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Reviewed by Detlef Siegfried

Published on H-Soz-u-Kult (December, 2002)

Weite Räume, schneller Wandel. Neuere Li‐ auf die Zeit “um 1968” zusammen. In der allge‐ teratur zur Sozial- und Kulturgeschichte der meinen Wahrnehmung war es erst die Studenten‐ langen 60er Jahre in Westdeutschland bewegung, die einer vergangenheitsgebundenen Noch vor wenigen Jahren schnurrten die 60er und lethargischen westdeutschen Gesellschaft Jahre in der deutschen Geschichtskultur zumeist neues Leben einhauchte oder — aus einer ande‐

3 H-Net Reviews ren Perspektive — die neugewonnene Stabilität Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttin‐ gefährdete. Bei einer Sichtung der neueren Litera‐ gen 1998 (vgl. die Rezension von Axel Schildt in H- tur fällt auf, dass eine Fixierung auf das Datum SOZ-U-KULT vom 4.1.1999: http://hsoz‐ 1968 nach wie vor dominiert, aber doch inzwi‐ kult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=123) schen ergänzt wird durch einen stärker werden‐ sowie Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker den Forschungsstrom, der sich den 60er Jahren in (Hrsg.), 1968. The World Transformed, Washing‐ einer erweiterten zeitlichen Perspektive zuwen‐ ton, D.C., Cambridge 1998. Andere versuchten das det. Schon vor längerer Zeit haben einzelne Auto‐ Datum zu historisieren, indem sie aus einer länge‐ ren auf den eigenständigen Charakter des Jahr‐ ren zeitgeschichtlichen Perspektive nach Ein‐ zehnts hingewiesen, in dem nicht nur, wie der Be‐ schnitten und Transformationsmechanismen grif “Studentenbewegung” suggeriert, ein Teil der fragten. Eine Konferenz der Forschungsstelle für jungen Generation in Bewegung geriet. Vielmehr Zeitgeschichte in Hamburg und der Universität befand sich eine ganze “Gesellschaft im Auf‐ Kopenhagen von 1998 erkundete — eingebettet in bruch”. Hermann Korte, Eine Gesellschaft im Auf‐ einen deutsch-deutschen Bezugsrahmen — die dy‐ bruch. Die Bundesrepublik Deutschland in den namischen Folgewirkungen der “Modernisierung sechziger Jahren, /M. 1987. Doch erst im Wiederaufbau” und umriss ein eigenständiges vor wenigen Jahren, um 1998, wurde in einer Profl der 60er Jahre. Axel Schildt, Detlef Siegfried, breiteren Linie das Bemühen sichtbar, 1968 zu Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zei‐ historisieren. Dreißig Jahre nach dem “Annus mi‐ ten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Ge‐ rabilis” war der Abstand groß genug, sich diesem sellschaften, Hamburg 2000. Vgl. die Rezension Gegenstand auch wissenschaftlich zu nähern. von Thomas Etzemüller in: H-SOZ-U- KULT vom Claus Leggewie, 1968 ist Geschichte, in: Aus Poli‐ 26.2.2001: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tik und Zeitgeschichte, B 22-23/2001, S. 3-6. Der rezensionen/id=1229. Eine Tagung des Westfäli‐ Streit, der um 1968 und seine Akteure in der west‐ schen Instituts für Regionalgeschichte in Münster deutschen, dann auch in der gesamtdeutschen Ge‐ von 2000 knüpfte an die dortigen Projekte zur re‐ schichtskultur immer wieder aufgefackert war, gionalen Gesellschaftsgeschichte an, die den Zeit‐ hatte gezeigt, wie wenig abgesichert die Deutun‐ raum zwischen 1930 und 1960 umfassen, um den gen dieses Phänomens nach wie vor waren. Der Stellenwert der 60er Jahre in der westdeutschen Begrif “1968” hatte sich als Unschärfeformel zur Nachkriegsgeschichte zu ermitteln. Vgl. die Ta‐ suggestiven Vereinheitlichung eines schwer fass‐ gungsberichte von Dorothee Linnemann und baren Gemeinsamen entpuppt. Als wissenschaftli‐ Christiane Streubel in AHF-Informationen, Nr. 19 che Kategorie hingegen war und ist er kaum zu vom 24.3.2000 sowie Christoph Classen, “Natur‐ gebrauchen. trüb”: Die 60er Jahre zwischen Planung und Pro‐ Der um 1998 einsetzende Historisierungsschub test, in: H-SOZ-U-KULT vom 10.7.2000. Wie schnell kam aus verschiedenen Richtungen: Zunächst die Forschung auf diesen Historisierungsschub sollte “1968” als historisches Ereignis in seiner in‐ bereits jetzt reagiert, zeigt sich etwa daran, dass ternationalen Dimension vergleichend untersucht inzwischen weitere Konferenzen stattgefunden werden — so der Ansatz einer Berliner Tagung haben, die nun bereits nicht mehr die Entwick‐ des Deutschen Historischen Instituts Washington lungen der gesamten Dekade in den Blick neh‐ von 1996 und, ergänzt durch den Zugrif über men, sondern einzelne Aspekte näher untersu‐ eine analytische Kategorie, einer Bielefelder Ta‐ chen. So etwa die Tagung: Coming to Terms with gung von 1997. Die Ergebnisse beider Tagungen the Past in West Germany: The 1960s, German lagen bereits 1998 in gedruckter Form vor. Ingrid Historical Institute, Washington, D.C., University Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968 – Vom Ereignis zum of Nebraska, Universität Heidelberg, April 2001.

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Vgl. den Tagungsbericht von Philipp Gassert und der den Bezugsrahmen weiter schneidet. Nur ein Alan Steinweis in: Bulletin of the German Histori‐ Teil der im fraglichen Zeitraum erschienenen Pu‐ cal Institute, Nr. 30, Spring 2002, S. 153-164. Groß‐ blikationen kann hier näher besprochen werden. fächige theoretische Zugrife treten zunehmend Unter den weiteren zeitgeschichtlich interessan‐ zurück zugunsten einer empirischen Rekonstruk‐ ten Veröfentlichungen fndet sich etwa: Marica tion von Ereignissen und Strukturen, synchronen Tolomelli, “Repressiv getrennt” oder “organisch und diachronen Zusammenhängen. Eine stärkere verbündet”. Studenten und Arbeiter 1968 in der Hinwendung zum Konkreten signalisiert auch die Bundesrepublik Deutschland und Italien, Opladen Tatsache, dass sich unter den neueren Veröfentli‐ 2001. Eine ganz eigene Konjunktur erleben auto‐ chungen eine beträchtliche Anzahl von Dokumen‐ biographische Veröfentlichungen, die z.T. wesent‐ tationen sowie Quellen- und Archivführer fnden. liche Informationen und atmosphärisch dichte Insgesamt wird deutlich, dass sich der Blick auf Eindrücke bieten. So z.B. Dieter Kunzelmann, “1968” in drei Richtungen signifkant erweitert Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus mei‐ hat: durch die Einbettung in einen internationa‐ nem Leben, Berlin 1998; Ulrike Heider, Keine len Kontext, die eine genauere Bestimmung des Ruhe nach dem Sturm, Hamburg 2001 oder jetzt Verhältnisses von transnationalen Bedingungsfak‐ Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und toren und nationalen Spezifka ermöglicht, durch die Folgen, München 2002. Aus zeitgeschichtlicher Regionalisierung, die eine Diferenzierung unter‐ Perspektive spricht vieles dafür, die Dekade etwas halb der nationalen Ebene ermöglicht, und weiter zu defnieren und die „langen“ 60er Jahre schließlich durch die Einbettung in längere zeitli‐ zwischen etwa 1959 und 1973 in den Blick zu neh‐ che Entwicklungslinien, die überhaupt erst eine men. Dies zeigt für andere westliche Länder jetzt Antwort auf die Fragen ermöglicht, wie es in den überzeugend: Arthur Marwick, The Sixties, Cultu‐ materiell besser gestellten Nachkriegsgesellschaf‐ ral Revolution in Britain, , Italy, and the ten zu derartigen Protestbewegungen kommen United States, c.1958-c.1974, Oxford 1999. In der konnte und in welchem Verhältnis diese Bewe‐ Zäsur am Anfang des Zeitraums übereinstim‐ gungen zur Entwicklung der Gesamtgesellschaf‐ mend und für die 50er Jahre grundlegend: Axel ten standen. Schildt, Arnold Sywottek, Modernisierung im Wie‐ Vorliegender Literaturbericht soll einige neu‐ deraufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der ere Veröfentlichungen zur Sozial- und Kulturge‐ 50er Jahre, 1993; Axel Schildt, Moderne Zei‐ schichte der 60er Jahre vorstellen, die zwischen ten. Freizeit, Massenmedien und “Zeitgeist” in der 1998 und 2001 erschienen sind. Vgl. auch die Lite‐ Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. raturberichte von Wolfgang Kraushaar, Der Zeit‐ Vgl. demgegenüber jetzt Hanna Schissler (Hrsg.), zeuge als Feind des Historikers? Neuerscheinun‐ The Miracle Years. A Cultural History of West Ger‐ gen zur 68er-Bewegung, in: Mittelweg 36, 8. Jg., many, 1949-1968, Princeton, Oxford 2001, die den 1999, H.6, S. 49-72 und Christoph Jünke, Den Ur‐ Bruch wiederum im Jahre 1968 lokalisiert. Dass sprung historisieren? Ein Literaturbericht zum 30. unter den besprochenen Publikationen diejeni‐ Jubiläum der Revolte von 1968, in: 1999. Zeit‐ gen, die auf “1968” fokussiert sind, das Gros aus‐ schrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahr‐ machen, widerspiegelt noch die augenblickliche hunderts, 16. Jg., 2001, H. 2, S. 159-184, die sich auf — allerdings im Wandel begrifene — Forschungs‐ „1968“ und die „68er-Bewegung“ konzentrieren, lage. Es fällt auf, dass die meisten Publikationen sowie Klaus Weinhauer, Zwischen Aufbruch und unter dem Label “1968” alle möglichen “progressi‐ Revolte: Die 68er-Bewegungen und die Gesell‐ ven” Tendenzen des langen Jahrzehnts zusam‐ schaft der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: menfassen, so dass die zeitliche Perspektive oft‐ Neue Politische Literatur, 46. Jg., 2001, S. 412-432, mals sehr viel weiter spannt als angesichts der Ti‐

5 H-Net Reviews tel vermutet werden kann. In dieser Chifre ver‐ Nahrungsmittelversorgung, Alterssicherung, Voll‐ dichten sich Entwicklungen, die bereits lange zu‐ beschäftigung. Weil die materiellen Grundlagen vor begannen, weit darüber hinaus ausstrahlten weitgehend stabilisiert waren, entstanden Frei‐ und mehrdeutiger waren als das Label suggeriert. räume, die für nicht unmittelbar existenzsichern‐ Stärker als bisher hat die diesbezügliche For‐ de Interessen genutzt werden konnten. Die Zu‐ schung die Kontexte und Entstehungsfaktoren als nahme der Freizeitbudgets wurde begleitet von eigenwertige Gegenstände thematisiert, so dass einer Explosion an Angeboten zur Freizeitnut‐ die Literatur über “1968” inzwischen bereits zahl‐ zung: Fernsehen, Automobilisierung und Touris‐ reiche Anhaltspunkte für sozial- und kulturge‐ mus lieferten die materielle Basis. Hinzu kam, schichtliche Aspekte der 60er Jahre bietet, die mit dass sich auch die Arbeitsverhältnisse wandelten der “Studentenbewegung” nicht unbedingt etwas und der tertiäre Sektor gegenüber der Industrie, zu tun hatten. vor allem aber im Verhältnis zur Landwirtschaft Während die materiellen, politischen und kul‐ an Bedeutung gewann. Heranwachsenden aus un‐ turellen Spielräume der Westdeutschen in den terprivilegierten Schichten versprach die Bil‐ 50er Jahren noch verhältnismäßig eng waren und dungsreform verbesserte Möglichkeiten der An‐ nach einer enormen Erweiterung ab der Mitte der eignung “kulturellen Kapitals” und damit des sozi‐ 70er Jahre wiederum enger wurden, eröfneten alen Aufstiegs. Auf der politischen Ebene sorgte sich ihnen in der dazwischenliegenden Dekade der Übergang vom konservativen Traditionalis‐ scheinbar unbegrenzte Horizonte, so dass schon mus über eine konservative Modernisierung hin die Zeitgenossen von “goldenen Jahren” sprachen. zu einer sozialliberalen Modernisierung für die Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hrsg.), Erweiterung der Spielräume. Ulrich Herbert Jahrbuch der öfentlichen Meinung 1968-1973, Al‐ spricht mit Blick auf die Lebensweisen und politi‐ lensbach 1974, S. 209. Sie hoben sich insbesondere schen Einstellungen von einem “Lernprozeß” der deshalb so scharf von der vorangegangenen Zeit “Liberalisierung”, der in den 60er Jahren einen ab, weil seit den späten 50er Jahren die situative erheblichen Schub erfahren habe. An dieser Stelle Evidenz der “Kriegsfolgengesellschaft” zurücktrat kann nur annotierend hingewiesen werden auf und die grundlegenden Muster der politischen den soeben erschienenen Sammelband: Ulrich Kultur und der Lebensstile umbrachen. Klaus Na‐ Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeut‐ umann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Ham‐ schland. Belastung, Integration, Liberalisierung burg 2001. Vgl. zum Folgenden auch Robert G. Mo‐ 1945-1980, Göttingen 2002. In diesem politischen eller, War Stories. The Search for a Usable Past in Modernisierungsvorgang trugen die Integrations‐ the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001. bemühungen der Westalliierten, die Abschottung Allerdings verfüchtigte sich die “Tiefenprägung” nach Osten und die massenmediale Erfassung der deutschen Gesellschaft durch Traditionalis‐ dazu bei, dass sich die Aktionsräume und geisti‐ mus und akute Gewalterfahrungen zunächst kei‐ gen Horizonte der Bundesbürger hauptsächlich neswegs. Sie imprägnierte die kollektiven Vergan‐ nach Westen hin erstreckten. Anselm Döring- genheitsdeutungen und Gegenwartswahrneh‐ Manteufel, Wie westlich sind die Deutschen? mungen, wurde dann aber immer stärker überla‐ Amerikanisierung und Westernisierung im 20. gert von Besserstellungs- und Liberalisierungs‐ Jahrhundert, Göttingen 1999. Vgl. auch Axel schüben. In wirtschaftlicher Hinsicht konnten die Schildt, Sind die Westdeutschen amerikanisiert Zeitgenossen ab dem letzten Drittel der 50er Jahre worden? Zur zeitgeschichtlichen Erforschung kul‐ vom vorangegangenen Aufschwung proftieren. turellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Er schlug sich in einer verlässlichen Absicherung Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Poli‐ der Existenzgrundlagen nieder — Wohnung und tik und Zeitgeschichte, B 50/2000, S. 3-10. Gleich‐

6 H-Net Reviews zeitig erleichterte die Deeskalation des Kalten chen Teil der Bevölkerung im Laufe des Jahr‐ Krieges eine innere Liberalisierung der Gesell‐ zehnts zu einer Radikalisierung kam, die sich ge‐ schaft. In dieser Umbruchsituation hin zu einer gen die politische und kulturelle Verwestlichung “postindustriellen” Gesellschaft begann jener und den schnellen Wandel moralischer Normen “Wertewandel”, der in den 70er und 80er Jahren richtete. Die existentialistische Schärfe, die die sowohl manche Verhaltensstandards als auch das Auseinandersetzungen der 60er und frühen 70er kollektive Selbstbild der Bundesbürger veränder‐ Jahre oftmals annahmen, rührte auch aus der Un‐ te. Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Werte‐ sicherheit vieler Akteure über die Substanz der wandel in der westlichen Welt, Frankfurt/M., New westdeutschen Demokratie und die Standfestig‐ York 1989; Helmut Klages (Hrsg.), Werte und Wan‐ keit ihrer Bürger. del. Ergebnisse und Methoden einer Forschungs‐ 1. Pfade in die Sozial- und Kulturgeschichte tradition, Frankfurt/M. 1992. Die Ausdehnung der der 60er Jahre Möglichkeitshorizonte stand in einem dynami‐ Eine Reihe von jüngst erschienenen Publikati‐ schen Wechselverhältnis mit der Ausdehnung der onen widmet sich Fragestellungen, die nicht in je‐ Erwartungshorizonte: Mit der Nutzung der neuen dem Falle zentral auf die 60er Jahre bezogen sind, Spielräume durch die sozialen Akteure entstan‐ aber doch das beschleunigte Transformationstem‐ den sogleich Zukunftshofnungen und Reformer‐ po am Dekadenwechsel aufspüren und damit ein wartungen, die das besondere Aufbruchklima der wesentliches Charakteristikum der Zeit herausar‐ Zeit prägten. Diese Phase endete, als die wirt‐ beiten: den raschen und tiefgehenden gesell‐ schaftlichen, ökologischen und politischen „Gren‐ schaftlichen Wandel, der nicht erst das Ende des zen des Wachstums“ erreicht wurden. Dennis L. Jahrzehnts, sondern bereits die Jahre zwischen Meadows, Die Grenzen des Wachstums. Bericht 1958 und 1963 kennzeichnete. Dies gilt etwa für des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Rein‐ zwei sehr unterschiedliche Arbeiten, deren Er‐ bek 1973. kenntniswert für die Erschließung der fraglichen Gleichwohl vollzogen sich die Prozesse der Dekade hier skizziert werden soll. Als Beispiele Diversifzierung, Enttraditionalisierung und Indi‐ für weitere Arbeiten mit vergleichbarer Öfnungs‐ vidualisierung nicht in einem freien Raum, son‐ funktion für sozial- und kulturgeschichtliche Zu‐ dern innerhalb eines fexiblen Rahmens, der sammenhänge: Volker Ackermann, Der “echte” durch Klassen- und Schichtenzugehörigkeit, Ge‐ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge schlecht, Milieubindungen, Kriegs- und Migrati‐ aus der DDR 1945-1961, Osnabrück 1995; Habbo onserfahrungen etc. geformt war. Auch weil die‐ Knoch, Die Tat als Bild. Fotografen des Holocaust ser Rahmen zwar in Grenzen variabel, aber kei‐ in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg neswegs beliebig veränderbar war, kann die Sozi‐ 2001; Karl Lauschke, Die Hoesch-Arbeiter und ihr al- und Kulturgeschichte der 60er Jahre nicht als Werk. Sozialgeschichte der Dortmunder Westfa‐ ungebrochene Modernisierungsgeschichte gese‐ lenhütte während der Jahre des Wiederaufbaus hen werden. Noch in der zweiten Hälfte der 60er 1945-1966, Essen 2000. Während Uta G. Poigers Jahre waren traditionalistische Haltungen weit Arbeit über Amerikanisierungstendenzen in den verbreitet – nicht zuletzt, weil die Gesellschaft Jugendkulturen der beiden deutschen Staaten sich immer stärker und schneller von den ihnen sich auf die Jahre des Übergangs konzentriert, Uta zugrunde liegenden Normen verabschiedete. Sie G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics behinderten den gesellschaftlichen Wandel teil‐ and American Culture in a Divided Germany, Ber‐ weise erheblich, gerieten allerdings auch immer keley, Los Angeles, London 2000. umgreift Christi‐ mehr unter Druck. So signalisierte etwa der Auf‐ ne von Oertzens Studie zur Entwicklung der Teil‐ stieg der NPD, dass es in einem nicht unerhebli‐

7 H-Net Reviews zeitarbeit explizit die 50er und 60er Jahre und zen, in hüftschwingenden Jungs und hosentragen‐ verfolgt damit Transformationstendenzen in ei‐ den Mädchen eine gefährliche Aufösung der Ge‐ ner längeren Linie. Christine von Oertzen, Teil‐ schlechterdistinktionen. Nicht nur in der DDR, zeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Ge‐ sondern auch in der Bundesrepublik stand man schlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in den kulturellen Angeboten aus den USA mit be‐ Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999. Oft trächtlicher Skepsis gegenüber und suchte ihren sind die “Halbstarken” der späten 50er Jahre als Einfuss durch die Förderung traditionaler Mas‐ eine Art Vorgänger der aufrührerischen Studen‐ senkulturen einzudämmen. In beiden Staaten ten von 1968 angesehen worden. Von anderem so‐ wurde die Adaption amerikanischer Jugendkultu‐ zialen Zuschnitt zwar, mit anderen Stilen, aber ren durch deutsche Jugendliche zunächst als poli‐ doch einig in der Rebellion gegen ein fest gefügtes tische Stellungnahme gedeutet: im Westen als Pro‐ kulturelles Normensystem. Poigers Studie zeigt test gegen die Gesellschaft, im Osten als Partei‐ nun, dass es eine Konfrontation der Stile durch‐ nahme für den imperialistischen Westen. Wäh‐ aus gab, dass Lederjacken, Elvistolle, feminisierte rend die politisch Verantwortlichen in der DDR an Männer und maskulinisierte Frauen die traditio‐ dieser Position im Prinzip festhielten und erst nellen Normen und Werte tatsächlich fundamen‐ spät und immer notgedrungen fein dosierte Spiel‐ tal attackierten, dass jedoch die politische Klasse räume zugestanden, so erkannten die Opinion der Bundesrepublik auf die Herausforderung kei‐ leader im Westen bereits frühzeitig, dass sich neswegs konfrontativ, sondern sogar außeror‐ westliche Kultur als Wafe im Kalten Krieg einset‐ dentlich fexibel reagierte. Fokussiert auf die Jah‐ zen ließ und zwangen sich zu einer toleranten re etwa zwischen 1955 und 1959, mit einer regio‐ Haltung. Die entscheidenden Wegbereiter dieser nalen Konzentration auf die noch nicht durch Wende sieht Poiger in den “Cold War liberals”, Po‐ eine Mauer geteilte ehemalige Reichshauptstadt, litikern und Meinungsführern wie Ludwig Erhard unternimmt Poiger eine Expedition in die Tiefen oder Helmut Schelsky, die sich vom traditionellen der Wertewelten nicht nur der West-, sondern Kulturpessimismus dadurch unterschieden, dass auch der Ostdeutschen. Ihre Arbeit unterscheidet sie die Lokomotive des Fortschritts nicht aufhal‐ sich von den bisherigen Studien, aus denen viel ten, sondern sich als Lokomotivführer betätigen über die “Halbstarken” und die Amerikawahrneh‐ und die Richtung bestimmen wollten. Sicherlich mung westdeutscher Jugendlicher zu lernen war, kann man darüber streiten, ob diese Personen als vor allem dadurch, dass sie nun auch die DDR mit “liberal” trefend gekennzeichnet sind — Verteidi‐ einbezieht und dadurch zu einer Vielzahl neuer gungsminister Franz Josef Strauß etwa müsste Einsichten auch im Hinblick auf die westdeut‐ hier wohl auch einbezogen werden, denn er be‐ schen Verhältnisse kommt. Gerade wegen der mühte sich eingehend darum, der eben gegründe‐ konsequenten Durchführung der doppelten Per‐ ten Bundeswehr den Jazz nahe zubringen, mit der spektive handelt es sich um eine kulturgeschicht‐ Begründung, dass dieser eine gemeinschaftsbil‐ liche Pionierstudie. Poiger geht der Frage nach, dende Kraft besäße und im übrigen von den tota‐ inwiefern sich in den amerikabezogenen, mit Jazz litären Systemen Nationalsozialismus und SED- und Rock ‘n’ Roll verbundenen Verhaltensweisen Diktatur abgelehnt würde. An der Haltung von junger Deutscher Veränderungen in den Ge‐ Strauß zeigt sich, worüber am Ende der 50er Jah‐ schlechterverhältnissen und in „rassischen“ Af‐ re weitgehende Einigkeit bestand: Während der nitäten ankündigten und wie diese Praktiken im Osten, in einem Boot mit dem Nationalsozialis‐ öfentlichen Diskurs verhandelt wurden. Im posi‐ mus, westliche Kultur verbot, war die Bundesre‐ tiven Bezug auf schwarze Musiker sahen Kritiker publik so frei, auch deren gelegentliche Übertrei‐ eine unerwünschte Verwischung der Rassengren‐ bungen gelassen zu ertragen. An der Tatsache,

8 H-Net Reviews dass gerade nicht die fortschrittlicheren Sozialde‐ Hälfte der 70er Jahre — all dies legt eine derartige mokraten, sondern Modernisierer des Konserva‐ Sicht nahe. Direkter als viele andere Wandlungs‐ tismus die Wende zu einer unaufgeregten Hal‐ prozesse wird dieser Umbruch unmittelbar auf tung gegenüber den Konsumgewohnheiten junger die Impulse von 1968 bezogen, als nämlich Frau‐ Leute einleiteten, zeigt sich überdeutlich, wie en in der Studentenbewegung die politischen stark der Druck des gesellschaftlichen Wandels Aspekte der privaten Lebensverhältnisse in den bereits geworden war und wie geschmeidig sich Vordergrund rückten und damit die Reproduktion die Kraft des Konsums als Kampfmittel im Kalten der klassischen Rollenverteilung durch ihre Krieg verwenden ließ — zur Integration der eige‐ männlichen Genossen attackierten. Die Ergebnis‐ nen Bevölkerung und zur Abgrenzung vom Osten. se von Christine von Oertzens akribischer Studie Poiger zeigt sehr überzeugend, dass dies gelang, geben Anlass, dieses Bild deutlich zu diferenzie‐ weil die westdeutschen Meinungsführer Jazz und ren. Denn die Veränderung weiblicher Arbeitsver‐ Rock ‘n’ Roll “depolitisierten” und zu einem harm‐ hältnisse in den 60er Jahren deutet darauf hin, losen Privatvergnügen junger Leute umdeuteten. dass sich die feministische Bewegung der darauf Allerdings machte gerade die absichtsvolle Depo‐ folgenden Dekade weniger vor dem Hintergrund litisierung der jugendlichen Stile evident, dass fest zementierter Geschlechterverhältnisse her‐ Konsum ein politischer Faktor war und blieb. ausbildete, sondern ihre Durchschlagkraft gerade Auch bedeutete die politische Instrumentalisie‐ deshalb gewann, weil ein Emanzipationsprozess rung der Konsumkultur durch manche westdeut‐ von Frauen auf wichtigen gesellschaftlichen Fel‐ schen Meinungsführer keineswegs, dass auch Vol‐ dern bereits in vollem Gang war, allerdings auch kes Stimme zum kulturellen Eigensinn Jugendli‐ an seine Grenzen stieß. cher künftig schwieg. Vielmehr war diese Front, Es gehört zu den Legenden über die angeb‐ wie sich dann im weiteren Verlauf der 60er Jahre lich so “bleiernen” 50er Jahre, dass Frauen an zeigen sollte, keineswegs pazifziert. Und schließ‐ Heim und Herd gefesselt worden seien. Tatsäch‐ lich trieben die Sozialwissenschaftler ihre demon‐ lich war die gesellschaftliche Wirklichkeit auch strative Unaufgeregtheit so weit, dass sie noch un‐ auf diesem Gebiet vielfältiger als das konservative mittelbar am Vorabend der Studentenunruhen Ideal von der Alleinernährerfamilie es gerne ge‐ von einer reibungslosen Einpassung der jungen habt hätte. Frauen waren immer erwerbstätig, Generation in die gesellschaftliche Norm spra‐ teils als Vollzeitarbeitskräfte, mehr aber stunden‐ chen und damit die unübersehbaren Anzeichen weise, oft nach Tätigkeit und Arbeitszeit wech‐ für die Ausbreitung jener Subkulturen ignorier‐ selnd, vor allem mit dem einen Ziel: Existenzsi‐ ten, die kurz darauf als Agenturen des Umbruchs cherung und Kinderbetreuung unter einen Hut zu von sich reden machten. Der Mangel an Prognose‐ bekommen. Weil jedoch die Berufstätigkeit ver‐ fähigkeit, den viele Zeitgenossen nach 1968 der heirateter Frauen den allgemein üblichen Ge‐ westdeutschen Sozialwissenschaft bescheinigten, schlechterstereotypen nicht entsprach, sondern wird vor dem Hintergrund von Uta Poigers Unter‐ vermeintlich Rückschlüsse auf den Zustand der suchungsergebnissen überhaupt erst verständ‐ familiären Finanzen zuließ und damit die Leis‐ lich. tungsfähigkeit des männlichen Ernährers infrage In geschlechtergeschichtlicher Perspektive stellte, sollte sie am besten so unscheinbar wie gelten bislang weniger die 60er, sondern mehr die möglich vonstatten gehen. Christine von Oertzen 70er Jahre als eigentliche Um- und Aufbruchzeit. untersucht die Entwicklung der Teilzeitarbeit als Die Auseinandersetzung um den § 218, die Entste‐ derjenigen Arbeitsform, die für Ehefrauen und hung einer autonomen Frauenbewegung, die Re‐ Mütter typisch war, um der Frage nachzugehen, form des Ehe- und Familienrechts in der zweiten wie Frauenarbeit in der Bundesrepublik gesell‐

9 H-Net Reviews schaftsfähig wurde. Sie zeigt, dass dies um die zeitarbeit für “Hausfrauen” und setzte damit in Mitte der 60er Jahre schließlich der Fall war. Da‐ der Folgezeit die CDU beträchtlich unter Druck, bei handelte es sich um einen sehr weitgehenden deren geschlechterpolitischer Traditionalismus Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen, denn immer mehr hinter den sozialen Realitäten zu‐ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herrschte ein rückblieb. Schon in den frühen 60er Jahren war allgemeiner Konsens darüber, dass außerhäusli‐ es nicht mehr materielle Notwendigkeit allein, die che Erwerbsarbeit für verheiratete Frauen kein verheiratete Frauen und Mütter an einen außer‐ erstrebenswerter Zustand sei, sondern lediglich häuslichen Arbeitsplatz zwang — auch wenn dies aus Gründen materieller Not akzeptiert werden von den Betrofenen aus Akzeptanzgründen im‐ könne. Materielle Not war nach dem Zweiten mer wieder als Begründung angeführt wurde. An Weltkrieg allgegenwärtig, und daher wurde die die Stelle der blanken Not trat als Motiv die “Lust weit verbreitete weibliche Erwerbsarbeit als Aus‐ am Zuverdienen” — eine schillernde Kennzeich‐ nahme von der Norm akzeptiert — immer mit nung, mit der von Oertzen eine ganze Reihe von dem Ziel, bei Besserstellung wieder davon abzu‐ Motiven einfängt: die partielle Loslösung von rein lassen. Und tatsächlich änderten sich die Verhält‐ materiellen Aspekten ebenso wie den “Eigen‐ nisse mit dem “Wirtschaftswunder”, allerdings sinn”, mit dem Frauen ihre Entscheidung trafen letztlich in einer anderen Richtung als erhoft. In und durchsetzten, das Moment der individuellen der Mitte der 50er Jahre wollten viele Unterneh‐ Selbstentfaltung ebenso wie die Befriedigung men verkürzte Arbeitszeiten einführen, um mit durch das selbstverdiente Geld und die außer‐ ihrer Hilfe den zunehmenden Arbeitskräftebedarf häusliche soziale Einbindung, die die Arbeitsver‐ zu decken. Denn dadurch waren verheiratete hältnisse vieler Frauen kennzeichnete — selbst Frauen und Mütter zu mobilisieren, die auf diese wenn es sich um Fließbandarbeit handelte. Dies Weise Berufstätigkeit und Familienarbeit mitein‐ alles kann die Autorin so überzeugend zeigen, ander vereinbaren konnten. Dem widersetzten weil die Fragestellung aus der Perspektive der Ge‐ sich jedoch Frauenverbände und Gewerkschaften, schlechtergeschichte alle gesellschaftlichen Sphä‐ die ganz in traditionellen Bahnen dachten und in ren berührt. Untersucht werden nicht nur die Ver‐ der Teilzeitarbeit lediglich eine Möglichkeit sa‐ änderungen auf dem Arbeitsmarkt und die Debat‐ hen, bereits Vollzeit arbeitenden Frauen zu mehr ten in Parteien, Gewerkschaften und Verwaltun‐ Zeit für die Familienarbeit zu verhelfen. Gegen gen. Um die Etablierung der Teilzeitarbeit in der derartige Widerstände wurde seit 1958 Teilzeitar‐ Praxis so genau wie möglich zu erkunden, richtet beit zunehmend eingeführt und schließlich mehr die Autorin ihr Untersuchungsobjektiv auch auf und mehr auch gesellschaftlich akzeptiert. Der Ar‐ einzelne Betriebe und Individuen. An den Beispie‐ beitskräftebedarf der Wirtschaft trieb die Einglie‐ len Blaupunkt in Salzgitter und Bahlsen in Hanno‐ derung von Frauen in den Arbeitsprozess wohl ver wird die Ein- und Umstellung auf Teilzeitar‐ voran, jedoch bedingte er ihn keineswegs allein. beit in der betrieblichen Praxis untersucht, und Vielmehr handelte es sich um einen komplizierte‐ Interviews mit früheren Teilzeitarbeiterinnen er‐ ren Aushandlungsprozess, in dem sehr viele Fak‐ lauben tiefe Einblicke in die lebensgeschichtliche toren eine Rolle spielten — nicht zuletzt die ver‐ Bedeutung der Arbeitsaufnahme, aber auch in die heirateten Frauen selbst, die mit ihrer Entschei‐ innerfamiliären Problemlagen, denn oft genug dung für die Teilzeitarbeit schließlich auch die wi‐ musste diese Entscheidung gegen unwillige Ehe‐ derstrebenden Gewerkschaften zur Revision ihrer gatten durchgesetzt werden. In der Familie, aber Positionen bewegten. Die SPD hingegen förderte auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wurde schon früh, unmittelbar in der Nachfolge der Teilzeitarbeit schließlich auch nur deshalb akzep‐ pragmatischen Wende von Godesberg, die Teil‐ tiert, weil es sich um einen Kompromiss handelte.

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Während verheirateten Frauen und Müttern da‐ Studien zu den politischen Aspekten der Studen‐ mit grundsätzlich ein Recht auf außerhäusliche tenbewegung, in welch starkem Maße die Akteure Erwerbsarbeit eingeräumt wurde, blieb doch die dieser Bewegung in die kulturellen Entwicklungs‐ Geschlechterhierarchie prinzipiell unangetastet: tendenzen ihrer Zeit eingebunden waren, wie der Ehemann behielt seinen Status als Hauptver‐ stark auch Kritiker der Konsumgesellschaft an der diener und selbstverständlich durfte die Gattin innovativen Kraft der Konsumindustrie partizi‐ nur arbeiten gehen, wenn die ordnungsgemäße pierten. Besonders überzeugend gelingt dies Ste‐ Haushaltsführung nicht darunter litt. fan Gauß in seinem Aufsatz über die “Stereoanla‐ Es ist schon aufällig, dass die Debatten der ge als kulturelle Erfahrung”. Stefan Gauß, Das Er‐ 70er Jahre allgemein als zentrale Drehpunkte für lebnis des Hörens. Die Stereoanlage als kulturelle die Emanzipation von Frauen angesehen werden, Erfahrung, in: ebd., S. 65-93. In einem weiten Zu‐ während die nicht weniger spektakulären Diskus‐ grif umreißt er die Geschichte der Stereoanlage, sionen um Frauenarbeit in den 60er Jahren hinge‐ die Verbesserungen in der technischen Wiederga‐ gen in ihrer Bedeutung bislang völlig unterbewer‐ bequalität, den Weg des Qualitätslabels “High Fi‐ tet blieben. Dies hat natürlich auch damit zu tun, delity” von der Erfndung zur allgemeingültigen dass aus dem Blickwinkel der Gleichstellung die Norm für Hörgenuss, seine Vermarktung zu‐ Nachteile des Teilzeitkompromisses kaum zu nächst insbesondere für ein männliches und sozi‐ übersehen waren. Christine von Oertzen hat mit al bessergestelltes Publikum, aber auch die all‐ ihrer vorzüglichen Studie nicht nur eine For‐ mähliche soziale Egalisierung, die im Niedergang schungslücke geschlossen, sondern auch gezeigt, der ausladenden Musiktruhe, Eiche rustikal, und dass die Durchsetzung der Teilzeitarbeit als gesell‐ im Aufstieg der schlichten Bausteinelemente etwa schaftliche Norm keineswegs auf die Zementie‐ aus dem Hause Braun sichtbar wurde. An der Ste‐ rung der Geschlechterhierarchie reduziert wer‐ reoanlage zeigt sich exemplarisch, wie sich “um den kann, sondern einen erheblichen geschlech‐ 1968”, und zwar auf internationaler Ebene, eine terpolitischen Wandel bedeutete. bestimmte Art der Musikproduktion, -reprodukti‐ on und -konsumtion zu einem sehr wesentlichen 2. Wandlungsprozesse in Wissenschaft und Faktor generationeller Identität entwickelte. Der Alltagskultur Herausgeber selbst bettet die spezifsche “Reprä‐ Einen alltagskulturellen Ansatz für die Inter‐ sentation” der 60er-Jahre-Dinge — kulturelle Be‐ pretation der 60er Jahre bietet der anregende, deutungen, die den materiellen Artefakten einge‐ von Wolfgang Ruppert herausgegebene Band zur schrieben sind — in die explosionsartige Auswei‐ „Repräsentation der Dinge“ an. Wolfgang Ruppert tung des Massenkonsums seit den späten 50er (Hrsg.), Um 1968. Die Repräsentation der Dinge, Jahren ein, arbeitet die stark von Herbert Marcu‐ Marburg 1998. Hier operationalisiert der Heraus‐ se inspirierte Kritik vieler junger Intellektueller geber für die 60er Jahre sein bereits anderenorts an der Konsumgesellschaft heraus und fragt nach umrissenes Konzept, in den Artefakten des Alltags der Praxis der sozialen Akteure im Umgang mit “Chifren” zeitgenössischer Lebenswelten zu se‐ den Gegenständen der materiellen Kultur. Wolf‐ hen. Damit wird eine Dimension erschlossen, die gang Ruppert, Um 1968 — Die Repräsentation der ansonsten eher verborgen bleibt. Vier Detailstudi‐ Dinge, in: ebd., S. 11-45. Die Kommune I, wenn en präsentieren Objekte, die als “dingliche Spu‐ auch keineswegs repräsentativ für die Wohnform ren” (S. 8) zeitgenössischer Sozialkultur interpre‐ damaliger Studierender, machte es vor: Platten‐ tiert werden: Plakat, Stereoanlage, Fernsehgerät spieler und Fernseher im Dauerbetrieb, Filmpla‐ und modische Kleidung. Der Blick auf die profa‐ kate an der Wand und am Weihnachtsabend ein nen Dinge des Alltags macht deutlicher als viele ausschweifendes Festmahl, zu dem die Rolling

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Stones den zeitgemäßen Sound lieferten. Lange chungen zur Entwicklung der Literaturwissen‐ Haare, Parka, Afghanenmantel, Cordjeans, Dro‐ schaft explizit auf die “sechziger und siebziger gen — auch dies zeitgenössische Elemente einer Jahre” ausgedehnt. Rosenberg und Boden umgrei‐ materiellen Kultur, die in jeweils individuellen fen in ihren Aufsätzen die gesamten — langen — Mischungen mit anderen “Dingen” zur präzisen 60er Jahre als “Zäsur in der deutschen Literatur‐ Markierung des jeweiligen Oppositionsgrades wissenschaft”, und zwar im Hinblick auf die theo‐ herangezogen werden konnten. retische und die praktische Entwicklung des Fa‐ Der Blick auf einzelne Institutionen und Wis‐ ches. Rainer Rosenberg, Die sechziger Jahre als senschaftsdisziplinen hat das Bild von den Entste‐ Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. hungszusammenhängen, Verläufen und Folgewir‐ Theoriegeschichtlich, in: ebd., S. 153-179; Petra kungen von “1968” erheblich diferenziert. Was Boden, Probleme mit der Praxis. Hochschulger‐ die Institutionen betrift, so konzentrierte sich das manistik zwischen Wissenschaft, Bildung/Erzie‐ Interesse bislang auf jene Bereiche, die von der hung und Politik, in: ebd., S. 181-225. Die beiden Studentenbewegung besonders stark beeinfusst komplementär argumentierenden Aufsätze zei‐ wurden — die Hochschulen, insbesondere ihre gen, dass die Germanistik am Ende der 50er Jahre geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachberei‐ nicht nur “theoretisch defzitär”, sondern auch als che. Dass sich daran bis heute noch nicht viel ge‐ Ausbildungsfach dem explosionsartig gestiegenen ändert hat, zeigen zwei Publikationen, die sich Bedarf an gymnasialen Deutschlehrern über‐ mit der Entwicklung der Germanistik und in den haupt nicht gewachsen war. Die bereits in den Bildenden Künsten beschäftigen. Rainer Rosen‐ frühen 60er Jahren beginnenden Debatten um berg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden haben eine theoretische Neuorientierung unter den Leit‐ einen Sammelband vorgelegt, der, mit dem Fokus sternen Strukturalismus, Marxismus und Sozial‐ auf die Entwicklung der Literaturwissenschaft, geschichte auf der einen, eine Neustrukturierung sehr viel mehr Aspekte berücksichtigt als zumeist des Faches auf der anderen Seite wurden beglei‐ üblich. Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen, Pe‐ tet und angefeuert von einer Kontroverse um die tra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Rolle der Germanistik im Nationalsozialismus, die Vergleich Wissenschaft — Literatur — Medien, bereits 1959 von Rudolf Walter Leonhard angesto‐ Berlin 2000. Sie gehen der Frage nach, inwieweit ßen worden war. Wie lange die neuen theoreti‐ „1968“ als “wissenschaftsgeschichtliche Zäsur” an‐ schen und praktischen Paradigmen fortwirkten, gesehen werden kann und verfolgen sie aus drei zeigt sich etwa an den Lehrveranstaltungen zur Perspektiven. Im ersten Schritt richtet sich der Sozialgeschichte der Literatur an der FU Berlin, Blick nach Westen, um transnationale Elemente die im Sommersemester 1959 aufgenommen, die der Protestbewegungen in Westeuropa und den ganzen 60er Jahre hindurch angeboten wurden, USA herauszuarbeiten. In einem zweiten Ab‐ zwischen 1969 und 1972 dann ihre Hochzeit hat‐ schnitt werden Entwicklungstendenzen in der Li‐ ten und teilweise über die Hälfte des gesamten teraturwissenschaft in West- und Ostdeutschland Lehrangebots ausmachten. Der Anteil hielt sich untersucht, im dritten schließlich über Literatur bis 1978 auf relativ hohem Niveau. Angesichts und Medien in der DDR berichtet — mit einem dieser Befunde, die unzweideutig auf eine länger kurzen Seitenblick auch auf die Tschechoslowa‐ andauernde Transformationsperiode verweisen, kei. Exemplarisch für viele andere Publikationen ausgelöst von veränderten gesellschaftlichen Pro‐ demonstriert dieser Band, wie unter dem blemlagen und internationalen Wissenschafts‐ Catchword „1968“ zunehmend lange Transforma‐ trends, wird eigentlich immer undeutlicher, wel‐ tionsprozesse gefasst werden, die sich über viele che besondere Rolle dem Datum 1968 zuzumes‐ Jahre erstreckten. So werden etwa die Untersu‐ sen ist.

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Auch Helmut Peitsch nimmt in seinem Bei‐ Freien Universität Berlin wurden die divergieren‐ trag den längeren Zeitraum in den Blick und un‐ den Positionen von Lethen und Mattenklott dann tersucht, wie sich unter jungen Literaturwissen‐ unmittelbar politisch gegeneinander ausgetragen. schaftlern in Westdeutschland die Entdeckung Am Ende wird aus dieser Mikrostudie sehr deut‐ des Marxismus vollzog. Helmut Peitsch, “Warum lich, dass der Marxismus keineswegs allein etwas wird so einer Marxist?” Zur Entdeckung des Mar‐ Modisches war, das den Geisteswissenschaften xismus durch bundesrepublikanische Nach‐ künstlich von außen appliziert wurde. Vielmehr wuchsliteraturwissenschaftler, in: ebd., S. galt er in den 60er Jahren unter manchen west‐ 125-151. Am Beispiel von Thomas Metscher, Hel‐ deutschen Jungintellektuellen durchaus im wis‐ mut Lethen und Gert Mattenklott werden hier, ge‐ senschaftlichen Sinne als eine bis dahin unter‐ stützt auf umfangreiches Quellenmaterial, Bedin‐ drückte “Weise, den Modernisierungsprozeß zu gungsfaktoren, Verläufe und Ergebnisse dieser verstehen” (S. 127). Dieser Aufsatz ist vor allem weit verbreiteten theoretischen Aneignungsbewe‐ deshalb so instruktiv, weil er ein zentrales Pro‐ gung sehr präzise rekonstruiert. Dabei wird deut‐ blem der Sozial- und Kulturgeschichte der langen lich, dass sich bereits seit dem Ende der 50er Jah‐ 60er Jahre konsequent aus der Entwicklung der re marxistisch orientierte Pole herausbildeten, die gesellschaftlichen Problemlagen und der sich dar‐ immer stärkere Anziehungskraft gewannen — aus ergebenen geistigen Strömungen erklärt. Es Hans Mayer als Autorität in der Literaturge‐ gab eine innere Logik der Entwicklung, die weder schichte etwa oder die Zeitschriften “Das Argu‐ durch äußere Manipulation zu erklären ist — ment” und “die alternative”. Während sich die etwa durch Machenschaften der Konsumindus‐ einen — hier exemplarisch Metscher und Lethen trie, der chinesischen Botschaft in Ost-Berlin oder — schon Mitte der 60er Jahre dem Marxismus zu‐ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR — wandten, steht Mattenklott für jene, die erst im noch durch besonders forsche Werturteile erhellt Kielwasser der Studentenbewegung auf Marx re‐ werden kann — “Wiedertäufer der Wohlstandsge‐ kurrierten. Im weiteren Verlauf der Entwicklung sellschaft”, “Verrat an der Wissenschaft” etc. Tat‐ diferenzierten sich unterschiedliche Ausformun‐ sächlich lag angesichts der ungeheuren Kraft, mit gen des marxistischen Ansatzes heraus. Dabei der die Umbrüche an allen Enden der Gesellschaft setzt Peitsch die wissenschaftlichen Ansätze der die Wirklichkeit veränderten, der Bezug auf den Protagonisten in Beziehung zu den Argumentati‐ Marxismus alles andere als fern. Denn mit den onslinien und Hegemoniekämpfen der mit ihnen Kategorien der Innerlichkeit, des Rückzugs auf verbundenen Hochschulgruppen. Während das Private, aber auch mit einer rückwärtsge‐ Lethen mit Walter Benjamin den Klassenverrat wandten Kulturkritik war dem neuartigen Ge‐ des bürgerlichen Intellektuellen und die Ver‐ misch aus sozialer Transformation, Politisierung schmelzung mit dem Proletariat forderte, hielt und Hedonismus nicht mehr beizukommen. Vor Metscher es für möglich, auch innerhalb des Bür‐ allem aber reduzierte der Marxismus den Intel‐ gertums “fortschrittliche” Positionen zu beziehen. lektuellen nicht auf die Rolle des Kommentators, Nach 1968 verfestigten sich diese unterschiedli‐ sondern er ermöglichte und forderte den Eingrif chen Lesarten des Marxismus in der Option für in den Lauf der Geschichte. unterschiedliche Organisationen: Während Met‐ 3. Die internationale Dimension scher zur DKP ging, entschied sich Lethen für die Dass die Entwicklung der westlichen Indus‐ KPD/AO und wurde von ihrer Studentenorganisa‐ triegesellschaften nach dem Ende des Zweiten tion KSV unterstützt, Mattenklott arbeitete mit Weltkrieges in zunehmend ähnlichen Bahnen ver‐ den SEW-nahen ADSG zusammen. Im Konfikt der lief, hatten bereits die Zeitgenossen festgestellt. Gruppen am germanistischen Fachbereich der

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Zwar lösten sich nationale Spezifka keineswegs ner internationalen Bewegung sah, hatte mit der auf, aber der europäische Einigungsprozess, die Delegitimation des Nationalen nach 1945 zu tun, allmähliche Etablierung demokratischer Systeme mit Jazzmusik, Existenzialismus und Beatniks. in allen europäischen Staaten, die Entwicklung Eine ganze Reihe von SDS-Aktivisten hatte über‐ der Konsumgesellschaft hatten doch zu beträchtli‐ dies vielfältige Auslandserfahrungen — als chen Annäherungen in Wirtschaft, Politik und Tramps oder Teilnehmer der zahlreichen Aus‐ Kultur geführt und auch die Diferenzen gegen‐ tauschprogramme. Andererseits waren sie Ange‐ über den USA zurücktreten lassen. Dieser Annä‐ hörige einer geteilten Nation und verspürten die herungsprozess erstreckte sich über mehrere Folgen dieser Situation, vor allem jene SDSler, die Jahrzehnte und er verlief alles andere als harmo‐ in der DDR aufgewachsen und kurz vor dem Mau‐ nisch, so dass zwischenzeitlich durchaus nicht zu erbau in den Westen gekommen waren. Kraus‐ übersehen war, welche Richtung die Entwicklung haar misst der Teilungssituation völlig zu Recht künftig nehmen würde. In den 60er Jahren war es beträchtliche Bedeutung zu, mehr als dies in der angesichts der Existenz autoritärer Regierungen Regel der Fall ist. Angesichts dessen, was der Au‐ oder gar faschistischer Diktaturen in westeuropä‐ tor über Rudi Dutschkes Sicht der Wiedervereini‐ ischen Ländern — Frankreich, Griechenland, Spa‐ gung herausgefunden hat, kann man eine ganze nien, Portugal — nahe liegend, antidemokratische Reihe von Annahmen getrost über Bord werfen. Tendenzen aufmerksam wahrzunehmen und ih‐ Zum Beispiel die, dass die Idee der Wiedervereini‐ nen frühzeitig entgegenzutreten. Über den west‐ gung allein eine Phantasie der berühmten “Ewig‐ europäischen Rahmen hinaus wurden zuneh‐ gestrigen” gewesen sei, in den jungen Eliten hin‐ mend auch die Länder der „Dritten Welt“ und die gegen keine Rolle mehr gespielt habe. Vor dem Staaten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ in das Hintergrund seiner DDR-Sozialisation dachte für die Selbstverortung relevante internationale Dutschke immer in gesamtdeutschen Bezügen. Bezugssystem eingerückt. Am Ende des Jahr‐ Schon wenige Tage nach den Schüssen auf Benno zehnts war die Sichtweise fest etabliert, dass nicht Ohnesorg entwickelte er das Konzept, West-Berlin mehr unbedingt die Diferenz der Wirtschafts- zur rätedemokratischen Mustersiedlung umzu‐ und Gesellschaftssysteme in Ost und West ent‐ bauen und damit den festgefahrenen Gesellschaf‐ scheidend war, sondern ihre Gemeinsamkeiten ten in Ost- und Westdeutschland einen Dritten als moderne Industriegesellschaften. Weg vorzuführen — in der Hofnung, dass die In Wolfgang Kraushaars Buch “1968 als My‐ Ausstrahlungskraft dieser autonomen Modellre‐ thos, Chifre und Zäsur” sind für diesen Zusam‐ publik die beiden von äußeren Mächten abhängi‐ menhang zwei thematische Blöcke besonders in‐ gen Teilstaaten zum Einsturz bringen und zu ei‐ teressant, die durch jeweils zwei Aufsätze behan‐ ner Wiedervereinigung auf antiautoritärer delt werden und das Spannungsfeld zwischen ei‐ Grundlage führen könnte. In den mittleren und nem gesamtdeutschen und einem internationalen späten 70er Jahren wurden nationale Stimmen in Bezugsrahmen vor allem westlichen Zuschnitts den Gruppierungen, die sich aus der Studentenbe‐ thematisieren. Wolfgang Kraushaar, 1968 als My‐ wegung gebildet hatten, lauter. KPD/AO und KPD/ thos, Chifre und Zäsur, Hamburg 2000. Darin die ML führten eine prononciert „nationale“ Politik, Aufsätze “Rudi Dutschke und die Wiedervereini‐ die durchaus nicht nur rhetorischen Charakter gung” (S. 89-129), “Die neue Unbefangenheit. Zum hatte. Auch Dutschke äußerte sich nun unver‐ Neonationalismus ehemaliger 68er” (S. 172-195), blümter als zuvor in diesem Sinne. Kraushaar “Die erste globale Revoltion” (S. 19-52) und “Die setzt sich in einem weiteren Aufsatz scharf mit transatlantische Protestkultur” (S. 53-80). Dass die der aufälligen Zuwendung mancher Exponenten westdeutsche Studentenbewegung sich als Teil ei‐ der Studentenbewegung zur nationalen Rechten

14 H-Net Reviews hin auseinander. Wenn Bernd Rabehl 1989 be‐ qualitativen Sprung bewirkt haben. Gut möglich, hauptete, die Radikalen des West-Berliner SDS dass die Schockwirkung dieser Ersterfahrung hätten, gestützt auf Mao und Che Guevara, “‘natio‐ dazu beigetragen hat, 1968 gleichzeitig zu “My‐ nale Befreiung’ als einen Kampf gegen Stalinis‐ thos, Chifre und Zäsur” werden zu lassen. Kraus‐ mus und Imperialismus” interpretiert (S. 123), haar beschreibt die Mehrdimensionalität der in‐ dann vereinnahmte dies sicherlich unzulässig ternationalen Kontakte und Einfusssphären vor eine größere Gruppe des SDS, die Derartiges nie allem am Beispiel der deutschen Szenerie. Unter dachte. Auf der anderen Seite aber lösten Dekolo‐ der Konzentration auf die deutschen Ereignisse nialisierungsprozesse und nationale Befreiungs‐ gerät in diesem Text die eigentliche These, die et‐ theorien in Deutschland mehr noch als in ande‐ was mehr Fundamentierung gut vertragen könn‐ ren Ländern selbstbezügliche Assoziationen aus, te, etwas aus dem Blick. In dem zweiten Text zu weil das Land geteilt war. Nicht zuletzt in der po‐ diesem Themenkomplex allerdings wird dann de‐ litischen Linken innerhalb und außerhalb der tailliert auf einen bestimmten Aspekt der Globali‐ SPD gab es einen ausgeprägten Neutralismus, der sierung eingegangen, nämlich auf den Transfer auch von der Hofnung auf eine Wiedervereini‐ des “zivilen Ungehorsams” der amerikanischen gung lebte. Dass derartige nationale Sentiments, Bürgerrechtsbewegung nach Westdeutschland. nachdem im Jahre 1990 das große Ziel erreicht Hier dokumentierte sich bereits 1965 der Versuch, war, von manchen teleologisch überzeichnet wur‐ mit Hilfe von “direkten Aktionen” und “begrenz‐ den, ja im Extremfall sogar im Rechtsradikalis‐ ter Regelverletzung” die vermeintliche Hermetik mus enden konnten, kann kaum verwundern. Al‐ einer manipulierten Öfentlichkeit zu durchsto‐ lerdings weiß man über Rückhalt und Ausprä‐ ßen, um Artikulation und Partizipation von Min‐ gung derartiger Einstellungen noch viel zu wenig. derheiten zu ermöglichen, die schließlich auch Kraushaars kritische Rekonstruktion macht deut‐ die Mehrheit erfassen sollten. Darin zeigt sich ex‐ lich, dass eine genauere Untersuchung der Veran‐ emplarisch, wie sehr transatlantische Transfers kerung und Transformation nationaler Ideen un‐ die westdeutsche Ausprägung der Studentenbe‐ ter jungen westdeutschen Intellektuellen in den wegung beeinfusst und zum Eindruck einer “glo‐ 60er Jahren überaus lohnend wäre. balen Rebellion” beigetragen haben. Allerdings In zwei Aufsätzen über die Internationalität kann, auch dies zeigt Kraushaar, von einer pau‐ des Phänomens “1968” interpretiert der Verfasser schalen Übernahme nicht die Rede sein. Vielmehr die verschiedenen Bewegungen und Ereignisse, wurden die amerikanischen Ideen diskursiv ein‐ die sich in diesem Jahr zu einer “weltweiten Ex‐ gepasst in bestimmte europäische und deutsche plosion” (S. 23) verdichteten, als “erste globale Re‐ Traditionslinien. Vgl. dazu Michael A. Schmidtke, bellion”. Tatsächlich ist die These einleuchtend, Reform, Revolte oder Revolution? Der Sozialisti‐ dass die Vielzahl der Ereignisse dieses Jahres in sche Deutsche Studentenbund (SDS) und die Stu‐ Vietnam, Washington, Berlin, und Prag den dents for a Democratic Society (SDS) 1960-1970, nationalen Öfentlichkeiten schlagartig zu Be‐ in: Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 188-206. wusstsein brachten, dass die Welt ein überschau‐ Schon im Jahre 1997 hatte ein Leipziger Her‐ bares “global village” sei. Die internationalen Ver‐ ausgeberkreis die Frage aufgeworfen, inwiefern fechtungen durch Politik, Wirtschaft und Kon‐ man “1968” als “europäisches Jahr” ansehen sum hatten schon zuvor stark zugenommen, auch könnte. Etienne François, Matthias Middell, Em‐ hatte es nicht an medialen Großereignissen ge‐ manuel Terray, Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968 - fehlt, doch ihre hohe Verdichtung im Jahre 1968, ein europäisches, Leipzig 1997. Hier wurde beson‐ gekoppelt an die nun nahezu fächendeckende ders intensiv Immanuel Wallersteins These disku‐ massenmediale Versorgung könnte doch einen tiert, es habe sich bei diesem Phänomen um eine

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„Revolution im Weltsystem“ gehandelt. Immanuel 50er und frühen 60er Jahre überlebt hatte und Wallerstein, 1968 — Revolution im Weltsystem, in: überwunden werden musste. ebd., S. 19-36 sowie Giovanni Arighi, Terence Hop‐ So anregend derartige theoretische Deutungs‐ kins, Immanuel Wallerstein, 1989 — Die Fortset‐ versuche sind, so schwierig ist es oftmals, sie mit zung von 1968, in: ebd., S. 147-164. Anknüpfend dem überbordenden empirischen Material zu ei‐ an Wallerstein interpretiert Beate Fietze in ihrem nem schlüssigen Gesamtbild zu verbinden — ins‐ Beitrag für den von Rainer Rosenberg, Inge Münz- besondere dann, wenn es um komplexe internati‐ Koenen und Petra Boden herausgegebenen Band onale Entwicklungen geht. Je umfassender der Ge‐ „1968“ als internationale Revolution gegen die be‐ genstand, desto größer die Neigung, komplizierte reits machtpolitisch etablierten Reformbewegun‐ Zusammenhänge und widerstrebende Empirie gen. Beate Fietze, “A spirit of unrest”. Die Acht‐ unter das Dach theoretischer Annahmen zu zwän‐ undsechziger-Generation als globales Schwellen‐ gen. Diesen Schluss jedenfalls legt die Arbeit phänomen, in: Rosenberg, Münz-Koenen, Boden, nahe, die Michael Kimmel vorgelegt hat. Michael S. 3-25. Sie ergänzt diesen Ansatz um Eric Hobsba‐ Kimmel, Studentenbewegungen der 60er Jahre. wms These von einem scharfen generationellen Frankreich, BRD und USA im Vergleich, Wien Konfikt, der durch die extrem tiefen gesell‐ 1998. Der Autor umgreift die Studentenbewegun‐ schaftsgeschichtlichen Einschnitte in der Jahrhun‐ gen in Frankreich, der Bundesrepublik Deutsch‐ dertmitte verursacht worden sei, und entwickelt land und den USA, und zwar unter einem doppel‐ in Anknüpfung an und in Abgrenzung von beiden ten Blickwinkel: Zum einen sollen die in diesen sowie unter Rückgrif auf Karl Mannheims Be‐ Ländern entstandenen theoretischen Konzepte grifsbestimmung eine anregende Theorie von zur Deutung der Studentenbewegung dargestellt der „Globalisierung des Generationszusammen‐ und diskutiert werden, zum anderen werden die hangs“, in der die Generation der „68er“ als sozia‐ jeweiligen nationalen Ausprägungen der Bewe‐ ler Träger eines internationalen Erneuerungspro‐ gungen selbst als neue soziale Bewegungen inter‐ zesses interpretiert wird. Tatsächlich gerieten auf pretiert und verglichen. Jeweils für sich viel ver‐ der politischen Ebene die staatstragenden Institu‐ sprechende Fragestellungen, doch in ihrer Verbin‐ tionen vieler Länder in diesem Jahr in tiefe Legiti‐ dung schwierig zu handhaben. Kimmels Abhand‐ mationskrisen. Dazu im Detail Fink, Gassert, Jun‐ lung will zuviel und bleibt deshalb oftmals an der ker, 1968. Und auch auf der Ebene der von der Oberfäche — vor allem in ihrem zweiten Teil. „68er-Bewegung“ in den Vordergrund gerückten Hier werden allzu viele bekannte Interpretations‐ Themen und Aktionsstile lassen sich unschwer topoi wiederholt; sie können im Grunde auch transnationale Parallelen ausmachen, zumal über nicht überprüft werden, weil es der Arbeit ekla‐ die Universitäten als institutionelle Basis der Ak‐ tant an Empirie mangelt. So führt das Überge‐ teure derartige Kontakte verhältnismäßig leicht wicht an theoretischen Annahmen zu oft spekula‐ herzustellen waren. Überhaupt sieht Fietze nicht tiven Allgemeinplätzen ohne weiterführenden Er‐ „die Jugend“ an sich als Trägergruppe des Wan‐ kenntniswert. Was etwa ist neu an Kennzeichnun‐ dels an, sondern insbesondere die besser gebilde‐ gen wie “manichäische Totalperspektive”, “politi‐ ten jungen Leute, also in erster Linie Studierende. sche Romantik” oder “quasi-religiöser Messianis‐ Den entscheidenden Faktor für den globalen Cha‐ mus” (S. 175) als Bestandteile einer vom Autor rakter der „Revolution“ von 1968 lokalisiert sie in idealtypisch gedachten “Psychologie” des Studen‐ der Tatsache, dass nach 1945 ein globaler politi‐ tenprotests? Ungeprüft übernommen wird auch scher Bezugsrahmen bipolaren Zuschnitts eta‐ die Behauptung, Bildungsreform, Planungseupho‐ bliert wurde, der die einzelnen nationalen Gesell‐ rie oder die zunehmende berufiche Integration schaften stark bestimmte, sich aber im Laufe der von Frauen seien ursächlich auf die Studentenbe‐

16 H-Net Reviews wegung zurückzuführen (S. 237). Hier zeigt sich, eine internationale Bewegung war, die durch dass ein genauerer Blick auf die historischen Ver‐ einen nationalen Blickwinkel allein nicht adäquat läufe auch der theoretischen Präzision zuträglich erfasst werden kann. So wird etwa die Gleichzei‐ gewesen wäre. Sehr viel nützlicher ist hingegen tigkeit bei der Herausbildung der intellektuellen der erste Teil des Buches, der kein empirisches Strömung der “Neuen Linken” deutlich, die An‐ Gegengewicht braucht, weil er sich ausschließlich fang der 60er Jahre entstand. Auch arbeitet die den theoretischen Versuchen zur Verortung der Autorin die unterschiedlichen Ansätze heraus, mit Studentenbewegungen widmet. Er gibt einen denen studentische “Avantgarde”-Gruppierungen recht instruktiven Überblick über die in den frag‐ in den USA und der Bundesrepublik wiederum lichen Ländern entwickelten Zugänge und hilft übereinstimmend eine Demokratisierung der demjenigen, der sich im Dickicht der Theorien Hochschule und der Gesellschaft voranzubringen eine erste Orientierung verschafen will. Die Syn‐ gedachten. Doch nicht nur intellektuelle Strömun‐ opse umfasst zeitgenössische sowie neuere Theo‐ gen und Kritik am Zustand westlicher Gesellschaf‐ rien und überdies auch Versuche, die verschiede‐ ten lösten eine internationale Synchronizität aus. nen Ansätze zu systematisieren. Sie bezieht die Situative Faktoren wie der Vormarsch der Befrei‐ Analysen des gesellschaftlichen Wandels von Her‐ ungsbewegungen in der “Dritten Welt” oder der bert Marcuse, Jürgen Habermas, Daniel Bell oder Vietnamkrieg wurden zu Katalysatoren dieser Alain Touraine ebenso ein wie Selbstinterpretatio‐ Gleichzeitigkeit. Auch die Herausbildung rivalisie‐ nen der Studentenbewegung und Deutungsversu‐ render Gruppierungen auf dem Höhepunkt der che insbesondere US-amerikanischer und west‐ Bewegungen bildet eine strukturelle Gemeinsam‐ deutscher Sozialwissenschaftler. keit — aus der Sicht der Autorin handelte es sich Während Kimmels Studie den Eindruck bestä‐ dabei nicht zuletzt um das kontraproduktive Re‐ tigt, dass manche wissenschaftlichen Annäherun‐ sultat der Versuche, den fuktuierenden Zusam‐ gen an die Studentenbewegung noch immer an ei‐ menhängen festere organisatorische Formen zu nem Theorieüberschuss und einem Historisie‐ verleihen. Als wichtigstes gemeinsames Ziel die‐ rungsmangel leiden, So Philipp Gassert, Pavel A. ser Bewegungen in der westlichen Welt wird die Richter (Hrsg.), 1968 in West Germany. A Guide to Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten und Sources and Literature of the Extra-Parliamenta‐ die Veränderung der Bewusstseinszustände be‐ rian Opposition, Wahington, D.C.: The German trachtet. Historical Institute 1998 (=Reference Guide No. 9), Wie schon in ihren bisherigen Publikationen S. 8. zeigt Ingrid Gilcher-Holteys jüngster Über‐ zu diesem Thema stützt sich die Verfasserin auf blick die beträchtlichen Erkenntnismöglichkeiten, die Annahmen und Kategorien der “Sozialen Be‐ die in der Verbindung von theoretisch inspirierter wegungsforschung”. Vgl. die Einleitung zu Gil‐ Fragestellung und profunder Empirie liegen. Es cher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 7-10 sowie dies., “Die handelt sich um eine knappe zusammenfassende Phantasie an die Macht”. Mai 68 in Frankreich, Darstellung der “68er Bewegung” in der Bundes‐ Frankfurt/M. 1995, S. 15-22. Sie sieht ihren Unter‐ republik Deutschland, Frankreich, Italien und den suchungsgegenstand als eine solche “soziale Be‐ USA. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. wegung”, die per defnitionem “sozialen Wandel Deutschland — Westeuropa — USA, München [...] herbeiführen, verhindern oder rückgängig 2001. Die Arbeit besticht vor allem dadurch, dass machen“ will (S. 10). Diesen Annahmen folgt auch sie in einem konzentrierten Durchgang die inter‐ der Aufbau des Buches: Zunächst wird die Entste‐ nationalen Interdependenzen der nationalen Be‐ hung der “Neuen Linken” und die Herausbildung wegungen herausarbeitet und damit deutlich der “Avantgarden” künftiger sozialer Bewegungen macht, dass und inwiefern “die 68er Bewegung” in den frühen 60er Jahren geschildert. Im zweiten

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Schritt wird dann “Das Praktischwerden der The‐ Akteure nach 1968 verfolgten, als Abweichungen orie” untersucht, das etwa in der Mitte des Jahr‐ von der reinen Lehre aus dem Blick. Die Zuwen‐ zehnts vonstatten ging, drittens die “Mobilisie‐ dung zur SPD, zu den K-Gruppen oder zur RAF er‐ rungsprozesse” auf dem Höhepunkt der Studen‐ scheint aus dieser Perspektive vor allem als tenbewegungen in den Jahren 1967/68 und Bruch, wobei doch gerade das genaue Mischungs‐ schließlich ihr sich unmittelbar anschließender verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität Zerfall. Diese Struktur bietet sich an, weil sie auf auszuloten wäre. Nichtsdestoweniger steht außer einem diachronen Grundraster ruht, sie ent‐ Zweifel, dass in diesem schmalen Bändchen ein spricht wohl auch tatsächlich dem inneren Ver‐ außerordentlich nützlicher Überblick zur Ent‐ lauf der Entwicklungen innerhalb der “Neuen wicklung der “68er Bewegung” als internationaler Linken”. Allerdings stellt sich die Frage, ob damit Bewegung geboten wird, der reich an Informatio‐ das Phänomen der “68er Bewegung” angemessen nen ist, dicht argumentiert und nicht zuletzt erfasst ist. Das Buch konzentriert sich auf die in‐ durch einen streitbaren theoretischen Ansatz zu tellektuellen und politischen Aspekte des Um‐ weiterführenden Diskussionen anregt. bruchs, die zweifellos wichtig sind, aber für eine 4. Abseits der „Metropolen“. Die regionale Di‐ umfassende Bewertung wohl nicht ausreichen. mension Hinzu kommt, dass das im Grunde genommen recht schlichte Modell, einige Vordenker hätten ei‐ nige neue Ideen gehabt, die über Avantgardegrup‐ pierungen verbreitet und von einer größeren Masse zumindest partiell umgesetzt worden sei‐ en, wesentliche Entstehungs- und Bedingungsfak‐ toren ausblendet. Tatsächlich spielen die sozialen Umschichtungs- und Diferenzierungsprozesse, die überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schufen, dass eventuell eine Idee zur materiellen Gewalt werden konnte, unter diesem Blickwinkel kaum eine Rolle. Der kulturelle Aspekt der “Bewe‐ gung”, die Entstehung und Ausformung der kon‐ sumistischen Massenkulturen und der “Counter‐ culture”, wird wohl angerissen, bleibt aber unter‐ belichtet, weil das theoretische Konzept an dieser Stelle an seine Grenzen stößt. Denn noch viel schwieriger als bei unmittelbar politischen Fra‐ gen ist hier zu bestimmen, inwieweit die Prakti‐ ken hunderttausender Akteure überhaupt auf die Ideen einzelner Vordenker oder Avantgardegrup‐ pen zurückgeführt werden können. Gilcher-Hol‐ tey refektiert diese Probleme durchaus, bleibt aber am Ende doch in der Fixierung auf die Ideen der “Neuen Linken” als positivem Ausgangspunkt der “68er Bewegung” befangen. Konsequenter‐ weise geraten auf diese Weise auch die politi‐ schen und organisatorischen Optionen, die viele

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Citation: Detlef Siegfried. Review of Becker, Thomas P.; Schröder, Ute. Die Studentenproteste der 60er Jahre: Archivführer - Chronik - Bibliographie. ; Deutsche Schillergesellschaft. Protest! Literatur um 1968: Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv. ; Gassert, Philipp; Richter, Pavel A. 1968 in West Germany: A Guide to Sources and Literature of the Extra-Parliamentarian Opposition. ; Gilcher- Holtey, Ingrid. Die 68er-Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA. ; Holl, Kurt; Glunz, Claudia. 1968 am Rhein: Satisfaction und Ruhender Verkehr. ; Kermer, Wolfgang. "1968" und Akademiereform: Von den Studentenunruhen zur Neuorganisation der Stuttgarter Akademie in den siebziger Jahren. ; Kimmel, Michael. Studentenbewegungen der 60er Jahre: Frankreich, BRD und USA im Vergleich. ; Kraushaar, Wolfgang. 1968 als Mythos, Chifre und Zäsur. ; Poiger, Uta G. Jazz, Rock and Rebels: Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany. ; Rosenberg, Rainer; Münz-Koenen, Inge; Boden, Petra. Der Geist der Unruhe: 1968 im Vergleich. Wissenschaft - Literatur - Medien. ; Ruppert, Wolfgang. Um 1968: Die Repräsentation der Dinge. ; Schubert, Venanz. 1968: 30 Jahre danach. ; Schulenburg, Lutz. Das Leben ändern, die Welt verändern!: 1968. Dokumentation und Bericht. ; Teppe, Karl. Westfälische Forschungen: Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe: Band 48. ; von Oertzen, Christine. Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen: Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. December, 2002.

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