Gabriele Anderl

Die Kommandanten des jüdischen Ghettos m Theresienstadt. Ein Werkstattbericht*

Alle drei Kommandanten des jüdischen portationsexperimenten - den Zwangs­ Ghettos in Theresienstadt, Siegfried verschickungen nach Nisko bei Lublin Seid! (November 1941 bis Juli 1943), im Oktober 1939 und den Deportatio­ Anton Burger (Juli 1943 bis Februar nen im Frühjahr 1941 - wurde in Wien 1944) und (Februar 1944 die Technik der Transportvorbereitung bis Anfang Mai 1945) stammten aus entwickelt, wie sie später mit gewissen Niederösterreich und waren bereits vor zeitlichen und örtlichen Modifikationen dem März 1938 der NSDAP beigetre• im gesamten „Reichsgebiet" und auch ten. Rahm und Burger waren nach dem in den von Deutschland besetzten bzw. „Anschluß" Österreichs längere Zeit in dominierten Gebieten Europas zur An· der von aufgebauten wendung kam. Eichmanns Mitarbeiter Wiener Zentralstelle für jüdische Aus­ verwerteten ihre Erfahrungen als hand· wanderung beschäftigt, und auch Seid! lungsreisende „Experten für Deportati­ gehörte zum „Eichmann-Stab". In Wien onsfragen". wurden nach dem „Anschluß" zunächst Einige österreichische „J udenspezia• die Methoden der maximalen bürokra· listen" aus der Zentralstelle gelangten tischen Rationalisierung bei der Ver· zu besonders trauriger Berühmtheit: treibung der jüdischen Bevölkerung er· der aus Wolfsberg in Kärnten stam•

Forum, 540-582 ÖZG 4/1992 563 bende Alois Brunner (,,Brunner I"), komma.nda.nten überblicksa.rtig darzu­ der die Verschickung von - konserva­ stellen, a.uf ihre Tätigkeit in Theresien­ tiv geschätzt - etwa. 130.000 Juden stadt ka.nn hier nur oberflächlich einge­ a.us Österreich, Griechenland, Frank­ gangen werden.3 reich und der Slowakei .in die Todesla.­ Dr. Siegfried Seidl4 wurde 1911 in der ger im Osten orga.nisierte.1 niederösterreichischen Kleinstadt Tulln Da. da.s jüdische Ghetto in There­ geboren. Sein Va.ter, ein Friseurmeister, sienstadt ( anders a.ls die anderen Kon­ wa.r seit 1915 kriegsvermißt. Siegfried zentra.tionsla.ger) unmittelbar der Pra­ Seid! besuchte die Volksschule in Tulln, ger Zentralstelle für jüdische Auswan­ die Mittelschule in Klosterneuburg und derung ( später Zentralamt zur Regelung Horn und studierte na.ch der Matura. der Judenfrage in Böhmen und Mähren) zunächst drei Semester a.n der rechts­ und in weiterer Linie dem Eichma.nn und sta.a.tswissenscha.ftlichen, da.nn Ge­ Referat IV-D-4 (IV-B-4) im RSHA un­ schichte und Deutsch a.n der philo­ terstand, ist es naheliegend, da.ß die sophischen Fakultät der Universität „Eichmann-Leute" a.uch der Verwaltung Wien. Seid! erklärte in seinem Pro­ des „jüdischen Siedlungsgebiets" ihren zeß, er ha.be sein erstes Studium we­ Stempel aufdrückten und erprobte Mo­ gen finanzieller Schwierigkeiten aufge­ delle - mit gewissen, durch die Bedin­ ben und sich durch Gelegenheitsarbei­ gungen eines geschlossenen Lagers er­ ten über Wasser halten müssen. Er forderlichen Abänderungen - zur An­ wa.r a.ls Na.chhilfelehrer und von Herbst wendung brachten. Zu den Grundpfei­ 1932 bis Ma.i 1933 a.ls Heizer im Wie­ lern ihrer Arbeitsweise gehörte die In­ ner Bundeska.nzlera.mt tätig. Seine Mut­ strumentalisierung des jüdischen Or­ ter, die dort arbeitete, ha.be ihm zu ga.nisa.tionsa.ppa.ra.tes; in Theresienstadt diesem Posten verholfen. Seid! wa.r be­ wurde eine sogenannte jüdische Selbst­ reits 1930 der NSDAP (Mitgliedsnum­ verwaltung errichtet. In Wien wa.ren mer 300 738), 1931 der SA, und im Ma.i die jüdischen Funktionäre bereits in 1932 der 11. SS-Sta.nda.rte (SS-Nummer der Pha.se der forcierten „Auswande• 460 106) beigetreten. Bei der SS über• rung" in fa.ta.ler Weise in die Orga.nisie­ nahm er die Funktion eines Geldverwa.1- rung der Vertreibung eingebunden wor­ ters im Sturm und erreichte bis zum den: ,,Die Verflechtung ( ... ) der jüdi• Verbot der NSDAP in Österreich im schen Stellen mit der im Alt­ Ja.hr 1933 den Dienstgrad eines SS­ reich, mit den ,Zentralstellen' in Öster• Oberscha.rführers. Vor Gericht nannte reich und Böhmen und Mähren wa.r fest­ er a.ls Motive für seinen Eintritt in gefügt und fraglos längst vor dem Be­ die Partei „die wirtschaftlichen Verhält• ginn der allgemeinen Deportation ein­ nisse" und den „ Wunsch der Vereini­ gespielt", schreibt H.G. Adler.2 gung des Deutschen Volkes". Auch sei Im folgenden beschränke ich mich er von „bekannten Hochschülern" be­ da.rauf, die Lebensläufe der drei La.ger- einflußt worden, Antisemitismus ha.be

564 ÖZG 4/1992 Forum, 540-582 keine Rolle gespielt. Seid! gab an, keine in der Gesuchsprüfstelle Marburg be­ SA-Uniform getragen zu haben, weil faßt. In Reichenburg an der Save ließ er sich eine solche nicht habe leisten er ein französisches Kloster räumen und können. Vor Gericht beteuerte er, nach als Lager einrichten.5 Zwischen den dem Verbot der NSDAP in Österreich Einsätzen in Posen und Marburg be­ die Beitrittszahlungen eingestellt und suchte Seid! Koloniallehrgänge in Ber­ auch mit dem Putsch im Juli 1934 nichts lin sowie an der italienischen Koloni­ zu tun gehabt zu haben. Er habe in die­ alschule in Rom und promovierte an ser Zeit sogar ein von einem anderen der Universität Wien zum Doktor der Mitglied der 11. SS-Standarte geplantes Philosopie.6 Attentat - die Sprengung der Vorwärts Vom Eichmann-Referat im RSHA AG - für welches er den Sprengstoff wurde Seid! im Herbst 1941 mit der habe beschaffen sollen, durch die Er­ Einrichtung eines jüdischen Ghettos in stattung einer Anzeige verhindert. Theresienstadt beauftragt. Anfang Juli Nach dem „Anschluß" wurde Seid! 1943 wurde er als Lagerkommandant bei der 11. SS-Standarte zunächst abgelöst und nach Bergen-Belsen ver­ Fürsorgereferent, dann Sturmbannadju­ setzt. In seinem Prozeß sprach er von tant mit dem Dienstgrad eines Haupt­ ,,Kaltstellung" und führte seine Ab­ scharführers. Nachdem er von Septem­ berufung auf sein „zu wenig schar­ ber 1938 bis Ende 1939 als Werk­ fes Verhalten" sowohl gegenüber den schutzwachführer bzw. stellvertretender ihm unterstellten SS-Leuten wie ge­ Werkschutzleiter bei den Flugmotoren­ genüber der jüdischen Lagergemein­ werken Austro-Fiat in Wien Florids­ schaft zurück. Seine Versetzung sei er­ dorf beschäftigt gewesen war, kam er folgt, nachdem sich ein SS-Mann mit - nach eigenen Angaben im Rahmen einem Fleischhauer aus der Umgebung der allgemeinen Musterung durch das betrunken und er den Vorfall nicht sei­ Wehrbezirkskommando - Ende Dezem­ ner vorgesetzten Dienststelle gemeldet ber 1939 zum Inspekteur der Sicher­ habe. , einer der wich­ heitspolizei in Wien, von dort weiter tigsten Mitarbeiter Eichmanns, der bei zum Eichmann-Referat im RSHA in den Nürnberger Prozessen als Zeuge der Berlin und im Januar 1940 zum Si­ Anklage auftrat, bezeichnete Seidls Be­ cherheitsdienst (SD) Leitabschnitt Po­ ziehungen zu Eichmann als „schlecht sen. Dort leitete er bis Ende 1940 die und gespannt". Eichmann habe Seid! Gesuchsprüfstelle beim Amt für die Um­ nur gehalten, weil er ein guter Organisa­ siedlung der polnischen Bevölkerung. tor gewesen sei. 7 Der Posten in Bergen­ Mit Umsiedlungen - diesmal der slo­ Belsen soll, so Seid!, ursprünglich für wenischen Bevölkerung der „Unterstei• Anton Burger vorgesehen gewesen sein. ermark" - war Seid! auch im Rah­ In Bergen-Belsen oblag Seid! die sicher­ men seiner darauffolgenden, von April heitspolizeiliche Aufsicht über die dort bis Oktober 1941 währenden Tätigkeit internierten Juden aus sog. Feindstaa-

Forum, 540-582 ÖZG 4/1992 565 ten und neutralen Ländern. Im März sienstadt und Auschwitz) weiterdepor­ 1944 gelangte Seid! über Mauthausen tiert und ermordet, die übrigen fronten mit der Wehrmacht nach Budapest, bis zur Ankunft der Roten Armee in wo er zum Einsatzkommando 5 abge­ Wien und Niederösterreich. stellt wurde. Als Leiter des Außenpo• Beim Herannahen der Front setzte stens in Debrecen gehörte er zu dem von sich Seid! Anfang April 1945 mit der Adolf Eichmann und dessen Stellvertre­ Außenstelle des SEK nach Niederöster• ter Dieter Wisliceny geleiteten Sonder­ reich ab, kehrte aber im Sommer 1945 einsatzkommando (SEK). Seidls Tätig• auf der Suche nach seiner Familie nach keit umfaßte die Zusammenziehung der Wien zurück und bat Dr. Emil Tuch­ für die Deportation vorgesehenen J u­ mann, den Leiter des jüdischen Gesund­ den in Ghettos und _Lagern sowie die heitswesens in Wien während der letz­ Beschlagnahmung jüdischer Vermögen. ten Jahre der NS-Herrschaft, um Hilfe. Wie aus Zeugenaussagen hervorgeht, Dieser veranlaßte unverzüglich Seidls wohnten Seid! und seine Mitarbeiter Verhaftung. Seid! wurde vom Wiener mitunter peitschenschwingend der Ver­ Landesgericht im Oktober 1946 zum ladung von Juden in die Deportati­ Tode verurteilt und im Februar des onszüge bei. darauffolgenden Jahres gehängt. Im Juli 1944, als die Evakuierung Der Staatsanwalt nannte Seid!, des­ der Juden aus den ungarischen Provin­ sen sadistisches Verhalten gegenüber zen nahezu abgeschlossen war, wurde den Juden in seinem Einflußbereich Seid! zum Stellvertreter des Leiters durch zahlreiche Zeugenaussagen belegt des Sondereinsatzkommandos Außen• ist, ,,gewissenlos und feige" und „das stelle Wien, SS-Obersturmbannführer größte Ungeheuer, das je vor einem Hermann Krumey, bestellt. Aufgabe österreichischen Gericht gestanden" sei. dieses Spezialkommandos war die Be­ Seid! wurde unter anderem vorgewor­ aufsichtigung der etwa 14- 15.000 un­ fen, in Theresienstadt aufgrund nich­ garischen Juden, meist Familien, die tiger Anlässe, vor allem aber im Zuge infolge der Verhandlungen zwischen der Auswaggonierungen bei ankommen­ Rezsö Kasztner und Adolf Eichmann den Transporten, Menschen mit Peit­ zu Austauschzwecken vorgesehen und schenhieben und Fußtritten körperlich ,,auf Eis gelegt" worden waren. Sie wur­ mißhandelt zu haben und wegen ge­ den über das Lager Straßhof verschie­ ringfügiger Vergehen, wie etwa der an­ denen Arbeitgebern in Wien und Nie­ geblichen Verunreinigung der Ghetto­ derösterreich zugeteilt und lebten als Straßen, Licht- und Ausgangssperre Gefangene auf engstem Raum zusam­ über die gesamte Lagergemeinschaft mengepfercht und mangelhaft verpflegt. verhängt zu haben. Oskar Löwy, einem Viele dieser ungarischen Juden, vor al­ Kriegsblinden und dekorierten jüdi• lem die Arbeitsunfähigen, wurden in an­ schen Frontkämpfer, der bei der An­ dere Lager (v. a. Bergen-Belsen, There- kunft in Theresienstadt gegen die Be-

566 ÖZG 4/1W2 Forum, 540-582 schlagnahmung semes Gepäcks prote­ schwer verschuldete Mühle (oder Bäcke• stiert hatte, schlug Seid! mit einer Reit­ rei) vermittelt hatte. Weil es bei die­ peitsche das Glasauge aus. ser Transaktion, wie Seid! behauptete, Im Juni 1942 fuhr Seid! im Auftrag zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei, des Staatssekretärs beim Reichsprotek­ erteilte er als Lagerkommandant von tor, SS-Gruppenführer Karl Hermann Theresienstadt dem Judenältesten Ja­ Frank, beziehungsweise des Befehlsha­ kob Edelstein den Auftrag, ihm Müller bers der Sicherheitspolizei in Prag, unverzüglich vorzuführen, sollte dieser Horst Böhme, mit 30 Juden aus dem im Ghetto eintreffen. Als Müller um die' Ghetto Theresienstadt nach Lidice, je­ Jahreswende 1942/43 tatsächlich mit nes böhmische Dorf, dessen Bewohner einem Transport aus Wien eingeliefert Opfer einer grausamen Vergeltungsak­ wurde, ließ ihn Seid! sogleich im Kel­ tion für die Ermordung Reinhard Heyd­ ler der Kommandantur unter Dunkel­ richs wurden. Der jüdische Arbeitstrupp haft setzen, wo Müller an Diphtherie er­ aus Theresienstadt mußte ein Massen­ krankte und in der Folge im Lagerspital grab ausheben und die Leichen der Er­ starb. schossenen begraben. Seid! gab zu, die Lagerordnung für Die Todesstrafe stand in Theresien­ das Ghetto erlassen zu haben, und stadt auf Fluchtversuch, Beamtenbeste­ zwar "auf der Grundlage der einschlägi• chung und Briefschmuggel. Dieser De­ gen österreichischen Strafbestimmun­ likte wurden 16 junge tschechische Ju­ gen". Sie sei jedoch in den wesentli­ den beschuldigt, die im März 1942 chen Punkten in Anordnungen der Pra­ - also während Seidls Tätigkeit als ger Dienststelle begründet gewesen, die Lagerkommandant - hingerichtet wur­ noch wesentliche Verschärfungen aufge­ den. Seid! rechtfertigte sich vor Gericht, nommen habe. Hans Günther, der Leiter der Prager Der Zeuge Dr. Ernst Felsberg, im Zentralstelle, habe nach einer Inspek­ Ghetto als Leichenbestatter tätig, gab tion im Februar die Hinrichtungen ange­ für die Zeit von Seidls Tätigkeit an, es ordnet. Später wurden die Betreffenden seien Leute wegen verschiedener Delikte in ähnlich gelagerten Fällen, aber auch vom Ghetto in die „Kleine Festung", die bei Verstößen gegen andere Bestimmun­ als Gestapo-Gefängnis diente, geschafft gen ( etwa die Grußpflicht gegenüber worden, von wo niemand mehr lebend Uniformträgern oder das ausnahmslose zurückgekommen sei. Felsberg mußte Rauchverbot) nicht mehr gehängt, son­ wiederholt mit einem Handwagen und dern in die Todeslager verschickt. Tragbahren, später wegen der großen Seid! wurde auch für den Tod des Anzahl der Toten mit einem Fuhrwerk, österreichischen Juden Arthur Müller zur „Kleinen Festung" fahren und die verantwortlich gemacht, der lange vor teils bereits in Verwesung übergegan• dem "Anschluß" als Realitätenmakler genen Leichen, manchmal auch verna­ Seidls Mutter einen Käufer für deren gelte, blutverschmierte Särge abholen.

Forum, 540-582 ÖZG 4/1992 567 Die Toten seien bis zur Unkenntlichkeit 1931 der NSDAP (Mitgliedsnummer zugerichtet gewesen, manchmal ohne 611604) bei. In den Jahren 1932/33 war Kopf oder mit aufgeschlitztem Bauch. er auch Funktionär (,,Kasernführer") Sie seien mit Nummerntafeln versehen des D.S.B. in Wiener Neustadt. Als ins Krematorium des Ghettos gebracht er Ende Juli 1933 nach eigener Aus­ und dort eingeäschert worden; die Asche sage wegen seiner politischen Tätigkeit sei in nur mit Nummern bezeichneten als „politisch unzuverlässig" aus dem Pappschachteln zur „Kleinen Festung" Heer entlassen wurde, überquerte er il­ zurückgebracht worden. legal die Grenze und meldete sich bei Seid! ließ sich, so scheint es, in sei­ der österreichischen SA-Dienststelle in nem Lebensstil wenig von den Ereig­ München. Er wurde in verschiedenen nissen im Ghetto tangieren: Zeugen be­ Lagern der Österreichischen Legion mi­ richten, er habe „wie ein Baron" ge­ litärisch ausgebildet und zum „Grenz• lebt, über Reitpferde und einen Sport­ dienst" abgestellt. Im Zuge des Juliput­ wagen verfügt und sei auf die Jagd ge­ sches 1934 in Österreich und des da­ gangen. Er präsentierte sich vor Ge­ mit verbundenen Grenzzwischenfalls bei richt als bedeutungsloses Zwischenglied, Kollerschlag in Oberösterreich drang das lediglich die Befehle der vorgesetz­ er mit einigen Kameraden auf öster• ten Dienststellen (Eichmann-Referat im reichisches Gebiet vor, wurde jedoch RSHA, Zentralstelle Prag) an den jüdi• wegen Abbruchs der Aktion zurück• schen Ältestenrat im Ghetto weiterge­ beordert und in der Festung Lands­ leitet und die Einhaltung der Vorschrif­ berg kurze Zeit unter „Ehrenhaft" ge­ ten überwacht habe. Bei den aus dem setzt. Burger erhielt im August 1935 Ghetto abgehenden Todestransporten die deutsche Reichsangehörigkeit und in den Osten habe er lediglich die zah­ meldete sich 1936 für sechs Monate lenmäßigen Anforderungen aus Berlin als Freiwilliger zum Reichsarbeitsdienst. bzw. Prag dem Ältestenrat übermittelt, Nach dem „Anschluß" kehrte er mit der auf dieser Grundlage die Transport­ der Legion nach Österreich zurück. Im listen erstellt habe. Juni 1938 begann seine Tätigkeit beim 8 Anton Burger , geboren 1911 in SD in der Theresianumgasse, im Juli Neunkirchen, Niederösterreich, als Sohn 1938 wurde er Mitglied der Allgemeinen 9 eines Trafikanten , besuchte die Bürger• SS (Mitgliedsnummer 342 783). Über schule und meldete sich nach Absolvie­ den SD kam er, vermutlich noch 1938, rung einer kaufmännischen Lehre und zur Zentralstelle fü.r jüdische Auswan­ einjähriger Tätigkeit als Verkäufer im den.mg, wo er nach eigenen Aussagen April 1930 als Freiwilliger zum öster• mit technischen Arbeiten und Büro• reichischen Bundesheer (I.R.l Wiener dienst, vor allem mit der Beschaffung Neustadt), wo er den Dienstgrad eines und Überprüfung der Ausreisepapiere Schützen erreichte. Burger trat dem jüdischer Auswanderer betraut war.10 Deutschen Soldatenbund (D.S.B.) und Nach seiner vermutlich im Sommer 1939

568 ÖZG 4/1992 Forum. 540-582 erfolgten Versetzung zur Zentralstelle RSHA wurde er mit der Vermögens• nach Prag11 war Burger ab Anfang abwicklungsstelle nach Prag geschickt. 1940 vor allem im Rahmen des Auswan­ Nach seiner Rückkehr aus Griechenland derungsfonds für Böhmen und Mähren hatte Burger im August 1944 einen we­ tätig, dem die Erfassung und Verwal­ nig bekannten Gastauftritt in Belgien. tung des von den jüdischen Vertrie­ In Brüssel rühmte er sich seiner Er­ benen zurückgelassenen Vermögens ob­ folge bei der Deportation der Juden aus lag. Im Frühjahr 1941 kam er nach Griechenland. Vanden Berg, der Lei­ Brünn, um dort eine Außenstelle dieses ter der Association des Juifs de Belgi­ Fonds aufzubauen. Als Leiter der Ne­ que (AJB), der jüdischen „Selbstverwal• benstelle des Zentralamtes zur Regelung tungskörperschaft" in Belgien, schrieb der Judenfrage in Böhmen und Mähren am 25. August in sein Tagebuch: ,,Man in Brünn war Burger später auch mit ist sehr beunruhigt, denn Herr Burger der Deportation von Juden befaßt. Sei­ ist nicht umsonst hierher gekommen. nen eigenen Aussagen zufolge wurde er Er kehrt aus Athen zurück, wo es ihm, aufgrund von Zerwürfnissen mit Hans wie er sagt, gelungen ist, in acht Tagen Günther (,,Günther II"), dem Leiter der 5.000 Juden in einer Razzia zusammen­ Prager Zentralstelle, aus Brünn abgezo­ zutreiben, und er hat hier zum Abschluß gen und zum RSHA nach Berlin ver­ zweifellos das selbe vor." 12 setzt, WO er, wie er bei seiner Verneh­ Bereits 1942 war Burger von Eich­ mung angab, ebenfalls mit jüdischen mann kurz nach Brüssel geschickt wor­ Vermögensangelegenheiten befaßt war. den, um dort die Deportationen in Gang Im Juli 1943 wurde er mit der Leitung zu setzen. Burger hatte damals, am des jüdischen Ghettos in Theresienstadt 15. Juli 1942, den Auftrag zur Erstel­ betraut, er übte diese Tätigkeit aber nur lung einer Kartei aller Mitglieder der ein halbes Jahr lang aus. Bereits im Ja­ AJB erteilt. Nun, Ende August 1944, nuar 1944 wurde er nach Berlin zurück• plante Burger zur endgültigen „Berei• gerufen und im März des selben Jah­ nigung des Judenproblems" die Depor­ res zum Befehlshaber der Sicherheitspo­ tation der Insassen der jüdischen Wai­ lizei in Athen delegiert. Burger war ab senhäuser, Spitäler und Altersheime. März 1944 leitend an der Durchführung Wegen des beginnenden deutschen Zu­ der Deportationen der Juden aus Athen, sammenbruchs und der Tatsache, daß Joanina, Korfu, Rhodos und Cos be­ auf Beschluß des AJB die Alten und teiligt. Er kehrte im Frühsommer 1944 Kinder aus den Heimen in Verstecke nach Berlin zurück, wo er eigenen An­ gebracht worden waren, gelang Burger gaben zufolge wieder mit Vermögens• die Realisierung seines Vorhabens je­ fragen, diesmal der Überführung des doch nicht mehr. 13 Kurz vor Kriegs­ jüdischen Vermögens an das Reichsfi­ ende zog er sich mit seiner Fami­ nanzministerium, befaßt war. Im Zuge lie von Prag in die Alpenfestung im der Errichtung von Ausweichstellen des Salzkammergut zurück, wo, so war es

Forum, 540-582 ÖZG 4/1992 569 vereinbart worden, die österreichischen Mehrfach findet sich in der Fachlite­ Führungskräfte des „Dritten Reiches" ratur die unrichtige Feststellung, Bur­ zusammentreffen sollten. Im Zuge der ger sei - wie Rahm - 1946/7 in Leitme­ von Simon Wiesenthal initiierten Fahn­ ritz vor Gericht gestellt und hingerichtet dungsaktion nach Adolf Eichmann, der worden. Burger trat nach seinem Ver­ sich ebenfalls in der Gegend versteckt schwinden unter einer Reihe von Deck­ hielt, wurde von der österreichischen namen auf. Während im Akt des Ber­ Gendarmerie auch Anton Burger ver­ lin Document Center 1984 als Todesda­ haftet. Burger, bei dem ein größe• t um Burgers verzeichnet ist, geht Wie­ res Waffenarsenal sichergestellt wurde, senthal davon aus, daß er noch immer, wurde an den CIC überstellt und in das vermutlich unter falscher Identität, in amerikanische Intern.ierungslager Mar­ Deutschland oder Österreich lebt. Noch cus W. Orr in Glasenbach bei Salz­ im Frühjahr 1991 wurde Burger auf burg eingeliefert. 14 Weder die öster• die internationalen Fahndungslisten ge­ reichischen, noch die amerikanischen setzt. Behörden waren sich zu diesem Zeit­ Anton Burger scheint als Komman­ punkt darüber im klaren, welcher Fisch dant des Ghettos Theresienstadt noch ihnen - per Zufall - ins Netz gegangen gefürchteter gewesen zu sein als sein war. Doch bereits am 18. Juni 1947 ent­ Vorgänger Seid!. Zeugen bezeichne­ floh Burger aus Glasenbach. Er kehrte ten ihn als ausgesprochenen Sadisten, im Februar 1951 aus Italien nach Öster• der schlug, mißhandelte und wegen reich zurück und wurde im März in geringfügigster Delikte schwere Stra­ der Wohnung seiner Gattin in Neunkir­ fen verhängte. Das Spitzelwesen un­ chen neuerlich verhaftet, in das Kreisge­ ter den Lagerinsassen soll von Bur­ richt Wiener Neustadt eingeliefert und ger, unter dem auch die berüchtigte von dort wenig später an das Landes­ Zählung im Bauschowitzer Kessel statt­ gericht für Strafsachen in Wien Favo­ fand, beträchtlich ausgebaut worden riten überstellt.15 Nach einem geschei­ sem. 16 terten Fluchtversuch im Zuge seiner Karl Rahm , 1907 in der nie­ Festnahme in Neunkirchen konnte Bur­ derösterreichischen Gemeinde Kloster­ ger im April aus der Untersuchungshaft neuburg als Sohn eines Bahnangestell­ entkommen. Im Juli desselben Jahres ten geboren, besuchte die Volksschule kehrte er nach Neunkirchen zurück und in Kritzendorf, die Bürgerschule und ge­ versuchte, mit einer Pistole bewaffnet, werbliche Fortbildungsschule iu Kloster­ in die Wohnung seiner Gattin, die ihn n~uburg. Er wurde nach Abschluß einer verlassen hatte, einzudringen. In einem Lehre als Maschinenschlosser (Eisen­ Brief drohte er seinen Schwiegereltern und Stahldreher) und Installateur und mit der Ausrottung der ganzen Familie, einem Jahr Gehilfenzeit beschäftigungs• sollte seine Frau nicht zu ihm zurück• los. Nachdem er 1926 einige Monate kehren. als Installateur bei Wiener Gemeinde-

570 ÖZG 4/1992 F o r u m , 540- 582 bauten Beschäftigung gefunden hatte, zwar als Maschinenschlosser im Tro­ ließ er sich - wegen neuerlicher Arbeits­ faiacher Eisen- und Stahlwerk in Klo­ losigkeit - für sechs Jahre zum öster• sterneuburg. Dort hatte er bis zum reichischen Bundesheer angeloben. Von März 1938 die Funktion eines Zellen­ April 1927 bis April 1933 war er Mit­ leiters der Nationalsozialistischen Be­ glied des Wiener Pionier-Bataillons 1 in triebsorganisation (NSBO) inne. Nach Klosterneuburg. Rahm war seit seinem dem „Anschluß" wurde er wegen sei­ 17. bzw. 18. Lebensjahr Mitglied der ner sechsjährigen Militärzeit Haupt­ sozialdemokratischen Naturfreunde und scharführer der allgemeinen SS. Er blieb der Sozialdemokratischen Arbeiterpar­ zunächst auf seinem Posten in Kloster­ tei, er gehörte dem Schutzbund, der Me­ neuburg und wurde bis November 1938 tallarbeitergewerkschaft und dem Mi­ bei den Pionieren zu Waffenübungen - litärverband der Sozialdemokratischen zunächst in Klosterneuburg, dann im Partei an, in dessen Rahmen er in den Saarland - eingezogen. Nachdem er mit Jahren 1932/3 das Amt des Obmannes seiner Truppe im Oktober 1938 nach bei seinem Truppenkörper innehatte. Österreich zurückgekehrt war, wurde Die veränderte politische Situation - Rahm im Zuge der Besetzung des Su­ der wachsende Einfluß der Christlich­ detenlandes neuerlich mobilisiert. Sozialen und Rahms Parteizugehörig• Rahm gab an, seine Gesuche um An­ keit - schlossen ihn nach eigenen Aussa­ stellung bei der Wiener Gemeinde und gen von jeglicher Beförderung aus und der Kriminalpolizei seien abgelehnt18 , führten im April 1933. wegen „politi• das Ansuchen an die Kriminalpolizei scher Unzuverlässigkeit" zu seiner Ent­ sei aber an den Inspekteur der Sicher­ lassung aus dem Heer. Wieder war er heitspolizei in Wien weitergeleitet wor­ über längere Zeit arbeitslos und fand den, sodaß er im Februar 1939 der nur sporadisch Beschäftigung. Durch Zentralstelle für jüdische Auswanderung den Einfluß seines jüngsten Bruders Ste­ für den Dienst in der Kartei- und Do­ fan, eines Medizinstudenten, und auf­ kumentenstelle (Dokumentenannahme) grund von Versprechungen auf Arbeit zugeteilt wurde. Damit sei er auch zum trat Karl Rahm im Februar 1934 der SD gekommen und habe den Rang eines damals bereits verbotenen NSDAP bei Hauptscharführer SS und SD bekom­ (Mitgliedsnummer 6 222124). Gleichzei­ men. Rahm übte diese Tätigkeit bis Ok­ tig wurde er Mitglied der SS (Mitglieds­ tober 1940 aus. nummer 296534).17 Ihren Eintritt in die Im Dezember 1939 wurden Karl Nazipartei verheimlichten die Brüder Rahms Bruder Franz und dessen Gat­ Karl und Stefan sowohl ihren Eltern tin wegen anti-nationalsozialistischer wie auch ihrem Bruder Franz. Rahm Betätigung verhaftet und zu sechs behauptete vor Gericht, er habe über beziehungsweise drei Jahren Kerker Vermittlung der NSDAP im Oktober verurteilt.19 Franz Rahm wurde schließ• 1935 tatsächlich Arbeit gefunden, und lich bis Kriegsende in das Konzen-

Forum. 540-582 ÖZG 4/1992 571 trationslager Dachau eingewiesen. Karl derungsfonds, mit welchem Rahm in en­ Rahm beschuldigte bei seinem Pro­ gem Kontakt ~tand, für die Registrie­ zeß einen ehemaligen Mitarbeiter seiner rung und Kategorisierung des gesamten Dienststelle, den Klosterneuburger Wal­ mobilen und immobilen jüdischen Be­ ter Aschenbrenner, Anzeige gegen sei­ sitzes der deportierten Juden zuständig nen Bruder erstattet und damit dessen gewesen. Rahm gab auch zu Protokoll, Verhaftung veranlaßt zu haben. Rahm er sei zusammen mit dem aus Wien berichtete weiter, er sei durch die re­ stammenden jüdischen Funktionär Ri­ gimefeindlichen Aktivitäten seines Bru­ chard Friedmann in Holland gewesen, ders, seine eigene frühere Verbindung um dort am Aufbau der Zentralstelle zur Sozialdemokratie und die politische für jüdische Auswanderung mitzuwir­ Zugehörigkeit seiner Eltern und Schwie­ ken. Die Organisation sei ihm aus Wien gereltern, überzeugter Sozialdemokra­ bekannt gewesen. Rahm wurde 1941 ten, in eine schwierige Situation gera­ zum Untersturmführer, später, noch in ten. Seine Versuche, für seinen Bru­ Prag, zum Obersturmführer befördert. der zu intervenieren ( er habe sogar an Im Januar 1942 fiel sein Bruder Ste­ Himmler geschrieben), seien von der fan, Stabsarzt und Mitglied der Waffen­ Dienststelle nachdrücklich beanstandet SS, an der Ostfront. Zuvor war Ste­ worden. fan Rahm als Arzt im SS-Lazarett Im Oktober 1940 wurde Rahm zur in Dachau tätig gewesen, allerdings Zentralstelle für jüdische Auswanderung noch vor der Einlieferung seines Bru­ nach Prag versetzt.20 Trotz aller gegen­ ders Franz als Häftling.21 Karl Rahm teiligen Indizien, etwa auch der Aus­ erklärte vor Gericht, das Studium sei­ sage Seidls in dessen Prozeß, bestritt nes Bruders sei nur unter großen finanzi­ Rahm hartnäckig, jemals der Stellver­ ellen Opfern möglich gewesen, er selbst treter des Leiters der Prager Zentral­ habe einen Teil der Kosten mittragen stelle, Hans Günther, gewesen zu sein, müssen. Mitte 1942 wurden Karl Rahm, ja er behauptete sogar, es habe gar kei­ wie er vor Gericht angab, in der Dienst­ nen Stellvertreterposten gegeben. Er sei stelle in Prag mehrere Schriftstücke im Leiter der Abteilung für Personal- und Zusammenhang mit einer Anzeige ge­ Hausangelegenheiten gewesen und habe gen ihn und seine Familie vorgelegt. als solcher hauptsächlich Personalfragen Der Anzeigenerstatter habe seine Ab­ und Luftschutzangelegenheiten bearbei­ sicht bekundet, die ganze Familie Rahm tet. Weiters seien ihm auch die Zensur zu zerstören. Infolge dieser Attacken des Jüdischen Nachrichtenblattes und habe er sich in Prag fast völlig ins Pri­ zuletzt die Einrichtung eines ( offenbar vatleben zurückgezogen, er habe den als J udaica-Sammlung geplanten) ,,jüdi• außerberuflichen Kontakt mit Kollegen schen Museums" in der Prager Altstadt gemieden und sich in seiner Freizeit oblegen. Die Abteilung Hausangelegen­ ausschließlich seiner Familie und sei­ heiten sei, gemeinsam mit dem Auswan- ner Lieblingsbeschäftigung, der Malerei,

572 ÖZG 4/1992 Forum, 540-582 gewidmet. Sein anfangs gutes Verhält• Einige Vorfälle, denen im Verlauf des nis zu Hans Günther sei im Laufe des Prozesses besonderes Augenmerk zu­ Jahres 1942 im Zusammenhang mit teil wurde, waren die Erschießung Paul dieser Angelegenheit, die sonst keine Epsteins, Mitglied des jüdischen Älte­ spürbaren Folgen gehabt habe, sehr ab­ stenrates, in der nahegelegenen "Klei­ gekühlt. Rahm äußerte auch den Ver­ nen Festung" und eine geheime nächtli• dacht, Günther habe ihm Aschenbren­ che Aktion Ende Oktober 1944, bei der ner, welchen Rahm noch aus seinem Pri­ - zweifellos zur Beseitigung von Spu­ vatleben in Klosterneuburg kannte, als ren - Asche aus dem Krematorium des Spitzel in die Kanzlei gesetzt. Ghettos in den Fluß Eger und in eine Am 8. Februar sei er, "völlig unvorbe­ eigens dafür vorbereitete Grube in Li­ reitet", in Anwesenheit Eichmanns mit tomefice (Leitmeritz) geschüttet wurde der Leitung der Dienststelle in The­ und anschließend die aus Karton beste­ resienstadt beauftragt worden. Rahm, henden Urnen verbrannt wurden. Die der allem Anschein nach wegen seiner Aktion wurde von einem Arbeitskom­ handwerklichen Fähigkeit für diese Auf­ mando von 20 Juden durchgeführt, die gabe ausgewählt worden war, erhielt alle wenig später in der "Kleinen Fe­ den Auftrag, die seit langem geplante stung Theresienstadt" exekutiert wur­ "Stadtverschönerung" im Hinblick auf den. Während Rahm beteuerte, die Ak­ den erwarteten Besuch einer internatio­ tion habe unter der Leitung von Ernst nalen Kommission in Angriff zu neh­ Moes, eines einflußreichen Mitarbeiters men. Er wurde damit zum Architekten des Eichmann-Referates im RSHA, und jener Inszenierung, mit der die Außen• im direkten Auftrag Himmlers statt­ welt, vor allem das neutrale Ausland, gefunden, machte der SS-Mann Hein­ über die wahren Bedingungen im La­ rich Scholze als Zeuge im Prozeß Rahm ger und dessen tatsächliche Funktion selbst dafür verantwortlich und beschul­ auf zynische Weise getäuscht werden digte ihn, sich in diesem Zusammen­ sollte. "Ich faßte meine Arbeit mit Eifer hang gegenüber den Juden grob, ja an, weil ich sah, welch enorme Vorteile als „tierischer Sadist" gebärdet zu ha­ durch die Verbesserungen sich für die ben. Rahm wurde auch beschuldigt, An­ Bewohner ergaben", erklärte Rahm vor gehörige bereits Deportierter unter Vor­ Gericht. Obwohl er seine „Judenfreund• spiegelung falscher Tatsachen dazu ver­ lichkeit" im Laufe seiner Tätigkeit in leitet zu haben, sich freiwillig zu den Theresienstadt klar bewiesen und sich Todes-Transporten im Osten zu mel­ damit sogar Rügen seitens seiner vor­ den. Vor dem Besuch einer zweiten, für gesetzten Stellen eingehandelt habe, April 1945 angekündigten Kommission hätten die Juden - die als Zeugen vor ließ Rahm den Friedhof des Ghettos Gericht nun schwerwiegende Anschuldi­ verkleinern, um die wahre Anzahl der gungen gegen ihn erhoben - alles Gute, Toten zu kaschieren. Rahm, dem von das er für sie getan habe, vergessen. den Lagerinsassen der Beiname „Schlag-

F o r u m , 540-582 ÖZG 4/1992 573 Rahm" verliehen wurde, nötigte vor koll sprang er im Laufe des Prozesses dem Besuch der Kommissionen jüdi• in selbstmörderischer Absicht über die sche Kinder, ihn vor den Gästen als Treppe des Gerichtsgebäudes ins Erdge­ „Onkel Rahm" anzusprechen und sich schoß und blieb verletzt liegen, das Ver­ bei ihm darüber zu beschweren, daß fahren konnte jedoch fortgesetzt wer­ es „schon wieder Ölsardinen" zu den. Rahm wurde zum Tode verurteilt gebe. Angesichts der näherrückenden und hingerichtet. Front ließ Rahm in der Zeit vor Kriegs­ ende verschiedene Pläne zur Liquidie­ Die dargestellten Lebensläufe konfron­ rung des Ghettos entwerfen. In There­ tieren uns mit einer Fülle von Fak­ sienstadt wurden in dieser Zeit große ten, die einer weiteren Interpretation Mengen des Giftes Zyklon B eingelagert bedürfen und aus denen sich eine Viel­ und gleichzeitig Räumlichkeiten errich­ zahl von Forschungsfragen ableiten läßt, tet, die allem Anschein nach als Gas­ denen ich im Rahmen eines Forschungs­ kammern konzipiert waren. Rahm be­ projekts nachgehen möchte; einige wich­ stritt vor Gericht, von einer geplanten tige Fragen seien im folgenden kurz an­ Errichtung von Gaskammern gewußt zu gerissen. haben. Heinrich Jöckel, der Komman­ Was bewog Männer wie Seidl, Bur­ dant der „Kleinen Festung", sagte im ger und Rahm zum freiwilligen Ein­ Rahmen seines Prozesses aus, Rahm tritt in die NSDAP bzw. in die SS? habe ihm den Plan unterbreitet, die In welchem Ausmaß identifizierten sie Juden des Ghettos von 300 SS-Leuten sich zu diesem Zeitpunkt mit der na­ aus der Nachrichtenschule in Litomerice tionalsozialistischen Ideologie? Was läßt hinrichten und in Massengräber werfen sich aus der jeweiligen sozialen Her­ zu lassen, was Rahm ebenfalls abstritt. kunft, dem Verlauf von Kindheit und Rahms Dienst in Terezfn währte vom Jugend und aus dem engeren sozia­ 8. Februar 1944 bis Anfang Mai 1945, len und politisch-ideologischen Um­ als das „jüdische Siedlungsgebiet" in die feld erklären? Welche alters- und ge­ Obhut des Internationalen Roten Kreu­ schlechtsspezifische Bedeutung kam da­ zes überging. Rahm setzte sich nach bei dem Antisemitismus zu? Waren, wie Österreich ab und fand bei einer Firma vielfach von Tätern zu ihrer Rechtferti­ in Steyr Beschäftigung als Installateur. gung vor Gericht behauptet, wirtschaft­ Am 26. November 1945 wurde er von liche Not bzw. Arbeitslosigkeit entschei­ der österreichischen Polizei verhaftet dende Motive? Inwieweit beeinflußten und in das amerikanische Internierungs­ die politischen Entwicklungen in Öster• lager Glasenbach eingeliefert. Von dort reich in den 1920er und 1930er Jah­ wurde er am 19. Dezember 1946 nach ren den Werdegang dieser Personen? Pilsen und im weiteren am 20. Januar Was bewog etwa Rahm und Burger, sich 1947 in das Kreisgerichtsgefängnis Leit­ freiwillig zum österreichischen Bundes­ meritz überstellt. Laut Gerichtsproto- heer zu melden? Führten die Illegalisie-

574 ÖZG 4/1992 Forum. 540-582 rung der nationalsozialistischen Bewe­ mandanten bestimmten Personen vor­ gung seit Mitte 1933, die Flucht vie­ her über ihren Aufgabenbereich im ler österreichischer Nationalsozialisten Detail informiert? Was hielt sie auf nach Deutschland und ihr Beitritt zur ihren Posten, wenn sie keine Zwei­ Österreichischen Legion zu einer weite­ fel mehr über die ihnen zugedach­ ren Radikalisierung? ten Aufgaben haben konnten? Welche Welche Erklärungen gibt es für die Rolle spielten dabei soziale und wirt­ fraglos starke Präsenz von Österrei• schaftliche Privilegien, welche Bedeu­ chern im nationalsozialistischen Herr­ tung hatte die Angst vor einer Verset­ schaftssystem, vor allem aber für ihre zung an die Front? Und schließlich: wel­ maßgebliche Beteiligung an der Ver­ che Verführung lag in der plötzlich er­ nichtung der europäischen Juden? Wie langten Machtfülle als Herren über Le­ läßt sich die auffallende Konzentration ben und Tod? von Österreichern in Verwaltungsposi­ Die Beantwortung dieser Fragen setzt tionen in Polen, in den Niederlanden weitere umfangreiche Forschungen über und auf dem Balkan und in gewis­ die sozialen Herkunftsmilieus der Täter, sen Dienststellen ( etwa im Eichmann­ ihre Sozialisation, ihre Karrieren und Referat im RSHA) erklären? Welche ihre Handlungsweisen in den Verwal­ Rolle spielte dabei der in Österreich tungsstellen, Ghettos und Lagern vor­ besonders ausgeprägte Antisemitismus? aus. Sie könnten zu einem genaueren Inwieweit glaubten Österreicher, ihre Verständnis des nationalsozialistischen Loyalität gegenüber dem Deutschen Herrschaftssystems im allgemeinen und Reich besonders unter Beweis stellen der Judenvernichtung im besonderen zu müssen? Welche Rivalitäten um Po­ beitragen. sten, Einfluß und Macht gab es zwischen österreichischen und "reichsdeutschen" NS-Funktionären? Anmerkungen: Erfolgte im Zuge dieser Karrieren 1 Zu Novak siehe Strafsache gegen Franz eine schrittweise Persönlichkeitsverän• Novak vor dem Landesgericht für Strafsa­ chen Wien als Volksgericht, 27 b Vr 529/61, derung, etwa eine sukzessive Desensi­ Hv 28/64/67; zu Brunner siehe Mary Felsti­ bilisierung, die schließlich den gänz• ner, Commandant of Drancy: Alois Brun­ lichen Verlust von Tötungshemmun• ner and the Jews of France, in: Holocaust gen und anderen Skrupeln mit sich and Genocide Studies 2 (1987); Didier Epel­ brachte? Nach welchen Kriterien wur­ baum, Alois Brunner. La haine irreductible, den die Personen für die Posten der Paris 1990. Lagerkommandanten ausgewählt? Wa­ 2 H. G. Adler, Der Verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus ren bestimmte berufliche Vorkennt­ Deutschland, Tübingen 1974, 354 f. nisse, persönliche Fähigkeiten oder eine 3 Auch auf das Ghetto Theresienstadt bestimmte Persönlichkeitsstruktur aus­ kann hier nicht näher eingegangen wer­ schlaggebend? Waren die zu Lagerkorn- den. Es sei auf die äußerst detailreiche Stu-

F o r u m , 540- 582 ÖZG 4/1992 575 die von H.G. Adler verwiesen, Theresien­ Unites States Mission / Berlin Document stadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangs­ Center, DÖW, E 20975. gemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psy­ 9 Die beiden Großväter Burgers waren von chologie, Tübingen 1960. In einer noch Beruf Kaufmann bzw. Dreher gewesen. nicht veröffentlichten Arbeit über die Wie­ 10 Wie Franz Novak in seinem Pro­ ner Zentra~telle für jüdüche Au.,wande­ zeß zu Protokoll gab, war er selbst in rung, ihre Mitarbeiter und deren Rolle bei der Dokumentenannahmestelle tätig gewe­ der »Endlösung" (Projekt beim Fonds zur sen, während die späteren Theresienstädter Förderung wissenschaftlicher Forschung) Kommandanten Burger und Rahm für beschäftige ich mich auch eingehender mit die Dokumentenausgabe zuständig gewesen der Prager Zentra~telle und dem jüdischen seien (Strafsache gegen Franz Novak). Ghetto in Theresienstadt. 11 Eine beachtliche Zahl ehemaliger Mitar­ 4 Hauptquellen: Strafsache gegen Siegfried beiter der Wiener Zentralstelle wurde nach Seid! vor dem Landesgericht für Strafsachen Prag versetzt, so etwa auch Novak, der Wien, Vg lb Vr 770/46; Gauakt Siegfried auch am Aufbau der Berliner Reichszen­ Seidl (Nr. 337.472), Archiv der Republik, trale für die jüdische Awwanderung mit­ Wien. gewirkt hatte. 5 Laut Aussage des Zeugen Dr. Franz Pich­ 12 Maxime Steinberg, L'Etoile et le Fu­ ler im Prozeß gegen Seid! wurde die ge­ sil. La Traque des Juifs. 1942-1944. Vol. samte Intelligenz der „Untersteiermark", II, Bruxelles 1986, 236 f. (Übersetzung der sofern nicht nationalsozialistisch gesinnt, Verfasserin). nach Reichenburg gebracht. Pichler berich­ 13 Ebd. tete, das Vermögen der Betroffenen sei be­ 14 Simon Wiesenthal, Recht, nicht Rache. schlagnahmt, sie seien nachts ausgehoben Erinnerungen, Frankfurt am Main 1988, und auf Lastwagen abtransportiert worden. 94 f. In dem Lager seien Männer, Frauen und 15 Laut Wiesenthal war kurz nach dem Kinder unter schlimmsten hygienischen Be­ Krieg bereits eine funktionierende Nazi­ dingungen in den Stallungen zusammenge­ Untergrundorganisation mit einem ein­ pfercht worden, Geld und Schmuck habe gespielten Informationssystem aufgebaut man ihnen abgenommen. worden. Burger habe enge Kontakte zu 6 Seidls Dissertation (Titel: Die Hauptli­ der in der Steiermark agierenden Nazi­ nie der Eizinger in Österreich; Österreichi• Untergrundorganisation Sechsgestirn un­ sche Nationalbibliothek, Signatur 219230- terhalten. Wiesenthal vermutet, Burger C) wurde allerdings bereits am 22. April habe damals als Kurier zwischen Eichmann 1938 zur Begutachtung vorgelegt. Im März und dem Sechsgestirn fungiert. Das Sechs­ 1939 heiratete Seid!, aus der Ehe gingen gestirn war eine jener Nazi-Organisationen, drei Kinder hervor. auf die die Fluchthilfeorganisation Odessa 7 Siehe Strafsache gegen Franz Novak. We­ aufbauen konnte. Siehe Wiesenthal, Recht, nig glaubhaft erscheint Wislicenys Behaup­ wie Anm. 14, 99 f. tung, Seid! habe die Vernichtungspolitik 16 Quellen: BDC-Akt über Karl Rahm, Eichmanns abgelehnt, ohne jedoch etwas DÖW E 21379; Gauakt Karl Rahm, Nr. dagegen zu tun. 49965, Archiv der Republik, Wien; Straf­ 8 Hauptquellen: Strafsache gegen Anton sache gegen Karl Rahm vor dem Gericht in Burger u.a., Landesgericht Wien, 30 Vr Litomefice (Leitmeritz), Staatsarchiv Lito­ 6300/58; Akt über Anton Burger von der mefice, Tschechoslowakei.

576 ÖZG 4/1992 Forum, 540-582 17 Während Rahm vor Gericht seine Ar­ beitslosigkeit als einen Grund für seinen Kultur - Politik Eintritt in die NSDAP anführte, hatte er in seinem Gauakt im Januar 1939 unter ,,Folgerungen aus der Zugehörigkeit zur NS­ DAP auf das Arbeits- und Beamtenverhält• nis während der Systemzeit" Arbeitslosig­ keit angegeben. 18 Siehe auch Gauakt Karl Rahm: Ansu­ chen an die Gauleitung der NSDAP Wien um die Aufnahme in den einfachen Voll­ zugsdienst der Sicherheitspolizei (Kriminal­ dienst). Als Grund für die Ablehnung bei der Kriminalpolizei führte Rahm vor Ge­ richt sein zu hohes Alter an. Der Gauakt enthält ein Schreiben der Betreuungsstelle für alte Kämpfer vom 25. Mai 1938 an das Arbeitsamt Metall, in dem um eine bevor­ zugte Einstellung in eine entsprechende Ar­ Gert Kerschbaumer / Karl Müller beitsstelle gebeten wird (Gauakt 49965, Ar­ Begnadet für das Schöne chiv der Republik, Wien). Der rot-weiß-rote Kulturkampf 19 Franz Rahm, geboren 1908, war Schnei­ gegen die Modeme dergehilfe, später Hilfsarbeiter und von Mit Beiträgen von Oliver Rathkolb 1928-1934 Mitglied der SPÖ. Im Zuge und O.P. Zier des Verfahrens beim Wiener Landesgericht 368 Seiten mit Abb., öS 298,-/DM 43,- wurde Franz Rahm beschuldigt, sich für die Nach dem Zusammenbruch des NS-Re­ illegale Kommunistische Partei betätigt, gimes galt es, Österreich als Kulturna­ Mitglieder geworben und Flugschriften ver­ tion im Konzert der freien Völker darzu­ teilt zu haben. Bei einer Hausdurchsuchung stellen und die Mitverantwortung vieler wurden größere Mengen Propagandamate­ Österrreicher an der NS-Barbarei weg­ rials sichergestellt. Franz Rahm und seine zuschieben. Auch die Rolle vieler NS­ Frau kamen zunächst in Untersuchungshaft Kulturträger aus Musik, bildender Kunst, (Strafanstalt Stein) und wurden wegen Vor­ Presse, Theater und Literatur wurde bereitung zum Hochverrat im März 1942 dabei aus dem Blick gerückt. Wie diese rechtskräftig verurteilt. (Anklage und Ur­ nach dem Krieg als Kulturrepräsentan• teil des Landesgerichtes siehe DÖW 8179, ten erneut installiert wurden und auf Gestapo-Akt vom 10. Januar 1940 siehe allen Gebieten sehr schnell wieder DÖW 8896). Einfluß und Macht gewinnen konnten, 20 Rahm heiratete im Mai 1940 Anna wird in diesem Buch beschrieben. Bauer, dieser Ehe entstammen drei Kinder, geboren 1941, 1943, 1946. 21 Siehe auch Gauakt 299 938 von Stefan Rahm, Archiv der Republik, Wien. Verlag für Gesellschaftskritik Kaiserstraße 91. A-1070 Wien. Tel: 0222/526 35 82

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