdeutsche Frauen heute ihre g~sellschaftliche Stellung (nicht) reflektieren" auf dem Programm. Die Nachrnittagssitzung wandte sich dem Wirken von Louise Otto-Peters zu, z. T. unter deutlicher Betonung aktueller Dimensionen. So sprachen Dr. Susanne Schotz (Fuchshain) uber Louise Otto­ Peters und die Grtindung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins 1865 in Leipzig, Katrin Strasser (Eichstatt) uber die Situation der Journalistin Louise Otto im Vormarz und tiber die Situation von Journalistinnen heute sowie Dr. Carol Diethe (London) tiber die Rebellion in Louise Ottos Erzahlung ,Ein Bauemsohn" von 1849. Gute Resonanz fanden die in die Dokumentation aufgenommenen Dis­ kussionsbeitrage von Stefanie Bietz (Weimar), Renate Schroder (Leipzig) und Dr. Ingrid Muller (Leipzig) Beitrage zur Leipziger Frauengeschichte bestimmten den 4. Tagungsschwerpunkt am Sonntag­ vorrnittag. Dabei inforrnierten Dr. Astrid Franzke (Leipzig) tiber die Mitbegrtinderinnen des AdF Ottilie von Steyber und Auguste Schrnidt - beide Lehrerinnen und Schulvorsteherinnen, Rita Jorek (Markkleeberg) uber die Kultur- und Sozialpolitikerin Edith Mendelssohn Bartholdy und Prof. Dr. Ilse Nagelschrnidt (Leipzig) tiber den Leipziger Schriftstellerinnenverein zwischen 1890 und 1920. Die Abschlussrunde war schliel3lich ganz dem Bemtihen gewidmet, Frauengeschichte heute prasent zu machen. Dr. Elke Stolze (Halle) gab Einblick in ein Expo-Projekt tiber Frauenorte in Sachsen-

1 Die Abfolge der Beitrage in dieser Dokumentation ist nicht m it dem Ablauf der Tagung identisch. 7

Die Abschlussrunde war schliel3lich ganz dem Bemiihen gewidmet, Frauengeschichte heute prasent zu machen. Dr. Elke Stolze (Halle) gab Einblick in ein Expo-Projekt iiber Frauenorte in Sachsen­ Anhalt. Lisa Albrecht-Dimitrowa (Halle) machte mit Initiativen der 1993 nach 50 Jahren neugegriin­ deten bulgarischen Frauenvereinigung tv1AIY~ bekannt. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterstiitzten mit ihrer Unterschrift die Forderung der Loui­ se-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. , im Rahmen notwendiger Stra13enumbenennungen in Leipzig der GrenzstraBe, wo die Wegbereiterin der deutschen Frauenbewegung fast drei Jahrzehnte wirkte und am 13 . Marz 1895 starb, den Namen von Louise Otto-Peters zu geben. Doch die Leipziger Stadtra­ tinnen und Stadtrate votierten mehrheitlich fur Ludwig-Erhard-Stral3e. S. Sch./J.L. 8

BegriJBung

Johanna Ludwig (Leipzig)

Viele sind schon lange unterwegs, sind bereits heute morgen losgefahren, urn rechtzeitig zur Eroff­ nung unseres 8. Louise-Otto-Peters-Tages einzutreffen. Sie und alle anderen mochte ich herzlich be­ gr;.tf3en zu Vortragen und Gedankenaustausch unter dem Motto: ,Wie gedacht- so vollbracht?"- ich selbst bin schon gespannt, wie die Rednerinnen das Thema heute, morgen und iibermorgen auslegen, und erspare rnir eine Voraberklarung. Gleich beginnen wir rnit dem Henriette-Goldschmidt-Abend. Fur alle diejenigen, denen vielleicht nicht ganz ldar ist, warum ein Louise-Otto-Peters-Tag so viei Raum einer Henriette Goldschmidt gibt: Anlass dafur ist der 175. Geburtstag dieser bedeutenden Frau, die 60 Jahre in Leipzig fur Fraueninteressen und insbesondere auch flit die Entwicklung von Volkskindergarten wirkte und ein grof3es Erbe hinterlief3. Leider hat es in dieser Stadt - oder auch anderswo - niemand ·fur erforderlich gehalten, Henriette Goldschrnidt aus diesem Anlass offentlich zu wiirdigen, wenn man von dem obligatorischen Gang zu ihrem Grab auf dem Jiidischen Friedhof ab­ sieht. Henriette Goldschrnidt war nicht nur eine Freundin von Louise Otto-Peters, sondern auch so viele Jahre neben Auguste Schrnidt die stelivertretende Vorsitzende des Allgemeinen deutschen Frauenvereins. Annerose Kemp wird dazu ausfuhrlich sprechen. Und da bin ich schon bei unseren vielen Gasten aus Nordrhein-Westfalen, die ich besonders gem be­ griif3e. Neben den zahlreichen Vertreterinnen des dortigen Landesverbandes des Deutschen Staats­ biirgerinnen-Verbandes sind aus diesem Land noch weitere Frauen gekommen, z. B. von der Else­ Lasker-Schiiler-Gesellschaft. Es ist interessant, dass es auf Grund unserer gemeinsamen Bestrebun­ gen fur Frauenfortschritt solche guten Beziehungen zwischen uns gibt. Wir batten auch schon mehr­ fach Referentinnen zu unseren Veranstaltungen von dort. Gaste haben wir ferner aus Halle, also aus unserem Nachbarland Sachsen-Anhalt, und aus Weimar in Thiiringen, wir haben Gaste aus Berlin, das ist dann schon das funfte Land, und aus Hamburg, das sechste. Unter uns weilt auch eine Frau aus London. V on den wenigen Mannern, die sich .. eingefunden haben, kommt einer aus Korn­ westheim in Baden-Wiirttemberg, also dem 7. Bundesland. Das Interesse der Gaste gilt sicher auch der Stadt Leipzig, in der die Wiege der deutschen Frauenbewegung stand. In diesem Jahr haben wir eigentlich viel dafur getan, dass dies in die Kopfe dringt - in Leipzig und anderswo. Leider ist das nicht so einfach und selbstverstandlich, wie anzunehmen ware. Vielleicht hangt es auch damit zu­ sammen, dass nach dem hoffuungsvollen Anfang vor 10 Jahren in Leipzig das Thema Frauenge­ schichte heute weit ins Abseits geraten ist. Damit liegt eine grof3e Last auf uns, denn wir haben uns nicht als Verein zur Leipziger Frauengeschichte gegriindet, sondern zur Wiirdigung von Louise Ot­ to-Peters. Da diese allerdings 50 Jahre engstens rnit Leipzig verbunden war, konnte es nicht ausblei­ ben, dass wir auch in ihrem Umfeld grasen - Ergebnis ist auch die gerade erschienene 2. Folge der ,Leipziger Lerchen. Frauen erinnern". 9

In diesem Kontext sind viele unserer Bemiihungen zu verstehen, der Kampf urn die Rettung des Henriette-Goldschmidt-Hauses, die Benennung einer Strai3e nach Louise Otto-Peters und die Erinne­ rung an den Beginn der ersten gesamtdeutschen Frauenkonferenz am 15. Oktober 1865 in dieser Stadt. Natiirlich kommt manche Anregung auch von auBen, wie in diesem Jahr von den Frauen des Deutschen Staatsburgerinnen-Verbandes in Berlin. SchlieBlich wurde der Allgemeine deutsche Frau­ enverein, als dessen Nachfolger sich der Deutsche Staatsburgerinnen-Verband versteht, vor 135 Jah­ ren hi er in Leipzig gegrundet. Deshalb wollten wir am 15 . Oktober an der Stelle, wo die Alte Buch­ handelsborse stand, in der die erste gesamtdeutsche Frauenversammlung begann, eine Erinnerungsta­ fel anbringen. Es ist uns leider nicht gelungen, weil die Universitat Leipzig, deren Gastehaus sich auf diesem GrundstUck befindet, noch nicht zugestimmt hat, obwohl die erste Reaktion des Kanzlers au­ f3erordentlich positiv war. Und wir halten uns jetzt auch an dieses Positive und versuchen, durch Langmut doch noch zum Ziele zu kommen. Zudem stehen wir dazu in der Pflicht, weil die finanziel­ len Mittel fur diesen Zweck rnit vielen kleinen Spenden aufgebracht wurden. Wir wollen einfach da­ von ausgehen, dass die Vemunft siegt und das neue Rektorat bald grunes Licht gibt. An Louise Otto-Peters und darnit an den Beginn der deutschen Frauenbewegung erinnert im Leipzi­ ger Rosental ihr bekanntes Denkmal, das jetzt 100 Jahre alt ist. Und das ist nun weill Gott keine Leipziger Angelegenheit allein, denn das Denkmal ist rnit Spenden von Frauen aus alien Teilen und Gegenden Deutschlands ermoglicht und es ist auch auf Beschluss der Frauen des AdF hier in Leipzig errichtet warden. Diese Frauen brauchten ebenfalls einen langen Atem, denn es dauerte 4 Jahre, bis sie von der Leipziger Obrigkeit die Genehmigung zur Aufstellung im offentlichen Raum erhielten (gegen ein Denkmal auf einem Friedhof gab es keine Einwa.nde!). Wir haben im Juni eine Erlaute­ rungstafel zum Denkmal anbringen konnen - nach unburokratischer Zustimmung des Grunflachenam­ tes. Aber der Standort ist fern von den Touristenstromen. Deshalb ist es urn so notwendiger, auch im Stadtzentrum Leipzigs einen Ort zu markieren, der in Verbindung rnit der von hier ausgehenden Ge­ schichte der deutschen Frauenbewegung steht. Haben Sie bitte Verstandnis fur den Rahmen unserer Veranstaltung: Sie ist moglich aufgrund der Forderung durch die Sachsische Staatskanzlei und der immer emeuten Bereitschaft von Frauen der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, fur das Notwendige zu sorgen- bekanntlich arbeiten wir alle ehren­ amtlich, lediglich im Louise-Otto-Peters-Archiv ist eine Frau auf ABM-Basis Hi.tig. Wer sich rnit Louise Otto-Peters beschaftigt, der kommt so oder so immer im Heute an, weil die Fragen, die sie aufgeworfen hat, aktuell und brisant geblieben sind. Auch wenn das gar nicht immer beabsichtigt ist, lasst es sich eigentlich nicht vermeiden, dass man aus der Geschichte immer wieder in der Gegenwart anlangt, und deshalb haben wir von Anfang an zu unserem Louise-Otto-Peters-Tag auch immer eine Vertreterin eingeladen, die in der Frauenpolitik unserer Stadt oder unseres Land ei­ ne gewisse RoUe spielt: heute die neugewahlte Vorsitzende des Landesfrauenrates Sachsen I Sachsi­ schen Frauenforums, Frau Ruth Stachorra, die Gleichstellungsbeauftragte Leipzigs war, als unsere lO

Gesellschaft entstand. V on ihr erhielten wir manchen Hinweis zu den Fordertopfen fur unsere Arbeit und zu den Moglichkeiten, die V orhaben unserer Gesellschaft bekanntzumachen. Wir haben uns sehr gefreut, dass mehr Voranmeldungen als sonst fur den diesjahrigen Louise-Otto­ Peters-Tag eingingen. Das spricht dafur, dass es uns gemeinsam gelingen kann, das Interesse fur Louise Otto-Peters und die Frauengeschichte in breiteren Kreisen zu wecken. Mogen dazu auch von diesem Louise-Otto-Peters-Tag wieder Impulse ausgehen! 11

GruBwort

Ruth Stachorra (Leipzig)

Sehr geehrte Mitglieder der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, sehr geehrte Anwesende, liebe Frau Ludwig, die Louise-Otto-Peters-Tage sind eine relativ junge, dafur aber urn so wichtigere Tradition hier in Leipzig. Es ist der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft zu danken, dass sie diesen Gedenktag - heute ist es der 8. - immer wieder rnit so hohem fachlichen Anspruch gestaltet. Nicht zuletzt deshalb erfreuen sich diese Veranstaltungen nationaler und intemationaler Beachtung. Ich rnochte Thnen die herzlichsten Gro.Be des Landesrrauenrates Sachsen uberbringen. Dieser Ver­ band vereinigt 3 3 V ereine und V erbande unter seinem Dach und will die Einheit in dieser Vielfalt

zum Ausdruck bring~n . Frauenpolitisches Engagement hat viele Facetten. Ein Netz zu· knupfen und diese Facetten in ein ge­ meinsames Ganzes fur die Frauen einzubringen- das ist unser Ziel. Die Fachkompetenz der Louise­ Otto-Peters-Gesellschaft haben wir schon mehrfach in unseren Rundbriefen genutzt. Insofem waren wir natilrlich sehr froh, wenn wir auch die Louise-Otto-Peters-Gesellschaft als unser Mitglied begrii.­ Ben konnten, denn nur, wer sich die Geschichte erschlieBt, kann die Zukunft gestalten. Die Forderungen von Louise Otto-Peters- nach dem Recht der Frauen auf Erwerbsarbeit oder bei­ spielsweise ihre Forderung an die Sachsische Regierung, bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht zu vergessen - haben heute wieder eine erstaurJiche Ak1:ualitat. Leider! Seit 1990 ist die Zahl der beiufstatigen Frauen im erwerbsfahigem Alter hier in Sachsen massiv zu­ rii.ckgegangen. Der Zahl nach sind das 879.300. Im April 1991 waren es noch rund 1,06 l\.1io. Der tiefste Stand wurde im April 1993 mit 800.000 berufstatigen Frauen verzeichnet. Das ist ein Ruck­ gang von 22%. 20% der Frauen sind arbeitslos gemeldet, das ist ein Anteil von 52,5 % an der ·Gesamtzahl der Ar­ beitslosen in Sachsen. Diese Entwicklung zeigt, dass in Zeiten, wo die Arbeit knapp wird, die Frauen die ersten sind, die arbeitslos werden, und offenbar auch die letzten, die wieder Arbeit bekommen. Doch in den alten Bundeslandern boomt inzwischen die Wirtschaft. Der Arbeitsmarkt bei verschie­ denen Berufen ist leergefegt. Anstatt aber nun den Frauen bessere Moglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Berufzu bieten, urn ihre gute Ausbildung wieder nutzbar zu machen, reden alle aus­ schlieBiich von Greencards, einem notwendigen Einwanderungsgesetz u. a. Im Gegenteil, die Kindertageseinrichtungen sollten fur das kommende Jahr hier in Sachsen derart fi­ nanziell beschnitten werden, dass gestiegene Elternbeitrage und verkiirzte Offnungszeiten den Fami­ lien kaum noch die Moglichkeit eingeraumt hatten, dass beide Eltern berufstatig sein konnen. Erfreulich war ein starkes Bundnis der Gewerkschaften, der Familienverbande und vieler Mitglieds­ vereinigungen unseres Dachverbandes sowie der Oppositionsparteien gegen die Haushaltskilrzungen. 12

Ein Aktionstag und 160.000 Unterschriften zwangen zur Riicknahrne der Verschlechterungen fur die Kinderbetreuung. Ein gutes Beispiel filr die enorme Wirkung eines Aktionsbiindnisses! Ein positiver Schritt in die richtige Richtung zur Verbesserung der Vereinbarkeit van Beruf und Familie ist der zur Zeit diskutierte Gesetzentwurf, der ein Recht auf Teilzeitarbeit vorsieht. Es konnten durch die Teilzeitarbeit, die van Frauen besonders wahrend der Erziehung der Kinder zu DDR-Zeiten immer gewiinscht wurde und auch heute noch wird, mehr Menschen in den Arbeitspro­ zess integriert werden. Verbunden mit dem frauenpolitischen Aspekt der Rentenreform, der bei Teilzeitarbeit die Aufstok­ kung der Rente van Erziehenden wahrend der ersten 10 Lebensjahre eines Kindes urn 50% vorsieht, konnten diese Regelungen dazu fuhren, class Frauen oder Manner ihre BerufsHitigkeit nur kurze Zeit wegen der Geburt eines Kindes unterbrechen. Das hatte den Vorteil, class es ·keine ,Wiederein­ stiegsproblematik" gibt, weil die Erziehenden ihre Qualifikation bei .kurzen Pausen nicht verlieren. Den Erziehenden bliebe andererseits die Freiheit, durch verkiirzte Arbeitszeit mehr Zeit filr die Fami­ lie haben zu konnen, was sich inzwischen auch viele Manner wiinschen, ohne dafilr im Alter mit Niedrigstrenten bestraft zu werden. Voraussetzung hierfilr sind aber eben nicht nur das Recht auf Teilzeitarbeit und verbesserte Renten­ anspriiche, sondern in erster Linie eine qualitativ gute und den Arbeitszeiten angepasste Kinderbe­ treuung. Der heutige Abend ist der Mitbegriinderin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, Henriette Goldschrnidt, einer Mitstreiterin van Louise-Otto-Peters gewidmet, deren Geburtstag sich gestern zum 175. Male jahrte. Henriette Goldschrnidt ist bekannt als die Begriinderin van Volkskindergarten und eines Kindergartnerinnenseminars. Im Laufe des Abends werden wir also noch mehr iiber diese Thematik erfahren. Da der Louise-Otto-Peters-Tag immer in der Tradition van Chancengleichheit und Frauenrechten steht, mochte ich noch auf die neueste Entwicklung, das Gender Mainstreaming; eingehen. Gender Mainstreaming meint eine Strategie, die Anliegen und Erfahrungen von Frauen ebenso wie die van Mannern in die Planung, Durchfuhrung, Uberwachung und Auswertung politischer Ma/3nahrnen selbstverstandlich einbezieht. Die Idee dazu wurde bereits 1985 auf der Weltfrauenkonferenz in Nairobi geboren. Die Initialziin­ dung fur die Umsetzung dieser Politstrategie ging jedoch erst 10 Jahre spater van der Pekinger Weltfrauenkonferenz aus. Mit der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages besteht nunmehr auch eine gesetzliche Verpflichtung filr die Mitgliedsstaaten zur Umsetzung des Gender Mainstreaming. Da leider nach wie vor meist nur das interessiert, wo finanzielle Mittel zu bekommen sind, mochte ich noch auf eine geschickte Koppelung van Fordergeldern der EU an Geschlechtergerechtigkeit hinweisen. Das Gender Mainstreaming wird dadurch, weil an Finanzen gekoppelt, zu einer realen Strategie fur die Chancengleichheit auch hier in Deutschland. 13

Das Neue an Gender Mainstreaming ist, dass es Top - Down funktioniert. Alle Mal3nahmen sollen bereits bei der Planung beziiglich ihrer (unterschiedlichen) Auswirk:ungen auf Frauen und Manner untersucht werden. Damit sind die einzelnen Ressorts aller Verwaltungsebenen gehalten, diese Stra­ tegie zu beachten. Die tatsachliche Umsetzung ist noch in den Anfangen. Dieser gleichstellungspoliti­ sche Check - verbunden mit einer routinemal3igen Bewertung geschlechtstypischer Auswirk:ungen von Mal3nahmen - kann und muss von uns Frauen genutzt werden, urn in bezug auf die Verwirkli­ chung unserer Rechte ein gutes Stuck voranzukommen.2 In diesem Sinne wilnsche ich Ihnen allen interessante Tage- ganz im Geiste von Louise-Otto-Peters­ hier in Leipzig.

2 zur Problematisienmg des Gender Mainstreaming s. Beitrag Kuhrig in diesem Band S. 103f; U. Schlegel 14

Zur Grtindung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins vor 13 5 J ahren in Leipzig. Annaherung an ein Erbe

Dr. Susanne Schotz (Fuchshain)

Vom 15. bis 18. Oktober 1865 fand die erste gesamtdeutsche Frauenkonferenz in Leipzig statt, die zur Grtindung der ersten nationalen Frauenorganisation, des Allgemeinen deutschen Frauenvereins 3 (AdF) , fuhrte - ein Geschichtsereignis von wahrlich nationaler Bedeutung, markiert es doch den Beginn der organisierten btirgerlichen Frauenbewegung Deutschlands. Der Deutsche Staatsbi.irgerinnen-Verband, der die Nachfolge des AdF in den 1920er Jahren antrat, ehrte die 135jahrige Wiederkehr dieses Ereignisses rnit einern Workshop irn Oktober 2000 in Berlin. In Leipzig fanden sich am 15 . Oktober 2000 zu historischer Stunde Mitglieder und Symphatisanten der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft an jenem Ort ein, an dem die Vorversammlung jener ersten deutschen Frauenkonferenz tagte- vor dem Gebaude RitterstraBe 12, wo frtiher die alte Buchhand­ lerborse stand und sich heute das Gastehaus der UniversiHit Leipzig befindet. Leider war es trotz vielfaltiger Bemtihungen nicht moglich, dort, wie geplant, eine Erinnerungstafel zu enthtillen, ist doch der dazu notwendige Entscheidungs- und Genehmigungsprozess von Seiten der Universitatsleitung bisher nicht abgeschlossen. Als Vorstandsmitglied der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft wende ich mich ganz bewusst der Grtin­ dung des AdF vor 135 Jahren in Leipzig zu, weil mir scheint, classes in der Leipziger Offentlichkeit an Aufklarung iiber dieses Ereignis von nicht einfach nur lokaler oder regionaler, sondem nationaler Bedeutung fehlt. Nattirlich geht es dabei auch urn die kritische Wtirdigung des AdF, der das wich­ tigste frauenpolitische Projekt von Louise Otto-Peters war. Diese trug nicht nur zu seiner Grtindung maBgeblich bei, sondern stand ihm auch fast 30 Jahre lang vor und hatte damit ausgiebig Gelegen­ heit, die konzeptionelle Ausfonnung des Vereins zu beeintlussen und voranzutreiben. Dem genannten Anliegen gemaB soll zunachst die Grtindungsgeschichte des AdF rekapituliert wer­ den, wie sie sich aus der Durchsicht verschiedener Geschichtsdarstellungen, nicht zuletzt von Betei­ ligten selbst, so von Louise Otto-Peters, Hauptmann a. D. Kom und Robert RoBler-Mtihlfeld, ergibt. Hinzugezogen wurden aber auch die in Leipzig vorhandenen Archivalien. Leider lieBen sich keine neuen, bisher unbekannten Dokumente zur Grtindungsgeschichte finden, die zur Beanhvortung offe­ ner Fragen dienlich waren.4 So vermag ich im wesentlichen nur an Bekanntes zu erinnem und dies zu interpretieren. Dern schlieBt sich irn zweiten Teil eine kritische Wtirdigung des frauenpolitischen Projektes AdF an, die nur mit dem Blick auf andere Frauenprojekte jener Zeit erfolgen kann.

3 Der Allgemeine deutsche Frauenverein findet sich in Quellen und Literatur in verschiedener Schreibung. Ich habe mich der Schreibung von Louise Otto-Peters angeschlossen. Im folgenden benutze ich fur den Allgemeinen deutschen Frauenverein auch die Abkiirzung , Ad.F", die mit zeitgenossischen Abkiirzungen nicht unbedingt tibereinstimmt. 4 lch danke in diesem Zusanm1enhang Stefanie Bietz, der ersten Praktikantin der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, fur ihre engagierte archivalische Suche in Leipzig und Berlin. 15

Zur Entstehungsgeschichte des Allgemeinen deutschen Frauenvereins Der AdF wurde auf der ersten gesamtdeutschen Frauenkonferenz, die vom 15. his 18. Oktober 1865 in Leipzig tagte, gegri.indet. Den Beschluss zur Einberufung dieser Frauenkonferenz rnit einem ersten Zusammentreffen am 15. Oktober hatte der Vorstand des Leipziger Frauenbildungsvereins am 21. August 1865 gefasst. (vgl. hierzu Otto-Peters 1890a: 5) Louise Otto-Peters bezeichnete deshalb riickblickend den Leipziger Frauenbildungsverein auch als ,Wiege" des AdF. (Otto-Peters 1890b: 27) Der Leipziger Frauenbildungsverein seinerseits war erst ein halbes Jahr fiiiher, am 24. Februar 1865, ins Leben gerufen worden.5 Die unrnittelbare Griindungsinitiative ging von einem Mann, von Haupt­ mann a. D. Kom aus, woriiber Louise Otto-Peters in ihrer Schrift ,Das erste Vierteljahrhundert des AdF ..." 1890 folgendes schrieb: ,Da kam rnir Anfang 1865 eine 'Allgemeine Frauen-Zeitung' zu, 'Organ fur weibliche Industrie, Frauen-Gerechtsarne und Frauen-Interessen, herausgegeben von P. A Korn, KapiUin a. D. in Leipzig' .und bald darauf erschien dieser Herr selbst .bei rnir und brachte Billets zu Vortragen, die er iiber die 'Frauenfrage' und iiber 'Volkserziehung' in Leipzig hielt. Ich leitete damals, bereits Witwe geworden, das Feuilleton der 'Mitteldeutschen Volkszeitung', besprach darin Korns Leistungen - doch rnit der notigen Reserve, denn, obwohl er sehr viel Treffendes und Wahres sagte, war doch so vieles Wunderliche und der Frauennatur Widerstrebende dabei, daB ich kein rechtes Vertrauen zu der Sache fassen konnte. Indes kam Herr Korn wiederholt zu rnir und drang in rnich: da ich schon so lange der Frauensache gedient, miisse ich ihrn wenigstens Gelegenheit verschaffen, seine Plane zur Griindung eines Frauenbildungsvereins vor intelligenten Frauen zu ent­ wickeln. Prof. RoBmaBler und seine Frau standen ihm auch zur Seite. Ich nannte ihm Frl. Ottilie von Steyber, die hochgeschatzte Vorsteherin einer Madchenschule und eines Pensionats und Frl. Auguste Schrnidt, Kollegin derselben ... So kam es denn dahin, daB si eh rnit uns Dreien no eh Frau Dr. Gold­ schrnidt, Frl. Voigt u. a. bei Prof. RoBmaBler zusammenfanden, Herrn Koms Vorschlage zur Griin­ dung eines Frauenbildungsvereins zu horen. Am 24. Februar fand daselbst eine weitere Zusammen­ kunft statt. Die von Kom vorgelegten Statuten wurden sehr. verandert und auf allseitigen Wunsch erklarte sich Frl. Auguste Schrnidt bereit, einen offentlichen Vortrag iiber die Frauenfrage und einen zu gtiindenden Frauenbildungsverein zu halten. Der Vortrag fand am 7. Marz in der Buchhandler­ borse unter groBem Andrang und Beifall statt." (Otto-Peters 1890a: 2) Am darauffolgenden Tag er­ klarten 35 Frauen ihren Beitritt zum Verein, nach einer ersten vom Verein veranstalteten Abendun­ terhaltung kamen viele weitere hinzu, im Juni 1865 zahlte der Verein schon mehr als 100 Mitglieder. Wie Punk.1: 1 und 2 seines Programms erkennen lassen, war der Vereinszweck des Leipziger Frau­ enbildungsvereins von Anfang an ein dreifacher: Erstens sollte der Verein jenen Frauen als Vereini­ gungspunkt dienen, die iiber Fragen der Frauenbildung und der ,Hebung der weiblichen Arbeits-

5 vgl. diese Angabe bei Otto-Peters 1890a: 1. Dagegen datieren Grit und Ralf Schulze die eigentiiche Vereinsgriin­ dung auf den 8. Marz 1865, da an diesem Tag die ersten 35 Frauen offiziell dem Verein beitraten und zugleich einen Vorstand wahlten. (s. dies. 1990: 28) 16

kraft" (Stadtarehiv Leipzig: Akten 1865: Bl. 5) gemeinsam beraten und handeln wollten - er sollte dernnach gleiehgesinnte, an der Beseitigung struktureller Ungleiehheit zwisehen den Geschlechtem interessierte biirgerliehe Frauen Leipzigs organisatorisch vernetzen. Zweitens wollte der Verein un­ gebildeteren Madehen und Frauen der unteren Volksklassen die Gelegenheit zu ,anregende[r] Unter­ haltung, Belehrung und Kunstgenu/3" versehaffen". (Otto-Peters 1890b: 26) Der Leipziger Frauen­ bildungsverein \var dernnach ganz bewusst fur Arbeiterinnen offen; er war ein klasseniibergreifendes Frauenprojekt, eines des so g. 5. Standes. Drittens sehlie/3lieh batten die Griinderinnen des Leipzig er Frauenbildungsvereins diesen bereits als ,Wiege" bzw. organisatorisehen Ausgangspunkt einer ge­ samtdeutsehen Frauenkonferenz konzipiert, hei/3t es doch in Punkt 2 seines Programms: ,Urn die unstreitig wiehtige soeiale Frage weiblieher Interessen ihrer Losung entgegenzufuhren, diirfte ein Ideenaustauseh mehrerer hervorragender weiblieher Personliehkeiten aus versehiedenen Stadten und Orten Deutsehlands in einer Fraueneonferenz gerathen sein. Sobald 25 Anmeldungen aus versehiede­ nen Stadten fur das Besuchen der Conferenz ·in einer beliebigen Stadt Deutschlands eingelaufen sind, wird der Tag des Zusammentreffens derselben anberaumt werden". (ebd.: 26) Eben diese Situation lag vor, als der Vorstand des Leipziger Frauen-Bildungsvereins am 21. August 1865 seinem Programm entspreehend die Einberufung der ersten deutsehen Frauenkonferenz fur den 15 . Oktober besehloss und ihre weitere Vorbereitung in die Hand nahm. Tatsachlich wurde die erste deutsche Frauenkonferenz ein beaehtlicher Erfolg. Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen Louise Otto-Peters zufolge aus Altenburg, Berlin, Braunschweig, Dresden, Diis­ seldorf, Debreczin, Gera, Halle, Jena, Karlsruhe, Koln, Lissa, Mann.heim, Magdeburg, Mtinchen, Prag, Quedlinburg, Weimar, Zwenkau, natiirlich aus Leipzig und weiteren (von ihr nicht genannten) Orten. (Otto-Peters 1890a: 7) Wahrend sich am ersten Abend ea. 130 Personen in den Saal der Buchhandlerborse drangten, nahmen an den Beratungen der folgenden Tage ea. 50 Personen teil. 6 Dieser Personenkreis der eigentliehen Pionierinnen der deutschen Frauenbewegung diskutierte tiber den zu griindenden gesamtdeutsehen Frauenverein, tiber dessen .Statuten, ·Programm und kiinftige Vorgehensweise und wahlte sehlieBlieh den Vereinsvorstand und -ausschuss. Die Versammlung, und das ist neben dem nationalen Anliegen ein weiteres Besonderes, his dahin in Deutschland nieht Dagewesenes, wurde vollig eigenstandig von Frauen veranstaltet und durehge­ fuhrt. Manner nahmen daran zwar teil, doch nur rnit beratender, nieht rnit besehlie/3ender Stimme. Louise Otto-Peters, die zunachst gehofft hatte, dass ihr alter Freund, der 1848er, Demokrat und Herausgeber des in Karlsruhe erseheinenden Deutsehen Woehenblattes, Ludwig Eekardt, die Ver­ sammlung wenigstens eroffuen wtirde, iibemahm sehlie/3lieh aueh diese Aufgabe, nachdem Eckardt auf ihre Bitte hin, die Versammlung zu eroffuen, lachelnd geantwortet hatte: ,Der Frauentag darf

6 Diese Zahlenangabe macht Herrad-Ulrike Bussemer in ihrer vorziig1ichen Darstellung zur Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgriindungszeit. (Bussemer 1985: 120). Philipp Anton Korn, selbst Teilnehmer an den Beratungen der ersten gesamtdeutschen Frauenkonferenz, erwiihnt dagegen in seinem veroffentlichten Bericht iiber die Vorversanmllung vom 15. Oktober 1865, dass der kleine Saal der Buchhandlerborse, der 300 Personen aufnelunen konnte, bereits eine halbe Stunde vor Eroffnung restlos gefiillt war. (Korn 1865: 3) 17 doch nicht mit einer Inkonsequenz beginnen und von einem Mann erofthet werden? Die Frauen mtis­ sen ihre Sache selbst fuhren, sonst ist sie von vornherein verloren". (Otto-Peters 1890a: 7) Den verabschiedeten Statuten zufolge gab sich der AdF das Ziel, ,fur die erhohte Bildung des weib­ lichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenste­ henden Hindernissen mit vereinten Kraften zu wirken". ( ebd.: 1Of) Dazu wurde j edes Vereinsmitglied verpflichtet, moglichst viele Lokalvereine mitbegrtinden zu helfen, die auflokaler Ebene im Sinne des Vereins aktiv werden sollten. (vgl. hierzu Stadtarchiv Leipzig: Ungezeichneter Bericht 1865) Im Programm des AdF heillt es zur Vereinspramisse in§ 1 unmissverstandlich: ,Wir erklaren nach dem Beschlul3 der ersten deutschen Frauenkonferenz: die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Gesellschaft sein soli, fur eine Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts, nehmen dagegen das Recht der Arbeit in Anspruch und halten es fur nothwendig, dal3 alle der weiblichen Arbeit im Wege stehenden Hindernisse entfemt werden." § 2 versuchte eine erste Prazisierung dieses Anspruchs: ,Wir.halten es fur ein unabweisbares Bedtirfnis, die weibliche Arbeit von den Fesseln des Vorurtheils ... zu befreien. Wir halten in dieser Hinsicht neben der Agitation durch Frauenbildungsvereine und die Presse, die Begrtindung von Produktiv-Associationen, welche den Frauen vorzugsweise empfohlen werden, die Errichtung von Industrie-Ausstellungen fur weibliche Arbeitserzeugnisse, die Grtindung von Industrieschulen fur Madchen, die Errichtung von Madchenherbergen, endlich ·aber auch die Pflege wissenschaftlicher Bildung fur geeignete Mittel, dem Ziele naher zu kommen." (Otto-Peters 1890a: 10) § 3 legte als grundsatzlichen Vereinszweck fest: ,Sich mit diesen Punkten eingehend zu beschaftigen und sie zu verwirldichen, sobald die notigen Mittel dazu vorhanden sind, ist der Zweck des A D. Frv." (ebd.) Zur Untersttitzung dieses Vorhabens sollten jahrlich sog. Frauentage, d. h. Mitgliederversammlun­ gen, an wechselnden Orten stattfinden und so in unterschiedlichen Gegenden Deutschlands fur das Vereinsanliegen werben. Als erster V ereinsort wurde Leipzig festgelegt, setzte si eh do eh auch der erste Vorstand des AdF aus lauter Mitgliedem des Leipziger Frauenbildungsvereins zusammen. 7 Die­ ser verstand sich fortan als Lokalverein des AdF. Wie schon bei der Frauenkonferenz selbst sollten Manner Z\var als Ehrenmitglieder in den Verein aufgenommen werden konnen, aber nur beratende Stimmen haben dtirfen. Dieser zweite Punkt des Statuts ist sttirmisch diskutiert worden und fuhrte dazu, dass einige Frauen dem Verein zunachst femblieben, wie z. B. Henriette Goldschrnidt, die es ablehnte, einem Verein beizutreten, in dem ihr Gatte nicht gleichberechtigtes Mitglied sein dtirfe. 8 Der Allgemeine deutsche Frauenverein, dies kann zunachst festgehalten werden, verstand sich dem­ nach als ein entstehendes nationales Netzwerk von Frauenvereinen zur Hebung der Bildung und Verbesserung der Enverbschancen von Frauen; er verstand sich dartiber hinaus als ein Selbsthilfepro-

7 Das blieb noch viele Jahre lang so. (s. auch Bussemer 1985: 130) Dem ersten Vorstand des AdF gehOrten an: Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt, Ottilie van Steyber, Alwine Winter, Anna Voigt. (vgl. hierzu Otto-Peters i890a: 11) 8 Diese Episode berichtet Anna Plothow 1910 nach einem Gesprach nut Henriette Goldschnlidt. (vgl. Plothow 1910: 49f) Henriette Goldschmidt trat nach eigener Angabe ein Jahr spater dem AdF bei. 18 jekt, in welchem Frauen im eigenen Interesse bzw. Interesse des eigenen Geschlechts aktiv werden sollten. Dberblicken wir die an der Geburt dieses Projektes Beteiligten, wird ein ganz bestimmtes politisch­ soziales Milieu deutlich, jedenfalls im Hinblick auf jene Personen, deren Namen in der Presse als Namen von Teilnehmenden an der Konferenz oder von gewahlten Vorstands- und Ausschussmitglie­ dern genannt wurden. Beginnen wir mit den genannten Frauen: Da ist erstens Louise Otto-Peters, entschiedene Demokratin, ausgewiesene Frauenrechtlerin seit dem Vormarz, prominente 1848erin und seit dieser Zeit engagierte Verfechterin des Selbsthilfeprinzips.9 Auch Henriette Goldschmidt, die zwar zunachst dem Verein fernblieb, aber an der Frauenkonferenz teilnahm, ist wesentlich durch das Revolutionserlebnis von 1848/49 gepragt worden.10 Dann fallt ein Kreis von Lehrerinnen an hoheren Tochterschulen auf: so Ottilie von Steyber, Schul­ vorsteherin, Auguste Schmidt, damals Lehrerin am Steyberschen Lehrinstitut, ihre Schwestern Anna und Clara, die ganz sicher hier wie auch im Leipziger Frauenbildungsverein mit von der Partie waren, aber z. B. auch Anna Voigt. Diese Frauen wussten als Lehrerinnen sehr genau, was sie meinten und was sie wollten, wenn sie sich fur eine Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsmoglichkeiten fur Madchen einsetzten. Weiter finden sich im Kreis der Griinderinnen bekannte Schriftstellerinnen, die sich seit langerem mit Frauenthemen befasst hatten. Zu nennen sind hier Anna Lohn aus Dresden, Jenny Hirsch aus Berlin, Rosalie Schonwasser aus Dusseldorf, Louise Buchner aus Darmstadt, Adele Volckhausen aus Ham­ burg, Elise Polko aus Minden, die freilich letztlich die Mitgliedschaft ablehnte. 11 Unmittelbar anwe­ send bei ihrer Wahl in den Ausschuss des AdF waren von den Genannten wohl nur Jenny Hirsch und Rosalie Schonwasser; bis auf Elise Polko engagierten sich jedoch alle anderen Genannten schon in den nachsten Monaten in ihren Heimatorten fur den V erein, wenn auch mit wechselndem Erfolg. 12 Schlief3lich wurden in den Ausschuss des AdF Frauen gewahlt, die mit narnhaften Demokraten ver­ heiratet oder verwandt waren: so die bereits genannte Adele Volckhausen, · deren Mann ein Hambur­ ger Demokrat war, so Louise Buchner, die Schwester des Demokraten Ludwig Buchner (und auch von Georg Buchner), so die Ehefrau von Ludwig Eckardt. Mit der Ehefrau Leberecht Uhlichs aus Magdeburg, des Begriinders der Lichtfreunde, einer freireligiosen Gemeinde und obendrein eines Mitglieds derFrankfurter Nationalversammlung und des preuBischen Parlaments von 1848, erweiter­ te sich dieser Kreis urn die Reprasentation religioser Erneuerung und Toleranz. 13

9 Erwahnt sei hier lediglich die von ihr 1849 begriindete , Frauen-Zeitung", in deren erster Nummer vom 21. April sie die Pramisse pragte: , Mitten in den grollen Umwalzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen. Wohlauf denn, meine Schwestem, vereinigt Euch mit mir .. ." 10 vgl. das Portrat von Kemp 1995: 120 11 vgl. hierzu die von Louise Otto-Peters genannten Namen in: Otto-Peters 1890a: 1lf sowie die veroffentlichten Na­ men von Vorstands- und Ausschussmitgliedern in: Stadtarchiv: Ungezeichneter Bericht 1865; zur Haltung E1ise Pol­ kos vgl. Bussemer 1985: 127 12 vgl. Bussemer 1985: 141ff; Jenny Hirsch wurde wenig spater zugleich Mitglied und langjahrige Sekretarin des Ber­ liner Lette-Vereins. 13 ebd.: 79-93 ; vgl. auch die Portrats zu Luise Buchner und zu Leberecht Uhlich in der Deutschen Biographischen En- 19

Unter den teilnehmenden Mannem finden wir ein fast identisches politisch-soziales Umfeld: die ,alten" demokratischen 1848er mit dem geburtigen Wiener Ludwig Eckardt, 1848 aus Wien, 1849 aus Dresden ausgewiesen14, aber auch mit den Leipzigem Karl Albreche5 und Adolf Rol3maf3ler 16, letzterer zugleich aktiver Deutschkatholik. Zu den vertretenen Verfechtem der Demokratie zahlte auch der Redakteur der demokratischen ,Mitteldeutschen Volks-Zeitung", Robert Rol3ler-Muhlfeld, der in der Tagespresse von der AdF-Gri.indung berichtete, und vermutlich auch schon in deren Vor­ feld mit entsprechenden Artikeln auf das bevorstehende Ereignis, durchaus parteilich, hingewiesen hat. Daneben sehen wir Manner, die sich mit der Frauenfrage bereits offentlich in der einen oder anderen Weise auseinandergesetzt hatten, wie Hauptmann a. D. Korn, Justizrat Heinrichs aus Lissa, der an einem Buch ii.ber die Frauenfrage arbeitete (vgl. Bussemer 1985: 121) und, zumindest am ersten 17 Abend der Frauenkonferenz anwesend, August Bebel . Dieser hatte nur wenige Wochen zuvor als Vorsitzender des Leipziger Arbeiterbildungsvereins.gemeinsam rnit Adolf Rol3mal3ler, Ludwig Eck­ ardt und dem Nationalliberalen Moritz Muller beim 3. Vereinstag deutscher Arbeitervereine in Stutt­ gart eine Resolution zugunsten der Forderung weiblicher Arbeitskrafte, der Griindung von Arbeite­ rinnenvereinen und der Gleichberechtigung dieser verabschiedet. (Twellmann 1993: 34-40) Moritz Muller, an der personlichen Teilnahme an der Frauenkonferenz verhindert, sandte dieser eine Grul3a­ dresse.18 Dagegen war als Vorstandsmitglied des Leipziger Arbeiterbildungsvereins Moritz Ger­ mann19 anwesend. Wir finden in diesem mannlichen Personenkreis dernnach mehrheitlich Vertreter der kleinburgerlichen Demokratie, einer politischen Minderheit irn Deutschland der 1860er Jahre - einer Minderheit frei­ lich, die rnit dem Aufschwung der nationalen Bewegung in jener Zeit kurzzeitig noch einmal an Fahrt gewann und sich fur die Bildung eines demokratisch-republikanischen Nationalstaates als Alternative zur Bismarckschen Reichseinigung einsetzte. Diese Manner wie auch die Vertreter der freireligiosen Bewegungen traten riickhaltlos fur die Emanzipation der Frauen bis hin zur vollen politischen Gleichberechtigung ein (so Bussemer 1985 : 79-93) was sie von allen anderen politischen Bewegun­ gen aul3erhalb der Arbeiterbewegung unterschied. Natiirlich soU nicht unerwahnt bleiben, dass die Sanger des Leipziger Arbeiterbildungsvereins zur Eroffnung der Frauenkonferenz einen Gesangesgrul3 entboten, wie uberhaupt der Leipziger Arbei- zyklopadie, Bd. 2, Miinchen 1995 sowie Bd. 10, Miinchen 1999 14 vgl. sein Portrat ebd., Bd. 3, Miinchen 1996 sowie in der NDB, Bd. 4, Berlin 1959 15 vgl. das Portrat in der Deutschen Biographischen Enzyklopadie, Bd. 1, Miinchen 1994 16 vgl. die biographischen Hinweise bei Zwahr 1978: 289-309, aber auch bei Bussemer 1985: 87 17 Bebel erwahnt in seiner Autobiographie, als Gast den Verhandlungen beigewohnt zu haben. (vgl. ders.: Aus mei­ nem Leben: 79) Namentlich erwahnt wird er jedoch in keiner Presseveroffentlichung. Moglicherweise erlebte er die Vorversammlung der AdF-Griindung als Sanger des Arbeiterbildungsvereins. Zu diesem Resultat kommen Grit und Ralf Schulze. (Schulze 1990: 62) 18 so Bussemer 1985: 121. Moritz Muller gilt als Griinder des vermutlich ersten deutschen Frauenbildungsvereins der 1860er Jahre in Pforzheim, gegriindet Anfang Februar 1865. (vgl. eine Korrespondenz aus Pforzheim vom 10. Februar 1865 in der Allgemeinen deutschen Arbeiterzeitung Nr. 113: 574; so angegeben in Schulze 1990: Anl. 10) 19 Dies arbeiten Grit und Ralf Schulze heraus. (vgl. Schulze 1990: insbes. 39) 20 terbildungsverein dem Leipziger Frauenbildungsverein bereits vor der AdF-Grtindung sein Vereins­ lokal zur Verfugung gestellt hatte und dies auch noch einige J ahre lang tat. 20 Louise Otto-Peters beschrieb den inhaltlichen Kern dieser Verbindung auf der 3. Generalversamm­ lung des AdF 1869 in Kassel folgenderma13en: ,Als ich unter das Programm dieser Versammlung das Wort schreiben konnte: im Saale des Arbeiterbildungsvereins, da ward mir schon damit eine beson­ dere Freude, ich nahm das Wort als ein Zeichen guter Vorbedeutung! Wir stellen uns auf die Seite der Arbeit und der Arbeiter, wir proklamieren die Heiligkeit der Arbeit und der Bildung auch fur die Frau und wir diirfen hoffen, dal3 diejenigen Arbeiter, in deren Lokal wir tagen, in uns keine gefahrli­ chen Konkurrentinnen sehen, sondem Schwestem, die gerade so wie sie ein Recht haben, an die Verbesserung ihrer Lage zu denken, Hand in Hand rnit ihnen ... " (Boetcher-Joeres1983: 199) Fragt man danach, warum die Initiative zur Grtindung .desAllgemeinen deutschen Frauenvereins ge­ rade von Leipzig ausging, warum gerade hier die erste gesamtdeutsche Frauenkonferenz stattfand, ist es m. E. nicht darnit getan, Louise Otto-P.eters zu zitieren, die salomonisch formulierte ,;Es wird in Leipzig so Manches frtiher und schneller moglich gemacht wie in anderen Stadten, und dieser Ela­ sticitat seiner Bewohner verdankt vielleicht auch der AdF seine Entstehung." (Bussemer 1985: 119) Denn die Situation des Leipziger Frauenbildungsvereins als Lokalverein des AdF war in der Stadt mindestens zwiespaltig. So unterstiitzte der Rat der Stadt Leipzig den Verein im ersten Jahrzehnt seines Bestehens iiberhaupt nicht. Wahrend er anderen Vereinen unentgeltlich Lokale fur deren Ver­ anstaltungen zur Verfugung stellte und jahrliche Geldzuschiisse gewahrte, trafen entsprechende Ge­ suche des Frauenbildungsvereins stets auf obrigkeitliche Ablehnung. Das anderte sich erst, als Rechtsanwalt Winter, der Ehemann des AdF-Vorstandsrnitglieds Alwine Winter, Stadtrat wurde?1 V on einer obrigkeitlichen Forderung des Untemehmens und entsprechender ,Elasticitat" kann also in der Anfangsphase keine Rede sein. Wenn.letztlich von Leipzig die Initiative zum AdF ausging, dann liegt das m. E. an einer ganz spezifi­ schen, eben nur hier vorhandenen personellen Konstellation. Denn Hauptmann Korn hatte bekannt­ lich nicht nur in Leipzig Vortrage zur Frauenfrage ·und ZU'einer nationalen Frauenorganisation gehal­ ten. 22 Do eh nur in Leipzig fand er offensichtlich einen Personenkreis, der nicht nur ein lebhaftes In­ teresse an Fragen der Frauenbildung und des -erwerbs, sondem auch an einem nationalen Frauen­ netzwerk hatte. Allerdings in anderer Gestalt, als es sich Korn vorstellte - meinte er doch, eine solche Organisation nach Art der Freimaurer rnit verschiedenen Graden der Mitgliedschaft verbinden zu

20 vgL hierzu Otto-Peters 1890b: 26. Sie erwahnt, dass der Leipziger Frauenbildungsverein zu Michaelis 1865, also vor der AdF-Griindung, im Lokal des Leipziger Arbeiterbildungsvereins eine Sonntagsschule fiir konfirmierte Mad­ chen einrichtete. 21 Diesen Schluss legt die Auswertung verschiedener Bittgesuche des Vorstandes des Leipziger Frauenbildungsvereins an den Rat der Stadt Leipzig urn finanzielle Unterstiitzung bzw. die kostenlose Gewahrung stadtischer Raumlichkeiten nahe. (vgl. Stadtarchiv Leipzig: Akten) 22 Louise Otto-Peters erwahnt 1890, dass Kom im Winter 1864/65 auch in anderen Stadten- z. B. in Berlin- Vortrage tiber Frauen- und Volkserziehungsvereine gehalten babe. (vgL Otto-Peters 1890b: 27) 21 miissen, die schon rein auf3erlich an schmiickenden Sternen, Monden und Sonnen an Hals, Brust und Schultern ihrer Tragerinnen ablesbar sein sollten.23 Der in Leipzig bestehende, an einem gesamtnationalen Frauenprojekt interessierte Personenkreis ist un.t'Tiittelbar mit Louise Otto-Peters verbunden, die hier seit 1860 lebte und hier gemeinsam mit ihrem Mann an der demokratischen ,Mitteldeutschen Volks-Zeitung" arbeitete. Uber dieses Blatt existier­ ten Beziehungen zu anderen 1848ern, zur damit eng verbundenen Bildungsbewegung urn die Fro­ bels, zu freireligiosen Dissidenten: kurzum zu Mannern wie Rof3maf3ler und Albrecht. Aber auch zur entstehenden organisierten Arbeiterbewegung, vor allem zu ihrem im Arbeiterbildungsverein unter kleinbiirgerlich-demokratischem Einfluss stehenden Fliigel urn August Bebel. Bebel bekannte spater selbst, mit dem emanzipatorischen Bildungsgedanken 1861 uber die Mitteldeutsche Volks-Zeitung, deren Abonnent er war, in Verbindung gekommen zu sein. (vgl. Twellmann 1993: 37) Gemeinsam ist diesem Personenkreis die demokratisch-republikanische gesamtnationale Orientierung im Gegensatz zur Bismarckschen kleinpreuf3ischen Losung von ob en, aber auch, 'Wie bereits erwahnt, die weitestgehende Unterstiitzung emanzipatorischer Bestrebungen von Arbeitern und Frauen. Diese Unterstiitzung wurde immer als Unterstutzung zur Teilhabe an weitergehender Bildung gedacht, die man als Hilfe zur Selbsthilfe auffasste. Louise Otto-Peters wares andererseits aber auch, die bereits einen reinen Frauenkreis urn sich herum aufgebaut hatte, als Korn nach Leipzig kam. Clara Claus-Schmidt sprach 1895 von diesem Kreis als vom sog. ,Unschuldsbund", der jeweils donnerstags tagte und ausschlief3lich aus Lehrerinnen, Thea­ terkiinstlerinnen, Schriftstellerinnen und anderen interessierten und interessanten Frauen bestand. (vgl. Boetcher-Jores 1983: 245ft) Hier existierte also schon in einem lockeren personellen Netz Kommunikation zu Frauenthemen unter Frauen.24 Daneben war in Leipzig bereits eine Initiative zur Griindung eines ,Vereins fur Volkserziehung" er­ folgt, zu dessen vorberatendem Vorstand Louise Otto-Peters, Henriette Goldschmidt und zwei wei­ tere Frauen nebenangesehenen Professoren, Schulmannern, Doktoren gehorten. (Otto-Peters 1890b: 27) Dieser Verein kamjedoch damals nicht zustande, ohne class die.- Griinde hierzu bekannt waren. Moglichenveise wares gerade dieses Negativerlebnis, das Louise Otto-Peters schlief3lich gemeinsam mit den langst vorhandenen gleichgesinnten Frauen eigenstandig handeln lief3. Sicher forderten auch Korns bestandige Aktivitaten in Leipzig die Frauen zur eigenen Positionierung heraus. So setzte ein rascher Prozess der Selbstverstandigung ein, der schlief3lich in die Griindung des Leipziger Frauen­ bildungsvereins einmiindete. Dieser aber verfolgte, wie bereits skizziert, von Anfang an ein klares

23 vgl. hierzu u. a. das Leipziger Tageblatt Nr. 284 vom 11. Oktober 1865: 1. Dort wurde in einem nicht gezeichn.eten Artikel mit der Uberschrift ,Die deutsche Frauen-Conferenz" das Tagungsprogramrn vorgestellt und in Bezug auf die von Korn erarbeiteten Vorlagen fiir die Frauenkonferenz ,Tnteressantes, selbst Pikantes" erwartet. Der Kommentar zu den von Kom vorgeschlagenen Graden und Symbolen der Mitgliedschaft lautete treffsicher: ,Die Erhabenheit dieses Gedankens konnte durch jeden Zusatz nur beeintriichtigt werden. Der Frauentag aber moge durch Annahme oder Verwerfung dieser Kom'schen Vorschliige zeigen, ob es ihm mit seinen Pliinen emst ist oder nicht." 2 ~ Wie dieses Netz genau aussah, ob es moglichenveise Verbindungen zu Vereinen in der Stadt gab, denen Frauen angehOrten, versucht Beate Klemm neben anderen Fragen im Rahmen ihrer einschliigigen Dissertation zur Geschichte der Leipziger Frauenbewegung zu analysieren. 22 gesamtdeutsches Vorgehen.25 Er konnte iiber Louise Otto-Peters und ihren Freundes- und Bekann­ 26 tenkreis offenbar aufvielfaltige Kontakte und Beziehungen in ganz (?) Deutschlands zuriickgreifen , so dass bis zum 21. August 1865 die laut Statut des Frauenbildungsvereins erforderlichen 25 Zusa­ gen zu einer gesamtdeutschen Frauenkonferenz vorlagen. Nun konnte der Beschluss zu ihrer Einbe­ rufung am 15 . Oktober gefasst werden, und erst jetzt wurden Einladungsschreiben an weitere Frauen versandt - moglicherweise an solche, von deren Aktivitaten man zwar aus der Presse wusste, die man aber personlich noch nicht kannte, wie Lina Morgenstem in Berlin.

Der Allgemeine deutsche Frauenverein im Vergleich zu anderen Frauenprojekten Der AdF war im Unterschied zum kurze Zeit spater in Berlin gegriindeten ,Verein zur Forderung der Erwerbsfahigkeit des weiblichen Geschlechts", dem Lette-Verein, kein von prominenten mannlichen Vertretem des Bildungs- und anderen Biirgertums ins Leben gerufenes Projekt.27 Er entstand auch nicht wie der Badische Frauenverein von 1859 aufinitiative einer Fiirstin, wie dort der GroBherzogin Louise von Baden. ( ebd.: 165) Er war ein Selbsthilfeprojekt von Frauen aus dem unteren bis rnittle­ ren Biirgertum fur Frauen. Der emanzipatorische Anspruch des AdF reichte allein schon durch das Prinzip der Selbsthilfe iiber das Ziel .des .Lette-Vereins hinaus?8 Auch wenn dies in Statuten und. Programm allenfalls anklingt, ging es zurnindest einem Teil der Griinderinnen urn mehr als nur die Losung der sog. Brotfi·age, d. h. die Forderung von Bildungs- und Arbeitsmoglichkeiten fur biirgerliche Frauen, wie dies der Lette­ Verein beabsichtigte. Fur Louise Otto-Peters u. a. wares klar, dass neue Berufschancen den Frauen nicht nur personliche Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Anerkennung einbringen wiirden, sondem dass auch die veranderte Stellung der Frauen im Erwerbsleben vielfaltige Veranderungen nach sich ziehen miisste- in den biirgerlichen Gesetzen, den Moralvorstellungen, Konventionen usw. Dieser Anspruch schloss fur Louise Otto-Peters die Arbeiterinnen und Dienstmadchen ein; auch die­ se sollten an Bildung als allgemeiner Menschenbildung teilhaben, urn niitzliches, fur das Fortkommen

25 Auch Moritz Muller, der Begriinder des Anfang Februar 1865 in Pforzheim entstandenen Frauenbildungsvereins, hielt es :fiir wichtig, dass sich ein Netz von Frauenvereinen uber ganz Deutschland ausbreite und eine Organisation unter denselben entstehe, urn mit Nachdruck :fiir die Verbesserung der Stellung der Frauen zu wirken. (vgl. dessen Positionen in einer Korrespondenz aus Pforzheim vom 10. Februar 1865 in der Allgemeinen deutschen Arbeiterzei­ tung Nr. 113 : 574- so dokumentiert in: Schulze 1990: Anlage 10) 26 Die Untersuchung dieses Netzwerkes in seinen verschiedenen zeitlichen, sozialen und politisch-ideologischen Schichten und Verastelungen ist weitgehend ein Forschungsdesiderat. 27 Adolf Lette, der Vorsitzende des ,Preufiischen Centralvereins :fiir das Wohl der arbeitenden Klassen", hatte die Vorbereitung des Griindungsaufrufs :fiir den beabsichtigten ,Verein zur Forderung der Erwerbsfahigkeit des weibli­ chen Geschlechts" zunachst in die Hand genommen. Zu dessen Unterzeichnem zahlten im Februar 1866 die Vor­ standsmitglieder zahlreicher liberaler Berliner Organisationen, wie z. B. Franz von Holtzendorff, der Griinder des , Berliner Volkskiichenvereins" oder der Prediger Wilhelm Muller vom , Protestantenverein". Vertreten waren aber auch AngehOrige des Berliner Wirtschaftsbiirgertums wie L. Schemionek vom Altestengremium der Berliner Kauf­ mannschaft, Angeht:irige des Justizapparates und der staatlichen und kommunalen Verwaltung. (vgl. hierzu Bussemer 1985: 102) 28 Jenny Hirsch, die langjahrige Vereinssekretarin des Lette-Vereins, erklarte hierzu: , Die sog. Frauenfrage ist fur uns und :fiir die Mehrzahl ihrer einsichtsvollsten Vertreter vorlaufig eine wirthschaftliche und erziehliche. Sie dreht sich urn die Berechtigung und Befahigung der Frau zu einer gewerblichen Tatigkeit und lafit politische Diskussionen und Forderungen ganzlich aus dem Spiele .. ." (so zitiert bei Bussemer 1985: 106) 23 verwertbares Wissen zu erwerben, aber auch zur Vervollkommnung ihrer Menschenwiirde durch die Teilhabe an Kultur und Kunst und damit an ethischer und asthetischer Bildung. Bildung war gleich­ sam als ein Band zwischen Frauen unterschiedlicher Herkunft gedacht, das auch der Dberbriickung oder doch Milderung sozialer Unterschiede dienen sollte. Louise Otto-Peters sprach 1890 vom ,Schwestemband" bzw. Prinzip der Gleichheit aller Mitglieder. Dagegen zielte der Lette-Verein zu­ nachst vorrangig auf die Verbesserung der Arbeitsmoglichkeiten fur kleinburgerliche und burgerliche Frauen ab und war insofern ein Projekt liberal er burgerlicher Manner fur burgerliche Frauen. ( ebd.: 101-115, bes. 107) Der AdF unterschied sich m. E. grundsatzlich weniger in seinen in die Tat umgesetzten Projekten vom Lette-Verein als in der Entfaltung einer ganz spezifischen F rauenkultur, die durchaus als Pen­ dant zur mannlichen Vereinskultur gesehen werden kann. So kam es beispielsweise sowohl durch den AdF als auch durch den Lette-Verein zur Herausgabe von Vereinsblattern und zur Griindung von Sonntags- und Fortbildungsschulen, von ·Koch- und Speiseanstalten oder auch Stellenverrnitt­ lungsburos fur Madchen und Frauen, wobei allerdings der Lette-Verein durch seinen einflussreichen Forderer- und Mitgliedskreis die finanziell grol3eren Moglichkeiten besal3. Beide Vereine richteten auch wiederholt Petitionen zur Verbesserung der Bildungs- und Erwerbschancen von Frauen und Madchen an die Landes- bzw. Reichsregierungen?9 Was viele Lokalvereine des AdF jedoch lange Zeit vom Lette-Verein und anderen ahnlichen Verei­ nen unterschied, das war die breite Ubernahme des ,Leipziger Musters" - eines ganz spezifischen, auf den Generalversammlungen des AdF und in den ,Neuen Bahnen" immer wieder ausfuhrlich dar­ gestellten inneren Vereinslebens, narnlich der sog. Abendunterhaltungen von Frauen fur Frauen, im­ merhin 24 im Jahr. Hier war neben dem Bildungsanliegen die Vereinigung Zweck, nicht Mittel der Veranstaltung. So bestanden alle Abendveranstaltungen aus einem Vortrag (wobei literarische, bio­ graphische, kunst- und kulturgeschichtliche Themen und Fragen der Frauenbewegung uberwogen) sowie aus deklamatorischen und musikalischen Darbietungen, die haufig von namhaften Kunstlerin­ nen vorgetragen wurden. Zu den Stiftungsfesten schloss sich ein gemeinsames Souper mit noch lan­ gem Beisammensein an, was Louise Otto-Peters von ,neuen Kulturmomenten" sprechen liel3. In der Tat: Bis dahin war die festlich gedeckte lange Tafel fur 120 und mehr Personen nur im mannlichen Vereinsleben Leipzigs bekannt. Louise Otto-Peters meinte dazu 1890: ,Vor 25 Jahren hat man gelachelt uber einen Verein, in wel­ chem oft vor mehreren hundert Frauen aus dem Volke Kunstlerinnen ersten Ranges auftraten, erste Lehrerinnen usw. popular sprachen uber lnteressen der Zeit, der Kunst und Wissenschaft, man hat den Kopf geschuttelt, wenn ein paar hundert Frauen der verschiedensten Stande am Stiftungsfest 'ohne Herren' zusammen tafelten und sogar tanzten- jetzt ist man das alles gewohnt." (Otto-Peters 1890b: 29)

29 vgl. zu den Vereinsaktivitaten des AdF den von Louise Otto-Peters gegebenen Dberblick in: Otto-Peters 1890a, zu den Aktivitaten des Lette-Vereins die Angaben bei Bussemer 1985: bes. llOff 24

Dieser vom Leipziger Frauenbildungsverein ins Leben gerufene Typus des Vereinslebens entsprach vor allem den Interessen und Bediirfnissen jener Frauen, denen andere Freizeitangebote nicht zu­ ganglich waren - sei es, weil ihnen dazu die materiellen Mittel fehlten, oder weil sie als alleinlebende Frauen kaum gesellige Kontakte pflegen konnten, ohne in Verruf zu kommen. Er entsprach damit den sozialen und kulturellen Bediirfnissen von Arbeiterinnen und Unterschichtfrauen, aber auch von Witwen und ledigen Frauen aus mittleren Gesellschaftsschichten. Er widerspiegelt insofern den Fa­ milienstand wie die klasseniibergreifende frauenemanzipatorische Zielsetzung eines Grof3teils der Vereinsgriinderinnen. Damit mochte ich abschlief3end auf Grenzen in der Wirksamkeit des AdF verweisen. Die skizzierte sozialokonomische Basis wie das geistig-ideologische Umfeld des Vereins legen nahe, dass der AdF, 30 jedenfalls seine Lokalvereine Leipziger Typs , keinesfalls mit der Unterstiitzung von stadtischen bzw. staatlichen Behorden oder des wohlhabenden Biirgertums rechnen konnten, zu grof3 waren hier die sozialokonomischen, politisch-ideologischen und mentalen Differenzen. Vereine des Leipziger Typs konnten sich allenfalls eine begrenzte, aber von Jahr zu Jahr dennoch unsichere Unterstiitzung im Laufe der Zeit erkampfen, wie das der Leipziger Frauenbildungsverein tat. Vereine des Leipziger Typs erreichten allerdings auch jene Frauen kaum oder nur teilweise, die in gemeinsamen Projekten mit aufgeschlossenen, an Veranderungen interessierten Mannern eine Chan­ ce zur Verbesserung der Berufschancen von Frauen, vornehmlich von biirgerlichen Frauen sahen. Solchen Frauen war die Orientierung des AdF zu eng; sie erstrebten deshalb eher oder eben auch Biindnisse mit einflussreichen biirgerlichen Mannern. Der von Henriette Goldschmidt mitbegriindete ,Verein fur Familien- und Volkserziehung" von 1871 ist hierfur ein Beispiel, doch blieb Henriette Goldschmidt selbst weiterhin Mitglied im AdF uhd war iiber 40 Jahre Vorstandsmitglied bzw. viele J ahre stellvertretende Vorsitzende. Ebenfalls nicht erreicht wurden bedauerlicherweise jene Frauen, die genau das praktizierten, was der Allgemeine deutsche Frauenverein erstrebte: auf die Vervollkommnungihrer Fahigkeiten und Fertig­ keiten emsig bedachte, selbstandig im Leben stehende Leipziger Geschaftsfrauen, von denen die zu­ meist ledigen Putz- und Modewarenhandlerinnen wohl eine noch grof3ere Gruppe als die ledigen Lehrerinnen darstellten. Leider hat es bei manchen AdF-Frauen ein sehr kritisches Verhaltnis zu Frauenputz und Frauenmode, zu ,;Modepuppen" und ,iiberfliissigem Tand, der manche Familie dem Ruin entgegentreibt" gegeben- die ,Neuen Bahnen" legen davon beredtes Zeugnis ab?1 So entging ihnen ganz die Tiichtigkeit jener Frauen, die diesen Putz fertigten und verkauften, und die sich ver­ gleichsweise sehr erfolgreich im mannlich dominierten Detailhandel behaupteten.32 Doch auch diese

30 Dem AdF schlossen sich auch Frauenvereine an, deren Organisationsstruktur und Vereinsziele nicht mit denen des Leipziger Lokalvereins tibereinstimmten. Bussemer nennt insbesondere den Zwickauer und Breslauer Frauenbil­ dungsverein. (vgl. Bussemer 1985: 154-164) Auch der von Christina Klausmann untersuchte Frauenbildungs-Verein von Frankfurt am Main als Lokalverein des AdF ist hierfiir ein Beispiel. (vgl. Klausmann 1997) 31 s. u. a. Eine Stimme aus Amerika, Neue Bahnen 1868 Nr. 8, 9 und 10: 58f, 67 und 74f 32 vgl. zur Charakteristik dieser Frauengruppe Kapitel 4 meiner Habilitationsschrift: Frauen im neuzeitlichen Han­ delsgewerbe 25

in Bezug auf ihre Berufstatigkeit auf3erst erfolgreichen und emanzipierten Geschaftsfrauen wussten mit dem mutigen offentlichen Engagement ihrer AdF-Schwestern fur bessere weibliche Erwerb­ schancen nur wenig anzufangen. Aber- und damit mochte ich enden- jede Stelle hat eben ihre Elle. Die ,Elle" der ersten gesamtdeut­ schen Frauenkonferenz 1865 von Leipzig hatte ein betrachtliches Maf3 und kann nur in den Maf3ein­ heiten von weiblicher Selbsthilfe, klasseniibergreifender Emanzipation durch Bildung und Ausbildung und demokratisch-republikanischer Orientierung gemessen werden. Das sind Werte, die nichts an ih­ rer Aktualitat fur eine demokratisch verfasste Gesellschaft verloren haben - ein Erbe, auf das Leipzig stolz sein sollte!

Literatur und Quellen

Boetcher-Joeres, Ruth-Ellen (Hrsg.): Die Anfange der deutschen Frauenbewegung. Louise Otto-Peters. Frankfurt am Main 1983 Bussemer, Herrad-Ulrike: Frauenemanzipation und Bildungsbiirgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgriindungszeit. Weinheim/Basel1985 · Deutsche Biographische Enzyklopadie, Bd. 1, 2, 3, 10, Miinchen 1994ff Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt- Frauenrechtlerin und Padagogin. In: Leipziger Frauengeschichten. Ein hi­ storischer Stadtrundgang. Hrsg. v. Gerlinde Kammerer und Anett Pilz im KuKuC e. V. Leipzig 1995, S. 121-123 Klausmann, Christina: Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich: das Beispiel Frankfurt am Main. Frankfurt am Main/ New York 1997 Korn, Philipp Anton: Die erste deutsche Frauen-Conferenz in Leipzig. Erste Versammlung den 15. October 1865, hg. von demselben, Redacteur der Allgemeinen Frauen=Zeitung und der Zeitschrift fur Volkserziehung, Leipzig 1865 Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 4, Berlin 1959 Otto-Peters, Louise: Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, gegriindet am 18. Okto­ ber 1865 in Leipzig. Auf Grund der Protokolle mitgeteilt. Leipzig 1890a Otto-Peters, Louise: Zum 25jahrigen Bestehen des Frauenbildungsvereins in Leipzig. In: Neue Bahnen. Organ des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, Nr. 4 1890b, S. 25-29 Plothow, Anna: Die Begriinderinnen der deutschen Frauenbewegung. Leipzig 1910 SchOtz, Susanne: Frauen im Handelsgewerbe. Eine stadtgeschichtliche Untersuchung (im Druck) Schulze, Grit und Ralf: Zur Vorgeschichte und Griindung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Leipzig. Di­ plomarbeit an der Sektion Geschichte der Padagogischen Hochschule ,Clara Zetkin", Leipzig 1990 (unveroff. Ms.) Twellmann, Margrit:.Die deutsche Frauenbewegung. Thre Anfange und erste Entwicklung 1843-1889. Frankfurt am Main 1993 (= Studienbuch Geschichte) Zwahr, Hartmut: Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung iiber das Leipziger Proletariat wahrend der industriellen Revolution. Berlin 1978 Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft Leipzig Eine Stimme aus Amerika. Abdruck eines ungezeichneten Beitrages aus einer amerikanischen Zeitung, in: Neue Bah­ nen. Organ des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, Nr. 8, 9 und 10 1868, S. 58f, 67, 74f Stadtarchiv Leipzig: Akten, den Frauen-Bildungsverein (Abt.: Verein Hauspflege) betr. Ergangen dem Rate der Stadt Leipzig 1865, Kap. 35 Nr. 27, Bd. 1 Die deutsche Frauen-Conferenz. Ungezeichneter Artikel im Leipziger Tageblatt Nr. 284 vom 11. Oktober 1865, S. 1 Ungezeichneter Bericht iiber die Frauen-Conferenz in der Rubrik ,Verschiedenes" im Leipziger Tageblatt Nr. 291 vom 18. Oktober 1865 26

Der Allgemeine deutsche Frauenverein: sein Weg zur juristischen Personlichkeit33 und zur bedeutsamen Anderung des § 5

( angemeldeter Disk:ussionsbeitrag)

Stefanie Bietz (Weimar/Leipzig)

Der Kampfum die Rechtsgleichheit von Mann und Frau wurde im 19. Jahrhundert im wesentlichen von den Frauenvereinigungen getragen. Hierzu gehorte auch der Allgemeine deutsche Frauenverein (AdF), der zu·einem seiner wichtigsten Anliegen die Verbesserung der Rechte der Frau im allgemei­ nen und die der Ehefrau im besonderen zahlte. (Wex 1929: 26) Im Konigreich Sachsen, wo dieser Verein seinen Hauptsitz hatte, besal3 das Sachsische BGB von 1863/65 his zum Inkrafttreten des Btirgerlichen Gesetzbuches fur das deutsche Reich seine Gtiltigkeit und· damit auch die in ihm recht­ lich fixierte Geschlechtsvormundschaft fur Ehefrauen. {Gerhard 1997: 643) Neben den Petitionen und Antragen, die ab 1873 vom AdF an den mit der Kodifikation des btirgerli­ chen Rechts im BGB beschaftigten Reichstag gesandt wurden, gilt die 1876 erschienene Druckschrift ,;Einige deutsche Gesetzparagraphen·uber die Stellung der Frau" -die auf die schwierige und abhan­ gige Position der·Frau gegentiber:.dem Mann aufmerksam machen·sollte -.als besondere Aktivitat des AdF. (Wex 1929: 26 oder auch Gerhard 1990: 157) Aber nicht nur die gegentiber dem Ehemann erheblich geminderten Rechte der Frau (vor allem im Familienrecht) lasteten auf den Frauen, sondern auch die Festlegung des Vereinsrechts (Wex 1929: 28), das die rechtliche Ungleichheit der Geschlechter indirekt fixierte. Fur den AdF machten sich die Schwierigkeiten aus diesem Rechtsbereich explizit mit.dem Erhalt des Status der juristischen Person­ lichkeit im Jahre 1885 deutlich bemerkbar. lm folgenden werden die Beweggrtinde des Vereins zum Erwerb des Status der juristischen Person­ lichkeit und die dazu einberufene Generalversammlung skizziert sowie ·die damit verbundene Sat­ zungsanderung des§ 5 zur Mitgliedschaft. Diese Uberarbeitung sah eine ·Erweiterung bzw. eine Er­ ganzung des§ 5 vor. Im Anschluss wird-die auf der 20. Generalversammlung des AdF im Jahre 1899 gefuhrte Debatte zum § 5 verfolgt, die letztlich mit dem Beschluss zur Streichung des § 5 und des 1885 ,eingefugten Absatzes U .endete. ·Weitere vorgenommene Anderungen der verschiedenen Sat­ zungsparagraphen sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. Der Schritt zum Status einer juristischen Personlichkeit war fur den AdF nicht nur notwendig, son­ dern auch vorteilhaft, wie die langjahrige Vorsitzende Louise Otto-Peters 1890 feststellen konnte. (Otto-Peters 1890: 63-65) Bis zum Jahre 1885 erfreute sich der Verein nur geringer, aber desto we­ niger entbehrlicher Schenk:ungen, die dem 1879 gegrtindeten Stipendienfond zugute kamen. Im Frtihjahr 1885 erhielt der AdF hochst unerwartet von einem ,anonymen Freund des Frauenstudiums"

33 Der Begriff juristische Personlichkeit entspricht dem heutigen Begriff der juristischen Person und wurde als solcher in den Akten des Amtsgerichts Leipzig gebraucht. 27 ein Geschenk von 1.000 Mark mit der Bedingung, die Summe nicht als Kapital, sondern zu Stipendi­ en fur deutsche Studentinnen der Medizin, Chemie und Pharmazie zu verwenden. Der Verein musste, urn diese Summe nach sachsischem Recht annehmen zu durfen, den Status der juristischen Person­ lichkeit erwerben. Der Vorstand des AdF berief zu diesem Zweck eine auf3erordentliche Generalver­ samrnlung fur den 19. Mai 1885 in Leipzig ein. (vgl. Grundung und Entwicklung des AdF. In: Staatsarchiv Leipzig; Polizeiprasidium 1889; Otto-Peters 1890: 63) Wie dem Protokoll samt Anlagen dieser Generalversammlung zu entnehmen ist, fanden sich 21 Ver­ einsmitglieder ( aus Leipzig wie auch von auswarts) irn dortigen Lehrerhaus ein. Die Vorsitzende Louise Otto-Peters eroffuete die Versammlung und gab zunachst den Zweck der Zusammenkunft bekannt: Der Verein wolle sich im Sinne des Gesetzes (,Gesetz, die juristischen Personen betref­ fend") vom 15 . Juni 1868 (Gesetz- und Verordnungsblatt 1868) als juristische Personlichkeit konsti­ tuieren. In Gegenwart zweier Juristen wurde danach die neue· Satzung verlesen· und beraten. (vgl. Staatsarchiv: 3) Auf dieser Versamrnlung beschlossen die anwesenden Mitglieder u.a. einstirnmig, dass der aus 7 Per­ sonen bestehende Vorstand berechtigt sei, den Verein zu vertreten und seine Satzung zu vollziehen. Sie ermachtigten den Vorstand, die beratene Satzung gemaf3 § 70 des oben angefuhrten Gesetzes von 1868 zum Genossenschaftsregister anzumelden und durch Gerichtsbeschluss notwendige Sat­ zungsanderungen selbststandig ohne eine Neuberufung einer Generalversamrnlung vorzunehmen. (ebd.: 3) Durch diesen Beschluss wurde es dem AdF im nachhinein moglich, die gesetzlich erforder­ lichen Satzungskorrekturen ztigig zu vollziehen und damit den Eintrag ins Genossenschaftsregister zu beschleunigen bzw. diesen uberhaupt erst zu erreichen. Die neue Satzung erhielt, wie Louise Otto-Peters feststellte (Otto-Peters 1890: 64), die Genehrni­ gung der zustandigen Behorden erst, nachdem im § 5 zur Mitgliedschaft des Vereins ein neuer Satz eingefugt wurde, der zuvor von den Frauen nicht vorgesehen war. Diese wollten den § 5 mit folgen­ den Wortlaut formuliert wissen: ,Grof3jahrige :Frauen und Madchen erlangen 'die l\1itgliedschaft durch schriftliche Anmeldung beim Vorstand und Zahlung des festgesetzten Eintrittsgeldes und J ah­ resbeitrags. Das Eintrittsgeld betragt 1,50 Mark, der Jahresbeitrag 6 Mark. Die Anmeldung der Mitglieder zum Register geschieht durch den Vorstand. Die Anmeldung der ivfitgliedschaft erlischt durch den Tod, Ausschlief3ung durch einstirnmigen Be­ schluf3 des Vorstandes, freiwillige, schriftliche Austrittserklarung und Verweigerung des Jahresbei­ trags." (vgl. Staatsarchiv: 10-14) Einer Prufungsnotiz des koniglichen Amtsgerichtes Leipzig zur eingereichten Satzung des AdF ist zu entnehrnen, dass nach dem bestehenden Recht Ehefrauen ohne Genehrnigung des Ehemannes Ver­ pflichtungen mit rechtlichem Erfolg nicht eingehen konnen, deshalb musste nach sachsischem Recht folgender Satz erganzt werden: ,Ehefrauen haben bei der Anmeldung die ehemannliche Genehrni­ gung zum Beitritt in den Verein beizubringen." (ebd.: 21£) 28

Das Amtsgericht Leipzig handelte hier gemaJ3 § 22 des sachsischen Vereins- und Versamrnlungsge­ setzes vom 22. November 1850 (in: Gesetzes- und Verordnungsblatt 1850 oder Nienholdt 1898) und gemaJ3 § 1638 des sachsischen Burgerlichen Gesetzbuches (Burgerl. Gesetzbuch 1879: 289). Nach obengenanntem § 22 konnen nur dispositionsfahige Personen Vereine ins Leben rufen. Zu diesem Personenkreis zahlen u. a. nach § 1638 des sachsischen Btirgerlichen Gesetzbuches aber nicht die Ehefrauen, da diese zu alien Rechtsgeschaften rnit Dritten, welche nicht dem Erwerb dienen, die Einwilligung des Ehemannes benotigen. Sornit galten ·Ehefrauen nach dem sachsischen · Gesetz als nicht fahig, ihre Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Die nach diesen gesetzlichen Vorschriften vom koniglichen Amtsgericht Leipzig geforderte Ergan­ zung zu den Satzungsanderungen wurde vom Vorstand des AdF aufgrund der Gegebenheiten ord­ nungsgemaB vorgenommen und gleichzeitig die Anerkennung des AdF .als juristische Personlichkeit beantragt. · Das konigliche Amtsgericht Leipzig notierte zu den neu .eingereichten Anderungen, es sei nicht er­ sichtlich, ob der Absatz, dass der Vorstand die Mitglieder anmelde, durch die Einfugung hinfallig wa­ re. Allerdings lage nach Ansicht des Amtsgerichtes Leipzig kein Grund vor, auf einer ausdrucklichen Streichung zu bestehen, denn die Registerbehorde ware in der Lage, die Annahme einer Anrneldung von Mitgliedem· einfach abzulehnen, und der .rechtlichen Bestimmung wtirde· man dadurch wieder gerecht werden. (Staatsarchiv: 27) Was fur das konigliche Amtsgericht Leipzig gesetzliche Vorschrift und damit zu befolgen war, stellte sich fur viele Frauen, besonders fljr die Ehefrauen, als Abhangigkeit und Unmiindigkeit gegeniiber ihren Ehemannem dar und wurde von vielen Frauen dem AdF oft zum Vorwurf gemacht, wie wir von Louise Otto-Peters wissen. Doch musste sie darauf verweisen, dass dieses Gesetz seine Gultig­ keit in alien deutschen Staaten hatte und sich auch in dem Entwurf zum neuen burgerlichen Gesetz­ buch befande. (Otto-Peters 1890: 64) Bei diesem Ereignis mussten die Frauen, urn ihren Verein als juristische Personlichkeit zu konstituie­ ren, bewusst eine rechtliche Benachteiligung und eine personliche Einschrankung in ihrem Hand­ lungsraum hinnehmen. Ihnen blieb eigentlich keine Wahl, wenn sie den V erein und darnit ihre Arbeit fur die Frauen weiter voranbringen wollten. Da der AdF durch die gesetzliche Anerkennung mehr offentliches Ansehen und auch Sicherheit ge­ wann, als es ohne sie der Fall gewesen ware, versuchte Louise Otto-Peters die Nachteile zu relativie­ ren. ( ebd.: 65) Fur die Frauen des AdF konnte dies wahrscheinlich nur ein kleiner Trost sein; wie sehr sie aber mit dieser Einschranh.'Ung fur sich persorJich und fur den AdF haderten und kampften, zeigen die Eintragungen und das Protokoll zur 20. Generalversamrnlung des AdF und des darnit ver­ bundenen Frauentages vom 1. bis 4. Oktober 1899 in Konigsberg. Auf Antrag des damaligen Vorstandes des AdF solite eine Anderung der Statuten vorgenommen werden, die u. a. im § 5 der Mitgliedschaft eine Streichung des Absatzes II vorsah: ,Ehefrauen haben bei der Anmeldung die ehemannliche Genehrnigung zum Beitritt in den Verein beizufugen." 29

(Staatsarchiv: u. a. 169) Die damalige Vorsitzende Auguste Schmidt ging, urn die Satzungsanderun­ gen im allgemeinen zu begriinden, auf die Geschichte des Vereins ein. So erklarte sie u. a., dass bei der Griindung des Vereins Wert auf das Programm gelegt wurde, der Verein aber zu diesem Zeit­ punkt noch keine juristische Personlichkeit besaf3 . Im Jahre 1885 seien dem AdF bedeutende Schen­ kungen zuteil geworden, so dass die Notwendigkeit entstand, ihn als juristische Person ins Genos­ senschaftsregister eintragen zu lassen. (ebd.: 176-183) Neben den zahlreichen Antragen zu den einzelnen Paragraphen des Statuts diskutierten die in Ko­ nigsberg anwesenden Frauen des AdF auch eingehend uber den § 5 der Mitgliedschaft und iiber den besagten relevanten Absatz. Auguste Schmidt als V orsitzende wies in dieser Aussprache darauf hin, dass es bisher unmoglich gewesen sei, diesen Absatz aus dem Statut zu entfernen, denn der Verein unterliege dem sachsischen Vereinsgesetz. Mit der Einfuhrung .des neuen Biirgerlichen Gesetzbuches trete aber eine Anderung ein, und weil.der jetzige Prasident das Vereinsgesetz nicht so streng hand­ habe, sei es an der Zeit, diesen Absatz zu streichen. Diese Veranderung des Statuts sei notwendig, denn der bestehende Passus habe viele Frauen am Beitritt zum Verein gehindert. Helene Lange warnte indes vor einer ganzlichen Streichung des Absatzes. Dem Verein und besonders der Vorsit­ zenden konnten daraus leicht Schwierigkeiten entstehen. Sie schlug statt .einer Streichung folgende Fassung vor: ,Absatz II soli gestrichen werden, vorbehaltlich der behordlichen Genehmigung." Die Generalversammlung genehmigte diesen Antrag rnit alien Stimmen. ( ebd.: 176-183) Die auf der 20. Generalversammlung des AdF vorgenommenen Satzungsanderungen mussten auch dieses Mal dem Amtsgericht Leipzig rnitgeteilt werden, urn deren Eintrag in das Genossenschaftsre­ gister zu eriangen und darnit dem Verein den Status einer juristischen Personlichkeit zu bewahren. In seiner Priifung stellte das Amtsgericht Leipzig wegen anderer nicht erfuliter F ormalitaten samtliche Satzungsneuerungen dieser Generalversammlung in Frage und sornit auch die vorgesehenen und ein­ gereichten zum § 5 der Mitgliedschaft. (ebd.: 194f) Der Vorstand des AdF sah sich daher genotigt (wie es im Vereinsorgan.,Neue-Bahnen" Nr. 4 und 5 I 1900 zu lesen ist), am 12. Marz 1900 eine auf3erordentliche ,Generalversammlung in Leipzig zu ver­ anstalten. (ebd.: 202fu. 204f) Der Vorstand stellte auf dieser Versammlung des AdF erneut zu § 5 der Satzung den Antrag, Absatz II dieses Paragraphen aus den Statuten zu streichen. Das Protokoli der auf3erordentlichen Generalversammlung verrat, dass § 5 Absatz II durch den einstimrnigen Be­ schluss der anwesenden Mitglieder gestrichen wurde. (ebd.: 198-201) Nachdem der AdF beim Amtsgericht Leipzig die Anderungen des Statuts rnitgeteilt hatte, entfiel - nach der Priifung des Amtsgerichts und den geforderten Nachtragen- rnit der erteilten Genehmigung der § 5 Absatz II aus dem Statut des Allgemeinen deutschen Frauenvereins. ( ebd. : 211) Wie vorsichtig und uberlegt die Frauen handeln mussten, urn ihre rechtliche Stellung zu verbessem, zeigen die Auf3erungen von Auguste Schmidt und Helene Lange sehr deutlich. Bei der (von Auguste Schrnidt angesprochenen) Gesetzanderung rnit der Einfuhrung des neuen Biirgerlichen Gesetzbuches konnte es sich u. a. urn den§ 1358 (Rechtsgesetzblatt Nr. 21: Biirgerliches Gesetzbuch. In: Reichs- 30 gesetzblatt 1896: 427) handeln. Dieser besagt, class der Ehemann das durch seine Ehefrau eingegan­ gene Rechtsverhaltnis zu Dritten ohne Einhaltung einer Kiindigungsfrist kiindigen kann, wenn er auf seinen Antrag vom Vormundschaftsgericht dazu ermachtigt wurde. Das Vormundschaftsgericht muss die Ermachtigung erteilen, falls die Tatigkeit der Frau die ehelichen Interessen beeintrachtigen sollte. Das Kiindigungsrecht von seiten des Mannes ist aufgehoben, wenn dieser dem Rechtsverhalt­ nis zugestirnmt hat oder seine Einwilligung auf Antrag der Ehefrau durch das Vormundschaftsgericht ersetzt worden ist. Die Zustirnmung durch das Vormundschaftsgericht erfolgt bei Krankheit des Mannes oder bei dessen Abwesenheit, wenn aus einem Aufschub Gefahr resultiert oder wenn sich eine Zustimmungsverweigerung des Ehemannes als Missbrauch seines Rechtes offenbart. ( ebd. 427) Auch noch im neuen Biirgerlichen Gesetzbuch ist die Geschlechtsvormundschaft fixiert, wie es an diesem § 1358 erkennbar ist. Trotz des positiven Resultats fur den AdF im Jahre 1900 stieBen die Frauen an die ihnen durch das Recht gesetzten Schranken und waren nicht selten von den Ansichten und Einsichten eines Mannes iiber die Auslegung von Gesetzen (wie des- von Auguste Schmidt er­ wahnten - nicht so strengen Prasidenten) abhangig. So besaB der von Louise Otto-Peters erkannte Umstand: , Die Frauen lernen nur die Gesetze ertragen, sie lernen sie nicht kennen" noch lange seine Giiltigkeit. (zitiert nach Gerhard 1990: 157)

Quellen und Literatur

Das Biirgerliche Gesetzbuch fur das Konigreich Sachsen nebst den darnit in Verbindung stehenden Reichs- und Lan­ desgesetzen, 4. Auflage, Leipzig 1879 Gerhard, Ute: G1eichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht. Miinchen: Beck, 1990 Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Friihen Neuzeit bis zur Gegenwart, Miinchen: Beck, 1997 Gesetz- und Verordnungsblatt fur das Konigreich Sachsen vom Jahre 1850, Dresden 1850 Gesetz- und Verordnungsblatt fur das Konigreich Sachsen vom Jahre 1868, Dresden 1868 Nienholdt, Albert: Koniglich Sachsisches Vereins- und Versammlungsrecht, 4. verrnehrte und ergiinzte Auflage Leipzig 1898 Otto-Peters, Louise: Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, gegriindet am 18. Okto­ ber 1865 in Leipzig, Leipzig 1890 Polizeiprasidium Leipzig, Nr. 2658: Akten des Polizeiamtes der Stadt Leipzig, betreffend Bund Deutscher Frauenver­ eine. Ergangen im Jahre 1889 (Archivalien) Reichsgesetzblatt 1896 enthalt die Gesetze, Verordnungen u.s.w. vom 19. Januar bis 11. Dezember 1896 nebst zwei Vertragen aus den Jahren 1893-1895, Berlin 1896 Sachsisches Staatsarchiv Leipzig (Archivalien) Staatsarchiv Leipzig. Akte Konigliches Amtsgericht Leipzig, Nr. 16397: Allgemeiner Deutscher Frauenverein, allge­ meine Akten 1885-1903 (Archivalien) Wex, Else: Staatsbiirgerliche Arbeit deutscher Frauen 1865 bis 1928 (hrsg. vom Deutschen Staatsbiirgerinnen Ver­ band e. V., AdF 1865), Berlin 1929. 31

Zur Situation von Louise Otto als Journalistin im deutschen Vormarz und zur Situation von Journalistinnen heute

Katrin StrajJer (Eichstdtt)

1. Zur Situation von Louise Otto als Journalistin im deutschen Vormdrz 1.1 Berufliche Moglichkeiten fur gelehrte Blaustrumpfe Fur das Btirgertum des 19. Jahrhunderts galt: Weibliche Erwerbstatigkeit stellte eine Schande dar: Sie zog die Kreditwtirdigkeit des mannlichen Familienoberhaupts in Zweifel, minderte den Heirats­ wert und wurde deshalb unterbunden oder geheimgehalten. Trotzdem gab es auch in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts berufstatige Frauen in den biirgerlichen Schichten, besonders solche, die keinen Ehemann fanden oder finden wollten, sich also ganz.bewusst denZwangen der Ehe widersetz­ ten. V on klassischen btirgerlichen Berufen von vornherein ausgeschlossen, ergriffen Frauen iiberwie­ gend Bemfe, in denen sie aufgrund ehrenamtlicher Tatigkeiten bereits Etfaluung batten, z. B. im so­ zialen Bereich oder als Gouvemante. Hier gab es auch von gesellschaftlicher Seite die geringsten Einwande, da Betreuung von Kindem oder Kranken als typisch weibliche Beschaftigung angesehen ·wurde, sozusagen als au/3erhausliche Weiterfuhrung der ,nattirlichen Bestimmung". Die Joumalistinnen des 19. Jahrhunderts stamrnten iiberwiegend aus dem gehobenen Btirgertum. Im Literaturbetrieb konnten Frauen neben den angesprochenen sozial-pflegerischen Bemfen noch am ehesten Fu/3 fassen. Es herrschte die Ansicht vor, dass sich das Publizieren auch neben Haushalt, Kindererziehung und ehelichen Pflichten ausuben lie/3e. Die Schriftstellerei stand deshalb nicht im Gegensatz zum-gesellschaftlich propagierten Frauenbild, solange si eh das weibliche Geschlecht auf schongeistigem Gebiet bewegte. Als sichdie Joumalistinnen des Vormarz der Politik und dengesellschaftlichen Missstanden zuwand­ ten, stie13 dies auch unter ihren mannlichen Kollegen aufwenig:Begeisterung. -Die· Schriftstellerinnen hatten die ihnen gesetzten Schranken iiberschritten, -itifolgedessen wurden .. sie lacherlich gemacht und mit Sanktionen belegt. 1. 2 Louise Otto im deutschen Vormdrz Im August 1843 erschien in den ,Sachsischen Vaterlandsblattem" ein Artikel des liberalen Opposi­ tionellen Robert Blum unter der Dberschrift ,Die Teilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben". Blum warf hi er die Frage auf, welche Rolle die Frauen in Staat und Gemeinde spiel en soil ten, und bat urn Stellungnahmen zu diesem Thema. Louise Otto schreibt spater: ,Es war einer der schonsten Au­ genblicke meines Lebens, als ich jene Nummer der Vaterlandsblatter in meinen Handen hielt - und noch am selben Abend schrieb ich einen kleinen Aufsatz iiber den selben Gegenstand. Ja, geschrieben war er sclmell, wem1 auch von damals ungetibter Hand, die unterm schreiben vor Freude zitterte. Aber wollte ich denn wirklich wagen offentlich auszusprechen, was ich kaum in vertrauten Kreisen 32 zu sagen gewagt?"34 Sie wagte es, und ihr kleiner Aufsatz erschien bereits einige Tage spater. Louise Otto schlieBt sich der Ansicht Robert Blums an: ,Die Teilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben ist nicht nur ein Recht, sie ist eine Pflicht." Sie unterzeichnete ihren Briefubrigens mit ihrem Namen und nicht, wie es in der Literatur teilweise dargestellt wurde, mit ,ein sachsisches Madchen". In der Redaktion der ,Vaterlandsblatter" war man angetan vom Aufsatz der jungen Frau, und so bat man sie urn weitere Zuschriften. Louise Otto geiang es, von der Korrespondenzspalte im September rnit einem Sprung auf die Vorderseite im November zu kommen, wo sie in der Folgezeit die Artikelserie ,Frauen und Politik" veroffentlichte. Hier entwickelt sie ihre These vom Zusammenhang zwischen der mangeln­ den Bildung der deutschen Frauen und ihrer fehlenden Teilnahme am politischen Leben. Der Brief aus MeiBen im September 1843 in den ,Sachsischen Vaterlandsblattem" war die erste journalistische Veroffentlichung Louise Ottos unter ihrem eigenen Namen. Doch bereits ein halbes Jahr.langer schrieb sie unter .einem mannlichen Pseudonym fur die von Ernst Keil redigierte Zeit­ schrift ,Unser Planet". Auch in dessen Nachfolgezeitschrift ,Der Wandelstem" behielt sie lange die­ ses Pseudonym ,Otto Stern" bei. Einmal behauptete sie, es sei ihr eigener Entschluss gewesen, damit sie frei und offen Ober die fur sie wichtigen Them:en schreiben konnte; ein anderes Mal schob sie die Schuld auf Keil, der gesagt haben soil, sie durfe sonst keine unweiblichen Themen behandeln. -· Beide Aussagen zeigen deutlich, wie gering die Akzeptanz und die Chancen einer Frau im deutschen Vor­ marz waren, die sich zu sogenannten ,Mannerthemen" auBerte. Als Otto Stern jedoch ist Louise Otto, anders als unter ihrem eigenen Namen bei den ,Vaterlandsblattern", nicht auf Frauenthemen spezialisiert. Sie beschaftigte sich u. a. mit der Situation der deutschen Publizistik, der Zensur, der Nationalfrage und dem Deutschkatholizismus. Erst als sie sich 1845 im ,Wandelstem" unter der Uberschrift ,Erkhirung und Gestandnis" als Frau outete, kehrt sie auch in dieser Zeitschrift zum Thema Frauenemanzipation zurtick. Louise Otto schreibt in der Zeit -des Vormarz fur ·mehrere demokratische· Blatter. In diesen Jahren kntipft sie Verbindungen zu anderen Schriftstellem und Journalisten, zu Verlegern und Oppositionel­ len in Sachsen. Sie engagiert sich fur die Arbeiterschaft, initiiert Vaterlandsvereine, obwohl ihr nach damaligem Recht die Mitgliedschaft verwehrt bleibt. Erst in der kurzen freiheitlichen Phase der deut­ schen Revolution von 1848/49 kann sie sich einen lange gehegten Traum erfullen: Sie grtindet ihre eigene Zeitung, die ,Frauen-Zeitung". 2. Zur Situation der Joumalistinnen heute Frauen dtirfen heute studieren, sie unterliegen keinem Publikationsverbot, offene Diskriminierung am Arbeitsplatz erfahren die wenigsten. Erwerbstatige Frauen bringen keine Schande mehr uber ihre Familie, die Ausubung eines Berufes ist fur sie groBtenteils selbstversHindlich. Seit Jahren drangen Jungpublizistinnen in Hospitanzen und Volontariate. Die weiblichen Auszubil-

34 Otto-Peters, Louise in: Blum, Robert: Politische Schriften. Bd. 5: Vorwarts! Volkstaschenbuch :fur das Jahr 1847. Hrsg. von I. G. Sander. KTO Press 1979: 38 33 denden stellen teilweise bereits die Mehrheit. Etwa jeder zweite Studierende der Kornmunikations­ wissenschaft und der Joumalistik war Anfang der 90er Jahre eine Frau. Verbunden rnit der Tatsache, dass Frauen mehr als die Halfte der Bevolkerung ausmachen, sollte fur sie nicht nur der Weg in den Joumalismus frei sein, sondem sie miissten auch rnindestens die Halfte aller Positionen - von den Redakteurs- bis zu den Intendantenstellen - besetzen. Die Zahlen beweisen jedoch das Gegenteil. Die mannlichen Ausschlusskriterien existieren weiterhin, wenn auch subtiler als zu Zeiten von Louise Otto. Die Grundziige blieben allerdings bestehen: un­ gleicher Lohn fur gleiche Arbeit, geringere Einstellungs- und Aufstiegschancen, V orurteile gegen­ iiber Frauen in mannlich dorninierten Ressorts und Fiihrungspositionen. Frauen werden femer haufig vom intemen Informationsnetz abgeschnitten, d. h. iiber wichtige Ent­ scheidungen nicht oder zu spat unterrichtet, in prograrnmstrategische Planungen zu wenig eingebun­ den und von informellen Gesprachskreisen ausgeschlossen. 2.1 Joumalistinnen in den Medien Die folgenden Daten sind den Ergebnissen einer reprasentativen Joumalistenbefragung durch die Miinsteraner Forschungsgruppe Weischenberg/LoffelholzJScholl entnommen, der letzten groBange­ legten Studie zu dieser Thematik. 35 Es scheint keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Frauenanteil unter den Auszubildenden und ihrem spateren Anteil an den Beschaftigten zu geben. Joumalistinnen erhalten seltener als Joumali­ sten eine Festanstellung und arbeiten haufiger als Freie. So hatten 1995 von 203 befragten Absolven­ ten und Absolventinnen des Instituts fur Joumalistik in Dortmund 56% der Frauen, aber 70% der Manner einen Redakteurstatus. Demgegeniiber arbeiten 44% der Frauen, aber nur 30% der Manner als Feste Freie, als Freie oder sind teilzeitbeschaftigt.

Tabelle 1: Frauenanteil unter den Redakteuren nach Medienbereich 1993 (in %)

Zeitungen 28,0 N achrichtenagenturen 26,5 Mediendienste 48,0 Anzeigenblatter 35,0 Zeitschriften 47,0 Stadtmagazine 35,0 offentlich-rechtlicher Rundfunk 30,0 privater Horfunk 40,0 privates F emsehen 48,0

Die auf den ersten Blick besseren Chancen fur Frauen im privaten Femsehen tauschen iiber die wirk­ lichen Verhaltnisse hinweg. Zwar liegt der Anteil der Redakteurinnen dort bei 48%, doch dienen sie

35 Die Sh1die wurde 1993 durchgefiihrt und liegt publiziert vor mit Sitter, C.: Die eine Hii.lfte vergillt man(n) leicht. Zur Situation von Joumalistinnen in Deutschland. Pfaffenweiler 1998. Von dort wurden auch die Tabellen entnom­ men. 34 wenig vor der Kamera wie bei den Offentlich-Rechtlichen. ,Die offentlich vervielfaltigte Medienfrau zeigt keine Lebensspuren. Sie ist perfekt alterslos, wie das heute jeder 1v1ann von seiner Ehefrau, Gefahrtin, Sekretarin erwarten darf. Wer dagegen Zeichen von Alter auf seinem offentlichen Gesicht zulaBt, die wird geschaBt oder in die hinteren Raume verbannt. Dort darf sie diskret zuarbeiten, Brille tragen und langsam di.inner, clicker, grauer werden. Darf sogar ihre Intelligenz herauslassen. Die entsprechenden Herren, deren Konterfei regelmaBig i.iber den Bildschirm flimmert, brauchen sich keine Sorgen machen i.iber Abni.itzungserscheinungen oder Lebensnarben im Gesicht. Sie haben Per­ sonlichkeit, ihnen ist die Gnade zuteil, welken zu di.irfen." 36 AuBerdem zeigen sich im privaten Femsehen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Anbie­ tem. Der hohe Frauenanteil geht in erster Linie auf die zahlreichen Klein- und Kleinstsender zuri.ick, wahrend die i.iberregionalen, prestigetrachtigeren Stationen mit .besserer Bezahlung deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Femer beweist ein Frauenanteil von 18% beim DSF, dass es Frauen auch im Privatfemsehen nur selten gelingt, in typische Mannerbereiche einzudringen, wenngleich DSF 1994 mit Ulla Holthoff die erste FuBballchefin im deutschen Femsehen prasentieren konnte.

Tabelle 2: Frauenanteil unter Redakteuren!Programmangestellten von ARD und ZDF 1994 (in%)

Horfunk Fernsehen Bayerischer Rundfunk 30,1 28,2 Hessischer Rundfunk 26,5 29,3 Mitteldeutscher Rundfunk 40,3 39,4 Norddeutscher Rundfunk 33,8 38,9 Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg 44,0 57,0 Radio Bremen 32,9 43,8 Saarlandischer Rundfunk 28,9 46,7 Sender Freies Berlin 38,2 33,0 Si.iddeutscher Rundfunk 30,0 30,0 Si.idwestfunk 15,0 31,5 W estdeutscher Rundfunk 36,7 31,5 ZDF 33,7

Der hohe Frauenanteil bei ORB und MDR ist vor allem auf zwei Ursachen zuri.ickzufuhren: zum ei­ nen auf das ,,Erbe" aus der DDR (die Quote der weiblichen Journalistinnen in der DDR lag bei knapp 50%) und zum anderen: Frauen haben in ,jungen" Organisationen ohne starre Hierarchien wesentlich bessere Einstellungs- und Aufstiegschancen als bei schon langer bestehenden Institutionen rnit tradi­ tionellen, mann1ich gepragten Strukturen. AuBerdem ( oder deshalb?) gibt es im Progranun dieser Sender (Horfunk und Fernsehen) mehr Frauenmagazine als anderswo. Einen bedeutenden Einfluss auf die Personalentscheidungen in den offentlich-rechtlichen Rundfunk-

36 Katz, A. R. : Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht. Arbeitsteilung nach Gutsherrenart. In: Miihlen-Achs, G. (Hrsg.): Bildersturm. Frauen in den Medien. Miinchen 1990: 121f 35 anstalten i.iben als Aufsichtsgremien der Verwaltungs- und der Rundfunkrat aus. Da der Frauenanteil dort deutlich unter 20% liegt, verwundert es nicht, class Manner nach wie vor die klare Mehrheit unter den Rundfunkjournalistlnnen in hoheren Positionen ausmachen. 2. 2 Joumalistinnen in hoheren Positionen Die Unterreprasentanz von Frauen in Entscheidungspositionen zeigt sich auch in ihrer Benachteili­ gung an den Schaltstellen der Medien: je hoher die Position in der Medienhierarchie, urn so geringer der Frauenanteil (,vertikale Segregation").

Tabelle 3:· Frauenanteil nach Medienbereich und Position 1993 (in %)

Chefredaktion Ressortleitung Redaktion Zeitungen 0,5 15,0 28,0 N achrichtenagenturen 13,0 10,5 26,5 Mediendienste 29,5 54,5 48,0 Anzeigenblatter 20,5 30,5 35,0 Zeitschriften 23,0 35,5 47,0 Stadtmagazine 30,5 20,5 35,0 offentlich-rechtlicher Rundfunk 9,5 14,5 30,0 privater Horfunk 37,0 30,5 40,0 privates F ernsehen 19,5 23,0 48,0

Als negativer Spitzenreiter unter alien Medien erweist sich der Zeitungsbereich mit einem Frauenan­ teil in den Chefredaktionen von 0,5%! Auch bei den Zeitschriften sind Frauen in hoheren Positionen deutlich unterreprasentiert. Dies lasst auch fur die Frauenzeitschriften (die einen Gro13teil der Journalistinnen stellen) u. a. den Schluss zu, class sich fur die Redakteurinnen zwar noch gute Arbeitsmoglichkeiten ergeben, die leitenden Posi­ tionen aber auch hier von Mannern besetzt werden. Das jst in der Geschichte des deutschen Frauen­ journalismus nichts Neues. Manner bestimrnen mehrheitlich iiber Inhalt.und Richtung der ·Zeitschrif­ ten, . Frauen setzen diese ·. Konzepte ·dann urn. Umso .mehr komrnt Louise · Otto mit ihrer Frauen­ Zeitung eine Vorbildfunktion zu, die nichts an Aktualitat und Dringlichkeit verloren hat. 2. 3 Journalistinnen in den Medienressorts Neben der Besetzung von Fiihrungspositionen zeigen sich deutliche geschlechtstypische Unterschie­ de bei der Verteilung von Mannern und Frauen .auf die .einzelnen Ressorts (,,horizontale Segregati- on"). Anfang der 90er Jahre arbeiteten anteilsma13ig die wenigsten Journalistinnen bei Presse und Rund­ funk in sogenannten klassischen Ressorts, wohingegen sie auf den Gebieten Soziales/Familie und Ratgeber/Service iiberreprasentiert waren. Am deutiichsten wird dies am Beispiel der Sportredaktio­ nen. Dort gelingt es Frauen imrner noch am wenigsten, Fu13 zu fassen. Wenn es eine Frau dennoch schaffi:, muss sie sich unverhaltnisma13ig strengen Ma13staben in bezug auf ihre fachliche Leistung unterwerfen. Die kleinsten Fehler konnen bereits zum Scheitern fuhren (Beispiel Carmen Thomas: 36

Schalke 05). Gaby Papenburg in SAT.1 und Marianne Kreuzer vom Bayerischen Fernsehen gehoren zu den wenigen weiblichen Ausnahmen, die sich im Sportjoumalismus dauerhaft durchsetzen konn­ ten. Ahnliche Vorurteile, die lange Zeit das Eindringen von Frauen in diesen Bereich verhinderten, cha­ rakterisierten das Klima in den Nachrichtenredaktionen und im politischen Magazinjoumalismus. 1971 loste Wibke Bruhns als erste Nachrichtensprecherin in der BF.D einen landesweiten Aufruhr aus. Die Diskussion drehte sich urn die Frage, ob Frauen nicht vom sachlichen Inhait der Nachrichten ablenken wiirden. Fi.ir den Horfunk wurde angefuhrt, class die weibliche Stimme fur das Mikrofon ungeeignet sei.

Tabelle 4: Frauenanteil in den verschiedenen Ressorts (in%)

Aktuelles I Politik 25,8 Wirtschaft 22,5 Wissenschaft 24,8 Sport 8,0 Lokales I Regionales 29,5 Feuilleton 43,6 Ratgeber I Service 64,4 Soziales I Fami.lie 53,9 U nterhaltung 51,8

Heute gibt es zahlreiche Sprecherinnen und Redakteurinnen, die Nachrichten prasentieren. Allerdings werden diese u. a. aus ahnJichen Gri.inden eingestellt, aus denen sie frilher abgelehnt wurden: Frauen sollen durch eine angenehme aui3ere Erscheinung die Atmosphare schaffen, die den trockenen Nach­ richtenstoff attraktiver macht. Im F emsehen entsprechen die Moderatorinnen in besonderem Mai3e dem traditionellen Schonheitsideal. Provokativ gesagt: Joumalistinnen gelingt also nur .dann der Einbruch in.eine Mannerdomane, wenn sie irgendeinem Zweck dienlich sind, wie beispielsweise der Erhohung der Einschaltquote. Dies ist sicher mit ausschlaggebend dafur, class Frauen in den klassischen Mannerressorts der Printmedien seltener vertreten sind: Bei der Presse bleibt die audiovisuelle Ebene ausgeblendet. Der Blick auf die Prozentzahlen relativiert sich, wenn man sich die absoluten Beschaftigungszahlen anschaut. Hinter dem Frauenanteil von 64% im Bereich RatgeberiService verbergen sich 14 Redak­ teurinnen, wahrend immerhin 70 Frauen die 25% im Bereich Aktuelles/Politik ausmachen. Das zeigt, dass Journalistinnen heute durchaus uberwiegend in den Kernbereichen des Berufes Uitig sind, sich also nicht generell in Randbereiche und Nischen abdrangen lassen. Trotzdem zeigen die Prozentver­ teilungen immer noch eine recht deutliche Zuweisung von Themengebieten an Frauen und Manner entlang dem Geschlechterdualismus. 37

2. 4. Journalistinnen nach Ausbildungsprofilen und Einkommen Zwei weitere Aspekte belegen die Benachteiligung von Frauen- im Sinne einer gegeniiber Mannern niedrigeren Bewertung ihrer Arbeit - im Journalismus: Journalistinnen weisen durchschnittlich eine bessere formale Qualifikation auf als ihre Kollegen und erhalten zugleich ein geringeres Einkommen.

Tabelle 5: Ausbildungsprofile von Journalistlnnen nach Geschlecht 1992/94 (in%)

Frauen Manner ohne formale Ausbildung 8,6 13,0 nur Volontariat 16,9 21 ,3 Fachstudium und Volontariat 19,9 16,4 nur Fachstudium 14,4 14,1 J ournalistik und Volontariat 19,4 10,6 nur Journalistik 3,1 4,8 Publizistik und Volontariat 4,6 4,5 Fachstudium, Volontariat und Journalistik 4,7 2,8 nur Publizistik 2,4 5,2 Fachstudium und Journalistenschule 1,6 2,8 Volontariat und Journalistenschule 2,0 1,8 nur Journalistenschule 1,3 2,0 sonstige Kombinationen 1,0 0,7

Tabelle 6: Durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen nach Medientyp und Geschlecht 1993 (gerundet in DM)

Frauen Manner Zeitungen ( einschl. Anzeigenblatter) 3.200 4.000 Agenturen I Dienste 3.900 4.300 Zeitschriften 3.600 3.900 offentlich-rechtlicher Rundfunk 3.900 4.800 privater Rundfunk 3.200 3.800

Journalistinnen verfugen also iiber ein hohes Bildungsniveau und - verglichen rnit ihren mannlichen Kollegen- ·teilweise sogar iiber einen Qualifikationsvorsprung. Dieses Ergebnis ist ein Hinweis dar­ auf, dass Frauen immer no eh besser als Manner sein· miissen, um eine F estanstellung zu erhalten. Auf ihre weitere berufliche Karriere wirkt sich der Qualifikationsvorsprung aber nicht aus, und er hat kei­ nen entscheidenden Einfluss auf die Einkornrnenssituation. Die in Tabelle 6 ausgewiesenen deutlichen Einkornmensunterschiede bestehen zwischen Frauen und Mannern in gleichen Positionen und rnit der gleichen Berufsdauer, sie konnen also nicht durch die vertikale Segregation erklart werden. 38

2.5 AbschliejJende Bemerkungen Die durchschnittliche deutsche Joumalistin heute ist 35 Jahre alt, ledig und kinderlos. Sie verfugt uber ein abgeschlossenes Studiurn und 8 Jahre Berufserfahrung, arbeitet in den klassischen Frauenre­ daktionen und verdient rnonatlich rund 3.500 DM netto. Ihr rnannlicher Durchschnittskollege ist 37 Jahre alt, verheiratet rnit Kindem, hat ein abgeschlossenes Studiurn und 10 Jahre Berufserfahrung. Er arbeitet in einer klassischen Redaktion und verfugt i.iber ein rnonatliches Nettoeinkornrnen von 3.900 DM. Das heillt: Auch heute - wie zu Louise Ottos Zeiten - rni.issen sich die rneisten Frauen entscheiden zwischen einer Karriere als Joumalistin oder einer Farnilie. Die rneisten ihrer rnannlichen Kollegen kennen dieses Problem nicht. Die Frauenrnedienforschung hat den Minderheitenstatus von Frauen irn Joumalisrnus allgernein und in Leitungspositionen insbesondere auch :darauf zuri.ickgefiihrt, dass die auf Manner zugeschnittenen Arbeitsplatzstrukturen rnit einern Lebensentwurf unvereinbar sind, der an Beruf und Farnilie orientiert ist. Die Zustandigkeit der Frauen fur die Kindererziehung hat zur Folge, dass Joumalistinnen leichter in den sekundarenjoumalistischen Arbeitsrnarkt abgedrangt wer­ den konnen, dass sie also eher in freiberutlichen Tatigkeiten und den unsicheren und schlechter be­ zahlten Positionen zu finden sind. 39

Die Rebellion in Louise Ottos Erzahlung ,Ein Bauemsohn"

Dr. Carol Diethe (London)

Obwohl die Erzahlung in zeitgenossischen Darstellungen als Roman beschrieben wurde, ist sie deut­ lich ki.irzer als die anderen Romane Louise Ottos. Dennoch ist sie komplexer als eine Novelle, indem sie nicht nur Johannes, den Bauernsohn, behandelt, sondern einen reprasentativen Querschnitt gibt durch ein typisches deutsches Dorfim Jahr 1847, im Jahr des Hohepunkts der politischen Unterdriik­ kung in einem von arrogantem Adel und seiner korrupten Verwaltung regierten Deutschland. Eine Reaktion.auf diese Repression war die Biirgerrevolution von 1848, die im zersplitterten Deutschland einen stark regionalen, .ja, lokalen Charakter hatte und auf dieser Ebene in verschiedenen Staaten auch demokratische V erbesserungen brachte, die. allerdings oft kurzlebig waren. Die in ,,Bin Bauernsohn"37 angerissenen politischen Fragen sind .daher von weitreichender Bedeutung und umfassen nicht nur politische F orderungen nach demokratischen Rechten, sondern auch Proble­ me und Folgen des Fortschritts, der durch den Beginn des Dampfzeitalters symbolisiert wird. Das unbenannte Dorf; in dem die Frauen im Freien sitzen und stricken, wahrend urn sie herum die Huhner im Staub Bcharren, wird,durch -ein neues Gleis 'an die Welt, an das .entstehende Eisenbarilllletz,- ange­ bunden. Dieselben Leute, die gegen die Eisenbahn sind ( der Bote Martin und der Wirt der Dorf­ schenke, der Angst hat vor der Konkurrenz durch das geplante Bahnhofsrestaurant, sowie der stolze und reiche Herr Damme und sein nichtsnutziger Sohn Christlieb ), all diese Leute widersetzen si eh auch .dem Kampf fur die Demokratie, dem wirklichen Thema der Erzahlung.-Diejenigen, die fur den . Fortschritt ·sind, werden als Charaktere von offener, fortschrittlicher Denkungsart dargestellt, ange­ fuhrt vom neuen Schulmeister Karl Langer, einem Mann rnit Vision, der hoffi, Suschen zu heiraten, die Tochter von Richter Stephan und Schwester von Gottlieb. Bei der Taufe von Gottliebs letztgebo­ renem Bohn hilft die alte Bauersfrau ,Mutter Eva'~ ·bei der Zubereitung des Essens, und genau in die­ sem Augenblick taucht ihr Sohn Johannes nach langer Abwesenheit auf- nach -einer Reise, die die Eisenbahn moglich gemacht hat. Mutter Eva spielt in der Geschichte eine zentrale RoUe: Sie ist ,ganz Mutter", wahrend ihr Sohn Jo­ hannes, der seine Mutter innig liebt, .eine weitere Perspektive hat - man konnte sagen, dass er ,ganz Volk" ist. Johannes, der die .privilegierte Erziehung des ortlichen Grafensohns geteilt hatte, war der Sprung aus dem Dorf gelungen, urn sich seinen Studien zu widmen, auch wenn seine lange Abwe­ senheit seiner Mutter viel Schmerz bereitet hatte. In dieser Zeit ist Johannes in Bildung und Beneh­ men ein Mann von Welt geworden; aber wie Lehrer Lange, rnit dem er Freundschaft schlieBt, steckt er voller liberaler Ideen. Die werden erst in die Erzahlung eingekniipft, als er ein selbst verfasstes Lied singt, dessen jede Strophe rnit dem Refrain endet: ,Es ist mein Stolz, daB ich vom Volke stam-

37 Otto, Louise: Ein Bauemsohn. Eine Erzahlung fur das Yolk aus der neuesten Zeit. Leipzig: A. Wienbrack, 1849 (.AJle Zitate im Te}..i und ihre Seitenangaben beziehen sich hierauf.) 40 me" und der an entscheidenden Stellen der Erzahlung als Leitmotiv dient. (vgl. ebd.: 50, 95, 100, 235) Wohl wissend, dass sie nicht nur die Leser, sondern auch die politischen Verhaltnisse beri.icksichti­ gen musste, liel3 Louise Otto von den politischen Themen ab, urn die romantischen Bande ihrer Hauptcharaktere anzusprechen. Johannes hat keine Neigung, eine Braut zu finden, nachdem er drei Jahre zuvor mit Aurora die geliebte Frau verloren hatte. Seit ihrem Tod vlidmet er sich wit ganzer Kraft ,der Forderung der Solidaritat zwischen den Menschen und ist in sein Dorf zuri.ickgekehrt, urn ein Buch uber die Notwendigkeit politischer und liberaler Reformen zu schreiben, das von Auroras Vater, ·einem Buchhandler mit eigener Druckerpresse, veroffentlicht werden soll. Langer, der Su­ schen liebt, kommt zu der Uberzeugung, dass die von Suschen gegeniiber ihrem friiheren Spielkame­ raden Johannes gezeigte Zuneigung ein Anzeichen der Liebe ist, wahrend Friedrich, ein ehrlicher Bauer, sich darum sorgt, dass Johannes sich in Laura, die Schwester des Schulmeisters, verlieben wird, obwohl Johannes nicht die geringste Absicht hat, sich in irgend jemanden zu verlieben. Julie, die vom Schiirzenjager Christlieb- man beachte die Ironie der Namenswahl- abgewiesen worden ist, verbreitet unterdessen Klatschgeschichten iiber Suschen. Christlieb hasst den weltoffenen Johannes und intrigiert gegen ihn. Johannes hat vom ortlichen Grafen die Erlaubnis erhalten, im alten Turm der halb ruinierten Burg zu wohnen (die Beschreibung seines Quartiers erinnert an die Rudelsburg bei Bad Kosen). Der bosarti­ ge Klatsch veranlasst den Grafen aber, sich gegen ihn zu wenden. Urn seine Vorstellungen von menschlicher Solidaritat und Freiheit zu fordern, hat Johannes einen Turnverein gegrundet, in dem die Teilnehmer singen und sich sportlich messen konnen. Er iibernimmt sich jedoch, als er einen Austausch rnit einer Turnergruppe aus der benachbarten Stadt organisiert. Dies verschafft Louise Otto die Gelegenheit, die Gefahren darzustellen, die der Versuch rnit sich bringt, Stadt- und Landle­ ben zu vermischen - freilich rnit einem kraftigen Schuss Ironie, .denn es war ihre Meinung, dass die beiden lemen sollten, miteinander auszukommen in der neuen Zeit, die rnit der Dampftechnik herauf­ dammerte. Die Darbietung der Turner soll am Johannistag im Schlesshofstattfinden, aber Johannes' Feinde (Christlieb und seine Kumpane, zu denen nun auch der Forster des Grafen gehort) machen sich gezielt daran, das Turnertreffen zu sabotieren. In Zusammenarbeit mit den Gendarmen gerat Jo­ hannes in falschen Verdacht und wird unter dem erfundenen V orwurf, er habe einen Aufruhr ange­ stiftet, festgenommen: ,Ihr seid doch der freche Aufwiegler, der Johannes? Ihr seid verhaftet - im Namen des Gesetzes!" (S. 272) Der Leser weiB genau, wer die wahren Aufwiegler sind- die Behor­ den und nicht Johannes. Dennoch wird Johannes in die nahegelegene Stadt geschafft (die Heimat­ stadt der Gastesportler) und eingekerkert, 6 Monate lang, ohne Biicher, Schreibgerat und Papier. Hier spiegeln sich aktuell schon die bitteren Erfahrungen der nach dem Sieg der Reaktion in Gefan­ genschaft Geratenen, zu denen auch Louise Ottos spaterer Mann August Peters gehorte. Im Rahmen seines Freiheitskampfes erweist sich Johannes auch als ein friiher Umweltschiitzer, und sein Eintreten gegen das willkiirliche Fallen junger Baume hatte ihm zunachst die Sympathie des ort- 41 lichen Forsters verschaffi, his Christlieb Damme mit seiner Clique ihn gegen Johannes aufbringt. Der Forster hat den Grafen, einen leidenschaftlichen Jager, davon i.iberzeugt, dass Johannes ihn an der Ausi.ibung seines Sports hindern will, wahrend Johannes lediglich argumentiert hat, dass es Mord sei, Wilddiebe zu erschief3en. Der Graf stimmt der Yerhaftung von Johannes daher zu und sieht ihn als einen Aufwiegler, der seine Gastfreundschaft missbraucht hat. Sein Amtmann lehnt samtliche Be­ suchsantrage von Johannes' Freunden ab und sogar das Ersuchen, Johannes den Prozess zu machen. Erst spater erfahrt Johannes, dass die Behorden alle Bemi.ihungen seiner Freunde urn eine Erlaubnis, seine sterbende Mutter zu besuchen, kaltherzig abgelehnt haben. Es beginnt eine Zeit scharfer Reaktion. Der Turnverein wird verboten, und der ortliche Pastor wird ermahnt, in seinen Predigtenjegliche Bezi.ige auf politische Fragen zu vermeiden. Christlieb errichtet seine eigene ri.icksichtslose Terrorherrschaft im Doff: ,denn er war der besondere .Liebling des Herrn Amtmann und mit alien Gendarmen und Gerichtsboten aufDu und Du". (ebd.: 312) Im Februar 1848 (dies ist die einzige genaue Datumsangabe der Erzahlung) kann der Schulmeister endlich das Dorf informieren, dass in Frankreich Louis Philippe in einer Revolution gesti.irzt worden ist. Dieses Yorbild lost eine Reihe von Erhebungen in ganz Deutschland aus, in denen das Yolk das ihm zustehende Recht beansprucht: ,Das deutsche Yolk war i.iberall Sieger." (ebd.: 322) Dies ermu­ tigt die Dorfbewohner, die wi.itend sind, dass Johannes immer noch eingesperrt ist, i.iber dessen Un­ schuld sie Bescheid wissen. Sie tun sich mit den Bi.irgern der Stadt zusammen, in der Johannes ein­ gekerkert ist. Zunachst verhandeln sie ergebnislos mit dem Amtmann, der sie herablassend als dum­ me , Kinderchen" (ebd.: 326) behandelt und ihre von 100 Dorfbewohnern unterzeichnete Petition ignoriert, die Johannes' Freilassung fordert. In Wirklichkeit wi.irde der Amtmann die Deputation nur zu gem als Rebellen festnehmen lassen, aber er kann die dafiir notigen Krafte nicht aufbieten, zumal sich die Deputierten mit Mistgabeln, Sensen und anderen landwirtschaftlichen Geraten bewaflhet ha­ ben. Er ist mehr als erleichtert, als sie in die Stadt ziehen, ohne ihn weiter zu belastigen. Dort wird die Bi.irgergarde durch einen Trommler alarmiert, aber Johannes' Freunde haben diejeni­ gen, denen sie vertrauen - unter ihnen einige Turnkameraden - i.iber ihre bevorstehende Ankunft in­ formiert, und die Behorden konnen die Bi.irgerwehr nicht mobilisieren. Die Gefangnistore werden aufgebrochen, und ein i.iberraschter Johannes tritt ans Tageslicht. ,Er wuf3te nicht, wie ihm war, er fiihlte nur, daf3 er frei war; frei durch die Liebe des Yolkes - daf3 es ihn nicht vergessen hatte. Aber er verstand nichts von Allem und sein Auge starrte traumverloren auf eine machtige schwarz-roth­ goldene Fahne, die ein Turner vor ihm neigte und schwenkte." (ebd.: 335) Trotz aller Yerwirrung hat Johannes genug Geistesgegenwart, weitere Yersuche von Christlieb zu verhindern, die Menge zur Gewalt anzustacheln, und warnt seine Freunde vor weiterer Gewaltanwendung. Letztlich sieht sich der Graf gezwungen, den Dorflern mehr Zugestandnisse zu machen, als Johannes gefordert hatte, und Johannes verHisst das Dorf mit seinem Diener Jacob (der vorher im Dienst von Christlieb ge­ standen hatte) , urn den Kampf weiterzufiihren - , und sie haben nebeneinander auf mehr als einer Barrikade getreulich gekampft und gesiegt". (ebd. : 342) 42

In der Tat: ein Werk der Aufklarung rnit einem wahrhaft revolutionaren Ende. Und es ist bemer­ kenswert, dass es 1849 veroffentlicht wurde - besonders angesichts des Argers, den die Veroffentli­ chung von ,Schlof3 und Fabrik" (1846i8 Louise Otto bereitet hatte, einem Roman, der einen festen Platz in der deutschen Avantgarde-Literatur hat und der vom Zensor erst freigegeben wurde, nach­ dem bestirnmte wichtige Passagen gestrichen wurden, die sich auf ,kommunistische" Forderungen nach Verbesserungen in der Lage der Industriearbeiter bezogen. In ,Der Bauemsohn" gelingt es Louise Otto, auf Gleichheit .gerichtete Forderungen in ihre Erzahlung zu weben - Johannes landet schlief3lich irn Gefangnis. Sie bringt radikale Themen zur Sprache: wie die Korruption der. Gendar­ men und die Bereitschaft des Amtmannes, auf Geheill .des Adels .den Rechtsweg zu ignorieren; ab er wie ihre englische Zeitgenossin Elisabeth Gaskell in ,North and South" (1850) wamt sie vor Gewalt­ anwendung. Trotzdem kann dem Leser dieser Erzahlung nicht verborgen .bleiben; ,dass die Krafte der Reaktion und nicht die des Radikalismus die grof3te Gefahr fur, die Gesellschaft,darstellen (die stets als das .V olk beschrieben vvird). Der :Graf wird mehr ·durch seine ·eigenen . Ratgeber · geschadigt als durch irgendwelche greifbaren Gewaltdrohungen, als die Bauem schliefilich rebellieren. ·Er wird als patemalistischer Herrscher dargestellt, dessen Unterdriickungsmaf3nahmen seiner Hauptleidenschaft entspringen; der Jagd, die er durch .Johannes' Ermahnungen gefahrdet sieht. Er ist eher egoistisch und schlecht inforrniert als grausam. Dennoch schafft seine autokratische Herrschaft grausame Konsequenzen, wie sich an den Ereignis­ sen im Zusammenhang rnit dem Tod van Johannes' Mutter zeigt. Mutter Eva erleidet einen Schlag­ anfall, als sie rnit ansieht, wie ihr Sohn verhaftet wird. Sie bricht .zusammen und stirbt drei Tage spa­ ter - rnit einem Segen fur ihren Sohn auf den Lippen. Der Brief des Pastors, der Johannes uber den Tod seiner Mutter und ihren Segensspruch auf dem Sterbebett inforrniert, Wird ihm vorenthalten; statt dessen wird er gemein belogen: Seine Mutter sei rnit eineril Fluch gegen ihren Sohn gestorben. Louise·Otto legt groBes Gewicht aufdie·zentrale Rolle· der ·Mutter Eva.in ihrer·Erzahlung, und dies entscharft die potentiell provokativen Elemente :der:. Geschichte, ·die verschlusseltcim Titel stehen: der

Aufruf an das Volk, in dieser modemen Zeit auf seineRechte zu ~ pochen . Die Darstellung det Mutter zeigt Louise Otto auf der Hohe ihres Konnens. Aufden ersten Blick ist Eva eine einfache Bauersfrau, die fast abnormal an ihrem Sohn hangt. Ihr Gefuhlsausbruch bei seiner Ankunft konnte den Schluss nahelegen, dass seine Abwesenheit zumindest teilweise dazu diente, die · Fixierung seiner Mutter ·auf ihn loszuwerden; aber Louise Otto zwingt uns, hinter die Fassade zu blicken. Mutter Eva hat keinen Nachnamen, Johannes ebensowenig. Wir erfahren allerdings, dass se in Vater ein Bauer in dem Dorf war und dass die F ami lie in de m Haus lebte, das jetzt der Richter und seine Farnilie bewohnen (Suschen; Gottfried und Katchen und ihre Kinder). Sie wohnt als Un­ termieterin in ihrem eigenen Heim und verdient ihren Lebensunterhalt als eine Art Madchen fur AI-

38 Otto, Louise: Schlofi und Fabrik. Leipzig: A. Wienbrack, 1846; vgl. auch: Otto-Peters, Louise: Schlofi und Fabrik. Erste vollstandige Ausgabe des 1846 zensierten Romans. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jo­ hanna Ludwig. Leipzig: LKG, 1996 (LOUISEum 3). ISBN 3-376-05031-7 43 les. Sie wird van alien geliebt und mit Respekt behandelt, aber das andert nichts daran, dass bei Jo­ hannes' Ankunft kaum Platz fur ihn ist in Mutters engem Quartier, und sie sprechen sofort dariiber, wo er wohnen wird. Er hat dieses Problem vorausgesehen, und sein Wohltater, der Graf, hat ihm be­ reits versprochen, ihn unterzubringen. Und doch wird der aufinerksame Leser feststellen, dass er ein Fremder in seinem eigenen Heim ist. Seine Mutter steht hier fur alle Mutter, die ihre Sohne his an den Rand der Verzweiflung lieben; ab er Louise Otto (die nie Kinder haben sollte und dies vielleicht schon ahnte) will Mutter Evas iiberzogene Ergiisse miitterlicher .Liebe als ihre einzige Gelegenheit verstanden wissen, ihren Gefuhlen Ausdruck zu geben. Was ist ihr denn sonst geblieben, der Witwe eines Bauem, der nicht in der Lage war, sie nach seinem Tod zu versorgen, ihr nicht einmal ein Dach uber dem Kopf zu hinterlassen? In Lacans Terminologie ist Mutter Eva gezwungen, in einem Vakuum .zu ·denk:en und zu handeln, da in der Geschichte zwar ein Sohn dargestellt wird; es·aber·keinen Vater gibt: Alle v.aterlichen Funktio­ nen sind an Autoritatspersonen ubergegangen, .ganz ,gleich, ob sie Gutes oder Boses wollen: der Pa­ stor wie der Grafund seine Untergebenen. Seibststandigkeit ist nicht charakteristisch fur Mutter Eva: Sie leidet an einer pathologischen Miitterlichkeit. 39 Die Rhetorik ihres Sohns iiber das Yolk versteht sie nicht; diese Rhetorik·verschaffi·ihm aber eine Genealogie und konnte auch ihr einen Anteil an der Gesellschaft geben, wenn sie die Logik nur verstehen konnte. Diesen Grad an Aufklarung erlangt sie jedoch nie, denn sie klammert sich leidenschaftlich und irrig an einen Patemalismus, der doch ihre Stimme systematisch unterdriickt. Mutter Eva - eyJstierend in solchem Vakuum, das die natiirlichen Familienbande zerstort und die Frauen zum Schweigen verdammt- ist noch nicht einmalin der Lage, ihren Sohn als Erwachsenen zu sehen, der fur sie in seinem Namen sprechen konnte. Dies zeigt sich, als sie Johannes zu tiberreden versucht, bei seinem Tumerfest nicht offen zu sprechen, urn den Grafen nicht vor den Kopf zu stoBen - ,es ist .Gefahr bei dem freien ·Reden" ( ebd.: 257). Johannes beklagt die kleinmutige Sorge seiner Mutter, dass ihr Sohn doch urn jeden Preis jegliches Risiko vermeiden sollte: .,;Wie schon ware es wenn nun jetzt die Mutter, statt nur an sich zu denken, an das grofJe Ganze hatte denken konnen. 11 ( ebd. : 264) Statt dessen gewinnt Mutter Eva als eine Art Bauchrednerin fur ,le nom du pere" ihrem Sohn ein Schweigegelobnis ab, ohne sich dariiber im klaren zu sein, dass die Vertreter des Staates durch Schweigen nicht unbedingt beschwichtigt werden; denn der Graf hat zwar bisher eine Vater­ funktion ausgeiibt, ab er die Umstande fuhren dazu, dass aus dem patemalistischen · Herrscher ein Despot wird. Louise Otto, sehr wohl wissend, dass die Mutter in der deutschen Kultur eine tiberzogene, fast my­ thologische Position einnimmt, machte die Mutterliebe zu einem wichtigen Thema ihrer Erzahlung. Sie lag genau richtig mit ihrer Einschatzung, dass die Behorden bei der Lekttire des ,Bauemsohn"

39 Lacan, Jacques: Schriften I - Ill. Hrsgg. von Norbert Haas. Berlin: Quadrigo, 1986 (1966): ,SchlieBlich und vor allem aber steigern die Sittlichkeit des Se:-.:uallebens bei den Vertretern der Moralzwange und das einzigartige trans­ gressive Vorbild, das die Vaterimago bei der Ubertretung des Urverbots gibt; die Spannung der Libido und die Reich­ weite der Sublimation im hochsten Grad." (Ill: 76) 44 die von der Mutterliebe iiberflieBenden Seiten als Indiz dafur sehen wi.irde, dass die Erzahlung keinen aufriihrerischen Charakter hatte - ein au/3erst effektives Ablenkungsmanover. Louise Otto aber geht noch weiter. Subtil unterrniniert sie die Mythologie, die die deutsche Mutter auf einen Podest stellt, indem sie ihre weibliche Protagonistin ,Eva" nannte- ein Name, der an den Siindenfall der Frau erin­ nert und sexuelle Assoziationen enthalt. Nachdem sie (wie Eva aus dem Paradies) aus ihrem eigenen Haus vertrieben 'Arurde, klammert sie sich allerdings nicht an ihren Mann, der ja tot ist, sondern an ihren Sohn, der das einzige Ziei ihrer Wiinsche ist. Diese verlagerte Zuneigung bringt sie urns Leben: Als sie sieht, wie Johannes gewaltsam fortgeschleppt wird, hat ihr Leben keinen Sinn mehr. Louise Otto,· die hier der Freudschen Psychologie urn ein halbes Jahrhundert vorgreift, macht sehr deutlich, dass Johannes sich selbst zwar als ideologischen Sohn des Volkes sehen mag, dass er in Wirklichkeit ab er der biologische Sohn einer benachteiligten und bediirftigen Mutter ist, die Entbeh­ rungen in die Hysterie treiben. Alle Forderungen·desJohannes nach mehr ·Gleichberechtigung fur die Bauemund nach.einer Verbesserung des .geistigen undkorperlichen Gesundheitszustands .der Land­ . arbeiter scheinen vorwiegend auf Manner abzuzielen; aber zwischen den Zeilen steht schon die Hoft-:. nung auf Verbesserungen fur Manner und Frauen in Deutschland. Louise Ottos Darstellung von Mutter Eva als .einer Frau. in so gro/3er Abhangigkeit von ihrem Sohn, dass es schon Mitleid erregt, ist·bei naherem Hinsehen nicht ,besonders attraktiv.·Aber genau darinverbirgt sich das ganze Ausma/3 von Ottos Rebellion, denn sie wagt hier zu fordern- wenn auch in gedampftem Ton, dass Frauen fa­ hig sind, unabhangig zu sein, und lernen sollten, rnit ihrer eigenen Stimme zu sprechen und nicht durch die des Patriarchen. Dieses Ideal beseelt ihre ganze spatere Arbeit. Es zieht sich wie ein roter Faden durch ihre spateren literarischen Werke, und es erklart auch ihre Betonung der ,Selbsthilfe" in der Ideologie des Allge­ meinen deutschen Frauenvereins, den sie 1865 in Leipzig griindete und der in der zweiten Halfte des 19. ·J ahrhunderts das Zentrum der ,entstehenden·deutschen Frauenbewegung wurde.40

40 vgl. hierzu den Beitrag von S. Schotz (und auch den von S. Bietz) in diesem Band 45

Zur Rezeption der Lyrikerin Louise-Otto-Peters heute

Dr. Ingrid Muller (Leipzig)

Im Programm des 8. Louise-Otto-Peters-Tages im November 2000 heiBt es an einer Stelle: ,Vorstellung von Biichern, Projekten und Ideen". Das warder Anlass, meine ersten Gedanken und Gefuhle zu einem Vorhaben im Rahmen unserer Louise-Otto-Peters-Gesellschaft offentlich zu ma­ chen. Seit einiger Zeit lasst mich der Gedanke an die Gedichte von Louise Otto-Peters nicht mehr los. Mein Zugang zu dieser bemerkenswerten Frau erfolgte zunachst uber Zeugnisse ihrer journalisti­ schen Tatigkeit und ihres lebenslangen Kampfes fur die Wiirde und das Recht der Frauen, groBten­ teils durch Interpretationen in Schriften, V ortragen und Ausstellungen. Das war meistens verbunden rnit der Aufnahme von biographischen und historischen Fakten. Dann las ich einen ersten Roman und schlieBlich erste Gedichte; es waren Zeugnisse der Vormarzschriftstellerin, der Achtundvierzigerin. Ich bewunderte ihren Mut, als Frau - und dazu aus gutbiirgerlichem Haus - rnit ihren Versen aktuelle soziale und politische Themen aufzugreifen, zum Nachdenken zu zwingen, aufzuriitteln und anzukla­ gen. Da·fallen mir z. B. solche Gedichte ein wie ,Klopplerinnen", ,An Georg Herwegh", ,Lied eines deutschen Madchens" (,Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib!"), ,Nach der Ermordung Robert Blums" und ,Fiir alle". Das sind Gedichte, die die gerechtigkeitsliebende, fortschrittsbewusste und kampferische Seite der Dichterin in den Vordergrund riicken, langst und zuerst wieder ausgegraben und neuerlich gedruckt von den Gesinnungsgenossinnen im 20.·Jahrhundert. Meine Neugier auf weitere Kostproben der Lyrikerin war geweckt. Fragen taten sich auf: Woher nahm diese in eine umbruchtrachtige, schwierige Zeit hineingeborene und vom Schicksal nicht ver­ wohnte Frau ihre Kraft? Welchen Themen wandte sie sich noch zu? Wie weit offhete eine Frau von damals mit so wachem und praktischem Verstand, mit so diszipliniertem und planvollem Tun ihre Seele? Lasst sie uns so an ihrer Bewaltigung der positiven wie negativen Gefuhlsstrome teilhaben, dass wir- auch heute noch- in gewisser Weise Lebenshilfe erhalten? Diese und andere Fragestellungen brachten rnich auf die Spur. Ich bekam den spaten Gedichtband "Mein Lebensgang. Gedichte aus funf Jahrzehnten" (1893) in die Hande und wurde fundig. Inzwi­ schen bin ich ziemlich sicher, dass es nach manchem anderen Lyrikband (Louise dichtete von Kind­ heit an und veroffentlichte schon seit Anfang der 1840er Jahre) die schonste und reifste Gedicht­ sammlung von ihr ist. Hier findet man iibrigens im Vorwort das Bekenntnis: ,Aber ohne zu dichten, konnte ich nicht leben." Und was fur ein Reichtum, was fur eine Vielfalt- nicht nur beziiglich der Themen, sondern auch der lyrischen Formen! Bei einigen Versen imponiert die seelische Tiefe. Am meisten beeindruckt hat mich die Liebes- und Naturlyrik, aber auch einige Balladen historischen Inhalts und Zueignungsge- 46

dichte finde ich sehr schon. Wenn auch bier und da ,ein leises Befremden aufkommt" und es ist, ,als stiinde man nun vor verschlossenen Tiiren", wie es Katrin Arietta in ,LOUISEeum 2" ausdriickt. Aber mir geht es wie ihr - ,da zaudere ich, mich abzuwenden, weil ich spiire, daB es hinter diesen Tiiren immer noch schaumt". (Arietta 1995: 106) In diesen Gedichten begegnet uns ein Schongeist, eine tief- und mitfuhlende Gefahrtin mit gioBer Lebensweisheit und reichem Innenleben. Wer das folgende Gedicht (Otto-Peters 1868: 52) liest, kann ahnen, welcher Schatz in den Lyrikbanden verborgen ist:

Immer noch Und immer noch wird dieses Herz V on wilder Qual zerissen, Und immer noch kann es im Schmerz Des Liedes Trost nicht missen. Warum auch lebt es nur in Lieb'? Warum ein solch Gewohnen? War's besser doch den heillen Trieb Zu bannen, zu verhohnen! Manch andres Herz ward eiseskalt, Das liebeheill geschlagen Ward ruhig, gliicklich - weil es alt, Hort auf mit Wunsch und Klagen. Und manches Herz kann wechseln bald Die Glut und Frostgefuhle, Und kann an Menschen mannichfalt' Sich hangen im Gewiihle - Mein Herz ist ewig treu und still - So mag es still auch brechen, Denn besser ist' s, als wenn es will V on seinen Schmerzen sprechen. Urn Mitleid betteln soll es nicht, Es sterb' in seinen Flammen - Sein letztes Leuchten ein Gedicht - Zu Asche sinkt's zusammen.

Zwischen diesen Zeilen manifestiert sich das obige Bekenntnis Louises. Und ob es Marie Luise Kaschnitz nun so ausdriickt: ,Schreibend wollt ich meine Seele retten", oder ob Christa Wolf sagt, ,daB ich nur schreibend iiber die Dinge komme ... " - es ist immer das Gleiche. Solche Autorinnen haben uns etwas zu sagen, vermogen uns zu bereichern. Das wussten die Zeitgenosslnnen von Louise Otto-Peters sehr wohl, denn schon 1861 wurde von ihr im Leipziger Sonntagsblatt als von einer ,so gefeierten Dichterin" geschrieben. 1892 erhielt sie das Ehrendiplom des Leipziger Schriftstellerinnenvereins, den sie zwei Jahre vorher mit aus der Taufe gehoben hatte. 47

Im 20. Jahrhundert wurde es dann still urn die Schriftstellerin und ihr Werk, zu Unrecht, wie wir m em en. Aus allen diesen Dberlegungen und Erlebnissen heraus erwuchs die Idee, eine gemeinsame genuss­ volle Rezeption der schonsten Gedichte von Louise Otto-Peters zu organisieren, in angemessener Umgebung, mit viel korrespondierender Musik. Aufunsere Fragen werden wir dann Antworten finden. Und, wer weil3, vielleicht hat das Ganze noch ein schriftliches (gedrucktes) ,Nachspiel"? Das Motto der Veranstaltung konnten Louises Worte sein: ,Mein ganzes Leben war ein Lied."

Literatur Arietta, Katrin: Louise Otto-Peters. Ihr Iiterarisches und publizistisches Werk. Leipzig: Leipziger Universitiitsverlag: Leipzig, 1995 Otto-Peters, Louise: Gedichte. Leipzig: Verlag E. F. A. T. Rotschke, 1868 Otto-Peters, Louise:(l893): Mein Lebensgang. Gedichte aus fiinf Jahrzehnten .. Leipzig: Verlag von Moritz Schafer, 1893 48

Louise Otto-Peters in meinem Leben ( angemeldeter Diskussionsbeitrag)

Renate Schroder (Leipzig)

Dieser 8. Louise-Otto-Peters-Tag ist fur mich der erste. An freundlichen Einladungen mangelte es mir nicht - doch erst heute nehme ich endlich an einer Veranstaltung Ihrer Gesellschaft teil. Ich war auf diese sehr neugierig, schon wegen der Fragezeichen hinter dem vorangestellten Motto. Und ich mochte vorwegnehmen: Ich bereue nicht, dass ich gekornmen bin. So viel weibliche Kompetenz und illusionslose Lebensbejahung, solch aufrechter Gang ohne die Schwere der Bedeutsamkeit sind mir lange nicht- wann iiberhaupt?- begegnet. Dabei war mir die Louise-Otto-Peters-Gesellschaft gewis­ sermaBen aus der Feme schon irnmer sympathisch. Nicht zuletzt ihres Namens wegen. Er hat fur mich einen ganz bestirnmten Klang. Er weckt Erinnerungen, die in den Stunden hi er neu belebt wur­ den: an geistig-intellektuelles Erleben und aufregenden Erkenntniszuwachs in jungen Jahren, als sich die Fragen Woher, Wohin, Wozu auftaten. Da warder Roman Hedda Zinners ,Nur eine Frau". Den las ich vor iiber 40 Jahren mit groBer An- ·. teilnahme, ich glaube, nicht nur einmaL Ich verliebte mich dabei in Louise, _das heiBt naturlich in die von der Autorin geschaffene Figur. Dieser Tage las ich den Roman erneut, nach den dazwischen lie­ genden Jahrzehnten selbstverstandlich mit anderen Augen, auch anderen literarischen Neigungen. Doch finde ich irnmer noch, er kann bestehen und glaube, ein tiefes ernsthaftes Einfuhlen der Autorin in Leben und Wesen der ,wirklichen" Louise wahrzunehmen. Damals unternahm ich auch den Ver­ such; an das ,Original" naher heranzukornmen. Am Rande von Priifungsvorbereitungen in Deutscher Bucherei und Universitatsbibliothek suchte ich nach Schriften von Louise, bekam wohl auch dieses oder jenes in die Hand. Waren es die ,Lieder eines deutschen Madchens"? Oder gar eine Nurnmer der ,Neuen Bahnen"? Ich weill es nicht mehr. Sowieso blieb ich beim Lesen in Ansatzen stecken. Ich konnte mich mit der blumigen Sprache- wie ich es empfand- nicht so recht anfreunden. Wenngleich ich sehr wohl spiirte: Der Ton, der da angeschlagen wurde, war echt, und aus der mitunter sehr emotionalen Schreibweise blickte eine mutige, genau ,auf den Punkt" denkende Person heraus. Diese Erinnerungsspur verliert sich bald, verschwimmt. Entschieden deutlicher ist mir ein anderes geistiges Grunderlebnis, welches in einem mittelbaren Zusammenhang zur friihen Begegnung mit Louise steht, ·im Bewusstsein geblieben. Mitte der funfziger Jahre nahm ich an einem Forschungsauftrag iiber die Entwicklung des Frauenstudiums in Deutschland teil. Mir fiel dabei die Aufgabe zu, in der Deutschen Biicherei die von Clara Zetkin redigierte ,Gleichheit" der Jahrgange 1892- 1917 nach dieser The­ matik durchzuforsten. Was ich las und notierte, schien mir - die ich von der Position des ,Vollbrachten" ohne jedes Fragezeichen ausging- in sehr weiter Vergangenheit zu liegen und in dem Land, in welchem ich lebte, ein fur allemal uberwunden zu sein. 49

In den einzelnen Nummern der Zeitschrift nahmen das Frauenstudium und damit zusammenhangende Probleme einen relativ kleinen Raum ein. Jedoch amEnde der Durchsicht hatte ich einen Kasten prall mit beschriebenen Karteikarten gefullt. Was auf ihnen festgehalten war, bezeugte: Das Recht der Frauen auf Hochschulbildung und akademische Berufe war fur die ,Gleichheit" keineswegs ein Randproblem. Auch wenn sich immer wieder der Hinweis fand, dass es dem Alltag der proletarischen Frauen, fur welche das Blatt da sein wollte, ziemlich fern lag und deren unmittelbare Interessen kaum beriihrte. Die Abgrenzung der sozialistischen von der burgerlichen Frauenbewegung zog sich kontinuierlich durch alle Jahrgiinge hindurch. Dies behinderte jedoch keineswegs die intensive Anteilnahme an den Emanzipationsbestrebungen biirgerlicher Frauen. In diesem Zusammenhang taucht bei mir die Frage auf, ob es bei aller Distanz; die zweifellos auch auf der anderen Seite vorhanden war, Beriihrungen zwischen den Vertreterinnen·beider Stromungen, eventuell gar zwischen Louise Otto-Peters und der jungen Clara Zetkin gegeben hat. Aber wahr­ scheinlich ·frage ich langst bekannten Dinge? Mich hatte, neben dem Volumen, welches das Thema Frauenstudium in der ,Gleichheit" insgesamt einnahm, besonders die Art und Weise beeindruckt, in welcher dariiber geschrieben wurde: Streitbar, ja mit beillendem Spott gegeniiber denjenigen, die re­ aktioniire Bestimmungen in Sachen Frauenstudium in deutschen Landen gewahrt wissen wollten, mit warmherziger Parteinahme fur das Ringen von Frauen, die hartleibige Phalanx aus politischer Ruck­ stiindigkeit, geistiger Enge und Konkurrenzneid studierter Herren zu durchbrechen. Vorgiinge klein­ licher Drangsalierung und widenviirtiger Diffamierung wurden mitgeteilt, ihre Initiatoren aus aka­ demischen und politisch konservativen, aber einflussreichen Kreisen, bloBgestellt. Mitunter glaubte ich, einen Krimi zu lesen, so brisant und aus meiner Sicht unglaublich, waren die Dinge, die sich da abgespielt hatten. So wurden 1901 in einem Prozess am Schoffengericht in Moabit 7 Berliner Arztinnen beschuldigt, si eh im Adressbuch Bezeichnungen zugelegt zu haben, die ·ihnen nicht zustiinden. Sie nannten si eh dort Dr. med., wiihrend auf ihren Praxisschildern ausgewiesen war, dass sie ihre·Approbation in der Schweiz erworben hatten - gezwungenermaBen, denn in Deutschland waren Medizinstudentinnen nicht zu den Staatspliifungen zugelassen. Dadurch, so lautete die Denunziation eines mannlichen ,Kollegen", seien , beschrankte Leute der Gefahr ausgesetzt gewesen, zu glauben, die Arztinnen hiitten . . . ihre Promotion in Deutschland erworben und seien infolgedessen ihren mannlichen Kolle­ gen gleichberechtigt". Der Prozess endete mit Freispruch, weil Pressdelikte nach 6 Monaten ver:iahr­ ten! Die ,Gleichheit" sprach die Hoffnung aus, dass ,die mutigen Frauen ... ihre Bezeichnung auf­ recht erhielten und eine grundsiitzliche Entscheidung herbeifuhrten". Einen Beschluss, den 26 deutsche Arzte einem Arztetag einreichten, gab die Zeitschrift auszugsweise wieder, urn ihn ais ,vorsintflutlich" zu charakterisieren. Denn dort wurde formuliert, dass weitere Zugestiindnisse in Sachen Frauenstudium eine ,Minderung des arztlichen Ansehens herbeifuhren" wiirden. In der Diskussion dariiber fiel der Satz: ,Die Frau memoriert, der Mann studiert." Manch- 50 mal atmete ich regelrecht beim Lesen auf, diesen schauerlichen Zeiten entronnen zu sein und durch einen giitigen Zufall hier, in dieser Halfte der Welt, zu leben. Ich war i.iberzeugt, es gehe in meinem Land nur mehr urn die Festigung und Weiterentwicklung des Erreichten, was ohnedies weit i.iber die Ziele und ki.ihnsten Gedanken einer Louise Otto-Peters hinausging. So viel Wahrheit dieser Auffas­ . sung auch innewohnte, im Ri.ickblick empfinde ich ihre Begrenztheit. In meine Vorliebe fur eindeuti­ ge Antworten und Erklarungen, die mit Punkt oder gar Ausrufezeichen endeten, schlich sich langsam das Fragezeichen ein - als ein zart zwickender Zweifel, ob wir wirklich schon bis zu allen Wurzeln der gesellschaftlichen Ungleichheit der Frauen vorgedrungen waren. Die Erfahrungen im praktischen Le ben liefen darauf hinaus, dass es zwischen Gesetzen und staatlichen Regelungen einerseits und den in der Gesellschaft verankerten Denk- und Verhaltensweisen andererseits betrachtliche Unterschiede geben kann und auch gab. Dabei konnte ich mich, verglichen mit meiner Mutter oder gar meiner GroJ3mutter, gewiss nicht beschweren. Trotzdem - oder gerade deshalb? - wuchs meine Empfindlich­ keit gegeni.iber Auffassungen und Verhalten, die den vorhin zitierten aus grauer Vorzeit gar nicht so fern waren, wenn sie auch anders artikuliert wurden. Ich ordnete sie aber noch unter ,Muttermale" der alten Gesellschaft ein, urn schlieJ3lich doch von der Erkenntnis eingeholt zu werden, dass das alte patriarchalische Denken noch nirgends i.iberwunden war. Auch in meinem gelobten Land existierte es noch weiter - nicht nur in den Kopfen von Mannern! All die - bisher tatsachlich beispiellosen - gesell­ schaftlichen Moglichkeiten und Einrichtungeri., waren die nicht f i.i r die Frauen geschaffen? Und wir dankten dies bei vielen Gelegenheiten dem Ubervater Staat und mi.ihten uns, dem Bild der fort­ schrittlichen Frau, wie manes fur uns entworfen hatte, zu entsprechen. Nati.irlich, im Nachhinein re­ det es sich gut. Ganz so sicher war ich mir damals meiner Sache nicht und weit davon entfernt, so mutig und entschieden zu sein wie Louise und die Frauen urn sie, i.iber welche ich uns doch weit hin­ ausgewachsen wahnte. Ich machte meine Emporung i.iber Anachronismus und ,sozialistische" Bor­ niertheit, wenn ich ihnen begegnete, nicht offentlich. Hochstens setzte ich mich hin und schrieb, was ich dann sorgfaltig wegschloss. Immerhin, zur Belbstverstandigung diente das. Es bedurfte jedoch no eh eines weiten argen W eges der Erkenntnis, ehe ich wusste, dass es die Machtstrukturen im Land und bedeutende Demokratiedefizite waren, die ein wirklich gleichberechtigt selbstbestimmtes Leben des weiblichen Geschlechts nicht zulieBen. Da war aber das Ende des Landes gekommen, bereits Er­ reichtes ri.ickgangig.gemacht und die Frauen aus errungenen Positionen wieder hinausgedrangt. Manchmal habe ich schon gedacht, dies sei eine trostlose Zeit. Zu der Bewunderung fur Louise Otto­ Peters und die Damaligen - Clara Zetkin eingeschlossen - ist ein wenig Neid - ja, Neid! - hinzuge­ kommen. Aufihre Nichtresignation, ihren Fortschrittsglauben, den ich so nicht mehr teilen kann. Und trotzdem: Als hier die Mi.ihen urn den Erhalt des Goldschmidt-Hauses geschildert wurden, fiel die Nebenbemerkung: , .. . wohl wissend, dass wir es ohne Erfolg tun wi.irden". Ich glaube, das ist es: Trotzdem tun. Und das ist es auch, weshalb ich - wie ich eingangs sagte - nicht bereue, hierher ge­ kommen zu sein. Dieses Trotzdem war auf so gelassene heitere Art zu spi.iren. Und die Beitrage, die 51 zum Fragezeichen hinter dem Thema der Tagung gegeben wurden, bestarkten rnich darin, dass Fra­ gen wieder, anders, neu gestellt, ein Gewinn sein konnen. Vielleicht der wichtigste?

P.S. Den erwahnten Kasten rnit den Karteikarten bewahrte ich i.ibrigens noch lange aut: auch als ich rnich dem Thema nicht mehr widmete, die Universitat verlassen, andere Wege eingeschlagen hatte. Mir war immer, ich mi.isse noch einmal darauf zuri.ickkommen. Dann aber habe ich die Auszi.ige nach einem Umzug zerrissen. Bis aufwenige Ausnahmen. Das tut rnir heute noch irgendwie weh- so, als habe ich rnich an etwas Lebendigem vergriffen. 52

Frauen- und Madchenbildung war ihr Bestreben - Die Lehrerinnen Ottilie von Steyber und P.•. uguste Schmidt

Dr. Astrid Franzke (Leipzig)

Die Frauen- und Madchenbildung stand im Zentmm der sich 1865 organisierenden burgerlichen Frauenbewegung. Die zu geringen Bildungschancen fur Frauen, die in der Regel nach der Konfirma­ tion - also im Lebensalter von nur 14 Jahren - bereits beendet waren, und die fur Frauen nicht vor­ handene Berufsausbildung zahlen zu den wichtigsten Ursachen dafur, dass das weibliche Geschlecht (genauer: die Frauen der burgerlichen Stande) vom Erwerbsleben ausgeschlossen blieben. Das wie­ derum begriindete gerade deren untergeordnete, ja abhangige Stellung vom mannlichen Geschlecht. Die gleichberechtigte Partizipation der Frauen an der Bildung und Berufsausbildung hielt die Frauen­ bewegung fur eine Grundvoraussetzung, urn den Frauen den Weg zur Gleichberechtigung in der Ar­ beitswelt und der Gesellschaft als Ganzes zu eroffnen. Fur dieses Engagement fanden die Frauen in Sachsen eine Reihe giinstiger Umstande vor: Sachsen erwies sich gerade in den 1860er Jahren im Zuge der allgemeinen Politisierung und .der relativ weit fortgeschrittenen Industrialisierung fur · diese Bestrebungen als auf3erst fruchtbar. Hinzu kam die damit einhergehende wirtschaftliche Prosperitat und das libemle Klima, insbesondere in der Kultur-, Buch- und Messestadt Leipzig, das den Boden fur die Aufgeschlossenheit Neuem gegenuber berei­ tete. Es waren dies die Jahre der Vereinsgriindungen. Erinnert sei an dieser Stelle an einige wenige: 1863 griindete Lassalle den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig. Dies war die Zeit, in der sich der Leipziger Arbeiterbildungsverein herausbildete, in dessen Vorstand August Be­ bel wirkte; der erste Dienstmadchenverein war schon-· 1848 entstanden. Und schlief3lich wurden die 1860er Jahre die der beginnenden Organisierung der burgerlichen Frauenbewegung.41 Im Kontext dieser Entwicklung nahm der Leipziger Frauenbildungsverein eine besondere, insgesamt noch wenig untersuchte Rolle ein. Er wurde im ·Marz 1865 auf Initiative von Louise Otto-Peters (1819-1895), Auguste Schmidt (1833-1902), Ottilie von Steyber (1809-1870) und Henriette Gold­ schmidt (1825-1920) gegriindet. Auguste Schmidt wares, die auf Bitten von Louise Otto-Peters am 7. Marz 1865 zur Griindungsveranstaltung unter grol3em Andrang in der Deutschen Buchhandler­ borse zu Leipzig, Ritterstr. 12 (heute: Gastehaus der Universitat), den Eroffnungsvortrag hielt. Die­ ser, ihr erster bedeutender offentlicher Vortrag zur Frauenfrage, den sie in langerer freier Rede ent­ wickelte, stand unter dem Titel ,Leben ist Streben". In diesem Debut forderte sij; ,auch fur die Frau Anteil an dem Streben nach geistigem Fortschritt und nach einem Beruf, der unabhangig von der Gestaltung der Familienverhaltnisse auch der Ledigbleibenden ermogliche, ein nutzliches Leben zu

~ 1 vgl. Nachwort von Astrict Franzke und Gisela Notz zur Schrift von Louise Otto-Peters: Das Recht der Frauen auf Enverb (Otto-Peters 1997). Auf die Rolle von P. A. Kom wird hier bewusst nicht eingegangen; vgl. dazu den Beitrag von S. SchOtz in diesem Heft. 53

fuhren, si eh selbst durch ihre Arbeit zu erhalten und ihrem Dasein einen wiirdigen Inhalt zu geben." (Plothow 1907: 43) Dieser Vortrag, den sie 32jahrig, als erfahrene Padagogin hielt, stand quasi am Beginn ihres frauen­ rechtlerischen und publizistischen Wirkens und sollte das Lebensmotto fur Jahrzehnte wahrendes en­ gagiertes Wirken im Kampfum die Verbreitung des Gedankens der Gleichstellung von Frau und Mann und dabei insbesondere der Frauenbildung sowie der Frauenfortbildung bleiben. Er wies sie als exzellente Rednerin aus, die es vermochte, nicht nur diejenigen fur das Frauenthema zu begeistern, die diesem ohnehin schon aufgeschlossen gegeni.iber standen, sondern auch die Abseitsstehenden und selbst erklarte Gegner aufzuschlieBen. ,Wir verlangen nur, daB die Arena der Arbeit auch fur uns und unsere Schwestern geoffnet werde", so schloss Auguste Schmidt. (Plothow 1907: 43) In ihrem Vortrag rief sie dazu auf, dem neuen Frauenbildungsverein beizutreten. Auguste Schmidt lud fur den nachsten Tag in das Institut der Otti­ lie von Steyber ein, die dafur ihre Raume utientgeltlich zur Verfugung stellte. 35 Frauen waren der Einladung gefolgt. Der Leipziger Frauenbildungsverein hatte es sich gemaB § 1 seiner Satzung zur Aufgabe gemacht, Bildung und ,Veredlung" des weiblichen Geschopfs fur diejenigen zu ermoglichen, die keine Gele­ genheit zur Weiterbildung hatten. Die Mittel, urn dies zu erreichen, wurden in Bildungsvortragen, Vorlesungen, deklamatorischen und musikalischen Vortragen zu den verschiedensten Themen auf dem Gebiet der Literatur, der Geschichte, der Politik, der Bildung, der Naturwissenschaften und der Technik sowie in den zahlreichen ,Abendunterhaltungen" gesehen. Dem Leipziger Bildungsverein war eine Sonntagsschule fur konfirmierte Madchen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren angegliedert. In mehreren Abteilungen wurden ea. 40 Schi.ilerinnen in der Zeit von 10 bis 12 und 14 bis 16 Uhr zunachst in den Fachern Franzosisch I Deutsch I Rechnen, weibliche Handarbeiten und ab 1868 er­ weitert durch Geographie, Handelskunde (Buchfuhrung), Zeichnen, Singen unterrichtet.

Es war dies der erste Frauenverein, der nicht wohltatigen Zwecken (ebd ~: 35) gewidmet war, son­ dern sich zum Ziel machte, die Anhebung der Bildung der Frauen zu erreichen, sich als Hilfe zur Selbsthilfe verstand und nach dem Prinzip der Selbstorganisation aufgebaut war. Der Frauenverein vergroBerte sich sehr schnell und entwickelte ein reichhaltiges Programm. Daher trug er in verschie­ dener Hinsicht zur Frauenbildung bei. Neben den Abendunterhaltungen fur Frauen wurden eine Fortbildungsschule fur konfirmierte Madchen, Btiros fur Abschreiberinnen, eine Stellenvermittlung, eine Speiseanstalt fur Frauen sowie eine Bibliothek eingerichtet. Der Leipziger Frauenbildungsverein

bestand 30 Jahre lang. ~vfit den jahrlich ea. 25 Veranstaltungen entfaltete er ein tiberaus reges kultu­ relles Leben. Louise Otto-Peters \\rurde zur ersten und Ottilie von Steyber zur zweiten Vorsitzenden gewahlt. Ein wichtiges Ziel des Leipziger Frauenbildungsvereins war es jedoch, eine groBe gesamtdeutsche Frauenkonferenz nach Leipzig einzuberufen: Dies gelang schon wenige Monate spater, im Oktober 1865. 54

In ihrer Eroffnungsrede zur Griindungsveranstaltung des AdF forderte Louise Otto-Peters die anwe­ senden Frauen dazu auf, iiber Wege und Mittel zu beraten, wie man den Wirkungskreis der deut­ schen Frauen erweitern konne. Die programmatische Aussage lautete: ,Wir erklaren nach dem Be­ schluB der ersten deutschen Frauenkonferenz: die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Gesellschaft sein soll, fur die Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts, nehmen dagegen das Recht der Arbeit in Anspruch und halten es fur notwendig, daB alle der weiblichen Arbeit entgegen­ stehenden Hindernisse entfernt werden." ( ebd.: 48) lm § 1 der Satzung des AdF werden vor allem drei Ziele der Vereinsgriindung benannt: Die Erho­ hung des Bildungsstandes der Frauen, das Recht der Frauen auf Erwerb auBerhalb des Hauses und schlieBlich der Zugang der Frauen zu mittlerer und hoherer Bildung (Berufsausbildung). ,Das Recht der Frauen aufErwerb" von Louise Otto-Peters ist 1866 unmittelbar unter dem Eindruck der Griin­ dung des AdF und zum Zwecke seiner Popularisierung verfasst worden. ,Die Frauenbewegung lag in der Luft, . und die Frauenfrage ward ,reif zur offentlichen Diskussion. Die Frauen wagten es selbst, sich im Dienst ihrer eigenen Interessen zu regen und mit ihren Bestrebungen an die Offentlichkeit zu treten." (Otto-Peters 1997: 9) Mit Auguste Schmidt gab Louise Otto-Peters fast 30 Jahre lang das Vereinsorgan ,Neue Bahnen" heraus. Im folgenden mochte ich das Augenmerk auf die Lehrerinnen Ottilie von Steyber42 und Auguste Schmidt lenken; die zu den Griindungsmitgliedern des Leipziger Frauenbildungsvereins und dem Griindungsvorstand des AdF gehorten. Insbesondere geht es urn ihren Beitrag zur Frauen- und Mad­ chenbildung i.11 Leipzig, ein Themenfeld, das insgesamt noch wenig bearbeitet ist. Ottilie van Steyber wurde am 28. Juni 180443 in Luckau/Niederlausitz in einer Offiziersfamilie gebo­ ren. Sie hatte mehrere Geschwister. Nach dem fhihen Thyphustod des Vaters plagten die Mutter schwere Existenzsorgen. Nach langem Ringen entschloss sie sich, ihre damals 8jahrige, sehr begabte Tochter Ottilie nach-Wurzen in eine befreundete, wohlhabende Familie zur .Erziehung zu geben. Da­ durch sollte Ottilie beste Forderung und Entwicklung zuteil werden. Wie einem Aufsatz in den ,Neuen Bahnen" (Nr. 16/1870: 123) zu entnehmen ist, wur:de Ottilie dort ,in allem Komfort des hauslichen Lebens erzogen und ihre Pflegeeltern, welche von Jahr zu Jahr das herrliche Madchen in­ niger liebten, sorgten fur alle erreichbaren Bildungsmittel". Nach dem Tod der Pflegeeltern, die Otti­ lie von Steyber hingebungsvoll in ihren schweren Stunden betreut hatte, blieb sie mittellos zuriick. Der Pflegevater hatte infolge rasch aufeinander folgender Ungliicksfalle sein Vermogen verloren. Ottilie beschloss, ihr Leben in die eigenen Hande zu nehmen. Zunachst kehrte sie in das Haus ihrer Mutter zuriick, urn ihre Kenntnisse zu vervollstandigen und si eh dann dem Lehrberuf zuzuwenden.

42 Die Ausfiihrungen zu Ottilie von Steyber sind einem Aufsatz von mir in: Leipziger Lerchen. Leipzig 1999. S. 10-14 entnommen. 43 vgl. Polizeiakte (PoA) 108, Bl. 53 ; vgl. auch Sterbeanzeige der Geschwister Linna und Leo von Steyber in: Leipzi­ ger Tageblatt Nr. 99 v. 9.4.1870. 4. Beilage. S. 3310 55

Erst ab 184244 finden sich Spuren von ihrern Wirken. In diesern Jahr trat Ottilie von Steyber in das Haus des angesehenen Leipziger Buchhandlers Friedrich Brockhaus (1800-1865)45 als Erzieherin der Tochter ein. Konstanze Louise Brockhaus, Ehefrau des Friedrich Brockhaus und Schwester Richard Wagners, verband eine innige Freundschaft mit Ottilie von Steyber. Ottilie von Steyber war sehr gliicklich iiber diese J ahre, die sie irn Hause Brockhaus mit seinen vielfaltigsten Anregungen und im Verkehr mit bedeutenden Menschen verbringen konnte. Als die Tochter des Hauses Marianne Louise (geb. 1829), ·Sophie Elisabeth (geb. 1830), Friederike Wilhelmine Clara (geb. 1833) und Dorothea Ottilie (geb. 1834) herangewachsen waren, drangten Ottilie von Steyber 1847 Freunde, ihre Gaben in einern gr6l3eren Wirkungskreise zu verwerten und ein Erziehungsinstitut fur hohere Tochter zu griinden. Zweifel bestehen dahingehend, ob Ottilie von Steyber diese -Griindung der Hoheren Tochterschule tatsachlich schon 184 746 realisieren konnte. Dies erscheint eher unwahrscheinlich: Denn erst in einern Schreiben vorn 16. Februar 1848 an die Stadt Leipzig ersuchte Ottilie von Steyber urn Gewahrung der Schutzverwandtschaft, mit der das Bleiberecht verbunden war, urn iiberhaupt eine Privatschule errichten zu diirfen. 47 Das Biirgerrecht der Stadt Leipzig konnte sie nicht erwerben, denn dazu feW­ ten ihr Vermogen und Besitz, und aul3erdern war sie eine unverheiratete Frau. In eben dieser unterstiitzenden Absicht verfasste Friedrich Brockhaus irn Jahre 1848 ein Zeugnis fur Ottilie von Steyber. Dort schilderte er mit eindrucksvollen Worten, dass sie sich ,wahrend dieser Zeit nicht nur in jeder Beziehung rneine vollste Achtung, sondern auch die gewiinschten Anspriiche auf rneine Dankbarkeit erworben, so daB ich dieselbe nur mit Bedauern aus rneinern Hause und Famili­ enkreise entlasse". ( ebd.) Die Eroffnung der Pensions- und Unterrichtsanstalt fur Tochter, in der die Schiilerinnen bis zurn Ab­ schluss der 10. Klasse unterrichtet werden konnten, diirfte daher wahrscheinlich erst 1848 erfolgt sein. Das Steybersche Institut -befand sich bis 1860 in der KonigsstraBe 4 (heute Goldschmidtstr.). Dort hatte auch Ottilie von Steyber Wohnung genommen.48 Ab 1861 49befand :sich das Steybersche Institut dann in der Konigsstral3e 22, offensichtlich bis 1873. Uberaus erfolgreich und engagiert wirkte Ottilie von Steyber fast 23 Jahre als Schulvorsteherin. Da­ von kiinden u. a. die jahrlich wiederkehrenden Anzeigen irn Leipziger Adressbuch. 50 1865 weist das

44 In den Neuen Bahnen (Nr. 16/1870: 123) wird der Eintritt Ottilie von Steybers in das Haus Brockhaus auf das Jahr 1840 datiert. Aus einem eigenhandig vom Buchhandler Brockhaus verfassten Schreiben vom 20.1.1848 geht hervor, dass Ottilie vom 2.1.1842 bis 30.11.1847 in seinem Hause als Gouvernante Uitig war. (Polizeiamt. Biirgeraufnahmeak­ te Nr. 9905) Daher wird das Eintrittsjahr 1842 als das zutreffende angesehen. 45 Friedrich Brockhaus war einer der beiden Sohne des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus, der nach dem Tode des Vaters im Jahre 1823 den Verlag und die Druckerei gemeinsam rnit seinem Bruder Heinrich weiterfiihrte. 46 vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995: 129; vgl. auch Nachmf auf Ottilie von Steyber in: Neue Bahnen Nr. 16/1870: 123f. Dort formulierte auch Auguste Schmidt, dass sich Ottilie von Steyber erst gegen Ende 1847 vom Hause Brockhaus trennte. 4 ; vgl. Polizeiamt. Biirgeraufnahmeakte Nr. 9905 18 vgl. Adressbuch. 1854. 1860 49 vgl. Adressbuch. 1861 50 vgl. Adressbuch. Anzeiger 1865.15; Adressbuch Anzeiger 1870. 46 56

Adressbuch die Pensions- und Unterrichtsanstalt fur Tochter mit der Direktorin Ottilie von Steyber sowie weiteren 6 Lehrem und 3 Lehrerinnen aus. Darunter befanden sich seit 1862 Auguste Schrnidt und deren Schwestem Anna und Clara Schrnidt. Auguste Schrnidt war zunachst Lehrerin fur Litera­ tur und Geschichte. Aus einem Bericht des Leipziger Schul- und Kircheninspektors Gutbier aus dem Jahre 1869 geht die hohe Wertschatzung fur das Steybersche Institut hervor. Insbesondere wird die QualiHit der dort Hi­ tigen Lehrerinnen gewi.irdigt. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Privatschule, der ein Lehrerinnenbil­ dungsseminar angeschlossen war, 4 Klassen. In diesen lemten insgesamt ea. 40 Schiilerinnen. Sie wurden in den Fachem Deutsch, Religionswissenschaften, Literatur, Padagogik, Naturgeschichte, Franzosisch; Englisch und Gesang unterrichtet. Unter den Schiilerinnen befanden sich auch einige Jtidinnen und Katholikinnen, die nicht am Religionsunterricht :teilnahmen. Bescheinigt wurde der Einrichtung auch, class an ihr staatsgefahrliche -und kirchenfeindliche Umtriebe nicht vorgekommen seien. 51 Als Ottilie von Steyber 1865 (nun bereits 6ljahrig) ihr Institut fur die Griindung des Leipziger Frau­ enbildungsvereins zur Verfugung stellte, ,bedeutete dies Eintreten fur die Frauensache eine Gefahr­ dung ihrer Existenz. Die schon betagte Schulvorsteherin verlor dadurch so manche ihrer Freunde und Gonner. Aber unbeirrt dadurch schritt sie .auf der betretenen Bahn weiter und das konservative posi­ tiv christlich gesinnte adlige Fraulein reichte der Demokratin und religios freier gerichteten Louise Otto die Hand zum Bunde, denn in beiden Frauen lebte iiber allem Trennenden derselbe brennende Wunsch nach der Hebung ihres Geschlechts und die gleiche Achtung vor der fremden Personlich­ keit." (Plothow 1907: 44) Nach einigen Wochen zahlte der Leipziger Frauenbildungsverein bereits iiber 100 Mitglieder. An­ fanglich fanden die Veranstaltungen mit Unterstiitzung von August Bebel in den Raumen des Arbei­ terbildungsvereins -start, spater stellte ,Ottilie von Steyber dazu ihr Institut unentgeltlich zur Verfu­ gung. Im ersten Jahr fanden 25 Vortrage allein bei den Abendunterhaltungen statt. Ein reichhaltiges Themenspektrum von der deutschen Klassik bis bin zu matllrwissenschaftlichen und politischen Bei­ tragen zog eine groBe Anzahl Zuhorerinnen an. Das Steybersche Institut war insofem aufs engste mit der sich organisierenden btirgerlichen Frauenbewegung verknupft und pragte daher die Leipziger Madchenschulbildung auf besondere W eise. Ottilie von Steyber verstarb am 7. April1870 im 66. Lebensjahr an Lungenlahmung. In schlichten, aber von hoher Wertschatzung ihrer Person gegentiber getragenen Mitteilungen er­ schienen die Todesanzeigen des Lehrerkollegiums, der Schtilerinnen des Instituts sowie des Vorstan­ 52 des des AdF im ,Leipziger Tageblatt" . In dem kurzen Nachruf heiBt es: ,Die Verewigte hatte durch musterhafte, aufopfemde Sorgfalt und liebevollste Begeisterung fur das Wohl der ihr anver­ trauten Damen sich langst einen in den weitesten Kreisen nur mit aufrichtiger Hochachtung genann-

51 vgl. Schulamt (SchuA) Kap. IX. Nr. 18. Bd. 1 52 Leipziger Tageblatt. Nr. 99 vom 9.4.1870. 4. Beilage: 3310 57 ten Namen erworben, und eine grof3e Anzahl dankbarer Schiilerinnen wird ihr ohne Zweifel ein eh­ ren- und liebevolles Gedachtnis bewahren." (ebd.: 2. Beilage. S. 3290) Mit den warmsten Worten verfasste Auguste Schmidt den biographischen Nachruf des AdF, der in den ,Neuen Bahnen" der Offentlichkeit zuganglich gemacht wurde: ,Die unvergleichliche Beschei­ denheit, welche einen Hauptzug ihres Charakters bildete, offenbarte sich auch in ihrer Wirksamkeit fur die Frauensache, obgleich sie derselben durch Jahre grof3e Opfer brachte und jeden Fortschritt erheblich fdrderte, wies sie beharrlich jedes Zeichen auf3erer Anerkennung zuriick und so geschah es, daB ihr teurer Name nur in diesen Blattern genannt wurde."53 Nach dem Tode der Ottilie von Steyber iibemahm Auguste Schmidt 1870 das Amt der Schulvorste­ herin im Steyberschen Institut. Dieses Amt iibte sie uber 20 J ahre lang aus - ebenso erfolgreich wie die Griinderin. Fur die Frauen- und Madchenbildung und die Lehrerinnenausbildung engagierte sich Auguste Schmidt in ganz besonderer Weise. Es waren dies zeitlebens ihre zentralen Themen im Ringen urn die Durchsetzung von Frauenrechten, wofur sie in ihrer Biographie die giinstigsten Voraussetzungen vorfand: Bereits in ihrem Elternhaus hatte die als zweite Tochter eines Hauptmanns und einer Regi­ mentsarzttochter 1833 in Breslau geborene Auguste Schmidt ein reiches geistiges Leben und eine grof3e Beweglichkeit in der eigenen Erziehung erfahren. Ihre Eltern lief3en - entgegen der herrschen­ den Anschauung der damaligen Zeit - sowohl den Tochtern als auch den Sohnen dieselbe Bildung zuteil werden. Erst 17jahrig, absolvierte Auguste Schmidt das Lehrerinnenexamen in Posen mit glan­ zenden ErgebPissen. Ab 1850 war sie nahezu ununterbrochen bis 1892- also iiber 40 Jahre- im Er­ ziehungsberufHi.tig, zunachst an einer Privatschule in Breslau (an der sie auch das Schulvorsteherin­ nenexamen erfolgreich ablegte) und danach als Leiterin einer Privatschule. Ab 1855 war sie Lehrerin an der Stadtischen Madchenschule in Breslau. Nach erfolgter Dbersiedlung nach Leipzig im Jahre 1862 machte sie 1864 die Bekanntschaft mit Louise Otto-Peters. Diese Bekanntschaft wurde zu ei­ nem Wendepunkt in ihrem schaffensreichen Leben. Er markierte zugleich den Beginn ihres frauen­ rechtlerischen Wirkens. Eine lebenslange Freundschaft, tiefe Geistesverwandtschaft und produktive Arbeitsgemeinschaft nahm ihren Anfang. Unter der Leitung von Auguste Schmidt erweiterte sich das Steybersche Institut ab 1872. Die Zahl der Lehrerinnen wuchs kontinuierlich an. 1872 waren es 6 Lehrer und 6 Lehrerinnen, 1876 dann 8 Lehrer und ·8 Lehrerinnen. Im Verlaufe der folgenden J ahre veranderte si eh das quantitative Verhaltnis von Lehrem und Lehrerinnen weiter zugunsten des weiblichen Geschlechts. Die Schule zog 1874 aus der Konigsstraf3e in die Nordstr. 1254 urn. Von 1874 bis 1878 war dies auch die Ausbildungsstatte von Clara Eif3ner (Zetkin; 1857-1933), deren Mutter Mitglied des AdF war. Diese war mit ihrer T ochter eigens aus dem sachsischen Wiederau b. Rochlitz nach Leipzig ge-

53 Neue Bahnen. Nr. 16. 1870: 122 54 Nach der 1885 in Leipzig vorgenonm1enen Strafienunmunm1erierung war dies danit die Nordstr. 23. Dort blieb die Schule in angemieteten Raumen bis 1897. 58

kommen, urn ihrer Tochter diesen Schulbesuch zu errnoglichen. Fur die Kinder von Mitgliedern des AdF war der Besuch dieser Privatschule unentgeltlich. Auguste Schmidt hielt Clara Eii3ner fiir eine ihrer begabtesten Schulerinnen; in dern Mai3e aber, wie Clara sich spater zur proletarischen Frauen­ bewegung hinwendete, ging Auguste Schrnidt aufDistanz. Ostern 1897 realisierte sich schliei3lich der Traurn von emern etgenen Schulhaus. Die Hohere Tochterschule, der ein Pensionat angeschlossen war, befand sich seitdern in der Nordstr. 38 55 Das eigens fiir Schulzwecke erbaute und genutzte Haus war fiir die darnalige Zeit aui3erordentlich korn­ fortabel eingerichtet. Es war mit Zentralheizung und Ventilation ausgerustet, verfiigte uber groi3e, luftige Klassenzimmer und einen gera.umigen Turnsaal. Der vor dern Haus liegende Garten ermog­ lichte den Schulerinnen in den Pausen einen Aufenthalt an der frischen Luft. Die Schule umfasste insgesarnt 10 Klassen. Madchen jeden schulpflichtigen .Alters sowie konfirmierte junge Madchen konnten aufgenommen werden. Unterrichtet wurden die Madchen in den Fachern: Religion, deut­ sche, franzosische . und .englische Sprache, ,Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften, Rechnen, Kunstgeschichte, Anfangsgriinde des Italienischen, Schonschreiben, Zeichnen, Handarbeit, Chorge­ sang und Turnen. Vierteljahrlich war ein Schulgeld zu entrichten, das je nach Klassenstufe etwas differierte und zwischen 25 und 50 Mark lag. Fur zwei Schwestern wurd¥ das Schulgeld urn 5 % und fiir drei Geschwister urn 10 % gekiirzt. Das Vereinsorgan ,Neue Bahnen" gab Auguste Schmidt als Nachfolgerin von Jenny Heynrichs ab Nr. 10/1866 zusammen mit Louise Otto-Peters heraus, ab 1895 dann alleine. Viele ihrer Leitartikel widrneten sich verschiedenen Aspekten der Frauenbildung und der weiblichen Erziehung. Auch in ihren zahlreichen publizistischen Beitragen und Buchbesprechungen in den ,Neuen Bahnen" und ins­ besondere in den ungezahlten Vortragen im Leipziger Frauenbildungsverein waren dies ihre zentralen Thernen. Auguste Schmidt hinterliei3 in diesen Beitragen weder eine systernatische Abhandlung zur Frauenbildung noch ein in alien Details ausgearbeitetes Konzept zur Erziehung von Madchen. Aber sie bringen ihre tiefe Verwurzeltheit mit diesen Thernen und dern ·Erzieherinnenberuf zurn Ausdruck, zeigen ihren reichhaltigen Erfahrungsschatz in praktischer Frauenbildungsarbeitund dokurnentieren solide Sach- und Reflexionskornpetenz, die auch unter heutigen Bedingungen so rnanch interessante Anregung vermitteln. Beispielsweise setzt sie sich mit typischen Vorurteilen aus der Mannerwelt auseinander, nimmt eine Bestandsaufuahme zurn Ausbildungsprofil der Frauenbildung in den Mad­ chenschulen vor, formuliert von daher Ziele der Frauenbildung, entwickelt Ansatzpunkte, Inhalte und rnethodische Oberlegungen. Auguste Schrnidt blieb zeitlebens unverheiratet und in ihre Herkunftsfarnilie integriert, rnit der sie ei­ ne tiefe Verbundenheit verknupfte. Ihre Weggefahrtinnen ruhmten an ihr den goldenen Hurnor, glticklichen Optimisrnus, die frohliche Sorglosigkeit alien rnateriellen Bedurfuissen und Lebensan­ spriichen gegenuber.

55 vgl. Edith Glaser: Private Initiativen. Stadtische Zuriickhaltung. In: Kammerer/Pilz 1995: 129 59

Als Auguste Schmidt 1902 in Leipzig starb, waren die Reaktionen durchdrungen von groBer Ach­ tung und Anteilnahme fur das Wirken der Verstorbenen im Sinne der Frauen und ihrer Rechte. Nicht nur Leipziger Bi.irgerinnen und Burger, sondem auch ihre Mitstreiterinnen aus allen Teilen Deutsch­ lands und nicht zuletzt die Stadt Leipzig erwiesen ihr die letzte Ehre. Das Wappen der Stadt Leipzig schmi.ickte ihren Sarg, das dieser Bi.irgerin als Ehrengabe mit ins Grab gegeben wurde. Im Lapidari­ um des Alten Johannisfriedhofs zu Leipzig erin..llert ein Gedenkstein an Auguste Schmidt. An dieser Stelleseien zwei Wortmeldungen zur Wertschatzung von Auguste Schmidt aus dem Krei­ se ihrer unmittelbaren Weggefahrtinnen angefuhrt. Helene Lange (1848-1930), mit der Auguste Schmidt 1890 den Allgemeinen deutschen Lehrerinnen­ verein gegri.indet hatte und dessen Ehrenvorsitzende sie war, schrieb i.iber Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt: ,Wohl selten hat eine Fi.ihrerin eirie gli.icklichere Erganzung gefunden in einem gleich hoch, aber andersartig begabten Menschen als Luise Otto-Peters in Auguste Schmidt. Was . beide. zusammen geplant und empfunden,. dafur wuBte Auguste Schmidt in warmer, zum Herzen ge­ hender Beredsamkeit den gli.icklichsten Ausdruck zu find en." 56 Und in ihren Lebenserinnerungen formulierte Helene Lange: ,Der besondere Zauber aber, der von ihrer Personlichkeit ausging, bestand in dem, was zugleich den innersten Kern echter Frauennatur ausmacht: in der Gi.ite .. . Aus dieser Gi.ite heraus, die sie auf den Frauentagen und in ihrem Heim mit unerschi.itterlicher Geduld und wirklicher Anteilnahme jeden in inneren und auBeren Bedrangnissen verstehen lieB, kam ihr das lebendige Verstandnis dafur, was im offentlichen Leben ohne die Frau fehlt. Sie verstand in der Tat die Frauenbewegung als 'organisierte Mi.itterlichkeit', sie wuBte im Geist und in der Wahrheit: 'die Liebe ist die groBte unter ihnen'."57 Dr. Kathe Windscheid (1859-1943), die die bahnbrechenden Gymnasialkurse fur Madchen des AdF in Leipzig von 1894 bis 1914leitete, schrieb i.iber Auguste Schmidt, ,daB ihre in brillanter Rede vor­ getragenen Gedanken Vorurteile beseitigten und viele von den Zielen der Frauenbewegung i.iber­ zeugten". (Kammerer/Pilz 1995: 43) Fi.ir Frauen war in Deutschland Leipzig - :nach Karlsruhe und Berlin - die dritte Moglichkeit i.iberhaupt, das Abitur abzulegen. Die groBe Anteilnahme an ihrer Beerdigung auf dem Leipziger Johannisfriedhof mi.indete in den Ge­ danken, ein Auguste-Schmidt-Haus einzurichten, in dem die Bestrebungen des AdF ihre Heimat fin­ den sollten. (Leyh 1995: 140) Die Realisierung dieses ehrenwerten Anliegens erwies sich trotz viel­ faltiger Bemi.ihungen der Leipziger Frauenvereine und der Unterstiitzung so prominenter Leipziger Biirger wie des Verlegers Henri Hinrichsen und nicht zuletzt des Oberbiirgermeisters Bruno Trondlin als auBerordentlich kompliziert. Dies betraf vor all em den Grundstiickserwerb; dieser sowie Einrich­ tung bzw. Umbau des Hauses zogen sich schlieBlich bis 1910 hin. Mit Wirkung des Grundbuchein­ trags vom 1.12.1910 fand der Auguste-Schmidt-Verein endlich seine Wirkungsstatte in der Dresdner Str. 7 mit der gewiinschten Flache, die Raum fur einen Saalbau, eine Gartenwirtschaft und verschie-

56 Nachruf auf Auguste Schmidt. Neue Bahnen i3/1902: 152 57 Agnes Gosche: Die organisiserte Frauenbewegung. I.Teil: Bis zur Griindung des BdF 1894. Halle 1927: 33f 60 dene Nebenraume bot, in denen auch eine Zentralbibliothek untergebracht war. Unzahlige Veranstal­ tungen ki.indeten von dem reichhaltigen kulturellen Leben, konnten aber dennoch nicht uber die standigen finanziellen Probleme hinwegtauschen, die zum Zeitpunkt des Ausbruchs des ersten Welt­ krieges existentieller Natur wurden. Als der Verein 1933 die Hypothekenzinsen nicht zahlen konnte, wurde ein Jahr spater die Zwangsverwaltung angeordnet und dann schliel3lich 1936 die Zwangsver­ steigerung vollzogen. ,Das Auguste-Schmidt-Haus als Produkt der 'alten' biirgerlichen Frauenbe­ wegung passte auch nicht mehr in das Bild des 'Dritten Reiches', weil es sich einer Vereinnahmung durch die 'NS-Frauen' und ihren antisemitischen Satzungsanderungsversuchen widersetzte." (ebd. : 141) Im Dezember 1943 wurde das Haus beim groBen Luftangriff aufLeipzig vollig zerstort. An seinem Platz find et si eh kein Hinweis auf die einstige Wirkungsstatte des August-Schmidt-Vereins und des Auguste-Schmidt-Hauses. Urn so erfreulicher ist es, dass es nach jahrelangen Bemuhungen von Frauen in und im Umkreis der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft doch noch gelungen ist, im Zuge der Eingemeindungen in die Stadt Leipzig und der dadurch bedingten StraBenumbenennungen im Stadtbild einen Hinweis auf das Vermachtnis dieser Frau zu verankern: Mit Wirkung zum 1. April 2001 wird die im Stadtbezirk Mitte gelegene RoBstraBe in Auguste-Schmidt-StraBe umbenannt.

Literatur

Kammerer, Gerlinde; Pilz, Anett (Hrsg.): Leipziger Frauengeschichten. Leipzig: KuKuC e. V. 1995 Leyh, Manfred: Das Auguste-Schmidt-Haus. In: Kammerer/Pilz 1995, a. a. 0. Otto-Peters, Louise: Das Recht der Frauen auf Erwerb. Hrsg.: Franzke, Astrict; Ludwig, Johanna; Notz, Gisela. Leip­ zig: Universitatsverlag, 1997 Anna Plothow: Die Begrtinderinnen der deutschen Frauenbewegung. Leipzig: Verlag von Friedrich Rothbarth, 1907 61

Zum 17 5. Geburtstag der Frobelpadagogin und Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt

Annerose Kemp (Leipzig)

, Wie gedacht - so vollbracht!" Dieser Ausspruch trifft genau das, was wir uns von Henriette Gold­ schmidt vorzustellen haben, allerdings mit einer gro/3en Einschrankung: ,Gedacht und vollbracht" vollzog sich bei ihr in einem Zeitraum von 50 Jahren, urn das auszufuhren, was sie sich eigentlich ge­ dacht hatteo Das war ein Lebensweg, sinnbildlich gesprochen, wie eine ,lange, gerade bergansteigen­ de Landstra/3e ohne Seitenwege und Biegungen, Baumschatten und Sonnenflecken dariiber und in der Feme das hohe, helle klare Ziel: Die geistige Befreiung der Frauen .. 0" (Siebe/Priifer 1922: VIlli) Konsequent hat sie in alien Jahrzehnten ihres Lebens dieses Ziel verfolgto Die Anfange vor 150 Jah­ ren waren deshalb so bemerkenswert, weil die Frau kaum Rechte besa/30 Das offentliche Auftreten der Frau wurde als ,lacherliche Unschicklichkeit" bezeichnet. Abraham Meyer Goldschmidt, ihr Ehemann, erhielt seinerzeit von wohlmeinenden Freunden den guten Rat, ,seiner Frau doch diese Torheiten zu untersagen"o 94 Geburtstage hat Henriette Goldschmidt erlebt - wir begehen heute ihren 1750 Ich konnte sie mir unter uns sitzend sehr gut vorstellen, die kleine zierliche giitige alte Dame mit silberwei/3en Locken und schwarzem Spitzentuch, aber auch mit ihren gro/3en klugen Augen und dem wachen Verstand, der sich immer einzumischen verstando Sie hat ldeen formuliert, die heute fast so aktuell sind wie damals, zum Beispiel das Recht der Frau auf Arbeit. Es wird heute wieder in Frage gestellt. In einem Vortrag 1868 sprach sie uber die , Frauen im kraftigen Alter", die au/3er ihren kleinen Miihen im Hauswesen keine Aufgaben mehr ha­ ben: , Sind unsere Zustande aber wirklich so paradiesisch, da/3 ein gro/3er Theil der Menschen feiem kann? Ist der Mangel an emsthafter Beschaftigung ein Ungliick in der Jugend, im vorgeriick.i:en Le­ bensalter ist er ein urn so gro/3eres, weil sich das Unrecht dazugesellto· Als Nothwendigkeit fur unser sittlich-geistiges Leben fordem wir unseren Theil an der allgemeinen Culturarbeit unseres Volkes, ford ern wir die freie Entfaltung und Bethatigung unserer Anlagen" 0 ( Goldschmidt 1868: 3 9t) Sicher hatte sie uns auch heute gute Ratschlage zu geben - ihr langes kampferisches, gliickliches, aber auch leidvolles Leben hat sie weise werden lasseno In den letzten zwei Lebensjahrzehnten dachte sie manchmal berechtigt, die anderen , verstehen die alte Frobeltante" nicht mehro Der Geist des klassischen Weimar, der sie in ihrer Jugend beseelte, wurde ubertont und der Frobel­ Traum nicht Realitat. Mit ihrer Klugheit und dem weisen Lacheln schaffi:e sie trotzdem Verbindun­ gen zur 20 und 3 0 Generation der Frauenrechtlerinneno Dieser Generationenkonflikt trifft auch uns, deshalb werben wir junge Frauen fur unsere Gesellschaft, und wir ,Alten" fordem uns immer wieder neu herauso 62

Die heutige 175. Geburtstagsfeier nehme ich zum Anlass, uns das Leben und Wirken der Jubilarin­ anders als ublich - uber ihre runden Geburtstage zu erschliel3en. Wir feiern sie, indem wir uns in die einzelnen Lebensabschnitte hineinversetzen. lch stelle mir natUrlich die Frage: Kann das fur die Heutigen uberhaupt noch interessant sein? Unsere schnelllebige computergesteuerte Zeit hisst uns kaum Mul3e, uber Vergangenes nachzudenken. Hen­ riette Goldschmidts geblUmtes Rokoko-Sofa ware heute bestenfalls ein antikes StUck. Ihre Forde­ rungen wurden langst erstritten - doch wurden sie es wirklich? Sind die Gedanken uber die Rechte der Frau noch zeitgemaB? Blicken wir zuruck. Als Henriette Benas am 23. November 1825 im kleinen polnischen Stadtchen Krotoschin bei Posen geboren wurde, war sie das 6. Kind einer gebildeten und wohlhabenden deutsch-judischen Familie, die zwischen den Ideen der Aufklarung.und traditionsbehaftetem Denken orthodoxer Juden schwankte. Gepragt haben sie ihr kluger Vater, der (,,deutscher Benas" genannte) weise "Grossvater,. Tante ,Ninon"-(eine Marchentante mit schauspielerischen Fahigkeiten) und Tante Rebecca, ein Erzahltalent. Dazu kam das enge Verhaltnis zu ihrer 5 Jahre jungeren Schwester Ulrike und anderen, ,belesenen Freunden" des Hauses. 58 lhren 10. Geburtstag verlebte Henriette sicher weniger kindlich glucklich. Ihre Mutter war gestor­ ben, und die ,Stiefmutter" war eine kalte, stolze Frau. Sie konnte weder schreiben noch lesen und sich damit auch nicht durch uberfliissige Lektiire ablenken. Sie war keine ,mutterliche Natur", son­ dern nur fur den Haushalt zustandig. ,Das Verhaltnis zu meiner Stiefmutter hatte mein Leben zersto­ ren konnen", schrieb Henriette spater. Der 20. Geburtstag sollte mehr Freude bringen, aber dem war nicht so. Ihre 10 Jahre aitere Schwe­ ster starb an Thyphus und hinterlieB 3 Kinder, von denen das Kleinste noch bei der Amme war. Hen­ riette wollte die Kinder vor einer Stiefmutter bewahren und nahm sich ihrer an. ,Es dauerte lange", .sagte sie .spater, ,bis · ich mir klar wurde, daB · me in Gefuhl fur die ·Kind er si eh nicht auf den {werbenden) Vater ubertragen lieB.'' (Siebe/Prufer 1922: 15) Sie-wollte sich dem Mann zu eigen ge­ ben, der ihr den Eigenwert ihres Inneren gestattete. Diesen schweren seelischen Konflikt zu uberstehen, halfen ihr die aufregenden Ereignisse der revolu­ tionaren Bewegung von 1848. Lesen, Diskutieren, Philosophieren und Deklamieren war ihr tagliches Bedurfnis. Liberale politische Auffassungen, die Forderungen fur die volle Emanzipation der Juden, die politische Lyrik des Vormarz und die Klassiker Lessing, Goethe und vor allem Schiller bestimm­ ten ihr Denken. Sie bekannte selbst: ,Unsere Denker und Dichter sind unsere Lehrer gewesen, sie zeigen uns im Symbol des Schonen und Guten den Weg, den wir zu beschreiten haben." (Zeitschrift 1919)

58 Henschke, Ulrike, geb. Benas (1830-1897), fulute die vom Lette-Verein 1878 gegriindete Victoria-Fach- und Fort­ bildungsschule in Berlin. 63

Die Dbersiedlung nach Posen brachte ihr erste Erfahrungen in sozialer Hilfsarbeit in einem ,Frauen­ und Jungfrauenverein". Mit armen Schulkindern fertigte sie Schul- und Handarbeiten an, gab ihnen Schutz und Pflege. Ihren 30. Geburtstag feierte Henriette Goldschmidt als gluckliche Ehefrau und Mutter in Warschau. Die Stadt selbst betrubte sie eher. Die Herrschaft des russischen Zaren Nicolaus I. bedeuteten Will­ kilr, Korruption und Misshandlungen. Das Gluck war in ihrer Familie. 1853 hatte sie ihren Vetter Dr. Abraham Meyer Goidschmidt59 in Liebe geheiratet. Seinen drei verwaisten Kindern Julian (geb. 1840), Sigmund (geb. 1843) und Benno (geb. 1846) war sie eine liebevolle und fursorgliche Mut­ ter.60 Klein Benno sollte zum 8. Geburtstag nicht mehr Kleidchen, wie damals ublich, sondern Hos­ lein tragen. Auf Henriettes Bemerkung: ,Ach, es gefallt mir gar nicht, daB du nun auch schon ein groBer Junge in Hosen sein wirst," antwortete ertreuherzig: ,Wenn's,dir lieber ist, Mamachen, kann ichja noch ein Madchen bleiben." (Siebe/Prufer 1922: 33f) Als 33jahrige kam Henriette Goldschmidt mit ihrer Familie nach Leipzig, einer Stadt, die sie sich sehnlichst als Wohnort geWO.nscht hatte. Die Dbersiedlung 1858 von Warschau nach Leipzig ermog­ lichte ihr Mann, der die freigewordene Stelle als Rabbiner und Prediger der Israelitischen Religions­ gemeinde angeboten bekam. 61 Leipzig war zu dieser Zeit noch eine recht kleine Stadt, aber mit einer aufgeschlossenen Atmosphare fur die Losung politischer, sozialer und kultureller Fragen, eine Stadt ,der Humanitat", wie sie sagte. ,Mein Leipzig lob' ich mir, es bildet seine Leute", fand sie bestatigt. (Siebe/Prufer 1922: 41) Die Schiller-Feiern anlasslich des 100. Geburtstages Friedrich Schillers be­ gluckten sie. Sie schrieb: ,Dem Dichter des hohen Liedes 'An die Freude' gilt das Fest- ihm, der selbst freudetrunken in dem Glauben an die Verwirklichung seiner Ideale uns alle mit diesem Zauber­ tranke berauschte ... Viele der Manner, die (18)49 im ersten deutschen Parlament gesessen, waren Festredner bei den offentlichen Versammlungen. Jacob Grimm und neben ihm die wahrhaft 'Edlen der Nation' gaben Zeugnis von dem Zusammenhang des Volksgeistes mit seinem dichterischen Ge­ nius. Man horte weniger Literarisches, man fuhlte ·nur .den Verko.nder, den Propheten, den Erloser, der dem von der Reaktion zuruckgedrangten Streben nach Freiheit Worte verliehen hatte." (Siebe/Prufer 1922: 38) Mit ihrer blumenreichen Sprache, die Gefuhle ausdruckt, verdeutlicht sie uns ihre Gedanken und ihre Ideale. Schillers Gedichte, die sie his ins hohe Alter deklamieren konnte, gaben ihr die Kraft, Lei­ denszeiten zu O.berwinden. 1903 fuhrte sie als Mitbegrunderin des ,Schillervereins deutscher Frauen"

59 Abraham Meyer Goldschmidt (1812-1889) entstanm1te einer armen Rabbinerfamilie aus Krotoschin, promovierte in Berlin zum Dr. phil., heiratete 1840 Pauline Sternfeld, die nach sechsjahriger Ehe starb und drei Sohne hinterlieB. 60 Julian war spiiter Jurist und Vorsitzender der Anwaltskammer Berlin; Sigmund war Arzt, promovierte an der Uni­ versitat Leipzig, spater Kurarzt in Bad Reichenhall; Benno, Naheres nicht bekannt. Zu den Sohnen hatte Henriette Goldschmidt immer ein inniges Verhiiltnis. GroBes Leid erfuhr sie deshalb, als Julian mit 55 und Sigmund mit 71 Jahren starb. Nur Benno hat sie 3 Jahre uberlebt. 61 Abraham Meyer Goldschmidt war von 1858 bis 1889 liberaler Rabbiner und Prediger der Israelitischen Religions­ gemeinde zu Leipzig, ubersetzte jiidische Gebetbucher in deutsche Sprache; hervorragender Kanzelredner und Les­ sing-Kenner. 64

gro13e Spendenaktionen zu Schillers 100. Todestag durch und wurde als Ehrenmitglied des Schiller­ verbandes deutscher Frauen in Weimar geehrt.62 Wenden wir uns nun dem 40. Geburtstag zu. Aus unserer heutigen Sicht muss er fur Henriette Gold­ schrnidt besonders aufregend gewesen sein. Da war die Leipziger Kulturszene. Wissenschaftler und Schriftsteller trafen sich zu den ,Tischrunden" bei Goldschrnidts, urn iiber Gott und die Welt zu phi­ losophieren. Mit gro13er Leidenschaft besuchte sie die Gewandhauskonzerte. Das Jahr 1865 war aber auch aus anderer Sicht bedeutsam. Der ,Allgemeine deutsche Frauenverein" wurde gegriindet.63 Zuvor gab es Treffen von Louise Otto-Peters, Hauptmann Korn a. D., Ottilie v. Steyber, Auguste Schrnidt, Henriette Goldschrnidt, AdolfRo13ma13ler und anderen, die die Griindung des Frauenbildungsvereins und des Allgemeinen deutschen Frauenvereins vorbereiteten und erfolg­ reich durchfuhrten. Fiir Henriette Goldschrnidt begann darnit der Lebensabschnitt des Schaffens in Leipzig. Der 40. Ge­ burtstag ist, das wissen wir aus eigener Erfahrung, der Scheitelpunkt zur zweiten Halfte des Lebens. Wir wissen aber auch, dass wir uns bei Henriette Goldschrnidt rnit noch weiteren 54 Jahren erfolgrei­ chen Wirkens befassen werden. In der Goldschrnidt-Biographie von Siebe/Priifer (1922) wird geschildert, dass Henriette Gold­ schrnidt 1866 von Louise Otto-Peters aufgefordert wurde, ihren ersten offentlichen Vortrag zu hat­ ten. Auf die zogernde Frage, woriiber sie sprechen solle, antwortete Louise: ,Nu, was Ihnen der Ganius eingibt." (Siebe/Priifer 1922: 48) So wurde ihre erste Rede eine politische AufkHirung der Frauen iiber den preu13isch-osterreichischen Krieg und ein Appell gegen Krieg und fur Versohnung. Zum 50. Geburtstag 1875 hatte Henriette Goldschrnidt bereits drei wichtige Griindungen hinter sich gebracht. Dazu muss ich darauf verweisen, dass der Allgemeine deutsche Frauenverein, der fur Ar­ beit und Bildung der Frauen eintreten wollte, bereits die Fragen der Kinderbetreuung aufgeworfen hatte. Im Rahmen der Schulfrage behandelte die 2. Generalversammlung des AdF 1868 und die 3. 1869 die Frobelschen padagogischen und Kindergartenbestrebungen:64 Ihre intensive Beschaftigung rnit den Werken Friedrich Frobels regte sie an, 1871 den Verein fur Farnilien- und Volkserziehung zu griinden, der sich die Aufgabe stellte, Bildungsmoglichkeiten fur Frauen zu schaffen, Volkskinder­ garten zu eroffnen und die Frobelsche Lehre bekanntzumachen. Frobel selbst warb 1839 in Leipzig fur sein Erziehungs-und Ausbildungsprogramm. Dr. Vogel, der Direktor der I. Biirgerschule, und andere glaubten, Frobels Ideen auch in Leipzig verbreiten zu kon­ nen. EnWiuscht stellte der Frobelforscher Johannes Priifer spater fest: ,Leipzig schien noch zu kalt fur Frobels Geisteshauch gewesen zu sein." (Miiller1912: 2649) Friedrich Frobels Lehre beinhaltete

62 Der Schillerverband deutscher Frauen wurde 1903 gegriindet, 1908 iiberreichte er der Schillerstiftung Weimar iiber eine Viertelrnillion Mark. (Siebe/Priifer 1922: 39f) 63 Die Griindung erfolgte auf der 1. deutschen Frauenkonferenz vom 15 . his 18. Oktober 1865 in Leipzig. 64 Zu den genannten Fagen sprach miller Frau Goldschmidt Seminardirektor August Kohler aus Gotha. Er veroffent­ lichte: Die Praxis des Kindergartens. Theoretische und praktische Anleitung zum Gebrauch der Frobelschen Erzie­ hungs- und Bildungsmittel in Haus, Kindergarten und Schule, Weimar 1920. 65

das Recht der Frauen und der Kinder auf Entwicklung. Er wollte freie, denkende, selbststandige Menschen erziehen, die sich in Einheit von Mensch- Natur- Gott durch eigenes Tun das Leben er­ schliel3en. Er entwickelte ein vielseitiges Spielsystem vom Einfachsten zum Komplizierten, das dem Kind hilft, sich allseitig zu betatigen. Seinen Ausspruch: ,Kommt, laf3t uns unsern Kindern leben" hat Henriette Goldschmidt aus vollem Herzen iibernommen. So griindete sie 1872 den ersten Volkskin­ dergarten des Vereins fur Farnilien- und Volkserziehung in der Querstraf3e 20, der fur wenig Geld Kinder aus armeren Farnilien aufnehmen konnte.65 Gleich danach begann sie mit der Ausbildung von Kindergartnerinnen in einem vom Verein eroffneten Seminar. Weitere Volkskindergarten folgten. Henriette Goldschmidt gehorte in Deutschland zu den vier bedeutendsten Frauen, die sich in den Dienst Friedrich Frobels stellten.66 Sie konnte dies rnit ihren kampferischen, wegweisenden Ideen zur Befreiung der Frau verbinden. Sie wollte, dass ,die ·Halfte .der Menschheit, das Weib" Anteil am Kulturleben hat. In ihren Red en iiber , Die Verwendbarkeit der Frauen zu Gemeindeamtern" und iiber ,;Rechte und Pflichten der Frauen in-. Gemeinde und Staat" formulierte · sie den uns bekannten Aus­ spruch: ,Wir haben Vater der Stadt, wo sind die Mutter?" Sie verlangte auch das weibliche Pflicht­ dienstjahr fur die Realisierung sozialer Aufgaben. Mit den 1874 begonnenen wissenschaftlichen Vor­ tragen fur Damen und dem 1878 gegriindeten Lyzeum fur Damen wollte sie eine Vorstufe fur die Hochschule schaffen. Sie unterrichtete selbst in den Fachern Erziehungslehre, Frobelpadagogik und Frobelspiele. Zu Henriette Goldschmidts 60. Geburtstag 1885 erhielt die Malerin Philippine Wolff-Arndt den Auftrag, Frau Goldschmidt stehend in 61 zu malen. Sie war Vorstandsrnitglied des Vereins fur Farni­ lien- und Volkserziehung und kannte die vielen Pflichten, die die Vorsitzende des Vereins zu erfullen hatte, so dass sie sich kaum Zeit fur personliche Dinge nahm. Frau Wolff-Arndt schrieb in ihrem Buch: ,Eine der bekanntesten Frauen Leipzigs, Frau Henriette G., sal3 rnir fur ein, zur Feier ihres 60. Geburtstages 1885 ·bestimmtes, olebendgro13es PortraL Sie hatte einen malerischen Kopf, war iiber­ haupt eine interessante Personlichkeit. Hier begegnete ich aber ·einem solchen Mangel an Verstand­ nis, dal3 die Arbeit, die ich rnit Enthusiasmus ,angefangen hatte, mir zur Qual wurde. Die Dame konnte sich nicht vorstellen, dal3 die Portratsitzungen Piinktlichkeit und Regelmaf3igkeit des Kern­ mens erforderten. Sie fand es selbstverstandlich, rnich eine Stunde oder mehr auf ihr Erscheinen warten zu lassen, eventuell auch ganz wegzubleiben. Beim Sitzen vergal3 sie regelmaf3ig, warum sie gekommen war. .Es hatte rnir eigentlich schmeicheln miissen, dal3 sie den Zweck iiber unserer Unter- · haltung vergaf3, konnte rnich aber fur die fortwahrende Korrektur ihrer Haltung nicht entschadigen. Dal3 rnir damals ein durchaus gutes Portrat in ganzer Figur und in charakteristischer Stellung gelang, nimmt rnich heute noch Wunder." (Wolff-Arndt 1929: SOt)

65 Frau M. P. verw. Mende iiberlieB Frau Goldschmidt ein Grundstiick der Mende'schen Blindenstiftung. Das war der erste Gnmdbesitz des Vereins fiir Familien- und Volkserziehung. 66 Dazu gehOrten auBer Henriette Goldschmidt: Wilhelmine Hoffmeister, Bertha v. Marenholtz-Biilow und Henriette Schrader-Beymann. (Muller 1912) 66

So weit die Gedanken der Malerin. Eine Lehrerin ihrer Bildungsanstalten, Frau Marie Muller, schrieb uber Frau Goldschrnidt in ihr Tagebuch, dass das Betreiben des Lyzeums und der anderen Anstalten groBte Anstrengungen erforderte, und sie stellte dann noch fest, ,das Verstandnis fur ihre so idealen Bestrebungen bricht sich allmahlich Bahn". (Muller-Wunderlich 1986) Das war 1886. In die Zeit bis zu ibrem 70. Geburtstag fallt der Tod ibres geliebten Mannes. Ihre harmonische Ehe hat ihr die Kraft fur alle ihre Bestrebungen gegeben. Neben diesem groBen Kummer erlebte sie aber auch die Freude,. endlich nach 18jahrigen Bemuhungen ein Vereinshaus erwerben zu konnen. Spen­ den und Stiftungen, besonders judischer Burger, haben dies ermoglicht. 67 In diesem Haus konnte sie alle ihre Einrichtungen betreiben und das Vereinsleben gestalten. Aber - das Haus hat eine eigene Geschichte, auch eine sehr tragische. (Hantschick 2000) Am 70. Geburtstag erschien eine GruBadresse von Auguste Schrnidt, in der es unter anderem hie/3 : ,In lebendiger Geistesfrische und fast jugendlicher Kraftfulle vollendet heute .eine der verdientesten Vorkampferinnen der Frauenbewegung ihr 70. Lebensjahr unter allgemeiner Antheilnahme. Ihre Wirksamkeit ist nicht nur fur Leipzig von hervorragender Bedeutung; auch als zweite Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, als Rednerin und Schriftstellerin nimmt sie eine ausge­ zeichnete Stellung ein." An anderer Stelle: , ... ihre nach Inhalt und Form mustergiltigen Reden halfen den Boden vorbereiten fur die Aussaat unserer Ideen". (Schrnidt 1895: 580ft)) V on den rund 65 re­ gistrierten Reden habe ich bisher 40 aufgefunden. Die Suche danach geht weiter. Nach dem 70. Geburtstag griindeten Verehrerinnen von Henriette Goldschrnidt einen ,Henriette­ Goldschrnidt-Verein" mit dem Ziel, den Mitgliedem Gelegenheit zu geben, in froher Geselligkeit An­ regungen zu wissenschaftlicher Belehrung zu erhalten. In einer Dankesrede offenbarte sie ihre Ge­ danken: ,Der alte Mensch - glauben Sie es mir, ich spreche aus eigener Erfahrung, bedarf der Ab­ wechslung, der Erfrischung, oft mehr als der junge, der die Frische der Jugend, diese lebendige QueUe; in sich selber tragt." (Goldschrnidt 1903 : 37) Ich glaube, fur Henriette Goldschrnidt war die Arbeit ein Jungbrunnen. GroBe Anstrengungen untemahm sie 1897/98 fur .die Abfassung der Petition des Bundes Deutscher Frauenvereine an die deutschen

67 Es werden u. a. genannt: Konsul Fritz Nachod, August Sussmann, Pelzhiindler Saul Finkelstein, Kaufmann Nathan Hfutdler, Bankier Jacob Plaut. Besondere Unterstiitzung gaben Baurat Rossbach, Architekt Grinm1 und der Rat der Stadt Leipzig. 67 finden, welche mit uns Frau Dr. Goldschmidt als eine Bahnbrecherin und eine der bedeutendsten Frauen unserer Stadt verehren." 68 Ftir ihre Verdienste urn die Volkserziehung erhielt sie von Konig Friedrich August von Sachsen die Carola-Medaille und den Maria-Anna-Orden. ,Noch immer halt die Achtzigjahrige die Hand tiber ihr Werk. In der zweiten Etage des Hauses in der Weststral3e liegt das harmonische Heim, in dem die jugendfrische Greisin unter ihren Palmen und Blumen und Statuen ihrer Lieblingsdichter Lessing und Schiller wohnt. Aber sie fuhrt hier kein aus­ schliel3lich beschauliches Dasein, denn noch immer laufen all die vielverschlungenen Faden der weit­ veriweigten Anstalten in ihren kleinen, feinen Handen zusammen und kein Tag vergeht, an dem nicht die jtingeren Leiterinnen der Anstalten hinaufsteigen, urn sich den Rat der bewahrten Meisterin zu erbitten und alle Sorgen an ihr gtitiges Herz zu legen." .(Plothow 1907: 95) Dieses gtitige Herz, gro- 13es Verstandnis und Konsequenz haben ihr vielfach den Weg geebnet, urn ihre Ideen durchzusetzen. In einem Dankschreiben an den Vorstand des Allgemeinen deutschen Frauenvereins drtickt Henriette Goldschmidt ihre Gedanken und ihre Verbundenheit folgenderma13en aus: ,WoW weil3 ich, dass Sie in mir das Andenken an jene erste Zeit der Grtindung unseres Vereins - das Andenken an Louise Otto und Auguste Schmidt, mit denen es mir vergonnt gewesen, den Weckruf an die deutschen Frauen zu richten, ehren, . . . in herzlicher Liebe und Dankbarkeit bleibt lhnen verbunden Ihre alte Gesinnungs- und Arbeitsgenossin ... "69 Sie betrachtete die vielen Ehrungen nicht als Abschluss, son­ dern als Aufforderung zu erneuter Arbeit. Mit dem Rat der Stadt, der eine Grul3adresse schickte, pflegte sie eine grol3ztigige Freundlichkeit. Ftir jede kleine Untersttitzung bedankte sie sich bei dem ,verehrten Rat der Stadt". Es wird ihr spater nicht gedankt. Heute, zu ihrem 175. Geburtstag, schweigen die Verteter im Rathaus. Es ist das groBe Verdienst der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, sich auch fur das Erbe Henriette Goldschmidts einzusetzen. Die Henriette-Goldschmidt-Schule ehrt die Grtinderin am Grab und durch spezielle Veranstaltungen rnit den Schtilerinnen und Schtilern, urn an·die groBartigen Leistungen zu ennnern. So ein Jahrhundertleben hat viele runde Geburtstage. Ich erinnere nun an 1915, ihren 90. Ihre Freun­ de und Mitstreiterinnen glaubten sie am besten mit einer Geldspende ehren zu konnen, die fur eine neue Kindereinrichtung Verwendung finden sollte. Der Aufrufhatte Erfolg und die 5.000 Mark hal­ fen, 1918 das ,Henriette-Goldschmidt-Kindertagesheim" in Leipzig-Lindenau zu eroffnen. Sie hatte den ausdrticklichen Wunsch, einen Arbeiterstadtteil dafur auszusuchen und die Kinder in dem Tages­ heim ganztags zu betreuen. Die Feier im Haus WeststraBe fand rnit den Kindergartenkindern, den Erzieherinnen und vielen Ga­ sten statt. Die vom Bildhauer Seffner entworfene Tafel mit einem Frobelspruch wurde tiberreicht und

68 Schreiben an die verehrten Mitglieder des Vereins fur Farnilien- und Volkserziehung zu Leipzig, 30. Okt. 1905, unterzeichnet u. a. von Dr. Kathe Windscheid, Doris Heidemann, Rosalie Btittner, Frau Dumstray-Freytag, Therese Schafer, Frau Dr. Brasch. Kemp-Archiv 69 1 vgl. Helene-Lange-Archiv Berlin, BDF 33-148 . Kemp-Archiv 68 spater an der Stele mit der Btiste Henriette Goldschmidts angebracht. Frau Goldschmidt nahm plau­ dernd und angeregt his zum Abend die Ehrungen dankbar entgegen. Der Rat der Stadt Leipzig tibersandte neben einer prachtvollen Blumenspende ein Schreiben voll warmen Dankes. Darin war unter anderem zu lesen: ,Unloslich wird Ihr Name und Wirken verkntipft bleiben mit dem von Ihnen gegrundeten Verein fur Familien- und Volkserziehung, der sich unter Ih­ rer glanzenden Leitung aus kleinen Anfangen zu seiner jetzigen Bedeutung entwickelt und in seinen Kindergarten, dem Kindergartnerinnen-Seminar und dem Lyzeum mustergtiltige Einrichtungen ge­ schaffen hat. Unausloschlich wird aber insbesondere fur alle Zeiten Ihr Verdienst sein, das Sie sich durch die Schaffimg der Frauen-Hochschule erworben haben, eine Schopfung, in der Sie mit Recht die Kronung Ihrer Lebensarbeit erblicken dtirfen. Das Bewuf3tsein in fast funfzigjahriger Arbeit den Weg vom Kindergarten zur Frauen-Hochschule zurtickgelegt .und diesesLebensziel erreicht zu ha­ ben, darf Sie mit besonderer Befriedigung erfullen." (Prtifer 1917: 4) Ihre tiber vier·Jahrzehnte wahrenden Arbeitsleistungen wurden 1911, da war Henriette Goldschmidt im 86. Lebensjahr, mit der ertraumten Eroffnung der Hochschule fur Frauen belohnt. Sie realisierte ihre jugendlichen Vorstellungen, Einrichtungen vom Kindergarten his zur Hochschule zu schaffen. Ihr Freund und Gonner, Geheimrat Dr. Henri Hinrichsen, schenkte ihr dafur zwei Hauser und das erforderliche Geld. 70 Die einzige Hochschule fur Frauen71 in Europa wurde am 29. Oktober 1911 eroffuet. Sie erregte internationales Aufsehen, die Universitat Leipzig begrtiBte diese Ausbildungs­ statte und stellte Dozenten dafur zur Verfugung. Dieses padagogisch-soziale Studium konnte die Universitat selbst nicht anbieten. Henriette Goldschmidt hatte nach wie vor die Leitung in ihrer Hand. ,Sie gehorte zu den schaffens­ frohen Menschen", schrieb Anna Plothow, ,die keinen Feierabend kennen, denen aus verborgenen Quellen immer neue Lebensfreudigkeit zuflief3t. Die seltene Frau, die das Zeitalter dreier Generatio­ nen bewuBt durchlebt hat, steht noch an der Spitze der von ihr gegrtindeten Frauenhochschule in Leipzig." (Plothow 17/2) Als sie zum 90. Geburtstag ihre Amter niederlegte, war sie als Ehrenvorsit­ zende des Vereins trotzdem noch prasent. Die psychische Last des 1. Weltkrieges konnte sie jedoch schwer tiberwinden. Als sie 1920 starb, hatte sie eigentlich alles erreicht, was sie sich in der Jugend ihres Lebens ertraum­ te. Der 100. Geburtstag 1925 wurde in ,ihrer Schule" festlich begangen. Die.Leipziger Abendpost (v. 24.11.1925) schrieb im , Gedenken an eine grof3e Frau" von der Einheit von Wort und Tat, Denken und Handeln.

70 Hinrichsen, Henri Dr. he. phil. (1868-1942), Musikverleger und Inhaber des Leipziger Verlagshauses C. F. Peters. Er wurde als jOdischer Biirger nach Ausgrenzung und Verfolgung 1942 in Auschwitz ermordet. 71 Die 1850 in Hamburg von Frauen um Emilie Wiistenfeld eroffnete und von Karl Frobel gefiihrte Hochschule fur das weibliche Geschlecht bestand nur ein Jahr. 69

Das alles war zum 110. Geburtstag 1935 ,offentlich vergessen". Die nationalsozialistischen Macht­ haber konnten das bescheidene und aufopferungsvolle Leben einer Jiidin nicht mit ihrem Machtstre­ ben und dem Rassendiinkel in Ubereinstimmung bringen. Erst 1945 durfte ihr Name wieder genannt werden. Die 1911 eroffnete Hochschule fur Frauen, das spatere Sozialpadagogische Frauenseminar, bekam nun ihren Namen, und so ist es heute noch in der Goldschmidtstraf3e 20, das Berufliche Schulzentrum 11 - Sozialwesen - Henriette-Goldschmidt­ Schule.

Literatur

Goldschmidt, Henriette: Vortrag zur Schulfrage. -Braunschweig 1868 Goldschmidt, Henriette: Ansprache beim Stiftungsfest des Henriette-Goldschmidt-Vereins zu Leipzig, Oktober 1903 Hantschick, Ines (Hrsg.): Abriss? Eine Schande. Geschichtsbewusste ·Frauen,kampfen urn das ·beriihmte Henriette- Goldsclunidt-Haus. Eine Dokumentation von 1993-2000. Leipzig: Verein Henriette-Goldscluuidt-Haus e. V., 2000 MUller, G. in: 1. Beilage zur Leipziger Lehrerzeitung 1912, Nr. 197 Miiller, Marie: Frauen im Dienste Frobels. Leipzig 1912 Milller-Wunderlich, Marie: Tagebuch von 1882-1886. Goldschmidt-Archiv Plothow, Anna: Die Begrtinderinnen der deutschen Frauenbewegung. Leipzig 1907 Plothow, Anna: Die Patriarchin. In: Helene-Lange-Archiv Berlin 17/2 Prtifer, Johannes: Dritter Bericht der Hochschule fur Frauen. Leipzig 1917 Sclunidt, Auguste: Hemiette Goldscluuidt. In: Al1gemeine Zeitung des Judentums (Berlin), 53. Jg., Nr. 48 v. 29.11.1895 Siebe, Josephine; Prtifer, Johannes: Henriette Goldschmidt. Ihr Leben und Schaffen. Leipzig 1922 Wolff-Arndt, Philippine: Wir Frauen von einst- Erinnerungen einer Malerin. Miinchen 1929 Zeitschrift Kindergarten 10 (Oktober)/1919 70

Vom Umgang mit dem Erbe Henriette Goldschmidts

Annett Gro.fle (Leipzig I Erfurt)

Henriette Goldschmidt, geb. Benas, wurde am 23 . November 1825 in Krotoschin (Polen) in einer wohlhabendenji.idischen Farnilie geboren. Der Vater, Levin Benas, war ein gebildeter Kaufmann und verehrte schon lange die Ideen der Aufklarung. Nach dem Tod seiner Frau Eva Benas, geb. Laski, entschied sich Henriettes Vater bewusst, eine Analphabetin zur Ehefrau zu nehmen, da er die Mei­ nung vertrat, dass besonders eine solche Frau geni.igend Zeit fur seine funf Kind er aufbringen konnte, weil ,deren Geist nicht durch i.iberfli.issige Lekti.ire abgelenkt wi.irde". Die Benas-Kinder hatten keine besonders gli.ickliche Kindheit rnit ihrer Stiefmutter erlebt. Sie wirkte auf sie gefuhlskalt. In der Haushaltsfuhrung kannte sie sich aus, doch hatte sie auf dem Gebiet der Kindererziehung keinerlei Kenntnisse. Aus diesen Erfahrungen schlussfolgerte Henriette, dass es nicht ganz den Tatsachen ent­ spricht, wenn behauptet wurde, Frauen konnten instinktmaBig die Pflichten einer Mutter erfassen und ausfuhren. Dies warder Anlass, weshalb Henriette spater eine Fortbildungsschule fur junge Frauen gri.indete. Sie wollte darnit die wichtigsten Grundlagen fur die Erziehung der Kinder sowie fur die Haushaltfuhrung verrnitteln. Henriette besuchte erst die ji.idische Elementarschule, danach wechselte sie zur hoheren Tochterschu­ le in Krotoschin. Doch sie war von den angebotenen Lehrveranstaltungen nicht besonders begeistert. Mit 14 Jahren war fur Henriette die Schulausbildung vorbei, und sie beneidete ihren Bruder, da fur ihn die Moglichkeit bestand, weiter zu studieren. Ihr als Madchen war ein Studium nicht gestattet. Diese Erfahrung war ein weiterer Grund, spater ihre Krafte fur verbesserte Ausbildungsmoglichkei­ ten der Madchen einzusetzen. (vgl. Fassmann 1996: 157f) Die vorhandene Bibliothek im Elternhaus konnte Henriette rnit der Zustimmung des Vaters benutzen und sich weiterbilden. Ihr Vater legte groBen Wert darauf, dass seine Tochter die Tageszeitung la­ sen, urn rnit ihnen spater i.iber aktuelle politische Themen diskutieren zu konnen. Darnit weckte er das Interesse seiner Tochter fur die Politik. (vgl. ebd.: 159) Henriette war eine begeisterte Anhange­ rin der politisch verfassten Literatur. Besonders die des Vormarz begeisterte sie (vgl. Plothow 1907: 37). AuBerdem war sie eine groBe Verehrerin der klassischen Literatur, zu ihren Lieblingsschriftstel­ lern zahlten Lessing, Goethe und Schiller. (vgl. Fassmann 1996: 159) Frauen hatten zu diesem Zeitpunkt keine offentlichen Rechte. (vgl. Siebe 1922: 21f) Dies pragte Henriettes spatere Arbeit, da sie groBen Wert darauf legte, als Frauenrechtlerin auch offentlich zu wirken. (vgl. Siebe 1922: 25) Sie wollte, dass die Frau als gleichwertiges Mitglied der Gemeinde an­ gesehen wird. AuBerdem kampfte sie fur die Anerkennung der ehrenamtlichen ,weiblichen" Berufe als vollwertige und zu vergi.itende Arbeit. Urn diesen Prozess voranzutreiben, strebte sie ein 3teiliges Bildungssystem an. Dafur eroffnete sie in Leipzig Volkskindergarten, ein Kindergartnerinnenserninar sowie ein Lyzeum und 1911 als Hohepunkt die Hochschule fur Frauen. 71

Nachdem Frau Goldschmidt im Alter von 94 Jahren verstorben war, loste sich am 1.4.1921 der von ihr rnitinitiierte ,Verein fur Farnilien- und Volkserziehung" auf. Sein Besitz ging in das Eigentum der Hochschule fur Frauen uber. Die Stiftung der ,Hochschule fur Frauen zu Leipzig" wurde am 1.10.1921 von der Stadt Leipzig in treuhanderische Verwaltung iibernommen. Zu dieser Stiftung ge­ horten zu diesem Zeitpunkt die Hochschule fur Frauen (1916 umbenannt in Sozialpadagogisches Frauenseminar) in der damaligen KonigsstraBe 20, das Angelika-Hartmann-Haus in der ChopinstraBe 13, das Kindertagesheim in der SpittastraBe 7 und das Henriette-Goldschmidt-Haus in der Friedrich­ Ebert-StraBe 16. Der erste Volkskindergarten des Vereins wurde 1872 in der QuerstraBe 20 eroff­ net. Ihre Grabstatte kann heute noch auf dem alten judischen Friedhof in Leipzig (Berliner StraBe 123) besucht werden. Was wurde aus dem Erbe von Henriette Goldschmidt?

Die Henriette-Goldschmidt-Schu/e, GoldschmidtstrajJe 20 Nach dem Ableben von Frau Goldschmidt wurde die Hochschule umgestaltet. Die Ziele der Schule entsprachen nicht mehr den Anforderungen der Zeit. Immer mehr junge Madchen waren auf eine Lohnarbeit angewiesen. lhre Schule hingegen war auf die Bildung zum Mutterberuf ausgerichtet. Die Madchen konnten nun die Frauenberufe Kindergartnerin, Jugendleiterin, Wohlfahrtspflegerin, So­ zialbeamtin, Oberin, technische Assistentin oder Kinderpflegerin rnit staatlicher Anerkennung erler­ n(m. Zusatzlich zur Padagogik nach Friedrich Frobel wurde neuerdings auch Maria Montessoris Pad­ agogik gelehrt. (vgl. Fachschule 1991: 19) Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten anderte sich das Ziel der Ausbildung von der humanita­ ren, biirgerlich-liberalen Erziehung zum Leitideal der nationalsozialistischen deutschen Volksmiitter­ lichkeit. Es durften nur noch deutsche Madchen rnit Volksschulabschluss, rein arischer Abstammung und einer Tatigkeit im Bund Deutscher Madel aufgenommen werden. Unterteilt war das ,Sozialpadagogische Frauenserninar Leipzig" zu dieser Zeit in 4 Bereiche: die Kinderpflegerinnen, die Frobel-Frauenschule, das Seminar fur Jugendleiterinnen und die Wohlfahrtsschule. Fur die Prak­ tika waren an das ,Sozialpadagogische Frauenserninar Leipzig" insgesamt 9 Kindergarten, Horte, Tagesheime und Kinderlesestuben angeschlossen. 1933 fiel die Feier zu Ehren von Frau Goldschmidt das erste Mal aus. Dem Musikverleger und Ge­ heimrat Dr. Henri Hinrichsen wurde Hausverbot fur das von ihm gestiftete Gebaude des ,Sozialpadagogischen Frauenseminares Leipzig" ausgesprochen. (1942 wurde er im KZ Auschwitz­ Birkenau ermordet.) Die Direktorin und einige Lehrerlnnen mussten die Schule aus politischen Griinden ebenfalls verlassen. 1936 wurden Biicher z. B. von Freud, Harden und Fischhard aus der Henri-Hinrichsen-Lehrmittelstiftung vernichtet, das restliche Material dem allgemeinen Schulvermo­ gen einverleibt, Exlibris rnit Henriette Goldschmidts Kopf beseitigt. (vgl. ebd .: llt) Die Biiste von Frau Goldschmidt, die im Treppenhaus stand, verschwand im Keller. Eine eingemauerte Tafel mit 72

einer Widmung Henri Hinrichsens zur Eroffnung der Hochschule wurde mit einem Hitler-Ausspruch uberdeckt. Offiziell war so das judische Erbe beseitigt. Manchmal jedoch zeigte die Lehrerin Anna Zabel die Buste im Keller ihren Schulerinnen. (vgl. Grol3e 1996) Am Ende des Krieges traf eine Bombe das Gebaude. Sie gelangte nur bis zur zweiten Etage, so dass sich der materielle Schaden in Grenzen hielt. Die humanitaren, kulturellen, okonomischen und politi­ schen Schadenjedoch konnten nie mehr vollkommen beseitigt werden. (vgl. Fachschule 1991: 12) Als am 1.10.1945 der Unterricht wieder begann und die Direktorin von vor 1933 wieder eingesetzt wurde, hatte sie eine schwierige Aufgabe zu bewaltigen. Der Inhalt und das Ziel der Schule mussten neu gestaltet werden. Gleichzeitig fehlte es an Lehrkraften, Lehrbuchem und -planen. In Ermange­ lung neuer padagogischer Theorien nahm sie die ,Selbstentfaltung des Kindes" aus der Weimarer Republik als Theorieansatz, und in der Facherstruktur griff sie auf die ihrer Grunderzeit zuruck. Ausgebildet wurden Vorschulerzieherinnen, Hort- und Heimerzieherinnen und Kinderpflegerinnen. Dass Henriette Goldschmidt wieder als positiver Geist der Schule gesehen wurde, beweist die Um­ benennung des ,Sozialpadagogischen Frauenseminars Leipzig" in ,Padagogische Schule Leipzig, Henriette-Goldschmidt-Schule" und der KonigsstraBe in Goldschmidtstral3e. Die Auffassung von der ,fuhrenden RoUe der Erzieherin" verbreitete sich immer mehr. Ab 1949 wurden alle Facher nach und nach mehr ideologisiert, aber es wurde auch praxisnaher gelehrt. Jahrlich gab es Ehrungen fur Henriette Goldschnmidt. Bis 1957 fanden die Feiem zum Teil in der Kongresshalle statt, zu denen man Erzieherinnen und Kinder aus den Praxiseinrichtungen einlud und Schulerballe durchfuhrte. Aul3erdem richtete man ein Traditionszimmer ein - unter anderem mit Portrats von Frau Goldschmidt und mit Arbeiten uber sie. Dieses musste jedoch aufgelost werden, weil die Mauern des Zimmers nass waren und der Putz abbrockelte. Die Marmorbuste von ihr war etwas beschadigt und konnte deswegen nicht aufgestellt werden. Eines Tages sagte der Hausmeister, er habe alle Busten aus dem Keller weggeworfen. Dazu gehorten aul3er der von Frau Goldschmidt noch .Busten von Schiller, Goethe, Lessing, Frobel und weiteren Personlichkeiten. In den letzten Jahrzehnten der DDR war das Studium an der Henriette-Goldschmidt-Schule auf die Kindergartnerinnen-Ausbildung beschrankt. Nach der Wende wurden neue, jetzt notwendige Facher eingefuhrt. Ab August 1990 fanden Fortbil­ dungslehrgange fur Kindergartnerinnen statt. Die Schule musste sich neu orientieren und strebte wieder eine Vielfalt von sozialpadagogischen Ausbildungsberufen an. Bis Juli 1991 war ein neues Bildungskonzept entstanden. In dem gleichen Jahr wurde auch der Name der Schule in ,Fachschule fur Sozialpadagogik Henriette Goldschmidt Leipzig" geandert. Am 7. 7.1991 wurde der Verein ,Henriette-Goldschmidt-Stiftung-Sozialpadagogisches Bildungszen­ trum Leipzig e.V." ins Leben gerufen. (vgl. Fachschule 1996: 16) Der Verein bemuhte sich urn die Neubelebung der Hinterlassenschaften Frau Goldschmidts. Seine in hohem Mal3e anerkennenswerte 73

Leistung ist die vollige Erneuerung der Goldschmidt-GrabsHitte bis zurn Jahr 2000 unter besonderern Einsatz von Frau Dr. Berger und Herr Dr. Engelrnann. (vgl. Kernp 1993: 61) Das Berufliche Schulzentrurn 11, wie die Henriette-Goldschmidt-Schule jetzt genannt wird, bietet folgende Ausbildungsrnoglichkeiten an: - im Berufsvorbereitungsjahr Fachrichtung Sozialpflege/Farb- und Raurngestaltung, - als staatlich anerkannteR Biihnentanzerln, - als staatlich gepriifteR Kosrnetikerln, - in der Fachoberschule Fachrichtung Sozialwesen ( ein-/zweijahrig), - als Erzieherln, - als Fachkraft fur soziale Arbeit, - als Heilpadagogln (vgl. Schulverwaltungsarnt 1999) In den letzten Jahren tragt der Schulleiter Herr Dr. Ulrn das. geistige Erbe von Frau Goldschmidt in vielfaltiger Form an die Schiiler heran. Fur ihn bedeutet dies zurn einen, Frauenbildung und Frauene­ rnanzipation zu forden; dies spiegelt sich zurn Beispiel in den Ausbildungsrnoglichkeiten wieder und wird auch bei der Einrichtung neuer Ausbildungsrichtungen beachtet. Zurn anderen: Urn die judi­ schen Tradition weiterzugeben, finden jahrlich Vortrage von ihm bzw. der Enkelin von Herrn Hin­ richsen, Frau Irene Lawfort-Hinrichsen, statt. AuBerdern tritt regelrnaBig einejudische Musikgruppe auf Urn das Gedankengut von Frau Goldschmidt fur die Schiilerinnen alltaglich lebbar zu rnachen, wird nach der Erziehungs- und Entwicklungskonzeption der Schule ,eine Erziehung zur Toleranz im Sin­ ne des hurnanistisch-philanthropistischen Konzeptes Henriette Goldschmidts, das von der Erzie­ hungsbediirftigkeit und -fahigkeit des Menschen ausging" angestrebt. Urngesetzt soil dieses werden, indern der Erziehungsstil ,abwartend, beobachtend, auch leidend, nachgebend, behiitend, beschiit­ zend", nicht aber ;,vorschreibend, eingreifend und bestimmend" ist. Die Lehre soll vielfaltig und offen sein. (Ulrn 1995: 5fl) Zur Zeit wird das erste Obergeschoss urngebaut, urn Frau.Goldschmidt und Herrn Hinrichsen in ei­ nem speziellen Bereich zu ehren. Veranstaltungen zurn Gedenken an Frau Goldschmidt und Herrn Hinrichsen finden in letzter Zeit rneist im Mendelssohn-Haus statt, da in der Schule kein angernesse­ ner Raurn zur Verfugung steht.

Das Schulerinnenheim oder Angelika-Hartmann-Haus Das Haus tragt den Narnen der Frobelpadagogin und Griinderin des Leipziger Frobelvereins Angeli­ ka Hartrnann. Es wurde Henriette Goldschmidt iiberlassen und spater als Schiilerinnenheim des So­ zialpadagogischen Frauenserninars genutzt. Heute arbeitet in diesern Haus eine Drogenberatungsstel­ le. An das verdienstvolle Wirken von Frau Hartrnann und Frau Goldschmidt wird an keiner Stelle erinnert. Mitarbeiterlnnen wissen teilweise nicht einmal von ihrern Wirken in diesern Gebaude (trotz­ nach Auskunft einer Mitarbeiterin- Zusammenarbeit mit der Schule). 74

Das Vereinshaus, Henriette-Goldschmidt-Haus 1921 wurde urk:undlich festgelegt, dass die Stadt Leipzig ihr von der Stiftung tiberlassene Hauser fur die Frauenbildung nutzen muss; verstol3t sie dagegen, fallen die Hauser an die Erben zuruck. Eines der vier Hauser dieser Stiftung stand in der heutigen Friedrich-Ebert-Stral3e 16 in Leipzig.72 Dieses Haus, das Henriette Goldschmidt 1889 fur ihren Verein fur Familien- und Volkserziehung erwerben konnte, wurde ihr geliebtes Lebensumfeld mit Wohnung. Es beherbergte weiterhin einen Volkskin­ dergarten, das Seminar fur Kindergartnerinnen, das Lyzeum fur Damen, das Schtilerinnenpensionat und a:nderes. 1921 erhielt das Gebaude den Namen Henriette-Goldschmidt-Haus. (vgl. Bohme/Nabert 1996: 37) Dies ·war ein Ausdruck der Wertschatzung der Leipziger Stadtvater fur Frau Goldschmidt. (marth 1993) 1922 - 1927 waren Textil- und Modeklassen der Kunsthandwerkstatten der hoheren Schule fur Frauenberufe imHenriette-Goldschmidt-Haus untergebracht. 1939 wurden die Buchstaben des Namens ,Henriette-Goldschmidt-Haus" tiber dem Hauseingang · von den Nationalsozialisten abgeschlagen. In der Zeit des Nazionalsozialismus blieb jedoch der Zweck des Hauses erhalten. (vgl. Weidemann 1991) Obwohl der Stadtteil, in dem das Henriette­ Goldschmidt-Haus steht, zu den am sHirksten durch Kriegsschaden betroffenen in Leipzig zahlte, war in diesem Haus nur die vierte Etage zerstort. Nach 1945 wurde die ,Henri-Hinrichsen-Stiftung" in die Sammelstiftung der Stadt Leipzig integriert, die nach der Wende in Btirgerstiftung umbenannt wurde. 1958 erhielt das Gebaude zum zweiten Mal den Namen Henriette-Goldschmidt-Haus. Bis in die 80er Jahre wurde es als Kindergarten und fur gesellschaftliche Zwecke genutzt. (vgl. Bohme/Nabert 1996: 36f) 1984 sollte auflnitiative von Lehrerlnnen der Henriette-Goldschmidt-Schule das Haus unter Denk­ malschutz gestellt werden. Da allerdings existierten bereits Plane zur Verbreiterung der Stral3e und zum Abriss der Hauser. Im Januar 1990 gelang es schliel3lich, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen. (vgl. Bohme/Nabert 1996: 37) Aus dem gleichen Jahr stammt der Antrag der Henriette-Goldschmidt-Stiftung auf Nut­ zung des Hauses. Die gleichzeitig im Rathaus vorgelegte Konzeption (vgl. Dietze 1993) sah das Henriette-Goldschrnidt-Haus fur ein internationales Padagogik-Zentrum vor. (vgl. Weidemann 1991) Im Marz 1991 wurde das Henriette-Goldschmidt-Haus entgegen den Stiftungsbestimmungen an eine Leipziger Rathausangestellte verkauft, die - laut einem Zeitungsartikel - dort ein Umweltlabor ein­ richten wollte. Der Verkaufspreis betrug insgesamt 40.000,- DM. Der einzige Gutachter hatte einen Quadratmeterpreis von 500,- DM angesetzt, abztiglich der Instandsetzungskosten. Ein Gegengutach­ ten, so meinte Leipzigs Kammerer Peter Kaminski (CDU), fehlte. 1993 hat man in derselben Stral3e 2.000,- DM pro Quadratmeter gezahlt. (vgl. Muller 1993a) Inzwischen wurde das Henriette-

72 vgl. Leipzigs Neue vom 2.6.1993 75

Goldschmidt-Haus fur 1,2 Millionen Mark an die Baufirrna Lowenbau weiterverkauft. (vgl. Muller 1993b) 1993 gab die Stadt Leipzig den Entwurf eines Bebauungsplanes fur die Friedrich-Ebert-Straf3e in Auftrag. Er sollte dem Gebiet unter anderem seine ,stadtraumliche Typik" zuriickgeben. 1995 wurde dieser Entwurf der Offentlichkeit vorgestellt. Dabei stellte sich heraus, dass er die Umgestaltung der Verkehrsfuhrung zur Grundlage hatte und dafur 7 Baudenkrnale ( darunter das Henriette­ Goldschmidt-Haus) abgerissen werden sollten. Dieser Entwurf fand jedoch nicht die Zustimmung der Burgerlnnen, und so wurde seine Dberarbeitung entschieden. Am 18.9.1996 entschied die Ratsversammlung, dass nur die Halfte des geplanten Straf3enabschnittes verbreitert wird. Dafur mussen drei Baudenkrnale abgerissen werden, darunter auch das Henriette­ Goldschmidt-Haus. (vgl. Bohme/Nabert 1996: 36t) Nach dem Votumder PDS .. im Leipziger Stadtrat entstand der V orschlag, das Andenken Henriette Goldschmidts in einem anderen Haus weiter zu be­ wahren. (vgl. Ulrich 1998) Am 18.5.1999 haben sich mehrere Leipziger Burgervereine getroffen, urn die 1993 von der Louise­

Otto~Peters-Gesellschaft e. V. und einem Frauenaktionsbundnis initiierten Aktionen fur den Erhalt des Henriette-Goldschmidt-Hauses verstarkt fortzusetzten. In den folgenden Wochen wurde viel getan: Am 26.5.1999 ist ein Forderverein fur das Henriette­ Goldschmidt-Haus mit dem Ziel gegriindet worden, das Henriette-Goldschmidt-Haus wieder zu ei­ nem Haus fur Frauen gestalten zu konnen. (vgl. Muller 1999) Am 28.7.1999 wurde die Abrissge­ nehmigung erteilt. (vgl. Richter 1999) Am 15 .9. 1999 errang die Stadtratssitzung eine einstweilige Verfugung gegen den Abriss, der fur den 16./17.10.1999 vorgesehen war. (vgl. Forderverein 1999) Am 11 .10.1999 wurde die Bitte fur den Erhalt des Henriette-Goldschmidt-Hauses in das Friedensge­ bet der Leipziger Nikolaikirche eingeschlossen. Nach dem Gebet sind ea. 30 Personen zum Henriet­ te-Goldschmidt-Haus gegangen und haben Kerzen aufgestellt. (vgl. LVZ vom, 12.10.1999) Im No­ vember wurde das Haus mehrere Tage beleuchtet, so dass seine schone Architektur noch einmal sichtbar wurde. Der Name ,Henriette-Goldschmidt-Haus" ist seit Anfang Oktober wieder entfemt. Am 16. 11. 1999 schlugen das Regierungsprasidium, die Stadtverwaltung und der Eigentiimer einen Kompromiss vor, der folgendes enthielt: - eine Ruckversetzung des Hauses urn 12 Meter unter Wiederverwendung originaler Bausubstanz (z. B. Fassade mit Erker), - den Wiederautbau des Erdgeschosses nach historischem Grundriss, - die Bereitstellung des Erdgeschosses nach Wiederautbau fur interessierte Vereine, - Fordermittel des Regierungsprasidiums fur den Wiederautbau. 76

Der Verein jedoch kampfte aus verstandlichen Griinden weiter fur den Erhalt des Hauses. Die Bau­ firma Lowenbau meinte, class der Sandstein zerbroseln wiirde und sie aul3erdem das Geld fur den Bau nicht aufbringen konnte. Am 15 .12.1999 wurde das Hintergebaude abgerissen. Am Wochenende des 18./19.3.2000 begann der Abriss morgens vier Uhr. Urn die Bagger stand eine Mahnwache, die den genehmigten Abriss des denkmalgeschi.itzten Hauses nicht hinnehmen wollte und- trotz aller Anstrengungen und bundesweiter Untersti.itzungen- den sinnlosen Akt der Willki.ir nicht verhindern konnte. Nach dem Vorschlag vom 16.11.1999 sollte das Haus ab Herbst 2000 ,neu gebaut" werden. Nichts geschah. Im Moment ist der ehemalige Standort des Hauses ein wilder Parkplatz mehr in Leipzig. War die Vereinbarung zwischen Hauseigenti.imer und Regierungsprasidium sowie Stadtrat etwa nur ein Stuck geduldiges Papier, das die geschichtsbewussten Menschen des Vereins und seine viele Untersti.itzerinnen und Untersti.itzer bundesweit beruhigen sollte?

Meiner Meinung nach muss Henriette Goldschmidt mehr Achtung fur ihre geleistete Arbeit erhalten und dementsprechend gewiirdigt werden, da sie ihrer Zeit voraus war. Sie erkannte fri.ih, wie wichtig es bei der Kindererziehung ist, gezielt und professionell zu arbeiten. Sie verfolgte das Ziel, eine neue Generation fur mehr Toleranz und Menschlichkeit zu erziehen, damit die Menschen friedlich mitein­ ander und ohne Vorurteile nebeneinander leben. Leider wurde dieses Ziel zu oft aus den Augen ver­ loren und konnte nie auf Dauer durchgesetzt werden. Der Nationalsozialismus wollte sie auf Grund ihrer ji.idischen Religion aus der deutschen Geschichte entfernen. Dies gelang ihm zum Teil. Doch durch einzelne geschichtsbewusste Menschen konnte dieses Unrecht teilweise beseitigt werden. In unseren Tagen werden nur kleine Teile ihres geistigen und materiellen Vermachtnisses geachtet. Urn jedoch von dem groBen Erbe profitieren zu konnen, mi.issen wir uns die Geschichte verdeutlichen und lebbar machen. Fi.ir mich wares eine Ehre, mit dazu beizutragen, ·dass Henriette Goldschmidt nicht in Vergessenheit gerat. Jetzt- nach der Vernichtung ihrer Lebens- und Wirkungsstatte- ist es wichtiger denn je, ihr geistiges Erbe zu bewahren und neu zu entdecken.

Literatur

Bohme, Heinz-Jiirgen; Nabert, Thomas: "eilbediirftig". In: Leipziger Blatter, Heft 29 (Herbst 1996), S. 36f Dietze, Henrike: lmmer noch zum Henriette-Goldschmidt-Haus oder: Die gefahrlichste Variante der abgestimmten Amtermeinung? In: Leipzigs Neue vom 1.10.1993 Fachschule fiir Sozialpadagogik, Henriette-Goldschmidt-Schule Leipzig (Hrsg.): Henriette-Goldschmidt-Schule 1911- 1991. Festschrift. Leipzig 1991 Fassmann, Irmgard Maya: Jiidinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865-1919. Olms 1996 (= Haskala Band 6) Forderverein fiir das Henriette-Goldschmidt-Haus (23 .10.99): Henriette-Goldschmidt-Haus Leipzig. http://www.01019 freenet.de/goldschmidt-haus/am 8.11.1999 Frauen haben Besitzrechte aufvier Hauser. In: Leipzigs Neue vom 2.6.1993 Friedensgebet fiir das Goldschmidt-Haus. In: LVZ vom 12.10.1999 Goldschmidt, Henriette: Vom Kindergarten zur Hochschule fiir Frauen. Leipzig 1911 Kammerer, Gerlinde; Pilz, Anett (Hrsg.): Leipziger Frauengeschichte - ein historischer Stadtrundgang. Leipzig: Kunst- und KulturCentrum fiir Frauen KuKuC, 1995 Kemp, Annerose: Erganzung zum Artikel , Henriette-Goldschmidt -Ha us" in der L VZ vom 8. 9.1993 am 9.9 .1993 77

Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt- Frauenrechtlerin und Padagogin. In: Kiimmerer/Pilz 1995, a. a. 0 . Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidts Leben und Schaffen. Vortrag am 26.11.1996 an der Henriette Goldschmidt Schule Leipzig marth: Mit dem Haus den Geist erhalten. In: Leipzigs Neue vom 17.9.1993 MUller, Thomas: Gesti:ftetes Henriette-Goldschimdt-Haus: Die Stadt ist damit stiften gegangen. In: Leipziger Volks- zeitung vom 8.9.1993a Miiller, Thomas: Stadt konnte Streitobjekt zuriickholen. In: Leipziger Volkszeitung vom 11./12.1 0.1993b Miiller, Thomas: Forderverein fur Goldschmidthaus vor Griindung. In: Leipziger Volkszeitung vom 22./23.5.1999 Plothow, Anna: Die Begriinderinnen der deutschen Frauenbewegung. Leipzig 1907 Richter, Andrea: Auch Akademiker Bernd-Lutz Lange kritisiert geplanten Abriss. Verein will mit Eigentiimern ver­ handeln. In: Leipziger Volkszeitung vom 3.8.1999 Schulverwaltungsamt 1999 - Berufliches Schulzentrum 11 - Sozialwesen ,Henriette Goldschmidt-Schule" Leipzig. http://www.leipzig.de/amtsdaten/alle/amt.nsf/pages/Berufl1 am 26.4.1999 Siebe, Josephine; Priifer, Johannes: Henriette Goldschmidt. lhr Leben und ihr Schaffen. Leipzig 1922 Ulm, Eberhard: Erziehungs- und Entwicklungskonzeption fur die Henriette-Goldschmidt-Schule. Diskussionsgrund­ lage. Leipzig 1995(unveroff. Ms.) Ulrich, R. : PDS-Fraktion im Stadtrat zu Leipzig: Pressemitteilung Nr 19/98. http://home.t-online.de/home/pds­ stadtrat-leipzig/pm00.24. am 8.11.1999 Vereine kiimpfen urn Goldschmidt-Haus. In: Leipziger Volkszeitung vom 17.5.1999 Weidemann, Matthias: Wie die Stadt mit einem betiihmten jiidischen Haus umgeht. In: BILD (Leipzig) vom 8.11.1991 78

Die Henriette-Goldschmidt-Kindertagesstatte SpittastraBe in der Tradition ihrer Grtinderin

Renate Schiller (Leipzig)

Meine berufliche Tatigkeit begann nach Ausbildung an der Henriette-Goldschmidt-Schule fur Kin­ dergartnerinnen im Jahre 1963 im Kindergarten SpittastraBe. Seit 1967 bin ich dort als Leiterin Hitig. Damals wusste ich noch nicht, welche Tradition diese Einrichtung birgt. Unmittelbar nach der Wende wurde 1990/91 erstmalig die Frage nach den Eigentumsverhaltnissen dieser Einrichtung gestellt, als ein Hotelbetreiber groBes Interesse an Gebaude und Freiflache bekun­ dete. Mir war bekannt, dass unsere Kindereinrichtung Stiftungseigentum der Stadt -Leipzig war. In einer Bauakte entdeckte ich eine Abbildung des Gebaudes .rnit den Schriftziigen ,Sozialpadagogisches Frauenseminar - Kindertagesheim SpittastraBe" und verschiedene Schriftstiicke des Vereins fur Fa­ rnilien- und Volkserziehung. Ich entnahm daraus, dass unser Kindergarten von diesem Verein geleitet wurde. Intensiv bemiihte ich rnich, einen Zusammenhang zu ergriinden. Nach langerem Suchen fand ich im Stadtarchiv wichtige Dokumente zum Ursprung unserer Einrichtung. Tietbewegt berichtete ich meinem Team und dem Elternrat, dass diese Kindereinrichtung his zum Beginn des Nationalso­ zialismus den Namen Henriette Goldschmidts trug und die damalige Stadtverwaltung diesen Namen verschwinden lieB, da Henriette 9"oldschmidt Jiidin war. So stellten Elternrat und padagogische Mitarbeiterlnnen im April 1995 beim Jugendhilfeausschuss der Stadt Leipzig den Antrag, der Einrichtung den urspriinglichen Namen zu geben: Seit dem 23 .11.1995, dem 170. Geburtstag von Henriette Goldschmidt, tragen wir wieder ihren Namen. Frau Annerose Kemp stellte gleichzeitig beim Kulturamt einen Antrag zum Anbringen einer Gedenk­ tafel am Gebaude unserer Einrichtung. Darnit wurde am 30.1.1996, dem 76. Todestag Henriette Goldschmidts, das Wirken dieser verdienstvollen Personlichkeit geehrt. Es erfullt uns rnit Stolz, in einer Kindereinrichtung zu arbeiten, die einen so bedeutsamen geschichtli­ chen Stellenwert in der Stadt Leipzig besitzt. Entsprechend dem Ursprung der Einrichtung ergibt sich ein hoher Anspruch an Pflege und Wiirdigung der Tradition. Gemeinsam durchdachten wir, wie diese in der Einrichtung rnit den zeitgemaBen Erfordernissen in Einklang gebracht werden kann. Aufgrund der historischen Wurzeln im Zusammenhang rnit der Frobelpadagogin Henriette Gold­ schmidt und einer Analyse der Lebenssituationen, Interessen und Verhaltensweisen unserer Kinder beschlossen wir im Team, uns bewusst der erziehenden und bildenden Wirkung des Spieles im Sinne Friedrich Frobels zuzuwenden. Da ich wahrend meiner Ausbildung nur sehr wenig iiber Frobels Spielpadagogik erfuhr, war es rnir ein Bediirfuis, grundlegende Kenntnisse seiner Erziehungslehre zu erwerben. Ich nahm an einer zweijahrigen berufsbegleitenden Fortbildung im Frobelzentrum Dresden teil und eignete rnir urnfang- 79 reiches Wissen zu Frobels genialer Erziehungslehre an. Fur meine Abschlussarbeit wahlte ich folgen­ des Thema: , Auf der Suche nach den Wurzeln der Entwicklung der offentlichen Kleinkindererzie­ hung in der Stadt Leipzig". Bei der Erarbeitung dieser Thematik wurde mir noch einmal besonders deutlich, welche Verdienste Henriette Goldschmidt an dieser Entwicklung hatte. Am 30.12.1998 bestand die Henriette-Goldschmidt-Kindertagesstatte 80 Jahre. Ich glaube, es gibt nur wenige Einrichtungen, die solch ein Jubilaum begehen konnen. Urn diese Besonderheit zu ver­ deutlichen, wurde das 80. Jahr des Bestehens zum Festjahr erklart. Langfristig wurden viele Hohe­ punkte und Aktivitaten geplant, vorbereitet und mit sehr viel Engagement durchgefuhrt. Alle Veran­ staltungen dokumentierten die Tradition der Einrichtung, wiirdigten die Verdienste Henriette Gold­ schmidts und verdeutlichten den Frobelschen Ansatz. Die Feier zum 80. Jubilaum wurde am 23 .11.1998, dem Geburtstag von Henriette Goldschmidt, begangen. Dieser Tag wurde zu einem nachhaltigen Erlebnis fur die Gaste und alle Beteiligten. Beweis dafur war,· dass .an diesem Tag der Freundeskreis SpittastraBe 7 ins Leben gerufen wurde. Seit unserer Namensgebung im Jahre 1995 ist der Geburtstag Henriette Goldschmidts immer ein Ho­ hepunkt im Kindergartenalltag. Gemeinsam mit alien Kindem und Gasten wird gefeiert, gespielt und gelacht. Natiirlich gibt es auch selbst gebackenen Kuchen und andere Oberraschungen. Den Hohe­ punkt am Abend bilden das Programm der Kinder fur ihre Eltem und mit ihnen sowie zum Tage­ sausklang ein Latemenumzug, zu dem auch unsere Ehemaligen, die Schulabgangerlnnen des vergan­ genen J ahres, eingeladen werden. Die Fachabtei!ung des Leipziger Jugendamtes unterstiitzt die fachlich-padagogischen Bemiihungen unseres Teams, die Frobelpadagogik aktuell zu beleben, und wiirdigt die Tradition des Hauses. Leider war jedoch der Fortbestand auch dieser Einrichtung in Frage gestellt. Ober seine SchlieBung wurde aus verschiedenen gewichtigen Griinden nachgedacht: eine zu geringe Auslastung der Kapazi­ tat, ein hohes AusmaB an dringend erforderlichen WerterhaltungsmaBnahmen, das Fehlen eines zweiten Fluchtweges und ein Restitutionsanspruch aufeinen Teil unserer Freiflache. Einzig und allein der Tradition dieser IGndereinrichtung ist es zu v.erdanken; dass ·die Henriette-Goldschmidt­ Kindertagesstatte in der SpittastraBe 7 noch besteht. Nachdem der Restitutionsanspruch zu Gunsten der Kindereinrichtung entschieden wurde, begann deren schrittweise Umgestaltung: Einbau einer Heizung, Umbau von Waschraum und Garderobe im Obergeschoss, Neugestaltung der Freiflache und Schaffung eines zweiten Fluchtwegs. Die Gruppen­ raume der Kinder sind hell, freundlich und so gestaltet, dass unsere Kinder sich darin wohl fuhlen und ihre Wiinsche und Ideen realisieren konnen. AuBerlich ist jedoch das Alter des Gebaudes un­ schwer zu erkennen; Putz- und F ensteremeuerung waren dringend erforderlich. Alien Mitarbeiterlnnen macht es Freude, in dieser historischen Kindereinrichtung arbeiten zu konnen, und sie nutzen alle sich bietenden Moglichkeiten der Fortbildung zu Frobels Erziehungslehre. Frobels Leitgedanke: , Kommt, lasst uns unsem Kindem leben" ist uns Anspom und richtungswei­ send fur unsere Arbeit mit den Kindem. 80

Der Leipziger Schriftstellerinnen Verein. Die Generation der Erbinnen. Oder: Wider den weiblichen Dilettantismus?!

Prof Dr. Ilse Nagelschmidt (Leipzig) Meisterwerke sind keine einsamen Einzelleistungen; sie sind das Ergebnis vieler Jahre gemeinsamen Nachdenkens, des Nachdenkens der Gesamtheit der Menschen, so daB hinter der einzelnen Stimme die Erfahrung d((r Masse steht. Virginia Woolf(l929)

Der Band Dichtung und Prosa van Leipziger Frauen wurde 1914 im Verlag Otto Nuschke anlasslich des 25jahrigen Bestehens des Schriftstellerinnen-Vereins zu Leipzig herausgegeben. Dieser wurde 1890 durch die Autorinnen Louise Otto-Peters und Mathilde Clasen-Schmid mit dem Ziel der akti­ ven Unterstiitzung von publizistisch und schriftstellerisch tatigen Frauen begriindet. In der recht k:ur­ zen Geschichte von rund 25 Jahren galt es, grof3e Probleme zu iiberwinden. So verstarben die beiden Griinderinnen in den Jahren 1895 bzw. 1911. Nach dem Ableben der letzteren wurde das Stiftungs­ vermogen erhoht, so dass mit der Verwaltungsiibemahme dieses Geldes durch den Rat der Stadt Leipzig die Mathilde-Clasen-Schmid-Stiftung Rechtsstatus erlangte. Das Fortbestehen war somit zunachst unter sehr grof3en Miihen garantiert. Zur neuen V orsitzenden wurde die Schriftstellerin und Redakteurin Elisabeth Thielemann gewahlt; eine neue Bliitezeit des Vereins setzte ein. Dieser konnte somit nicht nur erhalten, sondem dank des Engagements des ganzen Vorstandes in neue Bahnen ge­ lenkt werden. Auf der Basis neuer Satzungen wurde eine zielstrebige Vereinstatigkeit eingefuhrt. Wichtig waren die Kritischen Versammlungen, in denen die zur Vorlesung genommenen Arbeiten der Mitglieder sach- und fachgerecht kritisiert wurden. Wie Elisabeth Schmidt - die 2. Vorsitzende - im Geleitwoti des Bandes hetvorhebt, waren die offentlichen Vortragsabende, die auf3erordentlich abwechslungsreich waren, gut besucht. Viele der Lesungen wurden musikalisch umrahmt. Wenn man weiss, dass diese Abende in den besten Leipziger Lokalen - wie im Hotel Hochstein - stattfanden, so ist es durchaus folgerichtig zu schlussfolgern, dass diese Veranstaltungen am Beginn des 20. Jahr­ hunderts zu den gesellschaftlichen Hohepunkten in der Messestadt gehorten. Elisabeth Schmidt fuhrt weiter aus, dass der Verein an seinem neu eingerichteten literarischen Biiro eine starke Hand hatte. Unter der Leitung einer Priifungskommission wurden Manuskripte an die Redaktion versandt; eine weitere Aufgabe bestand im Einziehen der Honorare fur die Autorinnen. Ich mochte die letzten Worte aus dem Geleittext zitieren: ,Der frische, freie, ungekiinstelte Ton, der in alien Versammlun­ gen herrscht, zeugt davon, daf3 die so oft ins Feld gefuhrte 'Blaustriimpfigkeit' unter den Leipziger Schriftstellerinnen keine Statte hat. Der Verein steht jetzt auf stattlicher Hohe, hat sich ein gutes An- 81

sehen bei Publikum und Presse erobert und den Beweis erbracht, daB Frauenworte kein leerer Schall sind." (Dichtung 1914: Vlll) Aus diesen Satzen werden die besondere .Stellung, aber auch die vom Verein iibernommene Verant­ wortung deutlich. Rigoros wollte sich dieser von den Blaustriimpfen, den Mochtegem-Literatinnen trennen. Diese wurden auf dem 1. Kongress deutscher Schriftstellerinnen, der vom 28. bis 30. Juni 1914 in der Buchgewerbeausstellung in Leipzig stattfand, hart attackiert. Elisabeth Thielemann hielt das Koreferat zum Hauptreferat von Andrea Carel (Berlin) Der Dilettantismus in der weiblichen Li­ teratur. Beide gingen von der tiefen Oberzeugung aus, dass immer dann dem weiblichen Dilettantis­ mus in der Literatur Vorschub geleistet wird, wenn jede, die iiber etwas Phantasie und eine leidliche Schulbildung verfugt, sich berufen fuhle, die Hohe des Parnass zu erklimmen. Uniiberhorbar ist ihr Pladoyer, dass es der Dilettanismus sei, der der Frau schadet, die Vorurteile gegen sie bestarkt und Konsequenzen fur all die hat, die sich mit ihrer Hande und ihres Kopfes Arbeit ernahren miissen. Dieser Wille kam auch in der einstimmig verabschiedeten Resolution zum dramatischen Schaffen von Frauen zum Ausdruck, in der es heiBt: ,Der I: KongreB Deutscher Schriftstellerinnen in Leipzig 1914 ist iiberzeugt davon, daB dramatische Begabung nicht dem mannlichen Geschlecht vorbehalten ist, sondern auch bei dem weiblichen vorhanden sein kann. Er ist weiter der Ansicht, daB diese dramati­ sche Frauenbegabung Neuartiges und Wertvolles schaffi und dadurch die Biihnenliteratur zu berei­ chern und zu vertiefen geeignet ist. Der KongreB gibt der Hoffnung Ausdruck, daB es der dramati­ schen Abteilung des Deutschen Schriftstellerinnenbundes E.V. und dem Verein Frauenbiihnen in Berlin und der Gesellschaft fur Frauendramatik in Miinchen gelingen werde, die noch bestehenden Vorurteile zu zerstreuen, und daB die Einsichtigen unter den Machthabern des Theaters und der Presse sich bei der Beurteilung der von Frauen verfaBten Stiicke mehr und mehr einer schonen Ge­ rechtigkeit befleilligen werden." (Leipziger Tageblatt Nr. 336 vom 5. Juli 1914) Referate und Resolution sind vor allem als konsequenter Ausdruck der Unterstiitzung und Ermunte­ rung der im Verein organisierten Schriftstellerinnen zu sehen. Zum ersten Mal wird in Deutschland auf einem weiblichen Kongress auf den Berufsstand der Autorinnen und auf die Dringlichkeit der ernsthaften Beschaftigung mit deren Literatur eingegangen. Frauen haben sich nicht nur der Ober­ macht der mannlichen Schriftstellerkollegen zu erwehren, sie begeben sich auch selbst immer wieder viel zu schnell in Fallen, sei es durch ,gewisse Preisausschreiben", die ,kiinstlich herangeziichtet" sind oder durch den Glauben, dass der Wille zu schreiben geniige, urn Texte produzieren zu konnen. GleichermaBen offenbart si eh jedoch auch ein grol3er Kontlikt. Wird do eh mit der Aufnahme des Be­ griffs Dilettantismus offensichtlich auf eine Debatte zuriickgegriffen, die einst im 18. Jahrhundert als eine zunachst literatur-asthetisch fordernde und fordernde begann, sich schlieBlich jedoch viel zu schnell gegen all die wendete, die im festgelegten Anspruchsfeld nichts zu suchen hatten - und das waren vor allem die schreibenden Frauen. Indem Begriffe und Mechanismen unreflektiert aufgegrif­ fen wurden, zeigen sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhebliche Schwierigkeiten bei der Wertung von weiblicher Textproduktion. Die Paradigmen liefern die Autoren - Autorinnen haben 82

sich vor allem zu orientieren; als WertmaBstab gilt noch immer die klassische Asthetik. Frauen durfen nicht in Fallen- fremde oder selbstgelegte- laufen und mussen muhselig aus der Isolation heraus zu ihren W egen find en. Die Texte des vorliegenden Bandes lassen sich in wesentliche Diskurse sowohl von weiblicher Textproduktion Ende des 19. I Beginn des 20. Jahrhunderts als auch in heutige Rezeption, Literatur­ geschichtsschreibung, bio-bibliographische Erhebungen sowie in die Kanondiskussion verorten. 1. Die zunehmende Zahl der Schriftstellerinnen und die Griindung van Zusammenschliissen Die Zahl der Autorinnen ist seit den 70er und vor allem den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts sprunghaft gestiegen. Bereits zwischen 1880 und 1900 wurden mehrere Lexika deutschsprachiger Autorinnen herausgegeben. 1898 erschien das zweibandige Lexikan deutscher Frauen der Feder von Sophie Patacky, das neben deutschsprachigen Autorinnen von Romanen, Erzahlungen, Dra­ men und Gedichten auch Verfasserinnen von Hiikelanleitungen, Kochbuchem, Kinderbuchem, Erbauungsschriften, Erziehungsschriften und Traktaten aller Art enthalt. Frauen -schrieben in der Zeit der Jahrhundertwende also im wahrsten Sinn des Wortes. Und die Zahl nahm standig zu. Berlin hatte 1908 mit 10% nach Wien, Munchen und Hamburg den hochsten Anteil von Schrift­ stellerinnen. Diese begannen sich zusammenzuschlieBen. So bestand seit 1885 in Wien der Verein der Schriftstellerinnen und Kunstlerinnen, der Leipziger Schriftstellerinnen-Verein wurde 1890 gegiiindet. 2. Die Ortlasigkeit der im Leipziger Schriftstellerinnen-Verein zusammengeschlassenen Autarinnen in gegenwdrtigen Autarinnen-Lexika Keine dieser Autorinnen ist in das ,,Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 - 1945" (Brinker-Gabler u. a. 1986) aufgenommen worden. 3. Die Diskussian urn Weiblichkeit- Natur ader Kultur Frauen diskutierten seit dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verstarkt die ihnen zugewiesene Naturhaftigkeit, die sie auf die ausschliel3liche Bestimmung als Ehefrau, Hausfrau und Mutter reduziert. Autorinnen wie Bertha von Suttner (,,Die Frauen" und Hedwig Dohm (,Die Eigenschaften der Frau") deckten 1889 bzw. 1876 wesentliche Widerspruche aufund schlussfolgerten, ,daB die spezifischen Eigenschaften und Fahigkeiten der Frau aus der Unter­ druckung und Anpassung an 'mannliche Normen' verschiedener Gesellschaftsformen hervorge­ gangen waren". (Brinker-Gabler 1978: 12) 4. Zeitgenossische Sichtweisen auf die van Frauen geschriebene Literatur van 1834/36 und 1910 Im Damen-Conversations-Lexikon, von Carl HerloBsohn in den Jahren 1834 - 1836 herausgege­ ben, ist unter dem Stichwort ,Literatur" ganz im Stil, Sinn, Geschmack und der Ideologie der Zeit zu lesen: , . . . der Inbegriff samtlicher Offenbarungen des Menschengeistes, welche in Schriften niedergelegt werden. Die Literatur umfaBt dernnach den ganzen Bereich unserer Kenntnisse und Wissenschaften und zugleich den ungeheueren Raum der Poesie, welche auch mit dem Namen 'redende Kunste' belegt wird. - Es versteht sich von selbst, daB die Literatur nach den Wissen- 83

schaften und nach den Tendenzen, welche sie ins Auge faBt, abgeteilt wird. Man kann demnach auch eine weibliche Literatur annehmen, nicht die Literatur, insofem gewisse Facher von dersel­ ben von Frauen kultiviert worden sind, sondem in Beziehung auf das weibliche Geschlecht. Sie umfaBt diejenigen Werke, welche zur Belehrung, Bildung, Unterhaltung der Frauen insbesondere verfaBt worden sind; denn wie das Weib im Leben seine divergierende Stellung hat, so auch mehr oder minder der Inbegriff der geistigen Tatigkeit in bezug auf diese Stellung, in der Literatur. Es gibt demnach medizinische, diatische, kosmetische, padagogische, psychologische, anthropologi­ sche, poetische und andere Branchen der Literatur, welche ausschlieBlich auf die Verhaltnisse, die Intelligenz, Bildungsfahigkeit und den Beruf der Frauen berechnet sind. Natiirlich ist, daB der grbBte Teil der poetischen, der belletristischen Literatur Eigentum der Frauen, daB ihr Geschmack ihr Forum ist. Sie pflanzt und pflegt diese Wunderblumen der Poesie entweder mit eigener Hand oder labt sich, mit sinnigem Gemiit das Schbne erfassend, an ihrem Duft und Glanze. Daher insbe­ sondere der Drang geist- und gefuhlvoller Frauen, in dieser Art Erzeugnisse ihr Talent zu iiben und fern von der wissenschaftlichen Spekulation aus dem vorhandenen Leben, aus der Gefuhls­ und Gemiitswelt reizende Gebilde zu schaffen. Die groBe Anzahl der Dichterinnen, namentlich bei der deutschen Nation, als einer mehr gemiitreichen, als industriellen, darf demgemaB, da sie in der Natur der Verhaltnisse begriindet ist, nicht in Erstaumen setzen." (Damen-Conversations-Lexikon 1987: 144f) Weitaus differenzierter und mit Blick auf die weibliche Textproduktion gerade der Zeit, in der die Texte des mich interessierenden Bandes einzuordnen sind, verstehe ich die Ausfuhrungen von Frau Dr. Ella Mensch in der Illustrierten Zeitung vom 29.09.1910- die als Frauen-Nummer aus­ gewiesen ist. Unter der Uberschrift ,Das Schaffen der Frau in der modemen Literatur" kommt sie zu folgender Einschatzung: ,Auf die Zeit der imponierenden, sozusagen zufalligen dichterischen Einzelerscheinungen in der Frauenwelt erfolgte die Massenarmierung, die wir jahraus, jahrein im 'Kiirschner' verfolgen konnen. Wenn selbstverstandlich unter dieser MasseHunderte und Hunder­ te sind, die die kurzlebige Mode erzeugt hat und wieder verdrangt, die fur den Tagesbedarf arbei­ ten und ihm wiederum ihre Parole entnehmen, so hat doch diese Ausdehnung in die Breite merk­ wiirdigerweise nicht schadigend auf die Tiefe gewirkt. Auch eine andere Befurchtung hat sich his jetzt nicht erfullt: daB der Masseneintritt weiblicher Intelligenzen in die schone Literatur dieser ei~ nen femininen, weiblichen Charakter aufgedriickt habe. Wenn hier und da schon die Klage iiber den drohenden Feminismus laut wird, so sind die Anhaltspunke und etwaige positive Ursachen fur solche Klagen in ganz anderen Erscheinungen zu suchen als gerade in dem erwachenden geistigen Tatigkeitsdrange der Frauen, der ihnen vielmehr ein ungleich festeres Auftreten und einen viel starkeren Wirklichkeitssinn verliehen hat. Das Feingold zarten weiblichen Gefuhllebens wurde allmahlich mit harteren Metallen versetzt, und aus dieser Legierung entstanden die modemen Ro._ manschriftstellerinnen, in deren Biichern von dem Fabulierroman alten Schlages so gut wie nichts mehr steckt. Es ist sicher nicht zufallig, daB diese neue Frauenliteratur der groBen frauenrechtleri- 84

schen Stromung, die von den verschiedensten Zufliissen Schwellung empfing, parallel lauft. Eine Befiuchtung und Beeinflussung muBte sich notwendig vollziehen, selbst dann, wenn einzelne die­ ser Emanzipationsbewegung ablehnend, ja feindlich gegeniibertraten. Ich will es jedem Buch an­ merken, ob es in den siebziger oder neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde. Nicht das ausklingende Sakulum brachte den groBen Wendepunkt im Frauenleben, an die Neujahrsstunde kehrte dieser sich nicht; in den achtziger und neunziger Jahren trat er ein. Als man 1900 schrieb, war die Bewegung schon zu gewissen festen Formen gelangt, die eine Rundschau gestatteten und Perspektiven begiinstigten. Die vielen neuen Gesichtspunkte, die sich fur die Wertung und Schilderung der Frauenliteratur ergaben, muBten ihren Niederschlag in der Literatur finden. Es kam ein Zug neuen, frischen Lebens.in die Romanwelt, der si eh unter anderem auch darin zu erkennen gab, daB der alte Vorwurf, Frauen konnten ·keine.mannlichen Charaktere zeich­ nen, allmahlich verstummte." (Mensch 1910: 32) Neben diesem Aufsatz finden si eh in dieser Zeitschrift no eh weitere Beitrage, u. a. zu folgenden Themen: - Charakterkopfe unter den deutschen Dichterinnen der Gegenwart (P.D .... I., S.III) - Die historische Entwicklung der Frauenbewegung in Deutschland (Dr. Elisabeth Altmann- Gottheimer, S. 2f) -Die ethische Seite der Frauenbewegung (Dr. Kathe Schirmacher, S. 3) - EinfluB der Frauenbewegung auf die gesamte Kultur (Bertha v. Suttner, S. 4) -Die Frau als Hausfrau und Helferin ihres Gatten (Liesbet Dill, S. 6) - Stellung und Beruf der Frau (Dr. Kathe Windscheid, S. 7) - Mutterschutz (Dr. Helene Stacker, S. 17). Meine bisherigen Untersuchungen am Band ,Dichtung und Prosa von Leipziger Frauen" (Dichtung und Prosa 1914) ergeben; dass die Einschatzungen von Ella Mensch auf·diese Texte so nicht zutref­ fen. Im Band sind Arbeiten ganz unterschiedlicher Autorinnen vereint -· differenziert sowohl nach Alter, Herkunft, literar-asthetischer Bildung sowie nach den poltischen Auffassungen. Die Haupt­ themen und -motive sind traditionell weiblich ausgerichtet und liegen vor allem in den Bereichen Lie­ be, Aufopferung, Entsagung und Verzicht. Nur zogerlich wird dieses den Frauen zugewiesene und von ihnen angenommene Konzept hinterfragt. Die Formen sind konventionell, es iiberwiegen die kleine Erzahlung, die Novelle, das Liebes- und Naturgedicht. Sehr deutlich ist, dass die meisten Au­ torinnen- im wahrsten Sinne des Wortes- in ein enges Korsett geschniirt sind. Moglichkeiten, dieses · abzulegen, haben sie offensichtlich aus vielen Griinden nicht gehabt, Schranken erweisen sich als un­ iiberwindbar. (Bohm 1914) Trotzdem weist der Band Ausnahmen auf. Die Aufbriiche sind vor allem in den Inhalten zu sehen. Der Wille wird hier deutlich, nicht weiter zu entsagen, sondern sich zu sich selbst und der eigenen Korperlichkeit zu bekennen, Fremdbestimmungen abzulehnen. (Wittrin 1914) Aufschlussreich ist es festzustellen, dass die hier aufgenommenen Texte wenig von einem Frauen­ rechtlerinnenkonzept oder gar einem Frauenrechtsbewusstsein ihrer Verfasserinnen kiinden. War 85

Aufschlussreich ist es festzustellen, dass die hier aufgenommenen Texte wenig von einem Frauen­ rechtlerinnenkonzept oder gar einem Frauenrechtsbewusstsein ihrer Verfasserinnen kiinden. War Louise Otto-Peters als Griinderin unermudlich sowohl journalistisch als auch literarisch tatig, urn ih­ ren Willen und ihre Auffassungen zu artikulieren, so wird von der nachfolgenden Generation die Frauenrechtsdiskussion nicht reflektiert. Vielmehr spiegeln diese Texte den Zeitgeschmack und das Zeitverstandnis breiter burgerlicher Frauenschichten wider, die scheinbar bedient werden mussten, urn als Autorin verlegt zu werden und .damit existieren zu konnen. Daraus resultiert, dass die Vor­ gangerinnen ohne direkte Nachfolgerinnen sind, gar von einer Generation der Erbinnen nicht ge­ sprochen werden kann. Die Autorinnen des Leipziger Schriftstellerinnen-Vereins bleiben rnit ihren Texten im Kleinen und Privaten verhaftet, Frauen- und GesellschaftsentWO.rfe, die viele Texte von Autorinnen in dieser Zeit bestimmten, haben hier keinen oder .. nur einen sehr. geringen Einzug gehal­ ten. In der bewussten Zuriicknahme und der Fok:ussierung auf das kleine Gliick und die Miitterlich­ keit dominieren traditionelle Frauenthemen. Dieser ersten Analyse werden weitere Untersuchungen unter kultur- und sozialgeschichtlichen Fra­ gestellungen folgen. Wichtig ist die F eststellung, dass einfache Abfolgen - in der Aufnahme von Ge­ danken und Forderungen sowie von Textstrategien - und darnit eine Linearitat nicht stattgefunden haben. V on einer Kontinuitat kann sornit nicht gesprochen werden. 1. Es ergibt sich die Notwendigkeit, die amEnde des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gegriindeten Schriftstellerinnen-Vereine zunachst in Leipzig und Wien sowohl in ihrem Wirken als auch in der Textproduktion vergleichend zu untersuchen, urn Kontinuitat und Differenz feststellen zu konnen. Sornit kann eine weitere Sphare weiblicher Traditionen begriindet werden, die bis heute zu den Forschungslucken gehort. Dabei gilt es, die Verlage der Autorinnen zu betrachten und das kulturgeschichtliche Urnfeld, den Geschlechterdiskurs sowie das Rezeptionsverhalten in bezug auf diese Vereine. 2. Obwohl gerade die ferninistische Literaturwissenschaft ab Ende der 60er Jahre eine erhebliche ar­ chaologische Kleinarbeit im Aufspiiren von Leben und Werk .bis dahin ·. unbekannter Autorinnen geleistet hat, ist bis heute nicht jede Lucke geschlossen. Im Interesse sowohl weiterer regionaler Untersuchungen als auch der Asthetikdiskussion ist ein solches Aufspuren von Vereinen wesent­ lich, urn die Differenz zwischen Anpassung und Aufbruch als Spannung weiblicher Textproduktion erktinden zu konnen. 3. Ich kann die von Manfred Leyh (1995) getroffene Festellung, dass sich der Leipziger Schriftstel­ lerinnen-Verein irn Jahr 1920 selbst aufgelost hat, durch rneine Nachforschungen bestatigen. FOr mich ist es daher folgerichtig, das Schaffen der Autorinnen aus dem Sammelband 1914 weiter zu verfolgen. Gegenwartig habe ich vor allem eine Polarisierung aufgedeckt. Wahrend Helene Wagner ( spater Lene V oigt) in den 20er J ahren den Weg zur Arbeiterbewegung gefunden hat und als Volksdichterin von der NS-Diktatur verboten wurde, ging Elisabeth Thielemann bereits Anfang der 20er Jahre den deutsch-nationalen Weg. 86

Literatur

Bohm, Marie: Ein Frauenlos. In: Dichtung und Prosa von Leipziger Frauen. Leipzig: Otto Nuschke, 1914, S. 1-10 Boetcher Joeres, Ruth-Ellen: Respectability and Deviance. Nineteenth-Century. German Women Writers and the Ambiguity of Representation. Chicago/London: The University of Chicago Press, 1998 Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Zur Psychologie der Frau. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1978 Brinker-Gabler, Gisela; Ludwig, Karola; WoJI'en, Angela (Hrsg.): Lexikon deulschsprachiger SchriflsLellerinnen 1800-1945. Mtinchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986 Darnen-Conversations-Lexikon, hrsg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von Carl HerloBsohn. Neu vor­ gestellt und mit einer Nachrede versehen von Peter Kaeding. Berlin: Union-Verlag, 1987 Dichtung und Prosa von Leipziger Frauen. Aus AnlaB seines 25jahrigen Bestehens herausgegeben vom Leipziger Schriftstellerinnen-Verein. Mit einem Geleitwort von Elisabeth Schrnidt. Leipzig: Otto Nuschke, 1914 Leyh, Manfred: Ehrendiplom fiir die Schriftstellerin. In: Louise Otto-Peters. Ihr literarisches und publizistisches Werk. Kalalog zur Ausslellung, hrsg. von Johatma Ludwig und RiLa Jorek. Leipzig: Universiliilsverlag, 1995, S.113f Mensch, Ella: Das Schaffen der Frau in der modemen Literatur. In: Illustrierte Zeitung. Frauen-Nurnrner v. 29.09.1910. Leipzig Schtitte, Wolfgang U.: Nebstbei ziiumte ich den Pegasus. In: Bodeit, Friderun (Hrsg.): lch muB mich ganz hingeben konnen. Frauen in Leipzig. Leipzig: Verlag fiir die Frau, 1-990, S. 191-203 Thielernann, Elisabeth: Die Erziehung zum nationalen SelbstbewuBtsein durch die Frau. In: Deutschvolkische Flug­ schrifl.en der Nalionalen Kanzlei. Leipzig: Leipziger Verlags- und Konunissionsbuchhandlung, 1920, S. 5-11 Wittrin, Gertrud: Im Palmengarten. In: Dichtung und Prosa von Leipziger Frauen. Leipzig: Otto Nuschke, 1914, S. 212-217 Woolf, Virginia: Ein Zirnmer fur sich allein. Berlin: Gerhardt 1978 87

Sozialpolitisch engagiert: Edith Mendelssohn Bartholdy

Rita Jorek (Markkleeberg)

Es bedeutet mi.ihsame Kleinarbeit, die vernachlassigte Geschichte der Frauen zu schreiben, zumal wir uns gegen die Auffassung wenden miissen, es sei doch alles gesagt und verzeichnet. Das, was in Bi.i­ chern steht und stets wiederholt wird, besitzt die Beweiskraft der Autoritaten - des AutoriHiren. In ihnen steht oft nicht, was Frauen betriffi und uns besonders interessiert. Edith Mendelssohn Bartholdy (1882- 1969) war zu ihrer Zeit eine der vielen Frauen, die tatkraftig im offentlichen Leben wirken wollten, die bewusst in die politische Arbeit einstiegen - und zwar auf den Bahnen von Louise Otto-Peters und des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (AdF). 1925 er­ innerte sie, die unterdessen Stadtverordnete in Leipzig war, aus Anlass des 60jahrigen Bestehens des Vereins an seine Mitbegriinderin. In der Neuen Leipziger Zeitung schreibt sie: ,Vor einigen Wochen ist im Rosentale am Kinderspielplatz der Gedenkstein aufgestellt worden, den deutsche Frauen im Jahre 1900 Louise Otto-Peters, 'der Fi.ihrerin auf neuen Bahnen in Dankbarkeit und Verehrung' er­ richtet batten." (NLZ vom 16.7.1925, Nr. 194) Mit dem Hinweis auf den bisherigen Standort - wo dann das Grassimuseum gebaut wurde und ,in unmittelbarer Nahe des Hauses, das die Frauen Leipzigs ihrer treuen Mitkampferin Auguste Schmidt und ihrem Andenken geweiht haben" - hob sie auch deren Wirken hervor. , Wenn im Herbst dieses Jahres", schreibt sie weiter, ,der Allgemeine Deutsche Frauenverein auf 60 Jahre seines Bestehens zuriickblicken wird, wird man bei der Feier, die in Meillen stattfinden soli, wiederum mit besonderer Dankbarkeit der beiden Leipziger Frauen gedenken konnen, deren weitem und vorausschauendem Blick die deutschen Frauen eine Organisation verdanken, die schon irn Jahre 1865, als des Vaterlan­ des Einheit nur ein Traum war, die Frauen des ganzen Deutschland zusammenzufassen suchte. Zum ersten Male wurden in einem Frauenverein nicht soziale, sondern kulturelle und wirtschaftliche Fra­ gen zur Grundlage und zum Zwecke der Vereinigung erhoben." (ebd.) Den Gedanken der deutschen Einheit stellte Edith Mendelssohn Bartholdy als einen ganz wesentli­ chen fur die Frauenbewegung voran, bedeutete doch die Uberwindung der Zersplitterung in kleine Einzelstaaten die Bi.indelung der Krafte im Kampf urn gleiches Recht fur alle einschlieBende Rechts­ staatlichkeit. Edith Mendelssohn Bartholdy, die sich wie andere Manner und Frauen judischer Ab­ stammung auch ausdriicklich als Deutsche betrachtete, mag einen speziellen Aspekt im Auge gehabt haben. Hatte doch Louise Otto-Peters im Mai 1848 ihren Aufsatz ,Zur Judenfrage. Ein Wort zur Versohnung"73 veroffentlicht, ein vehementes Wort zur Revolution, die fur sie politische, nationale und soziale Dimension besaB und damit ,die heilige Pflicht" hatte, ,alles Unrecht vergangener Jahr­ hunderte und Jahrtausende gut zu machen", Unrecht gegeni.iber der judischen Bevolkerung, die ver­ folgt und erniedrigt, von Bi.irgerrechten ausgeschlossen war - wie die Frauen.

73 in , Der Volksfreund- Sachsische Blatter fur alle Interessen des Volkes" vom 24. Mai 1848, Nr. 8, S. 59-61 88

Es ist bemerkenswert und weiterer, tieferer Untersuchungen wert, wie viele Frauen ji.idischer Ab­ stammung im offentlichen Leben, in Literatur, Ki.insten und Wissenschaft bis zu den schrecklichen Taten der Nationalsozialisten in Deutschland wirkten, und zwar (wie die Manner auch) als das, was unter deutschen Patrioten verstanden wurde. Dazu zahlte Louise Otto-Peters' Mitstreiterin Henriette Goldschmidt. Ihrer und Ottilie von Steybers gedachte Edith Mendelssohn Bartholdy in bezug auf die gemeinsamen und speziellen Anstrengungen darum, ,daB 'die Arena der Arbeit' auch fur Frauen geoffnet werde" und dass Madchen und Frauen gleiche Bildungschancen erhalten; denn gri.indliche Ausbildung betrachteten sie als eine ,Vorbedingung fur die Gleichberechtigung der Frau als Staats­ bi.irger". Edith Louise Ida ·Speyer heiratete nach dem Lehrerinnenexamen und kurzer Arbeit im Beruf einen Enkel von Felix Mendelssohn Bartholdy. Nach einer Weltreise .mit langeren Aufenthalten in Japan und den USA lief3 sich das junge Paar 1910 in Leipzig nieder, urn sich hier·sogleich in das kulturelle Leben einzumischen.74 Im folgenden beschranke ich mich auf·ein fiiihes umfassendes Engagement, das ein sozialpolitisches war. Es handelt sich urn die Gri.indung des Leipziger Krippenvereins am 3. Januar 1912, der endlich auch in Leipzig Sauglingskrippen einzurichten gedachte. In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig, sich zu vergegenwartigen, dass mit Inkrafttreten des Reichsvereins- und Versammlungsgesetzes am 15 . Mai 1908 der staatsbi.irgerliche Einsatz der Frauen in ganz Deutschland endlich legalisiert Vvurde. Damit hatten alle Reichsangehorigen das Recht, zu Zwecken, die dem Strafgesetz nicht zuwiderlie­ fen, Vereine zu bilden und sich zu versammeln. Marie Stritt schreibt in der ,Chronik der deutschen Frauenbewegung": , Die politische Organisation der Frauen hat, trotzdem sie erst seit Inkrafttreten des neuen einheitlichen Reichsvereinsgesetzes im Mai 1908 i.iberhaupt moglich wurde, in den beiden letzten Jahren einen entschiedenen Aufschwung genommen." (Jahrbuch 1912: 39f) Das spiegelte sich in der Gri.indung vieler neuer Vereine und in steigenden Mitgliederzahlen, aber auch in den Programmen wider. Zu den Neugri.indungen gehorte der Leipziger Krippenverein,- dessenZiel es war, - so schnell wie moglich Sauglingskrippen in Leipzig einzurichten; - Sauglingspflegerinnen auszubilden; - Hospitantinnen Qungen Frauen mit hoherer Tochterbildung bis zu 30 Jahren) die Gelegenheit zu geben, sich ebenfalls theoretisch und praktisch in der Sauglings- und Kleinkinderpflege zu bilden. Betont wurde, dass sie in den Frobelunterricht eingefuhrt werden. War das nicht nur eins der karitativen Programme, die seit langem in den Handen von Frauen lagen?

74 iiber ihre kulturpolitischen AktivWiten, dazu gehOrt die Mitarbeit am Frauenpavillon auf der Weltausstellung fiir Buchgewerbe und Graphik (BUGRA) in Leipzig 1914, die Mitbegriindung der Max-Reger-Gesellschaft 1916 sowie die Mitbegriindung des Kiinstlerinnenvereins GEDOK (sie war deren Vorsitzende und Ehrenvorsitzende in Leipzig und Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende der Reichs-GEDOK bis zu Beginn der Nazidiktatur) siehe: Jorek, Rita: Edith Mendelssohn Bartholdy (1882-1969)- Sozial- und Kulturpolitikerin. In: Leipziger Lerchen- Frauen erinnem. 2. Folge. Hrsg. v. der Louise-Otto-Peters- Gesellschaft. Beucha: Sax-Verlag, 2000, S. 32-39 89

In Leipzig gab es - nicht zuletzt durch das Wirken von Henriette Goldschrnidt - Kindergarten und Spielschulen, die aber Kinder erst ab 3, selten mit 2 Jahren aufnahrnen Es gab Waisenhauser und 24 Kinderbewahranstalten sowie das System der Zieheltern, zu denen Sauglinge gegeben wurden. Seit 10 Jahren existierte der Kinderschutzbund, der sich hier und in vielen anderen Stadten - iibrigens nach amerikanischem V orbild - ganz dezidiert urn verwahrloste und von den Eltern bedrohte Kind er kiJmmerte. Zur Einweihung der erstenLeipziger Krippe, ein knappes Vierteljahr nach. der Griindung des Leip­ ziger Krippenvereins am 10. Marz 1912, stellte der Berichterstatter im Leipziger Tageblatt fest: ,Es war erstaunlich und bedauerlich, da/3 Leipzig, das so viel aufdem Gebiet der stadtischen und der pri­ vaten Fiirsorge leistet, keine einzige Krippe besa/3 und damit weit hinter Stadte wie E>resden, das 13 Krippen hat, Chemnitz, Berlin, das se it 3 5 J ahren.Krippen . unterhalt; . Frankfurt; Miinchen, Kassel, Stra/3burg, Konigsberg, ja selbst hinter kleineren Stadten .zufiickfallt." .(Leipziger Tageblatt v. 11.3.1912, Nr 12srs Eine Analyse der Situation hatte ·ergeben, dass vor allem verheiratete arbeitende Frauen aus proleta­ rischen Kreisen Schwierigkeiten hatten, Sauglinge und Kleinkinder zu versorgen. Wahrend es fur un­ ehelich geborene Kinder finanzielle Unterstiitzung gab, was ebenfalls die Bezahlung von Zieheltern betraf, so mussten verheiratete·Eltem ganz.und gar· selbst fur:das Kind aufkommen. Wenn sich beide unbedingt zu arbeiten gezwungen sahen, lie/3en sie den Saugling allein zu Hause, his gro/3ere Kinder aus der Schule kamen, oder sie gaben das Kind in die ,Ziehe", wie es hie/3. Das kostete 3 his 4 Mark wochentlich, dazu taglich einen halben bis 2 Liter Milch. ,Dabei sind sie (die Mutter, R. J.)) nicht sicher, ob die Kinder·gut behandelt, ob sie satt werden, ob die gelieferte Milch wirklich ihnen zugute kommt." In der Krippe waren nur 25, spater 30 Pfennige pro Tag (1,50 bzw. 1,75 Mark pro Woche) zu zah­ len. Stillende entrichteten fur. den Tag 5 Pfennige weniger; versorgten sie.ein zweites Kind mit, hat­ ten sie den Platz frei- wobei das mit dem Stillenteilweise eine Wunschvorstellung blieb. Im I. Jah­ resbericht von 1912 wird geschildert: ,Eine Frau versuchte ·.es ·wahrend zweier Tage, blieb aber am dritten Tage fort, weil ihre Mittagspause in der Fabrik zu kurz war." 12 Stunden lang war die Krippe taglich geoffuet, von friih 7 his abends 7 Uhr. Die Babys wurden nach arztlicher Untersuchung bereits im Alter von 14 Tagen aufgenommen. Sie wurden jeden Mor­ gen gebadet, gewogen, gemessen und erhielten Krippenkleidung. Die Nahrung his zum ersten Friih­ stiick am nachsten Morgen gehorte zum Service. Das war ein sehr gutes Angebot, und der Andrang war so gro/3, dass die angemieteten Raume in der Crusiusstra/3e 15, Leipzig-Reudnitz, mit den 20 Betten nicht ausreichten. Im Bericht des Leipziger Tageblattes iiber die Eroffnung hei/3t es dann auch: ,Das Ideal ware ein Haus mit sonnigem Garten, mit geniigendem Raum fur die Schiilerinnen und geniigendem Raum fur

75 alles iiber den Krippenverein im Leipziger Stadtarchiv: Akien, den Leipziger Krippenverein betreffend, Kap 35, Nr. 1005 90

den Haushaltsbetrieb. Zu bedenken ist, daf3 selbst, wenn dieses Ideal einst verwirklicht sein sollte, die eine Krippe fur Leipzig soviel sein wird, wie ein Tropfen auf einen heif3en Stein. Eine grof3e Reihe von Krippen ist notwendig, wenn wirklich durchgreifend geholfen werden soli." Die Vorsitzende bat deshalb, das Interesse fur die Anstalt und den Verein weiter zu bewahren und neue Freunde zu wer­ ben, die helfen, viele Krippen iiber Leipzig zu verteilen. Zu den Ehrengasten zahlte Henriette Goldt­ sch.rnidt, und zu den Griindungsmitgliedern gehorte die Schriftstellerin Eisa Asenijeff. Im Vorstand waren neben Edith Mendelssohn Bartholdy 10 Frauen vertreten. Ludwig Carl Mendels­ sohn Bartholdy, ihr Mann, ein Bankdirek:tor, iibernahm die Schatzmeisterei bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst. Die spateren Krippenarzte und Stadtrat Dr. Paul Koehler unterstiitzten das Pro­ jek:t. · Ganz wichtig war es, die Offentlichkeit und den Rat der Stadt von der Notwendigkeit und Niitzlichkeit der Sauglings- und Kleinkinderkrippen zu iiberzeugen. Nachdem iiber lange Zeit die in­ dividuelle Betreuung der institutionellen vorgezogen·worden war, wurde nun darauf verwiesen, class hier die Kinder injeder Hinsicht besser versorgt werden: in bezug auf Hygiene, auf Krankheitsvor­ beugung, Ernahrung, individuelle Zuwendung. Stadtrat Dr. Koehler bekannte, ,friiher habe man ge­ gen die Einrichtung von Krippen Bedenken gehabt, weil man furchtete, daf3 man den Kindern keine individuelle Behandlung zuteil werden lassen konne und daf3 bei ausbrechenden Krankheiten Anstek­ kungen stattfinden·konnten. Man.. habe ·aber gelernt, die ·Gefahren zu vermeiden und dem Bediirfnis jedes einzelnen Kindes entgegenzukommen." Noch im selben Jahre konnte die zweite Krippe (3 waren es unterdessen insgesamt fur Leipzig, eine vom Deutschen Evangelischen Frauenbund) in Betrieb genommen werden. Edith Mendelssohn Bart­ holdy informiert als Vereinsvorsitzende am 10. September 1912 den Rat der Stadt Leipzig: ,Der Leipziger Krippen-Verein erlaubt si eh die ergebene Mitteilung zu mac hen, daf3 er am 1. October 1912 seine Zweite Leipziger Sauglingskrippe in Lindenau, Leutzscher Straf3e 74, eroffnen wird. Die Krippe wird fur funfzig Kind er im Alter his zu zwei Jahren eingerichtet sein und zwolf Sauglingspfle­ gerinnen Gelegenheit zur Ausbildung geben. :Die Leitung ·iibernimmt eine Schwester des Albert­ Zweig-Vereins, Marienstraf3e, unter der auch.eine Lehrschwester des 'genannten Verbandes in der Krippe arbeiten wird." Neben den grof3eren Zimmern gab es eine geraumige Veranda und einen schonen Garten. Hier war fur die Kinder, aber auch fur die Schwestern und Schiilerinnen mehr Platz. Der zweite wichtige Aspekt der ·Krippengriindungen war eben diese Berufsausbildung fur junge Frauen, die - da soziale Berufe gefragt waren - einen sicheren Arbeitsplatz garantierte. Die Krippen­ leitung, die fur gediegene theoretische und praktische Ausbildung sorgte, iibernahm auch die Ar­ beitsvermittlung. Es war also die Zeit gekommen, dass Pflegeberufe von Frauen nicht mehr nur aus reiner Nachstenliebe ausgeiibt wurden, sondern ihrer Existenzsicherung dienten, natiirlich auf niedri­ gem finanziellen Niveau. Dorothea Hirschfeld stellt in ihrem Aufsatz ,Die Frau in der caritativen und sozialen Arbeit" zu die­ ser Entwicklung fest: , Und erst als es sich darum handelte, diese Arbeit als offentlich-rechtliche Verpflichtung innerhalb des Staats- und Gemeindelebens zu erfullen, stellen sich ihr dieselben Wi- 91

derstande und Schwierigkeiten entgegen, die das Eindringen der Frau in das politische und zum gro­ Ben Teil auch in das Berufsleben kennzeichnen." (Jahrbuch 1912: 138) Adelheid von Benningsen schreibt ein Jahr spater: ,Die Bezeichnung ,sozialer Frauenberuf ist noch jungen Daturns, wenn auch die Gewohnung an dieselbe sich schnell vollzogen hat durch die stets zu­ nehmende soziale Betatigung der Frauen, durch die Entwicklung dieser Betatigung zurn Beruf. Tat­ sachlich war bis vor zehn Jahren von einern eigentlichen ,sozialen Frauenberuf noch kaum die Rede. Die Pragung des Wortes, wie es heute allgernein gebraucht wird, hat uns erst das 20. Jahrhundert gebracht." (Jahrbuch 1913: 131) Am 1. Marz 1914 konnte endlich mit Hilfe des Rates der Stadt, der eine Hypothek von 12.000 Mark gewahrte und 4.000 Mark fur die Einrichtung spendierte, das Haus Langestra/3e 25 vorn Albert­ Verein gekauft werden, urn die Krippe I von der.CrusiusstraBe umzusiedeln. Rs war hochste Zeit, der Hauswirt hatte gekiindigt, da si eh and ere Mieter wegen .des Larms ·beschwerten . Die neue ·Ein­ richtung hatte 40 Betten und 6 Platze fur ·Wohnschulerinnen: Daswarwichtig; denn oft konnten oder wollten Eltem, falls sie au/3erhalb der Stadt wohnten, die Miete fur teure Unterkunft ihrer Tochter nicht bezahlen. Ubrigens: Die Bemiihungen urn dieses Haus gingen vom Krippenverein, seiner Vorsitzenden und dern Vorstand aus, in dern Sophie Dufour Feronce als Schriftfuhrerin all die Jahre mitwirkte. Irn ,Worterbuch zur Geschichte der Sozialen Arbeit in Leipzig" (Sahle 1999: 60) wird irn Zusammen­ hang mit diesern Hauskaufnur auf einen Briefwechsel Albert Dufour Feronces mit der Stadtverwal­ tung venviesen, was zu falschen Schlussfolgerungen diesbeziiglich fuhren kann. Ich habe so viele Details vorgetragen, weil wir diese oft nicht kennen und zu vorschnellen Urteilen gelangen. Planung und ein gro/3er Teil der vorn Verein geleisteten Arbeit lag in den Handen von Edith Mendelssohn Bartholdy. Sie unterschrieb alle Briefe und verschiedene Berichte. Von ihrer Wohnung in der Elsterstra/3e 40, wo sie taglich auch Sprechstunden abhielt, lenkte und leitete sie die Geschicke des Krippenvereins. Die gedruckt vorliegenden J ahresberichte - jene aus. der Vorkriegszeit enthalten auch einige F otos (eine ganze Fotoserie wurde zur Intemationalen Baufachausstellung 1913 gezeigt und mit einern Di­ plorn ausgezeichnet) - erganzen das Bild. Beispielsweise belegen diese Berichte, class sich unter den Pfleglingen der Anteil der auBerehelich Geborenen standig und in der Kriegszeit sprunghaft erhohte. 1912 betrug das Verhaltnis von ehelichen zu auBerehelichen Kindem 54 : 14, 1916 (bis dahin liegen Berichte vor) 87 : 104. Ganz abgesehen davon, class in Kriegszeiten die Zahl der au/3erehelichen Ge­ burten stieg, rnusste nun die Krippenbetreuung und -erziehung auch fur diese Gruppe von Miittem vorbehaltlos errnoglicht werden. Aufschlussreich ist die Statistik der Berufe, die die Mutter ausiibten. So handelte es sich 1912 bei 68 Miittem urn 40 Facharbeiterinnen, rneistens aus dem Buchgewerbe. Die betreft(mde Krippe (Crusiusstra/3e 15) befand sich im Osten der Stadt, im Buchdruckerviertel. 92

In der Lindenauer Krippe waren von 51 Muttern 42 Fabrikarbeiterinnen, meist aus der Textilindu­ strie. (Die Zahl der Mutter bzw. der betreuten Kinder richtet sich nach dem Berichtszeitraum, der 1912 fiir Krippe 11 etwa nur ein Vierteljahr umfasste.) Die Zahl der als Fabrikarbeiterinnen Hitigen Mutter stieg zwar rein statistisch im Krieg nicht (Krippe I nur 29, in Krippe 11 32), doch neben den ublichen Dienstleistungsberufen hatten sich neue etabliert: Kontoristinnen, Bahnarbeiterinnen, eine

StraJ3enarbeiterin. Es ,~mrden auch Kinder kranker Mutter aufgenommen. In keiner Weise ist zu erkennen, dass das Krippenwesen dem Krieg sozusagen dienstbar gemacht wurde. Auch im 5. J ahresbericht von 1916 gibt es keine patriotischen Heldenposen. Knapp und sachlich wird auf die Schwierigkeiten in der Versorgung mit Lebensmitteln hingewiesen, auf ihre schlechtere QualiHit, auf den Mangel an Kohlen, Seife und Wasche. ,Nur mit groJ3en Mitteln und unter dauernder Wachsamkeit der leitenden Vorstandsmitglieder ist heute noch ein hygienisch ein­ wandfreier Betrieb der Krippen moglich. Der Bedarf allerdings erhohte .sich und,bezog sich auch auf die Nachtzeiten," heiJ3t es im Bericht. Das ist kein Wunder; denn allein in Leipzig wuchs der Anteil der Arbeiterinnen in 28 Fabriken und Betrieben von 1.876 in der Vorkriegszeit auf5.913 im Dezember 1916. Obwohl der Bedarf von Krippenplatzen sehr gro13 war, musste der Vorstand in seinem Bericht be­ klagen: ,Leider ist-das ·Interesse an der Krippenarbeit in den ·Kreisen unserer Gonner zuruckgegan­ gen zugunsten von Kriegsfiirsorgeeinrichtungen in Verkennung der Tatsache, daB die Hilfe, die den Sauglingen und Muttern zuteil wird, dem Staate neue Werte schaffen und erhalten hilft." Auf Eingaben von Edith Mendelssohn Bartholdy hin erhohte der Rat der Stadt den jahrlichen Zu­ schuss von 1.000 auf2.000 Mark fiir jede dieser Einrichtungen. Wie uns uberliefert ist - aber daruber wurde auJ3er Wurdigungen ihrer Arbeit in Zeitungsartikeln, his­ her noch nichts gefunden - hat diese Frau wahrend des Krieges viele Hilfsaktionen initiiert. Als Sach­ verstandige fiir Krippenwesen arbeitete sie in der Kriegsamtsstelle Leipzig und bei der Frauenar­ beitsstelle in Berlin. Sie .soll von da aus auch -die Einrichtung von Krippen in.anderen Stadten befor­ dert haben. Zu behaupten, dass sie den Krieg ·mit ·ihrer Arbeit' •begtinstigte, ware eine leichtfertige Unterstellung, zumal sie selbst sich in dem Artikel zum 60. Jahrestag des AdF sehr kritisch dazu ge­ auJ3ert hat. Bei aller Vaterlandsliebe empfanden vor allem politisch engagierte Frauen ,in verzweif­ lungsvoller Qual ihre Gebundenheit und ihre Ohnmacht dem Hai3 und dem Zwiespalt unter den Vel­ kern und dem Abwartsgleiten deutscher Volkswirtschaft gegenuber. Keine Moglichkeit, ihre Stimme dort zu erheben, wo ausschlaggebende Beschlusse gefaJ3t wurden -, keine Moglichkeit, ihre abwei­ chende Weltanschauung, die sich gegen das Morden im Weltkrieg auflehnte, zur Geltung zu bringen! Im Reichstage, in den Landesversammlungen der Bundesstaaten, in den Korperschaften der Gemein­ devenvaltungen wurden Beschlusse gefaJ3t, die fiir die vielen Millionen deutscher Frauen schicksals­ schwer und verhangnisvoll waren -, und nicht eine Frau wurde dazu gehort! Manner berieten uber Krieg und wieder Krieg, Manner berieten uber die Hilfe, die die Frauen diesem Kriege zu leisten hatten .. ." (NLZ vom 16.7.1925, Nr. 194) 93

Die Konsequenz aus der Erkenntnis eigener Hilflosigkeit war, sich fur das Stimmrecht, das allgemei­ ne aktive Wahlrecht der Frauen einzusetzen und sich selbst als Mitglied einer Partei wahlen zu lassen. Fur die Deutsche Demokratische Partei arbeitete sie von 1919 bis 1927 im Stadtparlament von Leipzig und in dessen Kultur- und Sozialausschiissen mit. Sie war, seitdem ihr Mann 1918 im Krieg gefallen war, auf sich allein gestellt, musste fur ihren Un­ terhalt sorgen. Deshalb richtete sie in Gohlis einen Laden fur Kunsthandwerk und Volkskunst ein, den sie bis zur ihrer Emigration nach England urn 1936/37 fuhrte. Wie viele Frauen, die sich so verdient gemacht haben, gehorte Edith Mendelssohn Bartholdy zu den Opfern der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Mit der Ermordung und Vertreibung so vieler Menschen, so vieler Frauen, ging eine Unmenge an Erfahrung, an Erinnerung und auch an Akten verloren- und die jungen Pflanzchen gerade gewonneneLErkenntnisse und.Erfahrungen mit ihnen. Auch die folgende Teilung Deutschland erschw:ert es; die Spuren wiederzufinden. Es dauerte lange, ehe wir ein wenig von dem wussten, was nach 1945 geschah. Aus einem Brief an Hilde Lion nach England, den Edith Mendelssohn Bartholdy am 16. Januar 1959 schrieb, erfuhr ich, dass sie da noch lebte und zwar in Koln. Es ist anzunehmen, dass sie nach ihrer Flucht aus Deutschland in der von . Hilde Lion in.der Nahe von London gegriindeten Schule fur alleinstehende Fliichtlingskinder mitar­ beitete. Spater erfuhr ich: Zuriickgekehrt, betreute sie im Westdeutschen Rundfunk 1958 eine Sendereihe iiber das Alter und gab die Essays verschiedener Personlichkeiten unter dem Titel ,Lebensabend" heraus. In einem ihrer eigenen Aufsatze in diesem Buch erinnerte sie sich an die Bemiihungen urn die Fiirsorge fur die Kinder am Anfang des J ahrhunderts und stellt erschiittert fest, wie si eh nach zwei Kriegen mit Veranderung des.Lebensbaums nun die Sorge urn die Alten in den Vordergrund drangt.

Literatur

Jahrbuch der Frauenbewegung 1912. Im Auftrage des Bundes deutscher Frauenvereine herausgegeben von Dr. Elisa­ beth Altmann-Gottheiner. Leipzig/Berlin: Teubner, 1912 Jahrbuch der Frauenbewegung 1913. Im Auftrage desBundes deutscher.Frauenvereine herausgegeben von Dr. Elisa­ beth Altmann-Gottheiner. Leipzig/Berlin: Teubner, 1912 Sahle, Rita (Hrsg.): W orterbuch zur Geschichte der sozialen Arbeit in Leipzig, Leipzig 1999 94

Der Gleichberechtigungsparagraph In beiden deutschen Verfassungen - Start in eine neue Frauenwelt? (Subjektive Reflexionen und Erfahrungen iiber objektive TatbesHinde I oder: iiber einen sozialen Prozess)

Prof Dr. Herta Kuhrig (Berlin)

Beginnen wir mit einer Frage: Warum steht das Fragezeichen im Thema meines Redebeitrages? Weil ich mir iiber die Antwort unschliissig war. Ich denke, dass man ein Thema dann als Frage formuliert, wenn wed er eine eindeutig positive noch eine eindeutig negative.Einschatzung ·gegeben werden kann, weder ein eindeutiges Ja noch ein eindeutiges Nein angebracht ist, auch wenn sehr unterschiedliche Sichtweisen denkbar sind. Und so verhalt es sich mit den Beziehungen zwischen den Gleichberechti­ gungsparagraphen und der Gleichberechtigung der Frau, der Gleichberechtigung von Frau und Mann, der formalen, der normativen und der realen. Es ware vereinfacht, allein von der Normsetzung im Grundgesetz eines Landes zu erwarten, dass von diesem Punkt an vollig widerstandslos etwas vollig Neues starten konnte, fur die Frauen eine neue Welt beginnt, sich bisher verschlossene Tore nun quasi von selbst einladend oflhen. Aber so war es rnitnichten - nicht wenige von uns haben diesen Prozess ja selbst bewusst erlebt und ihre Erfahrungen gemacht. Dennoch entschliel3e ich rnich, bei aller gebotenen Ambivalenz die Frage rnit ,Ja" zu be­ antworten, binde aber dieses Ja an gewisse Voraussetzungen und Bedingungen, die rnitgedacht und rnitbedacht sein wollen. Ohne Zweifel war die Aufnahme des Gleichberechtigungsparagraphen in die Verfassungen der bei­ den deutschen Staaten eine wichtige Entscheidung der beiden Parlamente, eine Zasur - eine Etappe in einem langen, langen Prozess des Streitens der Frauen urn ihre Rechte, urn gleiches Menschenrecht. Es war weder der Anfang noch das Ende des Kampfes, in dem historisch alle die Frauen einen her­ ausragenden Platz einnehmen, iiber die wir hi er und heute sprechen. V ermutlich ernte ich in unserem Kreis keinen Widerspruch, wenn ich sage, dass es ohne Louise Otto-Peters, ohne Henriette Gold­ schrnidt, ohne Auguste Schrnidt, ohne Clara Zetkin und - urn rnindestens einen Mann zu nennen - ohne August Bebel weder im Westen noch im Osten 1949 zu diesem Ergebnis gekommen ware. Mit zunehmender Lebenserfahrung erkennt man deutlicher als im Sturm und Drang der Jugend, dass die Welt nicht rnit der eigenen Person anfangt und fiiihere Generationen auch schon iiber Probleme nachgedacht, Kampfe gefuhrt haben, dass man also auf Schultern steht, man sich rnit schon Gedach­ tem auseinandersetzen muss, auf bestimmten Erkenntnissen ful3t, dass mann/frau ein Glied dieser Kette ist. Die Saenden und die Erntenden sind nicht immer dieselben! Dies ist eine der Vorausset- 95

zungen, die ich im Auge habe, wenn ich die Frage rnit Ja beantworte: Die Aufnahme des Gleichbe­ rechtigungsparagraphen in die Verfassungen war ein wichtiges Ereignis, sie war aber weder Anfang no eh Ende des Prozesses der Gleichberechtigung, war Ergebnis von Karnpfen und bot bessere V or­ aussetzungen fur weiteres F ortschreiten und Ringen urn Gleichberechtigung, da nunrnehr gestiitzt auf Recht und Verfassung. Sie war aber keine Garantie dafur, dass sich Erfolge im Selbstlauf ergeben, sondem Instrument und Moglichkeit, durch eigene Anstrengungen etwas zu erreichen. Da wurde die Aufforderung von Louise Otto-Peters an die Frauen ganz aktuell, die Pflichten als Staatsbiirgerin auch wahrzunehmen. Es ist , Start in eine neue Frauenwelt", wenn Frau weil3, dass Generationen von Frauen vor ihr schon urn dieses Recht gestritten haben und dass nichts gewonnen ist, wenn Frau nicht Gebrauch von den gewonnenen Rechten rnacht, wenn die neuen Moglichkeiten fur die Fortfuh­ rung des Prozesses nicht ausgeschopft werden. Eine zweite V oraussetzung sei genannt - ich nenne sie die historische Gerechtigkeit, d. h., bei diesern Riickblick ist zu bedenken: Was war zum darnaligen Zeitpunkt rnoglich und was nicht, was stiel3 auf Verstandnis in der Bevolkerung, was nicht. Ich verrnisse auf vielen Veranstaltungen diesen histori­ schen Blick: Da passiert es dann, dass junge Frauen - ausgestattet rnit den Erkenntnissen von nunrnehr einigen Jahrzehnten ferninistischer Frauenforschung- z. B. die Verfassung und einschlagige Gesetze aus dem Jahre 1949/50 aus der Sicht des Jahres 2000 scharf analysieren und gnadenlos verreil3en. Da wird dann nicht gefragt, wie war das damals, was konnten sie, was konnten sie nicht, welche Forderungen konnten sie stellen, urn nicht als Ruferinnen in der Wiiste dazustehen, deren Ruf ungehort verhallt. Sondem es wird gefragt, was haben die denn alles falsch gernacht, und sie werden womoglich ob ih­ rer Einfalt bernitleidet. So sollte man rnit den Ahninnen und Ahnen, so so lite man nicht rnit Geschich­ te urngehen. Hier sitzen heute Frauen aus den alten und aus den,neuen Bundeslandem zusarnmen - da sollten wir uns schon dessen erinnem, dass weite Teile der Geschichte des Ringens urn die Gleichberechtigung deckungsgleich sind, dass wir uns auf die gleichen Vertreterinnen der Frauenbewegung stiltzen. Wir haben dann uber 40 Jahre eine qualitativ sehr unterschiedliche Entwicklung genornmen, unser Kampf urn die Gleichberechtigung der Frau hatte unterschiedliche Bedingungen. Wirklich verstehen konnen wir uns nur dann, wenn wir versuchen, uns gegenseitig zu erzahlen, wie es war, was uns gepragt hat usw. Da hilft der Satz nicht weiter: Was soil das irnmer noch rnit ,Ossi" und ,Wessi", wir sind doch jetzt eins! Ja, aber wir haben 40 Jahre unterschiedlich gelebt und Unterschiedliches erlebt, wir hatten unterschiedliche Bedingungen. Es hat keinen Sinn, dies zu leugnen. Ich kann dich nur verstehen, wenn ich von dir erfahre, wie du gelebt hast, warum du was wie gesehen hast und heute siehst. Das ist mit dern Vorwurf Ossi - Wessi nicht abzutun. Historische Gerechtigkeit walten lassen, das kann 96

ohne Wertigkeiten und Bewertungen vor sich gehen; es ist nur einfach akzeptieren, dass es anders war. Mit solchen Bemiihungen urn gegenseitiges Verstehen kamen wir wohl der inneren Einheit bes­ ser naher als rnit leugnender Ignoranz. Es steht rnir nicht an, die Aufnahme des Gleichberechtigungsparagraphen in die Verfassungen der beiden deutschen Staaten, die 1949 entstanden, klein zu reden. Lassen Sie rnich an ein Erlebnis erin­ nern. Ich glaube, es war wahrend der Weltfrauenkonferenz der UNO 1980 in Kopenhagen. Dort lernte ich eine amerikanische Frauenforscherin kennen. Das war zu einem Zeitpunkt, als die ameri­ kanische Frauenbewegung urn ERA kampfte - Equal Rights Amandment. Es ging darum, dass die einzelnen Bundesstaaten der Aufnahme des Gleichberechtigungsgrundsatzes in die Verfassung der USA zustimmen sollten - dieses Ziel ist meines Wissens his heute nicht erreicht, aber es ist auch still darum geworden, sowohl urn die Forderung als auch urn die .amerikanische Frauenbewegung. Diese Kollegin sagte damals in ihrem Redebeitrag auf einem Forum: ,Ich bin das ·Ietzte ·Mal zu einer inter­ nationalen Tagung - ich werde erst wieder auBer Landes fahren, wenn wir den Gleichberechtigungs­ grundsatz in unserer Verfassung erkampft haben. Ich schame rnich, dass dieser Paragraph in unserer Verfassung fehlt, ich schame rnioh, aus einem hochentwickelten Land zu kommen, das seinen Biirge­ rinnen die Gleichberechtigung verwehrt." I eh habe diese Kollegin nie wieder ·getroffen!! Vielleicht vermogen Sie nachzuvollziehen, dass dieses Miterleben der subjektiven Betroffenheit dieser Ameri­ kanerin rnich his heute veranlasst, den Verfassungsparagraphen nicht gering zu achten.

Fur die Aufnahme in die Verfassung und die Formulierung des Gleichstellungsparagraphen im Jahre 1949 haben sicher in beiden deutschen Staaten die Vergangenheit und die Erfahrungen der deutschen Frauenbewegung eine Rolle gespielt. Vielleicht tragt das auch zum heutigen besseren Verstehen bei, wenn wir uns vergegenwartigen, dass die Personlichkeiten, auf die wir uns historisch stiitzen, ja die gleichen sind. Ganz allgemein und ohne die eigentlioh unabdingbare differenzierte Betrachtung kann man sicher sa­ gen, dass nach dem 2. Weltkrieg, nach der Niederlage des deutschen Faschismus, die Bedingungen fur die Aufnahme des Gleichberechtigungsgrundsatzes in das Grundgesetz sowie in die Verfassung der entstehenden Staaten giinstig war. Genannt sei die Tatsache, dass die Frauen ja in den zuriicklie­ genden Jahren des Krieges beweisen mussten, dass sie ,durchkommen", dass sie sich und ihre Farni­ lien durchbringen - ein sehr widerspriichlicher Prozess ubrigens, der heute manch eine ,fundamen­ talistische Ferninistin" dazu verfuhrt, in Nationalsozialismus und Krieg frauenemanzipatorische Spriinge zu konstatieren, eine einseitige, isolierte Betrachtungsweise, der ich in keiner Weise zu fol­ gen vermag. Millionen Manner waren gefallen - das spiegelte die Bevolkerungszusammensetzung wider: 6 Millionen mehr Frauen als Manner gab es in Deutschland 1946! Allein dieses Verhaltnis war ein iiberzeugendes Argument fur die Einsicht, dass ohne die Frauen an Wiederaufbau nicht zu denken 97 war. Insgesamt war es ein widerspriichlicher Prozess, der in der Fachliteratur sehr anschaulich do­ kumentiert ist- z. B. die Familienkonflikte, die sich abspielten, wenn die Manner aus der Gefangen­ schaft heim kamen und ihren angestammten Platz des Familienoberhauptes wieder einnehmen well­ ten, den derweil die Frau voll ausfiillte. Ende der 40er Jahre in der Statistik nachzuvollziehen: sowohl Scheidungs- als auch Geburtenspitzenwerte! Von den Arbeitsplatzen sollten die Frauen wieder ver­ drangt werden, u. a. mit dem Wiederbeleben der Tradition: endlich kann sich die Frau wieder auf die ihr zugedachte RoUe als Hausfrau und Mutter konzentrieren, den Arbeitsplatz den Mannern uberlas­ sen! Das neu entstehende Deutschland sollte und musste- auch nach den Beschlussen der Antihitlerkoali­ tion .., ein demokratisches Land werden; Gleichheit der Burger vor dem Gesetz ist dafiir eine der un­ abdingbaren Voraussetzungen. Verstandlich, dass sich nicht wenige der neugegriindeten Parteien und Bewegungen mit der Gleich­ berechtigung von Mann und Frau auseinander setzten, in ihren Programmen eine Position bezogen - ein Thema auch fur die V erfassungsdiskussion. · Offenbar liefen die Diskussionen schon damals in den .westlichen -Besatzungszonen etwas anders als in der sowjetischen Besatzungszone, offenbar hatten dort die konservativen Krafte, die wieder zum alten Frauenleitbild zuruckwollten, den starkeren Einfluss. In den letzten Jahren stiel3 ich haufig auf Artikel, in denen die besondere Leistung von Frau Dr. Elisabeth Selbert beim Zustandekommen und der Durchsetzung .des Gleichberechtigungsparagraphen hervorgehoben wird; ihr Einsatz wird auch als taktische Meisterleistung im mannerdominierten Parlament gewertet, ja, es wird sogar behauptet, dass ohne sie dieser Paragraph keine Chance gehabt hatte. Urn mich zu vergewissern, griff ich in Vorbereitung auf unsere heutige V eranstaltung mal wieder zu dem Buch von Renate Lepsius , Frauenpolitik als Beruf- Gesprache mit SPD..-Parlamentarierinnen" ( erschienen 1987 bei Hoffinann und Campe). Und ich erlebte eine ,Dberraschung": Die 14 weiblicheil Mitglieder, die in den 70er Jahren der SPD-Bundestagsfraktion angehorten, erzahlen ihrer Kollegin Lepsius aus ihrem Leben, von ihrer politischen Arbeit, von ihrem Kampf urn die Rechte der Frauen. Vielleicht ist es ange­ bracht, ihre N amen hi er zu nennen, da unsere Veranstaltung nicht zuletzt auch dem Erinnern und Gedenken an jene gilt, die vor oder mit uns , dachten" und ,vollbrachten": Marta Schanzenbach, Kate Strobe!, , Elfriede Eilers, Helga Timm, Katharina Focke, Marie Schlei, Antje Huber, Hildegard Schirnschock, Waltraut Steinhauer, Renate Lepsius, Anke Fuchs, Anke Martiny, Herta Daubler-Gmelin. Parlamentarierinnen, die faktisch 3 unterschiedliche Frauengenerationen re­ prasentieren, unterhalten sich uber ihre politische Pragung, uber ihre politische Arbeit, tauschen Er­ fahrungen uber die Moglichkeiten und Grenzen der parlamentarischen Arbeit aus, verweisen auf Er­ folge und Niederlagen, man hat den Eindruck, nichts wird vergessen - und der Name Elisabeth Sel- 98 bert taucht nicht ein einziges Mal auf, weder in den Gesprachen noch im Personenregister. Wie soll ich mir das erklaren? Eine Variante ware: Die Leistungen van Frau Selbert waren noch nicht aufge­ klart; die zweite Variante tangiert meine obigen Uberlegungen zur historischen Gerechtigkeit, betriffi das Bewusstsein urn die Schultem, auf denen wir stehen: Mangelte es all diesen verdienten Parlamen­ tarierinnen an historischer Sicht? Es steht mir nicht zu, zu rechten, aber wundern darf ich mich. In einer Broschiire, die vom Bundesministerium fur Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit anlasslich des 40. Jahrestages des Grundgesetzes (1989) herausgegeben wurde, heiBt es: ,Dieser entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur Verwirklichung der Gleichberechtigung ist den 'Miittem des Grundge­ setzes' zu verdanken. Jeder ketmt die 'Vater des Grundgesetzes' - insgesamt 61. Aber im Parlamen­ tarischen Rat saBen auch 4 Frauen, narnlich Dr. Elisabeth Selbert (SPD), Dr. (CDU), Heiene Wessel (Zentrum) und Friederike Nadig (SPD). Sie sind die 'Mutter des Grundgesetzes'. Elisabeth Selbert und Friederike Nadig stellten den Antrag, die Bestimmung 'Manner und Frauen sind gleichberechtigt' in das Grundgesetz aufzunehrnen ... (Es folgt die Begriindung; H. K.) Die Frauen des Parlamentarischen Rats, offentlich unterstiitzt van Frauenverbanden, Gewerkschafte­ rinnen, Joumalistinnen, weiblichen Abgeordneten aus Landern und Kommunen sowie vielen einzel­ nen Frauen, machten sich gemeinsam stark fur diesen Antrag. Nach langen Diskussionen wurde der Antrag doch noch einstimmig, also auch mit den Stimmen der Manner, angenommen." - Also kein

Geschenk an die Frauen, sondem Ergebnis von Kampf, wieder ein Anlass mehr, die eingangs gestell~ te Frage doch zu bejahen. Soweit also zur Aufnahrne·.des Gleichberechtigungsparagraphen in das Grundgesetz im Westen.

Nun zum Osten, zur Verfassung der DDR. Ich bin his heute iiberzeugt, dass hier doch schon unter­ schiedliche Bedingungen zum Tragen gekommen sind. In den Vorstellungen und Uberzeugungen de­ rer, die damals verantwortlich -an politischen ·Entscheidungen mitgewirkt oder sie wesentlich beein­ flusst ~ haben, war das Priniip der Gleichberechtigung der Geschlechter als Prinzip der Weltanschau~ ung und der Traditionen des Kampfes der marxistisch orientierten Arbeiterbewegung weitgehend ak­ zeptiert. Man berief si eh auf Engels, auf Bebel und Zetkin. Die Aufnahrne des Gleichberechtigungs­ paragraphen in die Verfassung der angestrebten ,antifaschistisch-demokratischen Ordnung" war in diesem Sinne eine Selbstverstandlichkeit, was Diskussionen und Auseinandersetzungen an der Basis nicht ausschloss. Sicher war auch der Einfluss der SMAD (Sowjetische Militaradministration in Deutschland) in ihrer Besatzungszone hinsichtlich der Gleichberechtigung der Frau forderlich. ,Manner und Frauen sind gleichberechtigt" lautet der Artikel 3 (2) des Grundgesetzes fur die BRD vom 23. Mai 1949- , Mann und Frau sind gleichberechtigt" der Artikel 7 der Verfassung der DDR von 1949, aber dieser Artikel belasst es nicht dabei, es heiBt weiter; , Alle Gesetze und Bestimmun­ gen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben." 99

Das ist eine Leistung, die den Miittern und Vatern dieser Verfassung sehr hoch angerechnet werden kann und muss; m. E. war es auch ein Beweis dafiir, dass man es wirklich ernst meinte mit der Gleichberechtigung. Die sojortige AujJerkrajtsetzung van Rechtsnormen war der entscheidende qualitative Unterschied zur BRD und der Grundstein fiir den nach der Vereinigung des ojteren jestgestellten , Gleichberechtigungsvorsprung der Ostfrauen ". In der BRD blieben Gesetze und Rechtsnormen, die im absoluten Widerspruch zum Gleichstellungs­ grundsatz standen, noch jahrzehntelang geltendes Recht, wurden nur Schritt fiir Schritt beseitigt, und das im harten Kampf der Frauenbewegung, der Gewerkschaften und einiger Parteien. So wurde das ,Letztentscheidungsrecht" des Ehemanns in allen Eheangelegenheiten erst 1958 aufgehoben, ebenso wie das Recht des Ehemanns, das Dienstverhaltnis seiner Frau fristlos zu kiindigen. Eine an der Gleichberechtigung orientierte Reform des Ehe- und Familienrechts erfolgte erst 1977, das ,Gesetz iiber die Gleichbehandlung von Mannem und Frauen am Arbeitsplatz" mit dem Recht auf gleiches Entgelt usw. wurde erst 1980 angenommen. Insofem ist es fiir die Alt-BRD mit dem Grundgesetz der ,Start in die neue Frauenwelt" vom Gesetzgeber und erst recht in der Realitat doch recht zoger­ lich und zeitlich verzogert, weil in der Gesetzgebung die alten Zopfe erst verspatet und Stiickchen fiir Stiickchen abgeschnitten wurden. Ich habe in dieser Zeit die Debatten in der BRD verfolgt und war haufig sehr erstaunt iiber die Kraft und Macht des Widerstandes gegen die Gleichberechtigung. Die sofortige Aul3erkraftsetzung der dem Gleichberechtigungsgrundsatz widersprechenden Gesetze in der DDR, der Auftrag an den Gesetzgeber, neue Gesetze zu schaffen - das war also wirklich ein qualitativer Unterschied zur BRD. Erwahnt werden muss an dieser Stelle auch, dass einige der Gesetze und Rechtsvorschriften, die die Frauen besonders diskriminierten, im Osten bereits durch Befehle der SMAD aul3er Kraft gesetzt worden waren und neue Vorschriften galten: So war die niedrigere Entlohnung der Frauen durch den Befehl 253 der SMAD vom 17.8.1946 abgeschaffi und die Forderung ,gleicher Lohn for gleiche Arbeit" zum geltenden Prinzip der Entlohnung gemacht - eine uralte Forderung der Arbeiterbewe­ gung und der Frauenbewegung hatte damit die Chance ihrer Realisierung gefunden. Im gleichen Be­ feW wird auch bestimmt, dass die Liste der Arbeitsplatze, die fiir Frauen verboten sind, zu iiberprii­ fen sei, und nur die Arbeiten weiterhin verboten bleiben, die fiir die Gesundheit der Frau schadlich sind; Frauen sollten fiir neue Beschaftigungsfelder gewonnen werden. Also wurde bereits 1946 ein wichtiger Ansto13 gegeben, die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarkts aufzubrechen - eine Aufgabe, die noch nach Jahrzehnten nicht vollig gelost ist. Aber immerhin wurde ein wichtiger Prozess schon damals eingeleitet. 100

Nach der Annahme der Verfassung und des§ 3 ging es also urn die Anpassung der Gesetze bzw. urn die Schaffung neuer Gesetze. Der Grundsatz musste mit Leben erfullt werden. Die Parteien, die in der Volk:skammer vertreten waren, und vor allem der DFD (Demokratischer Frauenbund Deutsch­ lands) forderten die Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzes und beteiligten si eh aktiv an dessen Ausarbeitung. Dieses Gesetz ist gerade 50 Jahre alt geworden! Aber welche Chance hat ein Gesetz­ das in einem Staat beschlossen wurde, den es nicht mehr gibt - anlasslich des 50. Jahrestages seiner Beschlussfassung gewiirdigt zu werden? Es ist problematisch und fragwiirdig, Liebeserklarungen uber Paragraphen und Gesetze abzugeben; aber ich bekenne auch heute noch ganz ehrlich, dass mich dieses Gesetz immer fasziniert hat- und mit den Jahren meiner Tatigkeit in der Frauenforschung eher mehr als weniger, gerade weil mir die zunehmende Einsicht in die Kompliziertheit und Komplexitat der Losung der Geschlechterfrage gezeigt hat, welches Wissen, wieviel Mut und wieviel Weitsicht die Mutter und Vater dieses Gesetzes vor 50 Jahren unter Beweis gestellt haben. Es ist wieder sehr subjektiv- aber ich denke, wenn sich die Politik im Osten (nattirlich in einem sehr weit gefassten Sin­ ne) im Geiste dieses Gesetzes fortgesetzt hatte, hatte die Geschichte auch einen anderen Verlauf nehmen konnen ... Das , Gesetz iiber den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" wurde von der Volks­ kammer der DDR am 27.9.1950 angenommen. Nattirlich konnen wir unverztiglich und schon uber seinen Titel mit der feministischen Kritik einsetzen: Wir wollen die Gleichberechtigung von Frau und Mann durchsetzen und beginnen mit dem Mutterschutz! Ganz traditionell? Ich gestehe: Gestern, als uber die Bestrebungen und die Bildungsideale von Henriette Goldschmidt gesprochen wurde, hatte ich erst Probleme - es ging mir zu sehr urn die Ausbildung der weiblichen Eigenschaften, urn die qualifizierte Mutterschaft usw. Zum Gluck besann ich mich schnell der historischen Gerechtigkeit: Henriette Goldschmidt konnte vor 150 Jahren nicht fragen, was die klugen Urururenkelinnen 2000 dazu sagen werden. Sie hatte ein Ziel und wollte es unter den.damaligen·Bedingungen verwirklichen, musste da anknupfen, was, wie gedacht und gelebt wurde; sie konnte nicht sagen, Frau lass alles hinter dir, Mann und Kind er, und verwirkliche dich selbst. .. Sie wurde nur verstanden, wenn sie den Frauen sagte, dass sie durch Bildung auch bessere Mutter wiirden. Da drangen sich Vergleiche auf Die Formulierung des Gesetzes uber den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau ent­ sprach dem Zeitgeist von 1950, schuf damals eher einen Zugang zum Anliegen, fand eher die Zu­ stimmung der Bevolkerung. Die einzelnen Kapitel des Gesetzes sind der Beleg fur die oben behauptete ,Komplexitat", auch fur die Tatsache, dass es sich keineswegs auf die Mutterrolle beschrankte, sondern auf die Veranderung der gesellschaftlichen Stellung der Frau in allen Lebensbereichen zielte: I Staatliche Hilfe fur Mutter und Kinder 101

II Ehe und Farnilie Ill Die Frau in der Produktion und der Schutz ihrer Arbeit IV Teilnahrne der Frau am staatlichen und gesellschaftlichen Leben V Schlussbestimmungen Dass in der Zeit, der im Moment unser Interesse gilt, also vor 50 Jahren, der Mann noch viel zu we­ nig angesprochen wird, durfte uns auch nicht unversHindlich sein. Aber vergessen war er auch nicht - lassen Sie rnich einen Vorgriff auf die Schlussbestimmungen im § 30 machen: ,Die Verletzung des Verfassungsprinzips der Gleichberechtigung der Frauen, die iri einer absichtlichen Einschrankung oder Schrnalerung der Rechte, die der Frau im vorliegenden Gesetz gewahrleistet werden, zum Aus­ druck kommt, wird rnit Gefangnis bestraft, soweit nicht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen eine schwere Strafe verwirkt ist." Ich habe zu keiner Zeit von einer Verurteilung nach diesem Paragraphen Kenntnis erlangt - aber im­ merhin, dass man das ins Auge gefasst hat, sollte wohl signalisieren, dass es emst gemeint war rnit der Gleichberechtigung. Ich erinnere rnich an die Festveranstaltung des Ministeriums fur Gesundheitswesen der DDR anlass­ lich des 20. Jahrestages der Annahrne dieses Gesetzes. Festredner war Prof. Helmut Kraatz (geb. 1902); den ,Ostfrauen" ist dieser Name ganz sicher vertraut: er war der fuhrende Gynakologe der DDR, anerkannte Kapazitat auf diesem Gebiet, und sicher verdanken viele Frauen ihr Leben, ihre Gesundheit, die Gesundheit ihrer Kinder diesem Fachrnann. Er hat ubfigens eine sehr aufschlussrei­ che und auch heute lesenswerte Biographie geschrieben - aufschlussreich vielleicht nicht zuletzt fur ein bisschen mehr Verstandnis fur die untergegangene DDR. Was hat eine Kapazitat aus gut burger­ lichem Hause - weit davon entfemt, eine ,rote Socke" zu sein - veranlasst, seine Fahigkeiten den Menschen in der DDR zur Verfiigung zu stellen, nicht ,nach druben" zu gehen? Wie sah er sein Le­ ben in der DDR, als no eh keiner daran dachte, dass einst von 'ihr als der ,ehemaligen'' die Rede sein wiirde? Prof. Kraatz unterlegte seinen Festvortrag rnit Bildern!Dias, die ich heute noch vor rnir sehe. Ein Teil der Bilder dokumentierte Entbindungen in den 20er Jahren, als er als junger Assistenzarzt an der Charite Gebarenden in engen, armlichen Wohnungen der Arbeiterviertel beistand; Not und Diirftig­ keit waren sichtbar, aber menschliche, arztliche Zuwendung war spiirbar. Dem stellte er aktuelle Aufnahrnen gegeniiber - Entbindungen in der Klinik, die Frau angeschlossen an Messinstrumente, das medizinische Personal voller Konzentration gebannt auf die Messdaten blickend - die Kreif3ende sich allein iiberlassen, solange die ,Werte stimmen". Angesichts der Technik-Euphorie, der die DDR an­ heimgefallen war, waren das eine harte Kritik und ein uniibersehbares Warnzeichen vor drohenden F ehlentwicklungen und ein Aufruf, neue und alte Methoden im Interesse der Gesundheit des Men- 102

schen in ein angernessenes Verhaltnis zu bringen. Er rnachte iiberzeugend darauf aufrnerksam, class die neuen technischen Moglichkeiten immer einhergehen mit neuen ethischen Herausforderungen, die immer wieder neu zu losen sind und deren Losung nicht konfliktfrei zu haben ist- wie die gegenwar­ tige Diskussionen urn Stammzellenforschung, urn die Genetik irn Allgerneinen wieder hautnah rniter­ leben lasst. Das hat darnals wirkliche Betroffenheit ausgelost und war wohl eine vorn Veranstalter so nicht erwartete Wiirdigung des Gesetzes! Gedacht war im Gesetz auch an die Aujbrechung der Segmentierung des Arbeitsmarktes. IM § 19 hiel3 es: ,Die Arbeit der Frauen in der Produktion soll sich nicht auf die traditionellen Frauenberufe beschrii.nken, sondem auf alle Produktionszweige erstrecken." Schnelle Erfolge waren dern nicht be­ schieden, aber als Aufgabe, die zu verschiedenen Zeiten rnit unterschiedlicher Intensitii.t verfolgt wurde, war es friihzeitig erkannt. Mal3nahmen der Qualifizierung wurden ·ebenso gefordert wie die Einbeziehung der Frauen in die Leitungstii.tigkeit. Lassen Sie mich an dieser Stelle die Frage aufwerfen, inwieweit die ,Periodisierung" vorgenommen in verschiedenen Arbeiten, die sich nach 1990 rnit der Geschichte der Frauenpolitik der DDR befas­ sen, berechtigt ist. Da werden in der Abfolge etwa.folgende Phasen genannt: 1. Phase: Einbeziehung in die Berufstii.tigkeit 2. Phase: Qualifizierung 3. Phase: Leitungsfunktionen Mir scheint das eine sehr forrnale, undialektische Betrachtung zu sein. Das hier besprochene Gesetz und die Arbeit an seiner Verwirklichung belegt vielmehr, dass es sich urn gleichzeitig und in Ver­ kniipfung rniteinander ablaufende Prozesse handelt.

Ein weiterer Beleg fur den Mut, rnit der Diskriminierung der Frau zu brechen und ihre Menschen­ wiirde zu achten, ist z. B. der § 17 beziiglich der unverheirateten Miitter: (1) Die nichteheliche Geburt ist kein Makel. Der Mutter. eines nichtehelichen Kindes stehen die vol­ len elterlichen Rechte zu, die nicht durch Einsetzung eines V orrnundes fur das Kind geschmalert werden diirfen. Zur Regelung der Anspriiche gegen den Vater sollen die unteren Verwaltungsbe­ horden nur noch als Beistand der Mutter tii.tig werden. (2) Der Unterhalt, den die Mutter fur das nichteheliche Kind zu beanspruchen hat, soll sich nach der

wirtschaftlich~n Lage beider Eltem richten. Es verdient wirklich hervorgehoben zu werden: Schon 1950 wird die rechtliche Diskrirninierung der unverheirateten Mutter in der DDR beseitigt. Wie war das in der alten BRD? Bis in die 70er Jahre wurde der unverheirateten Mutter das alleinige Erziehungsrecht verwehrt, ihr faktisch die Fii.higkeit abgesprochen, allein fur ihr Kind entscheiden zu konnen. Urn mir die Absurditii.t und Oberlebtheit dieser Regelung klar zu rnachen, habe ich rnir, wenn ich die Diskussionen in der BRD verfolgte, irn- 103 mer vorgestellt: Wenn eine meiner westlichen Kolleginnen Frauenforscherinnen unverheiratet Mutter wird, bekornmt sie einen Vormund fur ihr Kind ... Als ein weiteres Beispiel fur die weite Gesamtsicht des Gesetzgebers kann der § 26 (2) gelten- hin­ sichtlich des Ziels ,ji'rauen in verantu,ortliche Funktionen ": ,Die Zahl der weiblichen Burgermeister, Stadt-, Land- und Kreisrate ist in das richtige Verhaltnis zur tatsachlichen gesellschaftlichen Kraft der Frau in der DDR zu bringen. Dazu sind planrna13ige Lehrgange zur Herausbildung weiblicher Verwaltungsangestellten bei der Verwaltungsakadernie zu organisieren." (1989 war ubrigens jeder vierte Burgermeister in der DDR eine Burgermeisterin, dies mochte ich noch vermerken!) Gedacht wurde auch daran, dass sich die soziale Stellung der Frau nur verandem wird, wenn sich Denken und Einstellungen andem, die traditionell gepragten Leitbilder in Frage gestellt werden. Ho­ ren wir dazu den§ 28 (nattirlich ganz in der Diktionjener Zeit!): ,Das Amt fur Information und Do­ kumentation der Deutschen Demokratischen Republik hat 1. die Herausgabe von Literatur und die Herstellung von Filmen zu veranlassen, die die schopferische Arbeit, die staatliche und gesellschaftliche Tatigkeit der Frauen in der DDR, die Teilnahme der Frauen an der Friedensbewegung und der Bewegung der Nationalen Front des demokratischen Deutschland in der DDR und in Westdeutschland widerspiegeln, 2. die Herausgabe von Literatur uber die Lage der Frau in anderen Lander, insbesondere in der Uni­ on der Sozialistischen Sowjetrepubliken, und uber die intemationale demokratische Frauenbewe­ gung zu orgams1eren, 3. regelmal3ige spezielle Rundfunksendungen fur Frauen sicherzustellen, in denen die Bedurfnisse und Wunsche der Frauen besonders zu berucksichtigen sind." An der Stelle ,spezielle Rundfunksendungen" (Femsehen gab es damals noch nicht, aber das gilt ja analog) drangt sich rnir eine Erinnerung auf, die ich Ihnen angesichts des aktuellen Bezuges nicht vorenthalten will. Seit der Weltfrauenkonferenz der UNO in Peking 1990 ist es ublich geworden, vom ,Mainstream" bzw. , Gender Mainstreaming" zu sprechen und dann unter dies~m Schlagwort schon mal ein Frauenprojekt fur uberflussig zu erachten! Mit der Taktik ,Mainstream" wird betont bzw. angestrebt: Das Geschlechterproblem ist in jeder Fragestellung enthalten, jedes Forschungsthe­ ma, jede· Gesetzesvorlage usw. wird daraufhin analysiert, welche Auswirkungen auf die Geschlech­ terproblematik zu erwarten sind. Die Geschlechterfrage ist also ,uberall drin", wird uberall ,rnitgedacht", die Konsequenzen werden ausgewiesen. Das hort sich gut an- aber die Folge? Spezifi­ sches ist demnach nicht mehr notig!? Auf spezifische Frauenforderung kann demnach verzichtet wer­ den? Das Vertrauen und Hoffen auf den ,Mainstream" allein kann sich kontraproduktiv auswirken, denn es setzt eine konsequent auf die soziale Gleichheit zwischen den Geschlechtem orientierte Ein­ stellung und entsprechendes Verhalten als die uberall und von jedermann!frau akzeptierte Norm vor- 104

aus. Bei allem Optimismus iiber Erreichtes - das ist wohl doch eher eine schone Utopie! Zu meiner und unserer Erinnerung: Beim DDR-Fernsehen gab es eine Frauenredaktion, die zwei Aufgaben hatte: einmal eigenstandige Sendungen im oben beschriebenen Sinne zu gestalten, zum anderen aber daraufEinfluss zu nehmen, dass die Thematik Gleichberechtigung der Geschlechter auch in den Sen­ dungen der anderen Redaktionen entsprechende Aufmerksamkeit findet. Diese Arbeitsweise hat sich bewahrt, ja so bewahrt, dass nach einigen Jahren (wohl Ende der 70er Jahre) eingeschatzt wurde, dass das Thema in allen Sendungen so gut beachtet wird, dass auf die spezifische Frauenredaktion verzichtet werden kann. Das hat sich negativ ausgewirkt- ohne hier auf eine wissenschaftliche Ana­ lyse zuriickgreifen zu konnen: Weder gab es spezifische Sendungen, noch wurden die anderen Re­ daktionen den Erwartungen gerecht. Die jetzige ,Mainstream"-Diskussion erinnert mich in fataler Weise daran. Das Thema ist in der Tat so allgemein, dass es iiberall hingehort, ja, aber es muss auch jemand da sein, der/die sich dafur verantwortlich fuhlt, dass es nicht vergessen wird! Erforderlich ist beides, das eine tun, das andere nicht lassen, das Thema einbeziehen und auf Spezifi­ sches nicht verzichten! Erfordetlich ist ein ,Doppelstrategie", wie sie in den Dokumenten der UNESCO schon in den 80er Jahren gefordert und gefordert wurde: das eine tun (einbeziehen), das andere nicht lassen (Spezifisches); sonst besteht die Gefahr, dass unter dem Deckmantel Mainstream erreichte Positionen aufgegeben werden. Der Mainstream ist in der patriarchal gepragten Welt doch eher patriarchal als am Ideal der sozialen Gleichheit der Geschlechter orientiert! Und mit dem Angriff auf soziale Sicherheiten, mit der Globalisierung, mit ausbleibenden Aktionen der Frauenbewegung, wird der Mainstream immer noch partriarchaler, steht zu befurchten. ,Wie gedacht- so vollbracht?" steht als Frage und Motto iiber unserer Tagung. Wenn ich meine Re­ flexionen zusammenfasse: das Gedachte vollbracht, ja oder nein? So einfach ist die Antwort nicht zu haben. Der Anspruch auf Gerechtigkeit bei der Beurteilung unseres eigenen gelebten Lebens macht viel differenziertere Antworten notig. Eine Menge wurde vollbracht, vieles· ist gescheitert. Warum gescheitert? Immerhin aber war kurz nach der Vereinigung doch des ofteren von einem ,Gleichstellungsvor­ sprung der Ostfrauen" die Rede. Wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen in Ost und West, wir hatten sehr unterschiedliche Bedingungen fur unser frauenpolitisches Wirken. Lasst uns aus diesen Unterschieden Gewinn ziehen in unserem gemeinsamen Wirken fur die Umsetzung der Ideate der Frauenbewegung, der ,alten" und der ,modernen" , lassen wir der Resignation keine Chance, denn da ist noch vieles zu vollbringen. Die Zeit, den Griffel aus der Hand zu legen, ist noch nicht gekommen. In diesem Sinne wiinsche ich sowohl der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft als auch den Gasten vom Staatsbiirgerinnenverband Freude und Erfolg. 105

,Dokumente des Ungliicks und der Vernunft": Die erste qualitative Untersuchung zu Abtreibungsmotiven von Frauen 1966 in der BRD - Eine Hommage an Helge Pross

Ursula Franziska Scheid-Schroder (Hamburg)

,Die gegenwiirtige Gesetzgebung ist absurd. Der § 218 ist von Mannern aufgestellt. Wie aber kann ein Mann iiber einen Zustand urteilen, in den er als Mann niemals kommen kann. Das ist Anmafiung." (Pross 1971: 53)

Vorbemerkung: Als ich gefragt wurde, ob ich einen Vortrag zur Schwangerschaftsunterbrechung in der ehemaligen BRD halten konnte, war ich i.iberhaupt nicht begeistert. Bisher hatte ich mich urn die­ ses Thema erfolgreich gedri.ickt, weil es ode und gleichzeitig schrecklich ist, dass Frauen sich nach 150 Jahren immer noch mit dem Problem des§ 218 befassen miissen. Ich selbst habe fur mich mit Gliick, Selbstdisziplin und Pille eine Schwangerschaftsunterbrechung in meinen Leben vermeiden konnen. Also, was sollte ich dazu Neues sagen? Auf der Suche nach Litera­ tur in meinem Biicherschrank fiel mir die Untersuchung von Helge Pross zur Abtreibung in die Ran­ de. ·Und.damit hatte ich gefunden, wozu ich etwas Neues schreiben konnte! Da zum einen die Untersuchung die erste zur Schwangerschaftsunterbrechung in der ehemaligen BRD war und zum anderen Helge Pross zu den ersten Frauenforscherinnen gehorte, erscheint es mir wichtig, beides in der Geschichte der Frauenforschung zu verankern, was bei der von mir rezipierten Literatur fehlte. Ich werde zuerst dariiber berichten, wer Helge Pross war und welche Bedeutung sie fur mich hatte. Ihre Untersuchung teile ich in drei Bereiche: Motiv und Planung fur die Untersuchung, quantitative und qualitative Ergebnisse. Letztere beschranke ich auf die Themen Selbstbestimmung von und Traumatisierung durch Schwangerschaftsunterbrechung. AbscWieBend gebe ich eine Zusammenfas­ sung und kritische Einschatzung der Arbeit von Helge Pross.

1. Helge Pross Helge Pross wurde 1927 geboren und starb mit 57 Jahren an Krebs. Sie begann ihr Studium nach dem Krieg am Institut fur Sozialforschung in Frankfurt/Main bei Adorno und Horkheimer. 1952 schloss sie dieses mit einer Promotion zu Bettina von Arnim ab. Ihre weiteren Forschungsarbeiten betrafen u. a. Emigrantlnnen in den USA (1954), Bildungschancen fur Madchen (1969), die Situati­ on von Hausfrauen (1975) und die nicht vorhandene Emanzipation von Mannern (1981): Sie stellte schon damals fest - und daran hat sich nichts geandert (vgl. Faludi 1995): ,Die Emanzipation von Mannern, ihre 'Freilassung' aus einer veralteten Vorstellungswelt ist weniger weit fortgeschritten als die Emanzipation von Frauen. Es ist vor allem die unvollstandige und unvollkommene Partnerschaft, der unvollstandige und unvollkommene Abschied von traditionellen Mannerrollen, der die Familien belastet." (zit. nach Fuchs 1997) Sie bringt dafur das Beispiel ihrer Berufskollegen: ,Professoren 106 zeichnen sich ... nach ihrer Einstellung zur Bildungsfahigkeit von Frauen durch so massive Vorurteile aus wie nur irgendein Kleinbtirger der Karikatur." (zit. nach Fuchs 1997) Frauenforschung verstand sie als eine, die politische Ziele verfolgt: ,Zurnindest stellen alle rnir be­ kannten soziologischen Untersuchungen auf Defizite an Rechtsgleichheit und faktischer Gleichbe­ rechtigung, auf besondere Belastungen, Benachteiligungen und Lebensrisiken von Frauen ab. Indem sie diese analysieren, prangern sie sie an, und indem sie sie anprangern, kritisieren sie den Status quo." (zit. nach Fuchs) Gleichzeitig schatzt sie aber die Moglichkeiten der Veranderung fur Frauen schon 1969 als gering ein. Dafur sieht sie z. T. auch die Verantwortung bei den Frauen selbst. (vgl. Pross in Fuchs 1997) Ihre Analyse beruht nicht nur auf den Fakten, sondern sie bezieht auch die dahinter liegenden ge­ wachsenen psychischen Strukturen bei Frauen (und Mannern) in ihrUrteil rnit ein: ,Meinungen sind Tatsachen. Die mogen objektiv falsch sein, ab er das verrnindert nicht ohne weiteres ihre Wirkung ... Sie sumrnieren sich zu Definitionen weiblicher Rollen, von denen grundsatzlich abzuweichen in je­ dem Fall ein Existenzrisiko ist." (zit. nach Fuchs 1997, Hervorhebung von rnir, ich komme spater darauf zurtick) Dieses physische und psychische Existenzrisiko zeigt sich deutlich am § 218, wenn Frauen dafur Selbstbestimmung einklagen - insbesondere z. Zt. der Untersuchung und davor. Helge Pross legte damals im STERN ihre eigene Position zur Schwangerschaftsunterbrechung offen: ,Jeder Mensch hat ein Recht selbst tiber sich zu bestimmen. Dieses Recht schlieBt das auf freie Entscheidung iiber die Kinderzahl ein. Wenn eine Frau sich der christlichen Ethik nicht fugt, ist das ihre Privatangele­ genheit. Kein Mitbiirger wird dadurch geschadigt .. . Die Totung eines Embryos von wenigen Wo­ chen kann nicht unmoralischer sein als der Zwang, ein unerwtinschtes Kind zur Welt zu bringen, zu­ mal sich dieser Zwang aus einem Versagen der Gesellschaft ergibt ... Was aber hat die Bestrafung von Opfern kollektiver Versaumnisse rnit Moral zu tun? Der Sinn einer Gesellschaftsordnung kann nur darin bestehen, die institutionellen Voraussetzungen fur das groBtmogliche Gliick der groBtmog­ lichen Zahl zu schaffen. Dazu gehort die Legalitat von Eingriffen, .die .die Frauen selbst wtinschen." (Pross 23/1966: 64) Die geschatzten Schwangerschaftsunterbrechungen beliefen sich 1966 zwischen 1 und 3 Millionen pro Jahr, ea. 15.000 Frauen starben daran. 1963 wurden nach dem § 218 1.514 Frauen verurteilt. Dieser lautete: ,Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtotet oder die AbtOtung durch einen anderen zu­ laBt, wird rnit Gefangnis, in besonders schweren Fallen rnit Zuchthaus bestraft." Die Kritikerlnnen verwiesen auf Schweden, das ein Indikationsmodell hatte, wahrend in der BRD nur die medizinische Indikation eine Schwangerschaftsunterbrechung ermoglichte. AuBerdem war bisher nur die Meinung der sogenannten Experten wie Politiker, Arzte, Juristen - in der Regel Man­ ner! - bekannt, aber die Frauen hatte noch niemand nach ihrer Meinung und ihren Erfahrungen be­ fragt. ,Informationen der angestrebten Art sind rar. Das wiederum bedeutet, daB die offentliche De­ batte tiber Anderungen oder Beibehaltung der bestehenden Gesetze die Erfahrungen und Erfah- 107

rungsdeutungen der betroffenen Frauen kaum beriicksichtigen kann. Statt von diesen Erfahrungen gehen die meisten Stellungnahmen zur Abtreibung von mehr oder minder abstrakten weltanschauli­ chen Prinzipien aus. Prinzipien, so wichtig sie sind, durften aber keine ausreichende Grundlage fur Gesetzesanderungen oder fur die Nichtanderung sein. Notig sind vielmehr auch Kenntnisse uber die Praxis der Abtreibung, so wie die Frauen sie sehen. Auch die oft instruktiven Berichte von Arzten konnen solche Informationen nicht ersetzen." (Pross 1971: 8) Dieser Mangel war Anlass fur die Untersuchung, und daraufhin erfolgte der Aufruf ,Wie war das bei Ihnen?" (Pross 23/1966: 63)

2. ,Die Objektivitdt der Parteilichkeit" (Peter Briickner)- Die Ergebnisse Auf die zwei Aufrufe, die im Stern veroffentlicht wurden (vgl. STERN 23/1966: 63 und 38/1966: 42), antworteten 1.340 Frauen mit ea. 2.000 Seiten ..Fur die Motive konnten L 141 und fur die Sozi­ aldaten 619 Briefe ausgewertet werden. ( vgl. Pro ss 1971: 11 f) Helge Pro ss nahm die Motive als die ,wahren", sie wertete sie nicht tiefenpsychologisch aus und begriindet das mit einem Satz von W. Thomas: ,Was Menschen fur wirklich halten ist auch wirklich." (Pross 1971: 14f) Indem sie die Erfahrungen, Gefuhle, Probleme etc. der Frauen ernst nimmt und ihnen damit Gelegen- . heit gibt, dass diese offentlich werden; setzt sie einen Bewusstseinsprozess auch bei anderen in Gang und gibt ihren Erfahrungen einen politischen Stellenwert. ,Aus alledem kann man folgern, daB die Einseitigkeit der hier ausgewerteten Materialien nicht ihre Schwache, sondern ihre Starke ist. Die subjektiven Wirklichkeiten, iiber die berichtet wird, sind wichtige, bisher kaum bekannte Bestandteile der 'objektiven' Realitat. Niemand kann zu einem sach­ lich adaquaten Urteil .uber die Abtreibungsproblematik gelangen, der die Erfahrungen und die Erfah­ rungsdeutungen der betroffenen Frauen nicht kennt. Kenntnis sozialer Sachverhalte schlieBt Kenntnis solcher subjektiver Wirklichkeiten ein. Diese Kenntnis fehlte bisher. Unsere Untersuchung kann trotz all er Mangel die Lucke wenigstens ein Stuck schlieBen." (Pross 1971: 14f) 2.1. Selbstbestimmung Herauszufinden, ob auch vor Einsetzen der Frauenbewegung bzw. der Selbstanzeigen im STERN vom 6.6.1971 (vgl. Schwarzer 1981: 24) Frauen Selbstbestimmung als ihr Recht auBerten, war rnir ein wesentliches Anliegen. Helge Pross hatte nur wenige AuBerungen dazu aus den 1. 141 Briefen herausgefiltert und sie mit and er en unter , Sonderfdlle" eingeordnet. (Pro ss 1971: 41) Dies wird meines Erachtens der Wichtigkeit der Entscheidungsfreiheit der Frauen nicht gerecht. Sie sagt dazu: ,Gelegentlich fuhren Frauen Erwagungen an, in denen der Gedanke der Selbstbestimmung anklingt­ einer vielleicht pervertierten Selbstbestimmung, insofern sie erst nach Eintritt der ungewollten Schwangerschaft, und nicht vorher, bei der Verhutung, praktiziert worden ist. Ideen der Selbstbe­ stimmung werden auch nur angedeutet und sind kaum jemals das einzige Motiv." (Pross 1971: 41) Dazu zahlt sie beispielsweise: ,Wollte kein Tier sein." ,Weil ich meine Zukunft nicht verderben wollte und in beiden Fallen die Manner nicht heiraten wollte." ,Obwohl ich 30 Jahre alt war, oder 108

gerade deshalb, wollte ich mich auf gar keinen Fall i.iber diesen Umweg an den Freund binden." (Pross 1971: 42) Sie interpretiert das ihrer Meinung nach selten auftauchende Motiv der Selbstbestimmung: ,Vielleicht hat die erst vor wenigen Jahren in Gang gekommene Konjunktur dieser Probleme die Idee der Selbstbestimmung einer gr613eren Zahl von Frauen etwas naher gebracht. Damals war sie jedoch nicht hinreichend verbreitet, urn sich auch in unserem Material in nennenswertem Ausma13 niederzu­ schlagen. Sie wird, wie erwahnt, allenfalls angedeutet oder als ein Motiv neben anderen genannt." (Pross 1971: 42) Dass Selbstbestimmung immer im Kontext der Gesamtsituation steht und nie alleiniges Motiv ist, halte ich fur selbstverstandlich. Aber sicher hat sie recht, wenn man die starkere Betonung von Selbstbestimmung der 70er Jahre fur ein neu entwickeltes Bewusstsein von Frauen fur ihre eigenen Interessen halt. Sie als blol3e ,Konjunktur" zu disqualifizieren, halte ich fur unangemessen. Beim Durchlesen tauchen meines Erachtens mehrere Ansatze unter der Rubrik ,Bedenken" zur Selbstbestimmung auf: ,Ich hatte keinerlei wie auch immer geartete Bedenken gegen den Eingriff. Ich kam nicht mehr in die Lage, aber ich hatte ein zweites Mal genauso gehandelt. Die gegenwartige Gesetzgebung ist absurd. Der § 218 ist von Mannern aufgestellt. Wie aber kann ein Mann i.iber einen Zustand urteilen, in den er ( als Mann) niemals kommen kann. Das ist Anmal3ung." ,Auch heute habe ich keinerlei Bedenken, lediglich eine Abtreibung ab vierten Monat wi.irde ich ablehnen. Ich bin aus religiosen, sozialen und juristischen Gri.inden fur die Abschaffung des Paragraphen (leider gibt es noch keinen Menschenschutzverein, wohl aber einen Tierschutzverein)." ,Kinder zu haben ist eine begli.ickende Angelegenheit - wenn man sie haben will. Kinder bekommen zu mi.issen - wenn man sie nicht will, ist erniedrigend und unmoralisch." ,Ieh hatte und habe keinerlei Bedenken. Diesen Schritt muss jeder mit sich selbst abmachen und vor seinem Gewissen verantworten. Meines Erachtens geht dies das Gesetz und keinen anderen Menschen an." ,Der Paragraph soll einfach abgeschaffi werden, denn wenn eine Frau ein Baby nicht bekommen will und nicht bekommen . kann, . sie findet immer Mittel und Wege, die oft sehr schwierig und nervenaufreibend sind und sie in schreckliche Gewis­ senskonflikte bringen." (Pross 1971: 53f) Nachdem ich die ausfuhrlicheren Briefe, die im STERN abgedruckt wurden, noch mal durchgegan­ gen bin, sind mir Selbstbestimmungsmotive aufgefallen, die in der Untersuchung von Helge Pross nicht aufgefuhrt sind, z. B.: ,Meine Bedenken vor den Eingriffen waren sehr wenige. Juristische hatte ich i.iberhaupt keine, da ich das als ungerecht empfand, wenn sich in meinen Korper jemand einmischt." (Pross 38/1966: 49) ,Im i.ibrigen meine ich, der Paragraph 218 StGB sollte nicht beste­ hen. Jede Frau soll frei entscheiden konnen." (Pross 39/1966: 125) ,Ich binder Meinung, man sollte mehr Ehrlichkeit walten lassen: Der Mensch kann doch auch sonst machen, was er will, warum sollte er es ausgerechnet mit seinem Ureigensten, das er besitzt, namlich seinem Korper, ~icht auch tun konnen?" ( ebd.: 131) ,Eine Frau durch Gesetz in eine trostlose Zukunft zu schicken, finde ich schlimmer, als ein Wesen zu toten, dem das Leben noch gar nicht begegnet ist." (Pross 38/1966. 45) 109

Die folgenden beiden Briefauszuge, die ich unter die Kategorie Selbstbestimmung zahle, deklariert sie als ,skrupellos": ,Meine Erfahrungen: Ich habe weder seelischen noch korperlichen Schaden ge­ nommen. Wir sind gliicklich, keine Kinder zu haben. Wir gestalten unser Leben nur fur uns und nach unseren Wiinschen. Dieses Rezept kann allerdings nicht auf die breite Masse und Lieschen Muller in Anwendung gebracht werden. Aber: gesteuerte Familienplanung - auf Wunsch Abtreibung, durch Gesetz legalisiert- ja, warum denn nicht? Wir machen die Gesetze nicht- leider. Und ich habe meine eigenen." ,Von dieser Frau, die die Abtreibung vorgenommen hat, habe ich viel gelernt. Bei einer zweiten Abtreibung hat sie mir beigebracht, wie man ohne Schaden zu nehmen die Abtreibung macht. Ich habe kein Buch daruber gefuhrt, wie oft ich abgetrieben habe, aber es waren sehr viele. Nur zweimal mu/3te ich ausgeschabt werden. Zu Anfang habe ich religiose Bedenken gehabt, aber mit der Zeit hat sich dieses gelegt. Wenn ich noch einmaljung ware, wiirde ich es heute wieder tun­ ohne religiose oder moralische Bedenken. Ich stehe auf dem Standpunkt, dq/J jede Frau selbst ent­ scheiden sol!, was sie mit ihrem Korper tut. Der Paragraph hat schon viel Leid und Ungluck ge­ bracht, es wird Zeit, da/3 er verschwindet. Es ist mir bekannt, da/3 gerade meine Kirche den gro/3ten Widerstand gegen die Abschaffung entgegensetzt. Ich kenne einige Frauen, die abtreiben lassen oder es selbst machen. Es ist mir nicht bekannt, da/3 sich diese Frauen gro/3e Gedanken machen, ob das unmoralisch sein konnte." (Pross 1971: 55, Hervorhebung von mir) Meiner Interpretation nach tauchen Selbstbestimmungswiinsche bei den befragten Frauen viel haufi­ ger auf als bei Helge Pross ausgewiesen. Bei den 22 veroffentlichten Briefen im STERN habe ich den Wunsch nach Selbstbestimmung 8mal gefunden, und im Buch konnte ich ihn insgesamt 19mal fest­ stellen. Die Frage, wie oft dieser Wunsch in den 1.340 Briefen ,iibersehen" wurde, muss offen blei­ ben. Vielleicht hat Helge Pross bewusst dieses Motiv nicht herausgestellt, da sie die politische Durchset­ zung einer Veranderung des§ 218 ohnehin fur schwierig hielt und wusste, dass Manner (und Frauen, die sich die patriarchale Grundhaltung zu eigen gemacht haben) auf die Forderung nach Selbstbe­ stimmung der Frauen (egal in welcher Hinsicht) fur Veranderungsmoglichkeiten noch weniger ge­ sprachsbereit sein wiirden. Diese Interpretationsdifferenzen sind zum einen historisch und generationsbedingt, zum anderen aber auch durch den politischen Hintergrund der Interpretin: Helge Pross war keine radikale Feministin, sondern Frauenforscherin. (vgl. Pross 1971: 42) Insgesamt hat es mich erstaunt und erfreut, bei Frauen schon in den 60er Jahren ein erstaunlich rebellisches Potential zu finden.

2. 2. Traumata und das Schweigen Eine wichtige Erfahrung der Frauen, die Helge Pross nicht benennt, ist, dass eine Schwangerschafts­ unterbrechung ein Trauma sein kann. Das Sclwveigen daruber und der Erfahrung keinen Namen ge­ ben konnen, ist schon Bestandteil des Traumas. ,Aber das Schweigen hat den rostigen Beigeschmack von Scham . ... die brutale Botscha:ft all er Tyrannen ist, die Dunkelheit aufrecht zu erhalten, die dieses 110 universelle Verbrechen bis heute umgibt. Das wirklich Beschamende ist, wie ich inzwischen erkannt habe, ihnen nachzugeben. Ich habe dieses Buch geschrieben, urn meinen Glauben daran zu erneuern, daB die Alchirnie der Sprache die Macht hat, das Dunkel in eine Erinnerung zu verwandeln, die ich als meine eigene in Anspruch nehmen kann."76 (Raine 2000: 18) Sowohl die Scham als auch das Gefuhl, rnit solch schrecklichen Erfahrungen und deren Folgen andere nicht ,belastigen" zu wollen, kann man den Berichten der Frauen entnehmen. Helge Pross hat ihnen - ohne es zu wissen - die Moglichkeit gegeben, sich die Macht der Sprache anzueignen, die Dunkelheit ein StUck zu durchbre­ chen und Offentlichkeit herzustellen fur diese Schrecken. Ein Trauma ist etwas, was einem von der Welt aul3erhalb der Seele aufgezwungen wird. Leonhard Shengold bezeichnet dies als Seelenmord. (vgl. Raine 2000: 88 f) Ein Seelenmord kann sich in viel­ faltigen somatischen und psychischen Symptomen niederschlagen. Das Problem liegt darin, dass die Frauen meist als geistig krank definiert werden, d. h. als nicht normal. Nancy Raine weigert sich, die ,Auswirkungen von iiberwaltigendem Terror als Krankheit zu bezeichnen. lch bestehe darauf, geistig gesund zu sein, und betrachte meine Reaktion als menschlich, sogar als angemessen und wiirdevoll." (Raine 2000: 89) Die Traumaforschung ist ein kleines und vernachlassigtes Gebiet in der Wissenschaft. Erst seit 1980 gibt es einen Namen fur den ,Seelenmord": Posttraumatische BelastungsstOrung. (vgl. Raine 2000: 89) Friiher hat man diesen Zustand als Hysterie bezeichnet und Frauen zugeordnet. Erst 1916 stellte man ahnliche Symptome bei Soldaten fest: die Schiitzengrabenneurose. (vgl. Raine 2000: 93) ,Die Erforschung psychischer Traumata", schreibt Judith Herman, ,hat eine eigenartige Geschichte - immer wieder gibt es Phasen der Amnesie. Wer psychische Traumata untersucht, muB iiber furchtba­ re Ereignisse berichten. Bei Naturkatastrophen oder Ereignissen, die auf 'hohere Gewalt' zuriickzu­ fuhren sind, ist es fur den Berichterstatter leicht, Mitleid fur das Opfer zu empfinden. 1st das trauma­ tische Ereignis jedoch Ergebnis menschlichen Handelns, ist der Berichterstatter im Konflikt zwischen Opfer und Tater gefangen ... Die Versuchung, sich auf die Seite des Taters zu schlagen, ist groB. Der Tater erwartet vom Zuschauer lediglich Untatigkeit ... Das-Opfer erwartet vom Zuschauer, daB er die Last des Schmerzes rnittragt. Das Opfer verlangt Handeln, Engagement und Erinnerungsfahig­ keit."(zit. nach Raine 2000: 99)77 Wie sich solche iiberwaltigenden Erlebnisse irreparabel im Gehirn ,einnisten" und langfristige Reak­ tionsfolgen zeigen, fuhrt Daniel Goleman in Emotionale Intelligenz aus_(Goleman 1996) Inzwischen hat man festgestellt, dass auch andere (un)soziale Situationen posttraumatische StOrun­ gen hervorrufen. Christine Morgenrot hat dies z. B. aufErwerbslosigkeit (und andere Probleme) be­ zogen. Sie definiert ein Trauma als ,ein Uberwaltigungserlebnis, ( das) iiber einen Menschen hinweg roUt, dessen er oder sie nicht Herr (Hervorhebung von rnir U.S.) werden kann rnit eigenen Mitteln.

76 Raine bezieht sich hier auf Vergewaltigung. 77 Dies katm man besonders gut an der Entwicklung von Sigmund Freuds erster Hypothese sehen, dass seA.'Ueller Missbrauch nicht nur eine Phantasie seiner Patientinnen war, sondern Realitat. Spater hat er seine These zuriickge­ nommen. (vgl. Freud 1972) Judith Herman ist die erste, die Vergewaltigung als Trauma bezeichnet. 111

Und genau das: gewissermaBen eine Vergewaltigung im sozialen Bereich, wo die Kraft des Starke­ ren den Schwacheren iiberwaltigt." (Morgenrot 2001) Einzelne oder vielfaltige Symptome kann man auch den Briefen der Frauen entnehmen, die iiber die Situation ihrer Schwangerschaftsunterbrechung berichten. Es ist nicht nur die eigene z. B. religiose Einstellung, die die Situation traumatisch machen kann, sondem sehr viel haufiger die Erpressung durch den (Ehe-) Mann, Arzt u. a. Da die Situation lange Zeit eine illegale war, batten die in irgendeiner Weise rnit einbezogenen Manner- in der Regel waren es Manner - eine groBe Macht iiber die Frauen, die sie haufig missbraucht haben. Nach dem kurzen Abriss iiber die historische Entwicklung der Traumaforschung, der meines Erach­ tens zum besseren Verstandnis der folgenden Briefausziige notig war, lasse ich die Frauen selbst zu Wart kommen: , Jahrelang habe ich unter schweren Albtraumen gelitten. Der Inhalt dieser Traume warder: Ich hatte einen Saugling, aber ich hatte ihn nicht im Haus, sondem in einer Hiitte nebenan. Ich hatte den be­ sten Willen, das Kind gut zu versorgen, aber ich konnte es nicht, es starb mir unter den Handen. Im Traum griibelte ich auch iiber den Namen des Kindes und qualte rnich, weil ich den Namen des Kin­ des vergessen hatte. In diesem Traum lag Hohn und Selbstverachtung: Du bist nicht einmal fahig, ein Kind aufzuziehen. Sie werden denken, Traume machen nichts aus, aber ich versichere Ihnen, sie konnen furchtbar sein, zumal man ihnen ini Schlafwehrlos ausgeliefert ist." (Pross 38/1966:46) , Heute, nach 7 Jahren habe ich schwere Bedenken und verstehe mein damaliges Handeln nicht mehr. Der Gedanke an die abgetriebenen Zwillinge laBt immer wieder gleiche Kinder vor meinem Auge entstehen, und ich trauere diesem Traumbild nach. Ich habe den dunklen Wunsch zu siihnen, indem ich die beiden Kinder noch 'nachbekomme'. Aber das wiirde wohl nichts niitzen." (ebd.: 49) ,Seit einem Jahr, eben seit 'meinem' Fall, fuhle ich mich seelisch krank. Ich habe Angst vor Arzten und ich habe Angst vor sexuellen Handlungen, hose Traume, die fast immer auf dem damals Gesche­ henen beruhen ... Der erste, ein Arzt fur Haut- und Geschlechtskrankheiten, niitzte meine Hilflosig­ keit aus und wollte rnich erpressen. Der Preis fur die Losung meines Problems sollte 800 DM betra­ gen. Auf3erdem sollte, bevor der Eingriff gemacht wiirde, noch ein Schaferstiindchen stattfinden ... Der Chefarzt hatte diese Angelegenheit als krirninell angesehen und wollte die Krirninalpolizei ver­ standigen. Gliicklicherweise ging dieser Kelch, dank meines Stationsarztes, an mir voriiber. Seit die­ sem Erlebnis bin ich gehemmt im sexuellen Verhalten. Ich habe Angst und Abneigungen gegen einen Mann. Ob die Zeit diese Wunde heilt, oder ob ich doch eines Tages einen Psychiater aufsuchen muB?" (Pross 39/1966: 124f) , Ich gonne diese Tage meiner argsten Feindin nicht. Wenn ich meine ganzen Gedanken hierzu auf­ schreiben wollte, wiirde dieser Bericht seitenlang werden. Nicht nur die schmerzhafte Fehlgeburt, die dann folgte (ich ging auf den dritten Monat zu), sondern auch die moralischen und religiosen Gewis­ senskonflikte bleiben nicht aus und machen schwer zu schaffen." (ebd.: 127) 112

,Das Wirtschaftswunder kommt meist nur in Zeitungsartikeln vor. Wohnraum sollte man haben. Wohnraum muf3 man sich entweder schwer erarbeiten, oder man verzichtet ganz darauf. Kinder muf3 man haben, das verlangen Staat und Kirche. Eine Frau wird durch unerwiinschte Schwangerschaften in schwere seelische Not gebracht. Man wird apathisch, laf3t Haushalt und Kinder verkommen, man bekommt Jahzomsanfalle, die sich schlecht auf die Familie auswirken usw. Man denkt an Selbstmord oder auch daran, die ganze Familie auszuloschen, nur urn sich zu beweisen, daf3 man nicht nur mit unformiger Figur rumlaufen und Kinder gebaren kann." (ebd.: 129) ,Ich erklarte ihm das, und er sagte mir glatt ins Gesicht, er konne sich nicht vorstellen, daf3 er der Verursacher der Schwangerschaft sei. Ich konnte das gar nicht fassen. Ich erlitt einen Nervenzusam­ menbruch, aber dann uberlegte ich, was ich tun sollte. Ich trennte mich von diesem Mann. Dann dachte ich an einen Eingriff." (Pro ss 40/1966: 171) Ich habe in den Berichten im STERN bei 22 Briefen 9 und im Buch von Helge Pross 16 traumatische Schilderungen·gefunden. Hier gilt gleicheswie schon oben zur Selbstbestimmung angemerkt. In den zitierten Erfahrungen wird sehr deutlich, wie Scham zu Geheimhaltung und das Schweigen zu kor­ perlichen und seelischen Belastungen fuhren. Auch das Nicht-Benennen-Konnen zeigt sich z. B. be­ sanders drastisch bei den erwahnten Vergewaltigungen, die aber nicht als solche erkannt werden, bzw. die Scham verhindert die Benennung. Hier erhalt der Satz von Judith Herman seine erschrek­ kende, wahre Bedeutung: ,Wer uber Greueltaten offentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf si eh, das de m Opfer immer anhaftet." ( zit. nach Raine 2000: 100) Es wird auch deutlich, dass Manner als ,Partner" und ,Heifer" einen wesentlichen Anteil an den Un­ taten haben und dafur nicht zur Verantwortung gezogen werden (konnen). Und sie leisten sich diesen Machtmissbrauch auch nur, weil sie genau das wissen; er ist also kein Zufall oder auf momentane Unachtsamkeit zuriickzufuhrender, sondem ein absichtsvoller und geplanter - und deshalb auch fur die Frauen so erschreckend. Aber dieser Prozess Hiuft in der Regel fur beide Beteiligten unbewusst ab und kann dadurch auch nicht bearbeitet und verandert·werden- d. h:, die Manner entwickeln we­ der Unrechtsbewusstsein noch Wiedergutmachungsbedurfuisse, sondemfluchten·sich in der Regel in Selbstgerechtigkeit, Selbstmitleid und/oder Abwehr. Aber selbst diese Reflexion wird ihnen erspart, da die Frauen sie nicht anklagen, sondem schweigen. Durch die Veroffentlichung wurde ein erster Schritt getan, diese Verhaltnisse zum Skandal und Poli­ tikum zu machen. Wie recht Helge Pross mit ihrer Arbeit hatte, zeigt die darauf (nicht daraus) fol­ gende Entwicklung der Frauenbewegung. Die Beschreibung der traumatischen Erfahrungen macht auch deutlich, was Helge Pross mit ,,Existenzrisiko" meint, wenn Frauen aus ihrer ihnen zugewiesenen Rolle fallen bzw. sich ,anmaf3en", uber sich selbst zu bestimmen - und dies trifft nicht nur auf die damaligen Verhaltnisse bei Schwan­ gerschaftsunterbrechungen zu, sondem auf viele (un-)soziale Situationen heute immer noch. (vgl. Schroder 2000: 243ft) 113

3. Fazit Die Untersuchung zeigt, dass die Einstellung zur Schwangerschaftsunterbrechung sowohl bei der Wissenschaftlerin Helge Pross als auch bei den betroffenen Frauen eine durchaus ambivalente ist - und zwar im doppelten Sinne: Einmal wird Schwangerschaftsunterbrechung grundsatzlich als Ubel bezeichnet und andererseits das Recht der Frauen, eigenstandig iiber eine Schwangerschaftsunter­ brechung zu entscheiden, betont. Mehrfache Schwangerschaftsunterbrechungen werden kritisch be­ trachtet und. den Frauen negativ angelastet. Frauen, die ihre Eigenstandigkeit ,demonstrativ' schil­ dern, erhalten das Etikett ,skrupellos". Andererseits wird betont, dass die Belastungen, die oft mit einer Schwangerschaftsunterbrechung verbunden sind, gesellschaftliche Ursachen haben. Diese Ambivalenz ·spiegelt meines Erachtens deutlich sowohl die inneren, individuellen Verhaltnisse als auch die auBeren Einfliisse von einzelnen, beteiligten Menschen und ·gesellschaftlich gesetzten Norrnen. Sie sind ohne grundsatzliche Veranderung auch nicht von einzelnen Frauen ohne weiteres aufhebbar. Deutlich wird diese Ambivalenz bei Mehrfachabbriichen und beim Verhiitungsproblem. Elsbeth Meyer u. a. sind in ihrer Untersuchung 1990 auf ahnliche ambivalente Einstellungsmuster gestoBen. Sowohl die Verhiitungslegende als auch das Stirnrunzeln der Beraterinnen (und nicht nur ihres) bei wiederholten Abbriichen sind immer nochweit verbreitet. Die Verhiitungslegende besagt, dass es die absolut sichere Verhiitung gibt und dass sexuelle Situationen jederzeit von den Frauen kontrollierbar sind- also nicht von Leidenschaft, Liebe (soli vorkommen), Gier, Begehren, Druck und emotionaler Erpressung oder Gewalt durch (Ehe-)Manner gepragt sind. (vgl. Meyer u. a. 1990: 27ft) Es gibt kein absolut sicheres Verhiitungsmittel fur jede Frau, und nicht jede Situation ist fur die Frau kontrollierbar! Sicher ist aber auch, dass Sexualitat und ihre Befriedigung wesentlich durch Penetra­ tion ohne Kondom stattfindet. Warum sich Frauen dieser dominanten Praktik nicht mehr entziehen und andere Moglichkeiten in die Beziehung einbringen, ist trotz alledem eine offene Frage, die Ger­ maine Greer stellt. (vgl. Greer 2000: 123£) Die Untersuchung von Helge Pro ss zeigt auch die Unterschiede von heute zu der damaligen Situati­ on: Mit einigem biirokratischem Aufwand ist heute fur die meisten Frauen eine legale Schwanger­ schaftsunterbrechung moglich. Dies wurde aber auch nur mit dem offentlichen Druck der Frauen er­ reicht. (vgl. u. a. Schwarzer 1981: 21ft) Und dieser Stand ist durch den derzeitigen Aufschwung der politischen Reaktion schon wieder gefahrdet. Die historische Entwicklung ist also keineswegs eine kontinuierlich-emanzipatorische, sondern immer wieder eine durch den Backlash (Faludi 1995) zuriickgeworfene. Deutlich wird dies daran, dass die Forderungen und Argumentationen heute zum § 218 denen von 1909 immer noch ahnlich sind. Und fur DDR-Frauen bedeutete der Anschluss an die BRD (auch) in dieser Hinsicht eine eindeutige Ver­ schlechterung ihrer Selbstbestimmungsmoglichkeiten. ( vgl. Voigt 1971 : 82ft) Insgesamt kann man sagen, dass die politische Debatte und der wissenschaftliche Diskurs urn den § 218 und dessen Ge­ staltung (irn Interesse der Frauen) eine systemimmanente ist. (vgl. Schroder 1998: 64) Eine legale 114

Veranderung soll die Verhaltnisse verbessern. Aber der § 218 ist nur ein Symptom des kapitalisti­ schen Systems und er wird - je nach ,Tagesordnung" - als Disziplinierungsmittel genutzt oder als Gunst gewahrt. Und die Frauen lassen sich die politische Tagesordnung diktieren. Sie bestimmen sie nicht selbst. 78 Die Tagungs,frage" ,Wie gedacht- so vollbracht?" miissen wir leider fur das hier thematisierte Pro­ blem verneinen, und es gilt Louise Otto-Peters' Feststellung: ,Mitten in den groi3en Umwalzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen." Dazu gehort Solidaritat zwischen Frauen. Louise Otto-Peters hat diese in vielen Schriften und Taten in ihrem Leben geleistet. Aber einigen Frauen, die radikaler dachten und handelten als sie, starken Frauen, versagte sie diese solidarische Haltung und aui3erte sich nicht nur kritisch, sondern feindlich. Davon betroffen war z. B. Louise Aston. ,Indem Louise Otto in den gangigen Tenor der Angriffe gegen die Aston einstimmt, sichert sie sich den Beifall, ihre eigenen Erfolgschancen bei Mannern und Frauen steigen." (Ziemer 1990: 100) Hier ist die Verkniipfung mit Helge Pross, die eine Frau der leisen Tone war - allerdings Diffamie­ rungen der Frauen, mit denen sie nicht iibereinstimmte, vermied. Sie war nicht fur die Abschaffung des § 218 bzw. fur ein Recht auf Abtreibung. (vgl. Pro ss 1971 : 63) Auch das in den 70er Jahren sich entwickelnde Selbstbewusstsein der Frauen als ,Konjunktur" zu bezeichnen entspricht nicht den Realitaten. Ebenso verweist auf eine Abgrenzung gegeniiber radikaleren Frauen, was ich unter den problematischen Aspekten der Ambivalenz, der Verhiitungs(un)moglichkeiten und Mehrfachabtrei­ bungen angefuhrt habe. Ich schliei3e mit einem Zitat, das diese Abgrenzungsbediirfnisse gegeniiber radikalen Frauen erklart und uns alien als Warnung dienen kann: ,Mitgefuhl und Einfuhlungsvermogen verteilen sich nicht zufallig. Verstandnis wird zumeist sehr viel eher denen entgegengebracht, die zu 'uns' gehoren, und denjenigen, die hier das Sagen (die Verfugungs- und Definitionsmacht, US.) haben. Gefuhle werden so zu Kollaborateuren der Macht." (Rommelspacher 1995: 94)Statt sie auszugrenzen, erscheint es mir wichtig, von ihrer Starke, den Verhaltnissen zu trotzen, zu lernen - gerade heute. Denn die Insti­ tutionalisierung von Frauenforschung hat zu einem Verlust an radikalem Denken (und Handeln) ge­ fuhrt. (vgl. zu dieser Entwicklung Mayreder 1927: 36)

Literatur

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78 Hier miisste die viel vermiedene Strategiediskussion einsetzen, die eng verkniipft ist rnit dem Generationsproblem zwischen Frauen- sowohl historisch als auch in der Gegenwart. (vgl. Stoehr 2000: 42ft) 115

Greer, Gem1aine: Die ganze Frau. Miinchen: dtv, 2000 (= dtv 24204) Haensch, Dietrich: Repressive Familienpolitik. Reinbek: rororo, 1969 (= roro 8023) Herman, Lewis Judith: Narben der Gewalt. Miinchen: Kindler, 1994 Jiitte, Robert: Geschichte der Abtreibung. Miinchen: Beck, 1993 Jellinek, Camilla: Die Strafrechtsreform und die§§ 218 und 219 StGB. In: Monatschrift fur Kriminal-Psychologie, 5 Jg.1908-1909. Heidelberg: Carl Winter, 1909, S. 602- 619 Meyer, Elsbeth, u. a. : "Das hatte nicht nochmal passieren diirfen!" Frankfurt/M.: Fischer, 1990 (= Fischer 4755) Mayreder, Rosa: Der typische Verlauf sozialer Bewegungen. Leipzig 1927 Morgenrot, Christine: Psychische Folgen von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. In: Gesprach mit Cornelia Beuel, Gesprachsreihe zu: Menschen im Schatten, Armut und Ausgrenzung in Deutschland, Deutschlandfunk 28.1.01 Pross, Helge: Wie war das bei Ihnen? In: STERN Nr. 23/1966, S. 63-64 Pross, Helge: So war das bei mir Teil I- ill. In: STERN 38/1966, S. 42-50, STERN 39/1966, S.124-131, STERN 40/1966, S. 170-177 Pross, Helge: Abtreibung, Motive und Bedenken. Stuttgart: Kohlhammer, 1971 Rezension zu Helge Pross, Abtreibung: Immer mehr Arzte machen mit. In: STERN 16/1972 Pross, Helge: Meinung und Kommentar. In: Brigitte. Hamburg: Gruner und Jahr, 197 4-1979 Raine, Nancy V.: Jenseits des Schweigens. Miinchen: Goldrnann, 2000 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur, Texte zu Fremdheit und Macht, Orlanda, Berlin 1995 Schenk, Herrad: Wieviel Mutter braucht der Mensch? Reinbeck: rororo, 2000 (= rororo 60376) Shengold, Leonhard: Soul Murder. Seelenmord -Die Auswirkungen von Millbrauch und Vemachlassigung in der Kindheit. Frankfurt/M: Brandes und Apsel, 1995 SchrOder, Hannelore: Menschenrechte fur weibliche Menschen. Aachen: ein-FACH-verlag, 2000 SchrOder, Ursula: V on der Emanzipation des Herzens zur Emanzipation durch Erwerbstatigkeit oder wie emanzipiert wollten die biirgerlichen Frauen werden? In: Was Frauen bewegte, was Frauen bewegt. Berichte vom 5. Louise Otto-Peters-Tag 1997. Leipzig: Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, 1998 (= LOUISEun18), S. 53-65 Schwarzer, Alice: Ich habe abgetrieben (1971/72). In: Schwarzer, Alice: 10 Jahre Frauenbewegung. So fing es an! Koln: Emma Frauenverlag, 1981, S. 21-31 Shorter, Edward: Der weibliche Korper als Schicksal. Miinchen: Piper, 1984 Stoehr, Irene: Das wiederholte verAlten der Emanzipation, Die Generationsfrage in der deutschen Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts. In: Ariadne 37-38/ Juni 2000, Kassel, S. 42-49 Voigt, Dieter: Abtreibung in der DDR. In: Pross 1971, a. a. 0 ., S. 82-126 Ziemer, Gudula: Euch droht keine Rebellion. In: Bodeit, Friderun: Ich mufi mich ganz hingeben konnen. Frauen in Leipzig. Leipzig: Verlag fur die Frau, 1990, S. 94-111 116

Wie und warum ostdeutsche Frauen heute ihre gesellschaftliche Stellung (nicht) reflektieren

Dr. Uta Schlegel (Leipzig)

Der Rahmen dieses Beitrags zwingt zu einer holzschnittartig vergroberten Darstellung; diese Ver­ groberung bezieht sich insbesondere auf dreierlei: 1. darauf, dass es die Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Ste!lung durch die ostdeutschen Frauen nicht gibt, diese vielmehr sehr differenziert verlief und noch verlauft nach verschiedenen Positionen der Frauen - insbesondere · nach Alter, Bildungsstand, Berufsfeld, Familienstand, Region bzw. Stadt - Land; 2. darauf, dass auf diesem Hintergrund sich zudem die Lebenszusammenhange ostdeutscher Frauen deutlich polarisieren und auseinanderdriften (hinsichtlich beispielsweise Chancen auf dem Ar­ beitsmarkt, verfugbaren okonomischen Ressourcen, Partizipation an kulturellen, politischen u. a. Prozessen) und dass sich damit auch die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Stellung unterscheidet; 3. darauf, dass die Besonderheiten in den Lebenszusammenhangen der ostdeutschen Frauen in den letzten 10 Jahren nicht zu urnreiBen sind ohne den Hintergrund des Davor (DDR) und ohne be­ stimmte aktuelle Vergleiche, z. B. mit denen westdeutscher Frauen. Insofern beschranke ich mich im folgenden auf 7 Aspekte des Themas in Thesenform und verweise auf die weiterfuhrenden Quellen.

1. These: Die DDR hatte ein im·Kern patriarchalisches Gleichberechtigungsverstiindnis- mit Folgen fiir die ostdeutschen Frauen bis heute. Dies in folgendem Sinne: Wenn wir von den Grtinderjahren der DDR absehen (deren Gesellschafts­ politik u. E. durchaus das Geschlechterverhaltnis grundsatzlich thematisierte79 und progressiv zu ver­ andern suchte), ist in der DDR das traditionelle Geschlechterverhaltnis nie konsequent in Frage ge­ 80 stellt worden . Vielmehr war die (insofern verktirzte) Gleichstellungspolitik der DDR wesentlich gerichtet auf die moglichst maximale Einbeziehung der Frauen in die Erwerbsarbeit (sowie auf die Schaffung der dafur notwendigen qualifikatorischen Voraussetzungen und infrastrukturellen Rah­ menbedingungen) und somit auf ihre ,Anhebung" auf traditionell mdnnliche Lebenszusammenhdn­ ge- quasi als Norm. 81 Ihre uberkommene Zustandigkeit fur den Familienbereich wurde kaum inFra­ ge gestellt - im Gegenteil: tiber sozial-/familienpolitische Regelungen (wie Haushalttag, anfangs Ba­ byjahr) sogar fortgeschrieben und zementiert.

79 vgL z. B. den Befehl Nr. 253 vorn 17.8.1946 der SMAD, s. auch Hildebrandt 1994: 15ff 80 Das gilt iibrigens auch fur die Verhaltnisse in der alten BRD. · 81 Diese Orientiemng an der rnannlichen ,Norm" schlieBt friihzeitigere und konsequentere Weichenstellungen irn Sinne der Gleichstellung der Frau gegeniiber der alten BRD nicht aus, wie es beispielsweise an der Stellung der un­ verheirateten Mutter oder der Stellung der Frau in der Ehe deutlich wird; vgL dazu Kurig in diesern Band. 117

Letzteres ist zwar in seinen historischen Zusammenhangen zu bewerten (im Sinne der beabsichtigten Entlastung der Frauen), dennoch bleibt der fehlende strategische Blick auf notwendige Veranderun­ gen der Geschlechterverhaltnisse festzuhalten. Dieses quasi patriarchalische Gleichberechtigungsverstandnis lief3 folgerichtig das traditionelle Mannerleitbild weitgehend unangetastet, die mdnnliche Rolle war (im Unterschied zur alten BRD) keinerlei Erschutterungen ausgesetzt. Nichtsdestotrotz haben sich auch mannliche Einstellungen und Verhaltensweisen sukzessive und deutlich modifiziert, jedoch primar als Reaktion auf den verander­ ten weiblichen Lebenszusammenhang82 und zudem als - individuell mehr oder weniger hohe - Akzep­ tanz einer offentlichen/gesellschaftlichen Norm. 83 Nur solche mehrheitlich reaktive Generierung von Veranderungen in den Verhaltensmustern der DDR-Manner beziiglich der gesellschaftlichen Stellung 84 der Frau und des Geschlechterverhaltnisses erklart auch , dass offensichtlich DDR-Frauen solche Gleichstellungs-Pattern in viel hoherem und konsequenterem Maf3e internalisiert haben als Manner - was nicht folgenlos bleiben konnte fur den einschlagigen kulturellen und politischen Wandel in Ost­ deutschland nach der deutschen Vereinigung.

2. These: Das so umrissene Gleichberechtigungsverstandnis wurde vom Staat DDR mtfpaternalistische Weise realisiert. Das meint: Gleichstellungsstrategien wurden - wie auch andere Politikfelder - von oben nach unten durchgesetzt; Frauen waren im Kern Objekt von Politik, als Subjekte und Akteurinnen beziiglich politischer Strategien, Maf3nahmen und Entscheidungen im wesentlichen ausgeschlossen. 85 Das stellt einerseits historisch bedeutsame Fortschritte (wie z. B. das Gesetz uber den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch) keineswegs in Frage, konnte andererseits aber - da sie nicht selbst er­ kampft waren - nicht folgenlos bleiben fur die Art, ob bzw. wie sie von Frauen genutzt wurden, und spater (nach der deutschen Vereinigung) fur (weitgehend ausbleibende) effektive Aktionen zu deren Verteidigung. Von grof3er Bedeutung ist in diesem Kontext (im Gegensatz zur alten BRD) der Mange! eines of­ fentlichen Diskurses zu den Geschlechterverhiiltnissen in der DDR - bedingt nicht nur etwa durch die totalitaren DDR-Verhaltnisse einschlieBlich einer fehlenden politischen Kultur, sondern auch ge­ tragen von einer verbreiteten Wurdigung der Anstrengungen und Leistungen sowohl des Staates zur

82 d. h. die gleichzeitige Venvirklichung in und Selbstdefinition nach dem eigenen Beruf sowie der Kinderwtinsche und Partnerschaft 83 Selbst die Minderheit von Mannem mit eher patriarchalischen Verhaltensmustem (auch solche in hohen Leitungs­ funktionen, rnit Hausfrau ,im Riicken") wagten sich - angesichts des entsprechenden ideologischen Drucks - in der Offentlichkeit nicht, solche zu aufiern. 84 selbstverstandlich iiber den Sachverhalt hinaus, dass Geschlechterverhaltnisse bekanntlich hierarchische und Machtverhaltnisse darstellen, bei deren Aufbruch in Richtung Gleichstellung mannliche Widerstande einerseits zu envarten sind wie andererseits verstarkende Impulse bei einem Rollback zu traditionellen Geschlechterverhaltnissen. 85 Diese verallgemeinerte Aussage schliefit nicht aus, dass es punktuell durchaus gewiinschte breite Debatten in Vor­ bereitung einzelner Gesetze bzw. MaBnahmen gegeben hat, wie es beispielsweise zutrifft fur das Farniliengesetzbuch der DDR - das moglicherweise am demokratischsten entstandene ihrer Gesetze. 118

Forderung der weiblichen Erwerbsarbeit und zur strukturellen Entlastung der Familien (wie Kinder­ einrichtungen, Schulspeisung) als auch- staatlich verordnet- der Betriebe (wieKinderferienlager). 86

3. These: DDR-Frauen und ostdeutsche Frauen waren und sind weitgehend blind gegenuber ihrer tatsiichlichen Benachteiligung qua Geschlecht. Insbesondere die spi.irbaren Berni.ihungen des Staates DDR urn die Forderung der Frauen, aber auch die weitgehende Abwesenheit von evidenter Frauendiskriminierung ( wie Pornographie, Gewalt ge­ gen Frauen, sexuelle BeHistigung am Arbeitsplatz) haben dazu gefiihrt, class die DDR-Frauen selbst subtile Diskriminierungsrnechanisrnen qua Geschlecht nicht oder kaum wahrgenornrnen und themati­ siert haben, schlicht dafiir nicht sensibilisiert waren. (vgl. Bi.itow 1994: 108) Nur auf diesern Hinter­ grund ist nachvollziehbar, wieso DDR-Frauen- nachdem die o. a. verki.irzte Gleichstellungsstrategie des Staates erreicht und Mitte der 70er Jahre offiziell die Gleichberechtigung der Frau gesellschaft­ 87 lich gelost war - die von nun an deklaratorische Verweisung/Reduzierung (durchaus struktureller) weiblicher Konflikte in der Alltagsbewaltigung auf die individuelle Ebene88 rnehrheitlich internalisiert haben. (vgl. Schlegel1993: 14) Nicht zufallig haben DDR-Frauen diese staatlichen Bemi.ihungen in noch hoherem Maf3e als Manner gewi.irdigt, was sich u. a. niederschlug -in ihrer stets hoheren DDR-Verbundenheit - innerhalb einschlagiger Aufwarts- (mit Hochststand nach dern sozialpolitischen Maf3nahme-Boom von 1972) und gegen DDR-Ende Absturz­ Entwicklungen (s. Schlegel1993: 27), - in ihrer (1989/1990 prospektiv) gegeni.iber Mannern verhalteneren Befiirwortung der deutschen Vereinigung (s. ebd.: 32) sowie -last but not least darin, class in der retrospektiven (1991) Einschatzung der beiden deutschen Staa­ ten durch Ost- und Westdeutsche die Gleichberechtigung der Frau (von 11 erhobenen Sachverhal­ ten) als das Uberlegenheitsrnerkmal der DDR gesehen wurde. (EMNID/ZIJ in ·Spiegel1991: 46) Selbst intellektuelle Frauen in der DDR haben'"" mit Verboten in den 70ern- erst in den 80er Jahren i.iber das Geschlechterverhaltnis und Frauenbenachteiligung reflektiert. Auch dies hinterlasst Spuren teilweise bis heute: wie in der nach wie vor (distanzierten) Haltung ostdeutscher Frauen zur Quo-

86 Wir trennen bier Leistungen beztiglich weiblicber Erwerbsarbeit und familiarer Entlastung bewusst (wiewohlletzte­ res in der DDR immer aucb unter Frauenforderung subsummiert und propagandistisch verwertet wurde; vgl. z. B. Le­ ben in sozialer Sicherbeit 1978: 32f), weil Kinderbetreuung u. a. immer Leistungen angesichts der Erwerbsarbeit bei­ der Elternteile sind und insofem - auch heute - nicht als Kosten weiblicber Erwerbsarbeit dargestellt werden diirfen. 87 ,Und wir konnen deshalb auch ohne Einschrankungen sagen, dafi in der Deutschen Demokratischen Republik die Gleicbberechtigung der Frau verwirklicht ist." (Lange 1974: 6) 1974 enthalten Ausfiihrungen iiber soziale Unterschie­ de (DDR: Gesellschaft - Staat - Burger 1974: 21f) nicht die Kategorie Geschlecbt, lediglich Arbeiterklas­ se/Genossenscbaftsbauernflntelligenz, Stadt/Land, Einkommen, korperlicbe/geistige Arbeit u. a. (Erst in den 80er Jah­ ren wurden - nicbt zuletzt unter dem Druck empirischer Forschungsergebnisse - Geschlechtsunterschiede in den Le­ benslagen auch als soziale Unterschiede benannt.) 88 Verwiesen werden muss in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Defizite in Versorgungsfragen (Konsumgiiter, Dienstleistungen usw.) von der DDR-Bevolkerung durchaus nicht geschlechtsneutral befriedet wurden. Wenn auch die Manner selbst Hand anlegten an Autos, Datschenbau und Wohnungsrenovierung: Es waren die Frau­ en, die sich taglich in die Warteschlangen einreihten, Reillverschliisse einnabten; Konfitiire kocbten oder Obst und Gemiise einmachten. 119

tenregelung, in ( ausbleibenden) Klagen gegen Personalrekrutierungsstrategien der Arbeitgeber zum Nachteil von Frauen. Angesichts des demgegeniiber - insbesondere ab Ende der 60er Jahre gefuhrten - offentlichen Ge­ schlechter-Diskurses in der alten BRD und der damit einhergehenden Bewusstseinsprozesse kann es nicht verwundern, dass insbesondere westdeutsche Madchen/Frauen Diskriminierungsmuster qua Geschlecht wacher wahrnehmen, aber auch Jungen in der DDR (und bis heute) starker die traditio­ nelle Mannerrolle vertreten und unkonventionellen Rollenarrangements (z. B. ,;Hausmann", Erzie­ hungsurlaub) nicht so offen gegenuberstehen wie Jungen im Westen. (Stumpe 1996: 63) Auf diesem Hintergrund wird ein (bis heute) evidenter kultureller Ost-West-Unterschied beispiels­ weise ,im weiblichen Selbstverstandnis erklarbar, der sich verkiirzt wie folgt beschreiben lasst: Die westdeutschen Frauen verfugten- in der Folge eines gesellschaftlichen Diskurses und feministischer Bewegungen - uber eine mentale Sensibilisierung und Wahrnehmung der Geschlechterverhaltnisse 89 90 und ·eigener struktureller Benachteiligung , uber ein ausgepragtes emanzipatorisches Bewusstsein ; die DDR-Frauen hie/ten sich fiir gleichberechtigt und ha/ten sich mehrheitlich (auch die jungen) bis heute fiir chancengleich, waren und sind mehrheitlich blind und stumm gegeniiber struktureller Be­ nachteiligung. Drastisch illustrieren will ich dies an einem Beispiel der sogenannten ·Statuspassagen, an gravierenden Ubergangsphasen im Lebenslauf, die bekanntlich seit 1990 nun auch im Osten Deutschlands insge­ samt schwieriger, uniiberschaubarer, weniger planbar und langwieriger geworden sind, aber unter zunehmender und deutlicher struktureller Benachteiligung von Madchen und Frauen, z. B. : - beim Obergang von der Schule (trotz hoherer und besserer Schulabschliisse der Madchen) in die Berufsausbildung, - beim Ersteinstieg nach Ausbildt.ing I Studium in die Berufsarbeit, - bei der Riickkehr aus Arbeitslosigkeit in Beschaftigung. Unser Beispiel bezieht sich auf die Arbeitsmarktchancen der Absolventlnnen einer Leipziger Hoch­ schule91, die eine hohe Geschlechtstypik aufweisen zuungunsten der jungen. Frauen: Trotz ihrer durchschnittlich besseren Diplomabschliisse sind sie bei ihrer Landung im Arbeitsmarkt nach folgen­ den Parametern deutlich benachteiligt: - nach der Dauer der Arbeitsstellensuche, - nach der Verteilung befristeter vs. unbefristeter Beschaftigungsverhaltnisse, - nach der Verteilung von Voll- vs. Teilzeitarbeit (bei gewollter Vollzeitbeschaftigung!), - nach Einsatz in den Hierarchie-Ebenen I Fiihrungspositionen und 92 - insbesondere nach den erzielten Einkommensverhaltnissen .

89 die de jure langer und in starkerem Mane als in der DDR gegeben war: Erirmert sei beispielhaft daran, wie lange in der BRD die Erwerbstatigkeit der Frau der ausdriicklichen Zustimmung des Ehemannes bedurfte. 90 wie es sich u. a. auch in der Alltagssprache aufiert(e): bewusste Verwendung weiblicher Sprachformen (Professorin, Ministerin); als interessante (und kaum beachtete) Ausnahme von solch mangelndem Sprachbewusstsein in der DDR soli hier aufPorsch 1988 verwiesen werden. 91 Hochschule fiir Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK), Untersuchung (Friihjahr 1999) des Absolventlnnenjahr­ gangs 1998 (vgl. Kirst 1999, Schlegell999b: 152ft) 92 wobei die ohnehin hohe Differenzierung des Einkommens durch das Berufsfeld (auch an der HTWK waren die 120

Grafik: Einkommensverteilung in den technischen Studiengangen 1998 (in absoluten Zahlen) (Quelle: Kirst 1999, Schlegel1999:153)

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Grafik: Einkommensverteilung in den nicht-technischen Studiengangen (1998 in absoluten Zahlen) (Quelle: Kirst 1999, Schlegel1999:154)

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c: 7 ~ 6 c: -g 5 E 4 0 0.3 0 2 1 0 bis 2.500 OM bis 3.500 OM bis 4.500 OM bis 5.500 OM bis 6.500 OM

Der Punkt: Immerhin die Halfte der Absolventinnen und Absolventen nimmt diese klaren unter­ schiedlichen Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt in Abhangigkeit von der Geschlechtszugehorig­ keit nicht wahr. Es ist an dieser Stelle sicher iiberfliissig nachzuweisen, dass solche eingeschrankte Wahrnehmung bei nicht so hochgebildeten und hocherwerbsmotivierten Menschen noch niedriger ausgepragtist.

Studienfacher- aufier Architektur- geschlechtsdifferent belegt, z. B. die technischen tiberwiegend von Mannem, Bi­ bliothekswesen und Sozialwesen von Frauen) vorab berticksichtigt wurde. 121

4. These: Die jungen ostdeutschen Frauen halten mehrheitlich- in quasi ,sozialer Vererbung" - am sogenannten doppelten Lebensentwurf und dabei an der sogenannten ,Enverbsneigung" ihrer Mutter Jest; beide Frauengenerationen machen daher neue problematische Entwick­ lungen durch. Warum? Insgesamt muss fur die Geschlechterverhaltnisse bzw. die Stellung/die Personlichkeitsent­ wicklung der Frauen in der DDR von einer groBeren sozialen Gerechtigkeil3 zwischen den Ge­ schlechtem und von einem , Gleichstellungsvorsprung" ( GeiBler 1993) ausgegangen werden.94 Zum einen trifft deshalb - innerhalb der ostdeutschen Transformationsprozesse - in diesem Bereich eine ,nachholende Modernisierung" nicht zu. Zum anderen kann es insofern nicht verwundern, dass die ostdeutschen Frauen (aber auch die Madchen und weiblichen Jugendlichen, also die ,Generation der in die DDR nicht mehr Eingestiegenen"- nach Lindner 1997} an. den damals gelebten bzw. iiber die Mutter erlebten und akzeptierten weiblichen Lebensentwiirfen festhalten, insbesondere an gewiinsch­ ter eigener Erwerbsarbeit und gleichzeitiger Realisierung von Familiengri.indung und Kinderwiin­ schen. Dies kollidiert massiv mit den gesellschaftlichen Verhaltnissen seit 1990 im allgemeinen und vor al­ lem mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere - den drastisch gewachsenen Anforderungen an zeitliche, territoriale und qualifikatorische Mobilitiit und Verfiigbarkeit; - den drastisch zunehmenden Diskontinuitaten in den Erwerbsbiografien, bes. den weiblichen (Stichworte: befristete Arbeitsverhaltnisse, unfreiwillige Teilzeitarbeit, ungeschiitzte I prekare Be­ schaftigungsverhaltnisse, Arbeits- und Langarbeitlosigkeit, Umschulung bzw. Weiterbildung, sog. MaBnahmekarrieren); - den mehrheitlich frauenbenachteiligenden Personalrekrutierungsstrategien der Arbeitgeber auf dem Ausbildungs- und Beschaftigungsmarkt. Letzteres gilt ubrigens auch und zunehmend fur den of­ fentlichen Dienst und fur den 2. (offentlich geforderten) Arbeitsmarkt, wie wir ki.irzlich fur Leipzig nachgewiesen haben. (Schlegel 1999b) Bei den ostdeutschen Frauen fuhrte und fuhrt das u. a. zu folgenden Entwicklungen: - Angesichts der neuen Schwierigkeiten, eigene Ausbildung I Erwerbsarbeit und Kinderwunsch zu vereinbaren, wird von den ostdeutschen weiblichen Jugendlichen mehrheitlich ersteres (zur eigenen Existenzsicherung) praferiert und zweiteres zuri.ickgestellt - entweder auf Dauer oder aber in der Biografie nach deutlich spater verschoben. - Der generelle Verzicht auj Familie und insbesondere auf Kind(er) nimmt drastisch zu bei lei­ stungsstarken und -motivierten, bei berufs- und karriereorientierten jungen Frauen.

93 im Sinne von Schmidts (1994) ,Spielregeln": Wettbewerb, Solidaritat, Chancengleichheit, Egalitat 94 Nicht zufallig gab es desha1b nach der deutschen Vereinigung - quasi als ,umgekehrten" Modernisierungsschub - in der wissenschaftlichen, offentlichen und po1itischen Diskussion eine Neuproblematisierung der Situation der west­ deutschen Frauen bis hin zur Neuverhandlung des (bis dahin festgeschriebenen) § 218. 122

- Ostdeutsche Frauen entwickeln neue Verhaltensmuster im Sinne von Kompromissen, urn erwerbs- tatig zu bleiben oder (wieder) zu werden. Neue Verhaltensmuster bei Frauen in abhangiger Erwerbsarbeit (und das sind die meisten) sind mehrheitlich Kompromisse- als (z. T. krampfhafte) Bemiihungen, ihrenArbeitsplatz zu behalten: Zum einen nehmen sie dafur ,freiwillig" und viel haufiger als Manner - durchaus reflektierte und als belastend empfundene- Arbeitnehmer-Regelungen und -Forderungen in Kauf. Das sind beispielswei­ se: Erwerbsarbeit und Bezahlung unter Qualifikation, Anderungsvertrage hin zur Teilzeitarbeit, Ar­ beitsvertrage ohne Arbeitszeitvereinbarungen und unbezahlte Arbeitszeiten iiber die vereinbarte hin­ aus, Diskriminierung von Verpflichtungen der Beschaftigten gegeniiber Kindern (und Offnungszeiten der Kindereinrichtungen). Gerade letzteres wird von den Frauen gegeniiber ,friiher" als auBerordent­

licher Riickschritt und als Druck wahrgenommen und ertragen ~ ebenso wie zunehmendes Mobbing und subtile Diskriminierungsmechanismen. Zum anderen werden in verschiedenen Untersuchungen (z. B. auch in staatlichen und kommunalen Verwaltungen) verbreitet Tendenzen zu Verhaltensweisen der Mitarbeiterlnnen (Frauen und Man­ ner) festgestellt in folgender Richtung: iibervorsichtige Entscheidungen, Nichtausnutzen durchaus gegebener Handlungsspielraume, Festhalten an I Verstecken hinter hierarchischen Strukturen ein­ schlieBlich (vorwiegend verschrifteter) Kommunikation von oben nach unten, Angst vor Verantwor­ tungsiibernahme und Risiko bei Entscheidungen- mit einem Wort: Rechtfertigungskultur in der Be­ rufsarbeit in der Absicht, keine F ehler zu machen und damit den Arbeitsplatz zu sichern. Bei arbeitslosen Frauen ist hinsichtlich der entwickelten Verhaltensstrategien, wieder in Erwerbsar­ beit zu kommen, interessant, dass sie zum einen hohere Bereitschaften als Manner haben und realisie­ ren, sich iiber Weiterbildungen, Umschulungen usw. beruflich neu zu orientieren (wenn auch oft mit zweifelhaftem Erfolg fur den 1. Arbeitsmarkt), dass sie zum anderen weniger auf die Hilfe des Staa­ tes I der Gesellschaft setzen als vielmehr auf ihre individuelle Initiative. Das ist interessant unter meh­ reren Aspekten, auf die in der 5. These eingegangen werden soli.

5. These: Ostdeutsche Frauen setzen sich eher individuell mit ihren Problemlagen auseinan- der, erkennen und realisieren kaum notwendige Solidarisierungsstrategien. Dies ist nicht nur den urnrissenen DDR-historischen und aktuellen Sachverhalten geschuldet (patriarchalisches Gleichberechtigungsverstandnis und seine paternalistische Durchsetzung in der DDR, Nichtwahrnehmung struktureller Benachteiligung, individuelle Losungsmuster), sondern auch mangelnden Erfahrungen mit einer Frauenbewegung95 und einer mehrheitlichen Distanz zum (westdeutschen) Feminismus:

95 Wir sind der Auffassung, dass es in der DDR keine Frauenbewegung gegeben hat, wenn auch zunehmend und ins­ besondere in den 80er Jahren zurn einen intellektuelle Frauen die Geschlechterverhaltnisse kritisch thematisiert haben (vgl. 3. These) und zum anderen Frauengruppen entstanden sind- vor allem innerhalb der Kirche sowie der Friedens­ und Umweltinitiativen und durch Lesben. (vgl. dazu Kenawi 1995) In Ubereinstimmung rnit Kenawi (ebd.: 8) meinen wir, dass einzelne Frauengruppen und -aktivitaten keine Frauenbewegung sind - im Unterschied zu ihr, dass auch nicht von einer staatlichen oder nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR gesprochen werden kann. (ebd.: 19ff) 123

=> Zum einen gingen die Bemtihungen der Geschichtsschreibung und Argumentationen in der DDR eher dahin, in eine btirgerliche und eine proletarische Frauenbewegung zu unterscheiden, anstatt deren Gemeinsamkeiten zu betonen. => Zum anderen wurde in der DDR die westdeutsche Frauenbewegung - vor allem tiber deren mili­ tanten (d. h. mannerfeindlichen) Teile - verzerrt dargestellt, nicht zuletzt deshalb, urn ihre eigenen Erfolge beztiglich der gesellschaftlichen Stellung der Frauen zu tiberhohen - mit nicht zu unter­ schatzenden aul3enpolitischen Effekten (wie auch Sporterfolge). =>Last but not least muss betont werden, dass der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) als die Frauenorganisation der DDR angesichts seiner Unterordnung unter die , fiihrende Rolle der SED" (einschlie131ich personeller Verflechtungen- s. Schlegel 1993: 13 ft) und angesichts seiner ,hausfraulichen" Hauptaktivitaten (vgl. ebd.) nicht dazu geeignet war, ein kollektives Bewusstsein der Frauen hinsichtlich der Geschlechterverhaltnisse in Gang zu setzen. Wenn sich unter ostdeutschen Frauen bis heute Tendenzen fortsetzen, ihre (klar qua Geschlecht und damit strukturell bedingten) Problem- und Konfliktlagen eher individuell und geschlechtsunsolida­ risch zu bewaltigen, muss dartiber hinaus auf eine DDR-sozialisierte hohe Verantwortungszuschrei­ bung fur Losungen an den Staat hingewiesen werden - was nur scheinbar ein Widerspruch ist.

Tabelle 1: Gleichberechtigung als Aufgabe des Staates versus jedes einzelnen ,Die Gleichberechtigung zu verwirklichen, ist das hauptsachlich Aufgabe des Staates oder hauptsachlich jedes einzelnen?" (in %) (Quelle: nach Gleichberechtigung 1996, S. 73)

Ost West gesamt wbl. ml. gesamt wbl. ml Anz. 1.006 500 506 1.511 749 762 des Staates 45 41 48 26 28 25 jedes einzelnen 50 53 47 70 68 72 weil3 nicht 6 6 5 4 4 4

Tabelle 2: Bemtihungen urn die Gleichberechtigung von Mann und Frau ,Glauben sie, dass fiir die Gleichberechtigung von Mann und Frau bisher zuviel, zuwenig oder genug getan wurde?" (in %) (Quelle: nach Gleichberechtigung 1996, S. 71)

Ost West gesamt wbl. ml. gesamt wbl. ml Anz.: 1.006 500 506 1.511 749 762 zuwenig getan 75 77 74 62 67 56 genug getan 21 19 22 33 28 38 zuviel getan 3 1 1 3 3 3 124

=> Im Vergleich zu den ,alten" Bundeslandern sehen die Ostdeutschen nach wie vor (wenn auch mit abnehmender Tendenz) neben vielen anderen Bereichen auch den der Gleichstellung der Ge­ schlechter in der Gesellschaft den Staat deutlich hoher in der Pflicht als die Biirgerinnen und damit sich selbst. (s. Tabellen 1 und 2) => Andererseits ( darauf wurde in der 3. These bereits eingegangen, vgl. Fuf3note) haben ostdeutsche Frauen ,gelernt", nach der offiziosen Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau in der DDR Mitte der 70er Jahre Konflikte in der Alltagsbewaltigung sich selbst zuzuschreiben und in­ dividuell zu befrieden. Beide Sachverhalte schlief3en sich nicht etwa aus, sondern ein beziiglich einer weiblichen Individuali­ sierung und mangelnden Solidarisierung bei der Bewaltigung frauentypischer Probleme. Eine spezielle individuelle Losungsstrategie besonders arbeitsloser alterer ostdeutscher Frauen (bekanntlich sinkt deren Alter immer weiter ab und sind sie ganz besonders von Arbeits- und Lang­ arbeitslosigkeit betroffen) stellt zunehmend - insbesondere unter den hochgebildeten - ihr Engage­ ment im Ehrenamt dar.

6. These: Das Ehrenamt - als eine traditionelle Form politischer Partizipation - ist unter ost­ deutschen Frauen · im Kern nicht politisch motiviert, sondern hat primar Ersatzfunktion fiir verwehrte Erwerbsarbeit. In Leipzig arbeiten Frauen besonders in den Altersgruppen ab 45 Jahre his unter 65 Jahre ehrenamt­ lich. Meist sind es hochqualifizierte Frauen, die in sozialen Projekten stark engagiert sind und vom 1. oder geforderten Arbeitsmarkt verdrangt wurden. Als Motive stehen fur sie im Vordergrund: die Nutzung der beruflichen Kompetenz, die Erhohung der Chancen eines beruflichen Wiedereinstiegs, das Bediirfnis nach Arbeitsbeziehungen, die Realisierung von Interessen, Kniipfen und Erhalten von Sozialkontakten. Die ehrenamtlichen Aktivitaten helfen, eine fur sie sinnerfullte und fur die Gesell­ schaft nutzliche Tatigkeit auszuiiben - damit sind sie fur die Frauen quasi eine Alternative ( oder bes­ ser: ein Ersatz) fur Berufsarbeit, deren Chancen gegen Null gehen. Tatigkeitsfelder ehrenamtlicher Arbeit der Leipzigerlnnen sind vor allem: Seniorenarbeit (mit Ab­ stand an erster Stelle infolge ihrer Relevanz angesichts des drastisch weiter ,alternden" demografi­ schen Baums), Sport, Umwelt und Wohngebiet, Frauenarbeit, soziale und kulturelle Projekte, Ge­ sundheit, multikulturelle Arbeit, Kinder- und Jugendarbeit- dies in mehr als 1.500 Vereinen, Biirger­ initiativen und kirchlichen Einrichtungen. Angesichts knapper Finanzmittel wird neuerdings der Ruf laut nach zusatzlichen Ressourcen. Be­ kanntlich wird deshalb aktuell das abnehmende bzw. fehlende ehrenamtliche Engagement der (Ost­ )Deutschen haufig offentlich beklagt; verbreitete Erklarungsmuster dafur sind vor allem ein fehlender Milieubezug ehrenamtlicher Tatigkeit und ihre mangelnde offentliche Anerkennung. Die Spezifik des Ehrenamts in den neuen Bundeslandern, das ganz iiberwiegend von arbeitslosen alteren Frauen ge­ leistet wird, weist demgegenuber auf einen deutlichen generellen Wandel des Ehrenamts hin : Die 125

erwerbstatigen Frauen und Manner stehen mehrheitlich unter hohen zeitlichen Belastungen (einschlief3lich notwendiger zeitlicher und raumlicher Flexibilitat) und ziehen sich deshalb mehr oder weniger aus ehrenamtlicher Tatigkeit zuriick; und die arbeitslosen Frauen suchen und finden im Eh­ renamt zunehmend eine direkte Ersatzfunktion fiir Erwerbsarbeit. 96 Dber den unbestrittenen individuellen und gesellschaftlichen Wert ehrenamtlichen Engagements hin­ aus soli hier aber auf seine Brisanz hingewiesen werden: - dass zum einen ehrenamtliches Engagement gegenwartig Gefahr lauft, statt Erganzung I Unterstiit­ zung z. B. sozialer Arbeit oder im Kern staatlicher I kommunaler Aufgaben zu deren Ersatzlosung zu werden, so hauptamtliche Tatigkeiten zu ersetzen und einen zusatzlichen Arbeitsmarkt zu gene­ rieren, und - dass zum anderen die existentielle Konfliktsituation arbeitsloser Frauen .angesichts des engen Ar­ beitsmarkts ausgenutzt wird, indem sie ihre Kompetenzen kostenneutral (nur fiir Unkosten, vgl. Aktion 55, 50+) zur Verfiigung stellen.

7. These: Die neuen strukturellen Benachteiligungen ostdeutscher Frauen schlagen sich deut- Iich nieder in (neuen) politischen Einstellungsmustern. Wenn zunehmende strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen von ostdeutschen Frauen mehrheitlich von ihnen nicht als solche wahrgenommen werden, sondem daraus resultierende Pro­ blemlagen eher individuell bewaltigt werden und (noch) nicht zu weiblicher Solidarisierung und poli­ tischen Aktionen fiihren, so zeigen sich doch interessante (und bedenkliche) Auswirkungen auf ihre politischen Einstellungen. Bei letzteren beschranken wir .uns im folgenden auf Parteipraferenzen, Selbsteinordnung im Links­ Rechts-Spektrum ( einschl. Rechtsextremismus) und Auslanderfeindlichkeit und dabei wiederum auf 97 neuere empirische Befunde unter ostdeutschen Jugendlichen , weil gerade unter Jugendlichen die Realisierbarkeit ihrer Lebensentwtirfe (,Vereinbakeit") evident zur-Disposition steht. Rund die Halfte der ostdeutschen Jugendlichen fiihlt sich 1998 - und durchgangig seit 1993 (vom Wahljahr 1994 abgesehen) - von keiner der Parteien vertreten; dies triffi fiir weibliche Jugendliche (51%) in noch hoherem MaBe zu als fiir mannliche (44%). Insgesamt wird mit 18% am haufigstem die SPD genannt, gefolgt von der CDUICSU rnit 12%. (s. Tabelle 3) Dabei sind deutliche Zusammenhange nachweisbar - und das kann nicht tiberraschen - mit der Selbsteinstufung der Jugendlichen in das Links-Rechts-Spektrum: Die Geschlechtergruppen unterscheiden sich insofem, als sich deutlich mehr mannliche als weibliche Jugendliche rechts positionieren und die weiblichen haufiger eine Mittelposition einnehmen. (s. Ta­ belle 4)

96 In der DDR waren die Frauen - im Unterschied zu den westdeutschen - in aller Regel neben oder sogar innerhalb ihrer Vollerwerbsarbeit ehrenamtlich tatig: im Elternbeirat der Schule, in der Gewerkschaft usw. 97 Datengrundlage: Siichsische Jugendliingsschnittstudie von Forster 1987-2000. (s. Forster 1999 und 2000, Schlegel 2000) 126

Letzteres triffi bekanntlich auch deutlich zu auf die Auspragung rechtsextremer Orientierungen - so auch bei den 25-Jahrigen. 98

Tabelle 3: Erleben der Interessenvertretung durch die Parteien 1993 - 1998 ,Von welcher Partei fuhlen Sie sich am besten vertreten?" (in%) (Quelle: nach Forster 1999: 93)

1993 1994 1995 1996 1998 ges. wbl. ml. SPD 10 14 9 11 18 19 17 CDU/CSU 5 20 20 16 12 9 16 Republikaner 5 3 2 3 2 1 3 Bi.indnis 90/Gri.ine 16 11 9 10 6 6 5 PDS 7 16 14 9 11 11 12 FDP 4 2 1 2 2 2 1 von einer anderen 1 2 0 0 1 0 3 von keiner 52 32 45 49 48 51 44

Tabelle 4: Positionen im Links-Rechts-Spektrum ,Uber Jahrzehnte hates sich eingebi.irgert, bei politischen Standortbestimmungen zwischen 'links' und 'rechts' zu unterscheiden. Wie ordnen Sie sich ein?" (in%) 1=links, 2=eher links als rechts (hier: 1+2), 3=weder noch 4=eher rechts als links, 5=rechts (hier: 4+5), 0 Das weif3 ich (noch) nicht (Quelle: nach Forster 1999: 95£)

1992 1993 1994 1995 1996 1998 ges.wbl.ml. links/eh er l. 36 34 38 31 28 28 29 26 weder noch 39 49 50 54 58 57 60 53 eher r./rechts 16 11 9 11 11 12 5 20 weif3 nicht 9 6 3 4 3 3 6 1

Diese und andere Zusammenhange hinsichtlich Auslanderfeindlichkeit (in Ostdeutschland) scheinen bezi.iglich der aktuellen und hochst kontrovers gefuhrten Debatte urn ihre Wurzeln (,DDR-Erbe" vs. 99 ,Nachwende-Folgen" ) zumindest fur ostdeutsche junge Frauen weniger deren DDR-Sozialisation als vielmehr ihre aktuellen Problemlagen zu belegen.

98 Forster hat rechtsextreme Orientierungen mit einer Batterie erfasst, die folgende Aspekte des Rechtsex'tremismus­ Syndroms enthalt: nationalistische Einstellungen, Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus, Autori­ tarismus, Einstellung zur Gewalt. Die Tabelle stellt eine komplexe Analyse dieser Batterie dar - deshalb keine Indika­ tor-Nennung in der Tabellen-Oberschrift. 99 vgl. beispielsweise die Auftritte und Publikationen von Pfeiffer, der ersteres behauptet, oder auch differenziertere Debatten wie in der Friedrich-Ebert-Stiftung/Biiro Leipzig, z. B. am 18.1.2001 ,Rechtsextreminsmus mit ostdeut­ schem Gesicht"- Erbe der DDR oder Produkt der Nachwende-Gesellschaft? mit J. C. Behrends vs. T. Abbe) 127

Tabelle 5: Rechtsextreme Orientierungen 1998 (in %) (Quelle: nach Forster 1999: 172ft)

stark mittel schwach wbl. 28 28 44 rnl. 42 33 25 Parteibindung Republikaner 86 14 0 CDU/CSU 47 31 22 SPD 36 32 32 FDP 33 50 17 PDS 15 24 61 Bundnis 90 I Griine 5 38 57 keine 35 30 35

Wahrend demnach Rechtsextremismus ein eher mannliches Phanomen darstellt (s. Tabelle 5)- und in der veroffentlichten Meinung verbreitet auch so wahrgenommen wird, scheint zunachst uberra­ schend, dass sich ostdeutsche weibliche und mannliche Jugendliche nicht unterscheiden hinsichtlich ihres emotionalen Verhdltnisses zu Ausldndem, wenn etwa ein Drittel klar gegen I mehr gegen als fur Auslander ist. (s. Tabelle 6) Diese unerwartete Obereinstimmung zwischen jungen Frauen und Mannem - trotz starkerer rechtsextremer Orientierungen bei den jungen Mannem - liegt ganz offen­ sichtlich darin begriindet, dass folgender deutlicher Einfluss nachweisbar ist: Je schwacher die Zu­ versicht entwickelt ist, berufliche Plane verwirklichen zu konnen (und die ist bei jungen Frauen rea­ listischerweise deutlich schwacher), desto starker ist die Ablehnung von Auslandern. 100 Dariiber hin­ aus tragt offenbar die (bei weiblichen Jugendlichen deutlich hohere und die mit der Angst vor Ar­ beitslosigkeit korrelierende) Angst vor einer personlichen Notlage zur Ablehnung von Auslandem bei.

Insgesamt sind politische Einstellungs- und Verhaltensmuster ostdeutscher Frauen gegenuber dem heutigen gesellschaftlichen System kritischer und distanzierter als die der Manner und (implizit und unausgesprochen) eher ,links". Dem Staat DDR standen sie bekanntlich in ihrer Mehrheit immer na­ her als die Manner. Hier scheint mir die Schlussfolgerung angebracht, dass Einstellungen zum eige­ nen Staat I Gesellschaftssystem primar nicht politische, sondern eher pragmatische Einstellungen in­ sofem sind, als direkt davon abhangig, ob dieser Staat gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorgibt fur die Realisierung massenhaft gewollter modemer weiblicher Lebensentwiirfe, insbesondere eigener Erwerbsarbeit und Existenzsicherung. Die scheint auch heute ein legitimer Anspruch zu sein, denn es gehort ,inzwischen zu den Selbstverstandlichkeiten der empirischen Demokratieforschung, dass die Akzeptanz der Demokratie nicht zuletzt von deren Fahigkeit abhangt, den Burgern (hier: den Bur-

100 Vermutlich nimmt noch immer ein Teil van ihnen an, dass Auslander die eigenen Chancen auf einen Ausbildungs­ oder Arbeitsplatz einengen (einschl. Schwarzarbeit, Beschaftigung unter Tarif). 128 gerinnen! US.) ein angemesssenes wirtschaftliches Auskommen zu sichern." (Kaase/Bauer-Kaase 1998)

Tabelle 6: Emotionales Verhaltnis zu Auslandern 1998 ,Wie ist- ganz allgemein- Ihre Einstellung zu Auslandem?" Ich bin gefuhlsmaBig 1=klar gegen Auslander, 2=mehr gegen als fur Auslander, 3=weder gegen noch fur Auslander, 4=mehr fur als gegen Auslander, 5=klar fur Auslander (in %) (Quelle: nach Forster 1999: 177ft)

1 2 (1+2} 3 4 5 (4+5} gesamt 5 27 (32) 43 18 7 (25) wbl. 5 26 (31) 44 17 8 (25) ml. 7 27 (34} 43 19 4 (23} berufliche Zukunftszuversicht sehr zuversichtlich 6 22 (28) 31 29 12 (41) 2 4 25 (29) 45 18 8 (26) 3 8 27 (35) 48 15 2 (17) 4+5 kaum/iiberhauQt nicht zuversichtlich 7 32 (50} 34 13 3 (16} Sicherheit des Arbeits-/Ausbildungsplatzes vollig sicher 11 11 (22) 39 28 11 (39) ziemlich sicher 5 30 (35) 41 17 7 (24) ziemlich/vollig unsicher 4 28 (32} 50 16 2 (18} Angst vor einer personlicher Not/age stark 9 30 (39) 40 16 5 (21) schwach 3 25 (28) 45 20 7 (27)

AbschliejJend und zusammenfassend: Die ,beschrankteren Moglichkeiten" ostdeutscher Frauen und ihre strukturelle Benachteiligung fuh­ ren (noch) nicht zu hoherem politischen Engagement und zu einem ·Protestpotential, sondern eher zu einem weiteren Riickzug und zu anderen inadaquaten Reaktionen, wie - Nichtwahrnehmung von Benachteiligung als strukturelle qua Geschlechtszugehorigkeit, - subjektive Individualisierung von Problemlagen, - Entsolidarisierung der Frauen, - auslanderfeindliche Potentiale. Hier liegt fur uns Frauen ein wichtiges - wenn nicht das wichtigste - Betatigungsfeld: Wenn wir in diesen Entwicklungen nicht Veranderungen nach vorne schaffen, schaffi: man uns!

Literatur

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FrauenOrte - eine Moglichkeit in Sachsen-Anhalt, Frauengeschichte heute prasent zu machen

Dr. Elke Stolze (Halle I Dessau)

In Sachsen-Anhalt entstanden seit der Wende wie in anderen BundesHindem eine Vielzahl van Pro­ jekten, die sich Frauengeschichte zuwenden - nicht selten als ABM oder initiiert und getragen durch Gesellschaften wie die Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, durch Vereine wie Courage e. V. Halle oder durch die Forschungsstelle Katharina-von-Bora-Jubilaum bei der Evangelischen Akademie Sachsen­ Anhalt In Vorbereitung der Expo wurde in Dessau. eine landeseigene Expo-GmbH Mitte der 1990er J ahre gegriindet. Hier entstand auch ein Frauenarbeitskreis Sachsen-Anhalt-Frauen-Initiativ-Runde (SAFIR), dessen Wirken sich auf Frauenbeteiligung und Beriicksichtigung van Fraueninteressen bei Expo-Projekten richtete. Der Arbeitskreis SAFIR widmete sich vielfaltigen Themen. Im Expo-Jahr 2000 konnen die Frauen mit Stolz auf zwei besondere Ergebnisse ihres Engagements verweisen: auf das Bunte Shia-Carre ( ein Wohn- und Arbeitsprojekt fur Alleinerziehende) sowie auf die FrauenOrte, ein Projekt zur Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt. Als 1998 im Kraftwerk Vockerode die Landesausstellung ,mittendrin" der Offentlichkeit vorgestellt wurde, war dies wieder ein Beispiel mehr fur die Dokumentation van 1000 Jahren Geschichte ohne weibliche Beteiligung. V or diesem Hintergrund reifte im Arbeitskreis die Idee von einer Ausstellung zur regionalen Frauengeschichte in eben dieser zeitlichen Dimension. Leider konnte das Ausstel­ lungsvorhaben in der kurzen zur Verfugung stehenden Zeit bis zum Expo-Jahr infolge des unzurei­ chenden Forschungsstandes und fehlender finanzieller Mittel nicht realisiert werden. Die Expogesell­ schaft stellte die Aufgabe, bisherige Vorarbeiten fur das Ausstellungsvorhaben in einem Projekt auf­ zuheben, das sowohl Ergebnisse von Projekten zur Frauengeschichte dokumentiert als auch in geeig­ neter Form Frauengeschichte sichtbar werden lasst. ImHerbst 1999 stellte ich gemeinsam mit dem Geschaftsfuhrer der Expo 2000 Sachsen-Anhalt GmbH der Frauenministerin des Landes Sachsen­ Anhalt das Projekt FrauenOrte vor. Die Grundidee war tiberzeugend: Jeder Ort in Sachsen-Anhalt hat Hauser und Platze, die Geburtsort, Lebens- und Wirkungsstatte oder Treffpunkte van Frauen waren oder sind. Diese Orte spiegeln alltagliches Erleben wider, erschlief3en soziale Beztige und Be­ ziehungen, lassen Handlungsmotive und -raume van Frauen einst und jetzt deutlich werden- lassen Geschichte lebendig werden. Erstmals werden im Zuge dieses Projektes Orte in Sachsen-Anhalt, die Frauengeschichte erzahlen, nut einer Tafel gekennzeichnet. Die thematischen Schwerpunktsetzungen des urspriinglichen Ausstel­ lungsprojektes lieferten die Auswahlkriterien. Wichtig war uns auf3erdem, dass vor Ort oder in der Nahe Ansprechpartnerlnnen (entweder in Museen oder durch bestehende Projekte) vorhanden sind. So wurden vom 31. Mai bis 20. Dezember 2000 insgesamt 22 ausgewahlte Orte als FrauenOrte ge- 132

kennzeichnet, die durch das gleichnamige Buch des Mitteldeutschen Verlages101 thematisch vernetzt werden. Erstmals werden mit diesem Projekt Ergebnisse auf3eruniversitarer Frauenforschung mit jenen insti­ tutioneller Forschungen zusammengefuhrt. Das ist bundesweit bisher einmalig. Wer sich auf Spurensuche begibt, entdeckt Interessantes, zum Teil Vergessenes und bisher wenig Beachtetes. Die FrauenOrte ermoglichen Einblicke in Lebens- und Arbeitswelten von Frauen in un­ terschiedlichen Zeitbeziigen. Kloster und Stifte galten im Mittelalter als Moglichkeiten eigenstandiger weiblicher Existenz, ja auch als Alternative zur Ehe. Hier erhielten Frauen Bildungsmoglichkeiten, die seit Beginn des 13. Jahrhunderts nicht mehr nur Privileg einer adligen Oberschicht waren. Fraue­ nOrte wie das Kloster Helfta in Lutherstadt Eisleben, das Schlossmuseum in Quedlinburg oder auch das Museum Schloss Neuenburg in Freyburg/ Unstrut gewahren hierzu Einblicke. In Zorbig (Landkreis Bitterfeld) blickt die Johanniter-Kindertagesstatte ,Rotkappchen" auf eine gro­ f3e Tradition zuriick- deutschlandweit der alteste, seit seiner Grtindung (1846) nach der Frobelschen Idee arbeitende und seither ununterbrochen im gleichen Gebaude existierende Kindergarten. Bereits 1926 griindeten die Leuna-Werke einen Betriebskindergarten - den ersten in Deutschland. Neben dem Leuna-Werk ist der Kindergarten ,Am Sonnenplatz" ein wahrer FrauenOrt. Tatigkeitsfelder der Lehrerin, Erzieherin oder Kindergartnerin gehoren zu den fiiihen gesellschaftlich akzeptierten Erwerbsbereichen fur Frauen und - wie u. a. am FrauenOrt Droyf3ig (bei Zeitz) zu erfah­ ren ist - auch zu den ersten Ausbildungsberufen fur Frauen. Unsere Spurensuche in Halberstadt machte uns auf Minna Bollmann aufinerksam. Die SPD schickte sie in den 20er Jahren als Spitzenkandidatin (!) im Wahlkreis Magdeburg-Halberstadt in den Wahl­ kampf zum Preuf3ischen Land tag. Die Puppenmacherin und Unternehmerin Kathe Kruse, Jenny von Westphalen, Katharina die Grol3e (eine Zerbster Prinzessin), Dorothea Erxleben (die erste deutsche Arztin), Caroline Neuber, Frauen an der Burg Giebichenstein Halle oder am Bauhaus, Kurfurstin Anna oder Olga Benario im Schloss Lichtenburg in Prettin - sie alle und andere ermoglichen biografische Zugange zur Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt. So vermittelt, werden Wirken und Leistungen von Frauen - selbstverstandliche 102 wie besondere- sichtbar . Der Prozess der Kennzeichnung der inzwischen 22 Frauen0rte103 war von einer breiten Offentlich­ keit begleitet. Wir fanden vor Ort grof3e Sympathie und Unterstiitzung, nicht zuletzt zuriickzufuhren auf die regionalen Bezogenheit, den jeweiligen thematischen Bezug und die Symbolhaftigkeit der FrauenOrte. Es zeigt sich auch, dass die FrauenOrte verschiedene individuelle Zugange ermoglichen und Auseinandersetzungen mit historischen Prozessen und auch tradierten Frauenbildem und Rollen-

101 FrauenOrte. Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt. Herausgegeben von der E>..rpo 2000 Sachsen-Anhalt GmbH/ Elke Stolze. Halle: mdv, 2000 102 Das Projekt wurde u. a. durch Vera Hertlein lebendig besprochen in: et. Magazin der Regionen 2/2000 unter dem Titel FrauenOrte in Sachsen-Anhalt. Ein E}.rpo-Projekt macht Geschichte. 103 weiteres in der Internetprasentation unter www.frauenorte.net. Eine kleine Wanderausstellung informiert iiber das Netz der FrauenOrte (Stand 2000); sie ist ausleihbar. 133 verstandnissen befdrdern. Die Diskussionen urn die Kennzeichnung des ersten Landtages von Sach­ sen-Anhalt nach dem II. Weltkrieg in Halle lassen die politische Dimension von Frauengeschichte in einer patriarchalen Gesellschaft besonders deutlich werden. Das Netz der FrauenOrte in Sachsen-Anhalt wird durch weitere Knoten104 zukiinftig erweitert und auch weitere Forschungen zur Frauengeschichte initiieren.

104 Das Projekt FrauenOrte wird als Landesprojekt in der Tragerschaft des Courage e. V. Halle nach der Expo weiterge­ fuhrt. Anfragen konnen an die Adresse: Courage e.V. Halle, Schleiermacherstrafie 39, 06114 Halle (Tel./ Fax: 0345/ 5223777) gerichtet werden. 134

Feme Schwestern Bulgariens: Zur Frauenvereinigung MAIKA105 ( angemeldeter Diskussionsbeitrag) Lisa Albrecht-Dimitrowa (Halle)

Zu den Moglichkeiten, Frauengeschichte heute priisent zu machen, mochte ich ein Projekt von Hal­ lenser Frauen vorstellen, das zu Frauenorten und Frauengeschichte iiber Landesgrenzen hinaus fuhrt und vielleicht Unerwartetes, Oberraschendes fur Sie bereit halt. Im September 1998 reisten Frauen aus Sachsen-Anhalt auf Initiative der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt nach Vama!Bulgarien. Thema ihrer Studienreise war ,Feme Schwestem Bulgariens" - eine Informationsreise zur Situation und zu den Problemen der Frauen im ehemaligen sozialisti­ schen Bruderland Bulgarien, vielen von schonen Urlaubstagen her bekannt. Ich nahm an dieser Reise teil. In einem Seminar mit Vertreterinnen verschiedener Frauengruppierungen und · -initiativen lemte ich u.a. auch die Vertreterin der Frauenvereinigung MAIKA (Vama), Frau Ginka Kaltschewa, kennen, zuniichst ohne gr613eres Wissen zu dieser Institution. Ende 1998 erreichte mich ein Brief, in dem auch von der ehrenamtlichen Arbeit der MAIKA-Frauen die Rede war. Ich selbst habeviel vom schweren Alltag fern von den Touristenzentren und im unmit­ telbaren Umfeld meiner eigenen Familie in Plovdiv und anderen Stiidten erfahren. Dass Frauen, selbst oft von Arbeitslosigkeit und existentiellen Problemen betroffen, sich so engagiert fur die noch Be­ diirftigeren und Schwiicheren einsetzten und zu gleicher Zeit Millionen fur Kriegshandlungen auf dem Balkan verpulvert wurden, das hat mit den Ausschlag gegeben, die Spendenaktion fur - wie es zuerst hiel3- das ,Projekt MAIKA" ins Leben zu rufen und mit Hilfe der fine-Gruppe106 zum Laufen zu bringen. Die erste Spendenaktion erbrachte bis Ende August 1999 insgesamt 1.250,- DM, die ich Frau Kalt­ schewa am 5.9.1999 in Plovdiv iibergab. FiinfHeime fur Kinder und Jugendliche konnten davon un­ terstiitzt werden. Wieviel Freude die relativ geringen Summen auslosten, brachten die Verantwortli­ chen fur die Heime in personlichen und offiziellen Schreiben zum Ausdruck. Gespendet hatten die fine-Frauen und die Seniorlnnen und Mitarbeiter des BURGERLADENS sowie Einzelpersonen, Freunde und Bekannte. Im Zeitraum Miirz bis Ende Mai 2000 lief die zweite Spendenaktion, die letztlich die beachtliche Summe von 2.110.- DM erbrachte. Am 3. Juni 2000 starteten drei fine­ Frauen mit Spendengeld und drei prallen Koffem mit Kindersachen Richtung Vama, natiirlich mit grol3en Erwartungen und der Vorfreude auf den direkten Kontakt zu den MAIKA-Frauen.

105 Der Beitrag wurde erarbeitet unter Zuhilfenahme - der ,Jubilaumsschrift und Rechenschaftsbericht zur 50jahrigen Tiitigkeit der Frauen-Vereinigung MAIKA-Vama 1888-1939". Varna 1940 (Original in Bulgarisch) sowie -des handschriftlichen Berichtes von Ginka Kaltschewa vom September 1998, Vama. 106 Die fine-Gruppe (,frauen in neustadt") ist eine Selbsthilfegruppe fur altere Frauen, die seit 1993 im BURGERLA­ DEN e. V. Halle- Neustadt besteht. 135

Hier erlebten wir eine Woche die traditionelle Gastfreundschaft in der Familie von Ginka Kaltsche­ wa, hatten Zeit und Gelegenheit, uns viel voneinander zu erzahlen und kennenzulernen. Und wirer­ fuhren mehr iiber MAIKA und ihre beeindruckenden, engagierten und liebenswerten Frauen. Die Ubergabe der Spendengelder und der Kindersachen an ihre Vorsitzende, Frau Ekaterina Radewa, im Beisein anderer Mitgliedsfrauen war der Hohepunkt unserer Reise, zumal wir in zwei Heimen der Stadt Vama gesehen hatten, wie wichtig doch solche kleinen privaten Aktionen sein konnen und dass die Spenden wirklich an die richtige Adresse kommen. Neben dem Kinderheim (fur Waisen und ver­ lassene Kinder bis zu 6 Jahren) und dem Heim fur Jungen und mannliche Jugendliche (Schule mit Wohnheim) lernten wir auch ein Seniorenheim (Senior/Innen ab 60 Jahre) und seine engagierte Lei­ tung kennen. Die Leiterinnen der drei Heime sind Mitglieder in MAIKA. Seit dieser Reise wissen wir auch mehr iiber MAIKA. Und das; was wir erfahren konnten, hat uns wirklich iiberrascht und beeindruckt. Am 19.3.1996 wurde in Varna die Frauenvereinigung MAIKA nach 50 Jahren wiedergegriindet. In den funfkopfigen Vorstand wahlten die ersten 40 Mitgliedsfrauen auch Ginka Kaltschewa als stell­ vertretende Vorsitzende. Am 8.9.1996 fand in der Kirche ,Heiliger Atanassi" die feierliche Namens­ gebung statt, nachdem das Gericht die Wiederaufnahme des alten Namens bewilligt hatte. Mit der Eintragung im Vereinsregister waren die rechtlichen Grundlagen gegeben, dass MAIKA Varna wie­ der einen wichtigen Platz im offentlichen Leben der Stadt einnehmen konnte, nicht zuletzt auch ge­ boren aus der Notwendigkeit, angesichts der schwierigen Gesamtlage des Landes und der Stadt auf sozialem Gebiet zusatzliche Hilfen auf ehrenamtlicher Basis zu organisieren. MAIKA ist Mitglied der Ende 1993 wiedergegriindeten Bulgarischen Frauen-Union (Sitz in Sofia) und wurde im Mai 1998 gleichberechtigtes Mitglied der Schwarzmeer-Assoziation der Frauen (Sitz in Burgas). Mit den Wiedergriindungen von Frauenorganisationen und -vereinigungen wurden in Bulgarien nach der Wende Traditionen aus dem 19. J ahrhundert neu belebt und ins offentliche Gedachtnis zuriickge­ holt - aus einer Zeit bedeutender bulgarischer Geschichte in. unmittelbarem Zusammenhang mit den Kampfen gegen die iiber 500 Jahre wahrende Tiirkenherrschaft und den Traditionen und Zielen der sog. Wiedergeburtsbewegung in der 2. Halfte des 19. Jahrhunderts. Die ersten 50 Jahre des Wirkens der Frauenvereinigung MAIKA wurden aus Anlass des Jubilaumsjahres 193 8 in einer Broschiire do­ kumentiert. Schon das erste Durchblattern wurde zu einer interessanten Reise in die bulgarische Ge­ schichte, vor allem aber in die Geschichte von sozialer, kulturpolitischer und Bildungsarbeit von Frauen fur Frauen, Familien, Madchen und alte Menschen. Die Wurzeln von MAIKA liegen also in den engagierten Bemiihungen einer relativ kleinen, aber sehr aktiven Gruppe von Varnaer Bi.irgerinnen und ihren Familien vor i.iber 110 Jahren. Die wohltatige gemeinni.itzige Frauenvereinigung MAIKA wurde am 30.12.1888 auf Initiative des damaligen Bi.irgermeisters von Varna, Christo Mirski, und seiner Ehefrau Stefania ins Leben gerufen und als wahrscheinlich erste bulgarische Wohltatigkeitsorganisation registriert. Die feierliche Na- 136

mensgebung erfolgte am 24.3.1893 auf Beschluss der Vollversamrnlung mit der Begriindung, dass die Organisation den Namen MAIKA (,Mutter") tragen solle ,als dem Gleichwertigsten mit deren Zielen". In ihrer Rede vom 21.5.1939 wiirdigte die damalige MAIKA-Vorsitzende, Dr. Ljuba Swrakowa, die Leistungen der Vamaer Frauen: ,Nur 10 Jahre nach der Befreiung107 haben wenige bulgarische Frau­ en in Vama die Grundlage geschaffen fur eine wohltatige Organisation, die sich weite gesellschaftli­ che und erzieherische Ziele gestellt hatte und sich stark machte, mit schnellen Schritten die Errun­ genschaften der fortgeschrittenen Volker fur Wohlstand und Bildung seiner Kinder und der kleineren Schwestem zu erreichen. Wir miissen die Stadt Vama vor 50 Jahren kennen, Vama mit seinem orien­ talischen Gesicht, urn die Wichtigkeit dieses gesellschaftlichen Beginns durch die Frauen in unserer Stadt zu werten. Sie ist gewachsen in einer Zeit, als sich das Nationalbewusstsein in einem kleinen Teil bulgarischer Familien hier gefestigt hat, die sich starkten mit allem kulturellen Erbe, urn die Sprache und das Na­ tionalgefuhl unter die verbliebenen Burger Vamas zu tragen. Angesichts dieser misslichen Bedingun­ gen, unter denen sich die erste Frauenorganisation hier zu entwickeln begann, miissen wir uns vor der Groi3tat dieser Arbeiterinnen vemeigen und den 30. Dezember 1888 als historisches Datum im gesellschaftlichen Leben nicht nur der Vamaer Frauen, sondem auch als Ereignis von Bedeutung fur die ganze Stadt werten. Heute sind wir gliicklich, uns zu gratulieren zu einer 50jahrigen beharrlichen Arbeit der Frauenorga­ nisation MAIKA, die notwendig war, urn viele Schwierigkeiten zu iiberwinden, urn viele Herzen zu vereinen, urn sich auseinanderzusetzen mit groben Traditionen und urn mit Wiirde die Krafte des bulgarischen Geistes und der Sprache hochzuhalten." 108 In ihrem ersten Programm stellten sich die MAIKA-Frauen folgende Ziele, die (bei im Laufe der Jah­ re notwendigen Veranderungen) in ihrem Grundanliegen erhalten blieben: 1. den armen Bulgarinnen in der Stadt, den Witwen und Waisen zu helfen, aber besonders die befa­ higten armen Schiilerinnen in ortlichen bulgarischen Bchulen zusammenzufassen; 2. sich darum zu bemiihen, dass die Vamaer Biirgerinnen das Vereinsleben studieren; 3. Sorge zu tragen fur die geistige und sittliche Entwicklung ihrer Mitglieder; fur dieses Ziel wird schrittweise eine Bibliothek und ein Lesesaal fur Frauen eingerichtet; 4. dafur zu arbeiten, dass baldmoglichst eine technische Madchenschule109 eroffnet werden kann. Aus diesen Zielstellungen ist ersichtlich, welche urnfangreichen Aufgaben sich die Organisation vor­ genommen hatte, urn den , kulturellen Aufschwung Vamas durch die gebildete Frau und Mutter" zu erreichen.

107 gemeint ist: von der tiirkischen Fremdherrschaft 108 JubiHiumssarnmelband und Rechenschaftsbericht zu 50 Jahren Maika 1888 - 1939 (vgl. Abbildung), S. 19f (Dbersetzung aus dem Bulgarischen- auch folgender Tex1stellen: Lisa Albrecht-Dirnitrowa) 109 auch irn Sinne von: Wirtschaftsschule, Hausfrauenschule, Hauswirtschaftsschu1e 137

1897 wurde auf Vorschlag der darnaligen Vorsitzenden, Dr. Anastasia Sheljaskowa, beschlossen, die erste Berufsschule fur Madchen in der Stadt (genannt ,Liebe zur Arbeit") zu eroffnen. Ziel der Schule sollten die Bildung und Vorbereitung der Madchen aus arrnen Farnilien sein, urn aus ihnen gute Hausfrauen und gebildete Mutter zu rnachen und darnit das Niveau einfacher Farnilien anzuhe­ ben. Gleichzeitig sollte aber auch den arrnen (unbernittelten) Madchen Beschaftigung gegeben wer­ den, darnit sie sich rnit ehrlicher Arbeit emahren und ihre Farnilien unterstutzen konnten. Weitere Mal3nahrnen waren die Befreiung von Schulgeldzahlungen, Versorgung rnit Lehr- und Hilfsrnitteln, Kleidung und Schuhen. Irnrner einbezogen in die Zielstellung war die Sorge urn die geistige und sitt­ lich-rnoralische Entwicklung der Madchen. Ein anderes Beispiel kann die Breite der gesellschaftlichen Arbeit der MAIKA-Vereinigung ebenfalls veranschaulichen: 1895 wandten sich die Frauen rnit einer Bittschrift an die zustandige Verwaltung, in der sie dringend ersuchten, hygienische kornrnunale Wohnungen fur die arrne Bevolkerung Vamas zu bauen, die in den Aul3enbezirken in Elend, in unhygienischen Hutten leben rnusste, in denen Hun­ derte von Vamaer Kinder umkarnen. Die Bilanz 50jahriger aufopferungsvoller Arbeit der MAIKA-Frauen wird 1938 als erfolgreich dar­ gestellt. Sie hatten an allen kulturellen und gerneinnutzigen Initiativen der Stadt rnitgewirkt, sie sogar oft selbst angeregt. Hauptziel blieb uber die Jahre die Bildung der Vamaer Frauen. Bereits ab 1890 organisierte MAIKA unentgeltliche Vortrage fur Frauen, spater auch unentgeltliche Kurse fur Schneidem und Kochen. Die Bildungs- und Kursangebote wurden standig erweitert und erreichten irn Prograrnrn der (1932 aus der Schule , Liebe zur Arbeit" hervorgegangenen) ,Praktischen Gewer­ beschule" eine grol3e Vielfalt. Das Motto blieb ,Bildung, Arbeit und Gutes schaffen". So gab es Praktika fur Ober- und Unterbekleidungsfertigung, Handarbeit, Kurse fur bulgarische Sprache, Zeichnen und Materialkunde, Unterricht in Arbeitshygiene, Berufsgesetzgebung, Geschichte der Be­ kleidung, Kochen und Hauswirtschaft, Gyrnnastik und Gesang. Die Organisierung der bulgarischen Frauen in Vereinen und Vereinigungen rnachte nach der Jahr­ hundertwende deutliche Fortschritte. 1911 beschloss die Vollversarnrnlung der MAIKA, gleichbe­ rechtigtes Mitglied in der gro13en Frauenorganisation ,Bulgarische Frauen-Union" zu werden. Diese Organisation urnfasste irn MAIKA-Jubilaurnsjahr 1938 130 Frauen-Organisationen aus Stadten und Dorfem, von denen MAIKA sich selbst als eine der aktivsten und ergebensten einschatzte, die rnit ganzern Herzen rnitarbeitete, die Ziele und Aufgaben der , Bulgarischen Frauen-Union" zu erfiillen. Stolz verwiesen die Frauen auf ihren Anteil am Karnpf urn das Wahlrecht fur Frauen, wenn auch erst 1937 und nur eingeschrankt (auf kornrnunaler Ebene und bei gesetzgebenden Wahlen) auf gesetzli­ cher Ebene (Gesetz vorn 18.1. und 21.10.1937) geregelt. Ein weiteres interessantes Beispiel fur den Einfluss und das Wirken von MAIKA ist die irn Novem­ ber 1933 gegrtindete autonorne Sektion Vamaer Madchen unter dern Narnen ,Neue Bestrebungen". Sie leistete eine eigenstandige Arbeit, richtete eine eigene Bibliothek rnit Lesesaal ein, organisierte zahlreiche Kurse fur Sprachen, Handarbeiten und Kochen, nahrn an Sarnariterkursen irn Roten Kreuz 138

teil und bot Kurse fur junge Mutter bei den Gesundheitsstationen an. Dazu kamen zahlreiche Vortra­ ge fur die eigenen Mitglieder und Gaste, gehalten von jungen Referentinnen und geladenen Lektoren. Die Halfte ihrer Zeit und ihrer Krafte brachten die Madchen fur MAIKA auf, in der verbleibenden Zeit halfen sie den armen Schi.ilerinnen an der Schule , Liebe zur Arbeit", untersti.itzten sie rnit Klei­ dung und Schuhen. Sie setzten sich auch fur die Madchen an den Grundschulen ein. Ober die folgenden Jahre 1938-1945 (Kriegsende) liegen noch keine Angaben vor. Die MAIKA­ Frauen heute stehen erst am Beginn der Aufarbeitung ihrer Geschichte. Am 1. 3. 1941 unterzeichnete die bulgarische Regierung den Vertrag rnit den faschistischen Mach ten, wodurch Bulgarien Verbi.indeter Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde. Am 9.9 .1944 verkiin­ dete die 1942 gegriindete Vaterlandische Front den Sieg i.iber den Faschismus. Die Volksrepublik Bulgarien wurde ausgerufen. Darnit begann ein grundlegender .gesellschaftlicher und politischer Wechsel. In diesen Zusammenhang ist der Abbruch der praktischen Arbeit der Frauenvereinigung MAIKA einzuordnen, nachdem die Vaterlandische V olksfrontregierung 1946 in einem Verwaltungs­ akt die Organisation als ,pro-monarchistisch" und ,profaschistisch" eingestuft hatte. Der neue Staat baute - auf der Grundlage der Verfassung vom 4.12.1947 ein neues Kultur-, Bil­ dungs- und Sozialwesen auf Die grol3en Anstrengungen auf diesem Gebiet fuhrten zu beachtlichen Leistungen und einem hohen Mal3 an sozialer Sicherheit und insgesamt zu einer Anhebung des Le­ bensniveaus der bulgarischen Bevolkerung. Seit 1989/90 vollzog und vollzieht sich in Bulgarien rnit der ,Wende" wieder ein grundlegender Wandel. Der schwierige Reformprozess halt an. Die Bevolkerung hat rnit grol3en Problemen zu kampfen. Besonders leiden die Schwachsten der Gesellschaft, die Kinder, die Alten und Kranken, die alleinstehenden Mutter und die kinderreichen Farnilien. Ehrenamtliche soziale Hilfstatigkeit bekommt einen neuen Stellenwert, und diese ist (nicht nur in Bulgarien) schon immer ma13geblich den Frauen zugeschrieben worden. Ende 1993 wurde in Sofia die Bulgarische Frauen-Union wiedergegriindet. Schritt fur Schritt wuchs danach bei engagierten und couragierten Frauen in Varna dieldee, die Frauenvereinigung MAIKA neu erstehen zu lassen und im Sinne der Traditionen der Griinderinnen ehrenamtliche gemeinni.itzige Arbeit fur die Armen und sozial Schwachen zu leisten, die es nun wieder in so grol3er Zahl gibt. Mit anfangs 40 Mitgliedsfrauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher beruflicher Qualifikation hat MAIKA 50 Jahre nach verordneter Beendigung ihrer Tatigkeit ihr ,zweites Leben" begonnen! Das jetzige Programm urnfasst - wie schon das Griindungsprogramm von 1888 - sowohl gesell­ schaftliche als auch sozialpolitische Ziele und Inhalte. Im Grundsatz ist es auf die Untersti.itzung und Festigung der demokratischen Neuordnung nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Ostblockstaa­ ten gerichtet. Eine bedeutende Rolle spielt darnit die Untersti.itzung der demokratischen Traditionen sowie die ,Auferstehung der Tugenden der Wiedergeburtszeit". Selbstverstandlich will MAIKA bei der Durchsetzung der gleichberechtigten Teilnahme der Frauen an alien Angelegenheiten der Legis­ lative und Exekutive aktiv rnitwirken. 139

Ihre praktischen Aufgaben sieht MAIKA in folgenden Bereichen: 1. gemeinnutzige I wohlHitige Arbeit: - Hilfen fur alte Menschen, Invaliden, bedurftige altere Erwachsene - Unterstiitzung fur alleinstehende Mutter und kinderreiche Familien - Organisieren von medizinischen Hilfen fur W aisen und alte Menschen - Wohltatigkeitskonzerte, Ausstellungen u. a. Veranstaltungen 2. Bildungs- und Kulturarbeit: - Feiern zu nationalen und religiosen Feiertagen - F eiern zur bulgarischen Kultur - Teilnahme an Konferenzen und Seminaren 3. Aktivitaten.zur Unterstiitzung der gesellschaftlichen Entwicklung: - Teilnahme an Programmen zum Aufbau einer biirgerlich-dernokratischenGesellschaft 4. Verbindung zu den Medien, urn mehr Moglichkeiten zu erhalten, die Vereinigung in der Presse, irn Radio und F ernsehen vorzustellen 5. Kontakte zu Frauen und Frauenvereinigungen in anderen Landern 6. Historisch forschende Tatigkeit zu den Fragen der organisierten Frauenbewegung in Varna

In der Woche, in der wir fine-Frauen in Varna zu Gast waren, hat sich in uns die Dberzeugung ge­ festigt, die Kontakte zu den ,fernen Schwestern Bulgariens" nicht abreiBen zu lassen. Ein Wiederse­ hen in Varna ist fur 2001 geplant; ein groBer Wunsch unsererseits bleibt jedoch, Gaste aus Varna (moglichst mit Unterstiitzung offentlicher Einrichtungen - evt. Referat Gleichstellung und Sponso­ ren) in Halle begriiBen zu konnen- unter dem Gedanken, der uns Frauen hier und dort in unserem Berniihen vereint: ,Der Starkere hat die Verpflichtung, sich einzusetzen, zu kampfen fur den Schwa­ cheren, der sich selbst nicht verteidigen kann." Obwohl auch wir hier selbst oft genug Probleme ha­ ben, sind wir zur Zeit eigentlich doch die ,Starkeren". So wollen wir auch weiter unser solidarisches Gefuhl und unser ( auch materielles) Vermogen fur solche einsetzen, die uns auch iiber unsere Lan­ desgrenzen hinaus brauchen. Deshalb Iauft bereits unsere dritte Spendenaktion. 140

Dber die Autoritmen Albrecht-Dimitrowa, Lisa, geb. 1938, Studium Geschichte/Deutsch; 1993 - 1996 im Rahmen von ABM u. a. Arbeiten zur Frauengeschichte Halles bei COURAGE e.V. Halle, Veroffentlichungen dazu, Initiatorin des Projektes fine (frauen in neustadt) im BURGERLADEN e.V . Halle-Neustadt (aus der eigenen Arbeitslosigkeit heraus), Rentnerin. Bietz, Stejanie, geb. 1977 in J ena, Studentin Mittlere und N euere Geschichte, Allgemeine und V er­ gleichende Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universitat Leipzig, Praktikantin bei der Louise Otto-Peters Gesellschaft e.V . im Sommer 2000 Diethe, Carol, Dr., geb. 1943 in Nordengland, bis 2000 bei Middlesex University I Ideengeschichte und Germanistik (London), 1989 Mitbegriinderin der britischen Friedrich Nietzsche Society, Pu­ blikationen: ,Nietzsche's Woman Beyond the Whip" (1996; 2000 in deutsch ,Vergi/3 die Peitsche: Nietzsches Frauen"), ,Historical Dictionary ofNietzscheanism" (1999), ,Towards Emancipation: German Woman Writers ofthe Nineteenth Century" (1998) Franzke, Astrid, Dr., geb. 1957 in Schwerin, Dipl.-Philosophin, 1985 Promotion zur philosophischen Erkenntnistheorie, Arbeitsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, Partizipations- und Evaluationsforschung, Lehrbeauftragte an der HTWK Leipzig I Sozialwesen GrojJe, Annett, geb. 1979 in Leipzig, seit 1998 in Erfurt Studium Diplomsozialarbeit I Sozial­ padagogik (FH) Jorek, Rita, geb.1935 in Berlin, 1954 - 1958 Studium der Journalistik, Kunst- und Literaturwissen­ schaft an der Universitat Leipzig, bis 1966 an verschiedenen Zeitungen, seit 1973 Mitarbeiterin im Verband Bildender Kiinstler der DDR, ab 1989190 in dessen Sprecherrat, Mitglied der GEDOK (seit 1998 Vorsitz der Gruppe Leipzig/Sachsen); Veroffentlichungen zur bildenden Kunst und zur Literatur Kemp, Annerose, geb. 1936 in Wiederitzsch!Leipzig, Kindergartnerinnen-Studium an der Henriette­ Goldschrnidt-Schule Leipzig, Studium Vorschulpadagogik Humboldt-Universitat Berlin, 25 Jahre Lehrerin, Fachschuldozentin, Studiendirektorin an der Henriette-Goldschrnidt-Schule, Rentnerin, Forschung zu Henriette Goldschrnidt; Publizistin Kuhrig, Herta, Prof Dr. phil., geb. 1930 in Thierbach (CSR), Soziologin, 1964 - 1990 Frauenfor­ schung an der Akadernie der Wissenschaften der DDR, 1989 Dr. he. an der Padagogischen Hoch­ schule ,Clara Zetkin" in Leipzig, 1990 emeritiert, seit 1990 Mitglied der ferninistischen Frauenar­ beitsgemeinschaft LISA bei der PDS Ludwig, Johanna, geb. 1937, Diplom-Journalistin; viele Jahre in Leipzig als Verlagslektorin tatig, nach 1991 F orschungen zu Louise Otto-Peters und ihren Zeitgenossinnen, 1993 Griindung der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. in Leipzig und seitdem deren Vorsitzende, u. a. Herausgabe der urspriinglichen unzensierten Fassung des Romans ,Schloi3 und Fabrik" von Louise Otto (1996), Mitherausgeberin der Streitschrift ,Das Recht der Frauen auf Erwerb" von Louise Otto (1997) Muller, Jngrid, Dr. paed., geb. 1939 in Liebertwolkwitz b. Leipzig, Studium der Padagogik in Leip­ zig, Lehrerin, im Hochschuldienst, 1977 Dissertation Nagelschmidt, Jlse, Prof Dr. phil., geb. 1953 in Leipzig, 1971 - 1975 Studium der Germanistik, ge­ schichte und Padagogik in Leipzig, 1978 - 1992 Assistentin I Oberassistentin an der Padagogi­ schen Hochschule ,Clara Zetkin" in Leipzig, seit 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni­ versitat Leipzig I Institut fur Germanistik, daneben seit 1994 Gleichstellungsbeauftragte der Uni­ versitat, Herausgeberin der Buch-Reihe ,Frauenforscherinnen stellen sich vor" Scheid-Schroder, Ursula Franziska, geb. 1947 in Leipzig, seit 1960 in der ehemaligen BRD, Studi­ um in Hamburg, Diplom-Padagogin fur politische Erwachsenenbildung, Wissenschaftsautorin, erwerbslos, aber nicht arbeitslos, un- und unterbezahlte Arbeit. Arbeitsschwerpunkte u. a. : ferni­ nistische Theorie und Bildung, Geschichte der Frauenbewegung und sozialen Arbeit, Redaktion von ,Frauen in der Geschichte", Fortbildungsprojekt fur politische Bildung von Frauen in Ost und West bei Strategie 21 e.V. 141

Schiller, Renate, geb. 1944, 1961 - 1963 Ausbildung als Kindergartnerin, 1963 Beginn der Tatigkeit als Kindergartnerin im Kindergarten Spittastraf3e, seit 1967 Leiterin dieser Einrichtung Schlegel, Uta, Dr. phi!., Soziologin, geb. 1943, Studium der Padagogik (DeutschiRussisch) in Leip­ zig (1965), der Informationswissenschaft in Berlin, Dissertation 1982 zu Geschlechtsunterschie­ den im Jugendalter, 1972 - 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin I Abteilungsleiterin am Zen­ tralinstitut fur Jugendforschung in Leipzig, 1992 - 1996 Kommission fur die Erforschung des so­ zialen und politischen Wandels in den neuen Bundeslandern (KSPW), Lehrauftrage an verschie­ denen Hochschulen, Publikationen zur Situation und zu Lebenszusammenhangen ostdeutscher Frauen Schotz, Susanne, Dr. phil., geb. 1958, Diplomlehrerstudium (Fachrichtung Geschichte/Deutsch) an der Universitat Leipzig, dort Forschungsstudentin und langjahrige Assistentin, Dissertation zur Sozialgeschichte des Leipziger Kleinbi.irgertums im 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift zur Ge­ schichte weiblicher Erwerbsarbeit im neuzeitlichen Handelsgewerbe; wissenschaftliche Interessen: Sozial- und Wirtschafts- sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte, gegenwartig Mitarbeiterin am Lehrstuhl fur Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich-Schiller.,.Universitat Jena Schroder, Renate, geb. 1932, Geschichtslehrerin, Vorsitzende des Vereins ,Dialog" e. V. und Mit­ glied in derLeipziger Freitagswerkstatt ,Unter Leute gehen", schreibt Prosa, Gewinnerin des er­ sten Literaturwettbewerbs von MDR Kultur 1996, Veroffentlichungen in ,Andere Straf3en, andere Orte" (1996) Stolze, Elke, Dr. phil., Historikerin, geb. 1954, Studium an der Martin-Luther-Universitat Halle­ Wittenberg, seit 1993 Beschaftigung mit regionaler Frauengeschichte in Halle, Projektleiterin bei Courage e.V. Halle, Projektkoordinatorin ,FrauenOrte" der Expo 2000 Sachsen-Anhalt GmbH, Projektleiterin des Landesprojektes ,FrauenOrte", c/o Courage e. V. Halle; Arbeitsschwerpunkte I Veroffentlichungen: seit 1993 regionale Frauengeschichte, Frauen an der Universitat StrajJer, Katrin, geb. 1974 in Aachen, nach dem Abitur erste joumalistische Erfahrungen beim dorti­ gen Lokalradio, 1994 - 2000 Joumalistikstudium in Eichstatt, 1999 erster Kontakt zur Louise­ Otto-Peters-Gesellschaft wahrend der Recherchen zur Diplomarbeit (,Lebt in ihr der Genius, wird sie schreiben, weil sie muf3. Louise Otto Peters als politische Joumalistin des 19. Jahrhunderts"), freie Joumalistin 142

An hang