Zu den Ursachen des Untergangs der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik – Versuch einer Bestandsaufnahme für Mecklenburg und Pommern

Beiträge zum Seminar des Vereins für Politik- und Sozialgeschichte Mecklenburg-Vorpommern e.V. in Rostock am 30. August 2001 (Band 2)

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Herausgeber: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Regionalbüro Mecklenburg- Vorpommern und Forum für politische und interkulturelle Bildung M-V e.V. 18055 Rostock, Augustenstraße 78, Tel. 0381 4900450 E-Mail: [email protected]

Verein zur Politik und Sozialgeschichte Mecklenburg- Vorpommerns e.V. 17489 Greifswald, Friedrich-Löffler-Str. 29

Redaktion: Dr. Michael Herms

V.i.S.d.P.: Dr. Werner Lamprecht

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Inhalt

Fred Mrotzek Sozialdemokratie und Koalitionsregierungen in beiden Mecklenburg 1932

Heinz Koch Zur Auseinandersetzung zwischen SPD und KPD am Ende der Weimarer Republik in Mecklenburg-Schwerin

Werner Lamprecht Die Arbeiterparteien in Pommern in den ersten Monaten der Nazidiktatur

Wolf Karge Demokratische Gruppierungen in Mecklenburg in der Weimarer Republik

Dietrich Eichholtz Das deutsche Großkapital und die Machtübergabe an Hitler

Joachim Copius Die Machtübertragung an die Hitlerbewegung und ihre Auswirkungen an der Universität Greifswald, besonders an der Medizinischen Fakultät 4

Vorbemerkung

Der „Verein zur Politik- und Sozialgeschichte Mecklenburg- Vorpommerns e.V.“ und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Forum für politische und interkulturelle Bildung M-V e.V. veranstalteten am 30. Juni 2001 in Rostock ein Seminar zum Thema

„Zu den Ursachen des Untergangs der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik – Versuch einer Bestandsaufnahme für Mecklenburg und Pommern“.

Band 1 dieser Tagung erschien im April 2002 mit Beiträgen von Kurt Pätzold, Klaus Schwabe, Mario Niemann, Hermann Langer, Gustav-Adolf Strassen, Joachim Copius, Ernst- Joachim Krüger sowie einer Vorbemerkung des Initiators Werner Lamprecht.

Unglückliche Umstände verzögerten die Herausgabe des zweiten Bandes, der ebenso wie Band 1, der leider nur noch in begrenztem Umfang vorliegt, Anregungen zur Beschäftigung mit der Geschichte unserer Region bieten.

Rostock, im März 2007

Dr. Michael Herms

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Sozialdemokratie und Koalitionsregierungen in beiden Mecklenburg 1932

Fred Mrotzek

Der schwere Weg der Demokratie Das Jahr 1932 stellt ohne Zweifel eine wesentliche Zäsur auf dem Weg in die „deutsche Katastrophe“1 dar. Bis heute streiten Historiker darüber, ob der Regierungsantritt Hitlers hätte verhindert werden können. Die DDR-Historiographie behauptete, dass die Hauptschuld für den 30. Januar 1933 bei der Sozialdemokratie und deren fehlender Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu suchen sei. Diese einseitige Schuldzuweisung taugt allenfalls zur Ablenkung der von Stalin initiierten Politik der KPD in den 20er und 30er Jahren. Auch in Mecklenburg war die KPD eine antidemokratische Partei, die wesentlich zur Radikalisierung der politischen Verhältnisse beitrug. Eine Analyse sozialdemokratischer Politik in den mecklenburgischen Freistaaten am Ende der Weimarer Republik kann nicht erfolgen, ohne auf das Verhältnis der SPD zur ersten deutschen Demokratie und deren Geschichte einzugehen. Während der Novemberrevolution wurde die

1 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1947. 6

Sozialdemokratie nicht nur zum „Konkursverwalter des alten Regimes“, wie Friedrich Ebert am 6. Februar 1919 während einer Sitzung der Nationalversammlung feststellte, sondern auch stärkste Ordnungskraft und „die erste unter den Geburtshelferinnen“2 der Demokratie. Der gebremste Charakter der Revolution war nötig, um einen deutschen Bürgerkrieg zu verhindern. Allerdings konnte in der folgenden Zeit die Sozialdemokratie ihre politischen Mehrheiten in den Parlamenten nicht nutzen, um die Macht der alten Eliten einzuschränken. Der von der äußersten Linken und konservativen Rechten erhobene Vorwurf des sozialdemokratischen Verrats ist nicht haltbar. Von ihrer demokratischen Grundeinstellung und ihren freiheitlichen Traditionen hat die SPD auch während des Bestehens der Weimarer Republik keine Abstriche gemacht. In Mecklenburg vollzog sich 1918 bis 1920 mit der Abschaffung der ständischen Rechtsverhältnisse und der Einführung einer modernen demokratischen Verfassung ein ungleich größerer Entwicklungsschub als im Reich und den anderen Ländern. Die SPD war hier mehr noch als anderswo Hauptinitiator der parlamentarischen Demokratie. Obwohl die mecklenburgische Sozialdemokratie „nie zu einer Gliederung von überregionalem Gewicht“ wurde und „immer im Schatten

2 Alfred Kastning: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919-1923, Paderborn 1970, S. 7. 7 ungleich größerer und einflussreicherer Bezirke und Gliederungen der Sozialdemokratischen Partei“3 stand, konnte sie von 1918 bis 1932 in beiden mecklenburgischen Freistaaten auf beachtliche Wahlerfolge verweisen: In den ersten Parlamenten – am 15. Dezember 1918 in Mecklenburg- Strelitz und am 26. Januar 1919 in Mecklenburg-Schwerin gewählt – stellte die SPD mit deutlichem Abstand die stärkste politische Kraft dar. Die Sozialdemokraten waren in den Kabinetten beider mecklenburgischen Länder häufiger vertreten als in den Reichsregierungen der Weimarer Republik. Am Ende von stand die SPD einem übermächtigen extremistischen Gegner gegenüber: Kommunisten und Nationalsozialisten lieferten sich nicht nur gegenseitig blutige Straßenschlachten, sondern bekämpften – in zwei überregionalen, spektakulären Ereignissen auch als Verbündete – den demokratischen Staat mit allen Mitteln. In Mecklenburg wurde die Sozialdemokratie mehr noch als im Reich und den Ländern zur einzigen Verteidigerin der Demokratie. Als die NSDAP in Mecklenburg-Schwerin im Juli 1932 die Regierungsgewalt übernahm, trat deshalb das Scheitern der Republik frühzeitiger und deutlicher als im Reich zu Tage.

3 Werner Müller/Fred Mrotzek/Johannes Köllner: Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern, Bonn 2002, S. 9. 8

Das Schicksalsjahr 1932 Der Zusammenbruch der Weimarer Republik begann bereits im Jahr 1930: Am 27. März 1930 trat die letzte parlamentarische Mehrheitsregierung unter dem Vorsitz des Sozialdemokraten Hermann Müller zurück. Als Konsequenz des Bruchs der Großen Koalition fand eine Machtverlagerung vom deutschen auf den Präsidenten statt. Die konservativen Pläne sahen die Umgestaltung der Weimarer Republik in einen autoritären Präsidialstaat vor. Am 29. März 1930 ernannte Reichspräsident von Hindenburg den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning zum Reichskanzler. Wenig später begann das Regime der Notverordnung nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung.4 Die SPD hätte die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie verhindern können – „freilich nur um den Preis einer Parteikrise und wohl auch nur auf kurze Zeit“5. Der Rückfall in den Obrigkeitsstaat war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik. Bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 verbuchte die NSDAP, deren Aufstieg bereits im Spätherbst 1929 begann, starke Stimmengewinne und wurde hinter der SPD

4 Vgl. Heinrich August Winkler: Weimar – Bonn – . Die Entwicklung der deutschen Demokratie im 20. Jahrhundert, in: Die zweite gesamtdeutsche Demokratie. Ereignisse und Entwicklungslinien, Bilanzierungen und Perspektiven, hrsg. von der bayerischen Landeszentrale für politische Bildung, München 2001, S. 14. 5 Ders.: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933, Bonn 2002, S. 488. 9 zweitstärkste Partei. Reichskanzler Brüning verfügte über keine Mehrheit im Reichstag und konnte nur durch die Tolerierungspolitik der Sozialdemokratie bestehen. „Die SPD tat dies, weil sie eine noch weiter rechts stehende, von den Nationalsozialisten abhängige Reichsregierung verhindern (…) wollte.“6 Das Jahr 1932 wurde in der Tat zu einem Schicksalsjahr. Die deutsche Staatskrise spitze sich im Sommer zu. In der Folge entstanden bürgerkriegsähnliche Zustände. Mit der Entlassung des Kabinetts Brüning und der Berufung der so genannten Regierung der „nationalen Konzentration“ unter Franz von Papen begann am 30. Mai 1932 die Periode des autoritären, offen antiparlamentarischen Präsidialstaates.7 Nach den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 entstand kurzzeitig ein politisches Machtvakuum. Die NSDAP ging mit 230 Abgeordneten als stärkste Partei hervor und verfügte zusammen mit der KPD über die Mehrheit der Mandate. Durch die Stärke der beiden totalitären Parteien wurde der deutsche Reichstag als konstruktives Verfassungsorgan unbrauchbar und zur Erfüllung seiner Pflichten untauglich.8 Während des Reichstagswahlkampfes hatten sich Nationalsozialisten und Kommunisten blutige

6 Winkler (Anm. 4), S. 14. 7 Vgl. ebenda, S. 15. 8 Vgl. ebenda. 10

Auseinandersetzungen geliefert. In dieser Krisensituation blieb die SPD Ordnungskraft. Der durch die Tolerierung der SPD im April 1932 wieder gewählte Reichspräsident Paul von Hindenburg lehnte im Sommer den Anspruch Adolf Hitlers auf das Amt des Reichskanzlers ab. Als am 6. November die zweiten Reichstagswahlen im Jahr 1932 folgten, hatten die Nationalsozialisten ihren Zenit überschritten. Die NSDAP verlor über zwei Millionen Stimmen und erreichte 37,3 %. Gewinner der Wahlen waren die Kommunisten, die mit einem Stimmenanteil von 16,9 % auf 100 Abgeordnetenmandate kamen. Obwohl die Nationalsozialisten geschlagen schienen, erhielten sie eine letzte Chance. Angestachelt von dem Wahlerfolg intensivierte die KPD ihren Klassenkampf und propagierte offen den Bürgerkrieg. Hitler, der als Konsequenz aus dem gescheiterten Putsch 1923 den „legalen“ Weg der Machtergreifung gezogen hatte, konnte sich als „Hüter“ der Verfassung hinstellen und wurde „salonfähig“. Am 19. November 1932 forderten Vertreter der Großbourgeoisie in einem Brief (den lediglich zwei Großindustrielle unterschrieben) an den Reichspräsidenten die Kanzlerschaft Adolf Hitlers. Allein General Kurt von Schleicher schien die Gefahr zu erkennen. Nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 2. Dezember 1932 strebte von Schleicher eine von den Gewerkschaften 11 tolerierte Militärdiktatur an, um eine Minimalsubstanz der Weimarer Republik zu retten.9

Der Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 war weder eine nationale Revolution, wie es Goebbels unermüdlich verbreitete, noch der Beginn einer „offenen terroristischen Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“10 (Dimitroff). Ebenso wurde mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kein Machtvakuum beseitigt. Vielmehr war eine einflussreiche Kamarilla um Franz von Papen und Oskar von Hindenburg im Januar 1933 bereit, ein Bündnis mit Hitler einzugehen, der auf der nationalistischen Rechten über eine Massenbasis verfügte. Die verhängnisvolle Fehleinschätzung der politischen Dynamik durch traditionelle Eliten führte zum Machtantritt der Nationalsozialisten. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg, der diesem Vorhaben anfangs ablehnend gegenüber stand, ernannte am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Schon im Frühjahr wurde deutlich, dass Papens „Zähmungskonzept“ nicht funktionierte. Hitler wollte

9 Vgl. dazu u. a.: Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 264 f. 10 Zit. nach: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung. hrsg. von Horst Bartel/Herbert Bertsch/Gerhard Meisel u. a., Bd. 1, Berlin 1969, S. 571. 12 die ganze Macht und ließ von Beginn an keinen Zweifel daran, durch Terror und Gewalt, Staat und Gesellschaft von Grund auf umzugestalten. Als Folge entstanden in Deutschland bürgerkriegsähnliche Zustände: Die Nationalsozialisten bekämpften alle Parteien und das demokratische System.

Die Sozialdemokratie als die Verteidigerin der Demokratie in Mecklenburg Im ländlich geprägten Mecklenburg verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation früher als im Reich. Der Sturz der Schweinepreise im Jahr 1927, mit dem zugleich in den folgenden Jahren eine weltweite Agrarkrise begann11, führte in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz zu keinem nennenswerten Aufschwung der Nationalsozialisten, die erst ab 1930 mit ihrem Programm vor allem die Landbevölkerung ansprechen wollten. „Besonders hoch war die Fluktuation auf dem Lande. So gründete sich die Mitgliederstärke [der NSDAP, d. V.] fast ausschließlich auf die wenigen stabilen Ortsgruppen, unter denen die Rostocker, die 1927 in die Sektionen Steintorvorstadt, Altstadt und Doberaner Straße unterteilt wurde, und die Lübecker herausragten.“12

11 Winkler (Anm. 5), S. 475. 12 Beate Behrens: Mit Hitler zur Macht. Aufstieg des Nationalsozialismus in Mecklenburg und Lübeck 1922-1933, Rostock 1998, S. 74. 13

Trotz schlechter wirtschaftlicher Vorzeichen verzeichnete die SPD bei den Landtagswahlen 1927 bis 1929 in beiden mecklenburgischen Freistaaten relativ stabile Ergebnisse. In Mecklenburg-Strelitz fanden am 29. Januar 1928 Landtagswahlen statt. Die SPD gewann ein Mandat dazu und kam auf 13 Abgeordnetensitze. Unter der Leitung des schillernden Sozialdemokraten Kurt Freiherr von Reibnitz bildeten SPD und linksliberale „Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft“ eine Regierungskoalition, die bis zum 4. Dezember 1931 im Amt blieb.13 Anders in Mecklenburg- Schwerin: Bei den Wahlen zum 6. Ordentlichen Landtag am 23. Juni 1929 verlor die SPD 2,5 % der Stimmen und erreichte 38,3 %. Das Rechtsbündnis „Einheitsliste Nationaler Mecklenburger“, bestehend aus DNVP, DVP, Wirtschaftspartei und DVFP, wurde mit 44,6 % und 23 Abgeordneten stärkste Fraktion im Schweriner Landtag. Die NSDAP, die zwei Landtagsmandate erhalten hatte, bekam eine überraschende politische Bedeutung. Als „Zünglein an der Waage“ führte Adolf Hitler persönlich die Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung seiner Partei und entschied sich für die Tolerierung der rechten Minderheitsregierung.14

13 Gerhard Heitz/Henning Rischer: Geschichte in Daten: Mecklenburg- Vorpommern, München – Berlin 1995, S. 140. 14 Behrens (Anm. 12), S. 87 ff. 14

Die Auseinandersetzungen im Landtag wurden zunehmend unsachlicher. Nationalsozialistische Abgeordnete provozierten auch körperliche Auseinandersetzungen. Während der dritten Lesung des Volksnotgesetzes im Februar 1931 verließ der NSDAP-Gauleiter Hildebrandt, „ununterbrochen Schimpfworte gegen den Abg. Moltmann [SPD, d. V.] ausstoßend – das Rednerpult und drang auf den Abg. Moltmann ein.“15 Seit 1929 spitzte sich die wirtschaftliche Lage in Mecklenburg zu. Mit dem steigenden Zulauf und zunehmendem radikaleren Auftreten der extremistischen Parteien verschlechterten sich die politischen Bedingungen für das Wirken der Sozialdemokratie. KPD und NSDAP lieferten sich blutige Kämpfe, wobei die Nationalsozialisten zum Teil durch die konservative Rechtsregierung polizeiliche Unterstützung erhielten.16 Bereits im Sommer 1928 hatte der Sechste Weltkongress der Kommunistischen Internationale die verschärfte Bekämpfung der sozialdemokratischen Parteien gefordert. Die Mecklenburger Kommunisten hielten sich an

15 Bezirksparteitag Mecklenburg-Lübeck: Gegen Wirtschaftsnot und Faschismus, in: Mecklenburgische Volkszeitung, 12. Mai 1931. 16 Vgl. dazu: Bericht von Friedrich Hildebrandt an die Reichsleitung der NSDAP über eine vertrauliche Besprechung mit der Landesregierung in Mecklenburg-Schwerin, 10. Juni 1931, abgedruckt in: Beate Behrens/Karl Heinz Jahnke/Kerstin Urbschat/Inge Wendt: Mecklenburg in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Eine Dokumentation, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl., Rostock 1998, S. 31-34. 15

Stalins Befehl und ließen trotz des Verbotes des Roten Frontkämpferbundes keine Gelegenheit aus, um durch die Entfesselung eines revolutionären Bürgerkriegs dem Proletariat zum Sieg zu verhelfen. Auf einer öffentlichen SPD- Wählerversammlung im November 1930 in Malchin versicherte der kommunistische Funktionär Bernhard Quandt: „Wir haben keine Verantwortung gegenüber diesem System!“17 Wenig später stellten die Kommunisten ihre Vorstellung von Politik in der so genannten Saalschlacht von Teterow tatkräftig unter Beweis. Als die SPD-Fraktion im Mecklenburg-Schwerinschen Landtag im Juni 1931 eine ganze Reihe von Gewalttaten, die in Rostock gegen das Reichsbanner gerichtet waren, ansprachen, „tobten die Kommunisten und stritten das ausdrücklich ab“18. Im gleichen Jahr häuften sich brutale Übergriffe der Nationalsozialisten auf Arbeiterwohnviertel in den größeren Städten, bei denen auch immer wieder Tote zu beklagen waren. Spätestens seit den Amtsvertreterwahlen am 1. November 1931 in Mecklenburg- Schwerin, bei denen die NSDAP in neun von zehn Ämtern stärkste Partei wurde, bestand für die Demokratie ernsthafte Gefahr.

17 Amt Malchin, in: Mecklenburgische Volkszeitung, 9. November 1930. 18 Sozialdemokratie fordert im Landtag Brotpreissenkung, in: Mecklenburgische Volkszeitung, 5. Juni 1931. 16

Am 13. März 1932 erreichte die NSDAP bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Strelitz neun Mandate und trat erstmalig in eine mecklenburgische Regierung ein. Die SPD wurde mit 10 Mandaten hinter der DNVP zweitstärkste Partei. Am 6. April 1932 bestätigte das Parlament die verkleinerte Regierung des Landes. Dr. Heinrich von Michael (DNVP) erhielt den Posten des Staatsministers. Ihm zur Seite stand als Parlamentarischer Staatsrat der Nationalsozialist Dr. Fritz Stichtenoth.19 Am 5. Juni 1932 fanden auch in Mecklenburg-Schwerin Landtagswahlen statt. Wie wenig später bei den Reichstagswahlen (31.7.) wurde die NSDAP mit Abstand stärkste Partei. Sie erreichten mit 30 Mandaten die absolute Mehrheit im Schweriner Landtag und stellten unter dem Vorsitz des Gauleiters Hildebrandt alleine die Landesregierung. Ganz offensichtlich hatten die Nationalsozialisten nicht nur Wähler der liberalen Mitte und gemäßigten Rechten gewonnen, sondern auch Stimmen ursprünglicher SPD-Wähler. Die SPD verlor über 8 % ihrer Wähler und erreichte 30,0 %. Da die KPD ihren Stimmenanteil auf 7,4 % steigern konnte, besaßen die extremistischen Parteien im Landtag eine negative Mehrheit. Damit wurde der Siebente Ordentliche Landtag in

19 Vgl. Helge Bei der Wieden: Die mecklenburgischen Regierungen und Minister 1918-1952, Köln – Wien 1978, S. 25. 17

Mecklenburg-Schwerin für die Erfüllung seiner in der Verfassung des Freistaats festgelegten Pflichten untauglich. Kommunisten und Nationalsozialisten machten keinen Hehl daraus, dass sie das Parlament verachteten. In beiden mecklenburgischen Parlamenten begannen die Nationalsozialisten gezielte Verleumdungskampagnen gegen sozialdemokratische Abgeordnete. In Mecklenburg-Strelitz galten die Angriffe vor allem dem Landtagspräsidenten Karl Bartosch (SPD). Ihm wurde vorgeworfen, während einer Krankheit zu viel Diäten bezogen zu haben. Ein Standardargument der Nationalsozialisten gegen die mecklenburgischen Parlamente bestand in dem Vorwurf, sinnlose Sitzungen würden unnötige Kosten verursachen. Die Sozialdemokraten hatten dieser populistischen Hetze nur wenig entgegen zu setzen. Ihre abgegebenen Erklärungen blieben wirkungslos.20 Noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf der Reichsebene herrschte in Mecklenburg Ausnahmerecht. Seit den Wahlerfolgen der NSDAP in beiden mecklenburgischen Freistaaten besaß der SPD-Bezirksverband Mecklenburg- Lübeck kaum noch reelle Chancen. „NS-Gauleiter Friedrich Hildebrandt trieb den ‚Gleichschaltungsprozess’ brutal voran, also die Ausschaltung der demokratischen Parteien und ihrer

20 Müller/Mrotzek/Köllner (Anm. 3), S. 150. 18

Anhänger aus dem öffentlichen Leben sowie die Unterwanderung der Polizei. Er forcierte die Behinderung der Versammlungs-, Werbe- und Publikationstätigkeit der Linksparteien.“21 Trotzdem glaubten die Sozialdemokraten fest daran, dass die demokratischen Mechanismen über kurz oder lang die Nationalsozialisten entlarven würden. Diese verhängnisvolle Hoffnung wurde in Mecklenburg zusätzlich durch das überdurchschnittliche Abschneiden der SPD bei den Reichtagswahlen vom 6. November 1932 bestärkt. Während im Reichsdurchschnitt 20,4 % der Wähler für die SPD votierten, erhielt die Partei in Mecklenburg-Strelitz 27,9 % und in Mecklenburg-Schwerin sogar 29,3 % der Stimmen.22 Damit lag in beiden Landesteilen der sozialdemokratische Stimmenanteil deutlich über dem Reichsdurchschnitt.

Nach dem Machtantritt Hitlers hatten auch die Mecklenburger Sozialdemokraten trotz heftiger Protestkundgebungen in Bad Doberan, Neubrandenburg, Rostock, Schwerin und Wismar keine Chance mehr. Am 12. Mai 1933 erschien die letzte Ausgabe der „Mecklenburgischen Volkszeitung“. Sechs Tage später, am 18. Mai stürmten SA-Leute das Rostocker SPD-

21 Ebenda, S. 155. 22 Vgl. Klaus Schwabe: Wurzeln, Traditionen und Identität der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Pommern, Parchim 2000, S. 98 ff. 19

Gebäude in der Doberaner Straße 6.23 Das Parteieigentum wurde im ganzen Land beschlagnahmt und die SPD enteignet. Am 22. Juni 1933 untersagten die NS-Machthaber formell die Tätigkeit der SPD im Deutschen Reich. Die Organisation wurde für aufgelöst erklärt und ihre Mandate auf Reichs-, Länder- und Kommunalebene wurden konfisziert. Die Sozialdemokratie war damit die einzige Partei, die in der ersten deutschen Diktatur förmlich verboten wurde. Am gleichen Tag wurde im Rahmen der berüchtigten „Köpenicker Blutwoche“ der Sozialdemokrat Johannes Stelling, Reichstagsabgeordneter und Mitglied des Parteivorstands, von SA-Schlägern ermordet. Stelling war von 1921 bis 1924 Ministerpräsident in Mecklenburg-Schwerin gewesen und hatte wesentlich zum Aufbau der Demokratie beigetragen.

Hätte die SPD den Machtantritt der NSDAP verhindern können? Die Faktoren des Scheiterns der Weimarer Republik sind vielfältig und können nicht einer Partei allein angelastet werden. Im Alleingang waren die Sozialdemokraten beim Machtantritt der NSDAP chancenlos. Was im Reich nicht gelang, konnte auch im kleinen Mecklenburg nur schwerlich

23 Vgl. Müller/Mrotzek/Köllner (Anm. 3), S. 159. 20 durchgesetzt werden. Trotzdem scheint die Frage nach den politischen Fehlern, die die SPD in den mecklenburgischen Freistaaten begangen hatte, durchaus berechtigt. In beiden Mecklenburg herrschte schon vor dem 30. Januar 1933 Ausnahmerecht. In der Tat gestalteten sich die Rahmenbedingungen für die Parteien am Ende der Weimarer Republik ungünstig. In Mecklenburg wirkte zusätzlich erschwerend, dass die demokratischen Partner der Sozialdemokratie in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwanden. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) beispielsweise, die bei den Wahlen zum Verfassungsgebenden Landtag am 26. Januar 1919 in Mecklenburg-Schwerin noch 27,3 % (17 Mandate) der Stimmen erhielt, war im Zweiten Ordentlichen Landtag am 13. März 1921 noch mit drei Abgeordneten vertreten und erreichte bis 1932 trotz Wahlverbindungen mit anderen demokratischen Splittergruppen nie mehr als zwei Landtagsmandate.24 Zu Beginn der 30er Jahre geriet die SPD in Mecklenburg in eine innerparteiliche Krise, ausgelöst durch die Überalterung der Parteispitze und den Tod einiger Funktionäre. Dies führte zu einer Überbelastung der jüngeren Politiker, die zusätzliche Aufgaben übernehmen mussten. Ganz offensichtlich waren die gesetzter wirkenden Sozialdemokraten bei der Einbindung der

24 Vgl. Schwabe (Anm. 22), S. 184. 21

Jugend in die Politik weniger erfolgreich als andere Parteien, wie ein Blick auf die Altersstruktur des Siebten Ordentlichen Landtag von Mecklenburg-Schwerin zeigt. Hier dominierten unter den SPD-Parlamentariern die 35- bis 50-Jährigen. Die nationalsozialistischen Mandatsträger waren zwischen 25 und 40 Jahre alt, und unter den kommunistischen Abgeordneten gab es keine Person, die das 35. Lebensjahr überschritten hatte.25 Am Ende der Weimarer Republik befand sich die SPD in Mecklenburg mehr noch als im Reich in der Isolation.26 Sie war letztlich die einzige Partei, die die Verfassung verteidigte. Die Sozialdemokratie besaß mit dem Reichsbanner Schwarz- Rot-Gold eine Organisation, mit der die Demokratie geschützt werden sollte. Obwohl das Reichsbanner in Mecklenburg viel mehr Mitglieder hatte als der kommunistische Rote Frontkämpferbund (RFB) und die (SA), blieben die Republikaner den nationalsozialistischen und kommunistischen Terrorabteilungen hinsichtlich deren Brutalität unterlegen. Nach dem Wahlsieg der NSDAP bei den Amtsvertreterwahlen Anfang November 1931 entstand – noch vor der Gründung auf Reichsebene – am 4. Dezember 1931 in Rostock die Eiserne

25 Vgl. Der Mecklenburg-Schwerinsche siebente ordentliche Landtag. Gewählt am 5. Juni 1932, hrsg. vom Büro des Mecklenburg-Schwerinschen Landtages, Schwerin 1932, S. 9. 26 Vgl. Müller/Mrotzek/Köllner (Anm. 3), S. 152. 22

Front. Die Aktivitäten des Dachverbandes, unter dem SPD, Reichsbanner, freie Gewerkschaften und verschiedene Arbeitersportorganisationen vereint waren, wurden zur „Überwindung der faschistischen Gefahr“ schnell auf ganz Mecklenburg ausgedehnt.27 Letztlich brachte der Zusammenschluss sozialdemokratischer und republikanischer Organisationen keine stärkere Mobilisierung zur aktiven Verteidigung der Republik. Die Führung der Eisernen Front folgte der Politik des Abwartens der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Spitzen und wartete mit dem „Losschlagen“ ab – bis es zu spät war. Die Sozialdemokraten sahen „die Hauptgefahr für die Demokratie in der Bürgerkriegsgefahr (…) ihre praktische Zielsetzung war daher weniger die Erhaltung der Demokratie als die Erhaltung der Legalität, weniger die Vereitelung eines unparlamentarischen Regierungssystems als die Vereitelung des Bürgerkrieges.“28 Letztlich verfolgte die SPD damit ihre politische Linie, die sie schon während der Novemberrevolution vertreten hatte. Problematisch blieb die Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Die mecklenburgische KPD vertrat jede von Moskau vorgegebene politische Wende. Der Parole des gemeinsamen Abwehrkampfes, den die KPD nach dem Machantritt der Nationalsozialisten propagierte, fehlte es an

27 Vgl. ebenda, S. 149 f. 28 Zit. nach: Winkler (Anm. 5), S. 514. 23

Glaubwürdigkeit.29 Zu diesem Zeitpunkt proklamierte Ernst Thälmann selbst noch den Kampf gegen den „Sozialfaschismus“ öffentlich. Im Mai 1933 (!) erklärte das ZK der KPD: „Die völlige Ausschaltung der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat, die brutale Unterdrückung auch der sozialdemokratischen Organisation und ihrer Presse ändern nichts an der Tatsache, daß sie nach wie vor die soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur darstellen.“30 SPD und KPD lehnten auch, während für die eigene Existenz höchste Gefahr bestand, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit ab. Die Fehler der demokratischen Parteien reichen in die Anfangszeit der Weimarer Republik zurück. Sie versäumten es – ausgestattet mit parlamentarischen Mehrheiten –, den Machtradius der alten Eliten entscheidend einzuschränken. In Mecklenburg waren dies vor allem die Großgrundbesitzer, die in den landwirtschaftlich geprägten Regionen beträchtlichen Einfluss besaßen und von denen die meisten der Demokratie und Republik ablehnend gegenüberstanden. Vor diesem Hintergrund betrafen die Versäumnisse der SPD vor allem deren unzureichendes Agrarprogramm sowie die zu spät einsetzende direkte Einbeziehung der Landarbeiter in die

29 Ebenda, S. 548 f. 30 Zit. nach: Hermann Weber: Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929-1933, Düsseldorf 1982, S. 63. 24 politische Strategie der Sozialdemokraten.31 Hier hat die Partei in der Tat ein enormes Potenzial verschenkt und muss sich den Vorwurf der Immobilität gefallen lassen. In den ländlichen Wahlkreisen konnte die SPD in den Anfangsjahren überdurchschnittliche Gewinne verbuchen. Aber auch in Krisenzeiten zeigten sich die Wahlergebnisse der Mecklenburger Sozialdemokraten trotz einiger Verluste stabiler als im Reichsdurchschnitt. Die Mecklenburger Sozialdemokraten besaßen bis zum Schluss tiefes Vertrauen in die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie. Sie täuschten sich! Die Weimarer Republik wurde von den rechts- und linksextremistischen Parteien „in die Zange genommen“. Diesem brutalen Angriff gegen Freiheit und Demokratie standen die Demokraten letztlich machtlos gegenüber.

31 Müller/Mrotzek/Köllner (Anm. 3), S.152 25

Zur Auseinandersetzung zwischen SPD und KPD am Ende der Weimarer Republik in Mecklenburg-Schwerin

Heinz Koch

Am 1. Februar 1933 sagte Carl Moltmann (SPD) vom Rednerpult des Landtags von Mecklenburg–Schwerin an die NSDAP-Fraktion gewandt: „Wir werden bei anderer Gelegenheit Zeit finden, und mögen Sie ihre Geschäftsordnung handhaben, wie Sie wollen, Ihnen hier die Wahrheit zu sagen.“32 Diese Gelegenheit zur politischen Auseinandersetzung sollte es aber auf Jahre hinaus nicht mehr geben. Wenige Minuten später wurde die Sitzung beendet. Der Siebente Ordentliche Landtag trat auch nicht wieder zusammen. Der so genannte Achte Ordentliche Landtag resultierte dann schon nicht mehr aus allgemeinen und direkten Wahlen, sondern wurde – bei Streichung der KPD-Mandate – durch Zuweisung von Sitzen entsprechend der Ergebnisse der Reichstagswahl vom 5. März 1933 zusammen gesetzt. Er tagte zweimal, am 1. Juni 1933 für 48 Minuten und am Freitag, dem 13. Oktober 1933 für 10 Minuten. Immer ohne Debatten. Im Juni hatte Carl Moltmann noch versucht, das Wort zu

32 Verhandlungen des Mecklenburg-Schwerinschen Landtags. Siebenter Ordentlicher Landtag. Schwerin 1932/33, Sp. 796. 26 ergreifen. Seine im Protokoll wiederholt erfasste Wortmeldung wurde einfach ignoriert. Der Abgeordnete Johannes Warnke (KPD) war bereits in Bützow inhaftiert. Im Oktober konnten auch die Sozialdemokraten nicht mehr teilnehmen, die Partei war ebenfalls verboten und die Mandate aufgehoben.

Der 1. Februar 1933 markiert also für Mecklenburg-Schwerin das Ende einer kurzen Phase mühselig errungenen Landtagswahlrechts und ausgebauter parlamentarischer Demokratie. Im Zusammenhang mit der Erforschung der Jahre 1932/33 und dem Verhältnis von SPD und KPD ist immer wieder die Frage erörtert worden, ob und wenn ja, welche Chancen sie gemeinsam am Ende der Weimarer Republik gegen den Masseneinfluss der NSDAP oder gar zur Verhinderung der faschistischen Diktatur gehabt hätten. Es scheint jedoch gewiss zu sein, dass in Mecklenburg SPD und KPD zwar den politischen Willen besaßen, sich gegen den Faschismus aufzulehnen. Aber weder von ihren inneren Bedingungen her, noch auf Grund der äußeren Faktoren, hatten sie eine wirkliche Chance gehabt, die braune Flut aufzuhalten. Der Ansatz für die Bearbeitung der Thematik SPD und KPD am Ende der Weimarer Republik ist nicht erst in den Jahren 1932/33 zu suchen, sondern viel früher und dem nachzugehen 27 würde uns zu weit verzeigten Untersuchungen führen, die hier den Rahmen sprengen. 1932, im Jahre 13 der Weimarer Republik dagegen, gelangen der NSDAP bereits im Ergebnis voran gegangener Begebenheiten und Entwicklungen die ersten Schritte zur Zerschlagung der parlamentarischen Republik.

Die KPD kämpfte zu diesem Zeitpunkt mit viel Energie an zwei Fronten, gegen die „Nazifaschisten“ auf der einen und die „Sozialfaschisten“ auf der anderen Seite.33 Der Bezirksparteitag am 25. Mai 1930 in Bützow bezeichnete in der kommunalpolitischen Arbeit „die ungenügende Abgrenzung von den Sozialfaschisten“ als „schweren opportunistischen Fehler“.34 Die in den Vorjahren teilweise üblichen gemeinsamen Fraktionssitzungen von KPD und SPD im kommunalen Bereich waren nunmehr „durch die Verschärfung der allgemeinen Lage unmöglich geworden“35. Auch der Bezirksparteitag am 26./27. November 1932 in Rostock sah es trotz seines verbalen Bekenntnisses zur Einheitsfrontpolitik noch immer als opportunistischen Fehler an, dass KPD-Vertreter für SPD-Abgeordnete Stimmen

33 Vgl. Volkswacht, 10. Jg., Nr. 120, 29.5.1929; Nr. 154, 7.7.1929. 34 Zentrales Parteiarchiv der SED, I 3/15/5, Blatt 26. 35 Ebenda. 28 abgegeben hatten.36 Die Einheitsfrontpolitik erweist sich so bei genauem Hinsehen als Versuch, in letzter Minute die sozialdemokratischen Mitglieder von ihren Funktionären zu trennen.

In den unterschiedlichen Positionen zur Republik und den Erfordernissen ihrer Verteidigung prallten die gegensätzlichen Meinungen der Führungskräfte und der Parlamentsfraktionen der beiden Parteien auch über die Formen der Auseinandersetzung mit der Hitler-Bewegung immer wieder scharf aufeinander. So z. B. im Januar 1932 zu den Not- Verordnungen der Brüning-Regierung. Für die KPD war die Tolerierung der Not-Verordnungspolitik gleichbedeutend mit Tolerierung des Faschismus, die SPD sah das anders und für sie waren die Kommunisten ebensolche Volksfeinde wie die Nationalsozialisten. So die Aussagen im Landtag am 13. Januar 1932 im Landtag.37

Am 11. April 1932, dem Tag nach dem zweiten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl, musste beim Leser der Sonderausgabe der sozialdemokratischen „Mecklenburgischen Volks- Zeitung“ der Eindruck entstehen, alles sei noch einmal glimpflich abgelaufen: „Der Kampf zwischen Diktatur und

36 Ebenda, I 3/15/6, Blatt 40. 37 Verhandlungen... Sechster Ordentlicher Landtag, Spalte 4570 ff. 29

Demokratie (und um diesen Kampf ging es!) ist zugunsten der Demokratie entschieden. Auf dem Boden der Demokratie will das deutsche Volk die Fortentwicklung zum sozialen Volksstaat. Für Experimente politischer Dilettanten und Diktatur - Abenteurer ist in Deutschland kein Raum !“38 Der Leser der kommunistischen „Volkswacht“ las an diesem Morgen, dass „der Kandidat der Ausbeuter, ...mit den Stimmen der Ausbeuter in seinem Amt bestätigt (wurde)“, und die Bourgeoisie habe sich dabei auf die SPD gestützt, „weil diese besser, als der Hitlerfaschismus dieses Ergebnis und die Ausbeuterordnung sichern konnte“.39

Die wechselseitigen Schuldzuweisungen eskalierten noch einmal im April40 und blieben bis in die Konzentrationslager hinein eine unüberbrückbare Kluft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. An keiner Stelle ist ein Ansatz erkennbar, sich über die Gräben hinweg vorbehaltlos gemeinsam der NSDAP in den Weg stellen zu wollen. Eine solche Situation musste die politische Orientierung für Arbeiter, Angestellte und Mittelschichten zumindest erschweren.

38 Mecklenburgische Volks-Zeitung, 41. Jg., Sonderausgabe 11.4.1932. 39 Volkswacht, 13. Jg., Nr. 74, 11./12.4.1932. 40 Ebenda, Spalte 4948; 5009 ff; 5017. 30

Ganz normal beendete der Sechste Ordentliche Landtag am 4. Mai 1932 seine Legislaturperiode. Der Landtagsschluss lief ab, wie andere auch: Die kommunistischen Abgeordneten tauchten unter, um der Verhaftung wegen Hochverrat zu entgehen, weil bei Landtagsschluss ihre Immunität ablief. Die übrigen Abgeordneten wurden erneut vergeblich ermahnt, die Schlüssel in den Pulten stecken zu lassen, wieder wurden Neuanfertigungen aus Steuergroschen notwendig. In den sich jetzt anschließenden vier Wochen bis zur Neuwahl des Landtags am 5.Juni verschmolzen einige Ergebnisse aus voran gegangenen Entwicklungsprozessen: 1. In der von bürgerlichen und adligen Kreisen auch Mecklenburg hofierten NSDAP- Parteizentrale in München wurde die Strategie und Taktik für einen Wahlkampf erarbeitet, den Mecklenburg-Schwerin in dieser Form noch nicht erlebt hatte. Adolf Hitler, trat in der letzten Phase, vom 30. Mai bis zum 4. Juni, täglich zweimal in zehn verschiedenen Städten des Landes auf. Frick, Goebbels und andere wurden ebenfalls tätig. Dieser keine Kosten scheuende wortgewaltige Einsatz, bei dem den staunenden Mecklenburgern das Blaue vom Himmel und vor allem Ordnung und Stabilität versprochen wurde, konnte in der krisengeschüttelten wirtschaftlichen Lage, in der man schon 31 mit einem Strohhalm zufrieden sein würde, nicht ohne Erfolg bleiben. 2. Durch ihre Propaganda und die letztlich überwiegend stabile Tolerierung der Regierung hatte die mecklenburgische NSDAP im deutlichen Unterschied zum chaotischen Zusammenbruch der Koalition mit der Deutschvölkischen Partei Mitte der 20er Jahre im bürgerlichen Lager viele Anhänger gewonnen. Im Ergebnis zunehmender Akzeptanz im Großgrundbesitz konnte die Nazi-Führung auch das Erbe der deutschnationalen Landagitation antreten, die bis in das Jahr 1933 hineinreichte.41 Das drückte sich auch in den zunehmenden personellen Verflechtungen aus. Zum Beispiel trat Richard Methling, vom Diener bei Wilhelm von Oertzen42 1931 zum Vorsitzenden des „gelben“ Landarbeiterbundes aufgestiegen, in die NSDAP ein und kandidierte für den Landtag.43 Neben dieser politischen Unterstützung flossen 1931 und 1932 aus dem großherzoglichen Haushalt finanzielle Mittel zwar noch nicht direkt an die NSDAP oder die SS, aber an andere Gliederungen der Hitler-Bewegung, wie an die HJ

41 LHA, Großherzogliche Vermögensverwaltung, Nr. 521, Brief von Oertzen, 12.1.1933. 42 Zu Wilhelm von Oertzen, dem Vorsitzenden der Herrengesellschaft, vgl. Lothar Elsner: Die Herrengesellschaft. Leben und Wandlungen des Wilhelm von Oertzen, Rostock 1998. 43 Vgl. Heinz Koch: Funktion und Entwicklung des bürgerlichen Parlamentarismus in Mecklenburg-Schwerin 1917-1923, MS Rostock 1986, Band 2 (Anhang), S. 222. 32 zur Unterstützung ihrer Sportarbeit44 und an die SA zur Unterstützung der Suppenküchen für Arbeitslose.45 Sicher ließe sich das auch für andere Großgrundbesitzer noch feststellen. Hier deutet sich ein praktisches Zusammenrücken an, das letztlich sein Ziel nicht verfehlen sollte. Der deklarierte Zweck, Wohlfahrtseinrichtungen unterstützen zu wollen, ändert nichts an dem Tatbestand, dass hierdurch die NSDAP aus der Wirtschaft eine unmittelbare Unterstützung ihrer massenpropagandistischen Arbeit, etwas für das Volk tun zu wollen, erfuhr. Er ermöglichte eine weitere Seite des NSDAP-Erfolgs: Es wurde nicht nur geredet, sondern den Hungernden Hilfe demonstriert. 3. Die Losungen der KPD zu den Landtagswahlen im Juni 1932 lauteten: „Für ein rotes Mecklenburg in einem freien sozialistischen Räte-Deutschland!“46 und „Gegen die Herrschaft der kapitalistischen Schmarotzer und deren Nazi- und SPD-Stützen!“47 Als Vorbild pries die KPD die Sowjetunion. Die SPD stellte den Kampf um die Demokratie in den Mittelpunkt. Von dieser Position aus wandte sie sich gegen die NSDAP und gegen die KPD. Beide verkörperten für

44 LHA, Großherzogliche Vermögensverwaltung, Nr.521, Briefe und Notizen 24.3.1931; 25.3.1931; 28.3.1931. 45 Ebenda, Briefe 9.2.1932; 29.2.1932; 24.3.1932; 31.3.1932; 21.7.1932. 46 Volkswacht, 13. Jg., Nr. 92, 15.5.1932. 47 Ebenda, Nr. 102, 4.6.1932. 33 die SPD Parteien, die Diktaturen anstreben und deshalb den falschen Weg gehen.48 KPD und SPD machten Mitte 1932 noch einmal deutlich, dass sie keine gemeinsame Plattform gegen den Faschismus und kein die Not der Menschen wirklich berührendes Programm besaßen. Die internen Differenzen zwischen SPD, KPD und auch zu den liberalen Demokraten wurden nicht überwunden, dadurch vermochten sie nicht, neue Wähler zu mobilisieren.49

Die Wahlen zum Siebenten Ordentlichen Landtag brachten der NSDAP einen erdrutschartigen Sieg. Erstmalig in einem deutschen Parlament erlangten die Hitler-Faschisten die absolute Mehrheit. Über dem Tagungsort des Landtags, dem Schweriner Theater, wurde die Hakenkreuzfahne aufgezogen und der Landtag degenerierte zur Spielwiese der Nazis beim schrittweisen Abbau der parlamentarischen Demokratie. Bei näherer Betrachtung der Wahlergebnisse zeigen sich dann einige Gesichtspunkte, die noch differenzierter zu den Ursachen dieses NSDAP-Einflusses und ihres Wahlerfolgs: 1. Der Stimmenzuwachs der NSDAP (+ 36 % der Wählerstimmen) setzt sich aus 28 % ehemaligen Wählern

48 Vgl. Mecklenburgische Volks-Zeitung, 41.Jg., Nr.89, 17.4.1932, 2.Beilage, S.3; Nr.106,8.5.1932, S.1. 49 Zentrales Parteiarchiv der SED, I 3/15/6, Bezirksparteitag 26./27.11.1932 in Rostock. 34 bürgerlicher Parteien, 5 % ehemaligen Nichtwählern sowie Erstwählern, 3% ehemaligen Wählern von SPD und KPD zusammen. 2. Die bürgerlichen Parteien erzielten, wenn man die NSDAP hinzurechnet, rund 62 % der abgegebenen Stimmen, 1924 waren das noch 63%. SPD und KPD erzielten 1932 38%, 1924 waren es 37 %. In den wirtschaftlichen Zentren des Landes hatten SPD und KPD durch Stimmengewinne der KPD einen Zuwachs, in den Städten Rostock, Wismar und Schwerin allein waren das schon 26 % des Zuwachses im gesamten Lande. Auf dem Lande verlor die KPD Stimmen. 3. Wie bei früheren Wahlen übten wahrscheinlich auch Wahlfälschungen einen gewissen Einfluss auf das Ergebnis aus. Abgesehen von den Zwängen, die es wieder auf den Gütern gab, wurde in den von der NSDAP kontrollierten Ämtern wohl auch am Ergebnis manipuliert. 3 455 der abgegebenen Stimmen hatte man für ungültig erklärt. Das war neuer Rekord. Die NSDAP lehnte später mit ihrer einen Stimme Landtagsmehrheit eine Wahlprüfung ab. Das war bisher unüblich. Die Gründe sind aber klar: Der KPD fehlten 109 Stimmen zum 5. Mandat und der DNVP 119 Stimmen zum 6. Mandat. Bei Nachwahlen wäre möglicherweise die absolute Mehrheit der Sitze verloren gegangen. 35

Sicher hätte das eine Mandat den Verlauf der deutschen Geschichte kaum geändert, aber es zeigt, dass die NSDAP bis zum letzten i -Tüpfelchen skrupellos antiparlamentarisch war.

Bei genauerem Hinsehen ergibt eine Zusammenfassung des oben Angeführten in Zahlen und bezogen auf alle Wahlberechtigten für die Weimarer Zeit folgendes Bild:

1932 1924 1920 1919

NSDAP 39,0%

Deutschvölkische Partei 15,7%

andere bürgerliche Parteien 10,6 % 35,5% 43,5 % 48,33%

SPD, USPD, KPD, SAP 29,9% 30,2% 39,7 % 44,36%

Nichtwähler (inkl. ungültiger 16,4 % 20,5% 18,6% 7,31% St.)

Die Zahlen deuten grundsätzliche Aspekte der Entwicklung des politischen Verhaltens und der Stellung der linken Parteien in Mecklenburg-Schwerin während der Weimarer Republik an: 1. Ein Vertrauensverlust in die Arbeiterparteien SPD und USPD durch den widersprüchlichen Verlauf von Revolution und die Nachkriegskrise. Diesen Einbruch 1924 konnten die linken Parteien bis 1932 nicht mehr aufholen. Mitglieder und Wähler hatten sich von der SPD abgewandt, gründeten neue 36

Parteien, wählten KPD, bürgerliche Splittergruppen und auch NSDAP oder wahrscheinlich in der Hauptsache: Sie wählten gar nicht mehr. Das erwies sich 1932 als besonders verhängnisvoll. 2. Verlust des Vertrauens in die Politik der traditionellen bürgerlichen Parteien. Die bürgerlichen Parteien lehnten, mit Ausnahme der DDP, die Republik ab. So konnte sich die Mehrheit der bürgerlichen Wähler und viele jugendliche Neuwähler nach 1930 hinter der Hakenkreuzfahne sammeln, einige wurden Nichtwähler. Die Umgruppierung zur NSDAP erfolgte – wie oben ausgeführt – von 1929 zu 1932, als Umorientierung im bürgerlichen Lager. 3. Verlust des Vertrauens in die Institutionen und Instrumente der parlamentarischen Demokratie. Das war die Folge der Vermischung der Ursachen von wirtschaftlichen und politischen Krisen durch eine permanente, mediengestützte antiparlamentarische Propaganda von rechts und links. Die Wählerwanderbewegung jener Jahre ist nicht exakt zu verfolgen, die kontinuierlich wachsende Zahl der Nichtwähler setzt sich aber wahrscheinlich aus dem ganzen politischen Spektrum zusammen. Sie erreichte in der bis dahin kritischsten (Wahl-) Stunde Deutschlands eine den Übergang zur NSDAP- Herrschaft begünstigende Größenordnung. Dabei ist es aber offensichtlich, dass die NSDAP das Erbe der bürgerlichen 37

Parteien antrat, während es SPD und KPD nicht vermochten, sich als demokratische Alternative bei jenen anzubieten, die das Vertrauen in die Politik verloren hatten.

Als Gretchenfrage und kleinster gemeinsamer Nenner erscheint heute (und künftig) die Haltung zur parlamentarischen Demokratie. Selbst für die Mitbegründerin der KPD, Rosa Luxemburg, war die Demokratie „das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen“. Darin sah sie auch unter den Bedingungen der parlamentarischen Republik den „lebendigen Quell..., aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können“.50 Das kam den Vorstellungen der mecklenburgischen Sozialdemokraten zwar nahe, aber in der KPD hatte diese Auffassung nie richtig Fuß fassen können. Während die KPD das politische System der Sowjetunion als erstrebenswert ansah, verließ sich die SPD statt auf die Organisation des politischen Lebens der breitesten Volksmassen mehr auf die Wirkung der formalen Institutionen der von ihr geschaffenen und entscheidend mitgeprägten

50 Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1987, S. 355 f. 38

Republik. Sie hielt die Nazibewegung bis zuletzt für harmlos. „Abwarten“, war die Losung.51

Die KPD versuchte vergeblich, auf einen Generalstreik hinzuwirken oder darauf, dass Demonstrationen, z. B. in Goldberg, Malchin, Marlow und Waren, zum „Sturm über Deutschland“ anschwellen.52 Sie stand damit allein und die Basis für einen solchen Sturm war nicht vorhanden. Margarete von Oertzen schrieb statt dessen am Schreibsekretär in Rostock in ihre Autobiographie, was viele damals dachten und zum Ausdruck brachten, nämlich, dass „...wir Gott zu danken (haben) für den großen Umschwung und Aufstieg in unserem Vaterland. Er hat uns vom Bolschewismus gerettet noch gerade im letzten Augenblick, und dafür können wir denen, die Gott gebraucht hat, nie genug danken.“53 Es zeigte sich: Die Weimarer Demokratie blieb im Lebensrückblick zu vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger und ihrer Erwartungen ein Zwischenspiel, ein ungeliebtes „Danach“ und ein „Davor“ vor etwas anderem. Zu viele kamen, aus ganz unterschiedlichen Gründen, in dieser Republik nie an.

51 Mecklenburgische Volks-Zeitung, 42. Jg., Nr. 47, 10.3.1933, S. 1. 52 Volkswacht, 14. Jg., Nr.29, 3.2.1933. 53 Margarete von Oertzen: Mein Leben, Lahr-Dinglingen (1934), S. 132. 39

Ob das nun künftig menschliches Handeln in Deutschland beeinflussen wird und, um mit Ernst Bernheim zu sprechen, dem Greifswalder Altmeister der Geschichtswissenschaft: Was „in der Zukunft etwa daraus werden mag“54 wird sich zeigen.

54 Vgl. Ernst Bernheim, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin/Leipzig 1926, S. 56. 40

Die Arbeiterparteien in Pommern in den ersten Monaten der Nazidiktatur

Werner Lamprecht

Die Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland durch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gemeinsam mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) am 30. Januar 1933 bedeutete für die Arbeiterparteien und andere demokratische Organisationen eine schwere Niederlage. Das traf auch für die preußische Provinz Pommern zu. Hier wirkten die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Sie führten mit ihren vielfältigen Aktionen wie Kundgebungen, Versammlungen, Aufmärschen sowie bei den zahlreichen Veranstaltungen und in ihrer Presse- und Flugblattpropaganda einen breiten Kampf vor allem gegen die Hitler-Partei. Leider kam es nur zu wenigen gemeinsamen Aktionen gegen den gemeinsamen Feind. Die programmatischen Ziele der Arbeiterparteien waren zu unterschiedlich. 41

Die SPD als stärkste Arbeiterpartei in Pommern mit ca. 15.000 Mitgliedern55 setzte auf den Erhalt der Weimarer Republik, der Weimarer Demokratie, in der sich die nationalsozialistische Bewegung entwickeln konnte.56 Für die SPD-Führung waren die Kommunisten „Nazi-Kommunisten“. Die KPD setzte auf eine Republik nach dem Vorbild der Sowjetunion. Für sie waren die Sozialdemokraten „Sozialfaschisten“.57 Ihre Organisationen zählten am Ende der Weimarer Republik ca. 7.500 Mitglieder.58 Die SAP, deren Mitglieder aus der linken Opposition der SPD sowie aus der Kommunistischen Partei (Opposition) (KP(O) kamen, waren mehrheitlich bereit, gemeinsam mit Mitgliedern anderer Arbeiterparteien gegen die faschistische Gefahr zu kämpfen. Die SAP hatte in Pommern zu Beginn des Jahres 1933 nur 7 Ortsgruppen mit ca. 150-180 Mitgliedern.59 In den ersten Wochen der Nazidiktatur konnten deren Gegner nicht voraussehen, was diese Diktatur für sie bedeuten würde – von den Parteienverboten, der Ausschaltung ihrer Presse, der

55 Schwabe, Klaus: Wurzeln, Traditionen und Identität der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Pommern. Reihe Geschichte Mecklenburg Vorpommern, Nr.9, Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Mecklenburg- Vorpommern, Schwerin, 2004, 3.Auflage, S.121. 56 Volksbote Stettin, 28.3.1932 57 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, I/3/3/10 58 Ebenda 59 Vgl. Lamprecht, Werner: Zum antifaschistischen Kampf von Mitgliedern der SPD, der SAP und der Gewerkschaften in Stettin (1933-1935), in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 8, 1968/69, S.105f. 42

Aberkennung ihrer Parlamentsmandate vom Reichstag bis zur Gemeindevertretung, von Massenverhaftungen, von Misshandlungen bis hin zum Mord.

Zu den leitenden Funktionären der Arbeiterparteien in Pommern gehörten in der Jahreswende 1932/33 der Sozialdemokrat Gustav Schumann (1878-1956), geboren in Jüterbog, von Beruf Anwaltsgehilfe. Mit 21 Jahren trat er der SPD bei und absolvierte die Reichsparteischule der SPD in Berlin. 1910 begann er seine Tätigkeit als Redakteur des „Volksboten“, des Bezirksblattes für die SPD Pommern in Stettin. Auf dem Sonderparteitag im Dezember 1918 in Stettin wurde er in den Bezirksvorstand gewählt und übernahm 1924 den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei in Pommern. In den Jahren der Weimarer Republik wirkte er als Stadtverordneter in Stettin, war Mitglied des Provinziallandtages und gehörte bis zur Auflösung des Reichstages diesem Gremium als Abgeordneter an. Mit dem Verbot seiner Partei im Juni 1933 für kurze Zeit in Schutzhaft genommen, wechselte er seinen Wohnsitz in den Harz. Er wurde infolge des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 ins KZ Buchenwald eingeliefert.60

60 Vgl. Lamprecht, Werner, in: Schwabe, Klaus, S. 74. 43

Theodor Hartwig (1878-1949), geboren in Xion, Preußische Provinz Posen, von Beruf Fleischergeselle, trat 1903 in die SPD ein, wirkte in Partei- und Gewerkschaftsfunktionen. 1913 wurde er Bezirkssekretär der SPD in der Provinz Posen mit dem Sitz in Bromberg. Ende 1918 übernahm er die Funktion des Bezirksparteisekretärs in Pommern und vertrat seine Partei von 1919 bis 1933 als Abgeordneter im Preußischen Landtag. Seit der Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold stand er dieser Organisation als Gauführer vor. Mit dem Verbot der SPD für kurze Zeit in Schutzhaft genommen, emigrierte er im Sommer 1933 in die ĆSR und von dort 1938 nach Schweden. In der Emigration hielt er Kontakte zu seinen sozialdemokratischen Genossen, zu Gewerkschaftern und zu Kommunisten. Er hatte Verbindungen zu Mitgliedern des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ in Schweden. 1947 übersiedelte er nach Magdeburg und wurde Mitglied der SED.61 An der Spitze des SPD-Unterbezirkes Stralsund stand von 1922 bis 1933 Karl Kirchmann (1888-1967). Geboren in Hannover, von Beruf Tischler, arbeitete er in Partei- und Gewerkschaftsfunktionen. 1917 wurde er nach Stralsund kriegsdienstverpflichtet. Als Vorsitzender der USPD im Regierungsbezirk Stralsund wirkte er in den Tagen der

61 Ebenda, S. 74f. 44

Novemberrevolution als 2. Vorsitzender des Bezirks-Arbeiter- und Soldatenrates. 1922 übernahm er den Vorsitz des Unterbezirkes Stralsund der SPD und war beruflich als Arbeitersekretär Angestellter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB). 1922 und 1924 war er Mitglied des Reichstages und von 1925 bis 1933 Mitglied des Preußischen Landtages. Sein Hauptwirken galt in den letzten Jahren der Weimarer Republik dem Kampf gegen den Nationalsozialismus. Die Naziführer Pommerns, von Corswandt und Karpenstein, forderten ihn auf, sich in ihren Versammlungen zur Diskussion zu stellen, was er auch mit Erfolg tat. Sein Einfluss auf die Arbeiterorganisationen in Stralsund führte auch dazu, dass führende Vertreter von KPD und SAP zur SPD übertraten. Zu ihnen gehörten der ehemalige Ortsvorsitzende und Unterbezirksleiter der KPD Willy Harder und der Vorsitzende der SAP-Ortsgruppe Stralsund Prinz. Nach der Machtübernahme durch die Nazis gehörte Karl Kirchmann zu den ersten Sozialdemokraten, die von ihnen verhaftet wurden. Einige Monate war er im Konzentrationslager Sonnenburg inhaftiert. Nach Stettin übergesiedelt, baute er sich zunächst als Lebensmittelhändler und später in der Versicherungsbranche eine neue Existenz auf. Mit Willy Harder aus Stralsund, der nach Dänemark emigrierte, stand er in Verbindung und suchte ihn in 45

Dänemark auf. Regelmäßige Treffs fanden mit ehemaligen Partei- und Gewerkschaftsfunktionären in Stettin statt. Auch hier wurde er mehrfach verhaftet und kam nach dem 20. Juli 1944 in das Arbeitslager nach Stettin-Pölitz. Nach der Besetzung Stettins durch die Rote Armee musste er Stettin verlassen und nahm erneut seinen Wohnsitz in Stralsund. Bis zu seinem Tode blieb er Mitglied der SED.62 Den SPD-Unterbezirk Köslin leitete seit 1924 der Volksschullehrer Richard Schallock (1896-1956). Nach dem I. Weltkrieg, aus dem er als Schwerverwundeter zurückkehrte, schloss er sich 1919 der SPD an. Er leistete eine umfangreiche gesellschaftliche Arbeit als Kommunalpolitiker, Gewerkschafter und Parteifunktionär, vor allem auch in Lehrergewerkschaften und -vereinen. Von 1928 bis 1932 gehörte er dem Preußischen Landtag an. Unter dem Naziregime wurde Richard Schallock mehrfach verhaftet, so 1933, 1943 und 1944. Doch seine antifaschistische Gesinnung gab er nicht auf und hielt auch in der Nazizeit Kontakt zu Gleichgesinnten. Dazu nutzte er auch seine berufliche Tätigkeit als Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft. Nur wenige Einwohner verblieben nach dem Rückzug der deutschen Truppen in Köslin, darunter seine Familie. Wie auch in anderen deutschen Städten östlich von Oder und Neiße

62 Ebenda, S. 76f. 46 setzte die sowjetische Administration in Köslin jeweils eine polnische und eine deutsche Verwaltung ein. Richard Schallock wurde zum Bürgermeister für die deutsche Bevölkerung bestimmt. Er und seine Mitarbeiter, darunter auch Kommunisten, bemühten sich, das Leben für die Zurückgebliebenen erträglicher zu gestalten. Ende Juli 1945verliess die Familie Schallock Köslin in Richtung Berlin. Hier wirkte er als SPD- und später SED-Mitglied vor allem an der Bildung der Gewerkschaft für Lehrer und Erzieher mit und wurde 1949 zum Minister für Volksbildung in Sachsen-Anhalt berufen. 1951 musste er sein Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. 63

An der Spitze der Bezirksorganisation der KPD Pommern stand zu dieser Zeit Werner Kraus (1898-1964). Er war 1923 der KPD beigetreten und übernahm eine Reihe leitender Funktionen. Um die Jahreswende 1932/33 war er Politischer Leiter des KPD-Bezirks Pommern, Mitglied des Preußischen Landtages und wurde im März 1933 in den Reichstag gewählt. Im April 1933 übernahm er die Leitung des Parteibezirkes Ostpreußen. Kraus gehörte zu den wenigen kommunistischen Funktionären, die zu Verrätern wurden. Er trat der NSDAP bei

63 Ebenda, S. 72f. 47 und verriet zahlreiche Kommunisten, die illegal wirkten, an die Gestapo.64 Paul Grobis (1894-1943) war Organisationsleiter in der KPD- Bezirksleitung. Er kam über die USPD zur KPD, absolvierte die Internationale Leninschule in Moskau und wurde von seiner Partei mit führenden Funktionen betraut. Er, der mit Kraus im April 1933 gemeinsam an die Spitze des Parteibezirkes Ostpreußen berufen worden war, ging wie dieser den Weg des Verrats. Paul Grobis fiel 1943 als Soldat der deutschen Wehrmacht an der Ostfront.65 Erwin Fischer (1907-1942), geboren in Stettin, gehörte ebenfalls der letzten legalen Bezirksleitung der KPD an. Er, der zeitweilig als Gauführer der Roten Jungfront und als Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes in Pommern arbeitete und wegen Zersetzungsarbeit unter Angehörigen der Reichswehr zu einer längeren Festungshaft verurteilt worden war, zählte zu den Mitarbeitern von Hermann Matern in der illegalen Bezirksleitung der KPD. Er konnte sich der Verhaftung im Sommer 1933 in Stettin entziehen, wirkte im Auftrage der Parteiführung in

64 Vgl. Weber, Hermann/Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch, Berlin 2004, S. 404f.; Lamprecht, Werner: Der Kampf der pommerschen Parteiorganisation der KPD gegen Faschismus und Krieg (1933-1945), in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 5, S. 93ff. 65 Vgl. Weber/Herbst, S. 265; Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 5, S. 93ff. 48 verschiedenen Funktionen im In- uns Ausland. Fischer besuchte die Internationale Leninschule in Moskau und wurde in den Niederlanden wegen seiner antifaschistischen Tätigkeit inhaftiert, interniert und nach der Besetzung der Niederlande durch die deutschen Truppen an Deutschland ausgeliefert. Er wurde zum Tode verurteilt und 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.66 Hermann Matern (1893-1971) trat 1911 der SPD bei, schloss sich nach dem I. Weltkrieg der USPD an und trat 1919 zur KPD über. 1928/29 studierte er an der Internationalen Leninschule in Moskau und übernahm nach der Rückkehr in Deutschland leitende Funktionen in der Partei. Ende 1932/Anfang 1933 war er Politischer Leiter des Parteibezirkes Ostpreußen und übernahm im April 1933 die Leitung des KPD-Bezirks Pommern. Unter seiner Führung konnte die Bezirksleitung Verbindung zu einer Reihe von Parteigruppen in der Provinz aufnehmen. Im Sommer 1933 in Stettin verhaftet, gelang ihm mit anderen Kommunisten die Flucht aus dem Gefängnis in Stettin-Altdamm. In verschiedenen Emigrationsländern setzte er seine antifaschistische Tätigkeit fort. Aus der Sowjetunion im Frühjahr 1945 zurückgekehrt,

66 Vgl. Weber/Herbst, S. 202f; Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 5, S. 93ff.

49

übte er leitende Funktionen in der KPD/SED in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aus. 67 Leiter des SAP-Bezirkes Pommern und zugleich Vorsitzender der Ortsgruppe Stettin war Fritz Lamm (1911- ). Der gebürtige Stettiner war Inhaber einer Leihbibliothek in seiner Heimatstadt. Er entstammte einem jüdischen Elternhaus. Im Sommer 1933 wurde er verhaftet und im Januar 1934 zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Er überlebte das faschistische Regime und wirkte nach dem Krieg als Mitglied der SPD, in leitenden Funktionen der Naturfreundebewegung und der Gewerkschaften.68

Eine Woche nach Hitlers Berufung zum Reichskanzler führten die pommerschen Sozialdemokraten am 4. und 5. Februar 1933 in Stettin ihren Bezirksparteitag durch. Ziel des Parteitages war es, sich auf die kommenden Wahlen in Deutschland vorzubereiten und über weitere Maßnahmen gegen die nationalsozialistische Regierung zu beraten. Gustav Schumann erklärte in seiner Rede: „Wenn wir uns auf das Schlimmste einstellen, dann können wir nicht irregeführt werden. Keine Kampfmaßnahme darf unterlassen werden, die sich hinterher als erforderlich herausstellt. Keineswegs dürfen

67 Vgl. Weber/Herbst, S. 488f; Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 5, S. 93ff. 68 Vgl. Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 8, S. 105ff. 50 wir leichtgläubig sein und annehmen, dass man uns irgendwie nachsichtig behandelt; das wird man nicht tun. Man ist grundsätzlich nicht nachsichtig gegenüber der Arbeiterklasse. Das haben die Taten der autoritären Regierung der letzten Wochen zur genüge gezeigt... Der Feind steht einzig in der faschistischen Kampffront und es ist ein Verbrechen in dieser Situation die Aufmerksamkeit und die Kräfte des Proletariats von diesem Hauptfeind abzulenken. Alle Gegensätze haben in dieser Situation zu schweigen. Es darf nur ein Gebot für die Arbeiterklasse geben und das ist der Kampf gegen den Faschismus.“69 Der Parteitag unterstützte den Aufruf der Eisernen Front, in der alle sozialdemokratischen Organisationen zusammengeschlossen waren, am 5. Februar in Stettin eine Demonstration gegen die Machtübernahme durchzuführen. Mehr als 25.000 Menschen kamen. Mit ihnen marschierten auch die Kommunisten, doch die Polizei versuchte sie an der Teilnahme zu behindern. Das aber gelang nicht. Es war die größte Demonstration der Stettiner Arbeiterschaft, die es je gegeben hatte.70 Als aber Tage und Wochen vergingen und die Mitglieder der SPD nicht zu Aktionen aufgerufen wurden, forderten eine

69 Greifswalder Volkszeitung, 6.2.1933; Volkswacht, Bezirkszeitung der KPD Vorpommern,. 7.2.1933 70 Greifswalder Volkszeitung, 6.2.1933. 51

Reihe von Funktionären und Mitgliedern eine Aussprache mit leitenden Funktionären. Eine der Aussprachen fand im April 1933 in einem Arbeiterlokal in Stettin-Grabow statt. Zu dieser Zeit waren die Geschäftsräume des „Volksboten“ bereits in eine Folterhöhle der SA und SS umgewandelt worden. An dieser Aussprache nahmen neben Gustav Schumann Theodor Hartwig, Bezirkssekretär der Partei und Landtagsabgeordneter, Paul Pankowski, Chefredakteur des „Volksboten“, Hermann Wilke, Stadtrat in Stettin und Gustav Grune, Bezirksleiter des Metallarbeiterverbandes Pommern teil. Die leitenden Funktionäre konnten ihren Mitgliedern auf der Zusammenkunft keine Antworten auf die Fragen geben, was zu tun sei. Ja, sie missbilligten in Übereinstimmung mit dem Parteivorstand das ungeduldige Verhalten der Funktionäre sowie ihr Drängen nach einheitlichen Aktionen der Arbeiterklasse.71 Dennoch begannen Sozialdemokraten, sich in einzelnen Stadtteilen Stettins und auch in anderen Orten der Provinz zu organisieren. Zu ihnen gehörten Erich Ott, Richard Glienke, beide kandidierten für den Reichstag im März 1933, Karl Krahn und Hermann Glander, Redakteure des „Volksboten“, Erich Dehl, Parteisekretär für die Stadt Stettin, Ernst Guth, Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend in Pommern

71 Vgl. Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 8, S. 100. 52 und andere. Sie hielten Kontakte mit sozialdemokratischen Genossen und auch zu Kommunisten. Karl Krahn und Hermann Glander trafen sich wenig später mit Hermann Matern, dem neuen illegalen Bezirkssekretär der KPD, um Erfahrungen auszutauschen. Beide wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Eine Reihe von leitenden SPD-Funktionären war in dieser Zeit bereits in der Emigration oder hatten die Provinz Pommern verlassen und anderen Orts eine Existenz gegründet.72 Die KPD-Bezirksleitung Pommern wollte wenige Wochen nach den Reichstagswahlen vom November 1932 am 10. und 11. Dezember einen Bezirksparteitag durchführen, um über die weitere Arbeit zu beraten und sich auf die kommenden Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten sowie auf die Zusammenarbeit mit ihren sozialdemokratischen Genossen – „aber ohne die Oberen“ – vorzubereiten. Dieser in Stettin stattfindende Parteitag wurde jedoch von der Polizei verboten und aufgelöst. Erst am 22. Januar 1933, also wenige Tage vor dem Machtantritt Hitlers konnte er illegal in dem Stettiner Vorort Klütz abgehalten werden. Genossen behaupteten später, dass die Auflösung des Dezember-Parteitages bereits auf Initiative von Werner Kraus und durch seine

72 Ebd. 53

Zusammenarbeit mit der Politischen Polizei erfolgt sein könnte.73 Die Kommunisten in Pommern organisierten bereits am 30. und 31. Januar kurz nach der Bekanntgabe, dass Hitler Reichskanzler geworden ist, in einer Reihe von Städten der Provinz Protestdemonstrationen, so unter anderem in Stettin, wo sich mehr als 8.000 Werktätige beteiligten, in Rummelsburg, Köslin, Swinemünde, Kolberg, Anklam, Greifswald, Stargard, Stralsund und in Loitz.74

Die Maßnahmen der Hitlerregierung hatten schon in den ersten Tagen und Wochen ihrer Herrschaft deutlich erkennen lassen, dass sie eine Provokation größeren Ausmaßes gegen die Arbeiterbewegung und alle anderen demokratischen Kräfte plante. Mit der Besetzung des Karl-Liebknecht-Hauses, dem Sitz des Zentralkomitees der KPD am 24. Februar und dem Erlass über die Einsetzung von SA- und SS-Männern als Hilfspolizisten wurden Terrormaßnahmen vorbereitet. Die Reichstagsbrandprovokation der Nazis wurde dann das Signal für die Verhaftung zahlreicher Gegner noch in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933. Es erfolgten Hausdurchsuchungen in den Büros der KPD, der SPD und der Gewerkschaften. Am

73 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, I/3/3/10. 74 Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 5, S. 94ff.

54

2. März 1933 begannen die Massenverhaftungen von pommerschen Arbeiterfunktionären, vor allem von Kommunisten. Die ersten Verhafteten waren Wahlkandidaten der KPD zu den von den Nazis ausgeschriebenen Parlamentswahlen vom Reichstag bis hin zu den Gemeindevertretungen. Allein 46 Stettiner Kommunisten wurden in den ersten Märztagen in „Schutzhaft“ genommen. Ebenso wütete der Terror in der Provinz. Hier verhafteten die Nazis, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, in Greifswald 40, in Stargard 30, in Stralsund 28 und in den Landkreisen Usedom-Wollin und Rügen 23 bzw. 12 KPD- Funktionäre. Unter den Verhafteten befanden sich solche bekannten Kommunisten wie Karl Rosenfeld, Georg Nehmer, Hermann Schmidt, Wilhelm Petri, Richard Friedel, Johannes Mengel und Ernst Rummel.75

Trotz des aufopferungsvollen Kampfes der Arbeiterparteien und anderer Demokraten gelang es der Arbeiterbewegung nicht, den Nazis eine Wahlniederlage beizubringen. Bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent stimmten bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 in Pommern für die NSDAP 612.398, für die SPD 176.376, für die KPD 82.442, für das Zentrum 12.453 und für die DNVP 184.614 Wahlberechtigte.

75 Ebd. 55

Die Wahlergebnisse zeigen zugleich auch die Schwere des Kampfes der pommerschen Hitlergegner. Besonders in den hinterpommerschen Städten wie Stolp, Lauenburg, Köslin und anderen hatte die NSDAP sehr hohe Stimmenanteile.76

Die Parteiführung der KPD bemühte sich, die Leitungen in den einzelnen Bezirken zu sichern und nahm daher Umbesetzungen von führenden Funktionären in den einzelnen Bezirksleitungen vor. So erhielt Hermann Matern, bisher Sekretär der Bezirksleitung Ostpreußen mit dem Sitz in Königsberg den Auftrag, die Leitung der pommerschen Parteiorganisation zu übernehmen. Auch er hatte wie Werner Kraus an der letzten Parteiarbeiterkonferenz unter Ernst Thälmann am 7. Februar 1933 in Ziegenhals bei Berlin teilgenommen. Mit ihm arbeiteten solch bewährte Funktionäre wie Otto Neu, verantwortlich für die Parteiorganisation Stettin, der als Redakteur der „Volkswacht“ tätig war und Erwin Fischer in der illegalen Bezirksleitung. Durch Instrukteure und Kuriere wurden unterbrochene Verbindungen zu einzelnen Ortsgruppen und Unterbezirken wieder hergestellt, arbeitsfähige Leitungen geschaffen und die Parteiarbeit unter den Bedingungen der Illegalität fortgesetzt. Nach bisherigen Untersuchungen gelang es der Bezirksleitung, zu

76 Ebd. 56

Parteiorganisationen in Anklam, Greifswald, Loitz, Stralsund, Falkenburg, Neustettin, Rummelsburg, Bütow, Lauenburg, Stolp, Köslin, Stargard, Kolberg und Kallies wieder herzustellen. In Stettin gingen die Stadtteilleitungen dazu über, Fünfergruppen zu bilden. Die Mitglieder der illegalen Bezirksleitung gaben den illegalen Gruppen konkrete Anleitung und Hilfe. In der waldreichen Umgebung Stettins fanden eine Reihe von Treffen und Aussprachen zwischen Funktionären der unteren Parteieinheiten mit den Mitgliedern der Bezirksleitung statt. Zur Unterstützung ihrer agitatorischen und propagandistischen Arbeit gelang es, in vier Folgen des Bezirksorgans „Volkswacht“ illegal herauszugeben. Die umfangreiche illegale Arbeit blieb den Nationalsozialisten und der Politischen Polizei nicht verborgen. In den Sommermonaten gelang es der Politischen Polizei, Hermann Matern, Franz Braun und eine Reihe weiterer Kommunisten zu verhaften. Franz Braun wurde das erste Opfer, er wurde im Juli 1933 auf offener Straße von SA-Männern erschossen. Das war ein schwerer Schlag für die illegale Kommunistische Partei in Pommern. Es brauchte eine längere Zeit, um an Stelle der Verhafteten andere, auch jüngere und wenig bekannte Kommunisten treten 57 zu lassen, um vor allem in Stettin die illegale Arbeit fortzusetzen.77

Die Mitglieder der SAP, die in Pommern nur wenige Mitglieder zählte, hatten ebenfalls den illegalen Kampf aufgenommen. Einige Mitglieder dieser Partei hielten enge Verbindungen zu Kommunisten und Sozialdemokraten. Die illegale Leitung lag in den ersten Monaten der Nazidiktatur in den Händen ihres Vorsitzenden Fritz Lamm. Ihm zur Seite stand der Vorsitzende des Sozialistischen Jungendverbandes Walter Porsch. Sie gaben selbständig illegale Materialien heraus, die auch in anderen Orten, unter anderem in Köslin und Greifswald verbreitet wurden. Neben einer Schrift „Der junge Gewerkschafter“ wurde von ihnen auch die Zeitschrift „Trotz alledem“ hektographiert und in mehreren Auflagen herausgegeben. Diese Schrift erschien zum ersten Male zum 1. Mai 1933 in einer Auflage von 100 bis 120 Exemplaren. An der Herstellung beteiligten sich auch Sozialdemokraten, u. a. Kurt Bols-Stern, früher Redakteur des Stettiner „Volksboten“. Bols-Stern emigrierte später nach Schweden. Fritz Lamm wurde bereits am 3. Mai 1933 in „Schutzhaft“ genommen. Weitere Verhaftungen von SAP-Mitgliedern erfolgten im

77 Lamprecht, Werner: Die Flucht Hermann Materns und weiterer Kommunisten aus dem Gefängnis in Altdamm bei Stettin, in: Lamprecht, Werner: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 9, S. 93ff. 58

August 1933. Alle diese SAP-Genossen standen unter der Anklage der „Vorbereitung zum Hochverrat“. Auch diese Antifaschisten waren wie die Mehrzahl der Verhafteten schweren Folterungen ausgesetzt und wurden vom Reichsgericht zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt. Der Redakteur und Schriftsteller Kurt Bols-Stern, der die Misshandlungen nicht mehr ertragen konnte, sprang am 26. August 1933, als er wiederum zu einer Vernehmung geführt wurde, aus einem Fenster im 2. Stock des Stettiner Polizeipräsidiums. Im Krankenhaus musste der rechte Arm amputiert werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus stand er unter Polizeiaufsicht. Mit Hilfe von sozialdemokratischen Genossen gelang es ihm, Weihnachten 1933 in die ĆSR zu emigrieren. Hermann Glader hatte ihn über die Grenze gebracht. Nach der Verhaftung von Fritz Lamm und seinen Freunden übernahmen Bruno Krüger, Walter Hedke, Günter Nelke, Fritz Klotz die Herausgabe und Verbreitung der Schrift „Trotz alledem“. Walter Hedke und Bruno Krüger wurden am 9. September 1933 verhaftet, in „Schutzhaft“ genommen und zu Weihnachten 1933 entlassen. Im Februar 1934 wurden sie erneut inhaftiert. Günter Nelke, Bezirkskassierer der SAP konnte sich der Verhaftung durch Emigration in die ĆSR entziehen. Walter Hedke und Bruno 59

Krüger wurden am 4. April 1934 vor dem Kammergericht zu Gefängnisstrafen verurteilt. Andere Mitglieder der SAP und der SJVD führten die Arbeit weiter. Darüber berichtete Alfred Wahl: „Die illegale Arbeit des SJVD und der SAP in Stettin ...bestand bis Ende 1935. Die Hauptlast der illegalen Arbeit lag dabei auf den Schultern der Angehörigen des SJVD.“ Auch in dieser Zeit wurde mehrfach erfolgreich die Schrift „Trotz alledem“ in Stettin verbreitet.78

Die größte illegale antifaschistische Widerstandsgruppe in Stettin entstand 1937 und entwickelte sich insbesondere während des Krieges. In ihr wirkten in den Jahren 1943/44 ca. 300 Antifaschisten, vor allem Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten und Parteilose. In den Prozessen im Februar 1945 wurden sieben Mitglieder zum Tode verurteilt und hingerichtet, unter ihnen die Leiter, die Kommunisten Walter Empacher und Werner Krause.

Nach dem Sturz des NS-Regimes stellten die aus der Illegalität tretenden Überlebenden in Hinterpommern wie in Vorpommern ihre Kräfte der Überwindung der Kriegsfolgen und dem demokratischen Neuaufbau zur Verfügung.

78 Vgl. Lamprecht, Werner, Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, Bd. 8, S. 99ff. 60

Demokratische Gruppierungen in Mecklenburg in der Weimarer Republik

Wolf Karge

Das Thema verlangt ein paar kurze Vorbemerkungen. Mit der Demokratie im menschlichen Selbstverständnis ist es eine schwere Sache. Schon die führenden 1848er in Mecklenburg, die sich durchaus als Demokraten verstanden, hatten da so ihre Probleme. Nach der Niederlage der Revolution und dem Ende ihres Martyriums in Gefängnissen und Zuchthäusern nahmen sie selbst das unschöne Wort „Demokratie“ auch nicht mehr in den Mund. Doch wehrten sie sich nicht, wenn ihre Verteidiger sie in diesen Zusammenhang setzten. So hieß es 1861 in einer Schrift über den Hochverratsprozess: „Die gedemüthigte Reaktion... sucht die Demokratie in ihren Führern zu vernichten... Je mehr sie die Führer der Demokratie zu erniedrigen sucht, destomehr hebt sie sie in der Achtung des Volkes als Märtyrer der Freiheit, falls dieselben sich nur selbst getreu bleiben.“ (Wex 1861, S. 31) Trotzdem erstrebten sie etwas, was wir heute eine repräsentative oder parlamentarische Demokratie nennen. Sie selbst nannten sich aber Liberale. Die Demokratie wurde expressis verbis im ausgehenden 19. Jahrhundert von den Sozialdemokraten im Sinne einer 61 unmittelbaren Demokratie okkupiert und damit noch weniger salonfähig. So sah es im Selbstverständnis auch noch unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918 aus. Doch nun kam ein Wandel. Die Sozialdemokraten wurden ihres radikalen Flügels durch Abspaltung der USPD und dann der KPD beraubt und verloren damit ihr revolutionäres, oder sollten wir sagen, innovativstes Potenzial. Die SPD mutierte von der radikalen Opposition zur staatstragenden Regierungspartei und wurde nun auch zu dem, was die Liberalen im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits waren – sie wurden Verfechter einer repräsentativen Demokratie, die sich nach einer weitgehend demokratischen Wahl als Repräsentanten eines abrechenbaren Wählerpotenzials sahen. Sie entschieden sich „für die Fortsetzung ihres Kurses der sozialen Demokratie“ (Schwabe, S. 748) Was aber war das? Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie im Juni 1919 in Weimar forderte von den Regierungspartnern: „1. Rückhaltlose Anerkennung der republikanischen Staatsform; 2. Eine Finanzpolitik mit scharfer Heranziehung von Vermögen und Besitz; 3. Eine tiefgehende Sozialpolitik mit Sozialisierung der hierzu geeigneten Betriebe.“ (Protokoll, S. 56) Das sind noch die alten Klänge der Opposition. In der Regierungsverantwortung sind derart konsequente 62

Forderungen ohne die Heraufbeschwörung bürgerkriegsähnlicher Zustände kaum durchsetzbar. Für die Liberalen z. B. als Partner waren diese besitzstandsgefährdenden Forderungen unannehmbar. Wenn man einmal die Fürstenenteignung außer Acht lässt, blieb davon nur die Anerkennung der republikanischen Staatsform. Diesen Punkt konnte man aber auch mit einem Lippenbekenntnis erfüllen. Es war der kleinste gemeinsame Nenner. Die Sozialdemokraten waren in der Regierungsverantwortung dann auch weit davon entfernt, unmittelbare demokratische Massenaktionen gegen Vermögen und Besitz anzuzetteln oder die Enteignung von Betrieben durch den Arbeiter vor Ort zu initiieren. In begrenztem Rahmen wurden lediglich Staatsbetriebe und Genossenschaften neu geschaffen. Die konzertierte Aktion mit den Gewerkschaften im Generalstreik gegen den Kapp-Putsch war lediglich vom Streben nach Erhalt der Republik und damit natürlich auch der eigenen Macht gelenkt. Der Hamburger Aufstand war in den Augen der Regierungskoalition bereits eine staatsfeindliche Aktion. Eine Enteignung von Unternehmen stand nicht zur Disposition. Wenn man von den Reformansätzen in der Bildungs-, Gesundheits- und ländlichen Siedlungspolitik ausgeht, handelte es sich um die Ansätze eines Wohlfahrtsstaats, der in 63

Krisenzeiten ins Schleudern kommen muss. Doch dieser Wohlfahrtsstaat kann nur eine Facette oder Folge einer demokratischen Politik sein. Waren damit die Kommunisten, die ihr Ziel in der Errichtung einer Räterepublik sahen, undemokratisch? (Wohlgemerkt - in ihren Zielen) Oder waren nicht vielmehr die Kommunisten nun dort, wo die Sozialdemokraten 50 Jahre zuvor begonnen hatten? Wie viel Demokratie steckte in den Räterepubliken? Was waren die Arbeiter- und Soldatenräte parteipolitisch oder demokratiegeschichtlich gesehen? Die erste Weimarer sozialdemokratisch/deutsch-demokratische Regierungskoalition beeilte sich jedenfalls, diese Räte aufzulösen und abzuschaffen. Zeitgenössisch wurde für die Sozialdemokratie der Begriff „Mehrheitssozialisten“ im Gegensatz zur USPD benutzt, während aber niemand von den „Mehrheitsdemokraten“ sprach, was ja die erste Regierungskoalition in beiden Mecklenburg durchaus treffend bezeichnet hätte. Demokratische Gruppierungen sind also schwer zu definieren, weil sie sich während der gesamten Zeit der Weimarer Republik (sie macht übrigens exakt gerade die Zeit aus, die wir seit 1989 zurück gelegt haben) um brennende Tagesaufgaben kümmern mussten, die ihre theoretischen Überlegungen in den Hintergrund drängten. Im besten Falle 64 wurde die Demokratie agitatorisch bemüht im Sinne der Erhaltung der Republik. Klaus Schwabe bezeichnet als demokratische Parteien der Weimarer Republik in Mecklenburg nur die Sozialdemokraten und die Linksliberalen, die sich in der Deutschen Demokratischen Partei, der Nachfolgerin der Liberalen Partei Mecklenburgs, gesammelt hatten. (Vgl. Schwabe, S. 744) Das mag zutreffen, wenn man als Kriterium von einer Regierungsbeteiligung ausgeht. Die Lebensfähigkeit der repräsentativen Demokratie Weimarer Prägung und damit ihre theoretische Grundlage wurde in jener Zeit auf die „Möglichkeit legaler Aktivität für alle politischen Kräfte“ (Schwabe, S. 745) reduziert. Damit war nicht die Demokratie das Ziel (ob unmittelbar oder repräsentativ bleibt dahin gestellt), sondern der Weg, eben die Möglichkeit für alle. Heinz Koch bezeichnet dann dieses Bündnis von DDP und SPD 1919 konkreter als „die konsequenten Vertreter der demokratisch-parlamentarischen Staatsidee“. (Koch, Politik S. 311) Sie waren an der Macht und dort wollten sie auch ganz gern bleiben. Die Mecklenburger hatten kein Problem mit diesem Bündnis. Johannes Stelling war nach Hugo Wendorff der Mann dieses demokratische Bündnis weiter zu führen. Seit 1924 war diese Koalition in die Defensive geraten, politisch aber immer noch aktiv. 65

Auf nationaler Ebene klang das zunächst anders. Die Deutsche Demokratische Partei trat im Dezember 1918 an, die Sozialdemokraten im Wahlkampf zu schlagen. Im zentralen Wahlaufruf hieß es: „Die Deutsche Demokratische Partei ist in erster Linie dazu berufen, das Zustandekommen einer sozialistischen Mehrheit zu verhindern... Unser Vaterland kann sich wirtschaftlich nur erholen, wenn wir die Privatwirtschaft mit aller in ihr ruhenden Tatkraft und Arbeitslust aufrechterhalten.“ (Lexikon 1, S. 579) Diese Partei des Mittelstandes sah ihre weltanschauliche Grundlage im Liberalismus ohne ihre demokratische Position näher zu definieren. Ihr entsprach aber dem Wesen nach die parlamentarische und damit repräsentative Demokratie am ehesten. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass diese Partei großes Interesse am Erhalt der Weimarer Republik hatte. Damit stand sie den Sozialdemokraten näher als sie vielleicht selbst zunächst ahnte. In beiden Mecklenburg starteten die Liberalen (in Mecklenburg-Strelitz waren sie immer noch vereint) mit einem großen Vertrauensvorschuss in die Weimarer Republik. Ihre Opposition, bedingt durch den Erhalt des ständischen Systems bis 1918, hatte ihnen eine kämpferische Akzeptanz in der Öffentlichkeit erhalten. Hugo Wendorff erhielt in Schwerin das Amt des Ministerpräsidenten und Peter 66

Stubmann wurde in Neustrelitz analog zum Staatsminister gekürt. Es war der späte Triumph der Liberalen. Wieso die Sozialdemokraten als jeweils stärkste Fraktion auf dieses Vorrecht des Regierungschefs verzichteten, ist eines der noch nicht gelüfteten Geheimnisse der Geschichte. Hugo Wendorff war bis 1920 ebenfalls Mitglied der Weimarer verfassungsgebenden Nationalversammlung und wurde nach seiner Wahlniederlage preußischer Landwirtschaftsminister. (Vgl. Grundriß, S. 185) Doch der Bonus war für die Liberalen schnell verbraucht. Während die DDP in der Weimarer Republik 1920 nur noch etwa die Hälfte ihrer Wähler von 1918 mobilisieren konnte (Vgl. Lexikon 1, S. 575), waren es in Mecklenburg-Schwerin nur ein Viertel (Vgl. Schwabe, S. 755). Die Liberalen – oder nun Deutsche Demokraten – als Gralshüter der parlamentarischen Demokratie gerieten ins Abseits, obwohl sie weiter mit den Sozialdemokraten kooperierten. Friedrich Carl Witte hatte noch 1920 im Landtag gesagt, dass die DDP in Mecklenburg-Schwerin im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern „Schulter an Schulter mit den Mehrheitssozialisten steht, gegen die Deutschnationale Volkspartei, die weder deutsch noch national noch eine Volkspartei ist.“ (VGL 1920, Sp. 784) Die SPD honorierte das mit dem Ressort für Unterricht, Kunst, geistliche und Medizinalangelegenheiten. (Vgl. Biogr. Lexikon 2, S. 249) 67

Doch wie wirkte diese Zusammenarbeit im gemeinschaftlichen „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“? Wie waren dort die politischen Kräfteverteilungen? Der Mittelstand als Wählerpotential der DDP wanderte sowohl in Mecklenburg-Schwerin wie auch in Mecklenburg-Strelitz Mitte der 1920er Jahre in großer Zahl offensichtlich zu DVP und DNVP, denn in dem Maße, wie die einen geschwächt wurden, wuchsen die anderen. Das ließ in Mecklenburg- Strelitz die Liberalen schließlich sogar mit den Deutschnationalen eine Regierung bilden. Klaus Schwabe nennt die DDP in dem Zusammenhang sogar die „Mehrheitsbeschaffer für die DNVP“. (Schwabe/Strelitz, S. 203) Doch auch das konnte den Niedergang der DDP nicht aufhalten. Trotzdem bleibt die Frage nach der Haltung des DDP-Staatsministers Dr. jur. Roderich Hustaedt, der immerhin von 1920 bis 1931 dieses höchste Regierungsamt in Mecklenburg-Strelitz inne hatte und damit nach meiner Kenntnis den Langzeitrekord für beide Mecklenburg hält. (Vgl. Grundriß, S. 252) Er wurde übrigens 1950 in der DDR verhaftet. Vier Jahre später gelang ihm die Flucht nach Baden- Baden. (Vgl. Grewolls S. 206) Bekannt ist dagegen, dass die DDP in besonderem Maße auch bekennende Juden in führende Positionen ihrer Partei wählte und ausdrücklich religiöse Toleranz gegenüber allen 68

Konfessionen vertrat. Dazu zählte der Rostocker Jurist Dr. Richard Josephy, der gleichzeitig zu den führenden Mitgliedern der jüdischen Landesgemeinde gehörte. (Vgl. Jahnke S. 85 ff.) Als Indiz für demokratische Ziele und den Erhalt der Weimarer Republik kann auch das politisch außerordentlich aktive jüdische Ehepaar Edith und Dr. Hans Lindenberg gelten. Der Arzt genoss mit seiner Praxis ein hohes Ansehen in Rostock. Edith Lindenberg engagierte sich im Rostocker Ortsverein der DDP und darüber hinaus in der Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft an der Seite von Friedrich Karl Witte als stellvertretende Ortsvorsitzende. In der Deutschen Staatspartei (DStP) wurde sie 1930 Hauptvertrauensfrau des Reichstagswahlkreises Mecklenburg- Lübeck und, wie der Rostocker Schuhfabrikant Max Samuel, Mitglied des fünfköpfigen geschäftsführenden Landesvorstandes in Mecklenburg. 1931 war sie die Gründerin der Frauengruppe der DStP in Rostock. Gemeinsam mit Clara Josephy, der Frau von Dr. Josephy gründete sie dann 1931 die „Vereinigung der Rostocker Friedensfreunde“, die sich Ende 1932 dem „Allgemeinen Deutschen Friedensbund“ anschloss. Dr. Hans Lindenberg war im Aktionsausschuss des Landesvorstandes der DStP und im Reichsbanner „Schwarz- Rot-Gold“ tätig. Im Demokratischen Studentenbund Rostock 69 stand er als Mentor zur Verfügung. (Vgl. Zwischen Emanzipation S. 32 f.) Auch der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, dessen Ortsverein Rostock von Hans Lindenberg geleitet wurde, ist in diesem Sinne als demokratische Organisation zu werten. (Vgl. Jahnke S. 109) Josephy und beide Lindenbergs wurden Opfer des Nationalsozialismus.

Wie wurde die Demokratie in der Öffentlichkeit aufgenommen? Der junge Parlamentarismus in beiden Mecklenburg war in der Weimarer Republik noch nicht demokratisch geschult. Eine Kultur der politischen Meinungsfreiheit hatte keinen Raum zur Entwicklung in Zeiten schwerster wirtschaftlicher Krisen. Flügelkämpfe der Parteien, Ignoranz gegenüber Andersdenkenden, persönliches Machtkalkül und Diffamierung politischer Gegner bestimmten die öffentlichen und nichtöffentlichen Auseinandersetzungen. (Vgl. Koch, Demokratie S. 23) Der Abgeordnete Carl Moltmann (SPD) nennt z. B. den Kommunisten Wenzel im Landtag einen „Hampelmann“, Wenzel revanchiert sich mit einem Glas Wasser auf Moltmanns Anzug und Ergebnis ist ein Handgemenge zwischen beiden. (Vgl. Koch, Politik S. 313) Der demokratische Parlamentarismus wurde nicht als politische Chance erkannt, sondern überwiegend nur als 70

Bühne persönlicher Eitelkeiten betrachtet. Die rechte Presse jubelte und bezeichnet das Ganze als „rote Misswirtschaft“ „völlig vertrottelter politischer Idioten“. (Vgl. ebenda) Das Volk musste glauben, dass parlamentarische Demokratie doch nicht der richtige Weg ist. Wo nun hier die demokratischen Gruppierungen finden? Sozialdemokraten und Deutsche Demokraten – am Ende der Weimarer Republik mutiert zur Deutschen Staatspartei – sind genannt. Doch wie ist die „Gruppe für Volkswohlfahrt“ einzuordnen, die 1929 in Mecklenburg-Schwerin immerhin mit 7 461 Wählerstimmen fast so viele Stimmen wie die Demokraten hatte und mit dem Schweriner Rudolf Behrens einen Abgeordneten stellte, der seine politische Entwicklung im Mieterverein genommen hat? (Vgl. Meckl. Schwerinsches Staatshandbuch 1930, S. 6) Welche Rolle spielte der Minister und Landtagsabgeordnete der DDP Studienrat Dr. Richard Moeller aus Rostock? Immerhin war Moeller von 1921 bis 1932 Mitglied des Landtags von Mecklenburg-Schwerin und zeitweilig Landesvorsitzender der DDP. Nach Ende des Dritten Reichs war er übrigens noch kurze Zeit Kurator der Rostocker Universität und dann im Range eines Ministerialdirigenten in der Landesverwaltung tätig. Am 16. Dezember 1945 starb er in Fünfeichen. (Vgl. Grewolls S. 293)

71

Welches war die größte Gruppierung von Gleichgesinnten in Mecklenburg im Sinne einer Massenorganisation? Es waren die beiden evangelischen Landeskirchen – seit 1919 vom Staat getrennt und in der Weimarer Republik erheblich mit sich selbst beschäftigt zwischen Finanzschwierigkeiten und politischer Selbstfindung. Sie hatten immerhin über 760 000 Mitglieder, die im eigenen Sprachgebrauch hießen „Glieder“ hießen. War die Kirche eine demokratische Organisation? Wenn man die Synode betrachtet, mag das intern durchaus einer repräsentativen Demokratie entsprochen haben. Immerhin bezeichnete sich die Kirche in ihrer eigenen Verfassung als Volkskirche. (Vgl. Meckl.-Schwerinsche Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, S. 635) Doch wie verhielt sich die Kirche zur parteipolitischen Landespolitik? 1931 musste sich die evangelische Landeskirche dazu äußern. Anlass war die Trauung von Joseph Goebbels in Severin, wobei eine Hakenkreuzfahne über den Altartisch gelegt worden war. Diese Entgleisung in einem sakralen Raum hatte von dem ortsansässigen Pastor nicht verhindert werden können und geriet über „Das Freie Wort“ an die Öffentlichkeit. Der Oberkirchenrat sah sich zu einer Stellungnahme genötigt und gab „Richtlinien zu der Frage ‚Pastor und Politik’“ bekannt. Darin heißt es: „Es gibt keine Partei, die wir als Partei in Predigt, Kausalrede, Konfirmandenunterricht werbend 72 vertreten dürfen, auch nicht den Volksdienst... Wir stellen uns mit unserer Predigt zur Verfügung, ...wo immer wir gerufen werden, ob Stahlhelm oder Nationalsozialisten oder Jungdeutscher Orden oder Reichsbanner oder Religiöse Sozialisten usw.“ (Beste S. 16) Der Skandal von Severin wurde vom Oberkirchenrat allerdings verurteilt. Als sich der NSDAP-Gauleiter Hildebrandt nun wieder gegen diese Verurteilung beim Oberkircherat verwahrte, erhielt er die Antwort: „Das praktische Verhältnis zwischen dem Gau Mecklenburg der NSDAP und der mecklenburgischen Landeskirche habe sich günstiger gestaltet als in allen anderen Ländern Deutschlands.“ (Beste S. 18) Andererseits protestierte Landesbischof D. Rendtorff gegen die Einführung von Alfred Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ als Lehrbuch. Bei den Rostocker Kirchgemeindewahlen im Dezember 1932 traten die nationalsozialistisch orientierten „Deutschen Christen“ massiv mit eigenen Wahlvorschlägen gegen die neutralen Wahlvorschläge an. Sie attackierten die Pastoren, die „im Dienst des christlich-sozialen Volksdienstes“ stünden und verkündeten, dass „die Kirche dem Liberalismus verfallen“ sei. (Beste S. 20) Also doch alles Demokraten? Die Folge dieser Auseinandersetzung war eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung an den Kirchgemeindewahlen mit geringem Erfolg für die „Deutschen Christen“. Im März 1933 waren von 73 etwa 350 Pastoren in Mecklenburg-Schwerin ca. 15 Mitglieder der NSDAP. Ob Pastoren auch anderen Parteien angehörten, ist nicht bekannt. 1931 bis 1933 warnte der Demokrat und Pazifist Friedrich Carl Witte „in eindringlicher, manchmal auch abstruser Weise“ (Beste S. 14) die Pastoren in Rundschreiben vor einer Verbindung von Kirche und Nationalsozialismus. Schließlich erreichte die „Bekennende Kirche“ in Mecklenburg eine starke Verbreitung. Doch ist sie deshalb zu den demokratischen Gruppierungen zu zählen?

Sicherlich gehört aber die Deutsche Friedensgesellschaft dazu, die in Mecklenburg mit eben jenem Friedrich Karl Witte einen prominenten Politiker in ihrer Führung hatte. Der Rostocker Witte war als Liberaler und Mitglied der DDP im verfassunggebenden Landtag aktiv. Im Februar 1933 veröffentlichte er in den „Mecklenburger Blättern“ der DStP einen Briefwechsel mit dem Oberbürgermeister von Rostock, in dem Witte gegen ein antisemitisches Flugblatt protestierte. (Vgl. Zwischen Emanzipation S. 45) In einem offenen Aufruf „An mein Vaterland“ im März 1933 legte er noch einmal ein mutiges Bekenntnis zur Weimarer Republik und zur Demokratie ab. (Vgl. Biogr. Lexikon 3, S. 316) Sein Sohn, nach 1945 mecklenburgischer Wirtschaftsminister, folgte dem 74

Vater 1926 in die DDP, trat damals aber nicht öffentlich politisch auf.

Ein weiteres Indiz für demokratische Organisationen ist die Verbotsliste der Nationalsozialisten vom 10. April 1933. Dort finden sich die Roten Falken und der Sozialistische Freidenkerverband. (Hermann Langer) Ein Zusammenschluss der linken Demokraten am Ende der Weimarer Republik deutet sich für Mecklenburg über das Periodikum „Die eiserne Front“ an. Die daran beteiligten Organisationen sind unter Federführung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bez. Mecklenburg-Lübeck, dann die Verbände Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Gau Mecklenburg- Lübeck; der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, 11. Bezirk; der Allgemeine Freie Angestelltenbund, Landesgeschäftsstelle Mecklenburg; der Deutsche Landarbeiterverband, Gau Mecklenburg; das Landeskartell für Arbeiterbildung, Sport und Körperpflege mit dem Arbeiter-Turn- und Sportbund, 3. Kreis, 4. Bezirk und schließlich (sic!) der Allgemeine Deutsche Beamtenbund, Landesausschuss für Mecklenburg-Schwerin und – Strelitz. Im Heft 4 der „Eisernen Front“ vom Mai 1932 heißt es in der kämpferischen Diktion jener Zeit: „Warum wir bereit sind, unser Leben für die Demokratie zu lassen! ... – weil allein die Demokratie den Schuldigen an allem Elend unserer Zeit, dem 75 kapitalistischen System, gefährlich werden kann.“ Die mecklenburgischen Demokraten mit der Deutschen Staatspartei, den Freidenkern oder der Deutschen Friedensgesellschaft kommen allerdings darin nicht vor. Aus diesen politischen Kreisen rekrutierte sich 1932 in Mecklenburg-Schwerin eine „Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft der Mitte“, die als „Gruppe für Volkswohlfahrt und Deutsche Staatspartei“ zu den Landtagswahlen antrat. Auf der Kandidatenliste finden sich neben 30 anderen Bewerbern um Landtagssitze die bekannten Rostocker Demokraten wie Dr. Richard Moeller, Dr. Friedrich Karl Witte mit seiner Ehefrau Laura und Dr. Hans Lindenberg. (Vgl. Siebter Landtag, S. 14) Sie erreichten schließlich mit 7889 Stimmen, das waren 2,2 %, ihr schlechtestes Ergebnis und stellten ein Mandat. (Vgl. Siebter Landtag, S. 7) Genauere Untersuchungen zu den (wie wir heute sagen würden) Mitte-Links-Parteien und entsprechenden Massenorganisationen in der Weimarer Republik stehen für beide Mecklenburg noch aus. Völlig unterbeleuchtet ist die Rolle der Gewerkschaften. Weder ihre politische Stellung in der Region noch die Stärke dieser Organisationen sind bekannt. Lediglich die Landarbeitergewerkschaft ist hin und wieder genannt, da sie durch ihre (allerdings erfolglose) Streikbewegung Mitte der 1920er Jahre für Aufsehen sorgte. Doch welche Rolle der Baugewerksverband, der DGB, der 76 deutsche Holzarbeiterverband, die Gewerkschaft der Eisenbahner oder der Evangelische Arbeiterverein spielten (um nur einige herauszugreifen) und ob sie zu den demokratischen Kräften gezählt werden können, muss momentan noch offen bleiben. (Vgl. Adressbuch der Landeshauptstadt Schwerin 1933, S. 270 ff.) Eine Untersuchung der Wirksamkeit des „Demokratischen Klubs“ als politisches Führungszentrum der DDP und später der Deutschen Staatspartei hierzulande steht ebenso aus. Was wollte die Sozialistische Arbeiterpartei, die 1932 mit 957 0,2 % der Stimmen bei den Landtagswahlen in Mecklenburg- Schwerin für sich verbuchte? (Vgl. Siebter Landtag, S. 7) Bisher sind als Indiz für die Wirksamkeit dieser Organisationen lediglich die Wahlergebnisse aussagekräftig. Die zahlenmäßige Stärke der Parteien und Verbände ist noch weitgehend unbekannt. Verflechtungen und Beziehungen untereinander ergeben sich bisher lediglich aus personellen Mehrfachmitgliedschaften. Ob sich daraus auch konzertierte Aktionen wie in der „Eisernen Front“ abgeleitet haben, ist noch nicht erwiesen. Nachzugehen wäre auch solchen Fragen, was z. B. aus der „Gruppe sozialistischer Akademiker“ oder der „Vereinigung fortschrittlich gesinnter Akademiker“ wurde, die 1920 noch 77 für eine demokratische Hochschulreform an der Rostocker Universität wirkten. (Vgl. Polzin, Witt, Rostock S. 173) Es bleiben also mehr Fragen als Antworten zu den demokratischen Gruppierungen in Mecklenburg bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Literatur Adressbuch der Landeshauptstadt Schwerin 1933, Schwerin 1932. Beste, Niklot: Kirchenkampf in Mecklenburg. Geschichte, Dokumente, Erinnerungen, Berlin 1975. Biografisches Lexikon für Mecklenburg, Bd. 2 Rostock 1999, Bd. 3, Rostock 2001. Ehlers, Ingrid/Schröder, Frank: Zwischen Emanzipation und Verfolgung, Rostock 1989. Die eiserne Front. Kampfblatt der republikanischen Bevölkerung Mecklenburgs gegen Faschismus und Terror Nr. 4, 15.5.1932, 1. Jahrgang. Grewolls, Grete: Wer war wer in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen 1995. Grundriß zur Verwaltungsgeschichte. Mecklenburg, Marburg/Lahn 1976. Heck, Uwe: Geschichte des Landtags in Mecklenburg. Ein Abriss, Rostock 1997. Jahnke, Karl-Heinz: Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des NS-Regimes in Mecklenburg 1933-1945, Rostock 2000. Koch, Heinz: Die parlamentarische Demokratie in Mecklenburg-Schwerin (1918 bis 1933), in: Studien zur Geschichte Mecklenburgs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Rostock o. J., S. 11-28. Koch, Heinz: Politik in Mecklenburg während der Weimarer Republik (1918-1933), in: Karge, Wolf: Rakow, Peter- 78

Joachim; Wendt, Ralf; Ein Jahrtausend Mecklenburg und Vorpommern, Rostock 1995, S. 308-315. Langer, Hermann, in: Mecklenburg-Magazin vom 24.1.2003. Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 – 1945). Bd.1, Leipzig 1983. Mecklenburg-Schwerinsche Verfassungs- und Verwaltungsgesetze nebst den Kirchengrundgesetzen, Wismar 1923. Mecklenburg-Schwerinsches Staatshandbuch 1930, Schwerin 1930. Polzin, Martin/ Witt, Horst: Rostock 1789 bis 1945, Rostock 1968. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD in Weimar vom 10. bis 15. Juni 1919. Protokoll des Verfassungsgebenden Landtags Mecklenburg- Schwerin (VGL) 1920, Schwerin 1920. Schwabe, Klaus: Mecklenburg-Strelitz von 1918 bis 1945, in: Mecklenburg-Strelitz. Beiträge zur Geschichte einer Region, O.O. 2001. Wex: Der Rostocker Hochverrathsproceß vor dem Forum des Hamburgischen Niedergerichts, 1861. 79

Das deutsche Großkapital und die Machtübergabe an Hitler

Dietrich Eichholtz

Welche Kräfte brachten Hitler und die faschistische NSDAP an die Regierungsmacht? Das ist der Kern der Frage danach, wie es geschehen konnte, dass in Deutschland zwölf Jahre lang Massenverfolgung und Rassenmord herrschten und von hier aus ein beispielloser Eroberungs-und Vernichtungskrieg mit Millionen Opfern ausging. Die Kernfrage ist aktuell und wird aktuell bleiben, und sie ist bereits aufgeworfen worden, als jene Macht noch gar nicht endgültig installiert war. Eckart Kehr (1902-1933), ein weitsichtiger linksliberaler Historiker, von der konservativen Mehrheit seiner Kollegen wütend gehasst, war es zum Beispiel, der Hitler und seine Leute schon 1932 mit Schärfe als „Huren der Thyssen et cetera“ brandmarkte.79 Bis heute wird die Auseinandersetzung um diese Frage erbittert geführt, weil sie in einem Maße interessengebunden ist wie kaum eine zweite und weil die Antwort die Verteidiger des großen Kapitals und des Kapitalismus und ihre Gegner scharf scheidet.

79 So Kehr in einem Brief an George W. F. Hallgarten vom Sommer 1932; zit. nach: Henry Ashby Turner, Jr.: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 417. 80

Ausführlich kann diese Auseinandersetzung hier nicht erörtert werden, die sich an Namen knüpft wie Henry A. Turner, Wilhelm Treue, Fritz Fischer, Dirk Stegmann, Timothy Mason. Ich will aber daran erinnern, dass sie ein zentrales Thema der DDR-Faschismusforschung war, die gerade auf diesem Gebiet viel bewegt und bewirkt hat. Die erzkonservative Position geht noch heute davon aus, dass die Unternehmer seit 1933 „Objekt, Opfer der Politik“ gewesen seien (Wilhelm Treue, 1962). Doch finden sich bei den Großunternehmen und ihren Hofhistorikern als „moderne“ Zugeständnisse an die internationale, inzwischen rege Diskussion, oft die beliebten Vokabeln der „Einbindung“ und der „Verstrickung“ in die Verbrechen der NS-Zeit – auch „tragische Verstrickung“ –, mitunter sogar die des „Sündenfalls“ (IG-Farben-Konzern). Die Position der Kommunistischen Internationale (KI) von 1933/35 hingegen, die nach 1945 bis zur Elbe vorherrschte, ging davon aus, dass die faschistische Diktatur „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, aggressivsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“80 war. Bei allen Schwächen der KI-Definition wird hier immerhin eine Differenzierung zwischen den genannten großkapitalistischen Kreisen und dem vorgenommen, was

80 Wilhelm Pieck/Georgi Dimitroff/Palmiro Togliatti: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Referate auf dem VII. Kongress der Kommunistischen Internationale (1935), Berlin 1960, S. 87. 81 etwa Lenin meinte, als er von der liberalen und sogar von der pazifistischen Fraktion der Bourgeoisie sprach. Auf das sehr beliebte Argument, nicht die deutschen Eliten, sondern die Anhängermassen Hitlers und der NSDAP hätten die Machtübertragung durchgesetzt, womöglich gegen große Teile der Eliten, scheint mir als Antwort notwendig: Hätten Hitler und die NSDAP keine Massenbewegung hinter sich gebracht, so hätte kein Hahn nach ihnen gekräht, ihr „Marsch aus der Bedeutungslosigkeit“ an die Macht hätte nicht stattgefunden. Aber ebenso richtig ist: Hätten maßgebliche Kreise der deutschen Eliten und die Anführer der „politischen Klasse“ sich Ende 1932/Januar 1933 nicht endgültig für eine Regierung unter Hitler entschieden, so wäre Deutschland die finsterste Periode seiner Geschichte erspart geblieben. Den Begriff der „Eliten“ begrenze ich in unserem Zusammenhang auf die Militärführung, die hohe Bürokratie und die Wirtschaftselite. Was letztere, und damit mein Thema betrifft, so schließe ich mich dem, nach Müller, „herkömmlichen Verständnis“ an: „Großindustrielle und Bankiers, die Spitzenmanager von Konzernen und großen Unternehmen, kurz: die Inhaber wirtschaftlicher Machtpositionen“81.

81 Rolf-Dieter Müller: Das Rußlandbild der Wirtschaftseliten im „Dritten Reich“: Problemskizze und Hypothesen, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln u. a. 1994, S. 357. Hinzuzurechnen sind hier die Großagrarier und die Funktionäre der großen Wirtschaftsverbände.

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Wirtschaftliche Interessen und politische Macht Politik ist ein Vehikel zur Durchsetzung von Interessen, besonders auch wirtschaftlichen. Von keiner, auch noch so demokratisch gewählten, Regierung kann Innen- und Sozialpolitik, Wirtschafts- und Rüstungspolitik und letztlich auch Außenpolitik ohne Einfluss und Mitwirkung großkapitalistischer Interessengruppen betrieben werden. Was wir über diese Zusammenhänge heutzutage in der Bundesrepublik wissen, beschränkt sich gemeinhin auf reichlich spärliche Informationen über Parteienfinanzierung und über das wuchernde System des Lobbyismus. Aber niemand wird auf die Idee kommen, die finstere Realität auf diesem Gebiet zu leugnen. Hier handelt es sich um Geheimnisse der Herrschenden, und diese werden ungern preisgegeben. Auch in der bürgerlichen Demokratie ist die Politik die „Magd der Hochfinanz“ (C. Dieckmann, „Die Zeit“). Faschistische Politik nach 1933 hat großkapitalistische Interessen durchgesetzt. Das geschah anders als in der bürgerlichen Demokratie, eben mit faschistischen Methoden. Aber das deutsche Großkapital und die anderen Eliten hatten auch dem entsprechende, ungeheure Ambitionen: Die kapitalistische Wirtschaftskrise, die tiefste in der deutschen Geschichte, sollte durch eine Rüstungskonjunktur abgelöst werden; dem 83 internationalen Widerstand gegen eine deutsche Wiederaufrüstung („Wiederwehrhaftmachung“) musste begegnet werden; der Widerstand der Arbeiterbewegung gegen Ausbeutungs- und Aufrüstungsdiktatur musste gebrochen, ihre sozialen Errungenschaften und damit ihre lebendige Kraft überhaupt mussten vernichtet werden; ein Krieg zur Wiedererlangung des im Ersten Weltkrieg Verlorenen und zur Gewinnung neuer Weltmachtpositionen war zu führen. Das war die Grundsubstanz eines weitgehenden Konsenses zwischen Nazis und Eliten, der von Anfang an, lange vor 1933, existierte. Die hysterisch aufgeblasene faschistische Ideologie störte dabei nur am Rande, entsprach aber im Grundsätzlichen durchaus großbürgerlichen Ressentiments und Klasseninteressen, besonders der wütende Antikommunismus und Antibolschewismus und die „Lebensraum“-Forderung, die zudem den Massen ihre Armut erklären und ihnen späteren Wohlstand vorspiegeln sollte. Auch der Rassismus/Antisemitismus – der natürlich den jüdischen Bankiers und Industriellen nicht besonders sympathisch war – hatte wichtige Funktionen: Er lenkte den Hass vom Kapital weg zu einem anderen Feind, zum „Rassenfeind“ statt zum Klassenfeind; er brutalisierte den Mob und stimmte ihn auf Gewalt ein; letzten Endes lag in der Anklage gegen das „Weltjudentum“ auch eine Begründung für den deutschen Anspruch auf Weltmachtstellung und 84

Weltvorherrschaft. Es war selbst, der Hitler- Förderer und spätere Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister, der seinen amerikanischen Freunden beruhigend erklärte, wie meisterhaft die Nazis mit ihren rabiaten Parolen auf dem „Massenklavier" spielten.82 Die Niederlage im Ersten Weltkrieg war ein bleibender Schock für die deutschen Eliten, und der Gedanke an eine Revanche hat sie nie verlassen. Deutsche Gebiete in Ost und West, Auslandsaktiva in aller Welt, alle Kolonien waren verloren. Die politische Ordnung des Kaiserreichs war zerstört, der Militarismus zusammengebrochen. In der Novemberrevolution wuchs die Arbeiterbewegung zu einer mächtigen, sogar regierenden Kraft heran. In der neu gegründeten Kommunistischen Partei sammelten sich ihre revolutionären Teile. Die sozialen Hauptlasten allerdings – Kriegselend, Nachkriegskrise, Inflation – trug das Volk. Seine traumatischen Erfahrungen ließen sich vielfach gefährlich zugunsten der Reaktion manipulieren. Die deutsche Bourgeoisie behauptete zwar ihre Macht, aber sie musste lernen, dass mit Gewalt (Kapp-Putsch) und bourgeoiser Ideologie (Antibolschewistische Liga; Faschisierung) nichts zu

82 „He (Hitler) knows well how to play that piano.” Nach dem Bericht von S. F. Fuller (US-Generalkonsul in Berlin) über seine Unterredung mit Hjalmar Schacht am 23.9.1935: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Bd. 36, Nürnberg 1949, Dok. EC-450, S. 529. 85 erreichen war, wenn ihr nicht Einbrüche in die Arbeiterbewegung gelangen. Zunächst musste mit Hilfe der Sozialdemokratie der Parlamentarismus ihre Herrschaft sichern. Nach der Niederlage des Kapp-Putsches 1920 warnten auch Scharfmacher wie Albert Vögler, Herrscher im Stinnes-Konzern, ausdrücklich vor „neuen militärischen Putschabsichten“83. In der ersten Hälfte der 20er Jahre sahen sie angesichts der Zersplitterung der faschistischen Bewegung in zahlreiche Verbände und Grüppchen keine Chance, anders als mit den ungewohnten und ungeliebten parlamentarischen Mitteln zu regieren. Immerhin waren während der Weimarer Republik die gesellschaftliche Stellung von Großindustrie und Banken und ihre Möglichkeiten, auf die Parteien- und Regierungspolitik Einfluss zu nehmen, so groß wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Die Monarchie mit ihrer mächtigen Koterie existierte nicht mehr. Der Adel war nur noch ein zweitrangiger gesellschaftlicher Faktor. Sogar seine Rolle in der Reichswehr war geringer geworden, wie überhaupt die Rolle des Militärs außerordentlich stark reduziert war. Das große Kapital lernte schnell, mit seiner gesellschaftlichen Vormacht umzugehen und sein Gewicht in die politische Waagschale zu werfen. Unhaltbar sind Auffassungen, nach denen es in der

83 Siehe Wolfgang Ruge: Monopolbourgeoisie, faschistische Massenbasis und NS-Programmatik in Deutschland vor 1933, in: Dietrich Eichholtz/Kurt Gossweiler (Hrsg.). Faschismusforschung. Positionen, Probleme, Polemik, Berlin 1980, S. 133. Vgl. auch Ruges ausführlichstes Werk zur Thematik: Das Ende von Weimar. Monopolkapital und Hitler, Berlin 1983: 86

Republik, ähnlich wie in der Monarchie, im Hintergrund gestanden, wenig Einfluss ausgeübt und sich nur auf die Wirkung seines Geldes habe verlassen können. Geld spielte freilich nach wie vor eine große Rolle, und es spielte seine Macht womöglich noch ungenierter aus. Roland Brauweiler, geschäftsführendes Präsidialmitglied der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, formulierte 1928 drastisch: „Wahlen unterstützen, Kandidaten verpflichten und an der Leine halten (Geld gegen Masse)“84. Nicht richtig ist erst recht die Ansicht, das Großkapital habe sich nur um die Wirtschaft gekümmert, ja nur von der Wirtschaft etwas verstanden, und seine politischen Ambitionen seien nur darauf gerichtet gewesen, möglichen Schaden von der Wirtschaft abzuwenden. Sicher war in Zeiten der Konjunktur und der innen- und außenpolitischen Stabilität der Druck auf die Politik mäßiger. Aber stets blieben die gesamten politischen Rahmenbedingungen im Blickfeld der großen Interessenvertretungen, die geführt wurden von einer Schicht politisch höchst aktiver Industrieller und Bankiers, die Einfluss auf wichtige Zeitungen hatten und sich außerdem ständig in einflussreichen Klubs und anderen informellen Gremien trafen.

84 Siehe Dirk Stegmann: Kapitalismus und Faschismus in Deutschland 1924- 1934. Thesen und Materialien zur Restituierung des Primats der Großindustrie zwischen Weltwirtschaftskrise und beginnender Rüstungskonjunktur, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 6, Frankfurt a. M. 1976, S. 29. 87

Die wichtigsten Knotenpunkte, von denen politische Einflussnahme ausging, waren die zentralen Unternehmerverbände, an der Spitze der Reichsverband der deutschen Industrie, die Arbeitgeber- und großen Fachverbände, von den regionalen Verbänden besonders die der Rhein-Ruhr- Industrie. Groß war die politische Rolle der Geschäftsführer und Syndizi dieser Institutionen, deren Namen zum Beispiel in der Presse sehr häufig zu lesen waren (Hermann Bücher, Max Schlenker, Ludwig Kastl, Jakob W. Reichert, Hubertus v. Löwenstein, Ludwig Grauert, Max Hahn). Leute wie Schlenker und Reichert waren es, die, genau wie ihre großkapitalistischen Auftraggeber, die Expansions- und Kriegsziele aus dem Ersten Weltkrieg buchstäblich auswendig kannten und jederzeit aus der Schublade ziehen konnten: „Die Schicht, von der hier die Rede ist, repräsentierte ein politisch hoch motiviertes, denkendes und handelndes Unternehmertum von Kapitaleignern und leitenden Angestellten, das sich vor allem um die hochorganisierte und - konzentrierte Großindustrie gruppierte, in enger Verbindung mit den Großbanken stand und die großen Industrieverbände beherrschte.“85 Ihr geistiger und politischer Horizont entsprach dem der damaligen großbürgerlichen Gesellschaft, „aber mit einem deutlich elitären Einschlag und einem ausgeprägten

85 Jürgen John: Zur politischen Rolle der Großindustrie in der Weimarer Staatskrise, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 225. 88

Selbstbewusstsein“, politisch ausgedrückt: in einer fast durchgehend aggressiv-antidemokratischen Grundhaltung. In den letzten drei Jahren der Weimarer Republik, der Zeit der Präsidialkabinette, wuchs der Einfluss dieser Schicht noch erheblich. Aus den Quellen ergibt sich klar, „...welchen Wert die Präsidialkanzler und ihre Kabinette auf die Meinung der Industriellen legten, wie oft sie mit ihnen verhandelten und an ihren Verbandstagen teilnahmen, ...weil sie auf deren Unterstützung angewiesen waren.“86 Mehrere Minister stammten zu in dieser Zeit aus den Führungsetagen des großen Kapitals; anderen, wie Albert Vögler und Paul Silverberg, wurden Kabinettsposten angeboten, die sie ausschlugen.

In diesen Jahren (1930-1933) fanden sich jene starken Kräfte aus Großunternehmer- und Großagrariertum zusammen, die schließlich im Januar 1933 bei Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg für Hitlers Kanzlerschaft den Ausschlag gaben. Das war ein komplizierter Prozess mit vielerlei inneren Problemen und Irritationen. In den Hauptfragen – Beseitigung der Arbeiterbewegung und Großmachtrüstung – schließlich einig, hatten die Kräfte, die sich da zusammen taten, durchaus variierende Motivationen und Zielvorstellungen. Ihr Zweckbündnis, entstanden in einer Zeit der tiefsten

86 Ebenda, S. 228 89 wirtschaftlichen und innenpolitischen Krise, war keineswegs frei von inneren Gegensätzen, etwa zwischen Industrie und Landwirtschaft oder zwischen verschiedenen industriellen Gruppierungen. Auf der anderen Seite war es gerade diese Krise, die das Bündnis hatte zu Stande kommen lassen. Das Risiko erschien aber selbst überzeugten Hitler-Förderern erheblich. Erstens erwarteten sie von Hitler, dass er die mit antikapitalistischen Parolen aufgeputschten kleinbürgerlichen Massen bändigte. Das Wirtschaftsprogramm der NSDAP taugte zur Manipulierung dieser Massen, aber nicht für die vom Kapital erwartete Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung und die Rüstungskonjunktur. „Fachleute“ und Berater waren zahlreich am Werk, die den „Führer“ vor und nach seiner Ernennung auf den rechten Kurs bringen sollten. Zweitens war auch das außenpolitische Risiko der Aufrüstung und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit den ausländischen Mächten nicht gering. Was die Hitlerpartei selbst betraf, so führte ihr die Krise immer neue radikalisierte, verzweifelte Massen zu. Sie verschärfte zugleich die inneren Widersprüche, Flügelkämpfe und Auseinandersetzungen in der Führung. Das irritierte wiederum Teile der deutschen Eliten, sogar innerhalb der Pro-Hitler- Fraktion. .

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Hitler ante portas Der Weg Hitlers zur Reichskanzlerschaft kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Zwar sind die wichtigsten Stationen dieses Weges recht gut erforscht, doch werden sich bei weitem nicht alle Vorgänge gerade der letzten Monate vor dem 30. Januar 1933 bis zuletzt aufklären lassen. Schon aus den frühen Jahren der 20er Jahre sind Förderer und Finanziers der NSDAP bekannt, sowohl aus den Kreisen der Reichswehr als auch aus denen des großen Kapitals. Aber erst in der zweiten Hälfte der 20er Jahre und besonders seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise bemühten sich maßgebliche Wirtschaftsbosse wie Emil Kirdorf und wirtschaftlich wie politisch einflussreiche Leute wie Alfred Hugenberg um engere Kontakte zur Hitlerpartei. Die unzähligen Treffs und Besprechungen zwischen den Parteiführern, besonders Hitler und Göring, und den Vertretern der deutschen Eliten sind jedenfalls nur zu einem Bruchteil bekannt. Doch lassen sich die wichtigsten Schritte zur Macht gut erkennen. In den Jahren von 1924 bis 1928 entwickelte sich die Wirtschaft rasch und anscheinend stabil, so dass eine Art Waffenstillstand zwischen den Spitzenrepräsentanten des Großkapitals, vertreten insbesondere durch den Reichsverband der deutschen Industrie (Duisberg; Silverberg), und der bürgerlich-parlamentarischen Republik herrschte. Die industrielle Scharfmacherfraktion, die soziale Zugeständnisse ablehnte, die Gewerkschaften 91 zertrümmern und mit Rüstung und Kriegsvorbereitung Deutschland wieder zur „Weltmacht“ machen wollte, blieb nicht untätig und wartete auf ihre Stunde. Seit 1927 trommelte Kirdorf, der damals schon 80jährige Ehrenvorsitzende des Rheinisch- Westfälischen Kohlensyndikats, unter seinen Standesgenossen für die Nazipartei, der er sogar selbst beitrat. Als gleichberechtigter Partner fühlte sich die NSDAP bereits Mitte 1929, als sie Seite an Seite mit den Konservativen (Hugenberg, Vögler) vehement gegen den Young-Plan zur Regulierung der deutschen Reparationen auftrat. Im Krisenjahr 1930 gab es bei mehreren Landtagswahlen und schließlich im September bei der Reichstagswahl einen Erdrutsch zugunsten der inzwischen finanziell sehr gut ausgestatteten Faschisten. Im neuen Reichstag verbuchten sie einen achtfachen Stimmenzuwachs, der sie, nach der Sozialdemokratie, zur zweitstärksten Partei im deutschen Parlament machte.

Hitler begann eine Favoritenrolle in einflussreichen Kreisen der deutschen Eliten zu spielen, die jetzt darauf drängten, dass man ihm ein für sie akzeptables Wirtschaftsprogramm aufstelle. Damit beschäftigte sich in den kommenden zwei Jahren eine ganze Reihe besonderer Ausschüsse innerhalb und außerhalb der Wirtschaftspolitischen Abteilung der NSDAP, in denen „Fachleute“, insbesondere hauptamtliche Konzernmanager, 92 mitarbeiteten. In einem dieser Gremien sammelten sich beispielsweise Emil Georg v. Stauß (Deutsche Bank), Ernst Rudolf Fischer (IG Farben), Cordemann vom Siemens- und v. Lücke vom Flick-Konzern. Die „Essener National-Zeitung“ (Otto Dietrich) und die „Berliner Börsen-Zeitung“ (Walther Funk), beides führende Wirtschaftszeitungen, wurden zu NS-finanzierten Medien, geleitet von NS-Wirtschaftsjournalisten (1930).87 Funk, später Reichswirtschaftsminister der Hitler-Regierung, schuf 1932 einen internen „Wirtschaftspolitischen Pressedienst" (seit 1931) für etwa 60 reichlich zahlende Großunternehmer wie Fritz Thyssen, Gustav Krupp, Carl Duisberg und Peter Klöckner. Wilhelm Keppler, Chemieindustrieller aus Bayern und enger Berater Hitlers, führte der NSDAP ein Jahr später in seinem „Freundeskreis der Wirtschaft" (später „Freundeskreis des Reichsführers-SS") Konzernherren wie Vögler (Vereinigte Stahlwerke), August Rosterg (Wintershall), Emil Helfferich (Hapag), Ewald Hecker (Ilseder Hütte) und die Bankiers Hjalmar Schacht und Kurt v. Schröder zu. Eine erhebliche Rolle spielte der ursprünglich aus der Dresdner Bank kommende langjährige Reichsbankpräsident Schacht, der inzwischen zu einem der einflussreichsten Protektoren und Berater Hitlers geworden war. Er richtete im gleichen Jahr eine eigene „Arbeitsstelle Dr. Schacht“ ein, in der er und andere prominente Kapitalvertreter

87 Siehe Ruge: Monopolbourgeoisie, S. 147. 93 sich intensiv mit dem Wirtschaftsprogramm und der Wirtschaftspropaganda der NSDAP beschäftigten.88 Während dessen waren Hitler und die NSDAP von den reaktionärsten Kräften der Republik schon in ihre engeren Reihen aufgenommen und für regierungsfähig erklärt worden. Im Oktober 1931 fand in Bad Harzburg eine große Heerschau der Feinde der Republik statt, an der die nationalistischen Parteien und Organisationen, einschließlich des Stahlhelms und des Reichslandbundes, und maßgeblicher Vertreter der deutschen Militärclique, des großen Kapitals, der Großagrarier und des Hochadels samt Mitgliedern des Hauses Hohenzollern teilnahmen. Hier waren Hitler und seine grölenden, gewaltbereiten Marschierer schon in der vordersten Reihe der Beteiligten, die offen ihr imperialistisch-militaristisches Programm verkündeten: Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Sicherung maximaler Profite, Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Es war anscheinend zu erheblichen Teilen von den Hitlerleuten formuliert worden: Dem „Versagen der Regierungen... gegenüber dem Blutterror des Marxismus, ...der Zerreißung der Nation durch den Klassenkampf“ müsse ein Ende gesetzt werden. „So fordern wir den sofortigen Rücktritt von Brüning und Braun ...sofortige Neuwahlen... Wir sind bereit, im

88 Siehe Dirk Stegmann: Zum Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte, XIII/1973, S. 426 ff., S. 452. Zu Keppler und Schacht ausführlich derselbe: Kapitalismus und Faschismus, S. 45 ff. 94

Reich und in Preußen in national geführten Regierungen die Verantwortung zu übernehmen... Wir verlangen Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit und Rüstungsausgleich... Berufung einer wirklich nationalen Regierung... Die Träger dieser nationalen Regierung wissen um die Wünsche und Nöte des deutschen Volkes aus ihrer blutmäßigen Verbundenheit mit diesem.“89 Die Uneinigkeit und die scharfen Zwistigkeiten unter den in Harzburg versammelten Kreisen waren jedoch groß. Der dort vertretene schwerindustrielle Block fiel Anfang 1932 auseinander.90 Gustav Krupp, jetzt an der Spitze des Reichsverbandes der deutschen Industrie, und sein Stellvertreter Silverberg stützten die Regierung Brüning. Reichspräsident v. Hindenburg hielt nichts von Neuwahlen und verbarg seine Abneigung gegen eine Regierungsbeteiligung Hitlers nicht. Auch im Jahre 1932 gab es noch starke Kräfte in der deutschen Wirtschaftselite, etwa in der chemischen und Elektroindustrie und im Bankwesen, die das herrschende parlamentarische System und eine gewisse Zusammenarbeit mit der Führung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften noch für akzeptabel, jedenfalls aber nicht für so riskant hielten wie einen Staatsstreich der Ultrarechten und Faschisten.

89 Entschließung der Harzburger Tagung vom 11. Oktober 1931; zit. nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. v. Institut für Marxismus- Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Bd. 4, Berlin 1966, Dok. 81, S. 557 f. 90 Stegmann: Kapitalismus und Faschismus, S. 43 ff. 95

Immerhin arbeitete die Zeit für Hitler. Zahllose Begegnungen und Absprachen zwischen den Hitlerleuten und ihren Gönnern fanden in den kommenden Monaten statt, von denen die wenigstens publik wurden, wenn sie nicht gerade im Berliner Hotel „Kaiserhof“ oder an anderen öffentlichen Orten stattfanden. Bekannt geworden ist der Auftritt Hitlers am 27. Januar 1932 vor großindustriellen Gästen im Industrieclub in Düsseldorf, zu dem Fritz Thyssen geladen hatte. Die lange, aber dürftige Rede Hitlers, die die NSDAP drucken und vertreiben ließ, drehte sich um zwei Punkte: Es müsse statt der Demokratie, die alle gleich mache, die „Autorität der Persönlichkeit“ geben, die auf „besonderer Leistung“ beruhe und eben dieser Persönlichkeit das Recht gebe, über alle anderen zu herrschen, besonders aber über die nichtweißen Völker; unter dem „Bolschewismus“ gebe es diese Möglichkeit nicht, er müsse daher „zwangsläufig eine der Voraussetzungen zu unserem Bestand als weiße Rasse zerstören“. Er, Hitler, und seine Bewegung hätten jedenfalls „den unerbittlichen Entschluß gefaßt, den Marxismus bis zur letzten Wurzel in Deutschland auszurotten“, rief er unter großem Beifall aus.91 Die für die Wirtschaft interessante Programmatik der NSDAP hatte sich unter dem Einfluss der großkapitalistischen Berater Hitlers inzwischen stark „modernisiert“, so dass sogar die noch

91 Vortrag Hitlers am 27.1.1932; zit. nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Dok. 84, S. 562 ff. 96 vor kurzem skeptischen Experten der Reichsbank im März 1932 intern feststellten: „An der Spitze des nationalsozialistischen Wirtschaftsprogramms steht der Grundsatz des unbedingten Schutzes des Privateigentums. Die Grundlage der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung wird hiermit vom Nationalsozialismus anerkannt. Mit dem freien Eigentum werden auch die freie Konkurrenz, die Vertragsfreiheit, das Gewinnstreben und die Rentabilität anerkannt. Der Kampf des Nationalsozialismus gilt nur dem so genannten Finanzkapital oder, wie Hitler sich auszudrücken pflegt, dem raffenden im Gegensatz zum schaffenden Kapital... Für die Propaganda des Nationalsozialismus genügt es, dass die eine Kapitalart als arisch, die andere als jüdisch bezeichnet werden kann.“92

Die entscheidenden letzten Monate Von einer politischen Wende können wir seit dem November/Dezember 1932 sprechen, als sich annähernd die Mehrheit der Großbourgeoisie und der Großagrarier in weitgehender Geschlossenheit und mit großem Nachdruck für eine Diktatur unter Hitler als Kanzler entschied und sich die noch abwartenden Kreise – auf dem Tiefpunkt der Krise ohnehin gelähmt durch die Unfähigkeit der Papen-Regierung, die Massenproteste zu stoppen – inaktiv verhielten.

92 Zit. nach Ruge: Monopolbourgeoisie, S. 151 f. 97

Die Aktionen, die jetzt binnen kaum eines Vierteljahres, nach dem raschen Verschleiß zweier Kanzler (v. Papen und v. Schleicher) zur Machtübertragung an Hitler führten, blieben für die Außenstehenden meist unsichtbar, wenn auch sonst die drohende Gefahr allen Linken und Liberalen, gegen die der faschistische Terror schon eröffnet war, deutlich vor Augen stand. Mit großer Wahrscheinlichkeit lösten die Novemberwahlen zum Reichstag die Wende aus. Die Reichstagswahlen im Juli 1932 hatten der NSDAP noch einen letzten großen Wahlsieg beschert und die Aussicht auf eine Regierung Hitler näher gerückt. Eine umso größere Ernüchterung griff angesichts der Wahlergebnisse vier Monate später um sich. Am 6. November verlor die Partei zwei Millionen Stimmen und damit gegenüber den Juliwahlen 15 Prozent ihrer Mandate. Mit 33 Prozent der Stimmen und 196 Mandaten lag sie hinter den beiden Arbeiterparteien, anders als im Juli und auch bei den Preußenwahlen im April, wo sie stärker als beide zusammen gewesen war. SPD und KPD errangen zusammen 221 Mandate (SPD 20,4 Prozent und 121 Mandate; KPD 16,9 Prozent und 100 Mandate). Die Aufregung unter den führenden Kreisen der deutschen Eliten war beträchtlich. Hatten sie diese Partei doch gehätschelt, sorgsam in der politischen Reserve gehalten und schon länger mit ihrer Einbindung in eine „nationale“ Regierung geliebäugelt. Kein Gedanke daran, dieses wertvolle politische Faustpfand jetzt 98 aufzugeben. Gerade das große Kapital hatte von der politischen Schwäche des Kanzlers Franz v. Papen und dem Aussitzen der nun schon über drei Jahre dauernden Wirtschaftskrise übergenug. Wie sehr es sich nach einer dauerhaft stabilen Politik sehnte, die ihm, auf eine Massenbasis gestützt, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften vom Halse schaffte und die Konjunktur durch Aufrüstung ankurbelte, zeigte seine geheime, auch von Papen selbst unterstützte Eingabe an den Reichspräsidenten vom 19./21. November 1932, für die Keppler, Schacht und andere sich schon Wochen vorher um Unterschriften bemüht hatten. Die in dringendem Ton gehaltene Eingabe sollte dem altersschwachen Hindenburg klarmachen: Hitler als „der Führer der größten nationalen Gruppe“ müsse Reichskanzler werden, um „die größtmögliche Volkskraft“ hinter die Regierung zu bringen. Die bisherige Regierung habe „keine ausreichende Stütze im deutschen Volk gefunden“. Mit Hitler werde eine „verheißungsvolle“ neue Zeit beginnen, „die durch Überwindung des Klassengegensatzes die unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft“ schaffen werde. Die Unterzeichner ließen immerhin durchblicken, dass Hitlers Kabinett „mit den besten sachlichen und persönlichen Kräften“ ausgestattet werden müsse, um die ihnen und Hindenburg nicht 99 unverdächtige Nazi-Massenbewegung unter Kontrolle zu halten.93 Am 19. November 1932 erreichte die Eingabe mit etwa 20 eigenhändigen Unterschriften auf separaten Bögen das Büro Hindenburgs. Unterschrieben hatten Industrielle, Großreeder und Großkaufleute, Bankiers und Großagrarier. Unterzeichner waren vor allem Fritz Thyssen, Schacht, die Bankiers Kurt v. Schröder, Friedrich Reinhart und Kurt v. Eichborn, der Kalimonopolist August Rosterg, Ewald Hecker, eine ganze Gruppe von hanseatischen Reedern (Emil Helfferich, , Franz Heinrich Witthoeft, Kurt Woermann) und bekannte Großagrarier und Führer von großen Agrarierverbänden (Eberhard Graf Kalckreuth als Präsident des Reichslandbundes, Robert Graf Keyserlingk-Cammerau, Joachim v. Oppen- Dannenwalde, Kurt Gustav Ernst v. Rohr-Manze). Drei der beherrschenden Bosse des Ruhrgebiets schoben ihr schriftliches Einverständnis am 21. November nach (Albert Vögler/Vereinigte Stahlwerke, Paul Reusch/Gutehoffnungshütte, Fritz Springorum/Hoesch). Deutlich zu erkennen ist, dass hier Namen fehlten, etwa solche aus der Deutschen Bank, von Siemens und aus dem IG-Farben- Konzern (deren Vorstandschef, Carl Bosch, aber schon Hitlers zustimmende Meinung zur staatlichen Förderung der

93 Eingabe an den Reichspräsidenten, datiert vom 17. November 1932; zit. nach: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 33, Dok. PS-3901, S. 531 ff. 100 synthetischen Benzinerzeugung im Falle seiner Kanzlerschaft eingeholt hatte). Zur Unterschrift waren offensichtlich auch Gustav Krupp, Robert Bosch und Paul Silverberg nicht bereit.94 Hindenburg zeigte sich von der Eingabe vorerst nicht so beeindruckt, als dass er Hitler ohne Bedingungen zum Kanzler ernannt hätte, und zog es vor, am 3. Dezember einen Repräsentanten der Reichswehrführung, General Kurt v. Schleicher, zum Regierungschef zu ernennen. Doch muss ihm wie seinem Freunde v. Papen klar geworden sein, dass die Eliten jetzt keine halben Lösungen mehr wollten und mehrheitlich auf den faschistischen Terror, auf die rücksichtslose Unterdrückung der Massenstreiks und auf die blutige Verfolgung der Kommunisten und Sozialdemokraten setzten. Ende November meldete ein eingeweihter Beobachter wie Franz Bracht, Oberbürgermeister von Essen, der Regierung, dass in Rheinland-Westfalen „fast die gesamte Industrie die Berufung Hitlers, gleichgültig unter welchen Umständen, wünscht. Während man noch vor wenigen Wochen Papen zugejubelt hat, ist man heute der Auffassung, daß es der größte Fehler sei, wenn Hitler, auch unter Vorbringung ernsthafter Gründe, nicht mit der Regierungsbildung beauftragt würde“95. Papen war offensichtlich unmittelbar nach seinem Rücktritt am 17. November auf den profaschistischen Kurs eingeschwenkt. Er

94 Siehe die Listen in: ebenda, S. 533. 95 Zit. nach: Ruge, Monopolbourgeoisie, S. 154. 101 nahm in der Folge bedeutenden Anteil an der Lobby-Arbeit für Hitler und an der Bearbeitung von Hindenburg selbst. Wohl das wichtigste Datum in diesen Wochen der Wende war die – diesmal vergeblich geheim abgehaltene –Zusammenkunft Papens mit Hitler in der Kölner Villa Kurt v. Schröders. Schröder und Papen, der von sich aus auf eine enge Zusammenarbeit mit Hitler hinarbeitete, hatten das Treffen mit Hilfe von Hitlers Vertrauten Keppler sorgfältig vorbereitet. Schröder, mit seinen nach allen Seiten reichenden Verbindungen zur Großindustrie und zum Bankkapital, erklärte später, er habe sich vorher „bei Herren der Wirtschaft“ darüber informiert, „wie sich die Wirtschaft zu einer Zusammenarbeit der beiden stellte“96. Diese Sondierung fiel offensichtlich sehr positiv aus. So einigten sich Papen und Hitler in ihrem zweistündigen Gespräch schnell. Sie erklärten sich beide für eine grundlegend neue Regierung aus „konservativen und nationalen Elementen“, die „womöglich von Hitler und Papen zusammen geführt werden sollte“. Hitler sah es freilich als selbstverständlich an, dass in diesem Fall er selbst „zum Kanzler ernannt werden würde“ und dann „Anhänger von Papen als Minister in seiner (Hitlers) Regierung teilnehmen könnten“. Als vorrangige, grundsätzliche Aufgaben

96 Eidesstattliche Erklärung von Kurt Frhr. v. Schröder vor der USA Anklagebehörde in Nürnberg, zit. nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Dok. 114, S. 604 ff. 102 dieser Regierung kamen zur Sprache die „Entfernung aller Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen in Deutschland“ und die „Wiederherstellung der Ordnung im öffentlichen Leben“, „die Abschaffung des Vertrages von Versailles... und die Wiederherstellung eines sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht starken Deutschlands“. Das eben deckte sich voll und ganz mit „den allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft“, die überdies sehr konkrete Wünsche und Forderungen an eine solche Regierung hatten, nämlich die Vergabe „von größeren Staatsaufträgen“ im Zusammenhang mit einer „von Hitler projektierte(n) Erhöhung der deutschen Wehrmacht von 100 000 auf 300 000 Mann“, mit dem Bau von Reichsautobahnen und Straßen, und mit Aufträgen „zur Verbesserung des Verkehrswesens... und Förderung solcher Industrien wie Automobil- und Flugzeugbau und der damit verbundenen Industrien.“97 Nach dieser Besprechung speiste Papen bei Silverberg in Köln. Drei Tage später erstattete er in Dortmund den Herren Vögler, Krupp, Reusch und Springorum Bericht.

97 Als v. Schröder seine Aussage in Nürnberg machte, versagte er es sich übrigens nicht, „gewisse wirtschaftliche Unternehmungen“ dafür anzuschwärzen, dass sie solche Vorhaben, die sich gegen Deutschlands Auslandsabhängigkeit richteten, „möglicherweise nicht aus Idealismus, sondern aus nackter Profitgier begrüßt“ hätten (ebenda, S. 607). 103

Anschließend überstürzten sich die Ereignisse. Schleicher, der keine breite Unterstützung in Kreisen der Wirtschaft mehr fand und vergeblich eine Massenbasis aus Gewerkschaften und Teilen der Nazipartei zusammenzuzimmern versuchte, verlor seinen Rückhalt beim Reichspräsidenten. Hindenburg, von Papen über seine Absprachen mit Hitler informiert, ließ diesen und andere enge Berater am 22. Januar mit Hitler und Göring schon über die Einzelheiten der faschistischen Regierungsbildung konferieren. Für Hitler hatte sich in Köln eine letzte große Chance für seine Kanzlerschaft eröffnet, und er hielt sich genauso wie Papen an die dort getroffenen Abmachungen. Am 28. Januar trat Schleicher zurück. Am Abend des 29. legte Papen dem Reichspräsidenten die Ministerliste für die Regierung Hitler zur Einwilligung vor. Am nächsten Tag berief Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.98

SPD und KPD unterschätzten in diesen bewegten Wochen, in denen die Geheimverhandlungen zwischen den Naziführern, führenden Vertretern des Großkapitals, v. Papen und der Entourage Hindenburgs wie auch die nationalen und internationalen Kundgebungen gegen Faschismus und Krieg nicht abrissen, ganz offensichtlich die fürchterliche Gefahr, die drohte. Im sozialdemokratischen „Vorwärts“ stand sogar zu Neujahr

98 Über die nicht völlig durchsichtigen Begebnisse der letzten Tage vor dem 30. Januar siehe Ruge: Das Ende von Weimar, S. 317 ff. 104

1933: „Bei der Hochfinanz, bei Schwerindustrie und Großgrundbesitz hat der Hitlerismus schon seit längerer Zeit abgewirtschaftet... Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.“ In ihrer abwartenden, abwiegelnden Haltung lehnten SPD- Parteivorstand und ADGB-Vorstand, denen nach wie vor die Mehrheit der Arbeiter folgte, die Aufrufe der KPD zur gemeinsamen „Antifaschistischen Aktion“, zu Massenstreiks und zum Generalstreik ab. Die KPD bereitete sich zwar ernsthaft auf Aktionen gegen eine faschistische Machtübernahme vor, aber sie erkannte nicht, dass Arbeiterparteien und Gewerkschaften inzwischen in eine totale Defensivstellung gedrängt worden waren, aus der sie ohne gemeinsame Strategie und Kampftaktik nicht herausfinden konnten. Die KPD-Führung propagierte nach wie vor ein „Sowjetdeutschland“ und damit das unrealistische Ziel, dem Faschismus durch die sozialistische Revolution zuvorzukommen. Auch sie war davon überzeugt, dass der Stern des Faschismus schon im Sinken begriffen war. 105

Die Machtübertragung an die Hitlerbewegung und ihre Auswirkungen an der Universität Greifswald, besonders an der Medizinischen Fakultät

Joachim Copius

Die Machtübertragung an die Hitlerbewegung wirft die Frage nach der Rolle der Pommerschen Landesuniversität Greifswald in diesem Prozess auf. Bereits in den zwanziger Jahren gelang es der NSDAP hier unter den Intellektuellen Anhänger für ihr Programm zu gewinnen. Der erste Gauleiter der Nazipartei in Pommern war der Mathematikprofessor Theodor Vahlen. Der in sein Rektoratsjahr fallende Hitler- Putsch in München vom November 1923 wurde für ihn Anlass, „sich für Adolf Hitler zu verpflichten“99. Mit ihm gehörten die Studenten Haupt, Sunkel und Karpenstein zu den Mitbegründern der NSDAP in Pommern, letzterer später ebenfalls Gauleiter der NSDAP und Vorgänger des Gauleiters Schwede-Coburg. Kennzeichnend für die politische Entwicklung dieser frühen NSDAP-Anhänger war ihre Teilnahme am 1. Weltkrieg, nicht selten als Frontoffiziere. In den revolutionären Nachkriegskämpfen dienten sie auf der Seite der Konterrevolution als Freikorpsleute und Zeitfreiwillige und taten sich durch ihre reaktionäre,

99 Pommern-Zeitung, 14.5.1933. 106 antisozialistische und antirepublikanische Haltungen und Handlungen hervor. Später stießen sie zur SA, oft beeindruckt durch den Geist, das militante Äußere und die militärische Ordnung. Daraus ließe sich auch erklären, warum ihre Zugehörigkeit zur SA oftmals einer NSDAP-Mitgliedschaft zeitlich voranging.

Schon bevor die Nazibewegung mit der Bildung spezieller Organisationen für bestimmte Gruppen der akademisch gebildeten Geistesschaffenden ihren Einfluss verstärkte und öffentliche Vertauensbekundungen zur NSDAP und zu Hitler herbei geführt wurden, schürten politische Ereignisse antirepublikanische, nationalistische und revanchistische Gesinnung. So führte die Ankündigung des Auftretens des französischen Friedenskämpfers und Schriftstellers Henri Barbusse im Zeichen des Antikriegstages 1924 in Greifswald zu einer Welle antirepublikanischer und revanchistischer Äußerungen. Am „Franzosentag“ gipfelte dieser Ungeist in gehässigen Beschimpfungen Andersdenkender und handgreiflichen antirepublikanischen Ausschreitungen gegen Angehörige der Arbeiterorganisationen und Kriegsgegner.100

100 Vgl. dazu auch: Ernst-Joachim Krüger: Die Entwicklung der NSDAP am Beispiel Greifswalds, in: Zu den Ursachen des Untergangs der parlamentarischen Demokratie... 2002, S. 65 ff. 3 Universitätsarchiv Greifswald (im folgenden UAG), MF 77, Personalakte Dr. med. Zador. 107

In der Weltwirtschaftskrise wurde dann die Unzufriedenheit und Sorge über die Krisenauswirkungen zu einem weiteren, ständig wirkenden Faktor, der den programmatischen Vorstellungen der NSDAP unter Intellektuellen Wirkung verlieh.

In welchem Maße nationalistischer Geist das politische Denken dieser Wissenschaftler bereits beherrschte, zeigte ein im Januar 1930 eingeleitetes Habilitationsverfahren an der Medizinischen Fakultät. Prof. Dr. Edmund Forster, Dekan der Medizinischen Fakultät und Direktor der Universitätsnervenklinik, empfahl der Fakultät die Annahme der Habilitationsschrift und die Erteilung der venia legendi seines ungarischen jüdischen Assistenzarztes Dr. med. Zador. Auch der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Hey beurteilte als Korreferent die wissenschaftliche Leistung positiv. Als hätte Prof. Dr. Krisch von der Nervenklinik den Ausgang des Verfahrens bereits voraus geahnt, hob er in seiner Stellungnahme vom 15. Februar 1930 die Charaktereigenschaften und die wissenschaftliche Befähigung Zadors mit den Worten hervor: „Ich bin immer zu dem Urteil gekommen, dass er ein ausgezeichneter und ruhig abwägender Kopf ist, eine bemerkenswert gute Vorbildung hat, eine ausgezeichnete Begabung für unser Fach besitzt und vor allem 108 ausgesprochen wissenschaftlich befähigt ist. Bei der Beurteilung der Frage, ob man einen Ausländer zur Habilitation zulassen solle, ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Assistentenmangel in unserem Fach besteht, sondern darüber hinaus noch Mangel an wissenschaftlich befähigten Assistenten und das Z. im Laufe der Jahre wieder nach Ungarn zurückkehren will, eine Konkurrenz auch in Zukunft für die deutschen Ärzte also nicht entstehen wird.“101 Im Mai 1930 wurde Prof. E. Forster mitgeteilt, dass eine Fakultätssitzung zu Zador nicht mehr notwendig sei, da bereits 11 von 19 Fakultätsmitgliedern gegen die Habilitation schriftlich gestimmt hatten und vier weitere, welche die Besprechung wünschten, von dieser absahen und sich ebenfalls gegen die Habilitation Zadors aussprachen. Zador wurde nicht habilitiert. Unter den ablehnenden Stellungnahmen gab es keine aus fachlichen Gründen. Aufschlussreich war die ablehnende Haltung des Direktors der Hals-Nasen-Ohrenklinik Prof. Dr. Linck. Er erkannte die positiven Gutachten an, erklärte selbst kein fachliches Urteil abgeben zu können und stellte fest: „Trotzdem bin ich gegen die Zulassung des Herrn Zador zur Habilitation an der Greifswalder Universität. Denn ich fühle mich verpflichtet, als Deutscher mit allen Kräften der zunehmend von Osten

109 kommenden Überfremdung meines Volkes und meines Vaterlandes entgegenzuarbeiten... Diese Interessen verlangen aber meines Erachtens unter allen Umständen Schutz seines Lebensrechts gegenüber der Überfremdung durch die aus vom Osten kommenden volksfremden Einwanderer.“102 Linck hatte ausgesprochen, was so oder ähnlich die Mehrheit der Fakultätsmitglieder dachte. Im Nachruf für Linck hieß es 1939: „Er bekannte sich schon 1931 als Lehrer seiner Studenten zu Adolf Hitler und gehörte zu den wenigen Hochschullehrern im Reich, die sich im Wahlkampf 1932 für den Führer einsetzten“. Der Pharmakologe Prof. Dr. Wels bezeichnete Zador als „...ein den deutschen Studenten artfremden Menschentyp“ mit „fremdländischem“ Sprachakzent, der deshalb „ungeeignet zum Dozenten an einer deutschen Universität“ sei.103 Zador war Jude. Stand im Hintergrund der Verhinderung seines Habilitationsverfahrens antisemitische Gesinnung? Zu dieser Zeit wirkte im NS-Ärztebund bereits Antisemitismus, der in der Forderung nach Beschränkung für die Zulassung nichtarischer Ärzte und der Beschneidung staatsbürgerlicher Rechte für Nichtarier Ausdruck fand.104 Waren die Ordinarien der Medizinischen Fakultät Willensvollstrecker der Studenten?

102 Ebenda. 103 Ebenda. 104 Vgl. Thom, Caregorodcev: Medizin unterm Hakenkreuz, 1989, S. 38. 110

Bereits 1929/30 erreichten die Nazistudenten bei den AStA- Wahlen 53 % und 1930/31 60 % der Stimmen. 105 Nur die Professoren Steinhausen, Degkwitz und Forster bewahrten ihr Gewissen für wissenschaftliche Objektivität. Der Physiologe Steinhausen protestierte mutig: „Die Tatsache, dass Herr Z. ungarischer Staatsbürger und Dissident ist, kann doch wohl kein Grund sein, seine Habilitation abzulehnen.“ Der Pädiater Degkwitz beurteilte die Ablehnung durch das „Duo Peter (Dragendorff) Meisner“ ohne Angabe von Gründen als „den Gipfel der Verantwortungslosigkeit dem akademischen Nachwuchs gegenüber“106.

Vor dem 30. Januar 1933 war die Zahl der NSDAP-Mitglieder im Lehrkörper eher gering. NS-Organisationen, die auf bestimmte Zielgruppen der Intelligenz ausgerichtet waren, erfassten, wenn man vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDSTB) absieht, nur einige Wissenschaftler. So waren die Greifswalder Professoren Leick, Linck und der Studienrat Brüske noch Ausnahmen, als sie im November 1932 die Erklärung „Deutsche Hochschullehrer für Adolf Hitler“ unterzeichneten.107

105 Karl-Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik, 1957, S. 148. 106 Personalakte Dr. Zador a. a. O. 107 UAG, Rektorat Nr. 745. 111

Wie in Deutschland allgemein blieb auch in Greifswald die Einstellung der Mehrheit der Intelligenz geprägt durch ein für die bürgerliche Gesellschaft wohl typisches Selbstverständnis ihrer gesellschaftlichen Position, in der die elitäre Bedeutung der erworbenen speziellen Qualifikation, ein Pflichtgefühl zur Respektierung der Autorität des Staates und die Ablehnung politischer Betätigung, als nicht zur eigentlichen Berufsverpflichtung gehörend, eine maßgebliche Rolle spielten. Die Erwartung, dass ein höheres Bildungsniveau und die Bindung an humanistische Wertorientierungen die Mehrheit der deutschen Intelligenz gegen die Ideologie und repressive Praxis der NSDAP hätte abschirmen oder gar mobilisieren können, erwies sich als Illusion. Vielmehr hatte sich in weniger als einem Jahr nach der faschistischen Machtergreifung die Situation grundlegend geändert und das, obwohl nach dem Reichstagsbrand und der Bücherverbrennung Repressalien der Faschisten gegen Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden sowie die Verfolgung humanistischen Ideengutes jetzt offizielle Staatspolitik waren. So unterzeichnete die große Mehrheit der Ordinarien der Greifswalder Medizinischen Fakultät, nämlich 13 Professoren, ein „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Hochschulen zu Adolf Hitler und dem 112 nationalsozialistischen Staat“, das bei einer Großkundgebung in Leipzig am 11. November 1933 verabschiedet wurde.108 Dennoch nahmen die wenigen NSDAP-Mitglieder im Lehrkörper schon vor der „Machtergreifung“ schon einflussreiche Positionen ein, wie etwa der Mathematiker Theodor Vahlen (von 1924 bis 1927 Gauleiter der NSDAP in Pommern). Er hatte am 11. August 1924 als Rektor die schwarz-rot-goldene Fahne vom Universitätsgebäude entfernt und sah sich wurde wegen seiner antirepublikanischen Haltung seines Amtes enthoben. 1933 wurde er, besonders auf Betreiben des NSDSTB, mit einstimmiger Unterstützung durch Rektor und Senat rehabilitiert und, von Berlin kommend, von Studentenschaft, SA, Stahlhelm und Kooperationen, jubelnd empfangen.109 Wenig später wies das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an, die Professoren Klingmüller (Römisches Recht) und Ziegler (Griechische und Römische Philologie) zu beurlauben. Beide waren führend in der Deutschen Demokratischen Partei, bzw. im Reichsbanner tätig und an der Entfernung Vahlens beteiligt.110 Vahlen aber avancierte in hohe Positionen des preußischen Staates und

108 UAG, Medizinische Fakultät 106, Neue Bestimmungen 1918-1936. 109 Vgl. Bouslaw Drewniak: Poczatki ruchu hitlerowskiego na Pomorzu Zachodnim, Poznan 1962, S. 18. 110 UAG Rektorat Nr. 2200; UAG Personalakte Prof. Ziegler Nr. 196; Personalakte Prof. Klingmüller, Nr. 409. 113

Deutschen Reiches. Für seine Verdienste um das 3. Reich wurde er zum Ehrensenator der Universität ernannt und war 1936 Ministerialdirektor im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.111

Seit Professor Forster den Antrag zur Habilitation des jüdischen ungarischen Nervenarztes Zador gestellt hatte, wuchs der politische Druck gegen ihn. Im April 1933 setzten Repressionen gegen jüdische Ärzte ein. In Greifswald waren sie verbunden mit Nötigungen gegenüber Professor Forster. Am 1. April erschienen beim Kurator der Universität im Namen der NSDAP Studienrat Brüske, Nazikreisleiter Hube, Standartenführer Theuermann und vom NSDSTB die Studenten Soenke und Pfaff und forderten die sofortige Beurlaubung des ungarischen jüdischen Assistenzarztes Zador.112 Forster setzte sich Tage später ergebnislos für dessen Verbleib an der Universität ein.113 Bereits einen Tag vor der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums“ erhielt Forster als Dekan der Medizinischen Fakultät ein Schreiben des Gauobmannes des NS-Ärztebundes Pommern, Dr. med. Spanuth (Torgelow), in

111 UAG Kurator Nr. 130; UAG Nr. 972; Pommern-Zeitung 27.4.1934. 112 UAG Kurator, Nr. 718. 113 UAG ebenda. 114 dem dieser in vorauseilendem Gehorsam eine Liste der jüdischen Ärzte anforderte. Er stellte die Forderung, diese Ärzte zum „freiwilligen Gehen“ zu veranlassen, um andernfalls einzugreifen zu können.114 Am 15. Mai 1933 wurde Forster als Dekan abgelöst. Der Förderung von Juden beschuldigt, sammelten das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und die Gestapo durch Denunziation und Vernehmungen von Klinikpersonal politisches Belastungsmaterial gegen ihn. Das glich in vielen Aussagen einer gelenkten Rufmordkampagne, die die Intimsphäre nicht ausschloss. Was legte man Forster zur Last? Er wurde beschuldigt, jüdische Assistenzärzte zu bevorzugen und zu Zador, nach dessen Emigration nach Paris, Verbindungen zu unterhalten sowie fortlaufend „Radio Paris“ zu hören. Man sagte ihm weiterhin nach, im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand am 27. Februar, als dieser allgemein im Gespräch war, vor Patienten gesagt zu haben: „Das kann man wohl Geisteskranken erzählen, dass der von den Kommunisten angesteckt ist, aber nicht mir.“

114 UAG Med. Fak., G 36-262, Ärztliche Standesangelegenheiten 1924- 1940. 115

Eine Krankenschwester gab bei ihrer Vernehmung an: „Ich entsinne mich, dass Professor Forster nach einer Rede des Reichskanzlers Hitler, nach meiner Meinung vor der Wahl im März, von dieser Rede geäußert hat, dem Sinne nach, es sei die Rede eines Provinzlers gewesen.“ Weiterhin wurde Forster bezichtigt, mit großer Zuversicht schon vom 4. Reich gesprochen zu haben. Ein Denunziant bezeichnet ihn als „geistig stark verjudet, betont anti- nationalistisch“ und als „jüdisch-unmoralischen Parasiten“. „Es wirkt allgemein empörend, dass diese marxistische Systemgröße... noch immer nicht verschwunden ist.“115

Als Dekan der Medizinischen Fakultät nutzte Forster den Freiraum, den akademische Verfahrensweisen und Kompetenzen boten, um sich auf der Grundlage eines Fakultätsbeschlusses gegen die Besetzung des von den Nationalsozialisten neu geschaffenen Lehrstuhls für Eugenik und menschliche Erblehre durch den Zoologen Professor Just auszusprechen. Ohne Erfolg argumentierte er, dass ein Zoologe für menschliche Vererbungslehre nicht kompetent sein könne.116 Am 31. August 1933 wurde Forster vom Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung beurlaubt. Man

115 UAG Personalakte Edmund Forster, Med. Fak., Nr. 486. 116 UAG, Kurator, Nr. 718. 116 legte ihm nahe, wegen seiner bisherigen politischen Betätigung gemäß § 4 des Berufbeamtengesetzes, sein Entlassungsgesuch einzureichen. Nach zwei voraus gegangenen Selbstmordversuchen (Aussage des Assistenzarztes Kroll) schied er am 11. September 1933 aus dem Leben.117 Zu dem Personenkreis, der Forster die letzte Ehre erwies, gehörte der Greifswalder katholische Pfarrer Dr. Alfons Maria Wachsmann, der als Hitlergegner am 21. Februar 1944 hingerichtet wurde. Bei Herberhold, der irrtümlich das Todesjahr Forsters auf 1934 datiert, heißt es: „Als 1934 Prof. Forster, der den Lehrstuhl für Psychiatrie innehatte, von den Nazis so drangsaliert wurde, dass er Selbstmord verübte, ging Wachsmann ostentativ mit zur Beerdigung, obwohl Forster nicht katholisch war – wohl aber seine Frau und seine Kinder – während die Kollegen von der Fakultät sich zurückhielten.“118 Forster war seit 1925 ordentlicher Professor und Direktor der Nervenklinik. Als Marinestabsarzt a. D. besaß er das EK I. und II. Klasse, den Bayerischen Militärdienstorden IV. Klasse mit Schwertern und das Hansakreuz Hamburg. Bei Thom- Caregorodcev gibt es zu Forster folgende aufschlussreiche

117 UAG, Personalakte E. Forster. 118 Franz Herberhold: A. M. Wachsmann – Ein Opfer des Faschismus, Leipzig, S. 71. 117

Anmerkung: „Edmund Forster hatte im Jahre 1919 A. Hitler nach Giftgasschädigungen im Lazarett in Pasewalk behandelt und wurde sowohl wegen der Kenntnis dieses Patienten als auch seines mutigen Eintretens für demokratische Entwicklungen in den Jahren der Weimarer Republik im August 1933 vom Dienst suspendiert. Nach einer brieflichen Mitteilung von F. K. Kaul vom 16.1.1979 hat Forster im Juli 1933 in Paris Emigranten von der Verfolgung durch die Gestapo berichtet und sich in Greifswald am 11. September 1933 das Leben genommen, da er eine unmittelbar bevorstehende Verhaftung befürchtete.“119

Am Ende der Naziherrschaft waren in Deutschland etwa 45 % der Ärzte Mitglied der NSDAP und 26 % der SA. Insgesamt 85 % der Ärzte wurden von der NSDAP und ihren Gliederungen erfasst. In Greifswald gehörten 1937 60 Wissenschaftler der Dozentenschaft der NSDAP an.120 Der große Zulauf von Medizinern zu NS- Organisationen hatte nicht ausschließlich, aber in hohem Maße, ideologische und wissenschaftshistorische Ursachen. Biologistische und sozialdarwinistische Anschauungen erwiesen sich überall in Deutschland als Nährboden für die Aufnahme der Rassen- und Blut- und Bodenpolitik. Diese Anschauungen waren seit der Jahrhundertwende in einem solchen Ausmaß aufgetreten, dass die

119 Thom, Caregorodcev, a. a. O. S. 160. 120 UAG, Rektorat Nr. 771. 23 Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft, Berlin 1989, S. 12. 118 an diese Vorstellungen anknüpfende faschistische Bewegung als politische Kraft erscheinen musste, deren Programm dem vermeintlichen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu entsprechen schien. Müller-Hill verweist darauf, dass Hitler während seiner Festungshaft in Landsberg die zweite Auflage von Baur-Fischer-Lenz „Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ gelesen hatte und die Rassenidee in sein Buch „Mein Kampf“ einarbeitete.121

Die Greifswalder Philosophische Fakultät stellte fest „...dass Erbbiologie, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde bereits seit dem Wintersemester 1925/26 im Rahmen des biologischen Gesamtunterrichts eine besonders intensive Pflege erhalten haben“122. Es überrascht deswegen nicht, dass das erste Institut, das der Hitlerstaat in Greifswald schuf und schon am 17. Mai 1933 eröffnete, ein selbständiges Institut für Menschliche Erblehre und Eugenik war. Es war das dritte seiner Art nach Berlin und Kiel. Auf Weisung des NS- Kultusministers Rust wurde der Greifswalder Biologe Just zu seinem Direktor bestimmt. Das blieb, wie erwähnt, nicht ohne wissenschaftlichen Widerspruch, vor allem durch Forster, der einen Zoologen als für die menschliche Erblehre und Eugenik ungeeignet hielt. Just, der die Gründung dieses Instituts mit

122 UAG Kurator Nr. 702. 119

Eifer und protektionsverdächtigem Erfolg betrieben hatte, erhielt in der Stralsunder Straße 16 Arbeitsräume und einem Jahresetat von 4 500 Reichsmark. Im Sinne der Aufgabenstellung der Universität sollte das Institut dem „Studenten nicht nur Wissenschaft... bieten, sondern ihn auch als den Träger besonderer Verantwortung gegenüber Volk und Staat kameradschaftlich führen in nationalsozialistischer Staatsgesinnung.“123 Just nahm 1934 am Nürnberger Parteitag teil.124 Er wurde Ortsgruppenschulungsleiter der NSDAP und von Rüdin zum 1. Vorsitzenden der Ortsgruppe Greifswald der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ ernannt. Er machte 1937 Karriere zum Leiter des Forschungsinstituts in der Abteilung Erb- und Rassenpflege beim Reichsgesundheitsamt und hatte damit Verbindung zu den einflussreichen Hauptvertretern der Medizin in der Rassenideologie wie Rüdin, Verschuer, Lenz, Boehm (Alt-Rehse) und Gütt. Lehrtätigkeit führte er in Greifswald bis zu seiner Berufung nach Würzburg 1943 weiter. Es ist kennzeichnend für Just, wie für viele andere Wissenschaftler, dass sie ihre Fachgebiete in der Öffentlichkeit in unterschiedlicher Darstellungsweise vertraten. Einerseits als seriöse, objektive Wissenschaftler,

123 UAG Kurator Nr. 701 Allgemeine Akten betr. Institut für menschliche Erblehre und Eugenik. 124 UAG Kurator Nr. 702. 120 andererseits populistisch propagandistisch von objektiver Wissenschaftlichkeit entfernt. So lieferte Just z. B. auf einem politischen Schulungsabend der Studentenschaft 1940 mit seiner Thematik „Frankreichs Zusammenbruch, letzte Folge des Rassenverfalls“125 geradezu ein Musterbeispiel für eine biologisch-sozialdarwinistische Falschinterpretation gesellschaftlicher Ereignisse und Fakten durch eine auf naivem Analogieschluss beruhende Erklärung sozialer Zusammenhänge.

Immer verbanden die Menschen mit dem medizinischen Fortschritt große Hoffnungen. Im Nationalsozialismus aber wurden Bereiche der Medizin zu antihumanen Zwecken missbraucht. So wurde auch das Greifswalder Institut für Menschliche Erblehre und Eugenik 1943 im Reichskommissariat Ostland in die Durchsetzung der Rassenpolitik einbezogen. Das Institut stand jetzt unter der Leitung eines Mitarbeiters von Just, Dr. Steiniger. Der Greifswalder Rektor, Prof. Engel hatte den Vorschlag der Nachfolge Steinigers mit der Begründung unterstützt: „Da Dr. Steiniger bereits seit längerer Zeit im Reichskommissariat Ostland erbbiologische Gutachten erstattet (das Institut für Medizinische Zoologie in Riga – Kleistenhof begründet hat

125 Ebenda. 121 und als Direktor dieses erfolgreich arbeitenden Instituts zum Oberlandesrat ernannt wurde) dürfte er die geeignete Persönlichkeit sein, um die Nachfolge Justs anzutreten.“126 Als nächste Aufgabe des Greifswalder Instituts im Reichskommissariat Ostland wurden genannt: Zuwendung zu praktischen Fragen der Rassenpolitik der besetzten Ostgebiete 1. Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen für die Beurteilung bestimmter Volksgruppen a) etwa 1 200 Letten b) Karaimen und Tataren des Wilnagebietes, deren Abgrenzung gegenüber dem Judentum = Augenblicksaufgabe.127 Obwohl dem Verfasser über die genannte „Zuwendung zur praktischen Fragen der Rassenpolitik“ keine weiteren Aufschluss gebenden Tatsachen bekannt sind, dürften die rassischen Beurteilungen der Volksgruppen letztlich zur Aussonderung der Juden und ihrer Vernichtung im Sinne der „Endlösung der Judenfrage“ gedient haben.

Zu den administrativen Verfahrensweisen des faschistischen Staates in Medizin und Gesundheitswesen gehörte es, fast ausnahmslos alle antihumanen Aktionen und Praktiken mit

126 Ebenda. 29 UAG Kurator 702.

122 juristischen Mitteln zu flankieren und durchzusetzen. Zehntausende Menschen in Deutschland wurden durch Zwangssterilisierungen vom Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses betroffen. Aus kirchlichen Kreisen gab es vereinzelt mutige Verweigerung und auch Widerstand, aber die Durchsetzung des Gesetzes konnte nicht verhindert werden. Vielmehr war Betroffenen wie Agierenden eine repressive Schweigepflicht auferlegt. Eine unkritische Legalitäts- und Wissenschaftsgläubigkeit und Angst vermied Aufbegehren. Was von Rechts wegen war, sollte letztlich auch ethisch- moralisch verantwortbar sein.

Am 14. Juli 1933 verabschiedete das Reichskabinett das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Im Zuge seiner administrativen Durchführung wurde auch in Stettin ein Erbgesundheitsobergericht gebildet, dem namhafte Greifswalder Professoren angehörten: Prof. Dr. Dresel, Direktor des Hygiene-Instituts; Prof. Dr. Ewald, Direktor der Nervenklinik (Nachfolger Forsters); Prof. Dr. Runge, Direktor der Frauenklinik und Prof. Dr. Hey, Direktor der Gerichtsmedizin. Sämtliche vier Herren wurden als „mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut“ genannt. Die chirurgischen Eingriffe zur Sterilisation wurden in der 123

Chirurgischen Universitätsklinik (Prof. Pels-Leusden) und der Universitätsfrauenklinik (Prof. Runge) vorgenommen.128 Gemäß Erlass des Ministeriums des Innern vom 16. Oktober 1934 wurden in drei preußischen Regierungsbezirken Stettin, Köslin und Schneidemühl 34 Krankenanstalten bzw. Privatkliniken für die Durchführung des Gesetzes zugelassen.129

Am 15. 12. 1933 wandte sich der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung mit Vermerk „sehr eilig“ an die Medizinische Fakultät Greifswald, in dem er die baldige Veröffentlichung der Ausführungsbestimmungen des Gesetzes ankündigte. In der Anlage befindet sich folgende Mitteilung: „Vom 8. – 16. 1. 1934 findet in München unter Leitung von Prof. Rüdin (Direktor des Kaiser-Wilhelm- Instituts für Genealogie und Demographie der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München) ...ein erbbiologisch rassenhygienischer Lehrgang für Psychiatrie statt. Er soll die deutschen Psychiater entsprechend ihrem besonderen Erfahrungskreis und der besonderen Wichtigkeit und Wünschbarkeit ihrer sachverständigen Mitwirkung bei der Durchführung bei der demnächst in Kraft tretenden

128 UAG Med. Fak. Nr. 106 – Neue Bestimmungen. 129 Staatsarchiv Greifswald, Rep. 38 b Jarmen, Nr. 734, S. 14 f. Krankenanstalten zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. 124

Bestimmungen insbesondere des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eingehend mit den Grundlagen und dem ganzen Aufbau der menschlichen Erbbiologie und Rassenhygiene vertraut machen...“.130 Dieses Schreiben ließ die große Bedeutung der psychiatrischen Gutachtertätigkeit erkennen und verdeutlichte nochmals, warum den Nazis der Psychiater Forster als wenig geeignet zur Durchsetzung ihrer Vorhaben erscheinen musste.

Mit der Verordnung zu Ausführung des Gesetzes verstärkten die Nationalsozialisten die erbbiologischen und rassenpolitischen Schulungen der medizinischen Universitätsintelligenz und der Ärzteschaft. So fanden einjährige erbbiologische und rassenpolitische Schulungskurse am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem statt.131 Das Rassenpolitische Amt der NSDAP entwickelte seinen Einfluss auf die Medizinische Fakultät. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Oberassistent am Hygiene-Institut, Dr. med. Otto Stickl. Dieser war Vertrauensmann der NSDAP-Reichsleitung für die Medizinische Fakultät sowie Unterführer der Dozentenschaft und gehörte zum Vorstand der Ärztekammer Pommern. Im Herbst übernahm er das Amt des

130 UAG Med. Fak Nr. 131. 131 UAG ebenda. 125 stellvertretenden Dekans der Medizinischen Fakultät.132 Noch war die NS-Ärzteschule in Alt-Rhese bei Penzlin nicht eröffnet. Sie wurde im Sommer 1935 durch die Reichsärztekammer gegründet, mit der Aufgabe, Vertrauensärzten, Amtsärzten, leitenden Anstalts- und Klinikärzten, führenden SS-Ärzten und ausgewählten freipraktizierenden Ärzten sowie ab 1936 auch Apothekern Rüstzeug zur Durchsetzung der faschistischen Politik in Medizin und Gesundheitswesen zu vermitteln.133

In der Greifswalder Frauenklinik begannen die Sterilisationen auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1934. Mehr als 1 270 Sterilisationen, darunter 409 aus „eugenischer Indikation“, wurden vom 9. Januar 1934 bis 20. April 1945 (!) durchgeführt.134 Das Verzeichnis unterschied zwischen „ärztlicher“ und „eugenischer“

132 UAG Personalakte Nr. 2520, Otto Stickl. 133 Vgl. Christine und Rudolf Krug: Alt Rehse – Geschichte eines Dorfes. Neubrandenburg 1982, S. 27.Vgl. auch: Interview Dr. Wolfgang Köpp: Haben die Hippokrates-Jünger Angst vor der Erinnerung?, in: Neues Deutschland 12./13. Februar 2000. 134 Sterilisationsbuch der Frauenklinik Greifswald. Anzeigen, die Verfahren zur Durchführung von Sterilisationen einleiteten, wurden zumeist von Ärzten gestellt. Bei Insassen von Pflege- und psychiatrischen Einrichtungen waren oft die Anstaltsleiter Antragsteller, vor allem, wenn die Selbstverfügbarkeit der Patienten durch Pflegeschaft, Entmündigung oder Schutzhaft eingeschränkt war. 126

Indikation. Im Städtischen Krankenhaus Stralsund betraf es bis 1939 650 Patienten.135 Im Jahr 1944 enthielt das Verzeichnis der Frauenklinik Greifswald in auffälliger Häufung von 25 Fällen den Vermerk „Radium/Röntgen“. Wurde nach weniger kosten- und zeitaufwendigen Verfahrensweisen für Massensterilisationen gesucht, wozu der Machtapparat ausgewählte Ärzte anregte? 1944 wurden in Greifswald sechs, wie man damals sagte, Zigeunerinnen (Sinti oder Roma), sterilisiert, die jüngste 12, die älteste 37 Jahre. Der Reichsführer SS, Himmler, hatte am 16. Dezember 1942 befohlen, alle Zigeunermischlinge nach Auschwitz einzuweisen.136 Die unter Ausnahmebedingungen des Auschwitzerlasses stehenden Zigeuner und Zigeunermischlinge, z. B. mit „Ariern“ Verheiratete, und das könnte hier zugetroffen haben, wurden durch Auswirkung des Reichssicherheitshauptamtes vor die Wahl „freiwilliger“ Sterilisation oder KZ gestellt. Es lässt sich die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass die Medizin als Institution in den zwölf Jahren Naziherrschaft mit Hilfe administrativer staatlicher Gewalt und ideologischer Beeinflussung in verschiedenen Bereichen in ein Zweckinstrument nationalsozialistischer Herrschaftsausübung

135 Walraph/Tetzel: Sterilisation zur „Erbe- und Rassenpflege“, Ostsee- Zeitung, 5.9.1991. 136 Müller-Hill, S. 21, S. 59 ff. 127 umgewandelt worden ist und die ihr übertragenen Aufgaben auch erfüllte. Die Medizinische Fakultät der Universität Greifswald machte dabei keine Ausnahme. Verschiedene Formen versuchter Verweigerung in Freiräumen ärztlichen Denken und Handelns (Forster, Degkwitz, Steinhausen, Ewald) fanden zu wenig Unterstützung und konnten Geschehenes nicht verhindern. Hochgeachtet sollen jene Wissenschaftler; Ärzte, Krankenschwestern und Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen sein, die innerhalb der vorgegebenen Bedingungen und trotz aller Zwänge mitmenschlich zu handeln suchten.

Als der 2. Weltkrieg in sein Ausgangsland zurückgekehrt war, blieb Greifswald durch eine mutige politische Tat, die kampflose Übergabe der Stadt an die Sowjetarmee, viel Leid erspart. Die Stadt war Zufluchtsstätte und Auffangort für Kranke und Verwundete aus östlich gelegenen Einrichtungen. Im Oktober 1945 gab es in Greifswald 68 000 Einwohner, davon 32 000 Flüchtlinge.137 Diejenigen, die nicht westwärts geflohen waren, sondern bei den Patienten blieben und in fast hoffnungslos überfüllten

137 Das Jahr 1945 – Der Übergang vom Krieg zum Frieden in Mecklenburg- Vorpommern. Dokumente, S. 36. Bearbeiter: Dr. Johannes Kornow/Dr. Ernst-Joachim Krüger/Dr. Werner Lamprecht, Greifswald 1995. 128

Kliniken, Krankenhäusern und Lazaretten gegen Krankheit und Tod, gegen Seuchen und Hunger gekämpft haben, die mit ihrer Einsatzbereitschaft, Zuwendung und Hingabe Hilfe brachten und stille Hoffnung getragen haben, taten viel für das Leben. 129

Autorenverzeichnis

Dr. phil. Fred Mrotzek

Dr. phil. Heinz Koch

Dr. Werner Lamprecht

Dr. Wolf Karge

Prof. Dr. Dietrich Eichholtz

Prof. Dr. Joachim Copius